SEGUNDA PARTE TOMO 20

III. Produktion
Nach allem Vorhergegangenen wird es den Leser nicht wundern, zu erfahren, daß die im letzten Kapitel gegebne Entwicklung der Grundzüge des Sozialismus keineswegs nach dem Sinn des Herrn Dühring ist. Im Gegenteil. Er muß sie schleudern in den Abgrund alles Verworfenen, zu den übrigen „Bastarden historischer und logischer Phantastik", den „wüsten Konzeptionen", den „konfusen Nebelvorstellungen" usw. Für ihn ist der Sozialismus ja keineswegs ein notwendiges Erzeugnis der geschichtlichen Entwicklung, und noch viel weniger der grob-materiellen, auf bloße Futterzwecke gerichteten ökonomischen Bedingungen der Gegenwart. Er hat es viel besser. Sein Sozialismus ist eine endgültige Wahrheit letzter Instanz;
er ist „das natürliche System der Gesellschaft", er findet seine Wurzel in einem „universellen Prinzip der Gerechtigkeit",
und wenn er nicht umhin kann, von dem bestehenden, durch die bisherige sündhafte Geschichte geschaffnen Zustand Notiz zu nehmen, um ihn zu verbessern, so ist das eher als ein Unglück für das reine Prinzip der Gerechtigkeit zu betrachten. Herr Dühring schafft seinen Sozialismus, wie alles andre, vermittelst seiner famosen beiden Männer. Statt daß diese beiden Marionetten, wie bisher, Herr und Knecht spielen, führen sie zur Abwechslung einmal das Stück von der Gleichberechtigung auf - und der Dühringsche Sozialismus ist in seiner Grundlage fertig. Demnach ist es selbstredend, daß bei Herrn Dühring die periodischen industriellen Krisen keineswegs die geschichtliche Bedeutung haben, die wir ihnen zuschreiben mußten.
Die Krisen sind bei ihm nur gelegentliche Abweichungen von der „Normalität" und geben höchstens Anlaß zur „Entfaltung einer geregelteren Ordnung". Die „gewöhnliche Weise", die Krisen aus der Uberproduktion zu erklären, genügt seiner „exakteren Auffassung" keineswegs. Allerdings sei eine solche für „Spezialkrisen in besondern Gebieten wohl zulässig". So z.B. „eine LJberfüIIung des Büchermarktes mit
Ausgaben von Werken, die plötzlich für den Nachdruck freigegeben werden und sich für Massenabsatz eignen". Herr Dühring kann sich nun allerdings mit dem wohltuenden Bewußtsein zu Bette legen, daß seine unsterblichen Werke ein solches Weltunglück nie anrichten werden.
Für die großen Krisen sei es aber nicht die Überproduktion, sondern vielmehr „das Zurückbleiben der Volkskonsumtion ... die künstlich erzeugte Unterkonsumtion ... die Hinderung des Volksbedarfs (!) an seinem natürlichen Wachstum, was die Kluft zwischen Vorrat und Abnahme schließlich so kritisch weit macht".
Und für diese seine Krisentheorie hat er denn auch glücklich einen Jünger gefunden. Nun ist aber leider die Unterkonsumtion der Massen, die Beschränkung der Massenkonsumtion auf das zum Unterhalt und zur Fortpflanzung Notwendige nicht erst eine neue Erscheinung. Sie hat bestanden, solange es ausbeutende und ausgebeutete Klassen gegeben hat. Selbst in den Geschichtsabschnitten, wo die Lage der Massen besonders günstig war, also z.B. in England im 15.Jahrhundert, unterkonsumierten sie. Sie waren weit davon entfernt, ihr eignes jährliches Gesamtprodukt zur Verzehrung verfügbar zu haben. Wenn nun also die Unterkonsumtion eine stehende geschichtliche Erscheinung seit Jahrtausenden, die in den Krisen ausbrechende allgemeine Absatzstockung infolge von Produktionsüberschuß aber erst seit fünfzig Jahren sichtbar geworden ist, so gehört die ganze vulgärökonomische Flachheit des Herrn Dühring dazu, die neue Kollision zu erklären, nicht aus der neuen Erscheinung der Überproduktion, sondern aus der Jahrtausende alten der Unterkonsumtion. Es ist, als wollte man in der Mathematik die Veränderung des Verhältnisses zweier Größen, einer konstanten und einer veränderlichen, erklären, nicht daraus, daß die veränderliche sich verändert, sondern daraus, daß die konstante dieselbe geblieben ist. Die Unterkonsumtion der Massen ist eine notwendige Bedingung alier auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaftsformen, also auch der kapitalistischen; aber erst die kapitalistische Form der Produktion bringt es zu Krisen. Die Unterkonsumtion der Massen ist also auch eine Vorbedingung der Krisen und spielt in ihnen eine längst anerkannte Rolle; aber sie sagt uns ebensowenig über die Ursachen des heutigen Daseins der Krisen, wie über die ihrer frühern Abwesenheit. Herr Dühring hat überhaupt merkwürdige Vorstellungen vom Weltmarkt. Wir sahen, wie er sich wirkliche industrielle Spezialkrisen als echter deutscher Literatus an eingebildeten Krisen auf dem Leipziger Büchermarkt
klarzumachen sucht, den Sturm auf der See am Sturm im Glase Wasser. Er bildet sich ferner ein, die heutige Unternehmerproduktion müsse „sich mit ihrem Absatz vornehmlich im Kreise der besitzenden Klassen selbst drehn", was ihn nicht verhindert, nur sechzehn Seiten weiter als die entscheidenden modernen Industrien in bekannter Weise die Eisen- und Baumwollindustrie hinzustellen, also grade die beiden Produktionszweige, deren Erzeugnisse nur zu einem verschwindend kleinen Teil im Kreise der besitzenden Klassen konsumiert werden und vor allen andern auf den Massenverbrauch angewiesen sind. Wohin wir uns bei ihm wenden, nichts als leeres, widerspruchsvolles Hin- und Hergeschwätz. Aber nehmen wir ein Beispiel aus der Baumwollindustrie. Wenn in der einzigen, verhältnismäßig kleinen Stadt Oldham - einer aus dem Dutzend Städte von 50 bis 100 000 Einwohnern um Manchester, die die Baumwollindustrie betreiben -, wenn in dieser einzigen Stadt in den vier Jahren 1872 bis 1875 die Zahl der Spindeln, die nur die einzige Nummer 32 spinnen, sich von 21/2 auf 5 Millionen vermehrte, so daß in einer einzigen Mittelstadt Englands ebensoviel Spindeln eine einzige Nummer spinnen, wie die Baumwollindustrie von ganz Deutschland mitsamt dem Elsaß überhaupt besitzt, und wenn die Ausdehnung in den übrigen Zweigen und Lokalitäten der Baumwollindustrie Englands und Schottlands in annähernd demselben Verhältnis stattgefunden hat, so gehört eine starke Dosis wurzelhafter Unverfrorenheit dazu, die jetzige totale Absatzstockung der Baumwollgarne und Gewebe zu erklären aus der Unterkonsumtion der englischen Massen und nicht aus der Überproduktion der englischen Baumwollfabrikanten.* Genug. Man streitet nicht mit Leuten, die in der Ökonomie unwissend genug sind, den Leipziger Büchermarkt überhaupt für einen Markt im Sinne der modernen Industrie anzusenn. Konstatieren wir daher bloß, daß uns Herr Dühring des fernem über die Krisen nur mitzuteilen weiß, daß es sich bei ihnen um nichts handelt,
„als um ein gewöhnliches Spiel zwischen Uberspannung und Erschlaffung", daß die Uberspekulation „nicht allein von der planlosen Häufung der Privatunternehmungen herrührt", sondern daß „auch die Voreiligkeit der einzelnen Unternehmer und der Mangel an Privatumsicht zu den Entstehungsursachen des Uberangebots zu rechnen" sind.
* Die Erklärung der Krisen aus Unterkonsumtion rührt her von Sismondi und hat bei ihm noch einen gewissen Sinn. Von Sismondi hat Rodbertus sie entlehnt, und von Rodbertus hat wieder Herr Dühring sie in seiner gewohnten verflachenden Weise abgeschrieben.
Und was ist wiederum die „Entstehungsur sache" der Voreiligkeit und des Mangels an Privatumsicht? Eben dieselbe Planlosigkeit der kapitalistischen Produktion, die in der planlosen Häufung der Privatunternehmungen sich zeigt. Die Übersetzung einer ökonomischen Tatsache in einen moralischen Vorwurf für die Entdeckung einer neuen Ursache zu versehrt, ist eben auch eine starke „Voreiligkeit". Verlassen wir hiermit die Krisen. Nachdem wir im vorigen Kapitel ihre notwendige Erzeugung aus der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Bedeutung als Krisen dieser Produktionsweise selbst, als Zwangsmittel der gesellschaftlichen Umwälzung nachgewiesen, brauchen wir den Seichtigkeiten des Herrn Dühring über diesen Gegenstand kein Wort weiter entgegenzusetzen. Gehn wir über zu seinen positiven Schöpfungen,zum „natürlichen System der Gesellschaft". Dies auf einem „universellen Prinzip der Gerechtigkeit", also frei von aller Rücksichtnahme auf lästige materielle Tatsachen aufgebaute System besteht aus einer Föderation von Wirtschaftskommunen, zwischen denen
„Freizügigkeit und Notwendigkeit der Aufnahme neuer Mitglieder nach bestimmten Gesetzen und Verwaltungsnormen" besteht. Die Wirtschaftskommune selbst ist vor allem
-ein umfassender Schematismus von menschheitsgeschichtlicher Tragweite" und weit hinaus über die „abirrenden Halbheiten" z.B. eines gewissen Marx, Sie bedeutet „eine Gemeinschaft von Personen, die durch ihr öffentliches Recht der Verfügung über einen Bezirk von Grund und Boden und über eine Gruppe von Produktionsetablissements zu gemeinsamer Tätigkeit und gemeinsamer Teilnahme am Ertrage verbunden sind". Das öffentliche Recht ist ein „Recht an der Sache... im Sinne eines rein publizistischen Verhältnisses zur Natur und zu den Produktionseinrichtungen".
Was das heißen soll, darüber mögen sich die Zukunftsjuristen der Wirtschaftskommune die Köpfe zerbrechen, wir geben jeden Versuch auf. Nur soviel erfahren wir,
daß es keineswegs einerlei ist mit dem „ körperschaftlichen Eigentum von Arbeitergesellschaften", die gegenseitige Konkurrenz und selbst Lohnausbeutung nicht ausschließen würden. Wobei dann fallengelassen wird,
die Vorstellung eines „Gesamteigentums", wie sie sich auch bei Marx finde, sei „mindestens unklar und bedenklich, da diese Zukunftsvorstellung immer den Anschein gewinnt, als wenn sie nichts als ein körperschaftliches Eigentum der Arbeitergruppen zu bedeuten hätte".
Es ist dies wieder eins der vielen bei Herrn Dühring üblichen „schnöden Manierchen" der Unterschiebung, „für deren vulgäre Eigenschaft" (wie er selbst sagt) „nur das vulgäre Wort schnoddrig ganz passend sein würde"; es ist eine ebenso aus der Luft gegriffne Unwahrheit, wie die andre Erfindung des Herrn Dühring, das Gesamteigentum bei Marx sei ein „zugleich individuelles und gesellschaftliches Eigentum". Jedenfalls scheint soviel klar: das publizistische Recht einer Wirfschafts» kommune an ihren Arbeitsmitteln ist ein ausschließliches Eigentumsrecht wenigstens gegenüber jeder andern Wirtschaftskommune und auch gegenüber der Gesellschaft und dem Staat.
Es soll aber nicht die Macht haben, „nach außen... abschließend zu verfahren, denn zwischen den verschiednen Wirtschaftskommunen besteht Freizügigkeit und Notwendigkeit der Aufnahme neuer Mitglieder nach bestimmten Gesetzen und Verwaltungsnormen ... ähnlich ... wie heute die Angehörigkeit zu einem politischen Gebilde und wie die Teilnahme an den wirtschaftlichen Gemeindezuständigkeiten".
Es wird also reiche und arme Wirtschaftskommunen geben, und die Ausgleichung findet statt durch den Andrang der Bevölkerung zu den reichen und den Wegzug von den armen Kommunen. Wenn also Herr Dühring die Konkurrenz in Produkten zwischen den einzelnen Kommunen durch nationale Organisation des Handels beseitigen will, so läßt er die Konkurrenz in Produzenten ruhig fortbestehen. Die Dinge werden der Konkurrenz entzogen, die Menschen bleiben ihr unterworfen. Indes sind wir damit noch lange nicht im klaren über das „publizistische Recht". Zwei Seiten weiter erklärt uns Herr Dühring:
Die Handelskommune reiche „zunächst so weit, als dasjenige politisch-gesellschaftliche Gebiet, dessen Angehörige zu einem einheitlichen Rechtssubjekt zusammengefaßt sind und in dieser Eigenschaft die Verfügung über den gesamten Boden, die Wohnstätten und die Produktionseinrichtungen haben". Es ist also doch nicht die einzelne Kommune, die die Verfügung hat, sondern die ganze Nation. Das „öffentliche Recht", das „Recht an der Sache", das „publizistische Verhältnis zur Natur" usw. ist also nicht bloß „mindestens unklar und bedenklich", es ist in direktem Widerspruch mit sich selbst. Es ist in der Tat, wenigstens soweit jede einzelne Wirtschaftskommune ebenfalls ein Rechtssubjekt, ein „zugleich individuelles und gesellschaftliches Eigentum", und diese letztere „nebelhafte Zwittergestalt" daher wieder nur bei Herrn Dühring selbst anzutreffen. Jedenfalls verfügt die Wirtschaftskommune über ihre Arbeitsmittel zum Zweck der Produktion. Wie geht diese Produktion vor sich? Nach
allem, was wir bei Herrn Dühring erfahren, ganz im alten Stil, nur daß an die Stelle des Kapitalisten die Kommune tritt. Höchstens erfahren wir, daß die Berufswahl jetzt erst für jeden einzelnen frei wird und daß gleiche Verpflichtung zur Arbeit besteht. Die Grundform aller bisherigen Produktion ist die Teilung der Arbeit, einerseits innerhalb der Gesellschaft, andrerseits innerhalb jeder einzelnen Produktionsanstalt. Wie verhält sich die Dühringsche „Sozialität" zu ihr? Die erste große gesellschaftliche Arbeitsteilung ist die Scheidung von Stadt und Land.
Dieser Antagonismus ist nach Herrn Dühring „der Natur der Sache nach unvermeidlich". Aber „es ist überhaupt bedenklich, sich die Kluft zwischen Landwirtschaft und Industrie ... als unausfüllbar zu denken. In der Tat besteht bereits ein gewisses Maß von Stetigkeit der Überleitung, welche für die Zukunft noch erheblich zuzunehmen verspricht." Schon jetzt hätten sich zwei Industrien in den Ackerbau und ländlichen Betrieb eingeschoben: „in erster Linie die Brennerei und in zweiter die Bereitung von Rübenzucker ... die Spirituserzeugung ist von einer solchen Bedeutung, daß man sie eher unterschätzen als überschätzen wird". Und „wäre es möglich, daß sich ein größerer Kreis von Industrien infolge irgendwelcher Entdeckungen derartig bildete, daß hierbei eine Nötigung obwaltete, den Betrieb ländlich zu lokalisieren und unmittelbar an die Produktion der Rohstoffe anzulehnen", so würde dadurch der Gegensatz von Stadt und Land geschwächt und „die allerausgedehnteste Grundlage der Zivilisationsentfaltung gewonnen werden". Indes „könnte etwas Ähnliches doch auch noch auf einem andern Wege in Frage stehn. Außer den technischen Nötigungen kommen mehr und mehr die sozialen Bedürfnisse in Frage, und wenn diese letztern für die Gruppierungen der menschlichen Tätigkeiten maßgebend werden, wird es nicht mehr möglich sein, diejenigen Vorteile zu vernachlässigen, die sich aus einer systematisch nahen Verbindung der Beschäftigungen des platten Landes mit den Verrichtungen der technischen Umwandlungsarbeit ergeben."
Nun kommen in der Wirtschaftskommune ja grade die sozialen Bedürfnisse in Frage, und so wird sie sich wohl beeilen, die obenerwähnten Vorteile der Vereinigung von Ackerbau und Industrie sich in vollstem Maße anzueignen ? Herr Dühring wird nicht verfehlen, uns über die Stellung der Wirtschaftskommune zu dieser Frage seine „exakteren Auffassungen" in beliebter Breite mitzuteilen? Geprellt wäre der Leser, der das glaubte. Die obigen magern, verlegenen, wiederum in dem schnapsbrennenden und rübenzuckernden Geltungsbereich des preußischen Landrechts sich im Kreise herumdrehenden Gemeinplätze sind alles, was uns Herr Dühring über den Gegensatz von Stadt und Land in Gegenwart und Zukunft zu sagen hat.
Gehn wir über zur Arbeitsteilung im einzelnen. Hier ist Herr Dühring schon etwas „exakter". Er spricht von
„einer Person, die sich mit einer Gattung von Tätigkeit ausschließlich abgeben soll". Handelt es sich um die Einführung eines neuen Produktionszweigs, so besteht die Frage einfach darin, ob man eine gewisse Zahl von Existenzen, die sich der Erzeugung eines Artikels widmen sollen, mit der für sie erforderlichen Konsumtion (!) gleichsam schaffen könne. Ein beliebiger Produktionszweig wird in der Sozialität „nicht viel Bevölkerung in Anspruch nehmen". Und auch in der Sozialität gibt es „sich nach der Lebensweise sondernde ökonomische Spielarten" von Menschen. Hiernach bleibt innerhalb der Sphäre der Produktion so ziemlich alles beim alten. Allerdings herrscht in der bisherigen Gesellschaft eine „falsche Arbeitsteilung"; worin aber diese besteht und wodurch sie in der Wirtschaftskommune ersetzt werden soll, darüber erfahren wir nur dies:
„Was die Rücksichten der Arbeitsteilung selbst anbetrifft, so haben wir schon oben gesagt, daß sie als erledigt gelten können, sobald den Tatsachen der verschiednen Naturgelegenheiten und den persönlichen Fähigkeiten Rechnung getragen ist."
Neben den Fähigkeiten kommt noch die persönliche Neigung zur Geltung:
„Der Reiz des Aufsteigens zu Tätigkeiten, die mehr Fähigkeiten und Vorbildung ins Spiel setzen, würde ausschließlich auf der Neigung zu der betreffenden Beschäftigung und auf der Freude an der Ausübung grade dieser und keiner andern Sache" (Ausübung einer Sache!) „beruhen." Hiermit aber wird in der Sozialität der Wetteifer angeregt und
„die Produktion selbst ein Interesse erhalten, und der stumpfe Betrieb, der sie nur als Mittel zum Gewinnzweck würdigt, wird nicht mehr das beherrschende Gepräge der Zustände sein". In jeder Gesellschaft mit naturwüchsiger Produktionsentwicklung - und die heutige gehört dazu - beherrschen nicht die Produzenten dieProduktionsmittel, sondern die Produktionsmittel beherrschen die Produzenten. In einer solchen Gesellschaft schlägt jeder neue Hebel der Produktion notwendig um in ein neues Mittel der Knechtung der Produzenten unter die Produktionsmittel. Das gilt vor allem von demjenigen Hebel der Produktion, der bis zur Einführung der großen Industrie weitaus der mächtigste war - von der Teilung der Arbeit. Gleich die erste große Arbeitsteilung, die Scheidung von Stadt und Land, verurteilte die Landbevölkerung zu jahrtausendelanger Verdummung und die Städter zur Knechtung eines jeden unter sein Einzelhandwerk. Sie vernichtete die Grundlage der geistigen Entwicklung der
einen und der körperlichen der andern. Wenn sich der Bauer den Boden, der Städter sein Handwerk aneignet, so eignet sich ebensosehr der Boden den Bauer, das Handwerk den Handwerker an. Indem die Arbeit geteilt wird, wird auch der Mensch geteilt. Der Ausbildung einer einzigen Tätigkeit werden alle übrigen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zum Opfer gebracht. Diese Verkümmerung des Menschen wächst im selben Maße wie die Arbeitsteilung, die ihre höchste Entwicklung in der Manufaktur erreicht. Die Manufaktur zerlegt das Handwerk in seine einzelnen Teiloperationen, weist jede derselben einem einzelnen Arbeiter als Lebensberuf zu und kettet ihn so lebenslänglich an eine bestimmte Teilfunktion und ein bestimmtes Werkzeug. „Sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen... Das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt" (Marx)1 - ein Triebwerk, das in vielen Fällen seine Vollkommenheit erst durch buchstäbliche, leibliche und geistige Verkrüppelung des Arbeiters erlangt. Die Maschinerie der großen Industrie degradiert den Arbeiter aus einer Maschine zum bloßen Zubehör einer Maschine. „Aus der lebenslangen Spezialität, ein Teilwerkzeug zu führen, wird die lebenslange Spezialität, einer Teilmaschine zu dienen. Die Maschinerie wird mißbraucht, um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen an in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln" (Marx).2 Und nicht nur die Arbeiter, auch die die Arbeiter direkt oder indirekt ausbeutenden Klassen werden vermittelst der Teilung der Arbeit geknechtet unter das Werkzeug ihrer Tätigkeit,* der geistesöde Bourgeois unter sein eignes Kapital und seine eigne Profitwut, der Jurist unter seine verknöcherten Rechtsvorstellungen, die ihn als eine selbständige Macht beherrschen; die „gebildeten Stände" überhaupt unter die mannigfachen Lokalborniertheiten und Einseitigkeiten, unter ihre eigne körperliche und geistige Kurzsichtigkeit, unter ihre Verkrüppelung durch die auf eine Spezialität zugeschnittne Erziehung und durch die lebenslange Fesselung an diese Spezialität selbst - auch dann, wenn diese Spezialität das reine Nichtstun ist. Die Utopisten waren bereits vollständig im reinen über die Wirkungen der Teilung der Arbeit, über die Verkümmerung einerseits des Arbeiters» andrerseits der Arbeitstätigkeit selbst, die auf lebenslängliche, einförmiges mechanische Wiederholung eines und desselben Aktes beschränkt wird. Die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land wird von Fourier wie von
Owen als erste Grundbedingung der Aufhebung der alten Arbeitsteilung überhaupt gefordert. Bei beiden soll die Bevölkerung sich in Gruppen von sechzehnhundert bis dreitausend über das Land verteilen; jede Gruppe bewohnt im Zentrum ihres Bodenbezirks einen Riesenpalast mit gemeinsamem Haushalt. Fourier spricht zwar hier und da von Städten, diese aber bestehn selbst wieder nur aus vier bis fünf solcher naher zusammenliegenden Paläste. Bei beiden beteiligt sich jedes Gesellschaftsglied sowohl am Ackerbau wie an der Industrie; bei Fourier spielen in dieser letztern Handwerk und Manufaktur, bei Owen dagegen schon die große Industrie die Hauptrolle und wird von ihm bereits die Einführung der Dampfkraft und Maschinerie in die Haushaltungsarbeit verlangt. Aber auch innerhalb des Ackerbaus wie der Industrie fordern beide die möglichst große Abwechslung der Beschäftigung für jeden einzelnen, und dementsprechend die Ausbildung der Jugend für möglichst allseitige technische Tätigkeit. Bei beiden soll der Mensch sich universell entwickeln durch universelle praktische Betätigung und soll die Arbeit den ihr durch die Teilung abhanden gekommnen Reiz der Anziehung wieder erhalten, zunächst durch diese Abwechslung und die ihr entsprechende kurze Dauer der jeder einzelnen Arbeit gewidmeten „Sitzung", um Fouriers Ausdruck zu gebrauchen11541. Beide sind weit hinaus über die dem Herrn Dühring überkommne Denkweise der ausbeutenden Klassen, die den Gegensatz von Stadt und Land für der Natur der Sache nach unvermeidlich hält, die in der Borniertheit befangen ist, als müßte eine Anzahl von „Existenzen" unter allen Umständen zur Erzeugung eines Artikels verdammt sein, und die die sich nach der Lebensweise sondernden „ökonomischen Spielarten" von Menschen verewigen will, die Leute, die Freude an der Ausübung grade dieser und keiner andern Sache haben, die also so weit heruntergekommen sind, daß sie sich über ihre eigne Knechtung und Vereinseitigung freuen. Gegenüber den Grundgedanken selbst der tollkühnsten Phantasien des „Idioten" Fourier, gegenüber selbst den dürftigsten Ideen des „rohen, matten und dürftigen" Owen steht der selbst noch ganz unter die Teilung der Arbeit geknechtete Herr Dühring da wie ein vorlauter Zwerg. Indem sich die Gesellschaft zur Herrin der sämtlichen Produktionsmittel macht, um sie gesellschaftlich planmäßig zu verwenden, vernichtet sie die bisherige Knechtung der Menschen unter ihre eignen Produktionsmittel. Die Gesellschaft kann sich selbstredend nicht befreien, ohne daß jeder einzelne befreit wird. Die alte Produktionsweise muß also von Grund aus umgewälzt werden, und namentlich muß die alte Teilung der Arbeit verschwinden. An ihre Stelle muß eine Organisation der Produktion treten,
in der einerseits kein einzelner seinen Anteil an der produktiven Arbeit, dieser Naturbedingung der menschlichen Existenz, auf andre abwälzen kann; in der andrerseits die produktive Arbeit, statt Mittel der Knechtung, Mittel der Befreiung der Menschen wird, indem sie jedem einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen Fähigkeiten, körperliche wie geistige, nach allen Richtungen hin auszubilden und zu betätigen, und in der sie so aus einer Last eine Lust wird. Dies ist heute keine Phantasie, kein frommer Wunsch mehr. Bei def gegenwärtigen Entwicklung der produktiven Kräfte genügt schon diejenige Steigerung der Produktion, die mit der Tatsache der Vergesellschaftung der Produktivkräfte selbst gegeben ist, die Beseitigung der aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringenden Hemmungen und Störungen, der Vergeudung von Produkten und Produktionsmitteln, um bei allgemeiner Teilnahme an der Arbeit die Arbeitszeit auf ein nach jetzigen Vorstellungen geringes Maß zu reduzieren. Ebensowenig ist die Aufhebung der alten Teilung der Arbeit eine Forderung, die nur auf Kosten der Produktivität der Arbeit durchzuführen wäre. Im Gegenteil. Sie ist eine Bedingung der Produktion selbst geworden durch die große Industrie. „Der Maschinenbetrieb hebt die Notwendigkeit auf, die Verteilung der Arbeitergruppen an die verschiednen Maschinen manufakturmäßig zu befestigen durch fortwährende Aneignung derselben Arbeiter an dieselbe Funktion. Da die Gesamtbewegung der Fabrik nicht vom Arbeiter ausgeht, sondern von der Maschine, kann fortwährender Personenwechsel stattfinden, ohne Unterbrechung des Arbeitsprozesses ... Die Geschwindigkeit endlich, womit die Arbeit an der Maschine im jugendlichen Alter erlernt wird, beseitigt ebenso die Notwendigkeit, eine besondre Klasse Arbeiter ausschließlich zu Maschinenarbeitern zu erziehn."1 Während aber die kapitalistische Anwendungsweise der Maschinerie die alte Teilung der Arbeit mit ihren knöchernen Partikularitäten weiter fortführen muß, trotzdem diese technisch überflüssig geworden, rebelliert die Maschinerie selbst gegen diesen Anachronismus. Die technische Basis der großen Industrie ist revolutionär. „Durch Maschinerie, chemische Prozesse und andre Methoden wälzt sie beständig mit der technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der Arbeiter und die gesellschaftlichen Kombinationen des Arbeitsprozesses um. Sie revolutioniert damit ebenso beständig die Teilung der Arbeit im Innern der Gesellschaft und schleudert unaufhörlich Kapitalmassen und Arbeitermassen aus einem Produktions
zweig in den andern. Die Natur der großen Industrie bedingt daher Wechsel der Arbeit, Fluß der Funktion, allseitige Beweglichkeit des Arbeiters... Man hat gesehn, wie dieser absolute Widerspruch ... im ununterbrochenen Opferfest der Arbeiterklasse, maßlosester Vergeudung der Arbeitskräfte und den Verheerungen gesellschaftlicher Anarchie sich austobt. Dies ist die negative Seite. Wenn aber der Wechsel der Arbeit sich jetzt nur als überwältigendes Naturgesetz und mit der blind zerstörenden Wirkung des Naturgesetzes durchsetzt, das überall auf Hindernisse stößt, macht die große Industrie durch ihre Katastrophen selbst es zur Frage von Leben oder Tod, den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit des Arbeiters als allgemeines gesellschaftlichesProduktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen. Sie macht es zu einer Frage von Leben oder Tod, die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltnen disponiblen Arbeiterbevölkerung zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind." (Marx, Kapital.)1 Indem die große Industrie uns gelehrt hat, die mehr oder weniger überall herstellbare Molekularbewegung in Massenbewegung zu technischen Zwecken zu verwandeln, hat sie die industrielle Produktion in bedeutendem Maße von lokalen Schranken befreit. Die Wasserkraft war lokal, die Dampfkraft ist frei. Wenn die Wasserkraft notwendig ländlich ist, so ist die Dampfkraft keineswegs notwendig städtisch. Es ist ihre kapitalistische Anwendung, die sie vorwiegend in den Städten konzentriert und Fabrikdörfer in Fabrikstädte umschafft. Damit aber untergräbt sie gleichzeitig die Bedingungen ihres eignen Betriebs. Erstes Erfordernis der Dampfmaschine und Haupterfordernis fast aller Betriebszweige der großen Industrie ist verhältnismäßig reines Wasser. Die Fabrikstadt aber verwandelt alles Wasser in stinkende Jauche. Sosehr also die städtische Konzentrierung Grundbedingung der kapitalistischen Produktion ist, sosehr strebt jeder einzelne industrielle Kapitalist stets von den durch sie notwendig erzeugten großen Städten weg und dem ländlichen Betrieb zu. Dieser Prozeß kann in den Bezirken der Textilindustrie von Lancashire und Yorkshire im einzelnen studiert werden; die kapitalistische Großindustrie erzeugt dort stets neue Großstädte da
1 Vgl. ebenda, S.511/512
durch, daß sie fortwährend von der Stadt aufs Land flieht. Ähnlich in den Bezirken der Metallindustrie, wo teilweise andre Ursachen dieselben Wirkungen erzeugen. Diesen neuen fehlerhaften Kreislauf, diesen sich stets neu erzeugenden Widerspruch der modernen Industrie aufzuheben, vermag wiederum nur die Aufhebung ihres kapitalistischen Charakters. Nur eine Gesellschaft, die ihre Produktivkräfte nach einem einzigen großen Plan harmonisch ineinandergreifen läßt, kann der Industrie erlauben, sich in derjenigen Zerstreuung über das ganze Land anzusiedeln, die ihrer eignen Entwicklung und der Erhaltung resp. Entwicklung der übrigen Elemente der Produktion am angemessensten ist. Die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land ist hiernach nicht nur möglich. Sie ist eine direkte Notwendigkeit der industriellen Produktion selbst geworden, wie sie ebenfalls eine Notwendigkeit der Agrikulturproduktion und obendrein der öffentlichen Gesundheitspflege geworden ist. Nur durch Verschmelzung von Stadt und Land kann die heutige Luft-, Wasser- und Bodenvergiftung beseitigt, nur durch sie die jetzt in den Städten hinsiechenden Massen dahin gebracht werden, daß ihr Dünger zur Erzeugung von Pflanzen verwandt wird, statt zur Erzeugung von Krankheiten. Die kapitalistische Industrie hat sich bereits relativ unabhängig gemacht von den lokalen Schranken der Produktionsstätten ihrer Rohstoffe. Die Textilindustrie verarbeitet der großen Masse nach importierte Rohstoffe. Spanische Eisenerze werden in England und Deutschland, spanische und südamerikanische Kupfererze werden in England verarbeitet. Jedes Kohlenfeld versieht weit über seine Grenzen hinaus einen jährlich wachsenden industriellen Umkreis mit Brennstoff. An der ganzen europäischen Küste werden Dampfmaschinen mit englischer, stellenweise deutscher und belgischer Kohle getrieben. Die von den Schranken der kapitalistischen Produktion befreite Gesellschaft kann noch viel weiter gehn. Indem sie ein Geschlecht von allseitig ausgebildeten Produzenten erzeugt, die die wissenschaftlichen Grundlagen der gesamten industriellen Produktion verstehn und von denen jeder eine ganze Reihe von Produktionszweigen von Anfang bis zu Ende praktisch durchgemacht, schafft sie eine neue Produktivkraft1, die die Transportarbeit der aus größerer Entfernung bezognen Roh- oder Brennstoffe überreichlich aufwiegt. Die Aufhebung der Scheidung von Stadt und Land ist also keine Utopie, auch nach der Seite hin, nach der sie die möglichst gleichmäßige Verteilung
1 Siehe Fußnote S. 249
der großen Industrie über das ganze Land zur Bedingung hat. Die Zivilisation hat uns freilich in den großen Städten eine Erbschaft hinterlassen, die zu beseitigen viel Zeit und Mühe kosten wird. Aber sie müssen und werden beseitigt werden, mag es auch ein langwieriger Prozeß sein. Welche Geschicke auch dem Deutschen Reich preußischer Nation vorbehalten sein mögen, Bismarck kann mit dem stolzen Bewußtsein in die Grube fahren, daß sein Lieblingswunsch sicher erfüllt wird: der Untergang der großen Städte/1651 Und nun besehe man sich die kindliche Vorstellung des Herrn Dühring, als könne die Gesellschaft Besitz ergreifen von der Gesamtheit der Produktionsmittel, ohne die alte Art des Produzierens von Grund aus umzuwälzen und vor allem die alte Teilung der Arbeit abzuschaffen; als sei alles abgemacht, sobald nur »den Naturgelegenheiten und den persönlichen Fähigkeiten Rechnung getragen"
wobei dann nach wie vor ganze Massen von Existenzen unter die Erzeugung eines Artikels geknechtet, ganze „Bevölkerungen" von einem einzelnen Produktionszweig in Anspruch genommen werden, und die Menschheit sich nach wie vor in eine Anzahl verschieden verkrüppelter „ökonomischer Spielarten" teilt, als da sind „Karrenschieber" und „Architekten". Die Gesellschaft soll Herrin der Produktionsmittel im ganzen werden, damit jeder einzelne Sklave seines Produktionsmittels bleibt und nur die Wahl hat welches Produktionsmittels. Und ebenso besehe man sich die Art, wie Herr Dühring die Scheidung von Stadt und Land für „der Natur der Sache nach unvermeidlich" hält, und nur ein kleines Palliativmittelchen entdecken kann in den in ihrer Verbindung spezifisch preußischen Zweigen der Schnapsbrennerei und Rübenzuckerbereitung; der die Zerstreuung der Industrie über das Land abhängig macht von irgendwelchen künftigen Entdeckungen und von der Nötigung, den Betrieb unmittelbar an die Gewinnung der Rohstoffe anzulehnen - der Rohstoffe, die schon jetzt in immer wachsender Entfernung von ihrem Ursprungsort verbraucht werden! - und der sich schließlich den Rücken zu decken sucht mit der Versicherung, die sozialen Bedürfnisse würden schließlich die Verbindung von Ackerbau und Industrie doch wohl auch gegen die ökonomischen Rücksichten durchsetzen, als ob damit ein ökonomisches Opfer gebracht würde! Freilich, um zu sehn, daß die revolutionären Elemente, die die alte Teilung der Arbeit mitsamt der Scheidung von Stadt und Land beseitigen und die ganze Produktion umwälzen v/erden, daß diese Elemente bereits in den Produktionsbedingungen der modernen großen Industrie im Keim enthed
ten sind und durch die heutige kapitalistische Produktionsweise an ihrer Entfaltung gehindert werden, dazu muß man einen etwas weitern Horizont haben als den Geltungsbereich des preußischen Landrechts, das Land, wo Schnaps und Rübenzucker die entscheidenden Industrieprodukte sind und wo man die Handeiskrisen auf dem Büchermarkt studieren kann. Dazu muß man die wirkliche große Industrie in ihrer Geschichte und in ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit kennen, namentlich in dem einen Lande, wo sie ihre Heimat und wo allein sie ihre klassische Ausbildung erreicht hat; und dann wird man auch nicht daran denken, den modernen wissenschaftlichen Sozialismus verseichtigen und herunterbringen zu wollen auf den spezifisch preußischen Sozialismus des Herrn Dühring.
IV. Verteilung
Wir sahen bereits früher1, daß die Dühringsche Ökonomie auf den Satz hinauslief: Die kapitalistische Produktionsweise ist ganz gut und kann bestehn bleiben, aber die kapitalistische Verteilungsweise ist vom Übel und muß verschwinden. Wir finden jetzt, daß die „Sozialität" des Herrn Dühring weiter nichts ist als die Durchführung dieses Satzes in der Phantasie. In der Tat zeigte sich, daß Herr Dühring an der Produktionsweise - als solcher - der kapitalistischen Gesellschaft fast gar nichts auszusetzen hat, daß er die alte Teilung der Arbeit in allen wesentlichen Beziehungen beibehalten will, und daher auch über die Produktion innerhalb seiner Wirtsehaftskommune kaum ein Wort zu sagen weiß. Die Produktion ist allerdings ein Gebiet, auf dem es sich um handfeste Tatsachen handelt, auf dem daher die „rationelle Phantasie" dem Flügelschlag ihrer freien Seele11561 nur wenig Raum geben darf, weil die Gefahr der Blamage zu nahe liegt. Dagegen die Verteilung, die nach der Ansicht des Herrn Dühring ja gar nicht mit der Produktion zusammenhängt, die nach ihm nicht durch die Produktion, sondern durch einen reinen Willensakt bestimmt wird - die Verteilung ist das prädestinierte Feld seiner „sozialen Alchimisterei".
Der gleichen Produktionspflicht tritt gegenüber das gleiche Konsumtionsrecht, organisiert in dsr Wirtschaftskommune und der eine größere Anzahl der letztern umfassenden Handelskommune. Hier wird „Arbeit... nach dem Grundsatz der gleichen Schätzung gegen andre Arbeit ausgetauscht ... Leistung und Gegenleistung stellen hier wirkliche Gleichheit der Arbeitsgrößen vor". Und zwar gilt diese „Gleichsetzung
1 Siehe vorl. Band, S. 173
der Menschenkräfte, mögen die einzelnen nun mehr oder weniger oder zufällig auch nichts geleistet haben"; denn man kann alle Verrichtungen, insofern sie Zeit und Kräfte in Anspruch nehmen, als Arbeitsleistungen ansehn - also auch Kegelschieben und Spazierengehn. Dieser Austausch findet aber nicht statt zwischen den einzelnen, da die Gesamtheit Besitzerin aller Produktionsmittel, also auch aller Produkte ist, sondern einerseits zwischen jeder Wirtschaftskommune und ihren einzelnen Mitgliedern, andrerseits zwischen den verschiednen Wirtschafts- und Handelskommunen selbst. „Namentlich werden die einzelnen Wirtschaftskommunen innerhalb ihres eignen Rahmens den Kleinhandel durch völlig planmäßigen Vertrieb ersetzen." Ebenso wird der Handel im großen organisiert: „Das System der freien Wirtschaftsgesellschaft... bleibt daher eine große Tauscheinrichtung, deren Vornahmen sich vermittelst der durch die edlen Metalle gegebnen Grundlagen vollziehn. Durch die Einsicht in die unumgängliche Notwendigkeit dieser Grundeigenschaft unterscheidet sich unser Schema von allen jenen Nebelhaftigkeiten, die auch noch den rationellsten Formen der heute umlaufenden sozialistischen Vorstellungen anhaften." Die Wirtschaftskommune, als erste Aneignerin der gesellschaftlichen Produkte, hat behufs dieses Austausches „für jeden Zweig von Artikeln einen einheitlichen Preis" nach den durchschnittlichen Produktionskosten festzusetzen. „Was gegenwärtig die sogenannten Selbstkosten der Produktion ... für Wert und Preis bedeuten, das werden" (in der Sozialität) „.. .die Anschläge der zu verwendenden Arbeitsmenge leisten. Diese Anschläge, die sich nach dem Grundsatz des auch wirtschaftlich gleichen Rechts jeder Persönlichkeit schließlich auf die Berücksichtigung der beteiligten Personenzahl zurückfuhren lassen, werden das zugleich den Naturverhältnissen der Produktion und dem gesellschaftlichen Verwertungsrecht entsprechende Verhältnis der Preise ergeben. Die Produktion der edlen Metalle wird ähnlich wie heute für die Wertbestimmung des Geldes maßgebend bleiben ... Man sieht hieraus, daß man in der veränderten Gesellschaftsverfassung zunächst für die Werte und mithin für die Verhältnisse, in denen die Erzeugnisse sich gegeneinander umsetzen, nicht nur Bestimmungsgrund und Maß nicht verliert, sondern erst gehörig gewinnt."
Der berühmte „absolute Wert" ist endlich realisiert.
Andrerseits aber wird die Kommune nun auch die einzelnen in den Stand setzen müssen, die produzierten Artikel von ihr zu kaufen, indem sie jedem eine gewisse tägliche, wöchentliche oder monatliche Geldsumme, die für jeden gleich zu sein hat, als Gegenleistung für seine Arbeit auszahlt. „Es ist daher vom Standpunkt der Sozialität gleichgültig, ob man sagt, daß der Arbeitslohn verschwinden oder daß er die ausschließliche Form der ökonomischen Einkünfte werden müsse." Gleiche Lohne und gleiche Preise aber stellen die „quantitative, wenn auch nicht qualitative Gleichheit der Konsumtion" her, und damit ist das „universelle Prinzip der Gerechtigkeit" ökonomisch verwirklicht.
über die Bestimmung der Höhe dieses Zukunftslohns sagt uns Herr Dühring nur,
daß auch hier, wie in allen andern Fällen, „gleiche Arbeit gegen gleiche Arbeit" ausgetauscht wird. Für sechsstündige Arbeit wird daher eine Geldsumme zu zahlen sein, die ebenfalls sechs Arbeitsstunden in sich verkörpert. Indes ist das „universelle Prinzip der Gerechtigkeit" keineswegs mit jener rohen Gleichmacherei zu verwechseln, die den Bürger so sehr aufbringt gegen jeden, namentlich den naturwüchsigen Arbeiterkommunismus. Es ist lange nicht so unerbittlich, als es gern aussehn möchte. Die „prinzipielle Gleichheit der ökonomischen Rechtsansprüche schließt nicht aus, daß freiwillig zu dem, was die Gerechtigkeit erfordert, auch noch ein Ausdruck der besondern Anerkennung und Ehre gefügt werde ... Die Gesellschaft ehrt sich selbst, indem sie die höher gesteigerten Leistungsgattungen durch eitle mäßige Mehrausstattung für die Konsumtion auszeichnet." Und auch Herr Dühring ehrt sich selbst, indem er, Taubenunschuld und Schlangenklugheit verschmelzend, so rührend für die mäßige Mehrkonsumtion der Zukunfts-Dührings besorgt ist. Hiermit ist die kapitalistische Verteilungsweise endgültig beseitigt. Denn „gesetzt, es hätte jemand unter Voraussetzung eines solchen Zustands wirklich einen Überschuß von privaten Mitteln zur Verfügung, so würde er für denselben keine kapitalmäßige Verwendung ausfindig machen können. Kein einzelner oder keine Gruppe würde ihm denselben für die Produktion anders als im Wege des Austausches oder Kaufs abnehmen, niemals aber in den Fall kommen, ihm Zinsen oder Gewinn zu zahlen." Hiermit wird „eine dem Grundsatz der Gleichheit entsprechende Vererbung" zulässig. Sie ist unvermeidlich, denn „eine gewisse Vererbung wird immer die notwendige Begleitung des Familienprinzips sein". Auch das Erbrecht wird „zu keiner Ansammlung umfangreicher Vermögen führen können, da hier die Eigentumsbildung ... namentlich nie mehr den Zweck haben kann, Produktionsmittel und reine Rentenexistenzen zu schaffen". Hiermit wäre die Wirtschaftskommune glücklich fertig. Sehn wir nun zu, wie sie wirtschaftet. Wir nehmen an, alle Unterstellungen des Herrn Dühring seien vollständig realisiert; wir setzen also voraus, daß die Wirtschaftskommune jedem ihrer Mitglieder für täglich sechsstündige Arbeit eine Geldsumme zahlt, in der ebenfalls sechs Arbeitsstunden verkörpert sind, meinetwegen zwölf Mark. Wir nehmen ebenfalls an, daß die Preise genau den Werten entsprechen, also unter unsern Voraussetzungen nur die Kosten der Rohstoffe, den Verschleiß der Maschinerie, den Verbrauch von Arbeitsmitteln und den gezahlten Arbeitslohn umfassen. Eine Wirtschaftskommune von hundert arbeitenden Mitgliedern produziert dann täglich Waren im Wert von 1200 Mark, im Jahr bei dreihundert Arbeitstagen für 360000 Mark,
und zahlt dieselbe Summe an ihre Mitglieder aus, deren jedes mit seinem Anteil von täglich 12 oder jährlich 3600 Mark macht, was es will. Am Ende des Jahres, und am Ende von hundert Jahren ist die Kommune nicht reicher als am Anfang. Sie wird während dieser Zeit nicht einmal imstande sein, die mäßige Mehrausstattung für die Konsumtion des Herrn Dühring zu leisten, falls sie nicht ihren Stamm von Produktionsmitteln angreifen will. Die Akkumulation ist total vergessen worden. Noch schlimmer: da die Akkumulation eine gesellschaftliche Notwendigkeit, und in der Beibehaltung des Geldes eine bequeme Form der Akkumulation gegeben, so fordert die Organisation der Wirtschaftskommune ihre Mitglieder direkt auf zur Privatakkumulation, und damit zu ihrer eignen Zerstörung. Wie diesem Zwiespalt der Natur der Wirtschaftskommune entgehn? Sie könnte Zuflucht nehmen zu der beliebten „Bezollung", dem Preisaufschlag, und ihre Jahresproduktion statt für 360 000 Mark für 480 000 Mark verkaufen. Da aber alle andern Wirtschaftskommunen in derselben Lage sind, also dasselbe tun müßten, so würde jede im Austausch mit der andern ebensoviel „Bezollung" zahlen müssen wie sie einsteckt, und der „Tribut" also nur auf ihre eignen Mitglieder fallen. Oder aber, sie macht die Sache kurz und bündig ab, indem sie jedem Mitglied für sechsstündige Arbeit das Produkt von weniger als sechsstündiger Arbeit, meinetwegen von vier Arbeitsstunden zahlt, also statt zwölf Mark nur acht Mark täglich, die Warenpreise aber auf der alten Höhe bestehn läßt. Sie tut in diesem Falle direkt und offen, was sie im vorigen versteckt und auf einem Umweg versucht: sie bildet Marxschen Mehrwert im jährlichen Betrag von 120 000 Mark, indem sie ihre Mitglieder in durchaus kapitalistischer Weise unter dem Wert ihrer Leistung bezahlt und ihnen obendrein die Waren, die sie nur bei ihr kaufen können, zum vollen Wert anrechnet. Die Wirtschaftskommune kann also nur zu einem Reservefonds kommen, indem sie sich enthüllt als das „veredelte" Trucksystem* auf breitester kommunistischer Grundlage. Also eins von zweien: Entweder tauscht die Wirtschaftskommune „gleiche Arbeit aus gegen gleiche Arbeit", und dann kann nicht sie, sondern nur die Privaten einen Fonds zur Erhaltung und Ausdehnung der Produktion akkumulieren. Oder aber, sie bildet einen solchen Fonds, und dann tauscht sie nicht „gleiche Arbeit aus gegen gleiche Arbeit".
* Trucksystem nennt man in England das auch in Deutschland wohlbekannte System, wobei die Fabrikanten selbst Läden halten und ihre Arbeiter nötigen, sich bei ihnen mit Waren zu versehn.
So steht's mit dem Inhalt des Austausches in der Wirtschaftskommune. Wie mit der Form? Der Austausch wird durch Metallgeld vermittelt, und Herr Dühring tut sich nicht wenig zugut auf die „menschheitsgeschichtliche Tragweite" dieser Verbesserung. Aber im Verkehr zwischen der Kommune und ihren Mitgliedern ist das Geld gar kein Geld, fungiert es gar nicht als Geld. Es dient als reines Arbeitszertifikat, es konstatiert, um mit Marx zu reden, „nur den individuellen Anteil des Produzenten an der Gemeinarbeit und seinen individuellen Anspruch auf den zur Konsumtion bestimmten Teil des Gemeinprodukts", und ist in dieser Funktion „ebensowenig ,Geld' wie etwa eine Theatermarke"1. Es kann hiermit durch jedes beliebige Zeichen ersetzt werden, wie Weitling es durch ein „Kommerzbuch" ersetzt, worin auf der einen Seite die Arbeitsstunden und auf der andern die dafür bezognen Genüsse abgestempelt werden.11571 Kurz, es fungiert im Verkehr der Wirtschaftskommune mit ihren Mitgliedern einfach als das Owensche „Arbeitsstundengeld", dies „Wahngebilde", auf das Herr Dühring so vornehm herabsieht und das er dennoch selbst in seine Zukunftswirtschaft einführen muß. Ob die Marke, die das Maß der erfüllten „Produktionspflicht" und des damit erworbnen „Konsumtionsrechts" bezeichnet, ein Wisch Papier, ein Rechenpfennig oder ein Goldstück ist, bleibt sich für diesen Zweck vollständig gleich. Für andre Zwecke aber durchaus nicht, wie sich zeigen wird. Wenn das Metallgeld also schon im Verkehr der Wirtschaftskommune mit ihren Mitgliedern nicht als Geld fungiert, sondern als verkleidete Arbeitsmarke, so kommt es noch weniger zu seiner Geldfunktion im Austausch zwischen den verschiednen Wirtschaftskommunen. Hier ist, unter den Voraussetzungen des Herrn Dühring, das Metallgeld total überflüssig. In der Tat würde eine bloße Buchführung hinreichen, die den Austausch von Produkten gleicher Arbeit gegen Produkte gleicher Arbeit viel einfacher vollzieht, wenn sie mit dem natürlichen Maßstab der Arbeit - der Zeit, der Arbeitsstunde als Einheit - rechnet, als wenn sie die Arbeitsstunden erst in Geld übersetzt. Der Austausch ist in Wirklichkeit reiner Naturalaustausch; alle Mehrforderungen sind leicht und einfach ausgleichbar durch Anweisungen auf andre Kommunen. Wenn aber eine Kommune wirklich gegenüber andern Kommunen ein Defizit haben sollte, so kann alles „im Universum vorhandne Gold", und wenn es noch so sehr „von Natur Geld" sein sollte, dieser Kommune das Schicksal nicht ersparen, dies Defizit durch vermehrte eigne Arbeit zu ersetzen, falls sie nicht in Schuldabhängigkeit
von andern Kommunen geraten will. Übrigens möge der Leser fortwährend im Gedächtnis halten, daß wir hier keineswegs Zukunftskonstruktion machen. Wir nehmen einfach die Voraussetzungen des Herrn Dühring an und ziehen nur die unvermeidlichen Folgerungen daraus. Also weder im Austausch zwischen der Wirtschaftskommune und ihren Mitgliedern noch in dem zwischen den verschiednen Kommunen kann das Gold, das „von Natur Geld ist", dahin kommen, diese seine Natur zu verwirklichen. Trotzdem schreibt ihm Herr Dühring vor, auch in der „Sozialität" Geldfunktion zu vollziehn. Wir müssen uns also nach einem andern Spielraum für diese Geldfunktion umsehn. Und dieser Spielraum existiert. Herr Dühring befähigt zwar jeden zur „quantitativ gleichen Konsumtion", aber er kann niemanden dazu zwingen. Im Gegenteil, er ist stolz darauf, daß in seiner Welt jeder mit seinem Gelde machen kann, was er will. Er kann also nicht verhindern, daß die einen sich einen kleinen Geldschatz zurücklegen, während die andern mit dem ihnen gezahlten Lohn nicht auskommen. Er macht dies sogar unvermeidlich, indem er das Gemeineigentum der Familie im Erbrecht ausdrücklich anerkennt, woraus sich dann weiter die Verpflichtung der Eltern zur Erhaltung der Kinder ergibt. Damit aber bekommt die quantitativ gleiche Konsumtion einen gewaltigen Riß. Der Junggesell lebt herrlich und in Freuden von seinen acht oder zwölf Mark täglich, während der Witwer mit acht unmündigen Kindern damit kümmerlich auskommt. Andrerseits aber läßt die Kommune, indem sie Geld ohne weiteres in Zahlung nimmt, die Möglichkeit offen, daß dies Geld anders als durch eigne Arbeit erworben sei. Non olet.1 Sie weiß nicht, woher es kommt. Hiermit sind aber alle Bedingungen gegeben, um das Metallgeld, das bisher nur die Rolle einer Arbeitsmarke spielte, in wirkliche Geldfunktion treten zu lassen. Es liegen vor die Gelegenheit und das Motiv, einerseits zur Schatzbildung, andrerseits zur Verschuldung. Der Bedürftige borgt beim Schatzbildner. Das geborgte Geld, von der Kommune in Zahlung genommen für Lebensmittel, wird damit wieder, was es in der heutigen Gesellschaft ist, gesellschaftliche Inkarnation der menschlichen Arbeit, wirkliches Maß der Arbeit, allgemeines Zirkulationsmittel. Alle „Gesetze und Verwaltungsnormen" der Welt sind ebenso ohnmächtig dagegen, wie gegen das Einmaleins oder gegen die chemische Zusammensetzung des Wassers. Und da der Schatzbildner in der Lage ist, vom Bedürftigen Zinsen zu erzwingen, so ist mit dem als Geld fungierenden Metallgeld auch der Zinswucher wiederhergestellt.
1 Geld stinkt nicht.
Soweit haben wir nur die Wirkungen der Beibehaltung des Metallgeldes betrachtet innerhalb des Geltungsbereichs der Dühringschen Wirtschaftskommune. Aber jenseits dieses Bereichs geht die übrige verworfne Welt einstweilen ihren alten Gang ruhig weiter. Gold und Silber bleiben, auf dem Weltmarkt, Weltgeld, allgemeines Kauf- und Zahlungsmittel, absolut gesellschaftliche Verkörperung des Reichtums. Und mit dieser Eigenschaft des edlen Metalls tritt vor die einzelnen Wirtschaftskommunisten ein neues Motiv zur Schatzbildung, zur Bereicherung, zum Wucher, das Motiv, sich gegenüber der Kommune und jenseits ihrer Grenzen frei und unabhängig zu bewegen und den aufgehäuften Emzelreichtum auf dem Weltmarkt zu verwerten. Die Wucherer verwandeln sich in Händler mit dem Zirkulationsmittel, in Bankiers, in Beherrscher des Zirkulationsmittels und des Weltgelds, damit in Beherrscher der Produktion und damit in Beherrscher der Produktionsmittel, mögen diese auch noch jahrelang dem Namen nach als Eigentum der Wirtschafts- und Handelskommune figurieren. Damit sind aber die in Bankiers übergegangnen Schatzbildner und Wucherer auch die Herren der Wirtschafts- und Handelskommune selbst. Die „Sozialität" des Herrn Dühring unterscheidet sich in der Tat sehr wesentlich von den „Nebelhaftigkeiten" der übrigen Sozialisten. Sie hat weiter keinen Zweck als die Wiedererzeugung der hohen Finanz, unter deren Kontrolle und für deren Säckel sie sich tapfer abarbeiten wird - wenn sie überhaupt zusammenkommt und zusammenhält. Die einzige Rettung für sie läge darin, daß die Schatzbildner vorzögen, vermittelst ihres Weltgeldes eiligst aus der Kommune - davonzulaufen. Bei der in Deutschland herrschenden ausgedehnten Unbekanntsc'nafi mit dem älteren Sozialismus könnte nun ein unschuldiger Jüngling die Frage aufwerfen, ob nicht auch z.B. die Owenschen Arbeitsmarken zu einem ähnlichen Mißbrauch Anlaß geben könnten. Obwohl wir hier nicht die Bedeutung dieser Arbeitsmarken zu entwickeln haben, so mag doch zur Vergleichung des Dühringschen „umfassenden Schematismus'" mit den „rohen, matten und dürftigen Ideen" Owens folgendes Platz finden: Erstens wäre zu einem solchen Mißbrauch der Owenschen Arbeitsmarken ihre Verwandlung in wirkliches Geld nötig, während Herr Dühring wirkliches Geld voraussetzt, ihm aber verbieten will, anders als bloße Arbeitsmarke zu fungieren. Während dort wirklicher Mißbrauch stattfände, setzt sich hier die immanente, vom menschlichen Willen unabhängige Natur des Geldes durch, setzt das Geld seinen ihm eigentümlichen, richtigen Gebrauch durch gegenüber dem Mißbrauch, den Herr Dühring ihm aufzwingen will kraft seiner eignen Unwissenheit über die Natur des Geldes. Zweitens sind bei Owen
die Arbeitsmarken nur eine Übergangsform zur vollständigen Gemeinschaft und freien Benutzung der gesellschaftlichen Ressourcen, nebenbei höchstens noch ein Mittel, dem britischen Publikum den Kommunismus plausibel zu machen. Wenn also etwelcher Mißbrauch die Owensche Gesellschaft zur Abschaffung der Arbeitsmarken zwingen sollte, so tut diese Gesellschaft einen Schritt weiter voran zu ihrem Ziel und tritt in eine vollkommnere Entwicklungsstufe ein. Schafft dagegen die Dühringsche Wirtschaf tskommune das Geld ab, so vernichtet sie mit einem Schlage ihre „menschheitsgeschichtliche Tragweite", so beseitigt sie ihre eigentümlichste Schönheit, hört auf, Dühringsche Wirtschaftskommune zu sein und sinkt herab zu den Nebelhaftigkeiten, aus denen sie herauszuheben Herr Dühring soviel saure Arbeit der rationellen Phantasie aufgewandt hat.* Woraus entstehn nun alle die sonderbaren Irrungen und Wirrungen, in denen die Dühringsche Wirtschaftskommune herumfährt? Einfach aus der Nebelhaftigkeit, die im Kopf des Herrn Dühring die Begriffe von Wert und Geld umhüllt, und die ihn schließlich dahin treibt, den Wert der Arbeit entdecken zu wollen. Da aber Herr Dühring keineswegs das Monopol solcher Nebelhaftigkeit für Deutschland besitzt, im Gegenteil zahlreiche Konkurrenz findet, so wollen wir „uns einen Augenblick überwinden, das Knäuel aufzulösen", das er hier angerichtet hat. Der einzige Wert, den die Ökonomie kennt, ist der Wert von Waren. Was sind Waren? Produkte, erzeugt in einer Gesellschaft mehr oder weniger vereinzelter Privatproduzenten, also zunächst Privatprodukte. Aber diese Privatprodukte werden erst Waren, sobald sie nicht für den Selbstverbrauch, sondern für den Verbrauch durch andre, also für den gesellschaftlichen Verbrauch produziert werden; sie treten ein in den gesellschaftlichen Verbrauch durch den Austausch. Die Privatproduzenten stehn also in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, bilden eine Gesellschaft. Ihre Produkte, obwohl Privatprodukte jedes einzelnen, sind daher gleichzeitig, aber unabsichtlich und gleichsam widerwillig, auch gesellschaftliche Produkte. Worin besteht nun der gesellschaftliche Charakter dieser Privatprodukte? Offenbar in zwei Eigenschaften: erstens darin, daß sie alle irgendein menschliches Bedürfnis befriedigen, einen Gebrauchswert haben nicht nur für den
* Beiläufig ist die Rolle, die die Arbeitsmarken in der Owenschen kommunistischen Gesellschaft spielen, dem Herrn Dühring gänzlich unbekannt. Er kennt diese Marken - aus Sargantt146^ - nur, soweit sie in den, natürlich fehlgeschlagnen, Labour Exchange Bazaarst144' figurieren, Versuchen, vermittelst direkten Arbeitsaustausches aus der bestehenden in die kommunistische Gesellschaft überzuführen.
Produzenten, sondern auch für andre; und zweitens darin, daß sie, obwohl Produkte der verschiedensten Privatarbeiten, gleichzeitig Produkte menschlicher Arbeit schlechthin, allgemein menschlicher Arbeit sind. Insofern sie auch für andre einen Gebrauchswert haben, können sie überhaupt in den Austausch treten; insofern in ihnen allen allgemein menschliche Arbeit, einfache Aufwendung menschlicher Arbeitskraft steckt, können sie nach der in einer jeden steckenden Menge dieser Arbeit miteinander im Austausch verglichen, gleich oder ungleich gesetzt werden. In zwei gleichen Privatprodukten kann, unter gleichbleibenden gesellschaftlichen Verhältnissen, ungleich viel Privatarbeit stecken, aber immer nur gleich viel allgemein menschliche Arbeit. Ein ungeschickter Schmied kann in derselben Zeit fünf Hufeisen machen, in der ein geschickter zehn macht. Aber die Gesellschaft verwertet nicht das zufällige Ungeschick des einen, sie erkennt als allgemein menschliche Arbeit nur Arbeit von jedesmal normalem Durchschnittsgeschick an. Eins der fünf Hufeisen des ersten hat im Austausch also nicht mehr Wert als eins der in gleicher Arbeitszeit geschmiedeten zehn des andern. Nur insofern sie gesellschaftlich notwendig, enthält die Privatarbeit allgemein menschliche Arbeit. Indem ich also sage, eine Ware hat diesen bestimmten Wert, sage ich 1. daß sie ein gesellschaftlich nützliches Produkt ist; 2. daß sie von einer Privatperson für Privatrechnung produziert ist; 3. daß sie, obwohl Produkt von Privatarbeit, dennoch gleichzeitig und gleichsam ohne es zu wissen oder zu wollen, auch Produkt von gesellschaftlicher Arbeit ist, und zwar von einer bestimmten, auf einem gesellschaftlichen Wege, durch den Austausch festgestellten Menge derselben; 4. drücke ich diese Menge nicht aus in Arbeit selbst, in soundso viel Arbeitsstunden, sondern in einer andern Ware. Wenn ich also sage, diese Uhr ist soviel wert wie dies Stück Tuch und jedes von beiden ist fünfzig Mark wert, so sage ich: in der Uhr, dem Tuch und dem Geld steckt gleich viel gesellschaftliche Arbeit. Ich konstatiere also, daß die in ihnen repräsentierte gesellschaftliche Arbeitszeit gesellschaftlich gemessen und gleichgefunden worden ist. Aber nicht direkt, absolut, wie man sonst Arbeitszeit mißt, in Arbeitsstunden oder Tagen usw., sondern auf einem Umweg, vermittelst des Austausches, relativ. Ich kann daher auch dieses festgestellte Quantum Arbeitszeit nicht in Arbeitsstunden ausdrükken, deren Zahl mir unbekannt bleibt, sondern ebenfalls nur auf einem Umweg, relativ, in einer andern Ware, die das gleiche Quantum gesellschaftlicher Arbeitszeit vorstellt. Die Uhr ist soviel wert wie das Stück Tuch. Indem aber Warenproduktion und Warenaustausch die auf ihnen beruhende Gesellschaft zu diesem Umweg zwingen, zwingen sie ebenso zu
seiner möglichsten Verkürzung. Sie sondern aus dem gemeinen Warenpöbel eine fürstliche Ware aus, in der der Wert aller andern Waren ein für allemal ausdrückbar ist, eine Ware, die als unmittelbare Inkarnation der gesellschaftlichen Arbeit gilt und daher gegen alle Waren unmittelbar und unbedingt austauschbar wird - das Geld. Das Geld ist im Wertbegriff bereits im Keim enthalten, es ist nur der entwickelte Wert. Aber indem der Warenwert sich, gegenüber den Waren selbst, verselbständigt im Geld, tritt ein neuer Faktor ein in die Waren produzierende und austauschende Gesellschaft, ein Faktor mit neuen gesellschaftlichen Funktionen und Wirkungen. Wir haben dies vorderhand nur festzustellen, ohne näher darauf einzugehn. Die Ökonomie der Warenproduktion ist keineswegs die einzige Wissenschaft, die nur mit relativ bekannten Faktoren zu rechnen hat. Auch in der Physik wissen wir nicht, wieviel einzelne Gasmoleküle in einem gegebnen Gasvolumen, Druck und Temperatur ebenfalls gegeben, vorhanden sind. Aber wir wissen, daß, soweit das Boylesche Gesetz richtig, ein solches gegebnes Volumen irgendwelches Gases ebensoviel Moleküle enthält, wie ein gleiches Volumen eines beliebigen andern Gases bei gleichem Druck und gleicher Temperatur. Wir können daher die verschiedensten Volumen der verschiedensten Gase, unter den verschiedensten Druck- und Temperaturbedingungen, auf ihren Molekulargehalt vergleichen; und wenn wir 1 Liter Gas bei 0° C und 760 mm Druck als Einheit annehmen, an dieser Einheit jenen Molekulargehalt messen. - In der Chemie sind uns die absoluten Atomgewichte der einzelnen Elemente ebenfalls unbekannt. Aber wir kennen sie relativ, indem wir ihre gegenseitigen Verhältnisse kennen. Wie also die Warenproduktion und ihre Ökonomie für die in den einzelnen Waren steckenden, ihr unbekannten Arbeitsquanta einen relativen Ausdruck erhält, indem sie diese Waren auf ihren relativen Arbeitsgehalt vergleicht, so verschafft sich die Chemie einen relativen Ausdruck für die Größe der ihr unbekannten Atomgewichte, indem sie die einzelnen Elemente auf ihr Atomgewicht vergleicht, das Atomgewicht des einen in Vielfachen oder Bruchteilen des andern (Schwefel, Sauerstoff, Wasserstoff) ausdrückt. Und wie die Warenproduktion das Gold zur absoluten Ware, zum allgemeinen Äquivalent der übrigen Waren, zum Maß aller Werte erhebt, so erhebt die Chemie den Wasserstoff zur chemischen Geldware, indem sie sein Atomgewicht = 1 setzt und die Atomgewichte aller übrigen Elemente auf Wasserstoff reduziert, in Vielfachen seines Atomgewichts ausdrückt. Die Warenproduktion ist indes keineswegs die ausschließliche Form der gesellschaftlichen Produktion. In dem altindischen Gemeinwesen, in der südslawischen Familiengemeinde verwandeln sich die Produkte nicht in
Waren. Die Mitglieder der Gemeinde sind unmittelbar zur Produktion vergesellschaftet, die Arbeit wird nach Herkommen und Bedürfnis verteilt, die Produkte, soweit sie zur Konsumtion kommen, ebenfalls. Die unmittelbar gesellschaftliche Produktion wie die direkteVerteilung schließen allen Waren1 1 ll'W 11 1 n 11.» xvr / ausrauscn aus, aiso aucn aie Verwandlung aer rroauKte in waren (wenigstens innerhalb der Gemeinde), und damit auch ihre Verwandlung in Werte. Sobald die Gesellschaft sich in den Besitz der Produktionsmittel setzt und sie in unmittelbarer Vergesellschaftung zur Produktion verwendet, wird die Arbeit eines jeden, wie verschieden auch ihr spezifisch nützlicher Charakter sei, von vornherein und direkt gesellschaftliche Arbeit. Die in einem Produkt steckende Menge gesellschaftlicher Arbeit braucht dann nicht erst auf einem Umweg festgestellt zu werden; die tägliche Erfahrung zeigt direkt an, wieviel davon im Durchschnitt nötig ist. Die Gesellschaft kann einfach berechnen, wieviel Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken. Es kann ihr also nicht einfallen, die in den Produkten niedergelegten Arbeitsquanta, die sie alsdann direkt und absolut kennt, noch fernerhin in einem nur relativen, schwankenden, unzulänglichen, früher als Notbehelf unvermeidlichen Maß, in einem dritten Produkt auszudrücken und nicht in ihrem natürlichen, adäquaten, absoluten Maß, der Zeit, Ebensowenig wie es der Chemie einfallen würde, die Atomgewichte auch dann auf dem Umwege des Wasserstoffatoms relativ auszudrücken, sobald sie imstande wäre, sie absolut, in ihrem adäquaten Maß auszudrükken, nämlich in wirklichem Gewicht, in Billiontel oder Quadrilliontel Gramm. Die Gesellschaft schreibt also unter obigen Voraussetzungen den Produkten auch keine Werte zu. Sie wird die einfache Tatsache, daß die hundert Quadratmeter Tuch meinetwegen tausend Arbeitsstunden zu ihrer Produktion erfordert haben, nicht in der schielenden und sinnlosen W7eise ausdrücken, sie seien tausend Arbeitsstunden wert. Allerdings wird auch dann die Gesellschaft wissen müssen, wieviel Arbeit jeder Gebrauchsgegenstand zu seiner Herstellung bedarf. Sie wird den Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte der verschiednen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan schließlich bestimmen. Die Leute machen alles sehr einfach ab ohne Dazwischenkunft des vielberühmten „Werts".*
* Daß obige Abwägung von Nutzeffekt und Arbeitsaufwand bei der Entscheidung über die Produktion alles ist, was in einer kommunistischen Gesellschaft vom Wert
Der Wertbegriff ist der allgemeinste und daher umfassendste Ausdruck der ökonomischen Bedingungen der Warenproduktion. Im Wertbegriff ist daher der Keim enthalten, nicht nur des Geldes, sondern auch aller weiter entwickelten Formen der Warenproduktion und des Warenaustausches. Darin, daß der Wert der Ausdruck der in den Privatprodukten enthaltnen gesellschaftlichen Arbeit ist, liegt schon die Möglichkeit der Differenz zwischen dieser und der im selben Produkt enthaltnen Privatarbeit. Produziert also ein Privatproduzent nach alter Weise weiter, während die gesellschaftliche Produktionsweise fortschreitet, so wird ihm diese Differenz empfindlich fühlbar. Dasselbe geschieht, sobald die Gesamtheit der Privatanfertiger einer bestimmten Warengattung ein den gesellschaftlichen Bedarf überschießendes Quantum davon produziert. Darin, daß der Wert einer Ware nur in einer andern Ware ausgedrückt und nur im Austausch gegen sie realisiert werden kann, liegt die Möglichkeit, daß der Austausch überhaupt nicht zustande kommt oder doch nicht den richtigen Wert realisiert. Endlich , tritt die spezifische Ware Arbeitskraft auf den Markt, so bestimmt sich ihr Wert, wie der jeder andern Ware, nach der zu ihrer Produktion gesellschaftlich nötigen Arbeitszeit. In der Wertform der Produkte steckt daher bereits im Keim die ganze kapitalistische Produktionsform, der Gegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern, die industrielle Reservearmee, die Krisen. Die kapitalistische Produktionsform abschaffen wollen durch Herstellung des „wahren Werts", heißt daher den Katholizismus abschaffen wollen durch die Herstellung des „wahren" Papstes oder eine Gesellschaft, in der die Produzenten endlich einmal ihr Produkt beherrschen, herstellen durch konsequente Durchführung einer ökonomischen Kategorie, die der umfassendste Ausdruck der Knechtung der Produzenten durch ihr eignes Produkt ist. Hat die Waren produzierende Gesellschaft die den Waren, als solchen, inhärente Wertform weiterentwickelt zur Geldform, so brechen bereits verschiedne der im Wert noch verborgnen Keime an den Tag. Die nächste und wesentlichste Wirkung ist die Verallgemeinerung der Warenform. Auch den bisher für direkten Selbstverbrauch produzierten Gegenständen zwingt das Geld Warenform auf, reißt sie in den Austausch. Damit dringt die Warenform und das Geld ein in den innern Haushalt der zur Produktion unmittelbar vergesellschafteten Gemeinwesen, bricht ein Band der
begriff der politischen Ökonomie übrigbleibt, habe ich schon 1844 ausgesprochen. („Deutsch-Französische Jahrbücher", Seite 95.)[1581 Die wissenschaftliche Begründung dieses Satzes ist aber, wie man sieht, erst durch Marx* „Kapital" möglich geworden.
Gemeinschaft nach dem andern und löst das Gemeinwesen auf in einen Haufen von Privatproduzenten. Das Geld setzt zuerst, wie in Indien zu sehn, an die Stelle der gemeinsamen Bodenbebauung die Einzelkultur; später löst es das noch in zeitweilig wiederholter Umteilung zutage tretende gemeinsame Eigentum am Ackerland auf durch endgültige Aufteilung (z.B. in den Gehöferschaften an der Mosel[78], beginnend auch in der russischen Gemeinde); endlich drängt es zur Verteilung des noch übrigen gemeinsamen Wald- und Weidebesitzes. Welche andern, in der Entwicklung der Produktion begründeten Ursachen auch hier mitarbeiten, das Geld bleibt immer das mächtigste Mittel ihrer Einwirkung auf die Gemeinwesen. Und mit derselben Naturnotwendigkeit müßte das Geld, allen „Gesetzen und Verwaltungsnormen" zum Trotz, die Dühringsche Wirtschaftskommune auflösen9 käme sie je zustande. Wir haben bereits oben (Ökonomie, VI) gesehn, daß es ein Widerspruch in sich selbst ist, von einem Wert der Arbeit zu sprechen. Da Arbeit unter gewissen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht nur Produkte erzeugt, sondern auch Wert, und dieser Wert durch die Arbeit gemessen wird, so kann sie ebensowenig einen besondern Wert haben wie die Schwere als solche ein besondres Gewicht oder die Wärme eine besondre Temperatur. Es ist aber die charakteristische Eigenschaft aller über den „wahren Wert" grübelnden Sozialkonfusion, sich einzubilden, der Arbeiter erhalte in der heutigen Gesellschaft nicht den vollen „Wert" seiner Arbeit und der Sozialismus sei berufen, dem abzuhelfen. Dazu gehört dann zunächst, auszufinden, was der Wert der Arbeit ist; und diesen findet man, indem man versucht» die Arbeit nicht an ihrem adäquaten Maß, der Zeit, zu messen, sondern an ihrem Produkt. Der Arbeiter soll den „vollen Arbeitsertrag"f92] erhalten. Nicht nur Arbeitsprodukt, sondern Arbeit selbst soll unmittelbar austauschbar sein gegen Produkt, eine Arbeitsstunde gegen das Produkt einer andren Arbeitsstunde. Dies hat aber sofort einen sehr „bedenklichen" Haken. Das ganze Produkt wird verteilt. Die wichtigste progressive Funktion der Gesellschaft, die Akkumulation, wird der Gesellschaft entzogen und in die Hände und die Willkür der einzelnen gelegt. Die einzelnen mögen mit ihren „Erträgen" machen, was sie wollen, die Gesellschaft bleibt im besten Fall so reich oder so arm, wie sie war. Man hat also die in der Vergangenheit akkumulierten Produktionsmittel nur deshalb in den Händen der Gesellschaft zentralisiert, damit alle in Zukunft akkumulierten Produktionsmittel wieder in den Händen der einzelnen zersplittert werden. Man schlägt seinen eignen Voraussetzungen ins Gesicht, man ist angekommen bei einer puren Absurdität.
Flüssige Arbeit, tätige Arbeitskraft soll ausgetauscht werden gegen Arbeitsprodukt. Dann ist sie Ware, ebenso wie das Produkt, wogegen sie ausgetauscht werden soll. Dann wird der Wert dieser Arbeitskraft bestimmt keineswegs nach ihrem Produkt, sondern nach der in ihr verkörperten gesellschaftlichen Arbeit, also nach dem heutigen Gesetz des Arbeitslohns. Aber das soll ja grade nicht sein. Die flüssige Arbeit, die Arbeitskraft soll austauschbar sein gegen ihr volles Produkt. Das heißt, sie soll austauschbar sein nicht gegen ihren Wert, sondern gegen ihren Gebrauchswert; das Wertgesetz soll für alle andern Waren gelten, aber es soll aufgehoben sein für die Arbeitskraft. Und diese sich selbst aufhebende Konfusion ist es, die sich hinter dem „Wert der Arbeit" verbirgt. Der „Austausch von Arbeit gegen Arbeit nach dem Grundsatz der gleichen Schätzung", soweit er einen Sinn hat, also die Austauschbarkeit von Produkten gleicher gesellschaftlichen Arbeit gegeneinander, also das Wertgesetz, ist das Grundgesetz grade der Warenproduktion, also auch der höchsten Form derselben, der kapitalistischen Produktion. Es setzt sich in der heutigen Gesellschaft durch in derselben Weise, in der allein ökonomische Gesetze in einer Gesellschaft von Privatproduzenten sich durchsetzen können: als in den Dingen und Verhältnissen liegendes, vom Wollen oder Laufen der Produzenten unabhängiges, blind wirkendes Naturgesetz. Indem Herr Dühring dies Gesetz zum Grundgesetz seiner Wirtschaftskommune erhebt und verlangt, daß diese es mit vollem Bewußtsein durchführen soll, macht er das Grundgesetz der bestehenden Gesellschaft zum Grundgesetz seiner Phantasiegesellschaft. Er will die bestehende Gesellschaft, aber ohne ihre Mißstände. Er bewegt sich dabei ganz auf demselben Boden wie Proudhon. Wie dieser will er die Mißstände, die aus der Entwicklung der Warenproduktion zur kapitalistischen Produktion entstanden sind, beseitigen, indem er ihnen gegenüber das Grundgesetz der Warenproduktion geltend macht, dessen Betätigung grade diese Mißstände erzeugt hat. Wie Proudhon will er die wirklichen Konsequenzen des Wertgesetzes aufheben durch phantastische. Wie stolz er aber auch hinausreite, unser moderner Don Quijote, auf seiner edlen Rosinante, dem „universellen Prinzip der Gerechtigkeit", und gefolgt von seinem wackern Sancho Pansa Abraham Enß, auf der irrenden Ritterfahrt zur Eroberung des Helms des Mambrin, des „Werts der Arbeit" - wir fürchten, wir fürchten, er bringt nichts heim, als das alte bekannte Barbierbecken.
V. Staat, Familie, Erziehung
Mit den beiden vorigen Abschnitten hätten wir nun den ökonomischen Inhalt der „neuen sozialitären Gebilde" des Herrn Dühring so ziemlich erschöpft. Höchstens wäre noch zu bemerken, dai3 „die universelle Weite des geschichtlichen Umblicks" ihn keineswegs verhindert, seine Spezialinteressen wahrzunehmen, auch abgesehn von der bekannten mäßigen Mehrkonsumtion. Da die alte Teilung der Arbeit in der Sozialität fortbesteht, wird die Wirtschaftskommune außer mit Architekten und Karrenschiebern auch mit Literaten von Profession zu rechnen haben, wobei dann die Frage entsteht, wie es alsdann mit dem Autorrecht gehalten werden soll. Diese Frage beschäftigt Herrn Dühring mehr als jede andre. Überall, z.B. bei Gelegenheit von Louis Blanc undProudhon, gerät das Autorrecht dem Leser zwischen die Beine, um endlich auf neun Seiten des „Cursus" des breitern breitgetreten und in der Form einer mysteriösen „Arbeitsbelohnung" - ob mit oder ohne mäßige Mehrkonsumtion wird nicht gesagt - glücklich in den Hafen der Sozialität hinübergerettet zu werden. Ein Kapitel über die Stellung der Flöhe im natürlichen System der Gesellschaft wäre ebenso angebracht gewesen und jedenfalls weniger langweilig. Über die Staatsordnung der Zukunft gibt die „Philosophie" ausführliche Vorschriften. Hier hat Rousseau, obwohl „der einzige bedeutende Vorgänger" des Herrn Dühring, dennoch den Grund nicht tief genug gelegt; sein tieferer Nachfolger hilft dem gründlich ab, indem er den Rousseau aufs alleräußerste verwässert und mit ebenfalls zu breiter Bettelsuppe verkochten Abfällen der Hegeischen Rechtsphilosophie versetzt. „Die Souveränetät des Individuums" bildet die Grundlage des Dühringschen Zukunftsstaats; sie soll in der Herrschaft der Majorität nicht unterdrückt werden, sondern erst recht kulminieren. Wie geht das zu? Sehr einfach.
„Wenn man in allen Richtungen Übereinkünfte eines jeden mit jedem andern voraussetzt, und wenn diese Verträge die gegenseitige Hülfeleistung gegen ungerechte Verletzungen zum Gegenstand haben - alsdann wird nur die Macht zur Aufrechterhaltung des Rechts verstärkt und aus keiner bloßen Übergewalt der Menge über den einzelnen oder der Mehrheit über die Minderheit ein Recht abgeleitet."
Mit solcher Leichtigkeit setzt die lebendige Kraft des wirklichkeitsphilosophischen Hokuspokus über die unpassierbarsten Hindernisse hinweg, und wenn der Leser meint, er sei hiernach nicht klüger als zuvor, so antwortet ihm Herr Dühring, er möge die Sache nur ja nicht so leicht nehmen, denn
„der geringste Fehlgriff in der Auffassung der Rolle des Gesamtwillens würde die Souveränetät des Individuums vernichten, und diese Souveränetät ist es allein, was (!) zur Ableitung wirklicher Rechte führt". Herr Dühring behandelt sein Publikum ganz wie es verdient, wenn er es zum besten hält. Er konnte sogar noch bedeutend dicker auftragen; die Studiosen der Wirklichkeitsphilosophie hätten es doch nicht gemerkt. Die Souveränität des Individuums besteht nun wesentlich darin, daß
„der einzelne dem Staat gegenüber in absoluter Weise gezwungen wird", dieser Zwang aber sich nur insoweit rechtfertigen kann, als er „wirklich der natürlichen Gerechtigkeit dient". Zu diesem Zweck wird es „Gesetzgebung und Richtertum" geben, aber sie „müssen bei der Gesamtheit bleiben"; ferner einen Wehrbund, der sich im „Zusammenstehn im Heere oder in einer zum innern Sicherheitsdienste gehörigen Exekutivabteilung" äußert, also auch Armee, Polizei, Gensdarmen. Herr Dühring hat sich zwar schon so oft als braver Preuße bewährt; hier beweist er seine Ebenbürtigkeit mit jenem Musterpreußen, der nach dem weiland Minister von Rochow „seinen Gensdarmen in der Brust trägt". Diese Zukunftsgensdarmerie wird aber nicht so gefährlich sein, wie die heutigen „Zarucker"[159]. Was sie auch an dem souveränen Individuum verüben möge, dieses hat immer einen Trost:
„das Recht oder Unrecht, welches ihm alsdann, je nach den Umständen, von seiten der freien Gesellschaft widerfährt, kann nie etwas Schlimmeres sein, als was auch der Naturzustand mit sich bringen würde"! Und dann, nachdem Herr Dühring uns noch einmal über sein unvermeidliches Autorrecht hat stolpern lassen, versichert er uns, es werde in seiner Zukunftswelt eine
„selbstverständlich völlig freie und allgemeine Advokatur"
geben. „Die heute erdachte freie Gesellschaft" wird immer gemischter. Architekten, Karrenschieber, Literaten, Gensdarmen, und nun auch noch Advokaten! Dies „solide und kritische Gedankenreich" gleicht aufs Haar den verschiednen Himmelreichen der verschiednen Religionen, in denen der Gläubige immer das verklärt wiederfindet, was ihm sein irdisches Leben versüßt hat. Und Herr Dühring gehört ja dem Staate an, wo „jeder nach seiner Fasson selig werden kann"1160'. Was wollen wir mehr? Was wir wollen mögen, ist indes hier gleichgültig. Es kommt darauf an, was Herr Dühring will. Und dieser unterscheidet sich von Friedrich II. dadurch, daß im Dühringschen Zukunftsstaat keineswegs jeder nach seiner Fasson selig werden kann. In der Verfassung dieses Zukunftsstaats heißt es:
»In der freien Gesellschaft kann es keinen Kultus geben; denn von jedem ihrer Glieder ist die kindische Ureinbildung überwunden, daß es hinter oder über der Natur Wesen gebe, auf die sich durch Opfer oder Gebete wirken lasse." Ein „richtig verstandnes Sozialitätssystem hat daher ... alle Zurüstungen zur geistlichen Zauberei und mithin alle wesentlichen Bestandteile der Kulte abzutun
Die Religion wird verboten. Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weitern Entwicklung bei den verschiednen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen. Dieser erste Prozeß ist wenigstens für die indoeuropäischen Völker durch die vergleichende Mythologie bis auf seinen Ursprung in den indischen Vedas zurückverfolgt und in seinem Fortgang bei Indern, Persern, Griechen, Römern, Germanen und, soweit das Material reicht, auch bei Kelten, Litauern und . Slawen im einzelnen nachgewiesen worden. Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehn, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen wie die Naturmächte selbst. Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesell1_ f 1* B_ A T ^ ,, ? e 1 50 fftt I „ Ä Ä f scuaitlicue /Attribute, werben Repräsentanten gescmcntiicner macnte. /-\ur einer noch weitern Entwicklungsstufe werden sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute der vielen Götter auf Einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. So entstand der Monotheismus, der geschichtlich das letzte Produkt der spätem griechischen Vulgärphilosophie war und im jüdischen ausschließlichen Nationalgott Jahve seine Verkörperung vorfand. In dieser bequemen, handlichen und allem anpaßbaren Gestalt kann die Religion fortbestehn als unmittelbare, das heißt gefühlsmäßige Form des Verhaltens der Menschen
* Dieser spätere Doppelcharakter der Göttergestalten ist ein von der vergleichenden Mythologie, die sich einseitig an deren Charakter als Reflexe von Naturmächten hält, übersehener Grund der später einreißenden Verwirrung der Mythologien. So heißt bei einigen germanischen Stämmen der Kriegsgott altnordisch Tyr, althochdeutsch Zio, entspricht also dem griechischen Zeus, lateinisch Jupiter für Diespiterj bei andern Er, Eor, entspricht also dem griechischen Ares, lateinisch Mars.
zu den sie beherrschenden fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehn Wir haben aber mehrfach gesehn, daß in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die Menschen von den von ihnen selbst geschaffnen ökonomischen Verhältnissen, von den von ihnen selbst produzierten Produktionsmitteln wie von einer fremden Macht beherrscht werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen Reflexaktion dauert also fort und mit ihr der religiöse Reflex selbst. Und wenn auch die bürgerliche Ökonomie eine gewisse Einsicht in den ursächlichen Zusammenhang dieser Fremdherrschaft eröffnet, so ändert dies der Sache nach nichts. Die bürgerliche Ökonomie kann weder die Krisen im ganzen verhindern noch den einzelnen Kapitalisten vor Verlusten, schlechten Schulden und Bankrott oder den einzelnen Arbeiter vor Arbeitslosigkeit und Elend schützen. Es heißt noch immer: der Mensch denkt und Gott (das heißt die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. Die bloße Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer als die der bürgerlichen Ökonomie, genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesamten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat, in der sie gegenwärtig gehalten werden durch diese von ihnen selbst produzierten, aber ihnen als übergewaltige fremde Macht gegenüberstehenden Produktionsmittel, wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt. Herr Dühring dagegen kann es nicht abwarten, bis die Religion dieses ihres natürlichen Todes verstirbt. Er verfährt wurzelhafter. Er überbismarckt den Bismarck; er dekretiert verschärfte Maigesetzetl61], nicht bloß gegen den Katholizismus, sondern gegen alle Religion überhaupt; er hetzt seine Zukunftsgensdarmen auf die Religion und verhilft ihr damit zum Märtyrertum und zu einer verlängerten Lebensfrist. Wohin wir blicken, spezifisch preußischer Sozialismus. Nachdem Herr Dühring so die Religion glücklich vernichtet,
«kann nun der allein auf sich und die Natur gestellte und zur Erkenntnis seiner Kollektivkräfte gereifte Mensch kühn alle Wege einschlagen, die ihm der Lauf der Dinge und sein eignes Wesen eröffnen".
Betrachten wir nun zur Abwechslung, welchen „Lauf der Dinge" der auf sich selbst gestellte Mensch an der Hand des Herrn Dühring kühn einschlagen kann. Der erste Lauf der Dinge, wodurch der Mensch auf sich selbst gestellt wird, ist der, geboren zu werden. Dann bleibt er
für die Zeit der natürlichen Unmündigkeit der „natürlichen Erzieherin der Kinder", der Mutter anvertraut. „Diese Periode mag, wie im alten romischen Recht, bis zur Pubertät, also etwa bis zum vierzehnten Jahr reichen." Nur wo ungezogene ältere Knaben das Ansehn der Mutter nicht gehörig respektieren, wird der väterliche Beistand, namentlich aber die öffentlichen Erziehungsvorkehrungen diesen Mangel unschädlich machen. Mit der Pubertät tritt das Kind unter „die natürliche Vormundschaft des Vaters", wenn nämlich ein solcher mit „unbestrittner wirklicher Vaterschaft" vorhanden ist; andernfalls stellt die Gemeinde einen Vormund. Wie Herr Dühring sich früher vorstellte, man könne die kapitalistische Produktionsweise durch die gesellschaftliche ersetzen, ohne die Produktion selbst umzugestalten, so bildet er sich hier ein, man könne die modernbürgerliche Familie von ihrer ganzen ökonomischen Grundlage losreißen, ohne dadurch ihre ganze Form zu verändern. Diese Form ist für ihn so unwandelbar, daß er sogar das „alte römische Recht", wenn auch in etwas „veredelter" Gestalt, für die Familie in alle Ewigkeit maßgebend macht und sich eine Familie nur als „vererbende", das heißt als besitzende Einheit vorstellen kann. Die Utopisten stehn hier weit über Herrn Dühring. Ihnen war mit der freien Vergesellschaftung der Menschen und der Verwandlung der häuslichen Privatarbeil in eine öffentliche Industrie such die Vergesellschaftung der Jugenderziehung und damit ein wirklich freies gegenseitiges Verhältnis der Familienglieder unmittelbar gegeben. Und ferner hat bereits Marx (Kapital, Seite 515 u.f.) nachgewiesen, wie „die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage schafft für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter"1.
„Jeder sozialreformatorische Phantast", sagt Herr Dühring, „hat natürlich die seinem neuen sozialen Leben entsprechende Pädagogik in Bereitschaft."
An diesem Satze gemessen, erscheint Herr Dühring als „ein wahres Monstrum" unter den sozialreformatorischen Phantasten. Die Zukunftsschule
beschäftigt ihn mindestens ebensoviel wie das Autorrecht, und das will wahrhaftig viel sagen. Nicht nur für die ganze „absehbare Zukunft" hat er Schulplan und Universitätsplan fix und fertig, sondern auch für die Übergangsperiode. Beschränken wir uns indes darauf, was der Jugend beiderlei Geschlechts in der endgültigen Sozialität letzter Instanz beigebracht werden soll. Die allgemeine Volksschule bietet
„alles, was an sich selbst und prinzipiell für den Menschen einen Reiz haben kann", also namentlich die „Grundlagen und Hauptergebnisse aller die Welt- und Lebensansichten berührenden Wissenschaften". Sie lehrt also vor allem Mathematik und zwar so, daß der Kreis aller prinzipiellen Begriffe und Mittel vom einfachen Zählen und Addieren bis zur Integralrechnung „vollständig durchmessen" wird.
Das heißt aber nicht, daß in dieser Schule wirklich differenziert und integriert werden soll, im Gegenteil. Es sollen vielmehr dort ganz neue Elemente der Gesamtmathematik gelehrt werden, die sowohl die gewöhnliche elementare, wie auch die höhere Mathematik im Keime in sich enthalten. Obwohl nun Herr Dühring von sich behauptet, auch schon
„den Inhalt der Lehrbücher"dieser Zukunftsschule „in seinen Hauptzügen schematisch vor Augen" zu haben, so hat es ihm doch leider bis jetzt nicht gelingen wollen, diese „Elemente der gesamten Mathematik" zu entdecken; und was er nicht leisten kann, das
»ist auch wirklich erst von den freien und gesteigerten Kräften des neuen Gesellschaftszustandes zu erwarten". Wenn aber die Trauben der Zukunftsmathematik einstweilen noch sehr sauer sind, so wird die Astronomie, Mechanik und Physik der Zukunft desto weniger Schwierigkeiten machen und
„den Kern aller Schulung abgeben", während „Pflanzen- und Tierkunde, mit ihrer, trotz aller Theorien, noch immer vornehmlich beschreibenden Art und Weise ... mehr zur leichtern Unterhaltung" dienen werden. So steht's gedruckt, „Philosophie", Seite 417. Herr Dühring kennt bis auf den heutigen Tag keine andre als eine vornehmlich beschreibende Pflanzenund Tierkunde. Die ganze organische Morphologie, die die vergleichende Anatomie, Embryologie und Paläontologie der organischen Welt umfaßt, ist ihm selbst dem Namen nach unbekannt. Während hinter seinem Rücken im Bereich der Biologie ganz neue Wissenschaften fast zu Dutzenden
entstehn, holt sein kindliches Gemüt sich noch immer „die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen Denkweise" aus Raffs „Naturgeschichte für Kinder", und oktroyiert diese Verfassung der organischen Welt ebenfalls der ganzen „absehbaren Zukunft". Die Chemie ist, wie gewöhnlich bei ihm, auch hier total vergessen worden. Für die ästhetische Seite des Unterrichts wird Herr Dühring alles neu zu beschaffen haben. Die bisherige Poesie taugt dazu nicht. Wo alle Religion verboten ist, kann die bei den frühern Poeten übliche „Zurichtung mythologischer oder sonst religiöser Art" selbstredend nicht in der Schule ge-' duldet werden. Auch „der poetische Mystizismus, wie ihn z.B. Goethe stark gepflegt hat", ist verwerflich. Herr Dühring wird sich also selbst entschließen müssen, uns jene dichterischen Meisterwerke zu liefern, die „den höhern Ansprüchen einer mit dem Verstände ausgeglichenen Phantasie entsprechen" und das echte Ideal darstellen, welches „die Vollendung der Welt bedeutet". Möge er nicht damit zaudern. Welterobernd kann die Wirtschaftskommune erst wirken, sobald sie in dem mit dem Verstand ausgeglichnen Sturmschritt des Alexandriners einherwandelt. Mit der Philologie wird der heranwachsende Zukunftsbürger nicht viel geplagt werden. „Die toten Sprachen kommen ganz in Wegfall ... die fremden lebenden Sprachen aber werden ... etwas Nebensächliches bleiben." Nur wo der Verkehr unter den Völkern sich auf die Bewegung der Volksmassen selbst erstreckt, sollen sie Jedem in leichter Weise, je nach Bedürfnis, zugänglich gemacht werden. „Die wirklich bildende Sprachschulung" wird gefanden in einer Art allgemeiner Grammatik und namentlich in „Stoff und Form der eignen Sprache". Die nationale Borniertheit der heutigen Menschen ist noch viel zu kosmopolitisch für Herrn Dühring. Er will auch noch die beiden Hebel abschaffen, die in der heutigen Welt wenigstens die Gelegenheit zur Erhebung über den beschränkten nationalen Standpunkt bieten: die Kenntnis der alten Sprachen, die wenigstens den klassisch gebildeten Leuten aller Völker einen gemeinsamen erweiterten Horizont eröffnet, und die Kenntnis der neuern Sprachen, vermittelst deren die Leute der verschiednen Nationen allein untereinander sich verständigen und sich mit dem bekannt machen können, was außerhalb ihrer eignen Grenzen vorgeht. Dagegen soll die Grammatik der Landessprache gründlich eingepaukt werden. „Stoff und Form der eignen Sprache" sind aber nur dann verständlich, wenn man ihre Entstehung und allmähliche Entwicklung verfolgt, und dies ist nicht möglich ohne Berücksichtigung erstens ihrer eignen abgestorbnen Formen und zweitens der verwandten lebenden und toten Sprachen. Damit sind wir aber wieder auf
dem ausdrücklich verbotnen Gebiet. Wenn aber hiermit Herr Dühring die ganze moderne historische Grammatik aus seinem Schulplan ausstreicht, so bleibt ihm nichts für den Sprachunterricht als die altfränkische, ganz im Stil der alten klassischen Philologie zugestutzte, technische Grammatik mit allen ihren, auf dem Mangel an geschichtlicher Grundlage beruhenden Kasuistereien und Willkürlichkeiten. Der Haß gegen die alte Philologie bringt ihn dazu, das allerschlechteste Produkt der alten Philologie zum „Mittelpunkt der wirklich bildenden Sprachschulung" zu erheben. Man sieht klar, daß wir es mit einem Sprachgelehrten zu tun haben, der von der ganzen, seit sechzig Jahren so gewaltig und so erfolgreich entwickelten historischen Sprachforschung nie reden gehört hat, und der daher „die eminent modernen Bildungselemente" der Sprachschulung nicht sucht bei Bopp, Grimm und Diez, sondern bei Heyse und Becker seligen Andenkens. Mit allem diesem wäre aber der angehende Zukunftsbürger noch lange nicht „auf sich selbst gestellt". Hierzu gehört wieder eine tiefere Grundlegung, vermittelst der „Aneignung der letzten philosophischen Grundlagen". „Eine solche Vertiefung wird aber ... nichts weniger als eine Riesenaufgabe bleiben", seitdem Herr Dühring hier reine Bahn gemacht hat. In der Tat, „säubert man das wenige strenge Wissen, dessen sich die allgemeine Schematik des Seins rühmen kann, von den falschen, scholastischen Verschnörkelungen, und entschließt man sich, überall nur die" von Herrn Dühring „beglaubigte Wirklichkeit gelten zu lassen", so ist die Elementarphilosophie auch der Zukunftsjugend vollständig zugänglich gemacht. „Man erinnere sich der höchst einfachen Wendungen, mit denen wir den Unendlichkeitsbegriffen und deren Kritik zu einer bisher ungekannten Tragweite verholfen haben" - so ist „gar nicht abzusehn, warum die durch die gegenwärtige Vertiefung und Verschärfung so einfach gestalteten Elemente der universellen Raum- und Zeitauffassung nicht schließlich in die Reihe der Vorkenntnisse übergehn sollten ... die wurzelhaftesten Gedanken" des Herrn Dühring „dürfen in der universellen Bildungssystematik der neuen Gesellschaft keine Nebenrolle spielen". Der sich selbst gleiche Zustand der Materie und die abgezählte Unzahl sind im Gegenteil dazu berufen, den Menschen „nicht nur auf eignen Füßen stehn, sondern auch aus sich selbst wissen zu lassen, daß er das sogenannte Absolute unter den Füßen hat". Die Volksschule der Zukunft, wie man sieht, ist nichts als eine etwas „veredelte" preußische Pennalia, auf der Griechisch und Lateinisch durch etwas mehr reine und angewandte Mathematik und namentlich durch die Elemente der Wirklichkeitsphilosophie ersetzt und der deutsche Unterricht wieder auf Becker selig, also etwa bis auf Tertia heruntergebracht wird. Es ist in der Tat „gar nicht abzusehn", warum die nunmehr von uns auf allen von ihm berührten Gebieten als höchst schülerhaft nachgewiesenen „Kennt
nisse" des Herrn Dühring oder vielmehr, was nach vorgängiger gründlicher „Säuberung" überhaupt von ihnen übrigbleibt, nicht samt und sonders „schließlich in die Reihe der Vorkenntnisse übergehn sollten", sintemal sie diese Reihe in Wirklichkeit nie verlassen haben. Freilich hat Herr Dühring auch etwas davon läuten gehört, daß in der sozialistischen Gesellschaft Arbeit und Erziehung verbunden und dadurch eine vielseitige technische Ausbildung, sowie eine praktische Grundlage für die wissenschaftliche Erziehung gesichert werden solle; auch dieser Punkt wird daher für die Sozialität in üblicher Weise dienstbar gemacht. Da aber, wie wir sahen, die alte Arbeitsteilung in der Dühringschen Zukunftsproduktion im wesentlichen ruhig fortbesteht, so ist dieser technischen Schulbildung jede spätere praktische Anwendung, jede Bedeutung für die Produktion selbst, abgeschnitten, sie hat eben nur einen Schulzweck: sie soll die Gymnastik ersetzen, von der unser wurzelhafter Umwälzer nichts wissen will. Er kann uns daher auch nur ein paar Phrasen bieten, wie z.B.:
„die Jugend und das Alter arbeiten im ernsten Sinne des Worts". Wahrhaft jammervoll aber erscheint diese haltungslose und inhaltslose Kannegießerei, wenn man sie vergleicht mit der Stelle im „Kapital", Seite 508 bis 5151, wo Marx den Satz entwickelt, daß „aus dem Fabriksystem» wie man im Detail bei Robert Owen verfolgen kann, der Keim der Erziehung der Zukunft entsproß, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion voÜseitig entwickelter Menschen"2. Übergehn wir die Universität der Zukunft, in der die Wirklichkeitsphilosophie den Kern alles Wissens bilden wird und in der neben der medizinischen auch die juristische Fakultät in voller Blüte fortbesteht; übergehn wir auch die „speziellen Fachanstalten", von denen wir bloß erfahren, daß sie nur „für ein paar Gegenstände" gelten sollen. Nehmen wir an, der junge Zukunftsbürger sei nach Absolvierung aller Schulkurse endlich soweit „auf sich gestellt", daß er sich nach einer Frau umsehn kann. Welchen Lauf der Dinge eröffnet ihm hier Herr Dühring? „Angesichts der Bedeutsamkeit der Fortpflanzung für Festhaltung, Ausmerzung und Mischung sowie sogar für neue gestaltende Entwicklung von Eigenschaften, muß man die letzten Wurzeln des Menschlichen oder Unmenschlichen zu einem großen
1 Siehe Band 23 unserer Ausgabe, S.507-514 - 2 vgl. ebenda, S.507/508
Teil in der geschlechtlichen Gesellung und Auswahl und überdies noch in der Sorge für oder gegen einen bestimmten Ausfall der Geburten suchen. Das Gericht über die Wüstheit und Stumpfheit, welche in diesem Gebiet herrschen, muß praktisch einer spätem Epoche überlassen bleiben. Jedoch ist wenigstens soviel von vornherein auch unter dem Druck der Vorurteile begreiflich zu machen, daß weit mehr als die Zahl, sicherlich die der Natur oder menschlichen Umsicht gelungne oder mißlungne Beschaffenheit der Geburten in Anschlag kommen muß. Ungeheuer sind allerdings zu allen Zeiten und unter allen Rechtszuständen der Vernichtung anheimgegeben worden; aber die Stufenleiter vom Regelrechten bis zur Verzerrung in das nicht mehr Menschenähnliche hat viele Sprossen ... Wird dem Entstehn eines Menschen vorgebeugt, der doch nur ein schlechtes Erzeugnis werden würde, so ist diese Tatsache offenbar ein Vorteil." Ebenso heißt es an einer andern Stelle: „Der philosophischen Betrachtimg kann es nicht schwerfallen, das Recht der ungebornen Welt auf eine möglichst gute Komposition ... zu begreifen ... Die Konzeption und allenfalls auch noch die Geburt bieten die Gelegenheit dar, um in dieser Beziehung eine vorbeugende oder ausnahmsweise auch sichtende Fürsorge eintreten zu lassen." Und ferner: „Die griechische Kunst, den Menschen in Marmor zu idealisieren, wird nicht das gleiche geschichtliche Gewicht behalten können, sobald die weniger künstlerisch spielende und daher für das Lebensschicksal der Millionen weit ernstere Aufgabe in die Hand genommen wird, die Menschenbildung in Fleisch und Blut zu vervollkommnen. Diese Art Kunst ist keine bloß steinerne, und ihre Ästhetik betrifft nicht die Anschauung toter Formen" usw. Unser angehender Zukunftsbürger fällt aus den Wolken. Daß es sich beim Heiraten um keine bloß steinerne Kunst handelt, auch nicht um die Anschauung toter Formen, das wußte er allerdings auch ohne Herrn Dühring; aber dieser hatte ihm ja versprochen, er könne alle Wege einschlagen, die ihm der Lauf der Dinge und sein eignes Wesen eröffnen, um ein mitempfindendes weibliches Herz samt dazugehörigem Körper zu finden. Keineswegs, donnert ihm jetzt die „tiefere und strengere Moralitat" entgegen. Es handelt sich zuerst darum, die Wüstheit und Stumpfheit abzulegen, die auf dem Gebiet der geschlechtlichen Gesellung und Auswahl herrschen, und dem Recht der neugebornen Welt auf eine möglichst gute Komposition Rechnung zu tragen. Es handelt sich für ihn in diesem feierlichen Moment darum, die Menschenbildung in Fleisch und Blut zu vervollkommnen, sozusagen ein Phidias in Fleisch und Blut zu werden. Wie das anfangen? Die obigen mysteriösen Äußerungen des Herrn Dühring
geben ihm nicht die geringste Anleitung dazu, obwohl dieser selbst sagt9 es sei eine „Kunst". Sollte Herr Dühring vielleicht auch schon ein Handbuch zu dieser Kunst „schematisch vor Augen" haben, ähnlich etwa wie deren so mancherlei heutzutage verklebt im deutschen Buchhandel umlaufen? In der Tat befinden wir uns hier schon nicht mehr in der Sozialität, sondern vielmehr in der „Zauberflöte", nur daß der behäbige Freimaurerpfaff Sarastro kaum als ein „Priester zweiter Klasse" gelten kann, gegenüber unserm tiefern und strengern Moralisten. Die Proben, die jener mit seinem Liebespärchen von Adepten vornahm, sind ein wahres Kinderspiel gegen die Schauerprüfung, die Herr Dühring seinen beiden souveränen Individuen aufnötigt, ehe er ihnen gestattet, in den Stand der „sittlichen und freien Ehe" zu treten. So kann es ja vorkommen, daß unser „auf sich selbst gestellter" Zukunfts-Tamino zwar das sogenannte Absolute unter den Füßen hat, einer dieser Füße aber um ein paar Leitersprossen vom Regelrechten abweicht, so daß böse Zungen ihn einen Klumpfuß nennen. Auch liegt es im Bereich der Möglichkeit, daß seine herzallerliebste ZukunftsPamina auf besagtem Absoluten nicht ganz grade steht, infolge einer leichten Verschiebung zugunsten der rechten Schulter, die der Neid sogar für ein gelindes Buckelchen ausgibt. Was dann? Wird unser tieferer und strengerer Sarastro ihnen verbieten, die Kunst der Menschen Vervollkommnung in Fleisch und Blut zu praktizieren, wird er seine „vorbeugende Fürsorge" bei der „Konzeption" oder seine „sichtende" bei der „Geburt" geltend machen? Zehn gegen eins, die Dinge verlaufen anders; das Liebespärchen läßt Sarastro-Dühnn« stehn und ^eht zum St Halt! ruft Herr Dühring. So war es nicht gemeint. Laßt doch mit euch reden. Bei den „hohem, echt menschlichen Beweggründen der heilsamen Geschlechtsverbindungen ... ist die menschlich veredelte Gestalt der Geschlechtserregung, deren Steigerung sich als leidenschaftliche Liebe kundgibt, in ihrer Doppelseitigkeit die beste Bürgschaft für die auch in ihrem Ergebnis zuträgliche Verbindung ... es ist nur eine Wirkung zweiter Ordnung, daß aus einer an sich harmonischen Beziehung auch ein Erzeugnis von zusammenstimmendem Gepräge hervorgehe. Hieraus folgt wiederum, daß jeder Zwang schädlich wirken muß" usw. Und hiermit erledigt sich alles aufs schönste in der schönsten der Sozialitäten. Klumpfuß und Buckelchen lieben einander leidenschaftlich und bieten daher auch in ihrer Doppelseitigkeit die beste Bürgschaft für eine harmonische „Wirkung zweiter Ordnung", es geht wie im Roman, sie lieben sich, sie kriegen sich, und all die tiefere und strengere Moralität verläuft wie gewöhnlich in harmonischem Larifari.
Welche noblen Vorstellungen Herr Dühring überhaupt vom weiblichen Geschlecht hat, ergibt sich aus folgender Anklage gegen die heutige Gesellschaft: „Die Prostitution gilt in der auf Verkauf des Menschen an den Menschen gegründeten Unterdrückungsgesellschaft als selbstverständliche Ergänzung der Zwangsehe zugunsten der Männer, und es ist eine der begreiflichsten, aber auch bedeutungsvollsten Tatsachen, daß es etwas Ahnliches für die Frauen nicht geben kann." Den Dank, der Herrn Dühring für dies Kompliment von seiteri der Frauen zuteil werden dürfte, möchte ich nicht um alles in der Welt einheimsen. Sollte indes Flerrn Dühring die nicht mehr ganz ungewöhnliche Einkünfteart der Schürzenstipendien gänzlich unbekannt sein? Und Herr Dühring ist doch selbst Referendar gewesen und wohnt in Berlin, wo doch schon zu meiner Zeit, vor sechsunddreißig Jahren, um von den Lieutenants nicht zu reden, Referendarius sich oft genug reimte auf Schürzenstipendarius!
*
Man gestatte uns, von unserm Gegenstand, der sicher oft trocken und trist genug war, in versöhnend-heiterer Weise Abschied zu nehmen. Solange wir die einzelnen Fragepunkte abzuhandeln hatten, war das Urteil gebunden durch die objektiven, unbestreitbaren Tatsachen; es mußte nach diesen Tatsachen oft genug scharf und selbst hart ausfallen. Jetzt, wo Philosophie, Ökonomie und Sozialität hinter uns liegen, wo das Gesamtbild des Schriftstellers vor uns steht, den wir im einzelnen zu beurteilen hatten, jetzt können menschliche Rücksichten in den Vordergrund treten; jetzt wird es uns gestattet, manche sonst unbegreifliche wissenschaftliche Abirrungen und Überhebungen zurückzuführen auf persönliche Ursachen, und unser Gesamturteil über Herrn Dühring zusammenzufassen in den Worten: Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn.

FRIEDRICHENGELS
Dialektik der Natur"62'
Geschrieben 1873 bis 1883; einzelne Ergänzungen wurden 1883/1886 verfaßt. Zum erstenmal in deutscher und russischer Sprache veröffentlicht in: Archiw K. Marksa i F. Engelsa. Kniga wtoraja. Moskau-Leningrad 1925.
[Planskizzen]
[Skizze des Gesamtplans]116^
1. Historische Einleitung: in der Naturwissenschaft durch ihre eigene Entwicklung die metaphysische Auffassung unmöglich geworden. 2. Gang der theoretischen Entwicklung in Deutschland seit Hegel (alte Vorrede1). Rückkehr zur Dialektik vollzieht sich unbewußt, daher widerspruchsvoll und langsam. 3. Dialektik als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Hauptgesetze: Umschlag von Quantität und Qualität - Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und Ineinander-Umschlagen, wenn auf die Spitze getrieben - Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation Spirale Form der Entwicklung. 4. Zusammenhang der Wissenschaften. Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie, Biologie. St.Simon (Comte) und Hegel. 5. Apercus2 über die einzelnen Wissenschaften und deren dialektischen Inhalt: 1. Mathematik: dialektische Hülfsmittel und Wendungen. - Das Mathematisch-Unendliche wirklich vorkommend; 2. Mechanik des Himmels - jetzt aufgelöst in einen Prozeß .- Mechanik: Ausgegangen von der Inertia3, die nur der negative Ausdruck ; der Unzerstörbarkeit der Bewegung ist; 3. Physik - Übergänge der molekularen Bewegungen ineinander. Clausius und Loschmidt; 4. Chemie: Theorien. Energie; 5. Biologie. Darwinismus. Notwendigkeit und Zufälligkeit. 6. Die Grenzen des Erkennens. Du Bois-Reymond und Nägeli[1{54).Helmholtz, Kant, Hume.
1 Siehe vorl. Band, S.328-336 - 2 Bemerkungen, (kurze) Darstellungen - 3 Trägheit
7. Die mechanische Theorie. Haeckel[165]. 8. Die Plastidulsetle - Haeckel und Nägelitl66J. 9. Wissenschaft und Lehre - Virchow[lc7]. 10. Zellenstaat - Virchow[19]. 11. Darwinistische Politik und Gesellschaftslehre - Haeckel und Schmidt11681. - Differentiation des Menschen durch Arbeit. - Anwendung der Ökonomie auf die Naturwissenschaft. Helmholtz' „Arbeit" („Populäre Vorträge", II)[1G9].
[Skizze des Teilplans[mJ
1. Bewegung im Allgemeinen. 2. Attraktion und Repulsion. Übertragung von Bewegung. 3. [Gesetz der] Erhaltung der Energie hierauf angewandt. Repulsion -fAttraktion. — Zutritt von Repulsion = Energie. 4. Schwere - Himmelskörper - irdische Mechanik. 5. Physik. Wärme. Elektrizität. 6. Chemie. 7. Resume. a) Vor 4: Mathematik. Unendliche Linie. + und — gleich. b) Bei Astronomie: Arbeitsleistung durch Flutwelle. Doppelrechnung bei Helmholtz, II, 1201. „Kräfte" bei Helmholtz, II, 1903,
1 Siehe vorl. Band, S. 366-369 - 2 siehe vorl. Band, S. 364-366
Skizze des Gesamtplans für „Dialektik der Natur"

[Artikel]
Einleitung11711
Die moderne Naturforschung, die einzige, die es zu einer wissenschaftlichen, systematischen, allseitigen Entwicklung gebracht hat im Gegensatz zu den genialen naturphilosophischen Intuitionen der Alten und zu den höchst bedeutenden, aber sporadischen und größtenteils resultatlos dahingegangen Entdeckungen der Araber - die moderne Naturforschung datiert wie die ganze neuere Geschichte von jener gewaltigen Epoche, die wir Deutsche, nach dem uns damals zugestoßenen Nationalunglück, die Reformation, die Franzosen die Renaissance und die Italiener das Cinquecento nennen, und die keiner dieser Namen erschöpfend ausdrückt. Es ist die Epoche, die mit der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts anhebt. Das Königtum, sich stützend auf die Städtebürger, brach die Macht des Feudaladels und begründete die großen, wesentlich auf Nationalität basierten Monarchien, in denen die modernen europäischen Nationen und die moderne bürgerliche Gesellschaft zur Entwicklung kamen; und während noch Bürger und Adel sich in den Haaren lagen, wies der deutsche Bauernkrieg prophetisch hin auf zukünftige Klassenkämpfe, indem er nicht nur die empörten Bauern auf die Bühne führte - das war nichts Neues mehr -, sondern hinter ihnen die Anfänge des jetzigen Proletariats, die rote Fahne in der Hand und die Forderung der Gütergemeinschaft auf den Lippen. In den aus dem Fall von Byzanz geretteten Manuskripten, in den aus den Ruinen Roms ausgegrabnen antiken Statuen ging dem erstaunten Westen eine neue Welt auf, das griechische Altertum; vor seinen lichten Gestalten verschwanden die Gespenster des Mittelalters; Italien erhob sich zu einer ungeahnten Blüte der Kunst, die wie ein Widerschein des klassischen Altertums erschien und die nie wieder erreicht worden. In Italien, Frankreich, Deutschland entstand eine neue, die erste moderne Literatur; England und Spanien erlebten bald darauf ihre klassische Literaturepoche. Die Schranken
des alten Orbis terrarum1 wurden durchbrochen, die Erde wurde eigentlich jetzt erst entdeckt und der Grund gelegt zum späteren Welthandel und zum Ubergang des Handwerks in die Manufaktur, die wieder den Ausgangspunkt bildete für die moderne große Industrie, Die geistige Diktatur der I/>" .„1.. J. t J _ NTF ivircne wurue geuiociien; uie geiixxcuxiöciic» » UIÜCI wancn sie uci IVACIUzahl nach direkt ab und nahmen den Protestantismus an, während bei den Romanen eine von den Arabern übernommene und von der neuentdeckten griechischen Philosophie genährte heitre Freigeisterei mehr und mehr Wurzel faßte und den Materialismus des 18. Jahrhunderts vorbereitete. Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuernde Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht. Fast kein bedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht, der nicht vier bis fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fächern glänzte. Leonardo da Vinci war nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Mathematiker, Mechaniker und Ingenieur, dem die verschiedensten Zweige der Physik wichtige Entdeckungen verdanken; Albrecht Dürer war Maler, Kupferstecher, Bildhauer. Architekt und erfand außerdem ein System der Fortifikation, das schon manche der weit später durch Montaiembert und die neuere deutsche Befestigung wiederaufgenommenen Ideen enthält. Machiavelli war Staatsmann, Geschichtschreiber, Dichter und zugleich der erste nennenswerte Militärschriftsteller der neueren Zeit. Luther fegte nicht nur den Augiasstall der Kirche, sondern auch den der deutschen Sprache aus, schuf die moderne deutsche Prosa und dichtete Text und Melodie jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde. Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist, daß sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beidem. Daher jene Fülle und Kraft des Charakters, die sie zu ganzen Männern macht. Stubengelehrte sind die Ausnahme: entweder Leute zweiten und dritten Rangs oder vorsichtige Philister, die sich die Finger nicht verbrennen wollen.
1 Erdkreises
Auch die Naturforschung bewegte sich damals mitten in der allgemeinen Revolution und war selbst durch und durch revolutionär; hatte sie sich doch das Recht der Existenz zu erkämpfen. Hand in Hand mit den großen Italienern, von denen die neuere Philosophie datiert, lieferte sie ihre Märtyrer auf den Scheiterhaufen und in die Gefängnisse der Inquisition. Und bezeichnend ist, daß Protestanten den Katholiken vorauseilten in der Verfolgung der freien Naturforschung. Calvin verbrannte Servet, als dieser auf dem Sprunge stand, den Lauf der Blutzirkulation zu entdecken, und zwar ließ er ihn zwei Stunden lebendig braten; die Inquisition begnügte sich wenigstens damit, Giordano Bruno einfach zu verbrennen. Der revolutionäre Akt, wodurch die Naturforschung ihre Unabhängigkeit erklärte und die Bullenverbrennung Luthers gleichsam wiederholte, war die Herausgabe des unsterblichen Werks, womit Kopernikus, schüchtern zwar und sozusagen erst auf dem Totenbett, der kirchlichen Autorität in natürlichen Dingen den Fehdehandschuh hinwarf11721. Von da an datiert die Emanzipation der Natur Forschung von der Theologie, wenn auch die Auseinandersetzung der einzelnen gegenseitigen Ansprüche sich bis in unsre Tage hingeschleppt und sich in manchen Köpfen noch lange nicht vollzogen hat. Aber von da an ging auch die Entwicklung der Wissenschaften mit Riesenschritten vor sich und gewann an Kraft, man kann wohl sagen im quadratischen Verhältnis der (zeitlichen) Entfernung von ihrem Ausgangspunkt. Es war, als sollte der Welt bewiesen werden, daß von jetzt an für das höchste Produkt der organischen Materie, den menschlichen Geist, das umgekehrte Bewegungsgesetz gelte wie für den anorganischen Stoff. Die Hauptarbeit in der nun angebrochnen ersten Periode der Naturwissenschaft war die Bewältigung des nächstliegenden Stoffs. Auf den meisten Gebieten mußte ganz aus dem Rohen angefangen werden. Das Altertum hatte den Euklid und das ptolemäische Sonnensystem, die Araber die Dezimalnotation, die Anfänge der Algebra, die modernen Zahlen und die Alchimie hinterlassen; das christliche Mittelalter gar nichts. Notwendig nahm in dieser Lage die elementarste Naturwissenschaft, die Mechanik der irdischen und himmlischen Körper, den ersten Rang ein, und neben ihr, in ihrem Dienst, die Entdeckung und Vervollkommnung der mathematischen Methoden. Hier wurde Großes geleistet. Am Ende der Periode, das durch Newton und Linn6 bezeichnet wird, finden wir diese Zweige der Wissenschaft zu einem gewissen Abschluß gebracht. Die wesentlichsten mathematischen Methoden sind in den Grundzügen festgestellt; die analytische Geometrie vorzüglich durch Descartes, die Logarithmen durch Neper, die Differential- und Integralrechnung durch Leibniz und vielleicht Newton.
Dasselbe gilt von der Mechanik fester Körper, deren Hauptgesetze ein für allemal klargestellt waren. Endlich in der Astronomie des Sonnensystems hatte Kepler die Gesetze der Planetenbewegung entdeckt und Newton sie unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Bewegungsgesetze der Materie gefaßt* Die andern Zweige der Naturwissenschaft waren weit entfernt selbst von diesem vorläufigen Abschluß. Die Mechanik der flüssigen und gasförmigen Körper wurde erst gegen Ende der Periode mehr bearbeitet.1 Die eigentliche Physik war noch nicht über die ersten Anfänge hinaus, wenn wir die Optik ausnehmen, deren ausnahmsweise Fortschritte durch das praktische Bedürfnis der Astronomie hervorgerufen wurden. Die Chemie emanzipierte sich eben erst durch die phlogistische Theorie11735 von der Alchimie. Die Geologie war noch nicht über die embryonische Stufe der Mineralogie hinaus; die Paläontologie konnte also noch gar nicht existieren. Endlich im Gebiet der Biologie war man noch wesentlich beschäftigt mit der Sammlung und ersten Sichtung des ungeheuren Stoffs, sowohl des botanischen und zoologischen wie des anatomischen und eigentlich physiologischen. Von Vergleichung der Lebensformen untereinander, von Untersuchung ihrer geographischen Verbreitung, ihren klimatologischen etc. Lebensbedingungen, konnte noch kaum die Rede sein. Hier erreichte nur Botanik und Zoologie einen annähernden Abschluß durch Linne. Was diese Periode aber besonders charakterisiert, ist die Herausarbeitung einer eigentümlichen Gesamtanschauung, deren Mittelpunkt die Ansicht Von der absoluten UnVeränderlichkeit der Natur bildet. Wie auch immer die Natur selbst zustande gekommen sein mochte: einmal vorhanden, blieb sie, wie sie war, solange sie bestand. Die Planeten und ihre Satelliten, einmal in Bewegung gesetzt von dem geheimnisvollen „ersten Anstoß", kreisten fort und fort in ihren vorgeschriebnen Ellipsen in alle Ewigkeit oder doch bis zum Ende aller Dinge. Die Sterne ruhten für immer fest und unbeweglich auf ihren Plätzen, einander darin haltend durch die „allgemeine Gravitation". Die Erde war von jeher oder auch von ihrem Schöpfungstage an (je nachdem) unverändert dieselbe geblieben. Die jetzigen „fünf Weltteile" hatten immer bestanden, immer dieselben Berge, Täler und Flüsse, dasselbe Klima, dieselbe Flora und Fauna gehabt, es sei denn, daß durch Menschenhand Veränderung oder Verpflanzung stattgefunden. Die Arten der Pflanzen und Tiere waren bei ihrer Entstehung ein für allemal festgestellt, Gleiches zeugte fortwährend Gleiches, und es war schon viel, wenn
1 Am Rande des Manuskripts vermerkte Engels mit Bleistift: „Torricelli bei Gelegenheit der Alpenstromregulierung"
Linne zugab, daß hier und da durch Kreuzung möglicherweise neue Arten entstehn konnten. Im Gegensatz zur Geschichte der Menschheit, die in der Zeit sich entwickelt, wurde der Naturgeschichte nur eine Entfaltung im Raum zugeschrieben. Alle Veränderung, alle Entwicklung in der Natur wurde verneint. Die anfangs so revolutionäre Naturwissenschaft stand plötzlich vor einer durch und durch konservativen Natur, in der alles noch heute so war, wie es von Anfang an gewesen, und in der - bis zum Ende der Welt oder in Ewigkeit - alles so bleiben sollte, wie es von Anfang an gewesen. So hoch die Naturwissenschaft der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts über dem griechischen Altertum stand an Kenntnis und selbst an Sichtung des Stoffs, so tief stand sie unter ihm in der ideellen Bewältigung desselben, in der allgemeinen Naturanschauung. Den griechischen Philosophen war die Welt wesentlich etwas aus dem Chaos Hervorgegangnes, etwas Entwickeltes, etwas Gewordenes. Den Naturforschern der Periode, die wir behandeln, war sie etwas Verknöchertes, etwas Unwandelbares, den meisten etwas mit einem Schlage Gemachtes. Die Wissenschaf t stak noch tief in der Theologie. Überall sucht sie und findet sie als Letztes einen Anstoß von außen, der aus der Natur selbst nicht zu erklären. Wird auch die Anziehung, von Newton pompöserweise allgemeine Gravitation getauft, als wesentliche Eigenschaft der Materie aufgefaßt, woher kommt die unerklärte Tangentialkraft, die erst die Planetenbahnen zustande bringt? Wie sind die zahllosen Arten der Pflanzen und Tiere entstanden? Und wie nun gar erst der Mensch, von dem doch feststand, daß er nicht von Ewigkeit her da war? Auf solche Fragen antwortete die Naturwissenschaft nur zu oft, indem sie den Schöpfer aller Dinge dafür verantwortlich machte. Kopernikus, im Anfang der Periode, schreibt der Theologie den Absagebrief; Newton schließt sie mit dem Postulat des göttlichen ersten Anstoßes. Der höchste allgemeine Gedanke, zu dem diese Naturwissenschaft sich aufschwang, war der der Zweckmäßigkeit der Natureinrichtungen, die flache Wolffsche Teleologie, wonach die Katzen geschaffen wurden, um die Mäuse zu fressen, die Mäuse, um von den Katzen gefressen zu werden, und die ganze Natur, um die Weisheit des Schöpfers darzutun. Es gereicht der damaligen Philosophie zur höchsten Ehre, daß sie sich durch den beschränkten Stand der gleichzeitigen Naturkenntnisse nicht beirren ließ, daß sie - von Spinoza bis zu den großen französischen Materialisten - darauf beharrte, die Welt aus sich selbst zu erklären, und der Naturwissenschaft der Zukunft die Rechtfertigung im Detail überließ. Ich rechne die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts noch mit zu dieser Periode, weil ihnen kein andres naturwissenschaftliches Material zu
Gebote stand als das oben geschilderte. Kants epochemachende Schrift blieb ihnen ein Geheimnis, und Laplace kam lange nach ihnen[2aj. Vergessen wir nicht, daß diese veraltete Naturanschauung, obwohl an allen Ecken und Enden durchlöchert durch den Fortschritt der Wissenschaft, die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beherrscht hat1 und noch jetzt, der Hauptsache nach, auf allen Schulen gelehrt wird*. Die erste Bresche in diese versteinerte Naturanschauung wurde geschossen nicht durch einen Naturforscher, sondern durch einen Philosophen. 1755 erschien Kants „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels". Die Frage nach dem ersten Anstoß war beseitigt; die Erde und das ganze Sonnensystem erschienen als etwas im Verlauf der Zeit Gewordenes. Hätte die große Mehrzahl der Naturforscher weniger von dem Abscheu vor dem Denken gehabt, den Newton mit der Warnung ausspricht: Physik, hüte dich vor der Metaphysik!11743 - sie hätten aus dieser einen genialen Entdeckung Kants Folgerungen ziehn müssen, die ihnen endlose Abwege, unermeßliche Mengen in falschen Richtungen vergeudeter Zeit und Arbeit ersparte. Denn in Kants Entdeckung lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts. War die Erde etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußte sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander. Wäre sofort in dieser Richtung entschlossen fortuntersucht worden, die Naturwissenschaft wäre jetzt bedeutend weiter, als sie ist. Aber was
* Wie unerschütterlich noch 1861 ein Mann an diese Ansicht glauben kann, dessen wissenschaftliche Leistungen höchst bedeutendes Material zu ihrer Beseitigung geliefert haben, zeigen folgende klassischen Worte: „Alle [Einrichtungen im System unserer Sonne zielen, soweit wir sie zu durchschauen imstande sind, auf Erhaltung des Bestehenden und unabänderliche Dauer. Wie kein Tier, keine Pflanze der Erde seit den ältesten Zeiten vollkommener oder überhaupt ein anderes geworden ist, wie wir in allen Organismen nur Stufenfolgen nebeneinander, nicht nacheinander antreffen, wie unser eigenes Geschlecht in körperlicher Beziehung stets dasselbe geblieben ist - so wird auch selbst die größte Mannigfaltigkeit der koexistierenden Weltkörper uns nicht berechtigen, in diesen Formen bloß verschiedene Entwicklungsstufen anzunehmen, vielmehr ist alles Erschaffene gleich vollkommen] in sich" (Mädler, „Pop. Astronomie]", Berlin 1861, 5.Aufl., S.316).
1 Am Rande des Manuskripts vermerkte Engels: „Die Festigkeit der alten Naturanschauung lieferte den Boden zur allgemeinen Zusammenfassung der gesamten Naturwissenschaft als ein Ganzes. Die französischen Enzyklopädisten, noch rein mechanisch nebeneinander, dann gleichzeitig St. Simon und deutscheNaturphilosophie, vollendet durch Hegel."
konnte von der Philosophie Gutes kommen? Kants Schrift blieb ohne unmittelbares Resultat, bis lange Jahre später Laplace und Herschel ihren Inhalt ausführten und näher begründeten und damit die „Nebularhypothese" allmählich zu Ehren brachten. Fernere Entdeckungen verschafften ihr endlich den Sieg; die wichtigsten darunter waren: die Eigenbewegung der Fixsterne, der Nachweis eines widerstehenden Mittels im Weltraum, der durch die Spektralanalyse geführte Beweis der chemischen Identität der Weltmaterie und des Bestehens solcher glühenden Nebelmassen, wie Kant sie vorausgesetzt1. Es ist aber erlaubt zu zweifeln, ob der Mehrzahl der Naturforscher der Widerspruch einer sich verändernden Erde, die unveränderliche Organismen tragen soll, so bald zum Bewußtsein gekommen wäre, hätte die aufdämmernde Anschauung, daß die Natur nicht ist, sondern wird und vergeht, nicht von andrer Seite Sukkurs bekommen. Die Geologie entstand und wies nicht nur nacheinander gebildete und übereinander gelagerte Erdschichten auf, sondern auch in diesen Schichten die erhaltenen Schalen und Skelette ausgestorbner Tiere, die Stämme, Blätter und Früchte nicht mehr vorkommender Pflanzen. Man mußte sich entschließen anzuerkennen, daß nicht nur die Erde im ganzen und großen, daß auch ihre jetzige Oberfläche und die darauf lebenden Pflanzen und Tiere eine zeitliche Geschichte hatten. Die Anerkennung geschah anfangs widerwillig genug. Cuviers Theorie von den Revolutionen der Erde war revolutionär in der Phrase und reaktionär in der Sache. An die Stelle der Einen göttlichen Schöpfung setzte sie eine ganze Reihe wiederholter Schöpfungsakte, machte das Mirakel zu einem wesentlichen Hebel der Natur. Erst Lyell brachte Verstand in die Geologie, indem er die plötzlichen, durch die Launen des Schöpfers hervorgerufenen Revolutionen ersetzte durch die allmählichen Wirkungen einer langsamen Umgestaltung der Erde.* Die Lyellsche Theorie war noch unverträglicher mit der Annahme beständiger organischer Arten als alle ihre Vorgängerinnen. Allmähliche Umgestaltung der Erdoberfläche und aller Lebensbedingungen führte direkt
* Der Mangel der Lyellschen Anschauung - wenigstens in ihrer ersten Form lag darin, daß sie die auf der Erde wirkenden Kräfte als konstant auffaßte, konstant nach Qualität und Quantität. Die Abkühlung der Erde besteht nicht für ihn; die Erde entwickelt sich nicht in bestimmter Richtung, sie verändert sich bloß in zusammenhangsloser, zufälliger Weise.
1 Am Rande des Manuskripts vermerkte Engels mit Bleistift: „Flutwellenrotationshemmung, auch von Kant, erst jetzt verstanden"
auf allmähliche Umgestaltung der Organismen und ihre Anpassung an die sich ändernde Umgebung, auf die Wandelbarkeit der Arten. Aber die Tradition ist eine Macht nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in der Naturwissenschaft. Lyell selbst sah jahrelang den Widerspruch nicht, seine Schüler noch weniger. Es ist dies nur zu erklären durch die inzwischen in der Naturwissenschaft herrschend gewordne Teilung der Arbeit, die jeden auf sein spezielles Fach mehr oder weniger beschränkte und nur wenige nicht des allgemeinen Uberblicks beraubte. Inzwischen hatte die Physik gewaltige Fortschritte gemacht, deren Resultate in dem für diesen Zweig der Naturforschung epochemachenden Jahr 1842 von drei verschiedenen Männern fast gleichzeitig zusammengefaßt wurden. Mayer in Heilbronn und Joule in Manchester wiesen den Umschlag von Wärme in mechanische Kraft und von mechanischer Kraft in Wärme nach. Die Feststellung des mechanischen Äquivalents der Wärme stellte dies Resultat außer Frage. Gleichzeitig bewies Grove[17ü] - kein Naturforscher von Profession, sondern ein englischer Advokat - durch einfache Verarbeitung der bereits erreichten einzelnen physikalischen Resultate die Tatsache, daß alle sog. physikalischen Kräfte, mechanische Kraft, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, ja selbst die sog. chemische Kraft, unter bestimmten Bedingungen die eine in die andre umschlagen, ohne daß irgendwelcher Kraftverlust stattfindet, und bewies so nachträglich auf physikalischem Wege den Satz des Descartes, daß die Quantität der in der Welt vorhandenen Bewegung unveränderlich ist[37], Hiermitwaren die besondren physikalischen Kräfte, sozusagen die unveränderlichen „Arten" der Physik, in verschieden differenzierte und nach bestimmten Gesetzen ineinander übergehende Bewegungsformen der Materie aufgelöst. Die Zufälligkeit des Bestehens von soundso viel physikalischen Kräften war aus der Wissenschaft beseitigt, indem ihre Zusammenhänge und Übergänge nachgewiesen. Die Physik war, wie schon die Astronomie, bei einem Resultat angekommen, das mit Notwendigkeit auf den ewigen Kreislauf der sich bewegenden Materie als Letztes hinwies. Die wunderbar rasche Entwicklung der Chemie seit Lavoisier und besonders seit Dalton griff die alten Vorstellungen von der Natur von einer andern Seite an. Durch Herstellung von bisher nur im lebenden Organismus erzeugten Verbindungen auf anorganischem Wege wies sie nach, daß die Gesetze der Chemie für organische Körper dieselbe Gültigkeit haben wie für unorganische, und füllte sie einen großen Teil der noch nach Kant auf ewig unüberschreitbaren Kluft zwischen unorganischer und organischer Natur aus.
Endlich hatten auch auf dem Gebiet der biologischen Forschung, namentlich die seit Mitte des vorigen Jahrhunderts systematisch betriebnen wissenschaftlichen Reisen und Expeditionen, die genauere Durchforschung der europäischen Kolonien in allen Weltteilen durch dort lebende Fachleute, ferner die Fortschritte der Paläontologie, der Anatomie und Physiologie überhaupt, besonders seit systematischer Anwendung des Mikroskops und Entdeckung der Zelle, so viel Material gesammelt, daß die Anwendung der vergleichenden Methode möglich und zugleich notwendig wurde.1 Einerseits wurden durch die vergleichende physische Geographie die Lebensbedingungen der verschiednen Floren und Faunen festgestellt, andrerseits die verschiednen Organismen nach ihren homologen Organen untereinander verglichen, und zwar nicht nur im Zustand der Reife, sondern auf allen ihren Entwicklungsstufen. Je tiefer und genauer diese Untersuchung geführt wurde, desto mehr zerfloß ihr unter den Händen jenes starre System einer unveränderlich fixierten organischen Natur. Nicht nur, daß immer mehr einzelne Arten von Pflanzen und Tieren rettungslos ineinander verschwammen, es tauchten Tiere auf, wie Amphioxus und Lepidosiren[17(il, die aller bisherigen Klassifikation spotteten2, und endlich stieß man auf Organismen, von denen nicht einmal zu sagen war, ob sie zum Pflanzenreich oder zum Tierreich gehörten. Die Lücken im paläontologischen Archiv füllten sich mehr und mehr und zwangen auch dem Widerstrebendsten den schlagenden Parallelismus auf, der zwischen der Entwicklungsgeschichte der organischen Welt im ganzen und großen und der des einzelnen Organismus besteht, den Ariadnefaden, der aus dem Labyrinth führen sollte, worin Botanik und Zoologie sich tiefer und tiefer zu verirren schienen. Es war bezeichnend, daß fast gleichzeitig mit Kants Angriff auf die Ewigkeit des Sonnensystems C. F. Wolff 1759 den ersten Angriff auf die Beständigkeit der Arten erließ und die Abstammungslehre proklamierte11781. Aber was bei ihm nur noch geniale Antizipation, das nahm bei Oken, Lamarck, Baer feste Gestalt an und wurde genau 100 Jahre später, 1859, von Darwin sieghaft durchgeführt11791. Fast gleichzeitig wurde konstatiert, daß Protoplasma und Zelle, die schon früher als letzte Formbestandteile aller Organismen nachgewiesen, als niedrigste organische Formen selbständig lebend vorkommen. Damit war sowohl die Kluft zwischen anorganischer und organischer Natur auf ein Minimum reduziert, wie auch eine der wesentlichsten Schwierigkeiten beseitigt, die der Abstammungstheorie der Organismen bisher entgegen
1 Am Rande des Manuskripts vermerkte Engels: „Embryologie" - 2 am Rande des Manuskripts vermerkte Engels: „Ceratodus. Dito Archaeopteryx etc."I177J
stand. Die neue Naturanschauung war in ihren Grundzügen fertig: Alles Starre war aufgelöst, alles Fixierte verflüchtigt, alles für ewig gehaltene Besondere vergänglich geworden, die ganze Natur als in ewigem Fluß und Kreislauf sich bewegend nachgewiesen.
Und so sind wir denn wieder zurückgekehrt zu der Anschauungsweise der großen Gründer der griechischen Philosophie, daß die gesamte Natur, vom Kleinsten bis zum Größten, von den Sandkörnern bis zu den Sonnen, von den Protisten1421 bis zum Menschen, in ewigem Entstehen und Vergehen, in unaufhörlichem Fluß, in rastloser Bewegung und Veränderung ihr Dasein hat. Nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß, was bei den Griechen geniale Intuition war, bei uns Resultat streng wissenschaftlicher, erfahrungsmäßiger Forschung ist und daher auch in viel bestimmterer und klarerer Form auftritt. Allerdings ist der empirische Nachweis dieses Kreislaufs nicht ganz und gar frei von Lücken, aber diese sind unbedeutend im Vergleich zu dem, was bereits sichergestellt ist, und füllen sich mit jedem Jahr mehr und mehr aus. Und wie könnte der Nachweis im Detail anders als lückenhaft sein, wenn man bedenkt,, daß die wesentlichsten Zweige der Wissenschaft - die transplanetarische Astronomie, die Chemie, die Geologie - kaum ein Jahrhundert, die vergleichende Methode in der Physiologie kaum fünfzig Jahre wissenschaftlicher Existenz zählen, daß die Grundform tast aller Lebensentwicklung, die Zehe, noch nicht vierzig Jahre entdeckt ist!1
Aus wirbelnden, glühenden Dunstmassen, deren Bewegungsgesetze vielleicht erschlossen werden, nachdem die Beobachtungen einiger Jahrhunderte uns über die Eigenbewegung der Sterne Klarheit verschafft, entwickelten sich durch Zusammenziehung und Abkühlung die zahllosen Sonnen und Sonnensysteme unsrer von den äußersten Sternringen der Milchstraße begrenzten Weltinsel. Diese Entwicklung ging offenbar nicht überall gleich schnell vor sich. Die Existenz dunkler, nicht bloß planetarischer Körper, also ausgeglühter Sonnen in unserm Sternsystem, drängt sich der Astronomie mehr und mehr auf (Mädler); andrerseits gehört (nach
1 Dieser Absatz ist im Engelsschen Manuskript vom vorhergehenden und vom folgenden Absatz durch horizontale Striche getrennt und schräg durchgestrichen, wie es Engels mit solchen Absätzen eines Manuskripts zu tun pflegte, die er in anderen Arbeiten benutzt hatte.
Secchi) ein Teil der dunstförmigen Nebelflecke als noch nicht fertige Sonnen zu unserm Sternsystem, wodurch nicht ausgeschlossen ist, daß andre Nebel, wie Mädler behauptet, ferne selbständige Weltinseln sind, deren relative Entwicklungsstufe das Spektroskop festzustellen hat.11801 Wie aus einer einzelnen Dunstmasse ein Sonnensystem sich entwickelt, hat Laplace im Detail in bis jetzt unübertroffner Weise nachgewiesen; die spätere Wissenschaft hat ihn mehr und mehr bestätigt. Auf den so gebildeten einzelnen Körpern - Sonnen wie Planeten und Satelliten - herrscht anfangs diejenige Bewegungsform der Materie vor, die wir Wärme nennen. Von chemischen Verbindungen der Elemente kann selbst bei einer Temperatur, wie sie heute noch die Sonne hat, keine Rede sein; inwieweit die Warme sich dabei in Elektrizität oder Magnetismus umsetzt, werden fortgesetzte Sonnenbeobachtungen zeigen; daß die auf der Sonne vorgehenden mechanischen Bewegungen lediglich aus dem Konflikt der Wärme mit der,Schwere hervorgehn, ist schon jetzt so gut wie ausgemacht. Die einzelnen Körper kühlen sich um so rascher ab, je kleiner sie sind. Satelliten, Asteroiden, Meteore zuerst, wie denn ja unser Mond längst Verstorben ist. Langsamer die Planeten, am langsamsten der Zentralkörper. Mit der fortschreitenden Abkühlung tritt das Wechselspiel der ineinander umschlagenden physikalischen Bewegungsformen mehr und mehr in den Vordergrund, bis endlich ein Punkt erreicht wird, von wo an die chemische Verwandtschaft anfängt, sich geltend zu machen, wo die bisher chemisch indifferenten Elemente sich nacheinander chemisch differenzieren, chemische Eigenschaften erlangen, Verbindungen miteinander eingehn. Diese Verbindungen wechseln fortwährend mit der abnehmenden Temperatur, die nicht nur jedes Element, sondern auch jede einzelne Verbindung von Elementen verschieden beeinflußt, mit dem davon abhängenden Übergang eines Teils der gasförmigen Materie zuerst in den flüssigen, dann in den festen Zustand und mit den dadurch geschaffenen neuen Bedingungen. Die Zeit, wo der Planet eine feste Rinde und Wasseransammlungen auf seiner Oberfläche hat, fällt zusammen mit der, von wo an seine Eigenwärme mehr und mehr zurücktritt gegen die ihm zugesandte Wärme des Zentralkörpers. Seine Atmosphäre wird der Schauplatz meteorologischer Erscheinungen in dem Sinne, wie wir das Wort jetzt verstehn, seine Oberfläche der Schauplatz geologischer Veränderungen, bei denen die durch atmosphärische Niederschläge herbeigeführten Ablagerungen immer mehr Übergewicht erlangen über die sich langsam abschwächenden Wirkungen nach außen des heißflüssigen Innern.
Gleicht sich endlich die Temperatur so weit aus, daß sie wenigstens an einer beträchtlichen Stelle der Oberfläche die Grenzen nicht mehr überschreitet, in denen das Eiweiß lebensfähig ist, so bildet sich, unter sonst günstigen chemischen Vorbedingungen, lebendiges Protoplasma. Welches diese Vorbedingungen sind, wissen wir heute noch nicht, was nicht zu verwundern, da nicht einmal die chemische Formel des Eiweißes bis jetzt feststeht, wir noch nicht einmal wissen, wieviel chemisch verschiedene Eiweißkörper es gibt, und da erst seit ungefähr zehn Jahren die Tatsache bekannt ist, daß vollkommen strukturloses Eiweiß alle wesentlichen Funktionen des Lebens, Verdauung, Ausscheidung, Bewegung, Kontraktion, Reaktion gegen Reize, Fortpflanzung, vollzieht. Es mag Jahrtausende gedauert haben, bis die Bedingungen eintraten, unter denen der nächste Fortschritt geschehn und dies formlose Eiweiß durch Bildung von Kern und Haut die erste Zelle herstellen konnte. Aber mit dieser ersten Zelle war auch die Grundlage der Formbildung der ganzen organischen Welt gegeben; zuerst entwickelten sich, wie wir nach der ganzen Analogie des paläontologischen Archivs annehmen dürfen, zahllose Arten zellenloser und zelliger Protisten, wovon das einzige Eozoon canadense11811 uns überliefert, und wovon einige allmählich zu den ersten Pflanzen, andre zu den ersten Tieren sich differenzierten. Und von den ersten Tieren aus entwickelten sich, wesentlich durch weitere Differenzierung, die zahllosen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten der Tiere, zuletzt die Form, in der das Nervensystem zu seiner vollsten Entwicklung kommt, die der Wirbeltiere, und wieder zuletzt unter diesen das Wirbeltier, in dem die Natur das Bewußtsein ihrer selbst erlangt - der Mensch. Auch der Mensch entsteht durch Differenzierung. Nicht nur individuell, aus einer einzigen Eizelle bis zum kompliziertesten Organismus differenziert, den die Natur hervorbringt - nein, auch historisch. Als nach jahrtausendelangem Ringen die Differenzierung der Hand vom Fuß, der aufrechte Gang, endlich festgestellt, da war der Mensch vom Affen geschieden, da war der Grund gelegt zur Entwicklung der artikulierten Sprache und zu der gewaltigen Ausbildung des Gehirns, die seitdem die Kluft zwischen Menschen und Affen unübersteiglich gemacht hat. Die Spezialisierung der Hand - das bedeutet das Werkzeug, und das Werkzeug bedeutet die spezifisch menschliche Tätigkeit, die umgestaltende Rückwirkung des Menschen auf die Natur, die Produktion. Auch Tiere im engern Sinne haben Werkzeuge, aber nur als Glieder ihres Leibes - die Ameise, die Biene, der Biber; auch Tiere produzieren, aber ihre produktive Einwirkung auf die umgebende Natur ist dieser gegenüber gleich Null. Nur der Mensch hat es fertig
gebracht, der Natur seinen Stempel aufzudrücken, indem er nicht nur Pflanzen und Tiere versetzte, sondern auch den Aspekt, das Klima seines Wohnorts, ja die Pflanzen und Tiere selbst so veränderte, daß die Folgen seiner Tätigkeit nur mit dem allgemeinen Absterben des Erdballs verschwinden können. Und das hat er fertiggebracht zunächst und wesentlich vermittelst der Hand. Selbst die Dampfmaschine, bis jetzt sein mächtigstes Werkzeug zur Umgestaltung der Natur, beruht, weil Werkzeug, in letzter Instanz auf der Hand. Aber mit der Hand entwickelte sich Schritt für Schritt der Kopf, kam das Bewußtsein zuerst der Bedingungen einzelner praktischer Nutzeffekte, und später, bei den begünstigteren Völkern, daraus hervorgehend die Einsicht in die sie bedingenden Naturgesetze. Und mit der rasch wachsenden Kenntnis der Naturgesetze wuchsen die Mittel der Rückwirkung auf die Natur; die Hand allein hätte die Dampfmaschine nie fertiggebracht, hätte das Gehirn des Menschen sich nicht mit und neben ihr und teilweise durch sie korrelativ entwickelt. Mit dem Menschen treten wir ein in die Geschichte. Auch die Tiere haben eine Geschichte, die ihrer Abstammung und allmählichen Entwicklung bis auf ihren heutigen Stand. Aber diese Geschichte wird für sie gemacht, und soweit sie selbst daran teilnehmen, geschieht es ohne ihr Wissen und Wollen. Die Menschen dagegen, je mehr sie sich vom Tier im engeren Sinn entfernen, desto mehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewußtsein, desto geringer wird der Einfluß unvorhergesehener Wirkungen, unkontrollierter Kräfte auf diese Geschichte, desto genauer entspricht der geschichtliche Erfolg dem vorher festgestellten Zweck. Legen wir aber diesen Maßstab an die menschliche Geschichte, selbst der entwickeltsten Völker der Gegenwart, so finden wir, daß hier noch immer ein kolossales Mißverhältnis besteht zwischen den vorgesteckten Zielen und den erreichten Resultaten, daß die unvorhergesehenen Wirkungen vorherrschen, daß die unkontrollierten Kräfte weit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten. Und dies kann nicht anders sein, solange die wesentlichste geschichtliche Tätigkeit der Menschen, diejenige, die sie aus der Tierheit zur Menschheit emporgehoben hat, die die materielle Grundlage aller ihrer übrigen Tätigkeiten bildet, die Produktion ihrer Lebensbedürfnisse, d.h. heutzutage die gesellschaftliche Produktion, erst recht dem Wechselspiel unbeabsichtigter Einwirkungen von unkontrollierten Kräften unterworfen ist und den gewollten Zweck nur ausnahmsweise, weit häufiger aber sein grades Gegenteil realisiert. Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepreßt; wir haben damit die Produktion ins unendliche vervielfacht, so
daß ein Kind jetzt mehr erzeugt als früher hundert Erwachsene. Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen und alle zehn Jahre ein großer Krach. Darwin wußte nicht, welch bittre Satire er auf die Menschen und besonders auf seine Landsleute schrieb, als er nachwies, daß die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Ökonomen als höchste geschichtliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Tierreichs ist. Erst eine bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat. Die geschichtliche Entwicklung macht eine solche Organisation täglich unumgänglicher, aber auch täglich möglicher. Von ihr wird eine neue Geschichtsepoche datieren, in der die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrer Tätigkeit, namentlich auch die Naturwissenschaft, einen Aufschwung nehmen werden, der alles Bisherige in tiefen Schatten stellt. Indes, „alles was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht"[182]. Millionen Jahre mögen darüber vergehn, Hunderttausende von Geschlechtern geboren werden und sterben; aber unerbittlich rückt die Zeit heran, wo die sich erschöpfende Sonnenwärme nicht mehr ausreicht, das von den Polen herandrängende Eis zu schmelzen, v/o die sich mehr und mehr um den Äquator zusammendrängenden Menschen endlich auch dort nicht mehr Wärme genug zum Leben finden, wo nach und nach auch die letzte Spur organischen Lebens verschwindet und die Erde, ein erstorbner, erfrorner Ball wie der Mond, in tiefer Finsternis und in immer engeren Bahnen um die ebenfalls erstorbne Sonne kreist und endlich hineinfällt. Andre Planeten werden ihr vorangegangen sein, andre folgen ihr; anstatt des harmonisch gegliederten, hellen, warmen Sonnensystems verfolgt nur noch eine kaite, tote Kugel ihren einsamen Weg durch den Weltraum. Und so wie unserm Sonnensystem ergeht es früher oder später allen andern Systemen unsrer Weltinsel, ergeht es denen aller übrigen zahllosen Weltinseln, selbst denen, deren Licht nie die Erde erreicht, solange ein menschliches Auge auf ihr lebt, es zu empfangen. Und wenn nun ein solches Sonnensystem seinen Lebenslauf vollbracht und dem Schicksal alles Endlichen, dem Tode verfallen ist, wie dann? Wird die Sonnenleiche in Ewigkeit als Leiche durch den unendlichen Raum fortrollen und alle die ehemals unendlich mannigfaltig differenzierten Naturkräfte für immer in die eine Bewegungsform der Attraktion aufgehn?
„Oder", wie Secchi fragt (p.810), „sind Kräfte in der Natur vorhanden, welche das tote System in den anfänglichen Zustand des glühenden Nebels zurückversetzen und es zu neuem Leben wieder aufwecken können? Wir wissen es nicht."I183J Allerdings wissen wir das nicht in dem Sinn, wie wir wissen, daß 2x2 = 4 ist, oder daß die Attraktion der Materie zu- und abnimmt nach dem Quadrat der Entfernung. Aber in der theoretischen Naturwissenschaft, die ihre Naturanschauung möglichst zu einem harmonischen Ganzen verarbeitet und ohne die heutzutage selbst der gedankenloseste Empiriker nicht vom Fleck kommt, haben wir sehr oft mit unvollkommen bekannten Größen zu rechnen und hat die Konsequenz des Gedankens zu allen Zeiten der mangelhaften Kenntnis forthelfen müssen. Nun hat die moderne Naturwissenschaft den Satz von der Unzerstörbarkeit der Bewegung von der Philosophie adoptieren müssen; ohne ihn kann sie nicht mehr bestehn. Die Bewegung der Materie aber, das ist nicht bloß die grobe mechanische Bewegung, die bloße Ortsveränderung, das ist Wärme und Licht, elektrische und magnetische Spannung, chemisches Zusammengehn und Auseinandergehn, Leben und schließlich Bewußtsein. Sagen, daß die Materie während ihrer ganzen zeitlos unbegrenzten Existenz nur ein einziges Mal und für eine ihrer Ewigkeit gegenüber verschwindend kurze Zeit in der Möglichkeit sich befindet, ihre Bewegung zu differenzieren und dadurch den ganzen Reichtum dieser Bewegung zu entfalten, und daß sie vor- und nachher in Ewigkeit auf bloße Orts Veränderung beschränkt bleibt - das heißt behaupten, daß die Materie sterblich und die Bewegung vergänglich ist. Die Unzerstörbarkeit der Bewegung kann nicht bloß quantitativ, sie muß auch qualitativ gefaßt werden; eine Materie, deren rein mechanische Ortsveränderung zwar die Möglichkeit in sich trägt, unter günstigen Bedingungen in Wärme, Elektrizität, chemische Aktion, Leben umzuschlagen, die aber außerstande ist, diese Bedingungen aus sich selbst zu erzeugen, eine solche Materie hat Bewegung eingebüßt; eine Bewegung, die die Fähigkeit verloren hat, sich in die ihr zukommenden verschiedenen Formen umzusetzen, hat zwar noch Dynamis1, aber keine Energeia2 mehr, und ist damit teilweise zerstört worden. Beides aber ist undenkbar. Soviel ist sicher: Es gab eine Zeit, wo die Materie unsrer Weltinsel eine solche Menge Bewegung - welcher Art, wissen wir bis jetzt nicht - in Wärme umgesetzt hatte, daß daraus die zu (nach Mädler) mindestens 20 Millionen Sternen gehörigen Sonnensysteme sich entwickeln konnten, deren allmähliches Absterben ebenfalls gewiß ist. Wie ging dieser Umsatz
1 Potenz, zu wirken - 2 Wirksamkeit
vor sich? Wir wissen es ebensowenig, wie Pater Secchi weiß, ob das künftige caput mortuum1 unsres Sonnensystems je wieder in Rohstoff zu neuen Sonnensystemen verwandelt wird. Aber entweder müssen wir hier auf den Schöpfer rekurrieren, oder wir sind zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß der glühende Rohstoff zu den Sonnensystemen unsrer Weltinsel auf natürlichem Wege erzeugt wurde, durch Bewegungsverwandlungen, die der sich bewegenden Materie von Natur zustehn, und deren Bedingungen also auch von der Materie, wenn auch erst nach Millionen und aber Millionen Jahren, mehr oder weniger zufällig, aber mit der auch dem Zufall inhärenten Notwendigkeit sich reproduzieren müssen. Die Möglichkeit einer solchen Umwandlung wird mehr und mehr zugegeben. Man kommt zu der Ansicht, daß die Weltkörper die schließliche Bestimmung haben, ineinander zu fallen, und man berechnet sogar die Wärmemenge, die sich bei solchen Zusammenstößen entwickeln muß. Das plötzliche Aufblitzen neuer Sterne, das ebenso plötzliche hellere Aufleuchten altbekannter, von dem die Astronomie uns berichtet, erklärt sich am leichtesten aus solchen Zusammenstößen. Dabei bewegt sich nicht nur unsre Planetengruppe um die Sonne und unsre Sonne innerhalb unsrer Weltinsel, sondern auch unsre ganze Weltinsel bewegt sich fort im Weltraum in temporärem, relativem Gleichgewicht mit den übrigen Weltinseln; denn selbst relatives Gleichgewicht frei schwebender Körper kann nur bestehn bei gegenseitig bedingter Bewegung; und manche nehmen an, daß die Temperatur im Weltraum nicht überall dieselbe ist. Endlich: Wir wissen, daß mit Ausnahme eines verschwindend kleinen Teils die Wärme der zahllosen Sonnen unsrer Weltinsel im Raum verschwindet und sich vergeblich abmüht, die Temperatur des Weltraums auch nur um ein Milliontel Grad Celsius zu erhöhen. Was wird aus all dieser enormen Wärmequantität? Ist sie für alle Zeiten aufgegangen in dem Versuch, den Weltraum zu heizen, hat sie praktisch aufgehört zu existieren und besteht sie nur noch theoretisch weiter in der Tatsache, daß der Weltraum wärmer geworden ist um einen Graddezimalbruchteil, der mit zehn oder mehr Nullen anfängt? Diese Annahme leugnet die Unzerstörbarkeit der Bewegung; sie läßt die Möglichkeit zu, daß durch sukzessives Ineinanderfallen der Weltkörper alle vorhandene mechanische Bewegung in Wärme verwandelt und diese in den Weltraum ausgestrahlt werde, womit trotz aller „Unzerstörbarkeit der Kraft" alle Bewegung überhaupt aufgehört hätte. (Es zeigt sich hier beiläufig, wie schief die Bezeichnung: Unzerstörbarkeit der Kraft, statt Unzerstörbarkeit der Bewegung ist.) Wir kommen also zu dem Schluß, daß auf
1 der tote Überrest
einem Wege, den es später einmal die Aufgabe der Naturforschung sein wird aufzuzeigen, die in den Weltraum ausgestrahlte Wärme die Möglichkeit haben muß, in eine andre Bewegungsform sich umzusetzen, in der sie wieder zur Sammlung und Betätigung kommen kann. Und damit fällt die Hauptschwierigkeit, die der Rückverwandlung abgelebter Sonnen in glühenden Dunst entgegenstand. Übrigens ist die sich ewig wiederholende Aufeinanderfolge der Welten in der endlosen Zeit nur die logische Ergänzung des Nebeneinanderbestehens zahlloser Welten im endlosen Raum - ein Satz, dessen Notwendigkeitsich sogar demantitheoretischen Yankee-Gehirn Drapers aufzwingt.* Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt, ein Kreislauf, der seine Bahn wohl erst in Zeiträumen vollendet, für die unser Erdenjahr kein ausreichender Maßstab mehr ist, ein Kreislauf, in dem die Zeit der höchsten Entwicklung, die Zeit des organischen Lebens und noch mehr die des Lebens selbst- und naturbewußter Wesen ebenso knapp bemessen ist wie der Raum, in dem Leben und Selbstbewußtsein zur Geltung kommen; ein Kreislauf, in dem jede endliche Daseinsweise der Materie, sei sie Sonne oder Dunstnebel, einzelnes Tier oder Tiergattung, chemische Verbindung oder Trennung, gleicherweise vergänglich, und worin nichts ewig ist als die ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze, nach denen sie sich bewegt und verändert. Aber wie oft und wie unbarmherzig auch in Zeit und Raum dieser Kreislauf sich vollzieht; wieviel Millionen Sonnen und Erden auch entstehn und vergehn mögen; wie lange es auch dauern mag, bis in einem Sonnensystem nur auf Einem Planeten die Bedingungen des organischen Lebens sich herstellen; wie zahllose organische Wesen auch vorhergehn und vorher untergehn müssen, ehe aus ihrer Mitte sich Tiere mit denkfähigem Gehirn entwickeln und für eine kurze Spanne Zeit lebensfähige Bedingungen vorfinden, um dann auch ohne Gnade ausgerottet zu werden - wir haben die Gewißheit, daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute je verlorengehn kann, und daß sie daher auch mit derselben eisernen Notwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüte, den denkenden Geist, wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in andrer Zeit wieder erzeugen muß.
* „The multiplicity of worlds in infinite space leads to the conception of a succession of worlds in infinite time."1 (Draper, „Hist[ory of the] Int[ellectual] Development of Europe]". Vol. II, p. [325].
1 „Die Vielheit der Welten im endlosen Raum führt zur Auffassung von einer Aufeinanderfolge der Welten in der endlosen Zeit."
Alte Vorrede zum ,»[Anti~]Düliring"I184] Uber die Dialektik
Die nachfolgende Arbeit ist keineswegs aus „innerem Antrieb" entstanden. Im Gegenteil wird mir mein Freund Liebknecht bezeugen, wieviel Mühe es ihm gekostet hat, bis er mich bewog, die neueste sozialistische Theorie des Herrn Dühring kritisch zu beleuchten. Einmal dazu entschlossen, hatte ich keine andre Wahl, als diese Theorie, die sich selbst als letzte praktische Frucht eines neuen philosophischen Systems vorführt, im Zusammenhang dieses Systems und damit das System selbst zu untersuchen. Ich war also genötigt, Herrn Dühring auf jenes umfassende Gebiet zu folgen, wo er von allen möglichen Dingen spricht und noch von einigen andern. So entstand eine Reihe von Artikeln, die seit Anfang 1877 im Leipziger „Vorwärts" erschien und hier im Zusammenhang vorliegt. Wenn die Kritik eines trotz aller Selbstanpreisung so höchst unbedeutenden Systems in dieser durch die Sache gebotenen Ausführlichkeit auftritt, so mögen zwei Umstände dies entschuldigen. Einerseits gab mir diese Kritik Gelegenheit, auf verschiedenen Gebieten meine Auffassung von Streitpunkten positiv zu entwickeln, die heute von allgemeinerem wissenschaftlichem oder praktischem Interesse sind.Und so wenig es mir einfallen kann, dem System des Herrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen, so wird der Leser hoffentlich auch in den von mir aufgestellten Ansichten, bei aller Verschiedenheit des behandelten Stoffs, den inneren Zusammenhang nicht vermissen. Andrerseits aber ist der „systemschaffende" Herr Dühring keine vereinzelte Erscheinung in der deutschen Gegenwart. Seit einiger Zeit schießen in Deutschland die philosophischen, namentlich die naturphilosophischen Systeme über Nacht zu Dutzenden auf wie die Pilze, von den zahllosen neuen Systemen der Politik, der Ökonomie usw. gar nicht zu sprechen. Wie im modernen Staat vorausgesetzt wird, daß jeder Staatsbürger über alle die Fragen urteilsreif ist, über die abzustimmen er berufen; wie in der
Ökonomie angenommen wird, daß jeder Käufer auch ein Kenner aller derjenigen Waren ist, die er zu seinem Lebensunterhalt einzukaufen in den Fall kommt - so soll es jetzt auch in der Wissenschaft gehalten werden. Jeder kann über alles schreiben, und darin besteht grade die „Freiheit der Wissenschaft", daß man erst recht über das schreibt, was man nicht gelernt hat, und daß man dies für die einzige streng wissenschaftliche Methode ausgibt. Herr Dühring aber ist einer der bezeichnendsten Typen dieser vorlauten Pseudowissenschaft, die sich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängt und alles übertönt mit ihrem dröhnenden - höheren Blech. Höheres Blech in der Poesie, in der Philosophie, in der Ökonomie, in der Geschichtschreibung, höheres Blech auf Katheder und Tribüne, höheres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe im Unterschied von dem simplen platt-vulgären Blech andrer Nationen, höheres Blech das charakteristischste und massenhafteste Produkt der deutschen intellektuellen Industrie, billig aber schlecht, ganz wie andre deut§che Fabrikate, neben denen es leider in Philadelphia nicht vertreten war[ai. Sogar der deutsche Sozialismus macht neuerdings, namentlich seit dem guten Beispiel des Herrn Dühring, recht erklecklich in höherem Blech; daß die praktische sozialdemokratische Bewegung sich durch dies höhere Blech so wenig irremachen läßt, ist wieder ein Beweis für die merkwürdig gesunde Natur unsrer Arbeiterklasse in einem Lande, wo doch sonst, mit Ausnahme der Naturwissenschaft, augenblicklich so ziemlich alles krankt. Wenn Nägeli in seiner Rede auf der Münchener Naturforscherversammlung sich dahin aussprach, daß das menschliche Erkennen nie den Charakter der Allwissenheit annehmen werde[185J, so sind ihm die Leistungen des Herrn Dühring offenbar unbekannt geblieben. Diese Leistungen haben mich genötigt, ihnen auch auf eine Reihe von Gebieten zu folgen, auf denen ich höchstens in der Eigenschaft eines Dilettanten mich bewegen kann. Es gilt dies namentlich von den verschiednen Zweigen der Naturwissenschaft, wo es bisher häufig für mehr als unbescheiden galt, wenn ein „Laie" ein Wort dareinreden wollte. Indes ermutigt mich einigermaßen der ebenfalls in München gefallene, an einer andern Stelle näher erörterte Ausspruch Herrn Virchows, daß jeder Naturforscher außerhalb seiner eignen Spezialität ebenfalls nur ein Halbwisser, vulgo Laie istt5]. Wie ein solcher Spezialist sich erlauben darf und erlauben muß, von Zeit zu Zeit auf benachbarte Gebiete überzugreifen, und wie ihm da von den betreffenden Spezialisten Unbehülflichkeit des Ausdrucks und kleine Ungenauigkeiten nachgesehn werden, so habe auch ich mir die Freiheit genommen, Naturvorgänge und
Naturgesetze als beweisende Exempel meiner allgemein theoretischen Auffassungen anzuführen, und darf wohl auf dieselbe Nachsicht rechnen1. Die Resultate der modernen Naturwissenschaft drängen sich eben einem jeden, der sich mit theoretischen Dingen beschäftigt, mit derselben Unwiderstehlichkeit auf, mit der die heutigen Naturforscher, wollen sie's oder nicht, zu theoretisch-allgemeinen Folgerungen sich getrieben sehn. Und hier tritt eine gewisse Kompensation ein. Sind die Theoretiker Halbwisser auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, so sind es die heutigen Naturforscher tatsächlich ebensosehr auf dem Gebiet der Theorie, auf dem Gebiet dessen, was bisher als Philosophie bezeichnet wurde. Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit, ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach seinem innern Zusammenhang zu ordnen* schlechthin unabweisbar geworden ist. Ebenso unabweisbar wird es, die einzelnen Erkenntnisgebiete unter sich in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Damit aber begibt sich die Naturwissenschaft auf das theoretische Gebiet, und hier versagen die Methoden der Empirie, hier kann nur das theoretische Denken helfen2. Das theoretische Denken ist aber nur der Anlage nach eine angeborne Eigenschaft. Diese Anlage muß entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Ausbildung gibt es bis jetzt kein andres Mittel als das Studi um der bisherigen Philosophie. Das theoretische Denken einer jeden Epoche, also auch das der unsrigen, ist ein historisches Produkt, das zu verschiednen Zeiten sehr verschiedne Form und damit sehr verschiednen Inhalt annimmt. Die Wissenschaft vom Denken ist also, wie jede andre, eine historische Wissenschaft, die Wissenschaft von der geschichtlichen Entwicklung, des menschlichen Denkens. Und dies ist auch für die praktische Anwendung des Denkens auf empirische Gebiete von Wichtigkeit. Denn erstens ist die Theorie der Denkgesetze keineswegs eine ein für allemal ausgemachte „ewige Wahrheit", wie der Philisterverstand sich dies bei dem Wort Logik vorstellt. Die formelle Logik selbst ist seit Aristoteles bis heute das Gebiet heftiger Debatte geblieben. Und die Dialektik gar ist bis jetzt erst von zwei Denkern genauer untersucht worden, von Aristoteles und Hegel. Grade die Dialektik ist aber für die heutige Naturwissenschaft die wichtigste Denkform, weil sie allein das
1 Bis zu dieser Stelle strich Engels das Manuskript mit einem senkrechten Bleistiftstrich durch, da er diesen Teil in der Einleitung der ersten Ausgabe des „Anti-Dühring" verwandt hatte - 2 im Manuskript ist dieser und der vorhergehende Satz mit Bleistift durchgestrichen
Analogon Und damit die Erklärungsmethode bietet für die in der Natur vorkommenden Entwicklungsprozesse, für die Zusammenhänge im ganzen und großen, für die Übergänge von einem Untersuchungsgebiet zum andern. Zweitens aber ist die Bekanntschaft mit dem geschichtlichen Entwicklungsgang des menschlichen Denkens, mit den zu verschiednen Zeiten hervorgetretenen Auffassungen der allgemeinen Zusammenhänge der äußeren Welt auch darum für die theoretische Naturwissenschaft ein Bedürfnis, weil sie einen Maßstab abgibt für die von dieser selbst aufzustellenden Theorien. Der Mangel an Bekanntschaft mit der Geschichte der Philosophie tritt hier aber oft und grell genug hervor. Sätze, die in der Philosophie seit Jahrhunderten aufgestellt, die oft genug längst philosophisch abgetan sind, treten oft genug bei theoretisierenden Naturforschern als funkelneue Weisheit auf und werden sogar eine Zeitlang Mode. Es ist sicher ein großer Erfolg der mechanischen Wärmetheorie, daß sie den Satz von der Erhallung der Energie mit neuen Belegen gestützt und wieder in den Vordergrund gestellt hat; aber hätte dieser Satz als etwas so absolut Neues auftreten können, wenn die Herren Physiker sich erinnert hätten, daß er schon von Descartes aufgestellt war137 Seitdem Physik und Chemie wieder fast ausschließlich mit Molekülen und Atomen hantieren, ist die altgriechische atomistische Philosophie mit Notwendigkeit wieder in den Vordergrund getreten. Aber wie oberflächlich wird sie selbst von den besten unter ihnen behandelt! So erzählt Kekule („Ziele und Leistungen der Chemie"), sie rühre von Demokrit her, statt von Leukipp, und behauptet, Dalton habe zuerst die Existenz qualitativ verschiedner Elementaratome angenommen und ihnen zuerst verschiedne, für die verschiednen Elemente charakteristische Gewichte zugeschrieben1186 während doch bei Diogenes Laertius (X, §§ 43-44 u. 61) zu lesen ist, daß schon Epikur den Atomen Verschiedenheit nicht nur der Größe und Gestalt, sondern auch des Gewichts zuschreibt1, also schon Atomgewicht und Atömvolum in seiner Art kennt. Das Jahr 1848, das in Deutschland sonst mit nichts fertig wurde, hat dort nur auf dem Gebiet der Philosophie eine totale Umkehr zustande gebracht. Indem die Nation sich auf das Praktische warf, hier die Anfänge der großen Industrie und des Schwindels gründete, dort den gewaltigen Aufschwung, den die Naturwissenschaft in Deutschland seitdem genommen, eingeleitet durch die Reiseprediger und Karikaturen Vogt, Büchner etc., sagte sie der im Sande der Berliner Althegelei verlaufenen klassischen deut
1 Siehe vorl. Band, S. 461
sehen Philosophie entschieden ab. Die Berliner Althegelei hatte das redlich verdient. Aber eine Nation, die auf der Höhe der Wissenschaft stehn will, kann nun einmal ohne theoretisches Denken nicht auskommen. Mit der Hegelei warf man auch die Dialektik über Bord - grade im Augenblick, wo der dialektische Charakter der Naturvorgänge sich unwiderstehlich aufzwang, wo also nur die Dialektik der Naturwissenschaft über den theoretischen Berg helfen konnte — und verfiel damit wieder hülflos der alten Metaphysik. Im Publikum grassierten seitdem einerseits die auf den Philister zugeschnittenen flachen Reflexionen Schopenhauers und später sogar Hartmanns, andrerseits der vulgäre Reiseprediger-Materialismus eines Vogt und Büchner. Auf den Universitäten machten sich die verschiedensten Sorten von Eklektizismus Konkurrenz, die nur darin übereinstimmten, daß sie aus lauter Abfällen vergangner Philosophien zusammengestutzt und alle gleich metaphysisch waren. Von den Resten der klassischen Philosophie rettete sich nur ein gewisser Neukantianismus, dessen letztes Wort das ewig unerkennbare Ding an sich war, also das Stück Kant, das am wenigsten verdiente, aufbewahrt zu werden. Das Endresultat war die jetzt herrschende Zerfahrenheit und Verworrenheit des theoretischen Denkens. Man kann kaum ein theoretisches naturwissenschaftliches Buch zur Hand nehmen, ohne den Eindruck zu bekommen, daß die Naturforscher es selbst fühlen, wie sehr sie von dieser Zerfahrenheit und Verworrenheit beherrscht werden und wie ihnen die jetzt landläufige sog. Philosophie absolut keinen Ausweg bietet. Und hier gibt es nun einmal keinen andern Aus1 « * IT.. 1» 1 T 77-5 1 1 1 T T 1 ? weg, keine Möglichkeit, zur Klarneit zu gelangen, als die umkenr, in einer oder der andern Form, vom metaphysischen zum dialektischen Denken. Diese Rückkehr kann auf verschiednen Wegen vor sich gehn. Sie kann sich naturwüchsig durchsetzen, durch die bloße Gewalt der naturwissenschaftlichen Entdeckungen selbst, die sich nicht länger in das alte metaphysische Prokrustesbett wollen zwängen lassen. Das ist aber ein langwieriger, schwerfälliger Prozeß, bei dem eine Unmasse überflüssiger Reibung zu überwinden ist. Er ist großenteils schon im Gang, namentlich in der Biologie. Er kann sehr abgekürzt werden, wenn die theoretischen Naturforscher sich mit der dialektischen Philosophie in ihren geschichtlich vorliegenden Gestalten näher beschäftigen wollen. Unter diesen Gestalten sind es namentlich zwei, die für die moderne Naturwissenschaft besonders fruchtbar werden können. Die erste ist die griechische Philosophie. Hier tritt das dialektische Denken noch in naturwüchsiger Einfachheit auf, noch ungestört von den holden
Hindernissen, die die Metaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts - Bacon und Locke in England, Wolff in Deutschland - sich selbst aufwarf, und womit sie sich den Weg versperrte, vom Verständnis des Einzelnen zum Verständnis des Ganzen, zur Einsicht in den allgemeinen Zusammenhang zu kommen. Bei den Griechen - eben weil sie noch nicht zur Zergliederung, zur Analyse der Natur fortgeschritten waren - wird die Natur noch als Ganzes, im ganzen und großen angeschaut. Der Gesamtzusammenhang der Naturerscheinungen wird nicht im einzelnen nachgewiesen, er ist den Griechen Resultat der unmittelbaren Anschauung. Darin liegt die Unzulänglichkeit der griechischen Philosophie, derentwegen sie später andren Anschauungsweisen hat weichen müssen. Darin liegt aber auch ihre Überlegenheit gegenüber allen ihren späteren metaphysischen Gegnern. Wenn die Metaphysik den Griechen gegenüber im einzelnen recht behielt, so behielten die Griechen gegenüber der Metaphysik recht im ganzen und großen. Dies ist der eine Grund, weshalb wir genötigt werden, in der Philosophie wie auf so vielen andern Gebieten, immer wieder zurückzukehren zu den Leistungen jenes kleinen Volks, dessen universelle Begabung und Betätigung ihm einen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gesichert hat, wiekein andres Volk ihn je beanspruchen kann. Der andre Grund aber ist der, daß in den mannigfachen Formen der griechischen Philosophie sich fast alle späteren Anschauungsweisen bereits im Keim, im Entstehen vorfinden. Die theoretische Naturwissenschaft ist daher ebenfalls gezwungen, will sie die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ihrer heutigen allgemeinen Sätze verfolgen, zurückzugehn auf die Griechen. Und diese Einsicht bricht sich mehr und mehr Bahn. Immer seltner werden die Naturforscher, die, während sie selbst mit Abfällen griechischer Philosophie, z.B. der Atomistik, wie mit ewigen Wahrheiten hantieren, baconistisch-vornehm auf die Griechen herabsehn, weil diese keine empirische Naturwissenschaft hatten. Zu wünschen wäre nur, daß diese Einsicht fortschritte zu einer wirklichen Kenntnisnahme der griechischen Philosophie. Die zweite Gestalt der Dialektik, die grade den deutschen Naturforschern am nächsten liegt, ist die klassische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel. Hier ist bereits ein Anfang gemacht, indem auch außerhalb des schon erwähnten Neukantianismus es wieder Mode wird, auf Kant zu rekurrieren. Seitdem man entdeckt hat, daß Kant der Urheber zweier genialer Hypothesen ist, ohne die die heutige theoretische Naturwissenschaft nun einmal nicht vorankommen kann - der früher Laplace zugeschriebnen Theorie von der Entstehung des Sonnensystems und der Theorie von der Hemmung der Erdrotation durch die Flutwelle -, ist Kant bei den Natur
forschem wieder zu verdienten Ehren gekommen. Aber bei Kant Dialektik studieren zu wollen, wäre eine nutzlos mühsame und wenig lohnende Arbeit, seitdem ein umfassendes, wenn auch von ganz falschem Ausgangspunkt her entwickeltes Kompendium der Dialektik vorliegt in den Werken H/>tH>Ie Nachdem einerseits die durch diesen falschen Ausgangspunkt und durch das hülflose Versumpfen der Berliner Hegelei großenteils gerechtfertigte Reaktion gegen die „Naturphilosophie" ihren freien Lauf gehabt und in bloßes Geschimpfe ausgeartet ist, nachdem andrerseits die Naturwissenschaft in ihren theoretischen Bedürfnissen von der landläufigen eklektischen Metaphysik so glänzend im Stich gelassen worden, wird es wohl möglich sein, vor Naturforschern auch wieder einmal den Namen Hegel auszusprechen, ohne dadurch jenen Veitstanz hervorzurufen, in dem Herr Dühring so Ergötzliches leistet. Vor allem ist festzustellen, daß es sich hier keineswegs handelt um eine Verteidigung des Hegeischen Ausgangspunkts: daß der Geist, der Gedanke, die Idee das Ursprüngliche, und die wirkliche Welt nur der Abklatsch der Idee sei. Dies war schon von Feuerbach aufgegeben. Darüber sind wir alle einig, daß auf jedem wissenschaftlichen Gebiet in Natur wie Geschichte von den gegebenen Tatsachen auszugehn ist, in der Naturwissenschaft also von den verschiednen sachlichen und Bewegungsformen der Materie1; daß also auch in der theoretischen Naturwissenschaft die Zusammenhänge nicht in die Tatsachen hineinzukonstruieren, sondern aus ihnen zu entdecken und, wenn entdeckt, erfahrungsmäßig soweit dies möglich nachzuweisen sind. Ebensowenig kann davon die Rede sein, den dogmatischen Inhalt des Hegeischen Systems aufrecht zu halten, wie er von der Berliner Hegelei älterer und jüngerer Liniie gepredigt worden. Mit dem idealistischen Ausgangspunkt fällt auch das darauf konstruierte System, also namentlich auch die Hegeische Naturphilosophie. Es ist aber daran zu erinnern, daß die naturwissenschaftliche Polemik gegen Hegel, soweit sie ihn überhaupt richtig verstanden, sich nur gegen diese beiden Punkte gerichtet hat: den idealistischen Ausgangspunkt und die den Tatsachen gegenüber willkürliche Konstruktion des Systems. Nach Abzug von allem diesem bleibt noch die Hegeische Dialektik. Es 1 Hier folgt ein nicht zu Ende geschriebener Satz, der von Engels durchgestrichen wurde: „Wir sozialistischen Materialisten gehn darin sogar noch bedeutend weiter als die Naturforscher, indem wir auch das..."
ist das Verdienst von Marx, gegenüber dem „verdrießlichen, anmaßenden und mittelmäßigen Epigonentum, welches jetzt in Deutschland das große Wort führt"1 [65], zuerst wieder die vergessene dialektische Methode, ihren Zusammenhang mit der Hegeischen Dialektik wie ihren Unterschied von dieser hervorgehoben und gleichzeitig im „Kapital" diese Methode auf die Tatsachen einer empirischen Wissenschaft, der politischen Ökonomie, angewandt zu haben. Und mit dem Erfolg, daß selbst in Deutschland die neuere ökonomische Schule sich nur dadurch über die vulgäre Freihändlerei erhebt, daß sie Marx abschreibt (oft genug falsch) unter dem Vorwand, ihn zu kritisieren. Bei Hegel herrscht in der Dialektik dieselbe Umkehrung alles wirklichen Zusammenhangs wie in allen andern Verzweigungen seines Systems. Aber, wie Marx sagt: „Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen untergeht, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken."11651 In der Naturwissenschaft selbst aber begegnen uns oft genug Theorien, in denen das wirkliche Verhältnis auf den Kopf gestellt, das Spiegelbild für die Urform genommen ist, und die daher einer solchen Umstülpung bedürfen. Solche Theorien herrschen oft genug für längere Zeit. Wenn die Wärme während fast zwei Jahrhunderten als eine besondre geheimnisvolle Materie galt, statt als eine Bewegungsform der gewöhnlichen Materie, so war das ganz derselbe Fall, und die mechanische Wärmetheorie vollzog die Umstülpung. Nichtsdestoweniger hat die von der Wärmestofftheorie beherrschte Physik eine Reihe höchst wichtiger Gesetze der Wärme entdeckt und besonders durch [J.-B.-J.lFourierundSadi Carnottl87] die Bahn frei gemacht für die richtige Auffassung, die nun ihrerseits die von ihrer Vorgängerin entdeckten Gesetze umzustülpen, in ihre eigne Sprache zu übersetzen hatte.* Ebenso hat in der Chemie die phlogistische Theorietl73J durch hundertjährige experimentelle Arbeit erst das Material geliefert, mit Hülfe dessen. Lavoisier in dem von Priestley dargestellten Sauerstoff den reellen Gegenpol des phantastischen Phlogiston entdecken und damit die
* Camots Funktion C buchstäblich umgestülpt: — = die absolute Temperatur.
Ohne diese Umstülpung nichts zu machen aus ihr.
ganze phlogistische Theorie über den Haufen werfen konnte. Damit aber waren die Versuchsresultate der Phlogistik durchaus nicht beseitigt. Im Gegenteil. Sie blieben bestehn, nur ihre Formulierung wurde umgestülpt, aus der phlogistischen Sprache in die nunmehr gültige chemische Sprache übersetzt, und behielten soweit ihre Gültigkeit Wie die Wärmestofftheorie zur mechanischen Wärmelehre, wie die phlogistische Theorie zu der Lavoisiers, so verhält sich die Hegeische Dialektik zur rationellen Dialektik.
Die Naturforschung in der Geisterwelt1,881
Es ist ein alter Satz der in das Volksbewußtsein übergegangenen Dialektik, daß die Extreme sieb berühren. Wir werden uns demnach schwerlich irren, wenn wir die äußersten Grade von Phantasterei, Leichtgläubigkeit und Aberglauben suchen nicht etwa bei derjenigen naturwissenschaftlichen Richtung, die, wie die deutsche Naturphilosophie, die objektive Welt in den Rahmen ihres subjektiven Denkens einzuzwängen suchte, sondern vielmehr bei der entgegengesetzten Richtung, die, auf die bloße Erfahrung pochend, das Denken mit souveräner Verachtung behandelt und es wirklich in der Gedankenlosigkeit auch am weitesten gebracht hat. Diese Schule herrscht in England. Bereits ihr Vater, der vielgepriesene Franz Bacon, verlangt, daß seine neue empirische, induktive Methode betrieben werde, um vor allem dadurch zu erreichen: Verlängerung des Lebens, Verjüngung in einem gewissen Grade, Veränderung der Statur und der Züge, Verwandlung der Körper in andre, Erzeugung neuer Arten, Gewalt über die Luft und Erregung von Ungewittern; er beschwert sich, daß solche Untersuchungen verlassen worden seien, und gibt in seiner Naturhistorie förmliche Rezepte, Gold zu inachen und mancherlei Wunder zu verrichten11891. Ebenso beschäftigte sich Isaak Newton auf seine alten Tage viel mit der Auslegung der Offenbarung Johannis11901. Was Wunder also, wenn in den letzten Jahren der englische Empirismus in einigen seiner Vertreter - und es sind nicht die schlechtesten - der von Amerika importierten Geisterklopferei und Geisterseherei anscheinend rettungslos verfallen ist. Der erste hierher gehörige Naturforscher ist der hochverdiente Zoologe und Botaniker Alfred Rüssel Wallace, derselbe, der gleichzeitig mit Darwin die Theorie von der Artveränderung durch natürliche Zuchtwahl aufstellte. In seinem Schriftchen „On Miracles and modern Spintuahsm", London, Burns, 1875, erzählt er, daß seine ersten Erfahrungen in diesem
Zweig der Naturkunde von 1844 datieren, wo er den Vorlesungen des Herrn Spencer Hall über Mesmerismus11913 beiwohnte, und infolgedessen an seinen Schülern ähnliche Experimente machte.
Ich URAJ* flijfg ÄUßS«"sts von dem Gegenstand interessiert UM d verfolgte ihr. mit Leidenschaft" (ardour) [p. 119].
Er erzeugte nicht nur den magnetischen Schlaf nebst den Erscheinungen der Gliederstarre und lokalen Empfindungslosigkeit, sondern er bestätigte auch die Richtigkeit der Gallschen Schädelkarte11923, indem auf Berührung je eines beliebigen Gallschen Organs die betreffende Tätigkeit beim magnetisierten Patienten erregt und durch lebhafte Gesten vorschriftsmäßig betätigt wurde. Er stellte ferner fest, daß sein Patient, wenn er ihn nur dabei berührte, an allen Sinnesempfindungen des Operators teilnahm; er machte ihn betrunken mit einem Glase Wasser, sobald er ihm nur sagte, es sei Kognak. Einen der Jungen konnte er selbst im wachenden Zustand so dumm machen, daß er seinen eignen Namen nicht mehr wußte, was andre Schulmeister indes auch ohne Mesmerismus fertigbringen. Und so weiter. Nun trifft es sich, daß ich diesen Herrn Spencer Hall ebenfalls im Winter 1843/44 in Manchester sah. Er war ein ganz ordinärer Scharlatan, der unter der Protektion einiger Pfaffen im Lande herumzog und an einem jungen Mädchen magnetisch-phrenologische Schaustellungen vornahm, um dadurch die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Nichtigkeit des damals von den Öwenisten in allen großen Städten gepredigten Materialismus zu beweisen. Die Dame wurde in magnetischen Schlaf versetzt und gab, sobald der Operator ein beliebiges Galisches Organ ihres Schädels berührte, theatralisch-demonstrative Gesten und Posen zum besten, die die Betätigung des betreffenden Organs darstellten; beim Organ der Kinderliebe (philoprogenitiveness) z.B. hätschelte und küßte sie ein Phantasiebaby usw. Der brave Hall hatte dabei die Gallsche Schädelgeographie um eine neue Insel Barataria'1933 bereichert: Ganz zu oberst auf dem Scheitel hatte er nämlich ein Organ der Anbetung entdeckt, bei dessen Berührung sein hypnotisches Fräulein in die Knie sank, die Hände faltete und dem erstaunten versammelten Philisterium den in Anbetung verzückten Engel vorführte. Das war der Schluß und Glanzpunkt der Vorstellung. Die Existenz Gottes war bewiesen. Es ging mir und einem Bekannten ähnlich wie Herrn Wallace: Die Phänomene interessierten uns, und wir versuchten, wieweit wir sie reproduzieren konnten. Ein aufgeweckter Junge von zwölf Jahren bot sich als Sub
jekt. Gelindes Anstieren oder Bestreichen versetzte ihn ohne Schwierigkeit in den hypnotischen Zustand. Da wir aber etwas weniger gläubig und etwas weniger hitzig zu Werk gingen als Herr Wallace, so kamen wir auch zu ganz andern Resultaten. Abgesehn von der leicht zu erzeugenden Muskelstarre und Empfindungslosigkeit, fanden wir einen Zustand vollständiger Passivität des Willens, verbunden mit eigentümlich überspannter Erregbarkeit der Empfindung. Der Patient, durch irgendeine Anregung von außen aus seiner Lethargie gerissen, bezeugte noch weit mehr Lebhaftigkeit als in wachendem Zustande. Von geheimnisvollem Rapport zum Operator keine Spur; jeder andre konnte den Schlummernden ebenso leicht in Tätigkeit versetzen. Die Gallschen Schädelorgane wirken zu lassen, war für uns das wenigste; wir gingen noch viel weiter: Wir konnten sie nicht nur vertauschen und über den ganzen Körper verlegen, sondern wir fabrizierten noch eine beliebige Menge andrer Organe, des Singens, Pfeifens, Tutens, Tanzens, Boxens, Nähens, Schusterns, Tabakrauchens usw., und verlegten sie, wohin wir wollten. Wenn Wallace seinen Patienten mit Wasser betrunken machte, so entdeckten wir in der großen Zehe ein Organ der Betrunkenheit, das wir nur zu berühren brauchten, um die schönste betrunkene Komödie in Gang zu bringen. Aber wohlverstanden: Kein Organ zeigte einen Schatten von Wirkung, bis dem Patienten zu verstehn gegeben, was von ihm erwartet wurde; der Junge vervollkommnete sich bald durch die Praxis so, daß die geringste Andeutung hinreichte. Diese so erzeugten Organe blieben dann auch für spätere Einschläferungen ein für allemal in Geltung, solange sie nicht auf demselben Wege abgeändert wurden. Der Patient hatte eben ein doppeltes Gedächtnis, eins für den wachenden, ein zweites, ganz gesondertes, für den hypnotischen Zustand. Was die Passivität des Willens, seine absolute Unterwerfung unter den Willen eines Dritten angeht, so verliert sie allen Wunderschein, sobald wir nicht vergessen, daß der ganze Zustand mit der Unterwerfung des Willens des Patienten unter den des Operators begann, und ohne sie nicht hergestellt werden kann. Der zaubermächtigste Magnetiseur der Erde ist mit seinem Latein zu Ende, sobald sein Patient ihm ins Gesicht lacht. Während wir so, mit unsrer frivolen Skepsis, als Grundlage der magnetisch-phrenologischen Scharlatanerie eine Reihe von Erscheinungen fanden, die von denen des wachenden Zustandes meist nur dem Grade nach verschieden sind und keiner mystischen Interpretation bedürfen, führte die Leidenschaft (ardour) des Herrn Wallace ihn zu einer Reihe von Selbsttäuschungen, kraft deren er die Galische Schädelkarte in allen ihren Details bestätigte und einen geheimnisvollen Rapport zwischen Operator und
Patienten feststellte.* Überall in der bis zur Naivität aufrichtigen Erzählung des Herrn Wallace blickt durch, daß es ihm viel weniger darum zu tun war, den tatsächlichen Hintergrund der Scharlatanerie zu untersuchen, als die sämtlichen Erscheinungen um jeden Preis wieder hervorzubringen. Es braucht nur diese Gemütsstimmung, um in kurzer Frist den anfänglichen Forscher, vermittelst einfacher und leichter Selbsttäuschung, in den Adepten zu verwandeln. Herr Wallace endigte mit dem Glauben an die magne» tisch-phrenologischen Wunder und stand nun schon mit einem Fuß in der Geisterwelt. Den andern Fuß zog er nach im Jahr 1865. Zurückgekehrt von seinen zwölfjährigen Reisen in der heißen Zone, führten ihn Tischrückexperimente in die Gesellschaft verschiedner „Medien". Wie rasch seine Fortschritte waren, wie vollständig seine Beherrschung des Gegenstands ist, davon legt das obige Schriftchen Zeugnis ab. Er mutet uns nicht nur zu, alle angeblichen Wunder der Home, Gebrüder Davenport und andrer sich mehr oder weniger für Geld sehen lassenden und großenteils des öfteren als Betrüger entlarvten „Medien" für bare Münze zu nehmen, sondern auch eine ganze Reihe angeblich beglaubigter Geistergeschichten aus früherer Zeit. Die Pythonissen des griechischen Orakels, die Hexen des Mittelalters waren „Medien", und Jamblichos „De divinatione" beschreibt schon ganz genau
„die erstaunlichsten Erscheinungen des modernen Spiritualismus".
Wie leicht Herr Wallace es mit der wissenschaftlichen Feststellung und Beglaubigung dieser Wunder nimmt, davon nur ein Beispiel. Ls ist gewiß eine starke Zumutung, daß wir glauben sollen, die p.p. Geister ließen sich photographieren, und wir haben doch sicher das Recht, zu verlangen, daß solche Geisterphotographien, ehe wir sie für echt annehmen, auf die unzweifelhafteste Weise beglaubigt seien. Nun erzählt Herr Wallace S. 187, daß im März 1872 Frau Guppy, geborene Nichol, ein Hauptmedium, mit ihrem Mann und ihrem kleinen Jungen sich bei Herrn Hudson in Notting Hill photographieren ließ, und bei zwei verschiedenen Aufnahmen eine hohe weibliche Gestalt, in weißer Gaze künstlerisch (finely) drapiert, mit etwas orientalischen Zügen, in segnender Stellung hinter ihr erschien.
* Wie schon gesagt, die Patienten vervollkommnen sich durch die Übung. Es ist also wohl möglich, daß, wenn die Willensunterwerfung erst gewohnheitsmäßig geworden, das Verhältnis der Beteiligten intimer wird, einzelne Erscheinungen sich steigern und selbst im wachenden Zustande schwach reflektiert werden.
„Hier nun von zwei Dingen sind eins absolut gewiß.* Entweder war ein lebendes, intelligentes, aber unsichtbares Wesen gegenwärtig, oder Herr und Frau Guppy, der Photograph und irgendeine vierte Person haben einen schändlichen" (wicked) „Betrug geplant und ihn stets seitdem aufrechterhalten. Ich kenne aber Herrn und Frau Guppy sehr gut und habe die absolute Überzeugung, daß sie eines Betrugs dieser Art ebenso unfähig sind wie irgendein ernster Wahrheitsforscher auf dem Gebiet der Naturwissenschaft."2 [S. 188.] Also entweder Betrug oder Geisterphotographie. Einverstanden. Und bei dem Betrug war entweder der Geist schon vorher auf den Platten, oder es müssen vier Personen beteiligt gewesen sein, respektive drei, wenn wir den alten Herrn Guppy, der im Januar 1875 im Alter von 84 Jahren starb, als unzurechnungsfähig oder düpiert beiseite lassen (er brauchte nur hinter die spanische Wand des Hintergrunds geschickt zu werden). Daß ein Photograph sich ohne Schwierigkeit ein „Modell" für den Geist verschaffen konnte, darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Der Photograph Hudson aber ist bald darauf der gewohnheitsmäßigen Fälschung von Geisterphotographien öffentlich bezüchtigt worden, so zwar, daß Herr Wallace begütigend sagt:
„Eins ist klar, daß, falls Betrug stattgefunden hat, er sofort von Spiritualisten selbst entdeckt wurde." [p. 189.]
Auf den Photographen ist also auch nicht viel Verlaß. Bleibt Frau Guppy, und für sie spricht „die absolute Überzeugung" von Freund Wallace und sonst weiter nichts. - Weiter nichts? Keineswegs. Für die absolute Zuverlässigkeit der Frau Guppy spricht ihre Behauptung, eines Abends, gegen Anfang Juni 1871, aus ihrem Hause in Highbury Hill Park nach 69, Lambs Conduit Street - drei englische Meilen in grader Linie - bewußtlosen Zustandes durch die Luft getragen und in besagtem Hause Nr. 69 inmitten einer Geistersehersitzung auf dem Tisch deponiert worden zu sein. Die Türen des Zimmers waren verschlossen und obwohl Frau Guppy eine der beleibtesten Damen von London war, was gewiß etwas sagen will, so hat ihr plötzlicher Einbruch doch weder in den Türen, noch in der Decke das geringste Loch hinterlassen (erzählt im Londoner „Echo"[194J, 8. Juni
* Here, then, one of two things are absolutely certain. Die Geisterwelt steht über der Grammatik. Ein Spaßvogel ließ einst den Geist des Grammatikers Lindley Murray zitieren. Auf die Frage, ob er dasei, antwortete er: I are (amerikanisch statt I am1). Das Medium war aus Amerika.
1871). Und wer jetzt nicht an die Echtheit der Geisterphotographie glaubt, dem ist nicht zu helfen. Der zweite namhafte Adept unter den englischen Naturforschern ist Herr William Crookes, der Entdecker des chemischen Elements Thallium und des Radiometers (in Deutschland auch Lichtmühle genannt)[1951. Herr Crookes fing gegen 1871 an, die spiritistischen Manifestationen zu untersuchen, und wandte dabei eine ganze Reihe physikalischer und mechanischer Apparate an, Federwagen, elektrische Batterien usw. Ob er den Hauptapparat, einen skeptisch-kritischen Kopf, mitbrachte oder bis zum Ende in arbeitsfähigem Zustande erhielt, werden wir sehn. Jedenfalls war Herr Crookes in nicht gar langer Zeit ebenso vollständig eingefangen wie Herr Wallace.
„Seit einigen Jahren", erzählt dieser, „hat eine junge Dame, Fräulein Florence Cook, bemerkenswerte Mediumeigenschaft gezeigt; und in der letzten Zeit erreichte diese ihren Höhepunkt in der Produktion einer vollständigen weiblichen Gestalt, die geisterhaften Ursprungs zu sein behauptet und die barfuß und in v/eißer fließender Gewandung erschien, während das Medium, in dunkler Kleidung, gebunden und in tiefem Schlaf in einem verhängten Räume" (cabinet) „oder Nebenzimmer lag." [p. 181.] Dieser Geist, der sich den Namen Katey beilegte und der Fräulein Cook merkwürdig ähnlich sah, wurde eines Abends plötzlich von Herrn Volckman - dem jetzigen Gemahl der Frau Guppy - um die Taille gefaßt und festgehalten, um zu sehn, ob er nicht eben Fräulein Cook in andrer Ausgabe sei. Der Geist bewährte sich als ein durchaus handfestes Frauen« zimmer, wehrte sich herzhaft, die Zuschauer mischten sich ein, das (Jas wurde abgedreht, und als nach einigem Hin- und Herkämpfen die Ruhe wieder hergestellt und das Zimmer erleuchtet, war der Geist verschwunden, und Fräulein Cook lag gebunden und bewußtlos in ihrer Ecke. Herr Volckman soll aber bis heute behaupten, er habe Fräulein Cook gefaßt und niemand anderes. Um dies wissenschaftlich festzustellen, führte ein berühmter Elektriker, Herr Varley, bei einem neuen Versuch den Strom einer Batterie so durch das Medium, Frl. Cook, daß diese den Geist nicht hätte vorstellen können, ohne den Strom zu unterbrechen. Dennoch erschien der Geist. Es war also in der Tat ein von dem Frl. Cook verschiedenes Wesen. Dies ferner zu konstatieren, war die Aufgabe des Herrn Crookes. Sein erster Schritt war, sich das Vertrauen der geisterhaften Dame zu erwerben.
Dies Vertrauen - so sagt er selbst im „Spiritualist", 5.Juni 1874 - „wuchs allmählich so, daß sie sich weigerte, eine Sitzung zu geben, es sei denn, daß ich die Arrangements leitete. Sie sagte, sie wünschte mich stets in ihrer Nähe und in der Nähe des Kabinetts; ich fand, daß - nachdem dies Vertrauen hergestellt und sie sicher war, daß ich
kein ihr gemachtes Versprechen brechen würde - die Erscheinungen bedeutend an Stärke zunahmen, und Beweismittel freiwillig gestattet wurden, die auf anderm Wege unerreichbar gewesen wären. Sie konsultierte mich häufig in bezug auf bei den Sitzungen anwesende Personen und über die ihnen anzuweisenden Plätze, denn sie war neuerdings sehr ängstlich" (nervous) „geworden infolge gewisser übelberatener Andeutungen, man solle neben andern, mehr wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden doch auch die Gewalt anwenden.'ll[196]
Das Geisterfräulein belohnte dies ebenso liebenswürdige wie wissenschaftliche Vertrauen in vollstem Maß. Sie erschien - was uns jetzt nicht mehr wundern kann - sogar im Hause des Herrn Crookes, spielte mit seinen Kindern und erzählte ihnen „Anekdoten aus ihren Abenteuern in Indien", gab Herrn Crookes auch „einige der bittern Erfahrungen ihres vergangnen Lebens" zum besten, ließ sich von ihm in den Arm nehmen, damit er sich von ihrer handfesten Materialität überzeuge, ließ ihn die Zahl ihrer Pulsschläge und Atemzüge in der Minute feststellen und ließ sich zuletzt auch neben Herrn Crookes photographieren.
„Diese Gestalt", sagt Herr Wallace, „nachdem man sie gesehn, betastet, photographiert und sich mit ihr unterhalten hatte, verschwand absolut aus einem kleinen Zimmer, aus dem kein andrer Ausgang war als durch ein anstoßendes, mit Zuschauern gefülltes Zimmer" [p. 183]
was keine so große Kunst ist, vorausgesetzt, die Zuschauer waren höflich genug, dem Herrn Crookes, in dessen Hause dies geschah, nicht weniger Vertrauen zu beweisen, als dieser dem Geist bewies. Leider sind diese „vollständig beglaubigten Erscheinungen" selbst für Spiritualisten nicht ohne weiteres glaublich. Wir sahen oben, wie der sehr spiritualistische Herr Volckman sich einen sehr materiellen Zugriff gestattete. Und nun hat ein Geistlicher und Komiteemitglied der „Britischen National-Assoziation der Spiritualisten" ebenfalls einer Sitzung des Fräulein Cook beigewohnt und ohne Schwierigkeit festgestellt, daß das Zimmer, durch dessen Tür der Geist kam und verschwand, durch eine zweite Tür mit der Außenwelt kommunizierte. Das Benehmen des ebenfalls gegenwärtigen Herrn Crookes gab „meinem Glauben, daß etwas an diesen Manifestationen sein könne, den schließlichen Todesstoß" („Mystic London", by the Rev. C. Maurice Davies, London, Tinsley Brothers)[197]. Und zum Überfluß kam es in Amerika an den Tag, wie man „Kateys" „materialisiert". Ein Ehepaar Holmes gab in Philadelphia Vorstellungen, bei denen ebenfalls
eine „Katey" erschien, und von den Gläubigen reichlich beschenkt wurde. Ein Skeptiker jedoch ruhte nicht, bis er besagter Katey, die übrigens schon einmal wegen Mangel [an} Zahlung Strike gemacht hatte, auf die Spur kam: Er entdeckte sie in einem boarding house (Privathotel) als eine junge Dame von unbestrittenem Fleisch und Bein und im Besitz aller der dem Geist gemachten Geschenke. Indes auch der Kontinent sollte seine wissenschaftlichen Geisterseher erleben. Eine Petersburger wissenschaftliche Körperschaft - ich weiß nicht genau, ob die Universität oder gar die Akademie - delegierte die Herren Staatsrat Aksakow und den Chemiker Butlerow, die spiritistischen Phänomene zu ergründen, wobei indes nicht viel herausgekommen zu sein scheint[198]. Dagegen - wenn anders den lauten Verkündigungen der Spiritisten zu trauen ist - hat jetzt auch Deutschland seinen Mann gestellt in der Person des Herrn Professor Zöllner in Leipzig. Bekanntlich hat Herr Zöllner seit Jahren stark in der „vierten Dimension" des Raumes gearbeitet und entdeckt, daß viele Dinge, die in einem Raum von drei Dimensionen unmöglich sind, sich in einem Raum von vier Dimensionen ganz von selbst verstehn. So kann man in diesem letzteren Raum eine geschlossene Metallkugel umkehren wie einen Handschuh, ohne ein Loch darin zu machen, desgleichen einen Knoten schlingen in einen beiderseits endlosen oder an beiden Enden befestigten Faden, auch zwei getrennte geschlossene Ringe ineinander verschlingen, ohne einen von ihnen zu öffnen, und was dergleichen Kunststücke mehr sind. Nach neueren triumphierenden Berichten aus der Geisterwelt hätte sich nun Herr Professor Zöllner an ein oder mehrere Medien gewandt, um mit ihrer Hülfe über die Lokalität der vierten Dimension das Nähere festzustellen. Der Erfolg sei überraschend gewesen. Die Stuhllehne, auf die er den Arm gestützt, während die Hand den Tisch nie verließ, sei nach der Sitzung mit dem Arm verschlungen gewesen, ein an beiden Enden auf den Tisch angesiegelter Faden habe vier Knoten bekommen usw. Kurz, alle Wunder der vierten Dimension seien von den Geistern spielend geleistet worden. Wohlgemerkt: relata refero1, ich stehe nicht ein für die Richtigkeit der Geisterbulletins, und sollten sie Unrichtiges enthalten, so dürfte Herr Zöllner mir Dank wissen, daß ich ihm Gelegenheit gebe, sie zu berichtigen. Sollten sie aber die Erfahrungen des Herrn Zöllner unverfälscht wiedergeben, so bezeichnen sie offenbar eine neue Ära in der Geisterwissenschaft wie in der Mathematik.
1 Ich erzähle das Erzählte, d. h. ich kann nicht für die Richtigkeit der Mitteilung bürgen
Die Geister beweisen das Dasein der vierten Dimension, wie die vierte Dimension einsteht für das Dasein der Geister. Und wenn das einmal feststeht, so eröffnet sich der Wissenschaft ein ganz neues, unermeßliches Feld. Alle bisherige Mathematik und Naturwissenschaft wird nur eine Vorschule für die Mathematik der vierten und noch höheren Dimensionen und für die Mechanik, Physik, Chemie und Physiologie der sich in diesen höheren Dimensionen aufhaltenden Geister. Hat doch Herr Crookes wissenschaftlich festgestellt, wieviel Gewichtsverlust Tische und andre Möbel bei ihrem Übergang - wir dürfen jetzt wohl sagen - in die vierte Dimension erleiden, und erklärt Herr Wallace es für ausgemacht, daß dort das Feuer den menschlichen Körper nicht verletzt. Und nun gar die Physiologie dieser Geisterkörper! Sie atmen, sie haben einen Puls, also Lungen, Herz und Zirkulationsapparat, und sind demzufolge auch in betreff der übrigen Leibesorgane sicher mindestens ebenso vortrefflich beschlagen wie unsereins. Denn zum Atmen gehören Kohlenwasserstoffe, die in der Lunge verbrannt werden, und diese können nur von außen zugeführt werden: also Magen, Darm und Zubehör - und haben wi. erst soviel konstatiert, so folgt das übrige ohne Schwierigkeit. Die Existenz solcher Organe aber schließt die Möglichkeit ihrer Erkrankung ein, und somit kann es Herrn Virchow noch passieren, daß er eine Zellularpathologie der Geisterwelt verfassen muß. Und da die meisten dieser Geister wunderschöne junge Damen sind, die sich durch nichts, aber auch gar nichts von irdischen Frauenzimmern unterscheiden als durch ihre überirdische Schönheit, wie könnte es da lange dauern, bis sie einmal ankommen „bei Männern, welche Liebe fühlen"[199]; und wenn da das von Herrn Crookes am Pulsschlag konstatierte „weiblich Herze nicht fehlt", so eröffnet sich der natürlichen Zuchtwahl ebenfalls eine vierte Dimension, in der sie nicht mehr zu befürchten braucht, mit der bösen Sozialdemokratie verwechselt zu werdenl200J.
Genug. Es zeigt sich hier handgreiflich, welches der sicherste Weg von der Naturwissenschaft zum Mystizismus ist. Nicht die überwuchernde Theorie der Naturphilosophie, sondern die allerplatteste, alle Theorie verachtende, gegen alles Denken mißtrauische Empirie. Es ist nicht die aprioristische Notwendigkeit, die die Existenz der Geister beweist, sondern die erfahrungsmäßige Beobachtung der Herren Wallace, Crookes & Co. Wenn wir den spektralanalytischen Beobachtungen von Crookes glauben, die zur Entdeckung des Metalls Thallium führten, oder den reichen zoologischen Entdeckungen von Wallace im Malaiischen Archipel, so verlangt man von
uns denselben Glauben für die spiritistischen Erfahrungen und Entdeckungen dieser beiden Forscher. Und wenn wir meinen, daß hier doch ein kleiner Unterschied stattfinde, nämlich der, daß wir die einen verifizieren können und die andern nicht, so entgegnen uns die Geisterseher, daß dies nicht der Fall, und daß sie bereit sind, uns Gelegenheit zu geben, auch die Geistererscheinungen zu verifizieren. Man verachtet in der Tat die Dialektik nicht ungestraft. Man'mag noch so viel Geringschätzung hegen für alles theoretische Denken, so kann man doch nicht zwei Naturtatsachen in Zusammenhang bringen oder ihren bestehenden Zusammenhang einsehn ohne theoretisches Denken. Es fragt sich dabei nur, ob man dabei richtig denkt oder nicht, und die Geringschätzung der Theorie ist selbstredend der sicherste Weg, naturalistisch und damit falsch zu denken. Falsches Denken, zur vollen Konsequenz durchgeführt, kommt aber nach einem altbekannten dialektischen Gesetz regelmäßig an beim Gegenteil seines Ausgangspunkts. Und so straft sich die empirische Verachtung der Dialektik dadurch, daß sie einzelne der nüchternsten Empiriker in den ödesten aller Aberglauben, in den modernen Spiritismus führt. Ebenso geht es mit der Mathematik. Die gewöhnlichen metaphysischen Mathematiker pochen mit gewaltigem Stolz auf die absolute Unumstößlichkeit der Resultate ihrer Wissenschaft. Zu diesen Resultaten gehören aber auch die imaginären Größen, denen damit auch eine gewisse Realität zukommt. Hat man sich aber erst daran gewöhnt, der ]/— 1 oder der vierten Dimension irgendwelche Realität außerhalb unsres Kopfes zuzuschreiben, so kommt es nicht darauf an, ob man noch einen Schritt weiter geht und auch die Geisterwelt der Medien akzeptiert. Es ist, wie Ketteier von Döllinger sagte:
„Der Mann hat in seinem Leben soviel Unsinn verteidigt, da konnte er wahrhaftig auch noch die Unfehlbarkeit in den Kauf nehmen!" t201]
In der Tat ist die bloße Empirie unfähig, mit den Spiritisten fertigzuwerden. Erstens werden die „höheren" Phänomene immer erst dann gezeigt, wenn der betreffende „Forscher" schon soweit eingefangen ist, daß er nur noch sieht, was er sehen soll oder will - wie Crookes das mit so unnachahmlicher Naivität selbst beschreibt. Zweitens aber macht es den Spiritisten nichts aus, wenn Hunderte angeblicher Tatsachen als Prellerei und Dutzende angeblicher Medien als ordinäre Taschenspieler enthüllt werden. Solange nicht jedes einzelne angebliche Wunder wegerklärt ist, bleibt ihnen Terrain genug übrig, wie dies ja auch Wallace bei Gelegenheit der gefälschten
Geisterphotographien deutlich sagt. Die Existenz der Fälschungen beweist die Echtheit der echten. Und so sieht sich denn die Empirie gezwungen, die Zudringlichkeit der Geisterseher nicht mit empirischen Experimenten, sondern mit theoretischen Erwägungen abzufertigen und mit Huxley zu sagen:
„Das einzige Gute, das meiner Ansicht nach bei dem Nachweis der Wahrheit des Spiritualismus herauskommen könnte, wäre dies, ein neues Argument gegen den Selbstmord zu liefern. Lieber als Straßenkehrer leben, denn als Verstorbner Blech schwätzen durch den Mund eines Mediums, das sich für eine Guinea per Sitzung vermietet!" t202J
Dialektik12031
(Allgemeine Natur der Dialektik als Wissenschaft von den Zusammenhängenim Gegräsatzlsür"Mdtäphysik zu entwickeln.)
Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei:
das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation.
Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denk." gesetze entwickelt: das erste im ersten Teil der „Logik", in der Lehre vom Sein; das zweite füllt den ganzen zweiten und weitaus bedeutendsten Teil seiner „Logik" aus, die Lehre vom Wesen; das dritte endlich figuriert als Grundgesetz für den Aufbau des ganzen Systems. Der Fehler liegt darin, daß diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist. Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar.
Wer übrigens seinen Hegel nur einigermaßen kennt, der wird auch wissen, daß Hegel an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht. Wir haben hier kein Handbuch der Dialektik zu verfassen, sondern nur nachzuweisen, daß die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind. Wir können daher auf den innern Zusammenhang jener Gesetze unter sich nicht eingehn.
I. Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt. Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie). Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden. Es ist also unmöglich, ohne Zufuhr resp. Hin wegnähme von Materie oder von Bewegung, d.h. ohne quantitative Änderung des betreffenden Körpers, seine Qualität zu ändern. In dieser Form erscheint also der mysteriöse Hegeische Satz nicht nur ganz rationell, sondern selbst ziemlich einleuchtend. Es ist wohl kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß auch die verschiednen allotropischen und Aggregatzustände der Körper, weil auf verschiedner Molekulargruppierung, auf größeren oder geringeren dem Körper mitgeteilten Mengen von Bewegung beruhen. Aber der Formwechsel der Bewegung oder sog. Energie? Wenn wir Wärme in mechanische Bewegung verändern, oder umgekehrt, da wird doch die Qualität verändert und die Quantität bleibt dieselbe? Ganz richtig. Aber Formwechsel der Bewegung ist wie Heines Laster: Tugendhaft kann jeder für sich sein, zum Laster gehören immer zwei[204]. Formwechsel der Bewegung ist immer ein Vorgang, der zwischen mindestens zwei Körpern erfolgt, von denen der eine ein bestimmtes Quantum Bewegung dieser Qualität (z. B. Wärme) verliert, der andre ein entsprechendes Quantum Bewegung jener Qualität (mechanische Bewegung, Elektrizität, chemische Zersetzung) empfängt. Quantität und Qualität entsprechen sich hier also beiderseits und gegenseitig. Bisher ist es noch nicht gelungen, innerhalb eines einzelnen isolierten Körpers Bewegung aus einer Form in eine andre zu verwandeln.
Es ist hier zunächst nur die Rede von leblosen Körpern; für lebende gilt dasselbe Gesetz, geht aber unter sehr verwickelten Bedingungen vor sich, und die quantitative Messung ist uns heute oft noch unmöglich. Wenn wir uns einen beliebigen leblosen Körper in immer kleinere Teile zerteilt vorstellen, so tritt zunächst keine qualitative Änderung ein. Aber" das hat seine Grenze: Gelingt es uns, wie bei der Verdunstung, die einzelnen Moleküle frei darzustellen, so können wir zwar diese meist auch noch weiter zerteilen, jedoch nur unter vollständiger Änderung der Qualität. Das Molekül zerfällt in seine einzelnen Atome, und diese haben ganz andre Eigenschaften als jene. Bei Molekülen, die aus verschiednen chemischen Elementen zusammengesetzt waren, treten an die Stelle des zusammengesetzten Moleküls Atome oder Moleküle dieser Elemente selbst; bei Elementarmolekülen erscheinen die freien Atome, die ganz verschiedne qualitative Wirkungen ausüben: Die freien Atome des naszenten Sauerstoffs erwirken spielend, was die im Molekül gebundnen des atmosphärischen nie fertigbringen. Aber auch schon das Molekül ist von der Körpermasse, der es angehört, qualitativ verschieden. Es kann Bewegungen vollführen unabhängig von ihr, und während sie scheinbar in Ruhe bleibt, z.B. Wärmeschwingungen; es kann vermittelst Änderung der Lage und des Zusammenhangs mit den Nachbarmolekülen den Körper in einen andern allotropischen oder Aggregatzustand versetzen usw. Wir sehn also, daß die rein quantitative Operation der Teilung eine Grenze hat, an der sie in einen qualitativen Unterschied umschlä gt: Die Masse besteht aus lauter Molekülen, ist aber etwas wesentlich vom Molekül Verschiednes, wie dieses wieder vom Atom. Es ist dieser Unterschied, auf dem die Trennung der Mechanik, als Wissenschaft von den himmlischen und irdischen Massen, von der Physik, als der Mechanik der Moleküle, und der Chemie, als der Physik der Atome, beruht. In der Mechanik kommen keine Qualitäten vor, höchstens Zustände wie Gleichgewicht, Bewegung, potentielle Energie, die alle auf meßbarer Übertragung von Bewegung beruhen und selbst quantitativ ausdrückbar sind. Soweit also hier qualitative Änderung stattfindet, soweit ist sie bedingt durch quantitative entsprechende Änderung. In der Physik werden die Körper chemisch unveränderlich oder indifferent behandelt; wir haben es mit den Veränderungen ihrer Molekularzustände zu tun und mit dem Formwechsel der Bewegung, der in allen Fällen, wenigstens auf einer der beiden Seiten, die Moleküle ins Spiel bringt. Hier ist jede Veränderung ein Umschlagen von Quantität in Qualität, eine
Folge quantitativer Veränderung der dem Körper innewohnenden oder mitgeteilten Bewegungsmenge irgendwelcher Form. „So ist z.B. der Temperaturgrad des Wassers zunächst gleichgültig in Beziehung auf dessen tropfbare Flüssigkeit; es tritt dann aber beim Vermehren oder Vermindern der Temperatur des flüssigen Wassers ein Punkt ein, wo dieser Kohäsionszustand sich ändert und das Weisser einerseits in Dampf und andrerseits in Eis verwandelt wird." (Hegel „Enzykl.", Gesamtausg., Bd.VI, S.217.)[205J So gehört eine bestimmte Minimalstromstärke dazu, den Platindraht des elektrischen Glühlichts zum Glühen zu bringen; so hat jedes Metall seine Glüh- und Schmelzwärme, so jede Flüssigkeit ihren bei bekanntem Druck feststehenden Gefrier- und Siedepunkt - soweit unsre Mittel uns erlauben, die betreffende Temperatur hervorzubringen; so endlich auch jedes Gas seinen kritischen Punkt, wo Druck und Abkühlung es tropfbar flüssig machen. Mit einem Wort: Die sogenannten Konstanten der Physik sind großenteils nichts andres als Bezeichnungen von Knotenpunkten, wo quantitative Veränderung1 Zufuhr oder Entziehung von Bewegung qualitative Änderung im Zustand des betreffenden Körpers hervorruft, wo also Quantität in Qualität umschlägt. Das Gebiet jedoch, auf dem das von Hegel entdeckte Naturgesetz seine gewaltigsten Triumphe feiert, ist das der Chemie. Man kann die Chemie bezeichnen als die Wissenschaft von den qualitativen Veränderungen der Körper infolge veränderter quantitativer Zusammensetzung. Das wußte schon Hegel selbst („Logik", Gesamtausg., III, S.433). Gleich der Sauerstoff: Vereinigen sich drei Atome zu einem Molekül, statt der gewöhnlichen zwei, so haben wir Ozon, einen Körper, der durch Geruch und Wirkung von gewöhnlichem Sauerstoff sehr bestimmt verschieden. Und gar die verschiednen Verhältnisse, in denen Sauerstoff sich mit Stickstoff oder Schwefel verbindet, und deren jedes einen von allen andern qualitativ verschiednen Körper bildet! Wie verschieden ist Lachgas (StickstofFmonoxyd N20) von Salpetersäureanhydrid (Stickstoffpentoxyd N205)! Das erste ein Gas, das zweite bei gewöhnlicher Temperatur ein fester kristallinischer Körper. Und doch ist der ganze Unterschied der Zusammensetzung der, daß das zweite fünfmal soviel Sauerstoff enthält als das erste, und zwischen beiden liegen noch drei andre Oxyde des Stickstoffs (NO, N203, N02), die alle von jenen beiden und unter sich qualitativ verschieden sind. Noch schlagender tritt dies hervor an den homologen Reihen der Kohlenstoffverbindungen, namentlich der einfacheren Kohlenwasserstoffe.
1 Das Wort »Veränderung" ist im Manuskript gestrichen
Von den normalen Paraffinen ist das niedrigste Methan, CH4; hier sind die vier Verbindungseinheiten des Kohlenstoffatoms mit vier Atomen Wasserstoff gesättigt. Das zweite, Äthan C2H6, hat 2 Atome Kohlenstoff unter sich verbunden und die freien 6 Verbindungseinheiten mit 6 Atomen Wasserstoff gesättigt. So geht es fort C3H8, C4H10, usw. nach der algebraischen Formel CnH2n+2, so daß durch Zusatz von je CH2 jedesmal ein von dem früheren qualitativ verschiedner Körper gebildet wird. Die drei niedrigsten Glieder der Reihe sind Gase, das höchste bekannte, das Hekdekan C16H34, ist ein fester Körper mit dem Siedepunkt 278 Grad C. Ganz ebenso verhält sich die Reihe der von den Paraffinen (theoretisch) abgeleiteten primären Alkohole von der Formel CnH2n+20 und der einbasischen fetten Säuren (Formel CnH2n02). Welchen qualitativen Unterschied der quantitative Zusatz von C3H6 hervorbringen kann, lehrt die Erfahrung, wenn wir Äthylalkohol C2H60 in irgendeiner genießbaren Form ohne Beimischung andrer Alkohole verzehren, und wenn wir ein andres Mal denselben Äthylalkohol zu uns nehmen, aber mit einem geringen Zusatz von Amylalkohol C5H120, der den Hauptbestandteil des infamen Fuselöls bildet. Unser Kopf wird das am nächsten Morgen sicher gewahr, und zu seinem Schaden; so daß man sogar sagen könnte, der Rausch und nachher der Katzenjammer sei ebenfalls in Qualität umgeschlagene Quantität, einerseits von Äthylalkohol, andrerseits von diesem zugesetzten C3H6. Bei diesen Reihen tritt uns das Hegeische Gesetz indes noch in einer andern Form entgegen. Die unteren Glieder lassen nur eine einzige gegenseitige Lacerunc der Atome zu. Erreic flkpf di** Anzahl de** zu einem Molekül verbundenen Atome eine für jede Reihe bestimmte Größe, so kann die Gruppierung der Atome im Molekül in mehrfacher Weise stattfinden; es können also zwei oder mehrere isomere Körper auftreten, die gleichviel Atome C, H, 0 im Molekül haben, aber dennoch qualitativ verschieden sind. Wir können sogar berechnen, wieviel solcher Isomerien für jedes Glied der Reihe möglich sind. So in der Paraffinreihe für C4H10 zwei, für C5Hll3 drei; bei den höheren Gliedern steigt die Zahl der möglichen Isomerien sehr rasch. Es ist also wieder die quantitative Anzahl der Atome im Molekül, die die Möglichkeit und, soweit sie nachgewiesen, auch die wirkliche Existenz solcher qualitativ verschiednen isomeren Körper bedingt. Noch mehr. Aus der Analogie der uns in jeder dieser Reihen bekannten Körper können wir auf die physikalischen Eigenschaften der noch unbekannten Glieder der Reihe Schlüsse ziehn und wenigstens für die den bekannten zunächst folgenden Glieder diese Eigenschaften, Siedepunkt usw., mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen.
Endlich aber gilt das Hegeische Gesetz nicht nur für die zusammengesetzten Körper, sondern auch für die chemischen Elemente selbst. Wir wissen jetzt,
„daß die chemischen Eigenschaften der Elemente eine periodische Funktion der Atomgewichte sind" (Roscoe-Schorlemmer, „Ausführliches Lehrbuch der Chemie", II. Bd., S.823),
daß also ihre Qualität bedingt ist durch die Quantität ihres Atomgewichts. Und die Probe hierauf ist glänzend gemacht worden. Mendelejew wies nach, daß in den nach den Atomgewichten angeordneten Reihen verwandter Elemente verschiedene Lücken sich vorfinden, die darauf hindeuten, daß hier noch neue Elemente zu entdecken sind. Eins dieser unbekannten Elemente, das er Ekaaluminium nannte, weil es in der mit Aluminium anfangenden Reihe auf dieses folgt, beschrieb er nach seinen allgemeinen chemischen Eigenschaften im voraus, und sagte sein spezifisches und Atomgewicht wie sein Atomvolum annähernd vorher. Wenige Jahre später entdeckte Lecoq de Bo'isbaudran dies Element wirklich, und die Vorausbestimmungen Mendelejews trafen bis auf ganz geringe Abweichungen zu. Das Ekaaluminium war realisiert im Gallium (ebendaselbst ,S.828)ts06J. Vermittelst der - unbewußten - Anwendung des Hegeischen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität in Qualität war Mendelejew eine wissenschaftliche Tat gelungen, die sich der Leverriers in der Berechnung der Bahn des noch unbekannten Planeten Neptun kühn an die Seite stellen darf[38J. In der Biologie wie in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft bewährt sich dasselbe Gesetz auf jedem Schritt, doch wollen wir hier bei Beispielen aus den exakten Wissenschaften bleiben, da hier die Quantitäten genau meßbar und verfolgbar sind. Wahrscheinlich werden dieselben Herren, die bisher das Umschlagen von Quantität in Qualität als Mystizismus und unverständlichen Transzendentalismus verschrien haben, jetzt erklären, es sei ja etwas ganz Selbstverständliches, Triviales und Plattes, das sie seit langer Zeit angewandt hätten, und somit werde ihnen gar nichts Neues gelehrt. Ein allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts- und Denkentwicklung zum erstenmal in seiner allgemein geltenden Form ausgesprochen zu haben, das bleibt aber immer eine weltgeschichtliche Tat. Und wenn die Herren seit Jahren Quantität und Qualität haben ineinander umschlagen lassen, ohne zu wissen, was sie taten, so werden sie sich trösten müssen mit Molieres Monsieur Jourdain, der auch sein Leben lang Prosa gesprochen hatte, ohne das geringste davon zu ahnenf701.
Grundformen der Bewegung12071
Bewegung in dem allgemeinsten Sinn, in dem sie als Daseinsweise, als inhärentes Attribut der Materie gefaßt wird, begreift alle im Universum vorgehenden Veränderungen und Prozesse in sich, von der bloßen Ortsveränderung bis zum Denken. Die Untersuchung über die Natur der Bewegung mußte selbstredend von den niedrigsten, einfachsten Formen dieser Bewegung ausgehn und diese begreifen lernen, ehe sie in der Erklärung der höheren und verwickelten Formen etwas leisten konnte. So sehen wir, wie in der geschichtlichen Entwicklung der Naturwissenschaften die Theorie der einfachen Ortsveränderung, die Mechanik der Weltkörper wie der irdischen Massen, zuerst ausgebildet wird; ihr folgt die Theorie der Molekularbewegung, die Physik, und gleich hinter, fast neben ihr und stellenweise ihr voraus, die ^Wissenschaft von der Bewegung der Atome, die Chemie. Erst nachdem diese verschiednen Zweige der Erkenntnis der die leblose Natur beherrschenden Bewegungsformen einen hohen Grad der Ausbildung erreicht, konnte die Erklärung der den Lebensprozeß darstellenden Bewegungsvorgänge mit Erfolg angefaßt werden. Sie schritt fort im Verhältnis, wie Mechanik, Physik, Chemie fortschritten. Während also die Mechanik schon seit längerer Zeit imstande war, im tierischen Körper die Wirkungen der durch Muskelzusammenziehung in Bewegung gesetzten Knochenhebel genügend auf ihre auch in der unbelebten Natur geltenden Gesetze zurückzuführen, steht die physikalisch-chemische Begründung der übrigen Lebenserscheinungen noch so ziemlich am Anfang ihrer Laufbahn. Wenn wir hier also die Natur der Bewegung untersuchen, so sind wir gezwungen, die organischen Bewegungsformen aus dem Spiel zu lassen. Wir beschränken uns daher notgedrungen - dem Stand der Wissenschaft gemäß auf die Bewegungsformen der unbelebten Natur. Alle Bewegung ist mit irgendwelcher Ortsveränderung verbunden, sei es nun Ortsveränderung von Weltkörpern, von irdischen Massen, von Mole
külen, Atomen oder Ätherteilchen. Je höher die Bewegungsform, desto geringer wird diese Orts Veränderung. Sie erschöpft die Natur der betreffenden Bewegung in keiner Weise, aber sie ist untrennbar von ihr. Sie ist also vor allen Dingen zu untersuchen. Die ganze uns zugängliche Natur bildet ein System, einen Gesamtzusammenhang von Körpern, und zwar verstehn wir hier unter Körpern alle materiellen Existenzen vom Gestirn bis zum Atom, ja bis zum Ätherteilchen, soweit dessen Existenz zugegeben. Darin, daß diese Körper in einem Zusammenhang stehn, liegt schon einbegriffen, daß sie aufeinander einwirken, und diese ihre gegenseitige Einwirkung ist eben die Bewegung. Es zeigt sich hier schon, daß Materie undenkbar ist ohne Bewegung. Und wenn uns weiter die Materie gegenübersteht als etwas Gegebnes, ebensosehr Unerschaffbares wie Unzerstörbares, so folgt daraus, daß auch die Bewegung so unerschaffbar wie unzerstörbar ist. Diese Folgerung wurde unabweisbar, sobald einmal das Universum als ein System, als ein Zusammenhang von Körpern erkannt war. Und da diese Erkenntnis von der Philosophie gewonnen wurde, lange bevor sie in der Naturwissenschaft wirksame Geltung gewann, so ist es erklärlich, warum die Philosophie volle 200 Jahre vor der Naturwissenschaft den Schluß auf die Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit der Bewegung zog. Selbst die Form, in der sie es tat, ist der heutigen naturwissenschaftlichen Formulierung noch immer überlegen. Der Descartessche Satz, daß die Menge der im Universum vorhandnen Bewegung stets dieselbe sei[371, fehlt nur formell in der Anwendung eines endlichen Ausdrucks auf eine unendliche Größe. Dagegen gelten in der Naturwissenschaft jetzt zwei Ausdrücke desselben Gesetzes: der Helmholtzsche von der Erhaltung der Kraft und der neuere, präzisere von der Erhaltung der Energie, wovon der eine, wie wir sehn werden, das grade Gegenteil vom andern besagt und wovon zudem jeder nur die eine Seite des Verhältnisses ausspricht. Wenn zwei Körper aufeinander wirken, so daß eine Ortsveränderung eines derselben oder beider die Folge ist, so kann diese Ortsveränderung nur bestehn in einer Annäherung oder einer Entfernung. Entweder ziehen sie einander an, oder sie stoßen einander ab. Oder, wie sich die Mechanik ausdrückt, die zwischen ihnen wirksamen Kräfte sind zentral, wirken in der Richtung der Verbindungslinie ihrer Mittelpunkte. Daß dies geschieht, stets und ausnahmslos im Universum geschieht, so kompliziert auch manche Bewegungen erscheinen, gilt uns heutzutage als selbstverständlich. Es würde uns widersinnig vorkommen anzunehmen, daß zwei aufeinander wirkende Körper, deren gegenseitiger Einwirkung kein Hindernis oder
keine Einwirkung dritter Körper entgegensteht, diese Einwirkung anders ausüben sollten als auf dem kürzesten und direktesten Wege, in der Richtung der ihre Mittelpunkte verbindenden Geraden1. Bekanntlich hat aber Helmholtz („Erhaltungder Kraft", Berlin 1847, Abschn. I und II) auch den mathematischen Beweis geliefert, daß zentrale Wirkung und Unveränderlichkeit der Bewegungsmenge1209] sich gegenseitig bedingen, und daß die Annahme andrer als zentraler Wirkungen zu Resultaten führt, bei denen Bewegung entweder erschaffen oder vernichtet werden könnte. Die Grundform aller Bewegung ist hiernach Annäherung und Entfernung, Zusammenziehung und Ausdehnung - kurz, der alte polare Gegensatz von Attraktion und Repulsion. Ausdrücklich zu merken; Attraktion und Repulsion werden hier nicht gefaßt als sogenannte „Kräfte", sondern als einfache Formen der Bewegung. Wie denn schon Kant die Materie aufgefaßt hat als die Einheit von Attraktion und Repulsion. Was es mit den „Kräften" auf sich hat, wird sich seinerzeit zeigen. In dem Wechselspiel von Attraktion und Repulsion besteht alle Bewegung. Sie ist aber nur möglich, wenn jede einzelne Attraktion kompensiert wird durch eine entsprechende Repulsion an andrer Stelle. Sonst müßte die eine Seite mit der Zeit das Übergewicht erhalten über die andre, und damit hörte die Bewegung schließlich auf. Also müssen sich alle Attraktionen und alle Repulsionen im Universum gegenseitig aufwiegen. Das Gesetz von der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit der Bewegung erhält hiermit den Ausdruck, daß jede Attraktionsbewegung im Universum durch eine gleichwertige Repulsionsbewegung ergänzt werden muß, und umgekehrt; oder, wie die ältere Philosophie - lange vor der naturwissenschaftlichen Aufstellung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft, resp. Energiedies aussprach: daß die Summe aller Attraktionen im Weltall gleich ist der Summe aller Repulsionen. Hier scheinen indes zwei Möglichkeiten noch immer offen, daß alle Bewegung einmal aufhöre, nämlich entweder dadurch, daß Repulsion und Attraktion sich endlich einmal tatsächlich ausgleichen, oder dadurch, daß die gesamte Repulsion sich eines Teils der Materie endgültig bemächtigt und die gesamte Attraktion des übrigen Teils. Für die dialektische Auffassung können diese Möglichkeiten von vornherein nicht existieren. So
1 Am Rande des Manuskripts findet sich hier folgende mit Bleistift geschriebene Notiz: „Kant [sagt], p.22, daß die 3 Raumdimensionen dadurch bedingt sind, daß diese Attraktion oder Repulsion nach dem umgekehrten Quadrat der Entfernung geschieht."t208J
bald die Dialektik einmal aus den Resultaten unserer bisherigen Naturerfahrung nachgewiesen hat, daß alle polaren Gegensätze überhaupt bedingt sind durch das wechselnde Spiel der beiden entgegengesetzten Pole aufeinander, daß die Trennung und Entgegensetzung dieser Pole nur besteht innerhalb ihrer Zusammengehörigkeit und Vereinigung, und umgekehrt ihre Vereinigung nur in ihrer Trennung, ihre Zusammengehörigkeit nur in ihrer Entgegensetzung, kann weder von einer endgültigen Ausgleichung von Repulsion und Attraktion, noch von einer endgültigen Verteilung der einen Bewegungsform auf die eine, der andren auf die andre Hälfte der Materie, also weder von der gegenseitigen Durchdringung1, noch von der absoluten Scheidung beider Pole die Rede sein. Es wäre ganz dasselbe, als wollte man im ersten Fall verlangen, der Nordpol und der Südpol eines Magnets sollten sich gegen- und durcheinander ausgleichen, und im zweiten Fall, die Durchfeilung eines Magnets in der Mitte zwischen beiden Polen solle hier eine Nordhälfte ohne Südpol, dort eine Südhälfte ohne Nordpol herstellen. Wenn aber auch die Unzulässigkeit solcher Annahmen schon aus der dialektischen Natur des polaren Gegensatzes folgt, so spielt doch, dank der herrschenden metaphysischen Denkweise der Naturforscher,wenigstens die zweite Annahme in der physikalischen Theorie eine gewisse Rolle. Hiervon wird an seinem Ort die Rede sein. Wie stellt sich nun die Bewegung dar in der Wechselwirkung von Attraktion und Repulsion? Dies untersuchen wir am besten an den einzelnen Formen der Bewegung selbst. Das Fazit wird sich dann am Schluß ergeben. Nehmen wir die Bewegung eines Planeten um seinen Zentralkörper. Die gewöhnliche Schulastronomie erklärt die beschriebne Ellipse mit Newton aus der Zusammenwirkung zweier Kräfte, der Attraktion des Zentralkörpers und einer den Planeten normal zur Richtung dieser Attraktion forttreibenden Tangentialkraft. Sie nimmt also außer der zentral vor sich gehenden Bewegungsform noch eine andre, senkrecht zur Verbindungslinie der Mittelpunkte erfolgende Bewegungsrichtung oder sogenannte „Kraft" an. Sie setzt sich damit in Widerspruch mit dem oben erwähnten Grundgesetz, wonach in unserm Universum alle Bewegung nur in der Richtung der Mittelpunkte der aufeinander einwirkenden Körper stattfinden kann, oder, wie man sich ausdrückt, nur durch zentral wirkende „Kräfte" verursacht wird. Sie bringt ebendamit ein Bewegungselement in die Theorie, das, wie wir ebenfalls sahen, notwendig auf die Erschaffung und Vernichtung von Bewegung hinausläuft und daher auch einen Schöpfer voraussetzt. Es kam
1 Im Sinne des gegenseitigen Ausgleichs und der Neutralisation
also darauf an, diese geheimnisvolle Tangentialkraft auf eine zentral vor sieh gehende Bewegungsform zu reduzieren, und dies tat die Kant-Laplacesche kosmogonische Theorie. Bekanntlich läßt diese Auffassung das ganze Sonnensystem aus einer rotierenden, äußerst verdünnten Gasmasse durch allmähliche Zusammenziehung entstehn, wobei am Äquator dieses Gasballs die Rotationsbewegung selbstredend am stärksten ist und einzelne Gasringe von der Masse losreißt, die sich dann zu Planeten, Planetoiden etc. zusammenballen und den Zentralkörper in der Richtung der ursprünglichen Rotation umkreisen. Diese Rotation selbst wird gewöhnlich erklärt aus der Eigenbewegung der einzelnen Gasteilchen, die in den verschiedensten Richtungen erfolgt, wobei aber schließlich ein Uberschuß in einer bestimmten Richtung sich durchsetzt und so die drehende Bewegung verursacht, die mit dem Fortschritt der Zusammenziehung des Gasballs immer stärker werden muß. Welche Hypothese man aber auch über den Ursprung der Rotation annimmt, mit einer jeden ist die Tangentialkraft beseitigt, aufgelöst in eine besondre Erscheinungsform einer in zentraler Richtung erfolgenden Bewegung. Wenn das eine, direkt zentrale Element der Planetenbewegung durch die Schwere, die Attraktion zwischen ihm und dem Zentralkörper, dargestellt wird, so erscheint nun das andre, tangentielle Element als ein Rest, in übertragner oder verwandelter Form, der ursprünglichen Repulsion der einzelnen Teilchen des Gasballs. Der Daseinsprozeß eines Sonnensystems stellt sich nun dar als ein Wechselspiel von Attraktion und Repulsion, in welchem die Attraktion allmählich mehr und mehr die Oberhand dadurch bekommt, daß die Repulsion in der Form von Warme in den Weltraum ausgestrahlt wird, dem System also mehr und mehr verlorengeht. Man sieht auf den ersten Blick, daß die Bewegungsform, die hier als Repulsion gefaßt ist, dieselbe ist, die von der modernen Physik als „Energie" bezeichnet wird. Durch die Zusammenziehung des Systems und die daraus folgende Sonderung der einzelnen Körper, aus denen es heute besteht, hat das System „Energie" verloren, und zwar beträgt dieser Verlust nach der bekannten Rechnung von Helmholtz jetzt senon "/oer ganzen ursprünglich darin in der Form von Repulsion vorhandenen Bewegungsmenge. Nehmen wir ferner eine körperliche Masse auf unsrer Erde selbst. Sie ist mit der Erde verbunden durch die Schwere, wie die Erde ihrerseits mit der Sonne; aber ungleich der Erde ist sie einer freien planetarischen Bewegung unfähig. Sie kann nur bewegt werden durch Anstoß von außen, und auch dann, sobald der Anstoß aufhört, kommt ihre Bewegung bald zum Stillstand, sei es durch die Wirkung der Schwere allein, sei es durch sie in
Verbindung mit dem Widerstand des Mittels, in dem sie sieb bewegt. Auch dieser Widerstand ist in letzter Instanz eine Wirkung der Schwere, ohne die die Erde kein widerstehendes Mittel, keine Atmosphäre an ihrer Oberfläche haben würde. Wir haben [es] also in der rein mechanischen Bewegung auf der Erdoberfläche zu tun mit einer Lage, in der die Schwere, die Attraktion entschieden vorherrscht, wo also die Herstellung von Bewegung die beiden Phasen zeigt: zuerst der Schwere entgegenzuwirken, und dann die Schwere wirken zu lassen - in einem Worte: heben und fallenlassen. Wir haben also wieder die Wechselwirkung zwischen der Anziehung auf der einen, und einer in entgegengesetzter Richtung zur ihrigen erfolgenden, also repellierenden Bewegungsform auf der andern Seite. Nun kommt aber innerhalb des Gebiets der irdischen reinen Mechanik (die mit Massen von gegebnen, für sie unveränderlichen Aggregat- und Kohäsionszuständen rechnet) diese repellierende Bewegungsform nicht in der Natur vor. Die physikalischen und chemischen Bedingungen, unter denen ein Felsblock sich von der Bergkuppe losreißt oder unter denen ein Wassergefälle möglich wird, liegen außerhalb ihres Bereichs. Die repellierende, hebende Bewegung muß also in der irdischen reinen Mechanik künstlich erzeugt werden: durch Menschenkraft, Tierkraft, Wasserkraft, Dampfkraft usw. Und dieser Umstand, diese Notwendigkeit, die natürliche Anziehung künstlich zu bekämpfen, ruft bei den Mechanikern die Anschauung hervor, daß die Anziehung, die Schwere, oder wie sie sagen, die Schwer^ra/f die wesentlichste, ja die Gmndbewegungsform in der Natur ist. Wenn z.B. ein Gewicht gehoben wird und durch seinen direkten oder indirekten Fall andren Körpern Bewegung mitteilt, so ist es nach der üblichen mechanischen Auffassung nicht die Hebung des Gewichts, die diese Bewegung mitteilt, sondern die Schwerkraft. So läßt z.B. Helmholtz „die uns am besten bekannte und einfachste Kraft, die Schwere, als Triebkraft wirken... z.B. in denjenigen Wanduhren, welche durch ein Gewicht getrieben werden. Das Gewicht... kann dem Zuge der Schwere nicht folgen, ohne das ganze Uhrwerk in Bewegung zu setzen." Aber es kann das Uhrwerk nicht in Bewegung setzen, ohne selbst zu sinken, und sinkt endlich so weit, bis die Schnur, an der es hängt, ganz abgewickelt ist. „Dann bleibt die Uhr stehn, dann ist die Leistungsfähigkeit ihres Gewichts vorläufig erschöpft. Seine Schwere ist nicht verloren oder vermindert, es wird nach wie vor in gleichem Maße von der Erde angezogen, aber die Fähigkeit dieser Schwere, Bewegungen hervorzubringen, ist verlorengegangen... Wir können die Uhr aber aufziehen durch die Kraft unsres Arms, wobei das Gewicht wieder emporgehoben wird. Sowie das geschehn ist, hat es seine frühere Leistungsfähigkeit wieder erlangt, und kann die Uhr wieder in Bewegung erhalten." (Helmholtz, „Populäre Vorträge", II, [S.] 144 bis 145.)
Nach Helmholtz ist es also nicht die aktive Bewegungsmitteilung, das Heben des Gewichts, die die Uhr in Bewegung setzt, sondern die passive Schwere des Gewichts, obwohl diese selbe Schwere erst durch das Heben aus ihrer Passivität herausgerissen wird und auch nach Ablauf der Gewichts©/»kMii»* imiä^öV ir» Paoonntät «rnvii vi ff Waf alo«-. rj Auffassung, wie wir soeben sahen, Energie nur ein andrer Ausdruck für Repulsion, so erscheint hier in der älteren, Helmholtzschen, Kraft als ein andrer Ausdruck für das Gegenteil der Repulsion, für Attraktion. Wir konstatieren dies einstweilen. Wenn nun der Prozeß der irdischen Mechanik sein Ende erreicht hat, wenn die schwere Masse zuerst gehoben und dann wieder um dieselbe Höhe gefallen ist, was wird aus der Bewegung, die diesen Prozeß ausmachte? Sie ist für die reine Mechanik verschwunden. Aber wir wissen jetzt, daß sie keineswegs vernichtet ist. Sie ist zum kleineren Teil in Schallwellenschwingung der Luft, zum weit größeren in Wärme umgesetzt worden Wärme, die teils der widerstehenden Atmosphäre, teils dem fallenden Körper selbst, teils endlich dem Aufschlagsboden mitgeteilt wurde. Auch das Uhrgewicht hat seine Bewegung in der Form von Reibungswärme an die einzelnen Triebräder des Uhrwerks nach und nach abgegeben. Es ist aber nicht, wie man sich wohl ausdrückt, die Fa//bewegung, d.h. die Attraktion, die in Wärme, also in eine Form der Repulsion übergegangen ist. Im Gegenteil, die Attraktion, die Schwere, bleibt, wie Helmholtz richtig bemerkt, was sie vorher" war, und wird, genau gesprochen, sogar größer. Es ist vielmehr die dem gehobenen Körper durch die Hebung mitgeteilte Repulsion, die durch den Fall mechanisch vernichtet wird und als Wärme wieder entsteht. Massenrepulsion ist verwandelt in Molekularrepulsion. Die Wärme ist, wie schon gesagt, eine Form der Repulsion. Sie versetzt die Moleküle fester Körper in Schwingungen, lockert dadurch den Zusammenhang der einzelnen Moleküle, bis endlich der Übergang in den flüssigen Zustand eintritt; sie steigert auch in diesem, bei fortdauernder Wärmezufuhr, die Bewegung der Moleküle bis zu einem Grad, wo diese sich von der Masse vollständig losreißen und mit einer für jedes Molekül durch seine chemische Konstitution bedingten, bestimmten Geschwindigkeit einzeln frei fortbewegen; bei weiter fortgesetzter Wärmezufuhr steigert sie auch diese Geschwindigkeit noch weiter und repelliert damit die Moleküle immer mehr voneinander. Wärme ist aber eine Form der sogenannten „Energie"; diese erweist sich auch hier wieder als identisch mit der Repulsion.
Bei den Erscheinungen der statischen Elektrizität und des Magnetismus haben wir Attraktion und Repulsion polarisch verteilt. Welche Hypothese man auch gelten lassen möge in Beziehung auf den modus operandi1 dieser beiden Bewegungsformen, so zweifelt doch angesichts der Tatsachen kein Mensch daran, daß Attraktion und Repulsion, soweit sie durch statische Elektrizität oder Magnetismus hervorgerufen sind und sich ungehindert entfalten können, einander vollständig kompensieren, wie dies in der Tat auch schon aus der Natur der polaren Verteilung mit Notwendigkeit folgt. Zwei Pole, deren Betätigung sich nicht vollständig kompensiert, wären eben keine Pole, und sind bisher in der Natur auch nicht aufzufinden gewesen. Den Galvanismus lassen wir hier einstweilen aus dem Spiel, weil bei ihm der Prozeß durch chemische Vorgänge bedingt und dadurch verwickelt gemacht wird. Untersuchen wir daher lieber die chemischen BewegungsVorgänge selbst. Wenn zwei Gewichtsteile Wasserstoff sich mit 15,96 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Wasserdampf verbinden, so entwickelt sich während dieses Vorgangs eine Wärmemenge von 68,924 Wärmeeinheiten. Umgekehrt, wenn 17,96 Gewichtsteile Wasserdampf in 2 Gewichtsteile Wasserstoff und 15,96 Gewichtsteile Sauerstoff zerlegt werden sollen, so ist dies nur möglich unter der Bedingung, daß dem Wasserdampf eine Bewegungsmenge zugeführt wird, die mit 68,924 Wärmeeinheiten gleichwertig ist - sei es in der Form von Wärme selbst oder von elektrischer Bewegung. Dasselbe gilt von allen andern chemischen Prozessen. In der sehr großen Mehrzahl der Fälle wird bei der Zusammensetzung Bewegung abgegeben, bei der Zerlegung muß Bewegung zugeführt werden. Auch hier ist die Repulsion in der Regel die aktive, mit Bewegung begabtere oder Bewegungszufuhr heischende, die Attraktion die passive, Bewegung überflüssig machende und abgebende Seite des Prozesses. Daher auch die moderne Theorie wieder erklärt, im ganzen und großen werde bei der Vereinigung von Elementen Energie frei, bei der Zerlegung werde sie gebunden. Energie steht hier also wieder für Repulsion. Und wieder erklärt Helmholtz:
„Diese Kraft" (die chemische Verwandtschaftskraft) „können wir uns als eine Anziehungskraft vorstellen... Diese Anziehungskraft nun zwischen den Atomen des Kohlenstoffs und des Sauerstoffs leistet geradesogut Arbeit, wie die, welche die Erde in der Form der Schwere auf ein gehobenes Gewicht ausübt... Wenn Kohlenstoff- und Sauerstoffatome aufeinander losgestürzt sind und sich zu Kohlensäure vereinigt haben, so müssen die neugebildeten Teilchen der Kohlensäure in heftigster Molekular
bewegung sein, das heißt in Wärmebewegung... Wenn sie später ihre Wärme an die Umgebung abgegeben hat, so haben wir in der Kohlensäure noch den ganzen Kohlenstoff, noch den ganzen Sauerstoff und auch noch die Verwandtschaftskraft beider ebenso kräftig wie vorher bestehend. Aber letztere äußert sich jetzt nur noch darin, daß sie die Kohlenstoff- und Sauerstoffatome fest aneinander heftet, ohne eine Trennung derselben zu gestatten." (i.e., [S.j 169[/170].) Es ist ganz wie vorhin: Helmholtz besteht darauf, daß in der Chemie wie in der Mechanik die Kraft nur in der Attraktion bestehe und also das grade Gegenteil von dem sei, was bei andern Physikern Energie heißt und identisch ist mit der Repulsion. Wir haben jetzt also nicht mehr die beiden einfachen Grundformen der Attraktion und Repulsion, sondern eine ganze Reihe von Unterformen, in denen der im Gegensatz jener beiden sich ab- und aufwickelnde Prozeß der universellen Bewegung vor sich geht. Es ist aber keineswegs bloß unser Verstand, der diese mannigfachen Erscheinungsformen unter den Einen Ausdruck der Bewegung zusammenfaßt. Im Gegenteil, sie selbst beweisen sich durch die Tat als Formen einer und derselben Bewegung, indem sie unter Umständen die eine in die andre übergehn. Mechanische Massenbewegung geht über in Wärme, in Elektrizität, in Magnetismus; Wärme und Elektrizität gehen über in chemische Zersetzung; chemische Vereinigung ihrerseits entwickelt wieder Wärme und Elektrizität, und vermittelst dieser letzteren Magnetismus; und endlich produzieren Wärme und Elektrizität wiederum mechanische Massenbewegung. Und zwar derart, daß einer bestimmten Bewegungsmenge der einen Form stets eine genau bestimmte Bewegungsmenge der andern Form entspricht; wobei es wieder gleichgültig ist, welcher Bewegungsform die Maßeinheit entlehnt ist, an der diese Bewegungsmenge gemessen wird: ob sie zur Messung von Massenbewegung, von Wärme, von sog. elektromotorischer Kraft, oder von der bei chemischen Vorgängen umgesetzten Bewegung dient. Wir stehn hiermit auf dem Boden der von J.R.Mayer 1842 begründeten* und seitdem mit so glänzendem Erfolg international ausgearbeiteten
* In den „Pop. Vöries." II, S. 113, scheint Helmholtz, außer Mayer, Joule und Colding, auch sich selbst einen gewissen Anteil an der naturwissenschaftlichen Beweisführung für den Descartesschen Satz von der quantitativen Unveränderlichkeit der Bewegung!37] zuzuschreiben. „Ich selbst hatte, ohne von Mayer und Colding etwas zu wissen, und mit Joules Versuchen erst am Ende meiner Arbeit bekannt geworden, denselben Weg betreten; ich bemühte mich namentlich, alle Beziehungen zwischen den verschiedenen Naturprozessen aufzusuchen, welche aus der angegebnen Betrachtungsweise zu folgern waren, und veröffentlichte meine Untersuchungen 1847 in einer kleinen
Theorie von der „Erhaltung der Energie" und haben nun die Grundvorstellungen zu untersuchen, mit denen diese Theorie heutzutage operiert. Dies sind die Vorstellungen von „Kraft" oder „Energie" und von „Arbeit". Es hat sich schon oben gezeigt, daß die neuere, jetzt wohl ziemlich allgemein angenommene Anschauung unter Energie die Repulsion versteht, während Helmholtz mit dem Wort Kraft vorzugsweise die Attraktion ausdrückt. Man könnte hierin einen gleichgültigen Formunterschied sehn, da ja Attraktion und Repulsion im Universum sich kompensieren, und da es demnach gleichgültig erscheint, welche Seite des Verhältnisses man positiv oder negativ setzt; wie es ja auch an sich gleichgültig ist, ob man von einem Punkt in einer beliebigen Linie aus die positiven Abszissen nach rechts oder nach links zählt. Dies ist indes nicht absolut der Fall. Es handelt sich hier nämlich zunächst nicht um das Universum, sondern um Erscheinungen, die auf der Erde vorgehn und bedingt sind durch die genau bestimmte Stellung der Erde im Sonnensystem und des Sonnensystems im Weltall. Unser Sonnensystem gibt aber in jedem Augenblick enorme Mengen von Bewegung an den Weltraum ab, und zwar Bewegung von ganz bestimmter Qualität: Sonnenwärme, d.h. Repulsion. Unsre Erde selbst aber ist belebt nur durch die Sonnenwärme und strahlt ihrerseits die empfangne Sonnenwärme, nachdem sie diese zum Teil in andre Bewegungsformen umgesetzt, schließlich ebenfalls in den Weltraum aus. Im Sonnensystem und ganz besonders auf der Erde hat also die Attraktion schon ein bedeutendes Übergewicht über die Repulsion erhalten. Ohne die uns von der Sonne zugestrahlte Repulsionsbewegung müßte alle Bewegung auf der Erde aufhören. Wäre morgen die Sonne erkaltet, so bliebe die Attraktion auf der Erde bei sonst gleichbleibenden Umständen, was sie heute ist. Ein
Schrift unter dem Titel: ,Über die Erhaltung der Kraft'."1 - Aber in dieser Schrift findet sich durchaus nichts für den Stand von 1847 Neues außer der oben erwähnten mathematischen übrigens sehr wertvollen Entwicklung, daß „Erhaltung der Kraft" und zentrale Wirkung der zwischen den verschiednen Körpern eines Systems tätigen Kräfte nur zwei verschiedne Ausdrücke für dieselbe Sache sind, und ferner eine genauere Formulierung des Gesetzes, daß die Summe der lebendigen und Spannkräfte in einem gegebnen mechanischen System konstant sei. In allen andern war sie seit Mayers zweiter Abhandlung von 1845 bereits überholt. Mayer behauptet schon 1842 die „Unzerstörlichkeit der Kraft" und weiß über die „Beziehungen zwischen den verschiednen Naturprozessen" von seinem neuen Standpunkt aus 1845 weit genialere Dinge zu sagen als Helmholtz 1847J210]
Stern von 100 Kilogramm würde nach wie vor da, wo er einmal liegt, 100 Kilogramm wiegen. Aber die Bewegung, sowohl der Massen wie der Moleküle und Atome, käme zu einem nach unsern Vorstellungen absoluten Stillstand. Es ist also klar: Für Prozesse, die auf der heutigen Erde vorgehn, ist es durchaus nicht gleichgültig, ob man die Attraktion oder die Repulsion als die aktive Seite der Bewegung, also als „Kraft" oder „Energie" auffaßt. Auf der heutigen Erde ist die Attraktion im Gegenteil bereits durch ihr entschiednes Übergewicht über die Repulsion durchaus passiv geworden; alle aktive Bewegung verdanken wir der Zufuhr von Repulsion durch die Sonne. Und daher hat die neuere Schule - wenn sie auch über die Natur des Bewegungsverhältnisses im unklaren bleibt - dennoch der Sache nach und für irdische Vorgänge, ja für das ganze Sonnensystem, vollständig recht, wenn sie Energie als Repulsion faßt. Der Ausdruck „Energie" spricht zwar keineswegs das ganze Bewegungsverhältnis richtig aus, indem er nur die eine Seite umfaßt, die Aktion, aber nicht die Reaktion. Er läßt auch noch den Schein zu, als sei „Energie" etwas der Materie Äußerliches, ihr Eingepflanztes. Aber er ist dem Ausdruck „Kraft" unter allen Umständen vorzuziehn. Die Vorstellung von Kraft ist, wie allerseits zugegeben (von Hegel bis Helmholtz), der Betätigung des menschlichen Organismus innerhalb seiner Umgebung entlehnt. Wir sprechen von der Muskelkraft, von der Hebungskraft der Arme, von der Sprungkraft der Beine, von der Verdauungskraft des Magens und Darmkanals, von der Empfindungskraft der Nerven, der Ausscheidungskraft der Drüsen usw. Mit andern Worten, um uns die Angabe der wirklichen Ursache einer durch eine Funktion unsres Organismus herbeigeführten Veränderung zu ersparen, schieben wir eine fiktive Ursache unter, eine der Veränderung entsprechende sog. Kraft. Diese bequeme Methode übertragen wir dann auch auf die Außenwelt und erfinden damit ebensoviel Kräfte, wie es verschiedne Erscheinungen gibt. In diesem naiven Stadium befand sich die Naturwissenschaft (mit Ausnahme etwa der himmlischen und irdischen Mechanik) noch zur Zeit Hegels, der mit vollem Recht gegen die damalige Manier der Kräfteernennung losfährt (Stelle zu zitieren)12111. Ebenso an einer andern Stelle: „Es ist besser" (zu sagen), „der Magnet habe eine Seele" (wie Thaies sich ausdrückt), „als er habe die Kraft anzuziehen; Kraft ist eine Art von Eigenschaft, die von der Materie trennbar, als ein Prädikat vorgestellt wird, - Seele hingegen dies Bewegen seiner, mit der Natur der Materie dasselbe"1 („Gesch. d. Phil.", I, [S.] 208.)[212J
So ganz leicht, wie damals, machen wir es uns nun heute mit den Kräften nicht mehr. Hören wir Helmholtz: „Wenn wir ein Naturgesetz vollständig kennen, müssen wir auch Ausnahmslosigkeit seiner Geltung fordern... So tritt uns das Gesetz als eine objektive Macht entgegen, und demgemäß nennen wir es Kraft. Wir objektivieren z.B. das Gesetz der Lichtbrechung als eine Lichtbrechungskraft der durchsichtigen Substanzen, das Gesetz der chemischen Wahlverwandtschaften als eine Verwandtschaftskraft der verschiednen Stoffe zueinander. So sprechen wir von einer elektrischen Kontaktkraft der Metalle, von einer Adhäsionskraft, Kapillarkraft und andern mehr. In diesen Namen sind Gesetze objektiviert, welche zunächst erst kleinere Reihen von Naturvorgängen umfassen, deren Bedingungen noch ziemlich verwickelt sind1... die Kraft ist nur das objektivierte Gesetz der Wirkung... Der abstrakte Begriff der Kraft, den wir einschieben, fügt nur das noch hinzu, daß wir dieses Gesetz nicht willkürlich erfunden, daß es ein zwingendes Gesetz der Erscheinungen sei. Unsere Forderung, die Naturerscheinungen zu begreifen, d.h. ihre Gesetze zu finden, nimmt so eine andre Form [des Ausdrucks! an, die nämlich, daß wir die Kräfte aufzusuchen haben, welche die Ursachen der Erscheinungen sind." (1. c., S. 189—191. Innsbrucker Vortrag von 1869.) Erstens ist es jedenfalls eine eigentümliche Art „zu objektivieren", wenn man in ein bereits als unabhängig von unsrer Subjektivität festgestelltes, also schon vollkommen objektives Naturgesetz die rein subjektive Vorstellung von Kraft hineinträgt. Dergleichen dürfte sich höchstens ein Althegelianer von der striktesten Observanz gestatten, nicht aber ein Neukantianer wie Helmholtz. Weder dem einmal festgestellten Gesetz, noch seiner Objektivität oder derjenigen seiner Wirkung tritt die geringste neue Objektivität hinzu, wenn wir ihm eine Kraft unterschieben; was hinzutritt, ist unsre subjektive Behauptung, daß es vermöge einer einstweilen gänzlich unbekannten Kraft wirke. Aber der geheime Sinn dieser Unterschiebung zeigt sich, sobald Helmholtz uns Beispiele gibt: Lichtbrechung, chemische Verwandtschaft, Kontaktelektrizität, Adhäsion, Kapillarität, und die diese Erscheinungen regelnden Gesetze in den „objektiven" Adelstand von Kräften erhebt. „In diesen Namen sind Gesetze objektiviert, welche zunächst erst kleinere Reihen von Naturvorgängen umfassen, deren Bedingungen noch ziemlich Verwickelt sind." Und eben hier erhält die „Objektivierung", die vielmehr Subjektivierung ist, einen Sinn: Nicht weil wir das Gesetz vollständig erkannt haben, sondern eben weil dies nicht der Fall, weil wir über die „ziemlich verwickelten Bedingungen" dieser Erscheinungen noch nicht im klaren sind, ebendeshalb nehmen wir hier manchmal Zuflucht zum Worte Kraft. Wir drücken also
damit nicht unsre Wissenschaft, sondern unsern Mangel an Wissenschaft von der Natur des Gesetzes und seiner Wirkungsweise aus. In diesem Sinn, als kurzer Ausdruck eines noch nicht ergründeten Kausalzusammenhangs, als Notbehelf der Sprache, mag es im Handgebrauch passieren. Was darüber ist, das ist vom Übel. Mit demselben Recht, wie Helmholtz physikalische Erscheinungen aus einer sog. Lichtbrechungskraft, elektrischen Kontaktkraft usw. erklärt, mit demselben Recht erklärten die Scholastiker des Mittelalters die Temperaturveränderungen aus einer vis calorifica1 und einer vis frigifaciens3 und ersparten sich damit alle weitere Untersuchung der Wärmeerscheinungen. Und auch in diesem Sinn hat es seine Schiefheit. Es drückt nämlich alles einseitig aus. Alle Naturvorgänge sind doppelseitig, beruhen auf dem Verhältnis von mindestens zwei wirkenden Teilen, auf Aktion und Reaktion. Die Vorstellung von Kraft, infolge ihres Ursprungs aus der Aktion des menschlichen Organismus auf die Außenwelt und weiterhin aus der irdischen Mechanik, schließt aber ein, daß nur der eine Teil aktiv, wirkend, der andre Teil aber passiv, empfangend sei, statuiert also eine bisher nicht nachweisbare Ausdehnung der Geschlechtsdifferenz auf leblose Existenzen. Die Reaktion des zweiten Teils, auf den die Kraft wirkt, erscheint höchstens als eine passive, als ein Widerstand. Nun ist diese Auffassungsweise auf einer Reihe von Gebieten auch außerhalb der reinen Mechanik zulässig, nämlich da, wo es sich um einfache Übertragung von Bewegung und deren quantitative Berechnung handelt. Aber schon in den verwickeiteren VorJ Dl " 1 • I- • ! , 1 • 1 TT1 1 1. » gangen der rnysik reicut sie nicm mein aus, wie graae oeimnouz eigne Beispiele beweisen. Die Lichtbrechungskraft liegt ebensosehr im Licht selbst wie in den durchsichtigen Körpern. Bei der Adhäsion und Kapillarität liegt die „Kraft" doch sicher ebensosehr in der festen Oberfläche wie in der Flüssigkeit. Bei der Kontaktelektrizität ist jedenfalls soviel sicher, daß beide Metalle dazu das ihrige beitragen, und die „chemische Verwandtschaftskraft" liegt, wenn irgendwo, jedenfalls in beiden sich verbindenden Teilen. Eine Kraft aber, die aus zwei getrennten Kräften besteht, eine Wirkung, die ihre Gegenwirkung nicht hervorruft, sondern in sich selbst faßt und trägt, ist keine Kraft im Sinn der irdischen Mechanik, der einzigen Wissenschaft, in der man wirklich weiß, was eine Kraft bedeutet. Denn die Grundbedingungen der irdischen Mechanik sind erstens die Weigerung, die Ursachen des Anstoßes, d.h. die Natur der jedesmaligen Kraft zu untersuchen, und zweitens die Anschauung von der Einseitigkeit der Kraft, der 1 wärmeerzeugenden Kraft - 2 kälteerzeugenden Kraft
eine an jedem Ort stets sich selbst gleiche Schwere entgegengesetzt wird, dergestalt, daß gegenüber jedem irdischen Fallraum der Erdhalbmesser = 00 gilt. Sehen wir aber weiter, wie Helmholtz seine „Kräfte" in die Naturgesetze hinein „objektiviert". In einer Vorlesung von 1854 (I.e., S. 119)[213] untersucht er den „Vorrat von Arbeitskraft", den der Nebelball, aus dem unser Sonnensystem gebildet, ursprünglich enthielt. „ In der Tat war ihm eine ungeheuer große Mitgift in dieser Beziehung schon allein in Form der allgemeinen Anziehungskraft aller seiner Teile zueinander mitgeteilt."
Dies ist unzweifelhaft. Ebenso unzweifelhaft aber ist, daß diese ganze Mitgift von Schwere oder Gravitation im heutigen Sonnensystem noch unverkümmert vorhanden ist; abgerechnet etwa das geringe Quantum, das mit Materie verlorenging, die möglicherweise unwiederbringlich in den Weltraum hinausgeschleudert wurde. Weiter:
„Auch die chemischen Kräfte mußten schon vorhanden sein, bereit zu wirken; aber da diese Kräfte erst bei der innigsten Berührung der verschiedenartigen Massen in Wirksamkeit treten können, mußte erst Verdichtung eingetreten sein, ehe ihr Spiel begann" [S. 120]. Wenn wir, wie Helmholtz oben, diese chemischen Kräfte als Verwandtschaftskräfte, also als Anziehung, fassen, so müssen wir auch hier sagen, daß die Gesamtsumme dieser chemischen Anziehungskräfte noch unvermindert innerhalb des Sonnensystems fortbesteht. Nun aber gibt Helmholtz auf derselben Seite als das Resultat seiner Berechnung an, „daß nur noch etwa der 454ste Teil der ursprünglichen mechanischen Kraft als solche besteht" nämlich im Sonnensystem. Wie ist dies zu reimen? Die Anziehungskraft, allgemeine wie chemische, ist noch unversehrt im Sonnensystem vorhanden. Eine andre sichere Kraftquelle gibt Helmholtz nicht an. Allerdings haben, nach Helmholtz, jene Kräfte eine ungeheure Arbeit geleistet. Aber sie haben sich dadurch weder vermehrt noch vermindert. Wie oben dem Uhrgewicht, geht es jedem Molekül im Sonnensystem und dem ganzen Sonnensystem selbst. „Seine Schwere ist nicht verloren oder vermindert." Wie vorhin dem Kohlenstoff und dem Sauerstoff geht es allen chemischen Elementen: Wir haben die sämtliche gegebne Menge eines jeden noch immer, auch noch die gesamte „Verwandtschaftskraft ebenso kräftig wie vorher
bestehend". Was haben wir denn verloren? Und welche „Kraft" hat denn die enorme Arbeit geleistet, die 453mal so groß ist als diejenige, die das Sonnensystem nach seiner Berechnung noch leisten kann? Soweit gibt uns Helmholtz keine Antwort. Aber weiter sagt er: „Ob noch ein weiterer Kraftvorrat in Gestalt von Wärme [im Uranfange] vorhanden war, wissen wir nicht."1 [S. 120.] Mit Verlaub. Die Wärme ist eine repulsive „Kraft", wirkt also der Richtung der Schwere wie der chemischen Anziehung entgegen, ist minus, wenn diese plus gesetzt werden. Wenn Helmholtz also seinen ursprünglichen Kraftvorrat aus allgemeiner und chemischer Anziehung zusammensetzt, so müßte ein Vorrat von Wärme, der außerdem noch vorhanden, nicht zu jenem Kraftvorrat hinzugezählt, sondern von ihm abgezogen werden. Sonst müßte die Sonnenwärme die Anziehungskraft der Erde verstärken, wenn sie - ihr grade entgegen - Wasser verdunstet und den Dunst in die Höhe hebt; oder die Wärme eines glühenden Eisenrohrs, durch das man Wasserdampf leitet, müßte die chemische Anziehung von Sauerstoff und Wasserstoff verstärken, während sie sie grade außer Tätigkeit setzt. Oder» um dieselbe Sache in andrer Form zu verdeutlichen: Wir nehmen an, der Nebel4 ball von r Radius, also vom Volumen ^ rcr3, habe die Temperatur f. Wir
nehmen ferner an, ein zweiter Nebelball von gleicher Masse habe bei der 4 höheren Temperatur T den größeren Radius R und das Volumen ^ n R3. Nun ist es einleuchtend, daß in dem zweiten Nebelball die Attraktion, mechanische wie physikalische und chemische, erst dann mit gleicher Kraft wirken kann wie im ersten, wenn er von Radius R auf Radius r zusammengeschrumpft ist, d.h. die der Temperaturdifferenz T-t entsprechende Wärme in den Weltraum ausgestrahlt hat. Der wärmere Nebelball wird also später zur Verdichtung kommen als der kältere, folglich ist die Wärme, als Hindernis der Verdichtung, vom Helmholtzschen Standpunkt betrachtet, kein Plus, sondern ein Minus des „Kraftvorrats". Indem Helmholtz die Möglichkeit eines zu attraktiven Bewegungsformen hinzutretenden und ihre Summe vermehrenden Quantums von repulsiver Bewegung in der Form von Wärme voraussetzt, begeht er also einen entschiednen Rechnungsfehler. Bringen wir nun diesen sämtlichen „KräfteVorrat", möglichen wie nachweisbaren, auf dasselbe Vorzeichen, damit eine Addition möglich wird. Da
wir vorläufig die Wärme noch nicht umkehren, statt ihrer Repulsion die äquivalente Attraktion setzen können, so werden wir diese Umkehrung bei den beiden Anziehungsformen vornehmen müssen. Dann haben wir statt der allgemeinen Anziehungskraft, statt der chemischen Verwandtschaftskraft und statt der außerdem möglicherweise als solcher bereits im Anfang existierenden Wärme einfach zu setzen - die Summe der im Gasball, im Moment seiner Verselbständigung, vorhandenen Repulsionsbewegung oder sogenannten Energie. Und damit stimmt denn auch die Rechnung von Helmholtz, bei derer „die Erwärmung" berechnen will,
„welche durch die angenommene anfängliche Verdichtung der Himmelskörper un9res Systems aus nebelartigem zerstreutem Stoffe entstehen mußte" [S. 134]. Indem er so den ganzen „Kraftvorrat" auf Wärme, Repulsion, reduziert, macht er es auch möglich, den vermutlichen „Kraftvorrat von Wärme" hinzuzuaddieren. Dann drückt die Rechnung aus, daß 453/454 aller ursprünglich im Gasball vorhandenen Energie, d.h. Repulsion, in Gestalt von Wärme in den Weltraum ausgestrahlt ist, oder, genau gesprochen, daß die Summe aller Attraktion im heutigen Sonnensystem zur Summe aller darin noch vorhandenen Repulsion sich verhält wie 454: 1. Dann widerspricht sie aber gradezu dem Text des Vortrags, dem sie als Belegstück beigefügt ist. Wenn nun aber die Vorstellung der Kraft selbst bei einem Physiker wie Helmholtz zu solcher Begriffsverwirrung Anlaß gibt, so ist dies der beste Beweis, daß sie überhaupt wissenschaftlich unbrauchbar ist in allen Forschungszweigen, die über die rechnende Mechanik hinausgehn. In der Mechanik nimmt man die Bewegungsursachen als gegeben an und kümmert sich nicht um ihren Ursprung, sondern nur um ihre Wirkungen. Bezeichnet man also eine Bewegungsursache als eine Kraft, so tut das der Mechanik als solcher keinen Abbruch; aber man gewöhnt sich daran, diese Bezeichnung auch in die Physik, Chemie und Biologie zu übertragen, und dann ist die Konfusion unvermeidlich. Das haben wir gesehn und werden es noch öfter sehn. Über den Begriff der Arbeit im nächsten Kapitel.
Maß der Bewegung. - Arbeit112,43
„Dagegen habe ich bisher immer noch gefunden, daß die Grundbegriffe dieses Gebiets" (d.h. „die physikalischen Grundbegriffe der Arbeit und ihrer Unveränderlichkeit") „denjenigen Personen, welche nicht durch die Schule der mathematischen Mechanik gegangen sind, bei allem Eifer, aller Intelligenz und selbst bei einem ziemlich hohen Maße naturwissenschaftlicher Kenntnisse sehr schwer faßlich sind. Auch ist nicht zu verkennen, daß es Abstrakta von ganz eigentümlicher Art sind. Ist ihr Verständnis doch [selbst] einem Geiste, wie I.Kant, nicht ohne Schwierigkeit aufgegangen, wie seine darüber gegen Leibniz geführte Polemik beweist." So Helmholtz („Pop. wiss, Vortr.", II, Vorrede, [S.VI/VII]). Hiernach wagen wir uns jetzt auf ein sehr gefährliches Gebiet, um so mehr, als wir uns nicht gut erlauben können, den Leser „durch die Schule der mathematischen Mechanik'* zu führen. Vielleicht aber stellt sich heraus, daß da, wo es sich um Begriffe handelt, dialektisches Denken mindestens ebenso weit führt wie mathematisches Rechnen. Galilei entdeckte einerseits das Fallgesetz, wonach die durchlaufenen Räume fallender Körper sich verhalten wie die Quadrate der Fallzeiten. Daneben stellte er den, wie wir sehn werden, diesem nicht ganz entsprechenden Satz auf, daß die Bewegungsgröße eines Körpers (sein impeto oder momento1) bestimmt wird durch Masse und Geschwindigkeit, derart, daß sie bei konstanter Masse der Geschwindigkeit proportional ist. Descartes nahm diesen letzteren Satz auf und machte das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit eines sich bewegenden Körpers ganz allgemein zum Maß seiner Bewegung. Huygens fand bereits, daß beim elastischen Stoß die Summe der Produkte aus den Massen in die Quadrate der Geschwindigkeiten vor und nach dem Stoß dieselbe sei, und daß ein analoges Gesetz gelte für verschiedne andere Fälle von Bewegung zu einem System verbundner Körper.
Leibniz war der erste, der einsah, daß das Descartessche Maß der Bewegung mit dem Fallgesetz in Widerspruch stehe. Andrerseits ließ sich nicht leugnen, daß das Descartessche Maß in vielen Fällen richtig sei. Leibniz teilte also die bewegenden Kräfte in tote und lebendige. Die toten waren die „Drucke" oder „Züge" ruhender Körper, ihr Maß das Produkt der Masse in die Geschwindigkeit, mit der der Körper sich bewegen würde, wenn er aus dem Ruhezustand in die Bewegung überginge; als Maß der lebendigen Kraft, der wirklichen Bewegung eines Körpers dagegen, stellte er das Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit auf. Und zwar direkt aus dem Fallgesetz leitete er dieses neue Bewegungsmaß her. „Es ist", so schloß Leibniz, „die nämliche Kraft erforderlich, einen Körper von vier Pfund Gewicht einen Fuß, wie einen Körper von einem Pfund Gewicht um vier Fuß zu heben; nun sind aber die Wege dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional, denn wenn ein Körper um vier Fuß gefallen ist, so hat er die doppelte Geschwindigkeit erlangt, wie wenn er nur um einen Fuß gefallen ist. Beim Fallen erlangen aber die Körper die Kraft, wieder auf dieselbe Höhe zu steigen, von der sie gefallen sind; also sind die Kräfte dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional." (Suter, „Gesch. der math[ematischen Wissenschaften]", II, S.367.) Weiter aber wies er nach, daß das Bewegungsmaß mv im Widerspruch stehe mit dem Cartesischen Satz von der Konstanz der Bewegungsquantität, indem, wenn es wirklich gelte, sich die Kraft (d.h. Bewegungsmenge) in der Natur fortwährend vermehre oder vermindere. Er entwarf sogar einen Apparat („Acta Eruditorum", 1690), der, wenn das Maß mv richtig sei, ein Perpetuum mobile mit steter Kraftgewinnung darstellen müsse, was doch absurd sei.12151 Helmholtz hat neuerdings diese Art der Argumentation wieder häufig angewandt. Die Cartesianer protestierten aus Leibeskräften, und es entspann sich ein langjähriger und berühmter Streit, an dem auch Kant in seiner ersten Schrift („Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte", 1746L216]) sich beteiligte, ohne indes in der Sache klar zu sehn. Die heutigen Mathematiker schauen mit ziemlicher Verachtung herab auf diesen „unfruchtbaren" Streit, der „über 40 Jahre lang hinausgezogen wurde und die Mathematiker Europas in zwei feindliche Lager teilte, bis endlich d'Alembert durch seinen ,Traite de dynamique' (1743) gleichsam wie durch einen Machtspruch dem unnützen Wortstreite1, denn etwas andres war es nicht, ein Ende machte". (Suter, a.a.O., S.366.) Nun sollte es doch scheinen, als ob eine Streitfrage nicht so ganz auf einem unnützen Wortstreit beruhen kann, wenn sie von einem Leibniz
gegenüber einem Descartes aufgeworfen wurde und einen Mann wie Kant derart beschäftigte, daß er ihr seine Erstlingsschrift, einen ziemlich starken Band, widmete. Und in der Tat, wie ist es zu reimen, daß die Bewegung zwei einander widersprechende Maße hat, das eine Mal der Geschwindigkeit, das andre Mal dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional ist? Suter macht sich die Sache sehr leicht; er sagt, beide Teile hatten recht und beide hatten unrecht; „der Ausdruck .lebendige Kraft* hat sich dennoch bis heute erhalten; allein er gilt nicht mehr als Maß der Kraft1, sondern ist eine bloße einmal angenommene Bezeichnung für das in der Mechanik so bedeutungsvolle Produkt der Masse in das halbe Quadrat der Geschwindigkeit" [S.368]. Also mv bleibt Maß der Bewegung, und lebendige Kraft ist nur ein
andrer Ausdruck für von welcher Formel wir zwar erfahren, daß sie
in der Mechanik sehr bedeutungsvoll ist, jetzt aber erst recht nicht mehr wissen, was sie denn bedeutet. Nehmen wir indes den rettenden „Traite de dynamique" zur Hand und sehen wir uns d'Alemberts „Machtspruch" näher an; derselbe steht in der Vorrede. Im Text, heißt es, komme die ganze Frage gar nicht vor, wegen „des Umstandes, daß sie für die Mechanik ohne jeden Nutzen ist" [p. XVII]. t217J Dies ist für die rein rechnende Mechanik ganz richtig, bei der, wie oben bei Suter» Wortbezeichnungen nur andre Ausdrücke- Namen für algebraische Formeln sind, Namen, bei denen man sich am besten gar nichts denkt. Indes, da so bedeutende Leute sich mit der Sache beschäftigt, wolle er sie doch in der Vorrede kurz untersuchen. Unter der Kraft sich bewegender Körper könne man, klar gedacht, nur ihre Eigenschaft verstehn, Hindernisse zu überwinden oder ihnen zu widerstenn. Also weder durch mV noch durch mv2, sei die Kraft zu messen, sondern einzig durch die Hindernisse und deren Widerstand. Nun gebe es drei Arten Hindernisse: 1. unüberwindliche, die die Bewegung total vernichten, und diese können schon deswegen hier nicht in Betracht kommen; 2. Hindernisse, deren Widerstand grade hinreicht, die Bewegung aufzuheben, und dies augenblicklich tun: Fall des Gleichgewichts; 3. Hindernisse, die die Bewegung nur allmählich aufheben: Fall der verzögerten Bewegung, [p. XVII/XVIIL] „Nun sind darüber wohl alle einig, daß zwischen zwei Körpern Gleichgewicht besteht, sobald die Produkte ihrer Massen mit ihren virtuellen Geschwindigkeiten, d.h. den Geschwindigkeiten, mit denen sie sich zu bewegen streben, auf beiden Seiten gleich sind. Somit
kann im Gleichgewichtsfalle das Produkt der" Masse mit der Geschwindigkeit, oder, was dasselbe ist, die Bewegungsquantität die Kraft darstellen. Jedermann gesteht auch zu, daß bei verzögerter Bewegung die Anzahl der überwundenen Hindernisse dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional ist, so daß ein Körper, der z.B. mit einer gewissen Geschwindigkeit eine Feder gespannt hat, mit einer doppelten Geschwindigkeit imstande sein wird, entweder gleichzeitig oder nacheinander nicht zwei, sondern vier der ersten gleiche Federn zu spannen, mit einer dreifachen Geschwindigkeit neun, und so fort. Daraus schließen die Anhänger der lebendigen Kräfte" (die Leibnizianer), „daß die Kraft der in Bewegung befindlichen Körper allgemein dem Produkte der Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional sei. Welchen Nachteil kann es im Grunde haben, wenn das Maß der Kräfte für das Gleichgewicht und für die verzögerte Bewegung verschieden ist, da bei Zugrundelegung völlig klarer Ideen unter dem Worte Kraft nur die in der Uberwindung eines Hindernisses oder in dem demselben geleisteten Widerstande bestehende Wirkung verstanden werden soll?" (Vorrede, S. XIX/XX der Originalausgabe.)[2183
Nun aber ist d'Alembert noch viel zu sehr Philosoph, um nicht einzusehn, daß er so leichten Kaufs doch nicht über den Widerspruch eines doppelten Maßes einer und derselben Kraft hinwegkommt. Nachdem er also im Grunde nur dasselbe wiederholt, was Leibniz schon gesagt - denn sein „equilibre"1 ist ganz dasselbe, was bei Leibniz die „toten Drucke" -, schlägt er plötzlich um auf die Seite der Cartesianer und findet folgenden Ausweg:
Das Produkt mv kann auch bei verzögerter Bewegung als Kräftemaß gelten, „wenn man im letzteren Falle die Kraft nicht durch die absolute Größe der Hindernisse, sondern durch die Summe der Widerstände dieser Hindernisse mißt. Denn man darf wohl nicht zweifeln, daß diese Summe der Widerstände der Bewegungsgröße" (mv) „proportional ist, da, wie jedermann zugibt, die Bewegungsgröße, welche der Körper in jedem Augenblicke verliert, dem Produkt aus dem Widerstand und der unendlich kleinen Zeitdauer proportional und die Summe dieser Produkte augenscheinlich der Ausdruck für den ganzen Widerstand ist." Diese letztere Berechnungsweise scheint ihm die natürlichere, „denn ein Hindernis ist ein solches, nur so lange es Widerstand leistet, und der richtige Ausdruck für das überwundene Hindernis ist die Summe seiner Widerstände. Man hat übrigens, wenn man die Kraft in dieser Weise mißt, den Vorteil, für Gleichgewicht und verzögerte Bewegung ein gemeinsames Maß zu haben." Doch könne das jeder halten, wie er wolle, [p. XX/XXI.P19]
Und nachdem er so, wie selbst Suter zugibt, mit einem mathematischen Bock die Frage gelöst glaubt, schließt er mit unliebsamen Bemerkungen über die Konfusion, die bei seinen Vorgängern geherrscht, und behauptet,
nach obigen Bemerkungen sei nur noch eine sehr futile metaphysische Diskussion oder gar ein noch unwürdigerer bloßer Wortstreit möglich. D'Alemberts Versöhnungsvorschlag läuft auf folgende Rechnung hinaus: Masse 1 mit Geschwindigkeit 1 schließt 1 Springfeder in der Zeiteinheit.
Masse 1 mit Geschwindigkeit 2 schließt 4 Federn, braucht dazu aber 2 Zeiteinheiten, also in der Zeiteinheit nur 2 Federn.
Masse 1 mit Geschwindigkeit 3 schließt 9 Federn in drei Zeiteinheiten, also in der Zeiteinheit nur 3 Federn.
Dividieren wir also die Wirkung durch die dazu erforderte Zeit, so kommen wir von mv2 wieder auf mv. Es ist dasselbe Argument, das namentlich Catelan[220] schon früher gegen Leibniz angewandt hatte: Ein Körper mit Geschwindigkeit 2 steigt allerdings gegen die Schwere viermal so hoch als einer mit Geschwindigkeit 1; aber er braucht auch die doppelte Zeit dazu; folglich ist die Bewegungsmenge durch die Zeit zu dividieren und = 2, nicht = 4. Und dies ist sonderbarerweise auch die Ansicht Suters, der ja dem Ausdruck „lebendige Kraft" allen logischen Sinn genommen und ihm nur einen mathematischen gelassen. Dies ist indes natürlich. Für Suter handelt es sich darum, die Formel mv in ihrer Bedeutung als einziges Maß der Bewegungsmenge zu retten, und deshalb wird mv2 logisch geopfert, um im Himmel der Mathematik verklärt wieder aufzuerstehn. Soviel ist indes richtig: Die Catelansche Argumentation bildet eine der Brücken, die mv2 mit mv vermittelt, und ist damit von Bedeutung. Die Mechaniker nach d'Alembert nahmen keineswegs seinen Machtspruch an, denn sein schließliches Urteil war ja Zugunsten von mv als Maß der Bewegung. Sie hielten sich eben an den Ausdruck, den er der schon von Leibniz gemachten Unterscheidung von toten und lebendigen Kräften gegeben hatte: Für das Gleichgewicht, also für die Statik, gilt mv; für die gehemmte Bewegung, also für die Dynamik, gilt mv2. Obwohl im ganzen und großen richtig, hat diese Unterscheidung in dieser Form doch nicht mehr logischen Sinn als die bekannte Unter offizier sentscheidung: Im Dienst immer Mir, außerm Dienst immer Mich. Man nimmt sie schweigend an, es ist nun einmal so, wir können es nicht ändern, und wenn in diesem doppelten Maß ein Widerspruch steckt, was können wir dafür? So z.B. Thomson and Tait „A Treatise on Natural Philosophy[221)", Oxford 1867, p. 162:
„Die Quantität der Bewegung, oder die Bewegungsgröße eines starren, ohne Rotation sich bewegenden Körpers ist seiner Masse und zugleich seiner Geschwindigkeit proportional. Eine doppelte Masse oder eine doppelte Geschwindigkeit würde einer doppelten Bewegungsgröße entsprechen." Und gleich dahinter: „Die lebendige Kraft oder kinetische Energie eines in Bewegung befindlichen Körpers ist seiner Masse und zugleich dem Quadrate seiner Geschwindigkeit proportional." E*22] In dieser ganz krassen Form werden die beiden widersprechenden Bewegungsmaße nebeneinander gestellt. Auch nicht der geringste Versuch wird gemacht, den Widerspruch zu erklären, oder auch nur zu vertuschen. Das Denken ist im Buch dieser beiden Schotten verboten, es darf nur gerechnet werden. Kein Wunder, daß wenigstens einer von ihnen» Tait, zu den gläubigsten Christen des gläubigen Schottlands zählt. In Kirchhoffs Vorlesungen über mathematische Mechanik12231 kommen die Formeln mv und mv2 in dieser Form gar nicht vor. Vielleicht hilft uns Helmholtz. In der „Erhaltung der Kraft"12241 schlägt /ni)2 er vor, die lebendige Kraft durch auszudrücken, ein Punkt, auf den
wir noch zurückkommen. Dann zählt er, S.20ff., die Fälle kurz auf, in
denen das Prinzip von der Erhaltung der lebendigen Kraft ^also von bisher schon benutzt und anerkannt ist. Dazu gehört dann unter Nr.2: „Die Übertragung der Bewegung durch die inkompressiblen festen und flüssigen Körper, sobald nicht Reibung oder Stoß unelastischer Stoffe stattfindet. Unser allgemeines Prinzip wird für diese Fälle gewöhnlich als die Regel ausgesprochen, daß eine durch mechanische Potenzen fortgepflanzte und abgeänderte Bewegung stets in demselben Verhältnis an Kraftintensität abnimmt, als sie an Geschwindigkeit zunimmt. Denken wir uns also durch eine Maschine, in welcher durch irgendeinen Vorgang gleichmäßige Arbeitskraft erzeugt wird, das Gewicht m mit der Geschwindigkeit c gehoben, so wird durch eine andre mechanische Einrichtung das Gewicht nm gehoben werden können, aber nur mit der Geschwindigkeit - , so daß in beiden Fällen die n Quantität der von der Maschine in der Zeiteinheit erzeugten Spannkraft durch mgc darzustellen ist, wo g die Intensität der Schwerkraft darstellt." [S.21.] Also auch hier der Widerspruch, daß eine „Kraftintensität", die im einfachen Verhältnis der Geschwindigkeit ab- und zunimmt, zum Beweise dienen soll für die Erhaltung einer Kraftintensität, die nach dem Quadrat der Geschwindigkeit ab- und zunimmt.
Allerdings zeigt sich hier, daß mv und zur Bestimmung zweier
ganz verschiedner Vorgänge dienen, aber das hatten wir ja längst gewußt, mv2 kann ja nicht = mv sein, es sei denn v — 1. Es handelt sich darum, uns •« ro Vefon AV„ 1, marh en, warum die Bewegung zweierlei Msß hat, eine Sache, die doch auch in der Wissenschaft sonst ebenso unzulässig ist wie im Handel. Versuchen wir es also anders. Nach mv wird also gemessen „eine durch mechanische Potenzen fortgepflanzte und abgeänderte Bewegung";
dies Maß gilt also für den Hebel und alle seine abgeleiteten Formen, Räder, Schrauben etc., kurz für alle Ubertragungsmaschinerie. Nun stellt sich aber durch eine sehr einfache und keineswegs neue Betrachtung heraus, daß hier, soweit mv gilt, auch mv2 seine Geltung hat. Wir nehmen irgendeine mechanische Vorrichtung, an der die Summen der Hebelarme der beiden Seiten sich verhalten wie 4 : 1, an der also ein Gewicht von 1 kg einem von 4 kg das Gleichgewicht hält. Durch einen ganz geringen Kraftzüsatz an dem einen Hebelarm heben wir also 1 kg um 20 Meter; derselbe Kraftzusatz, alsdann am andern Hebelarm angebracht, hebt nun 4 kg um 5 Meter, und zwar sinkt das überwiegende Gewicht in derselben Zeit, die das andre zum Steigen braucht, Massen und Geschwindigkeiten verhalten sich umgekehrt: mv, 1 X 20 = mv', 4x5. Lassen wir dagegen jedes der Gewichte, nachdem es gehoben, frei herabfallen auf das ursprüngliche Niveau, so erlangt das eine. 1 kg. nach durchlaufenem Fallraum von 20 Meter (die Beschleunigung der Schwere hier rund = 10 m, statt 9,81 m gesetzt) eine Geschwindigkeit von 20 Meter; das andre, 4 kg, dagegen nach einem Fallraum von 5 m eine Geschwindigkeit von 10 m[225]. mü2 = 1 x 20 x 20 = 400 = mV2 = 4 x10 x10 = 400. Dagegen sind die Fallzeiten verschieden: Die 4 kg durchlaufen ihre 5 Meter in 1 Sekunde, das 1 kg seine 20 m in 2 Sekunden. Reibung und Luftwiderstand sind hier selbstredend vernachlässigt. Nachdem aber jeder der beiden Körper von seiner Höhe herabgefallen, hat seine Bewegung aufgehört. Hier zeigt sich also mv als Maß einfach übertragner, also fortdauernder, mv3 als Maß verschwundener mechanischer Bewegung. Weiter. Beim Stoß vollkommen elastischer Körper gilt dasselbe: Die Summe dei mv, wie die Summe der mv2 sind vor wie nach dem Stoße unverändert. Beide Maße haben gleiche Geltung.
Nicht so beim Stoß unelastischer Körper. Hier lehren die landläufigen elementaren Lehrbücher (die höhere Mechanik beschäftigt sich fast gar nicht mehr mit solchen Kleinigkeiten), daß ebenfalls nach wie vor dem Stoße die Summe der mv dieselbe sei. Dagegen finde ein Verlust an lebendiger Kraft statt, denn wenn man die Summe der mü2 nach dem Stoße von •der Vor dem Stoß abziehe, so bleibe ein unter allen Umständen positiver Rest; um diesen Betrag (oder dessen Hälfte, je nach der Auffassungsweise) sei die lebendige Kraft durch das gegenseitige Eindringen sowie durch die Formveränderung der stoßenden Körper verringert worden. - Dies letztere ist nun klar und augenscheinlich. Nicht so die erste Behauptung, daß die Summe der mv dieselbe bleibe nach wie vor dem Stoß. Lebendige Kraft ist trotz Suter Bewegung, und wenn ein Teil von ihr verlorengeht, so geht Bewegung verloren. Entweder also drückt mv die Bewegungsmenge hier unrichtig aus, oder die obige Behauptung ist falsch. Überhaupt ist der ganze Lehrsatz aus einer Zeit überkommen, in der man von der Verwandlung der Bewegung noch keine Ahnung hatte, wo also ein Verschwinden von mechanischer Bewegung nur da zugegeben wurde, wo es nicht anders ging. So wird hier die Gleichheit der Summe der mv vor und nach dem Stoß daraus bewiesen, daß ein Verlast oder Gewinn derselben nirgends zugeführt wird. Geben die Körper aber in der ihrer Unelastizität entsprechenden inneren Reibung lebendige Kraft ab, so geben sie auch Geschwindigkeit ab, und die Summe der mv muß nach dem Stoß geringer sein als vorher. Denn es geht doch nicht an, die innere Reibung bei Berechnung der mv zu vernachlässigen, wenn sie bei Berechnung der mü2 so deutlich sich geltend macht. Indes verschlägt dies nichts. Selbst wenn wir den Lehrsatz zugeben und die Geschwindigkeit nach dem Stoß unter der Annahme berechnen, daß die Summe der mv dieselbe geblieben, selbst dann finden wir jene Abnahme der Summe der mv2. Hier also kommen mv und niü2 in Konflikt, und zwar um die Differenz wirklich verschwundener mechanischer Bewegung. Und die Rechnung selbst beweist, daß die Summe der mü2 die Bewegungsmenge richtig, die Summe der mv sie unrichtig ausdrückt. Dies sind so ziemlich alle Fälle, in denen mv in der Mechanik angewandt wird. Sehen wir uns nun einige Fälle an, bei denen mü2 verwandt wird. Wenn eine Kanonenkugel abgefeuert wird, so erschöpft sie auf ihrer Flugbahn eine Bewegungsgröße, die mü2 proportional ist, gleichviel ob sie gegen ein festes Ziel einschlägt oder durch Luftwiderstand und Schwere zum Stillstand kommt. Wenn ein Eisenbahnzug in einen zweiten, stehenden hineinfährt, so ist die Gewalt, mit der dies geschieht, und die entsprechende Zerstörung seinem mv% proportional. Ebenso gilt mv2 bei der
Berechnung jeder zur Überwindung eines Widerstandes erforderlichen mechanischen Kraft. Was heißt aber diese bequeme, den Mechanikern so geläufige Redens» art: Überwindung eines Widerstandes? YV7 • J .. U I- ' -- C ' J-- XV7- J _ J 1 Ol Wenn wir uüiCu neuung eines vjewicins ucn wiuei stand aer ocnwere überwinden, so verschwindet dabei eine Bewegungsmenge, eine Menge mechanischer Kraft, welche gleich ist derjenigen, die wieder erzeugt werden kann durch den direkten oder indirekten Fall des gehobenen Gewichts aus der erlangten Höhe bis herab auf sein ursprüngliches Niveau. Sie wird gemessen durch das halbe Produkt seiner Masse in das Quadrat der im Fall TTltP erlangten Endgeschwindigkeit, —j-. Was ist bei der Hebung also geschehn?
Mechanische Bewegung oder Kraft ist als solche verschwunden. Aber sie ist nicht zu nichts geworden: Sie ist verwandelt worden in mechanische Spannkraft, um Helmholtz' Ausdruck zu gebrauchen; in potentielle Energie, wie die Neueren sagen; in Ergal, wie Clausius es nennt, und diese kann jeden Augenblick, und in jeder beliebigen, mechanisch zulässigen Weise wieder zurückverwandelt werden in dasselbe Quantum mechanischer Bewegung, das zu ihrer Erzeugung notwendig war. Die potentielle Energie ist nur der negative Ausdruck der lebendigen Kraft und umgekehrt. Eine 24pfündige Kanonenkugel schlägt mit einer Geschwindigkeit von 400 Meter in der Sekunde gegen die einen Meter dicke Eisenwand eines Panzerschiffs und hat unter diesen Umständen keine sichtbare Wirkung auf den Panzer * Es ist also eine mechanische Bewegung verschwunden, die
= also, da die 24Zollpfund = 12 kg sind, = 12 X 400 X 400 X */2 = 960 000 Meterkilogramm war. Was ist aus ihr geworden? Ein kleiner Teil von ihr ist verwendet worden zur Erschütterung und molekularen Umsetzung des Eisenpanzers. Ein zweiter zur Zersprengung der Kugel in zahllose Stücke. Aber der größte Teil hat sich in Wärme verwandelt und die Kugel zur Glühhitze erwärmt. Als die Preußen beim Übergang nach Alsen 1864 ihre schweren Batterien gegen die Panzerwände des „Rolf Krake"I226] spielen ließen, sahn sie in der Dunkelheit bei jedem Treffer das Aufblitzen der plötzlich erglühenden Kugel, und Whitworth hatte schon früher durch Versuche bewiesen, daß Sprenggeschosse gegen Panzerschiffe keines Zünders bedürfen; das glühende Metall selbst entzündet die Sprengladung. Das mechanische Äquivalent der Wärmeeinheit zu 424 Meterkilogramm 13271 angenommen, entspricht obiger Menge mechanischer Bewegung eine Wärmemenge von 2264 Einheiten. Die spezifische Wärme des Eisens
ist = 0,1140, d.h. dieselbe Wärmemenge, die l kg Wasser um 1°C erwärmt (die als Wärmeeinheit gilt), reicht hin, um die Temperatur von 1 Q I = 8,772 kg Eisen um 1°C zu erhöhen. Obige 2264 Wärmeeinheiten
erhöhen also die Temperatur von 1 kg Eisen um 8,772 X 2264 = 19 860° oder 19 860 kg Eisen um 1°C. Da sich diese Wärmemenge auf Panzer und j ^ g^Q ° Geschoß gleichmäßig verteilt, würde dieses um 2 x \2 ~ er"hitzt werden, was schon eine ganz hübsche Glühhitze ergibt. Da aber die vordere aufschlagende Seite jedenfalls den weitaus größten Teil der Erhitzung erhält, wohl doppelt soviel als die hintere Hälfte, so würde jene auf 1104°, diese auf 552° C erhitzt, was zur Erklärung des Glüheffekts vollständig hinreicht, selbst wenn wir noch für beim Aufschlag wirklich geleistetes mechanisches Werk einen starken Abzug machen. Bei der Reibung verschwindet ebenfalls mechanische Bewegung, um als Wärme wiederzuerscheinen; durch möglichst genaue Messung der beiden sich entsprechenden Vorgänge gelang es bekanntlich Joule in Manchester und Colding in Kopenhagen, zuerst das mechanische Äquivalent der Wärme experimentell annähernd festzustellen. Ebenso bei der Erzeugung eines elektrischen Stroms in einer magnetoelektrischen Maschine vermittelst mechanischer Kraft, z.B. einer Dampfmaschine. Die in einer bestimmten Zeit erzeugte Menge sog. elektromotorischer Kraft istproportional und, wenn in demselben Maß ausgedrückt, gleich der in derselben Zeit verbrauchten Menge mechanischer Bewegung. Diese können wir uns erzeugt denken, statt durch die Dampfmaschine, durch ein sinkendes Gewicht, das dem Druck der Schwere folgt. Die mechanische Kraft, die dies abzugeben imstande ist, wird gemessen durch die lebendige Kraft, die es erhalten würde, wenn es durch die gleiche Höhe frei fiele, oder durch die Kraft, die erforderlich, um es auf die ursprüngliche Höhe
wieder zu heben: beide Male —. Wir finden also, daß die mechanische Bewegung allerdings ein doppeltes Maß hat, aber auch, daß jedes dieser Maße für eine sehr bestimmt abgegrenzte Reihe von Erscheinungen gilt. Wenn schon vorhandene mechanische Bewegung derart übertragen wird, daß sie als mechanische Bewegung erhalten bleibt, so überträgt sie sich nach dem Verhältnis des Produkts der Masse in die Geschwindigkeit. Wird sie aber derart übertragen, daß sie als mechanische Bewegung verschwindet, um in der Form von potentieller Energie, von Wärme, von Elektrizität usw. neu zu erstehn, wird sie mit
einem Wort in eine andre Form der Bewegung verwandelt, so ist die Menge dieser neuen Bewegungsform proportional dem Produkt der ursprünglich bewegten Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit. Mit einem Wort: mv 2 ist mechanische Bewegung, gemessen in mechanischer Bewegung: ist "" ~ L • mechanische Bewegung, gemessen an ihrer Fähigkeit, sich in ein bestimmtes Quantum einer andern Bewegungsform zu verwandeln. Und daß diese beiden Maße, weil verschieden, sich dennoch nicht widersprechen, haben wir gesehn. Es stellt sich somit heraus, daß der Streit Leibniz' mit den Cartesianern keineswegs ein bloßer Wortstreit war, und daß d'Alemberts „Machtspruch" in der Tat gar nichts erledigte. D'Alembert hätte sich seine Tiraden über die Unklarheit seiner Vorgänger ersparen können, denn er war ebenso unklar wie sie. Und in der Tat, solange man nicht wußte, was aus der scheinbar vernichteten mechanischen Bewegung wird, mußte man im unklaren bleiben. Und solange mathematische Mechaniker wie Suter hartnäckig in den vier Wänden ihrer Spezialwissenschaft befangen bleiben, solange bleiben sie auch ebenso unklar wie d'Alembert und müssen uns mit leeren und widerspruchsvollen Redensarten abspeisen. Wie aber drückt die moderne Mechanik diese Verwandlung von mechanischer Bewegung in eine andre, ihr der Menge nach proportionelle Form der Bewegung aus? - Sie hat Arbeit geleistet, und zwar soundso viel Arbeit. Aber der Begriff Arbeit im physikalischen Sinn ist hiermit nicht erp/>i» Ärvff \Y/ö«r» tina IM rla?« Fsomrv^ l/olns'ic/'knn IY/KS'WSÖ «M - 'IVPI LE VV V/1111) YV 1U III UV1 11£S1 ~ VUV/L 1VW1V1 LOVLLOLL 111UOV1U11U 9 »F CL£ JLLLV IIA mechanische Bewegung, also Molekularbewegung in Massenbewegung umgesetzt wird, wenn Wärme eine chemische Verbindung löst, wenn sie in der Thermosäule sich in Elektrizität verwandelt, wenn ein elektrischer Strom die Elemente des Wassers aus verdünnter Schwefelsäure abscheidet, oder umgekehrt die bei dem chemischen Prozeß einer Erregerzelle freigesetzte Bewegung (alias Energie) die Form von Elektrizität annimmt, und diese wiederum im Schließungskreis sich in Wärme umsetzt - bei allen diesen Vorgängen verrichtet die Bewegungsform, die den Prozeß einleitet und durch ihn in eine andre verwandelt wird, Arbeit, und zwar ein ihrer eignen Menge entsprechendes Quantum. Arbeit ist also Formwechsel der Bewegung, betrachtet nach seiner quantitativen Seite hin. Aber wie? Wenn ein gehobnes Gewicht oben ruhig hängen bleibt, ist seine potentielle Energie, während der Ruhe, auch eine Form der Bewegung? Allerdings. Sogar Tait ist bei der Überzeugung angekommen, daß
potentielle Energie demnächst sich in eine Form aktueller Bewegung auflösen werde („Nature")[2a8]. Und abgesehen davon geht Kirchhoff noch viel weiter, wenn er sagt („Math. [Physik.] Mech.", S.32): „Die Ruhe ist ein spezieller Fall der Bewegung", und damit beweist, daß er nicht nur rechnen, sondern auch dialektisch denken kann. Der Begriff der Arbeit, der uns ohne mathematische Mechanik als so schwer faßbar geschildert wurde, hat sich uns also ganz nebenbei, spielend und fast von selbst, aus der Betrachtung der beiden Maße der mechanischen Bewegung ergeben. Und jedenfalls wissen wir jetzt mehr davon, als wir aus dem Vortrag Helmholtz' „Über die Erhaltung der Kraft" von 1862 erfahren, und worin er grade „die physikalischen Grundbegriffe der Arbeit und ihrer Unveränderlichkeit möglichst klarzumachen" [Vorrede, S.VI] bezweckt. Alles was wir von der Arbeit da erfahren, ist, daß sie etwas ist, was in Fußpfunden oder auch Wärmeeinheiten ausgedrückt wird, und daß die Zahl dieser Fußpfunde oder Wärmeeinheiten für ein bestimmtes Quantum Arbeit unveränderlich ist. Ferner, daß außer mechanischen Kräften und Wärme auch chemische und elektrische Kräfte Arbeit leisten können, daß aber alle diese Kräfte ihre Arbeitsfähigkeit erschöpfen in dem Maß, als sie Arbeit wirklich hervorbringen. Und daß daraus folgt: daß die Summe der wirkungsfähigen Kraftmengen im Naturganzen bei allen Veränderungen in der Natur ewig und unverändert dieselbe bleibt. Der Begriff der Arbeit wird weder entwickelt noch auch nur definiert.* Und es ist grade die quantitative Unveränderlichkeit der Arbeitsgröße, die ihm die Einsicht verbirgt, daß die qualitative Veränderung, der Formwechsel, Grundbedingung aller physikalischen Arbeit ist. Und so kann sich denn Helmholtz zu der Behauptung versteigen:
„Reibung und unelastischer Stoß sind Vorgänge, bei denen mechanische Arbeit Vernichtet^ und dafür Wärme erzeugt wird." („Pop. Vortr.", II, S. 166.) Ganz im Gegenteil. Hier wird nicht mechanische Arbeit vernichtet, hier
* Nicht weiter kommen wir, wenn wir Clerk Maxwell konsultieren. Dieser sagt („Theory of Heat", 4th ed., London 1875), S.87: „Work is done when resistance is overcome"1 und S.185: „The energy of a body is its capacity for doing work"2. Das ist alles, was wir darüber erfahren.
1 „Arbeit wird geleistet, wenn Widerstand überwunden wird" - 2 „Die Kraft eines Körpers ist seine Fähigkeit, Arbeit zu leisten" - 3 Hervorhebung von Engels
wird mechanische Arbeit getan. Mechanische Bewegung ist es, die scheinbar vernichtet wird. Aber mechanische Bewegung kann nie und nimmer für ein Milliontel Meterkilogramm Arbeit tun, ohne als solche scheinbar vernichtet zu werden, ohne sich in eine andre Form der Bewegung zu verwandeln. Das Arbeitsvermögen nun, das in einer bestimmten Menge mechanischer Bewegung steckt, heißt, wie wir gesehn haben, ihre lebendige Kraft und wurde bis vor kurzem gemessen durch mv2. Hier aber entstand ein neuer Widerspruch. Hören wir Helmholtz („Erh. d. Kraft", S.9). Hier heißt es, die Arbeitsgröße sei ausdrückbar durch ein in die Höhe h gehobnes Gewicht m, wo dann, die Schwerkraft durch g ausgedrückt, die Arbeitsgröße = mgh ist. Um senkrecht frei in die Höhe h zu steigen, braucht die Geschwindigkeit v = }'2gh, und erlangt dieselbe wieder beim Herabfallen. mv2 Also ist mgh = und Helmholtz schlägt vor, „gleich die Größe 1/2 mV2 als Quantität der lebendigen Kraft zu bezeichnen, wodurch sie identisch wird mit dem Maß der Arbeitsgröße. Für die bisherige Anwendung des Begriffs der lebendigen Kraft ... ist diese Abänderung ohne Bedeutung, während sie uns im folgenden wesentliche Vorteile gewähren wird." Es ist kaum zu glauben. So wenig klar war sich Helmholtz 1847 über die gegenseitige Beziehung von lebendiger Kraft und Arbeit, daß er gar nicht einmal merkt, wie er das frühere proportionelle Maß der lebendigen Kraft in ihr absolutes verwandelt; daß ihm ganz unbewußt bleibt, welche bedeutende Entdeckung er mit seinem kühnen Griff gemacht, und er sein mv2 ~2~ nur aus Bequemlichkeitsrücksichten empfiehlt gegenüber dem mv2! mv2 Und aus Bequemlichkeit haben die Mechaniker das -y- sich einbürgern mv2 lassen. Erst allmählich hat man das auch mathematisch bewiesen; eine
algebraische Entwicklung findet sich bei Naumann, „Allg. Chemie", S.7, eine analytische bei Clausius, „Mech. Wärmetheorie", 2. Aufl., I, S. 18, die dann bei Kirchhoff (a.a.O., S.27) anders abgeleitet und ausgeführt wird. mv2 Eine hübsche algebraische Ableitung von —j- aus mo gibt Clerk Maxwell (a.a.O., S.88). Was unsre beiden Schotten Thomson und Tait nicht verhindert zu sagen (a.a.O., S. 163): „Die lebendige Kraft oder kinetische Energie eines in Bewegung befindlichen Körpers ist seiner Masse und zugleich dem Quadrate seiner Geschwindigkeit proportional. Wenn wir die früheren Einheiten der Masse [und der Geschwindigkeit] beibehalten"
( nämlich unit of mass moving with unit velocity1), „so ist es von besonderem Vorteil2, die lebendige Kraft als das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit zu definieren." t229J Hier ist also bei den beiden ersten Mechanikern Schottlands nicht nur das Denken, sondern auch das Rechnen zum Stillstand gekommen. Der particular advantage3, die Handlichkeit der Formel, erledigt alles aufs schönste. Für uns, die wir gesehn haben, daß lebendige Kraft nichts andres ist als das Vermögen einer gegebnen mechanischen Bewegungsmenge, Arbeit zu leisten, für uns ist es selbstverständlich, daß der mechanische Maßausdruck dieses Arbeitsvermögens und der der von ihm wirklich geleisteten
Arbeit einander gleich sein müssen; daß also, wenn die Arbeit mißt,
die lebendige Kraft ebenfalls zum Maß haben muß. Aber so geht's in der Wissenschaft. Die theoretische Mechanik kommt auf den Begriff der lebendigen Kraft, die praktische der Ingenieurs auf den der Arbeit, und zwingt ihn den Theoretikern auf. Und so sehr hat man sich über dem Rechnen des Denkens entwöhnt, daß man jahrelang den Zusammenhang beider TntP nicht erkennt, die eine nach mü2, die andre nach mißt, und endlich für tnifö beide akzeptiert, nicht aus Einsicht, sondern der Einfachheit der Rechnung halber! * * Das Wort Arbeit wie die Vorstellung kommen von den englischen Ingenieuren her. Aber im Englischen heißt die praktische Arbeit work, die Arbeit im ökonomischen Sinn Iabour. Die physikalische Arbeit wird daher auch mit work bezeichnet, und alle Vermischung mit der Arbeit im ökonomischen Sinn ist ausgeschlossen. Dies ist im Deutschen nicht der Fall, und daher sind in der neueren pseudowissenschaftlichen Literatur verschiedne sonderbare Anwendungen der Arbeit im physikalischen Sinn auf ökonomische Arbeitsverhältnisse und umgekehrt möglich geworden. Wir haben aber auch das Wort Werk, das sich wie das englische work ganz vortrefflich zur Bezeichnung der physikalischen Arbeit eignet. Da aber die Ökonomie unsern Naturforschern viel zu weit abliegt, werden sie sich schwerlich entschließen, es statt des einmal eingebürgerten Worts Arbeit einzuführen - es sei denn, wenn es schon zu spät ist. Nur bei Clausius wird der Versuch gemacht, wenigstens neben dem Ausdruck Arbeit den Ausdruck Werk beizubehalten. 1 die Einheit der Masse, die sich mit der Einheit der Geschwindigkeit bewegt - 2 Hervorhebung von Engels - 3 besondere Vorteil
Flutreibung. Kant und Thomson-Tait
Erdrotation und Mondanziehung12301
Thomson and Tait, „Nat. Philos." I, S. 191 (§ 276)[2811:
„Bei allen Körpern, deren freie Oberflächen zum Teil aus einer Flüssigkeit bestehen, wie es bei der Erde der Fall ist, gibt es auch indirekte Widerstände£2321, die aus der Reibung herrühren, welche den Bewegungen der Ebbe und Flut hindernd entgegentritt. Diese Widerstände müssen, solange solche Körper sich in Beziehung auf benachbarte Körper bewegen, ihren relativen Bewegungen beständig Energie entziehen. Wenn wir zunächst die Wirkung betrachten, welche der Mond allein auf die Erde mit ihren Meeren, Seen und Flüssen ausübt, so erkennen wir, daß diese Wirkung die Perioden der Rotation der Erde um ihre Achse und der Umdrehung beider Körper um ihren Trägheitsmittelpunkt gleichzumachen streben muß, da, solange diesePerioden voneinander verschieden sind, die Wirkung der Ebbe und Flut der Erdoberfläche den Bewegungen beider beständig Energie entziehen muß. Um den Gegenstand etwas eingehender zu betrachten, und um zugleich unnötige Verwicklungen zu vermeiden, •wollen wir annehmen, der Mond sei eine gleichförmige Kugel. Die wechselseitige Wirkung und Gegenwirkung zwischen seiner Masse und derjenigen der Erde wird einer einzelnen Kraft äquivalent sein, die in irgendeiner durch seinen Mittelpunkt gehenden Linie wirkt und so beschaffen ist, daß sie die Erdrotation zu hindern strebt, solange diese in einer kürzeren Periode erfolgt als die Beiüegung des Mondes um die Erde1. Sie muß daher in einer Linie wie MQ wirken, also vom Mittelpunkt der Erde um OQ abweichen;
diese Abweichung hat in der Figur bedeutend vergrößert werden müssen. Man kann sich nun die auf den Mond in der Richtung MQ wirklich wirkende Kraft als aus zwei Teilen bestehend vorstellen; die Größe des ersteren Teils, der in der nach dem Mittelpunkt der Erde zu gehenden Linie MO wirkt, weicht nicht merklich von der Größe der ganzen Kraft ab; die Richtung MT der vergleichsweise sehr kleinen zweiten Komponente ist senkrecht zu MO. Dieser letztere Teil ist für die Mondbahn ganz nahezu tangential und wirkt im Sinne der Bewegung des Mondes. Wenn eine solche Kraft plötzlich zu wirken anfinge, so würde sie zunächst die Geschwindigkeit des Mondes vergrößern; nach einer gewissen Zeit würde sich derselbe aber infolge dieser Beschleunigung um eine solche Strecke von der Erde weiter entfernt haben, daß er, da seine Bewegung gegen die Anziehung der Erde erfolgt, so viel Geschwindigkeit verloren hätte, als durch die tangentiale Beschleunigung gewonnen war. Die Wirkung einer ununterbrochen fortdauernden tangentialen Kraft, die im Sinne der Bewegung wirkt, aber von so kleinem Betrage ist, daß sie in jedem Augenblick nur eine kleine Abweichung von der kreisförmigen Form der Bahn zur Folge hat, besteht darin, daß sie allmählich den Abstand vom Zentralkörper vergrößert und bewirkt, daß von der kinetischen Energie der Bewegung wieder so viel verloren wird, als ihre eigene gegen die Anziehung des Zentralkörpers zu leistende Arbeit ausmacht. Man wird die Umstände leicht verstehen, wenn man diese Bewegung um den Zentralkörper in einer sich sehr langsam erweiternden spiralförmigen Bahn betrachtet. Vorausgesetzt, daß die Kraft dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional ist, wird die tangentiale Komponente der Schwere gegen die Bewegung doppelt so groß wie die störende tangentiale Kraft sein, die im Sinne der Bewegung wirkt, und daher wird eine Hälfte der gegen die erstere geleisteten Arbeit durch die letztere und die andere Hälfte durch die der Bewegung entzogene kinetische Energie verrichtet. Die Gesamtwirkung, welche die jetzt betrachtete besondere störende Ursache auf die Bewegung des Mondes hat, erhält man sehr leicht, wenn man das Prinzip der Momente der Bewegungsgrößen in Anwendung bringt. So sehen wir, daß das Moment der Bewegungsgröße, welches in irgendeiner Zeit durch die Bewegungen der Trägheitsmittelpunkte des Mondes und der Er de in Beziehung auf ihren gemeinschaftlichen Trägheitsmittelpunkt gewonnen wird, demjenigen gleich ist, welches durch die Rotation der Erde um ihre Achse verloren wird. Die Summe der Momente der Bewegungsgröße der Trägheitsmittelpunkte des Mondes und der Erde, wie sie sich jetzt bewegen, ist ungefähr 4,45mal so groß wie das gegenwärtige Moment der Bewegungsgröße der Erdrotation. Die mittlere Ebene der ersteren ist die Ekliptik, und daher ist die mittlere Neigung der Achsen der beiden Momente gegeneinander gleich 23° 271/2', welchen Winkel wir, da wir den Einfluß der Sonne auf die Ebene der Mondbewegung hier vernachlässigen, als die wirkliche gegenwärtige Neigung der beiden Achsen annehmen können. Die Resultante oder das ganze Moment der Bewegungsgröße ist daher 5,38mal so groß wie das der jetzigen Erdrotation, und ihre Achse hat gegen die Erdachse eine Neigung von 19° 13'. Das letzte Streben der Ebben und Fluten1 ist also, zu bewirken, daß die Erde und der Mond
mit diesem resultierenden Moment um diese resultierende Achse gleichförmig rotieren, wie wenn sie zwei Teile eines starren Körpers wären: In diesem Zustande würde der Abstand des Mondes von der Erde (näherungsweise) in dem Verhältnis 1: 1,46 vergrößert sein, d.i. in dem Verhältnis des Quadrats des gegenwärtigen Moments der Bewegungsgröße der Trägheitsmittelpunkte zum Quadrat des ganzen Moments der Bewegungsgröße; die Periode der Umdrehung würde im Verhältnis der Kuben derselben Größen, also im Verhältnis 1: 1,77 vergrößert sein. Der Abstand würde also auf 347 100 englische Meilen und die Periode auf 48,36 Tage gestiegen sein. Gäbe es außer der Erde und dem Monde keine anderen Körper im Weltall, so könnten diese beiden Körper sich in dieser Weise ewig in kreisförmigen Bahnen um ihren gemeinschaftlichen Trägheitsmittelpunkt weit er bewegen, und während eines Umlaufs würde die Erde eine Rotation um ihre Achse vollenden, so daß sie stets dieselbe Seite dem Monde zukehrte, daß also alle flüssigen Teile ihrer Oberfläche in Beziehung auf die festen Teile in Ruhe blieben. Aber die Existenz der Sonne würde verhindern, daß ein solcher Zustand der Dinge von Dauer wäre. Es würde nämlich Sonnenfluten geben, zweimal hohen und zweimal niedrigen Wasserstand in der Periode der Rotation der Erde in Beziehung auf die Sonne (d.h. zweimal im Sonnentage oder, was dasselbe sein würde, im Monat). Dies könnte nicht vor sich gehen, ohne daß durch die Reibung der Flüssigkeit Energie verloren würde1. Es ist nicht leicht, den ganzen Verlauf der Störung in den Bewegungen der Erde und des Mondes zu skizzieren, welche diese Ursache erzeugen würde; aber schließlich würde sie zur Folge haben, daß Erde, Mond und Sonne um ihren gemeinschaftlichen Trägheitsmittelpunkt wie Teile eines starren Körpers rotierten." Kant stellte 1754 zuerst die Ansicht auf, daß die Rotation der Erde durch die Flutreibung verzögert, und diese Wirkung erst vollendet sein werde. „wenn ihre" (der Erde) „Oberfläche in Ansehung des I\^ondes sn respektiver Ruhe sein wird, d.i., wenn sie sich in derselben Zeit um die Achse drehen wird, darin der Mond um sie läuft, folglich ihm immer dieselbe Seite zukehren wird'" C203]. Er war dabei der Ansicht, daß diese Verzögerung nur der Flutreibung, also dem Vorhandensein flüssiger Massen auf der Erde, ihren Ursprung verdanke, „Wenn die Erde eine ganz feste Masse ohne alle Flüssigkeiten wäre, so würde die Anziehung weder der Sonne, noch des Mondes etwas tun, ihre freie Achsendrehung zu verändern; denn sie zieht die östlichen sowohl als die westlichen Teile der Erdkugel mit gleicher Kraft und verursacht dadurch keinen Hang weder nach der einen noch nach der andern Seite; folglich läßt sie die Erde in völliger Freiheit, diese Umdrehung so wie ohne allen äußerlichen Einfluß ungehindert fortzusetzen." Mit diesem Resultat durfte Kant sich begnügen. Tiefer in die Einwirkung des Mondes auf die Erdrotation einzudringen, dazu fehlten damals
alle wissenschaftlichen Vorbedingungen. Hat es doch fast hundert Jahre bedurft» bis Kants Theorie zur allgemeinen Anerkennung kam, und noch länger, bis man entdeckte, daß Ebbe und Flut nur die sichtbare Seite einer die Erdrotation beeinflussenden Wirkung der Attraktion von Sonne und Mond sind. Diese allgemeinere Auffassung der Sache ist eben von Thomson und Tait entwickelt. Nicht allein auf die Flüssigkeiten des Erdkörpers oder seiner Oberfläche, auf die ganze Erdmasse überhaupt wirkt die Anziehung von Mond und Sonne in einer die Erdrotation hemmenden Weise. Solange die Periode der Erdrotation nicht zusammenfällt mit der Periode des Mondumlaufs um die Erde, solange hat die Anziehung des Mondes - um zunächst bei dieser allein zu bleiben - die Wirkung, beide Perioden einander immer mehr anzunähern. Wäre die Rotationsperiode des (relativen) Zentralkörpers länger als die Umlaufszeit des Satelliten, so würde die erstere allmählich verkürzt; ist sie kürzer, wie bei der Erde der Fall, so wird sie verlangsamt. Aber weder wird im einen Fall kinetische Energie aus nichts erschaffen, noch wird sie im andern vernichtet. Im ersten Fall würde der Satellit näher an den Zentralkörper heranrücken und seine Umlaufszeit verkürzen, im zweiten würde er sich weiter von ihm entfernen und eine längere Umlaufszeit erhalten. Im ersten Fall verliert der Satellit durch Annäherung an den Zentralkörper ebensoviel potentielle Energie, als der Zentralkörper bei beschleunigter Rotation an kinetischer Energie gewinnt, im zweiten gewinnt der Satellit durch Vergrößerung seines Abstandes genau dasselbe an potentieller Energie, was der Zentralkörper an kinetischer Energie der Rotation einbüßt. Die Gesamtsumme der im System Erde-Mond vorhandnen dynamischen Energie, potentieller und kinetischer, bleibt dieselbe; das System ist durchaus konservativ. Man sieht, diese Theorie ist vollständig unabhängig von der physikalisch-chemischen Beschaffenheit der betreffenden Körper. Sie leitet sich ab aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen freier Weltkörper, deren Zusammenhang hergestellt wird durch Attraktion im Verhältnis der Massen und im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Abstände. Sie ist augenscheinlich entstanden als eine Verallgemeinerung der Kantschen Theorie von der Flutreibung, und wird uns hier von Thomson und Tait dargestellt sogar als deren Begründung auf mathematischem Weg. Aber in Wirklichkeit und davon haben die Verfasser merkwürdigerweise schlechterdings keine Ahnung in Wirklichkeit schließt sie den Spezialfall der Flutreibung aus. Reibung ist Hemmung von Massenbewegung, und galt jahrhundertelang als Vernichtung von Massenbewegung, also von kinetischer Energie.
Wir wissen jetzt, daß Reibung und Stoß die beiden Formen sind, in denen kinetische Energie sich in Molekularenergie, in Wärme umsetzt. Bei jeder Reibung geht also kinetische Energie als solche verloren, um wiederzuerscheinen nicht als potentielle Energie im Sinne der Dynamik, sondern als Molekularbewegung in der bestimmten Form der Wärme. Die durch Reibung verlorengegangne kinetische Energie ist also zunächst für die dynamischen Beziehungen des betreffenden Systems wirklich verloren. Sie könnte nur dann wieder dynamisch wirksam werden, wenn sie aus der Form der Wärme rückverwandelt würde in kinetische Energie. Wie stellt sich nun der Fall der Flutreibung? Es ist augenscheinlich, daß auch hier die ganze den Wassermassen an der Erdoberfläche durch die Mondanziehung mitgeteilte kinetische Energie in Wärme verwandelt wird, sei es durch Reibung der Wasserteilchen aneinander vermöge der Viskosität des Wassers, sei es durch Reibung an der festen Erdoberfläche und Zerkleinerung der der Flutbewegung sich entgegenstemmenden Gesteine. Von dieser Wärme wird nur der verschwindend kleine Teil wieder in kinetische Energie rückverwandelt, der zur Verdunstung der Wasseroberflächen beiträgt. Aber auch diese verschwindend kleine Menge der vom Gesamtsystem Erde-Mond an einen Teil der Erdoberfläche abgetretenen kinetischen Energie bleibt zunächst an der Erdoberfläche unterworfen den dort geltenden Bedingungen, und diese bereiten aller dort tätigen Energie ein und dasselbe Endschicksal: schließliche Verwandlung in Wärme und Ausstrahlung in den Weltraum. Insofern also die Flutreibung unbestreitbar auf die Erdrotation hemmend wirkt, insofern geht die hierzu verwendete kinetische Energie dem dynamischen System Erde-Mond absolut verloren. Sie kann also nicht innerhalb dieses Systems als dynamische potentielle Energie wiedererscheinen. Mit andern Worten: Von der vermittelst der Mondanziehung auf die Hemmung der Erdrotation verwendeten kinetischen Energie kann als dynamische potentielle Energie ganz wiedererscheinen, also durch entsprechende Vergrößerung des Mondabstands kompensiert werden nur derjenige Teil, der auf die feste Masse des Erdkörpers wirkt. Der Teil dagegen, der auf flüssige Massen der Erde wirkt, kann dies nur, insofern er nicht diese Massen selbst in eine der Erdrotation entgegengerichtete Bewegung versetzt, denn diese Bewegung verwandelt sich ganz in Wärme und geht schließlich durch Ausstrahlung dem System verloren. Was von Flutreibung an der Oberfläche der Erde, gilt ebensosehr von der manchmal hypothetisch angenommenen Flutreibung eines supponierten flüssigen Erdkerns.
Das Eigentümliche an der Sache ist, daß Thomson und Tait nicht merken, wie sie zur Begründung der Theorie von der Flutreibung eine Theorie aufstellen, die von der stillschweigenden Voraussetzung ausgeht, daß die Erde ein durchweg starrer Körper ist und damit jede Möglichkeit einer Flut und also auch einer Flutreibung ausschließt.
Wärme12351
Wie wir sahen, gibt es zweierlei Formen, in denen mechanische Bewegung, lebendige Kraft verschwindet. Die erste ist ihre Verwandlung in mechanische potentielle Energie, durch Hebung eines Gewichts zum Beispiel. Diese Form hat das Eigentümliche, daß sie nicht nur sich in mechanische Bewegung rückverwandeln kann, und zwar in mechanische Bewegung von derselben lebendigen Kraft wie die ursprüngliche, sondern auch, daß sie nur dieses einen Formwechsels fähig ist. Mechanische potentielle Energie kann nie Wärme oder Elektrizität erzeugen, es sei denn, sie gehe vorher in wirkliche mechanische Bewegung über. Es ist, um einen Clausiusschen Ausdruck zu gebrauchen, ein „umkehrbarer Prozeß". Die zweite Form des Verschwindens mechanischer Bewegung findet statt bei Reibung und Stoß - die beide nur dem Grade nach unterschieden sind. Reibung kann gefaßt werden als eine Reihe nach- und nebeneinander vorgehender kleiner Stöße. Stoß als in einem Zeitmoment und auf einen Ort konzentrierte Reibung. Reibung ist chronischer Stoß, Stoß akute Reibung. Die mechanische Bewegung, die hier verschwindet, verschwindet als solche. Sie ist aus sich selbst zunächst nicht wieder herstellbar. Der Prozeß ist nicht unmittelbar umkehrbar. Sie hat sich verwandelt in qualitativ verschiedne Bewegungsformen, in Wärme, in Elektrizität - in Formen der Molekularbewegung. Reibung und Stoß führen also hinüber von der Massenbewegung, dem Gegenstand der Mechanik, zur Molekularbewegung, dem Gegenstand der Physik. Wenn wir die Physik als Mechanik der Molekularbewegung bezeichnet haben1, so wurde dabei nicht übersehn, daß dieser Ausdruck keineswegs das Gebiet der heutigen Physik ganz umfaßt. Im Gegenteil. Die Äther
Schwingungen, die die Erscheinungen des Lichts und der strahlenden Wärme vermitteln, sind sicher keine Molekularbewegungen im heutigen Sinn des Worts. Aber ihre irdischen Wirkungen treffen zunächst die Moleküle: Lichtbrechung, Lichtpolarisation usw. sind bedingt durch die Molekularkonstitution der betreffenden Körper. Ebenso wird jetzt von den bedeutendsten Forschern fast allgemein die Elektrizität als eine Bewegung von Ätherteilchen angesehn, und von der Wärme sogar sagt Clausius, daß an der „Bewegung der ponderablen Atome" (wofür wohl besser Moleküle zu setzen wäre) „... auch der im Körper befindliche Äther teilnehmen kann" („Mech. Wärmetheorie", I, S.22). Aber bei den elektrischen und Wärmeerscheinungen kommen doch wieder in erster Linie Molekularbewegungen in Betracht, wie dies nicht anders sein kann, solange wir über den Äther so wenig wissen. Sind wir aber erst so weit, die Mechanik des Äthers darstellen zu können, so wird sie auch wohl manches umfassen, was heute notgedrungen zur Physik geschlagen wird. Von den physikalischen Vorgängen, bei denen die Struktur der Moleküle verändert oder gar aufgehoben wird, soll später die Rede sein. Sie bilden den Übergang von der Physik zur Chemie. Mit der Molekularbewegung erst erhält der Formwechsel der Bewegung seine volle Freiheit. Während, an der Grenze der Mechanik, die Massenbewegung nur einzelne andre Formen annehmen kann: Wärme oder Elektrizität, sehen wir hier eine ganz andre Lebendigkeit des Formwechsels: Wärme geht über in Elektrizität in der Thermosäule, wird identisch mit dem Licht auf gewisser Stufe der Strahlung, erzeugt ihrerseits wieder mechanische Bewegung; Elektrizität und Magnetismus, ein ähnliches Geschwisterpaar bildend wie Wärme und Licht, schlagen um, nicht nur ineinander, sondern auch in Wärme und Licht und ebenfalls in mechanische Bewegung. Und das nach so bestimmten Maß Verhältnissen, daß wir eine gegebne Menge einer jeden in jeder andern, in Meterkilogrammen, in Wärmeeinheiten, in Volts ausdrücken können[236] und ebenso jedes Maß in jedes andre übersetzen.
Die praktische Entdeckung der Verwandlung mechanischer Bewegung in Wärme* ist so uralt, daß man von ihr den Anfang der Menschheitsgeschichte datieren könnte. Welche Erfindungen von Werkzeugen und Tierzähmung auch vorhergegangen sein mögen, es war das Reibfeuer, wodurch die Menschen zum erstenmal eine leblose Naturkraft in ihren Dienst
preßten. Und wie sehr sich die fast unermeßliche Tragweite dieses Riesenfortschritts ihrem Gefühl einprägte, das zeigt noch der heutige Volksaberglaube. Die Erfindung des Steinmessers, des ersten Werkzeugs, wurde lange Zeit nach Einführung der Bronze und des Eisens noch gefeiert, indem alle religiösen Opferhandlungen mit Steinmessern vollzogen wurden. Nach der jüdischen Sage ließ Josua die in der Wüste gebornen Männer mit Steinmessern beschneiden; Kelten und Germanen gebrauchten nur Steinmesser bei ihren Menschenopfern. Das alles ist längst verschollen. Anders mit dem Reibfeuer. Lange nachdem man andre Arten der Feuererzeugung kannte, mußte alles heilige Feuer bei den meisten Völkern durch Reibung erzeugt sein. Aber bis auf den heutigen Tag besteht der Volksaberglaube in den meisten europäischen Ländern darauf, daß wunderkräftiges Feuer (z.B. unser deutsches Notfeuer12371) nur durch Reibung entzündet sein darf. So daß bis auf unsre Zeit das dankbare Gedächtnis des ersten großen Siegs des Menschen über die Natur im Volksaberglauben, in den Resten heidnischmythologischer Erinnerung der gebildetsten Völker der Welt noch - halb unbewußt - fortlebt. Indes ist der Prozeß beim Reibfeuer noch einseitig. Es wird mechanische Bewegung in Wärme verwandelt. Um den Vorgang zu vervollständigen, muß er umgekehrt, muß Wärme in mechanische Bewegung verwandelt werden. Dann erst ist der Dialektik des Prozesses Genüge geleistet, der Prozeß im Kreislauf erschöpft - wenigstens zunächst. Aber die Geschichte hat ihren eignen Gang, und so dialektisch dieser schließlich auch verlaufen magj so muß die Dialektik doch oft lange genug auf die Geschichte warten. Der Zeitraum muß nach Jahrtausenden zu messen sein, der seit der Entdeckung des Reibfeuers verfloß, bis Hero von Alexandrien (gegen - 120) eine Maschine erfand, die durch den von ihr ausströmenden Wasserdampf in rotierende Bewegung versetzt wurde. Und wieder verflossen fast 2000 Jahre, bis die erste Dampfmaschine, die erste Vorrichtung zur Verwandlung von Wärme in wirklich nutzbare mechanische Bewegung, hergestellt wurde. Die Dampfmaschine war die erste wirklich internationale Erfindung, und diese Tatsache bekundet wieder einen gewaltigen geschichtlichen Fortschritt. Der Franzose Pap in erfand sie, und zwar in Deutschland. Der Deutsche Leibniz, wie immer geniale Ideen um sich streuend ohne Rücksicht darauf , ob ihm oder andern das Verdienst daran zugerechnet würde Leibniz, wie wir jetzt aus Papins Briefwechsel (herausgegeben von Gerland)1238 J wissen, gab ihm die Hauptidee dabei an: die Anwendung von Zylinder und Kolben. Die Engländer Savery und Newcomen erfanden bald darauf ähnliche Maschinen; ihr Landsmann Watt endlich brachte sie, durch
Einführung des getrennten Kondensators, im Prinzip auf den heutigen Standpunkt. Der Kreislauf der Erfindungen war auf diesem Gebiet vollendet : Die Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung war durchgeführt. Was nachher kam, waren Einzelverbesserungen. Die Praxis hatte also in ihrer Weise die Frage von den Beziehungen zwischen mechanischer Bewegung und Wärme gelöst. Sie hatte zuvörderst die erste in die zweite und dann die zweite in die erste verwandelt. Wie aber sah es mit der Theorie aus? Kläglich genug. Obwohl grade im 17. und 18. Jahrhundert die zahllosen Reisebeschreibungen wimmelten von Schilderungen wilder Völker, die keine andre Art der Feuererzeugung kannten als das Reibfeuer, so blieben die Physiker doch davon fast unberührt; und ebenso gleichgültig blieb ihnen im ganzen 18. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 19. die Dampfmaschine. Sie begnügten sich meistens damit, die Tatsachen einfach zu registrieren. Endlich, in den zwanziger Jahren, nahm Sadi Carnot die Sache auf, und zwar in sehr geschickter Weise, so daß seine besten nachher von Clapeyron geometrisch dargestellten Rechnungen bis auf den heutigen Tag bei Clausius und Clerk Maxwell ihre Geltung haben, und er der Sache fast auf den Grund kam. Was ihn verhinderte, sie vollständig zu ergründen, war nicht der Mangel an tatsächlichem Material, es war einzig - eine vorgefaßte falsche Theorie. Und zwar eine falsche Theorie, die den Physikern nicht durch irgendeine bösartige Philosophie aufgenötigt war, sondern eine, die sie mit ihrer eignen, der metaphysisch-philosophierenden so sehr überlegnen, naturalistischen Denkweise herausgeklügelt hatten. Im 17. Jahrhundert galt, wenigstens in England, die Wärme als eine Eigenschaft der Körper, als „eine Bewegung1 besondrer Art" („a motion of a particular kind, the nature of which has never been explained in a satisfactory manner"2). So bezeichnet sie Th. Thomson zwei Jahre vor der Entdeckung der mechanischen Wärmetheorie („Outline of the Sciences of Heat and Electricity", 2nded., London 1840, [p.281]). Aber im 18. Jahrhundert trat mehr und mehr die Auffassung in den Vordergrund, die Wärme sei wie auch das Licht, die Elektrizität, der Magnetismus, ein besondrer Stoff, und alle diese eigentümlichen Stoffe unterschieden sich von der alltäglichen Materie dadurch, daß sie kein Gewicht hätten, Imponderabilien seien.
1 Hervorhebung von Engels - 2 „eine Bewegung besonderer Art, deren Wesen nie auf eipe befriedigende Art erklärt worden ist"
Elektrizität*
Wie die Wärme, nur in andrer Art, besitzt auch die Elektrizität eine gewisse Allgegenwart. Fast keine Veränderung kann auf der Erde vorgehen, ohne daß elektrische Erscheinungen sich dabei nachweisen lassen. Verdunstet Wasser, brennt eine Flamme, berühren sich zwei verschiedne oder verschieden erwärmte Metalle oder Eisen und Kupfervitriollösung usw., so gehn dabei, neben den augenfälligeren physikalischen oder chemischen Erscheinungen, gleichzeitig elektrische Prozesse vor sich. Je genauer wir die verschiedensten Naturvorgänge untersuchen, desto mehr stoßen wir dabei auf Spuren von Elektrizität. Trotz dieser ihrer Allgegenwart, trotz der Tatsache, daß die Elektrizität seit einem halben Jahrhundert immer mehr in den industriellen Dienst des Menschen gepreßt wird, ist sie grade diejenige Bewegungsform, über deren Beschaffenheit noch das größte Dunkel schwebt. Die Entdeckung des galvanischen Stroms ist ungefähr 25 Jahre jünger als die des Sauerstoffs und bedeutet für die Lehre von der Elektrizität mindestens ebensoviel wie jene für die Chemie. Und doch, welcher Unterschied noch heute auf beiden Gebieten! In der Chemie, dank namentlich der Dal ton sehen Entdeckung der Atomgewichte, Ordnung, relative Sicherheit des einmal Errungenen, systematischer, fast planmäßiger Angriff auf das noch uneroberte Gebiet, der regelmäßigen Belagerung einer
* Für das Tatsächliche verlassen wir uns in diesem Kapitel vorwiegend auf Wiedemanns „Lehre vom Galvanismus und Elektromagnetismus", 2 Bde. in3 Abt.,2. Auflage, Braunschweig [1872-11874. In „Nature" 1882, Juni 15., wird auf diesen „admirable treatise"1 hingewiesen, „which in its fortheoming shape, with electrostatics added, will be the greatest experimental treatise on electricity in existence"2. 2391
1 „prächtige Abhandlung" - 2 „die in ihrer Gestalt, in der sie demnächst erscheint, um Elektrostatik vermehrt, die trefflichste experimentelle Abhandlung über Elektrizität sein wird, die existiert"
Festung vergleichbar. In der Elektrizitätslehre ein wüster Ballast von alten, unsichern, weder endgültig bestätigten, noch endgültig umgestoßnen Experimenten; ein ungewisses Herumtappen im Dunkeln, ein zusammenhangloses Untersuchen und Experimentieren vieler einzelnen,die das unbekannte Gebiet zersplittert angreifen, wie ein nomadischer Reiterschwarm angreift. Aber freilich, eine Entdeckung wie die Daltonsche, die der gesamten Wissenschaft einen Mittelpunkt und der Untersuchung eine feste Basis verschafft, ist auf dem Gebiet der Elektrizität noch zu machen. Es ist wesentlich dieser die Feststellung einer umfassenden Theorie einstweilen unmöglich machende, zerfahrene Stand der Elektrizitätslehre, der es bedingt, daß auf diesem Gebiet die einseitige Empirie vorherrscht, jene Empirie, die sich das Denken möglichst selbst verbietet, und die eben deshalb nicht nur falsch denkt, sondern auch nicht imstande ist, den Tatsachen treu zu folgen oder nur sie treu zu berichten, die also in das Gegenteil von wirklicher Empirie umschlägt. Wenn überhaupt denjenigen Herren Naturforschern, die den tollen aprioristischen Spekulationen der deutschen Naturphilosophie nicht Übles genug nachsagen können, die Lektüre zu empfehlen ist nicht nur gleichzeitiger, sondern selbst noch späterer theoretisch-physikalischer Schriften der empirischen Schule, so gilt dies ganz besonders von der Elektrizitätslehre. Nehmen wir eine Schrift aus dem Jahre 1840: „An Outline of the Sciences of Heat and Electricity" by Thomas Thomson. Der alte Thomson war ja seinerzeit eine Autorität; er hatte zudem schon einen sehr bedeutenden Teil der Arbeiten des bisher größten Elektrikers Faraday zur Verfügung. Und doch enthält sein Buch mindestens ebenso tolle Sachen wie der betreffende Abschnitt der viel älteren Hegeischen Naturphilosophie. Die Beschreibung des elektrischen Funkens z.B. könnte direkt aus der entsprechenden Stelle bei Hegel übersetzt sein. Beide zählen alle die Wunderlichkeiten auf, die man vor der Erkenntnis der wirklichen Beschaffenheit und vielfachen Verschiedenheit des Funkens in diesem entdecken wollte, und die jetzt meist als Spezialfälle oder Irrtümer nachgewiesen sind. Noch besser. Thomson erzählt S.416 ganz ernsthaft die Räubergeschichten von Dessaignes, nach denen bei steigendem Barometer und fallendem Thermometer Glas, Harz, Seide etc. durch Eintauchen in Quecksilber negativ elektrisch werden, bei fallendem Barometer und steigender Temperatur dagegen positiv; daß Gold und mehrere andre Metalle im Sommer durch Erwärmen positiv, durch Abkühlen negativ werden, im Winter umgekehrt; daß sie bei hohem Barometer und nördlichem Wind stark elektrisch sind, positiv bei steigender, negativ bei fallender Temperatur usw. Soviel für die Behand
iung des Tatsächlichen. Was aber die aprioristische Spekulation angeht, so gibt Thomson uns folgende Konstruktion des elektrischen Funkens zum besten, die von keinem Geringeren herrührt als von Faraday selbst:
„Der Funke ist eine Entladung oder Abschwächung des polarisierten Induktionszustandes vieler dielektrischen Teilchen vermittelst einer eigentümlichen Aktion einiger wenigen dieser Teilchen, die einen sehr kleinen und begrenzten Raum einnehmen. Faraday nimmt an, daß die wenigen Teilchen, an denen die Entladung stattfindet, nicht nur auseinandergeschoben werden, sondern einen eigentümlichen, höchst aktiven" (highly exalted) „Zustand temporär annehmen; das heißt, daß alle sie umgebenden Kräfte nacheinander auf sie geworfen werden und sie dadurch in eine entsprechende Intensität des Zustandes versetzt werden, die vielleicht derjenigen sich chemisch verbindender Atome gleichkommt; daß sie dann jene Kräfte entladen, ähnlich wie jene Atome die ihrigen, auf eine uns bis jetzt unbekannte Weise, und so das Ende des Ganzen" (and so the end of the whole). „Die schließliche Wirkung ist genau, als ob ein metallisches Teilchen an die Stelle des entladenden Teilchens getreten wäre, und es scheint nicht unmöglich, daß die Aktionsprinzipien in beiden Fällen sich einst als identisch erweisen."t240! „Ich habe", setzt Thomson hinzu, „diese Erklärung Faradays in seinen eigenen Worten gegeben, weil ich sie nicht klar verstehe." la41J
Dies wird nun auch wohl andern Leuten ebenso gegangen sein, gerade« sogut, wie wenn sie bei Hegel lesen, im elektrischen Funken gehe
„die besondre Materiatur des gespannten Körpers noch nicht in den Prozeß ein, sondern ist darin nur elementarisch und seelenhaft bestimmt", und die Elektrizität sei „der eigene Zorn, das eigene Aufbrausen des Körpers", sein „zorniges Selbst", das „an jedem V-A*.— i—.— -—:_«. t M.*. u:.« s iha v i._\ i WII^TI IIU ri>iUM., VVCIIH SI CUI NUU ^„AIAIUIPIIIIUAUPIHC , JJ ^U9AU/>
Und doch ist der Grundgedanke bei Hegel und Faraday derselbe. Beide sträuben sich gegen die Vorstellung, als sei die Elektrizität nicht ein Zustand der Materie, sondern eine eigne, aparte Materie. Und da im Funken anscheinend die Elektrizität selbständig, frei, von allem fremden materiellen Substrat abgesondert und dennoch sinnlich wahrnehmbar auftritt, kommen sie beim damaligen Stand der Wissenschaft in die Notwendigkeit, den Funken als die verschwindende Erscheinungsform einer von aller Materie momentan befreiten „Kraft" auffassen zu müssen. Für uns ist das Rätsel freilich gelöst, seitdem wir wissen, daß zwischen Metallelektroden bei der Funkenentladung wirklich „metallische Teilchen" überspringen, und also „die besondre Materiatur des gespannten Körpers" in der Tat „in den Prozeß eingeht". Wie Wärme und Licht, so wurden bekanntlich auch Elektrizität und Magnetismus anfangs als besondre imponderable Materien aufgefaßt. Bei
der Elektrizität kam man bekanntlich bald dahin, sich zwei entgegengesetzte Materien, zwei „Fluida" vorzustellen, ein positives und ein negatives, die sich in normalem Zustand gegenseitig neutralisierten, bis sie durch eine sogenannte „elektrische Scheidungskraft" voneinander getrennt würden, Man könne dann zwei Körper, den einen mit positiver, den andern mit negativer Elektrizität laden; bei Verbindung beider durch einen dritten, leitenden Körper finde dann die Ausgleichung statt, je nach Umständen entweder plötzlich oder vermittelst eines dauernden Stromes. Die plötzliche Ausgleichung erschien sehr einfach und einleuchtend, aber der Strom bot Schwierigkeiten. Der einfachsten Hypothese, als bewege sich im Strom jedesmal entweder bloß positive oder bloß negative Elektrizität, stellten Fechner und in ausführlicherer Entwicklung Weber die Ansicht gegenüber, daß im Schließungskreis jedesmal zwei gleiche, in entgegengesetzter Richtung fließende Ströme von positiver und negativer Elektrizität nebeneinander in Kanälen strömen, die zwischen den ponderablen Molekülen der Körper liegen. Bei der weitläufigen mathematischen Ausarbeitimg dieser Theorie kommt Weber endlich auch dahin, eine hier gleichgültige Funktion 1 ... 1 mit einer Größe —zu multiplizieren, welches — „das Verhältnis der Elektri-> zitätseinheit zum Milligrammbedeutet (Wiedemann „Lehre vom Galvanismus etc.", 2.Aufl., III, S.569). Das Verhältnis zu einem Gewichtsmaß kann natürlich nur ein Gewichtsverhältnis sein. So sehr hatte die einseitige Empirie also schon über dem Rechnen das Denken verlernt, daß sie die imponderable Elektrizität hier bereits ponderabel weiden läßt und ihr Gewicht in die mathematische Rechnung einführt. Die von Weber abgeleiteten Formeln genügten nur innerhalb gewisser Grenzen, und namentlich hat Helmholtz noch vor wenigen Jahren Resultate herausgerechnet, die mit dem Satz von der Erhaltung der Energie in Konflikt kommen. Der Weberschen Hypothese vom entgegengerichteten Doppelstrom stellte C. Neumann 1871 die andre gegenüber, daß nur die eine der beiden Elektrizitäten, beispielsweise die positive, sich im Strom bewege, die andre, negative, aber mit der Masse des Körpers fest verbunden sei. Hieran schließt sich bei Wiedemann die Bemerkung:
„Diese Hypothese könnte man mit der Weberschen vereinen, wenn man zu dem von Weber supponierten Doppelstrom der entgegengesetzt fließenden elektrischen
Massen -\-\re noch einen nach außen unwirksamen Strom neutraler Elektrizität1 hin2
zufügte, der in der Richtung des positiven Stromes die Elektrizitätsmengen + — e mit
sich führte." (III, S.[576/]577.) Dieser Satz ist wieder bezeichnend für die einseitige Empirie. Um die n 1 . • • . C- •• I • i i meKtrizitat uoernaupt zum btromen zu Dringen, wira sie in positive una negative zerlegt. Aber alle Versuche, mit diesen beiden Materien den Strom zu erklären, stoßen auf Schwierigkeiten; sowohl die Annahme, daß jedesmal nur die eine im Strom vorhanden sei, wie die, daß beide gleichzeitig gegeneinander strömen, und endlich auch die dritte, daß die eine ströme und die andre ruhe. Wenn wir bei dieser letzten Annahme stehnbleiben — wie erklären wir uns die unerklärliche Vorstellung, daß die negative Elektrizität, die in der Elektrisiermaschine und der Leidner Flasche doch beweglich genug ist, im Strom fest mit der Masse des Körpers verbunden sei? Ganz einfach. Wir lassen neben dem positiven Strom + e, der nach rechts, und dem negativen Strom — e, der nach links den Draht durchfließt, noch einen dritten Strom neutraler Elektrizität i "2 e nach rechts fließen. Erst nehmen wir an, daß die beiden Elektrizitäten, um überhaupt fließen zu können, voneinander getrennt sein müssen; und um die beim Fluß der getrennten Elektrizitäten auftretenden Erscheinungen zu erklären, nehmen wir an, daß sie auch ungetrennt fließen können. Erst machen wir eine Voraussetzung, um eine gewisse Erscheinung zu erklären, und bei der ersten Schwierigkeit, auf die wir stoßen, machen wir eine zweite Voraussetzung, die die erste direkt aufhebt. ^X'ric muß die Philosophie beschaffen sein, über die diese Herren ein Recht haben, sich zu beklagen? Neben diese Ansicht von der Materialität der Elektrizität trat indes bald eine zweite, wonach sie als ein bloßer Zustand der Körper, eine „Kraft" oder, wie wir heute sagen würden, ais eine besondre Form der Bewegung gefaßt wurde. Wir sahen oben, daß Hegel und später Faraday diese Auffassung teilten. Seitdem die Entdeckung des mechanischen Äquivalents der Wärme die Vorstellung eines besondern „W'ärmestoffs" endgültig beseitigt und die Wärme als eine Molekularbewegung nachgewiesen hatte, war der nächste Schritt, die Elektrizität ebenfalls nach der neuen Methode zu behandeln und die Bestimmung ihres mechanischen Äquivalents zu versuchen. Dies gelang vollkommen. Namentlich durch die Versuche von Joule, Favre und Raoult wurde nicht nur das mechanische und thermische Äquivalent der sogenannten „elektromotorischen Kraft" des galvanischen Stroms festgestellt, sondern auch ihre vollständige Äquivalenz mit der durch chemische Prozesse in der Erregerzelle freigesetzten oder in der Zersetzungszelle ver
brauchten Energie. Die Annahme, die Elektrizität sei ein besondres materielles Fluidum, wurde hierdurch immer unhaltbarer. Indes war die Analogie zwischen Wärme und Elektrizität doch nicht vollkommen. Der galvanische Strom unterschied sich immer noch in sehr wesentlichen Stücken von der Wärmeleitung. Es war noch immer nicht zu sagen, was sich denn in den elektrisch affizierten Körpern bewege. Die Annahme einer bloßen Molekularschwingung wie bei der Wärme erschien ungenügend. Es blieb schwer, bei der ungeheuren, diejenige des Lichts noch übertreffenden Bewegungsgeschwindigkeit der Elektrizität[242] über die Vorstellung hinwegzukommen, daß zwischen den Körpermolekülen sich hier irgend etwas Stoffliches bewege. Hier treten nun die neuesten Theorien von Clerk Maxwell (1864), Hankel (1865), Reynard (1870) und Edlund (1872) einstimmig mit der schon 1846 zuerst von Faraday vermutungsweise ausgesprochen Annahme auf, daß die Elektrizität eine. Bewegung eines den ganzen Raum und somit auch alle Körper durchdringenden elastischen Mediums sei, dessen diskrete Teilchen sich nach dem Gesetz des umgekehrten Quadrats der Entfernung abstoßen, also mit andern Worten, eine Bewegung der Ätherteilchen, und daß die Körpermoleküle an dieser Bewegung teilnehmen. Über die Art dieser Bewegung weichen die verschiednen Theorien voneinander ab; diejenigen von Maxwell, Hankel und Reynard, sich an die neueren Untersuchungen über Wirbelbewegungen anlehnend, erklären sie in verschiedner Weise ebenfalls aus Wirbeln, so daß auch die Wirbel des alten Descartes auf stets neuen Gebieten wieder zu Ehren kommen. Wir enthalten uns, auf die Einzelheiten dieser Theorien näher einzugehn. Sie weichen stark untereinander ab und werden sicher noch viele Umwälzungen erfahren. Aber ein entschiedner Fortschritt scheint in ihrer gemeinsamen Grundanschauung zu liegen: daß die Elektrizität eine auf die Körpermoleküle rückwirkende Bewegung der Teilchen des alle ponderable Materie durchdringenden Lichtäthers ist. Diese Auffassung versöhnt die beiden früheren. Nach ihr bewegt sich allerdings bei den elektrischen Erscheinungen etwas Stoffliches, von der ponderablen Materie Verschiedenes. Aber dies Stoffliche ist nicht die Elektrizität selbst, die vielmehr in der Tat sich als eine Form der Bewegung erweist, wenn auch nicht als eine Form der unmittelbaren, direkten Bewegung der ponderablen Materie. Während die Äthertheorie einerseits einen Weg zeigt, über die primitiv plumpe Vorstellung von zwei entgegengesetzten elektrischen Fluiden hinauszukommen, gibt sie andrerseits Aussicht aufzuklären, was das eigentliche stoffliche Substrat der elektrischen Bewegung ist, was das für ein Ding ist, dessen Bewegung die elektrischen Erscheinungen hervorruft.
Einen entschiednen Erfolg hat die Äthertheorie bereits gehabt. Bekanntlich besteht wenigstens ein Punkt, wo die Elektrizität direkt die Bewegung des Lichtes ändert: Sie dreht seine Polarisationsebene. Clerk Maxwell, gestützt auf seine obige Theorie, berechnet, daß das elektrische spezifische Verteilungsvermögen eines Körpers gleich ist dem Quadrat seines Lichtbrechungsindexes . Boltzmann hat nun verschiedne Nichtleiter auf ihren Dielektrizitätskoeffizienten untersucht und gefunden, daß bei Schwefel, Kolophonium und Paraffin die Quadratwurzel aus diesem Koeffizienten gleich war ihrem Lichtbrechungsindex. Die höchste Abweichung - bei Schwefel - betrug nur 4%. Somit ist speziell die Maxwellsche Äthertheorie also experimentell bestätigt worden. Es wird indes noch eine geraume Zeit dauern und viel Arbeit kosten, bis neue Versuchsreihen aus diesen, ohnehin einander widersprechenden, Hypothesen einen festen Kern herausgeschält haben. Bis dahin oder bis auch die Äthertheorie etwa durch eine ganz neue verdrängt wird, befindet sich die Lehre von der Elektrizität in der unangenehmen Lage, sich einer Ausdrucksweise bedienen zu müssen, von der sie selbst zugibt, daß sie falsch ist. Ihre ganze Terminologie beruht noch auf der Vorstellung der beiden elektrischen Flui da. Sie spricht noch ganz ungeniert von „in den Körpern fließenden elektrischen Massen", von „einer Scheidung der Elektrizitäten in jedem Molekül" usw. Es ist dies ein Übelstand, der großenteils, wie gesagt, unvermeidlich aus dem gegenwärtigen Übergangszustand der Wissenschaft folgt, der aber auch, bei der grade in diesem Zweige der Fnrcpliiino vnrliprYcrlipndpn s»ir> sei frieren F.rrmirie nirVit wnic? •ynr F.rhal« tung der bisherigen Gedankenverwirrung beiträgt. Der Gegensatz von sog. statischer oder Reibungselektrizität und dynamischer Elektrizität oder Galvanismus darf nun wohl als vermittelt angesehn werden, seitdem man gelernt hat, mit der Elektrisiermaschine dauernde Ströme zu erzeugen und, umgekehrt, durch den galvanischen Strom sog. statische Elektrizität zu produzieren, Leidner Flaschen zu laden usw. Wir lassen hier die Unterform der statischen Elektrizität unberührt und ebenso den jetzt ebenfalls als eine Unterform der Elektrizität erkannten Magnetismus. Die theoretische Erklärung der hierhergehörigen Erscheinungen wird unter allen Umständen in der Theorie des galvanischen Stroms zu suchen sein, und deshalb halten wir uns vorwiegend an diese. Ein dauernder Strom kann auf mehrfachem Wege erzeugt werden. Mechanische Massenbewegung erzeugt direkt, durch Reibung, zunächst nur statische Elektrizität, einen dauernden Strom nur unter großer Energievergeudung; um wenigstens größtenteils in elektrische Bewegung umgesetzt
zu werden, bedarf sie der Vermittlung des Magnetismus, wie in den bekannten magneto-elektrischen Maschinen von Gramme, Siemens u.a. Wärme kann sich direkt in strömende Elektrizität umsetzen, wie namentlich an der Lötstelle zweier verschiednen Metalle. Durch chemische Aktion freigesetzte Energie, die unter gewöhnlichen Umständen in der Form von Wärme zutage tritt, verwandelt sich unter bestimmten Bedingungen in elektrische Bewegung. Umgekehrt geht diese letztere, sobald die Bedingungen dafür gegeben, in jede andre Form der Bewegung über: in Massenbewegung, in geringem Maß direkt in den elektrodynamischen Anziehungen und Abstoßungen, im großen wiederum durch Vermittlung des Magnetismus in den elektromagnetischen Bewegungsmaschinen; in Wärme - überall im Schließungskreis des Stroms, falls nicht andre Verwandlungen eingeleitet sind; in chemische Energie - in den in den Schließungskreis eingeschalteten Zersetzungszellen und Voltametern, wo der Strom Verbindungen trennt, die auf anderm Wege vergeblich angegriffen werden. In allen diesen Umsätzen gilt das Grundgesetz von der quantitativen Äquivalenz der Bewegung in allen ihren Wandlungen. Oder, wie Wiedemann sich ausdrückt; „nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft muß die auf irgendeine Art zur Erzeugung des Stromes verwendete [mechanische] Arbeit äquivalent sein der zur Erzeugung aller Stromeswirkungen verwendeten Arbeit" [II, Teil 2, S.472]. Bei der Umsetzung von Massenbewegung oder von Wärme in Elektrizität* bieten sich hier keine Schwierigkeiten; es ist erwiesenermaßen die sog. „elektromotorische Kraft" im ersten Fall gleich der zu jener Bewegung verwendeten Arbeit, im zweiten Fall „an jeder Lötstelle der Thermokette direkt proportional ihrer absoluten Temperatur" (Wiedemann, III, p. 482), d.h. wieder der an jeder Lötstelle vorhandenen absolut gemessenen Wärmemenge. Auch für die aus chemischer Energie entwickelte Elektrizität ist dasselbe Gesetz tatsächlich als gültig erwiesen. Aber hier stellt sich für die jetzt gangbare Theorie wenigstens die Sache nicht so einfach. Gehn wir also etwas näher darauf ein. Eine der schönsten Versuchsreihen über die durch eine galvanische Säule zu bewirkenden Formverwandlungen der Bewegung ist die von Favre
* Ich gebrauche die Bezeichnung „Elektrizität" im Sinn von elektrischer Bewegung mit demselben Recht, wie auch die allgemeine Bezeichnung „Wärme" gebraucht wird, um diejenige Bewegungsform auszudrücken, die sich unsern Sinnen als Wärme kund gibt. Dies kann um so weniger Anstoß finden, als jede etwaige Verwechslung mit dem Spannungszustand der Elektrizität hier im voraus ausdrücklich ausgeschlossen ist.
(1857/1858)[243]. In ein Kalorimeter setzte er eine Smeesche Säule von 5 Elementen; in ein zweites eine kleine elektromagnetische Bewegungsmaschine, deren Hauptachse und Riemenscheibe zu beliebiger Verbindung frei herausstand. Bei jedesmaliger Entwicklung von 1 g Wasserstoff resp. Lösung von 32,6 g Zink (dem alten chemischen Äquivalent des Zinks, gleich dem halben jetzt angenommenen Atomgewicht 65,2 und in Gramm ausgedrückt) in der Säule ergaben sich folgende Resultate: A. Säule im Kalorimeter in sich geschlossen, mit Ausschluß der Bewegungsmaschine: Wärmeentwicklung 18 682 resp. 18 674 Wärmeeinheiten. B. Säule und Maschine im Schließungskreis verbunden, die Maschine aber an der Bewegung gehindert: Wärme in der Säule 16 448, in der Maschine 2219, zusammen 18 667 Wärmeeinheiten. C. Wie B, aber die Maschine bewegt sich, ohne jedoch ein Gewicht zu heben: Wärme in der Säule 13 888, in der Maschine 4769, zusammen 18 657 Wärmeeinheiten. D. Wie C, aber die Maschine hebt ein Gewicht und tut dabei eine mechanische Arbeit = 131,24 Kilogrammeter: Wärme in der Säule 15 427, in der Maschine 2947, zusammen 18 374 Wärmeeinheiten; Verlust gegen obige 18 682 = 308 Wärmeeinheiten. Aber die getane mechanische Arbeit von 131,24 Meterkilogramm, multipliziert durch 1000 (um die Gramme des chemischen Resultats auf Kilogramme zu bringen) und dividiert durch das mechanische Äquivalent der Wärme = 423,5 Kilogrammeter12273, ergibt 30Q Wk « / II UI UIOW G^NUU VK/IGVII F VIIUOB} UI<7 VR UT UIVU^M TUIWII> UVA getanen mechanischen Arbeit. Die Äquivalenz der Bewegung in allen ihren Wandlungen ist also auch für die elektrische Bewegung innerhalb der Grenze der unvermeidlichen Fehlerquellen schlagend erwiesen. Und ebenso erwiesen ist, daß die „elektromotorische Kraft" der galvanischen Kette nichts andres ist als in Elektrizität umgesetzte chemische Energie und die Kette selbst nichts andres als eine Vorrichtung, ein Apparat, der freiwerdende chemische Energie in Elektrizität verwandelt wie eine Dampfmaschine ihr zugeführte Wärme in mechanische Bewegung, ohne daß in beiden Fällen der verwandelnde Apparat aus sich selbst noch weitere Energie zuführt. Hier entsteht aber gegenüber der hergebrachten Vorstellungsweise eine Schwierigkeit. Diese Vorstellungsweise schreibt der Kette vermöge der in ihr statthabenden Kontaktverhältnisse zwischen den Flüssigkeiten und den Metallen eine „elektrische Scheidungskraft" zu, die der elektromotorischen Kraft proportional ist, also für eine gegebne Kette eine bestimmte Menge
Energie repräsentiert. Wie verhält sich nun diese, nach der hergebrachten Vorstellungsweise der Kette als solcher auch ohne chemische Aktion inhärente Energiequelle, die elektrische Scheidungskraft, zu der durch die chemische Aktion freigesetzten Energie? Und, wenn sie eine von der letzteren unabhängige Energiequelle ist, woher stammt die von ihr gelieferte Energie? Diese Frage in mehr oder weniger unklarer Form bildet den Streitpunkt zwischen der von Volta begründeten Kontakttheorie und der gleich darauf entstandenen chemischen Theorie des galvanischen Stroms. Die Kontakttheorie erklärte den Strom aus den in der Kette beim Kontakt der Metalle mit einer oder mehreren Flüssigkeiten oder auch nur der Flüssigkeiten unter sich entstehenden elektrischen Spannungen und aus ihrer Ausgleichung, resp. derjenigen der so geschiedenen entgegengesetzten Elektrizitäten im Schließungskreis. Die dabei etwa auftretenden chemischen Veränderungen galten der reinen Kontakttheorie für durchaus sekundär. Dagegen behauptete Ritter schon 1805, ein Strom könne sich nur dann bilden, wenn die Erreger auch schon vor der Schließung chemisch aufeinander wirkten: Im allgemeinen wird diese ältere chemische Theorie von Wiedemann (I, S.784) dahin zusammengefaßt, daß nach ihr die sog. Kontaktelektrizität
„nur dann auftreten soll, wenn zugleich eine wirkliche chemische Einwirkung der einander berührenden Körper, oder doch eine, wenn auch nicht direkt mit chemischen Prozessen verbundne Störung des chemischen Gleichgewichtes, eine »Tendenz zur chemischen Wirkung' zwischen denselben in Tätigkeit kommt".
Man sieht, die Frage nach der Energiequelle des Stroms wird von beiden Teilen nur ganz indirekt gestellt, wie das damals auch kaum anders sein konnte. Volta und seine Nachfolger fanden es ganz in der Ordnung, daß bloße Berührung heterogener Körper einen dauernden Strom erzeugen, also eine bestimmte Arbeit ohne Gegenleistung ausführen könne. Ritter und seine Anhänger sind ebensowenig im klaren darüber, wie denn die chemische Aktion die Kette in den Stand setzt, den Strom und seine Arbeitsleistungen zu erzeugen. Wenn aber für die chemische Theorie durch Joule, Favre, Raoult und andre dieser Punkt längst aufgeklärt ist, so findet das Gegenteil statt für die Kontakttheorie. Sie steht, soweit sie sich erhalten hat, noch immer wesentlich auf dem Punkt, von dem sie ausging. Vorstellungen, die einer längst überwundnen Zeit angehören, einer Zeit, wo man zufrieden sein mußte, für eine beliebige Wirkung die nächstbeste, auf der Oberfläche hervortretende, scheinbare Ursache anzugeben, gleichviel, ob
man dabei Bewegung aus nichts entstehen ließ - Vorstellungen, die dem Satz von der Erhaltung der Energie direkt widersprechen, leben so in der heutigen Elektrizitätslehre immer noch fort. Und wenn dann diese Vorstellungen, ihrer anstößigsten Seiten beraubt, abgeschwächt, verwässert, kastriert, beschönigt werden, so bessert das nichts an der Sache: Die Verwirrung muß nur um so schlimmer werden. Wie wir sahen, erklärt selbst die ältere chemische Stromtheorie die Kontaktverhältnisse der Kette für durchaus notwendig zur Strombildung; sie behauptet nur, daß diese Kontakte nie einen dauernden Strom fertigbringen ohne gleichzeitige chemische Aktion. Und es ist auch heute noch selbstredend, daß die Kontakteinrichtungen der Kette grade den Apparat herstellen, vermittelst dessen freigesetzte chemische Energie in Elektrizität übergeführt wird, und daß es von diesen Kontakteinrichtungen wesentlich abhängt, ob und wieviel chemische Energie wirklich in elektrische Bewegung übergeht. Wiedemann, als einseitiger Empiriker, sucht von der alten Kontakttheorie zu retten, was zu retten ist. Folgen wir ihm hierbei.
„Wenn auch die Wirkung des Kontaktes chemisch indifferenter Körper", sagt Wiedemann (1, S.799), „z.B. der Metalle, wie man wohl früher glaubte, weder zur Theorie der Säule erforderlich1, noch auch dadurch bewiesen ist, daß Ohm sein Gesetz daraus ableitete, welches auch ohne diese Annahme abzuleiten ist, und Fechner, welcher dieses Gesetz experimentell bestätigte, gleichfalls die Kontakttheorie verteidigte, so dürfte doch die Elektrizitätserregung durch Mefa/Zkontakt1, wenigstens nach den jetzt vorliegenden Versuchen, nicht zu leugnen sein, selbst wenn die in quantitativer Beziehung zu erzielenden Resultate in dieser Beziehung wegen der Unmöglichkeit, die Oberflächen der einander berührenden Körper absolut rein zu erhalten, immer mit einer unvermeidlichen Unsicherheit behaftet sein möchten."
Man sieht, die Kontakttheorie ist sehr bescheiden geworden. Sie gibt zu, daß sie zur Erklärung des Stroms durchaus nicht erforderlich, auch weder von Ohm theoretisch, noch von Fechner experimentell bewiesen ist. Sie gibt sogar zu, daß die sog. Fundamentalversuche, auf die sie sich dann allein noch stützen kann, in quantitativer Beziehung immer nur unsichre Resultate liefern können, und verlangt schließlich von uns nur noch die Anerkennung, daß überhaupt durch Kontakt - wenn auch nur von Metallen! - eine Elektrizitätsbewegung stattfinde. Bliebe die Kontakttheorie hierbei stehn, so wäre kein Wort dagegen einzuwenden. Daß bei dem Kontakt zweier Metalle elektrische Erschei
nungen auftreten, vermöge deren man einen präparierten Froschschenkel zucken machen, ein Elektroskop laden und andre Bewegungen hervorrufen kann, das wird wohl unbedingt zugegeben werden. Es fragt sich zunächst nur: Woher stammt die dazu erforderliche Energie? Um diese Frage zu beantworten, werden wir, nach Wiedemann (I, S. 14),
„etioa folgende Betrachtungen anstellen: Werden die heterogenen Metallplatten A und B bis auf eine geringe Entfernung einander genähert, so ziehen sie sich infolge der Adhäsionskräfte an. Bei ihrer gegenseitigen Berührung verlieren sie die ihnen durch diese Anziehung erteilte lebendige Kraft der Bewegung. (Nehmen wir an, daß die Moleküle der Metalle in permanenten Schwingungen sich befinden, so könnte auch, wenn bei dem Kontakt der heterogenen Metalle die ungleichzeitig schwingenden Moleküle einander berühren, hierbei eine Abänderung ihrer Schwingungen unter Verlust von lebendiger Kraft eintreten.) Die verlorne lebendige Kraft setzt sich zum großen Teil in Wärme um. Ein kleiner Teil derselben wird aber dazu verwendet, die vorher nicht getrennten Elektrizitäten anders zu verteilen. Wie wir schon oben erwähnt, laden sich, etwa infolge einer ungleichen Anziehung für die beiden Elektrizitäten, die aneinander gebrachten Körper mit gleichen Mengen positiver und negativer Elektrizität."1
Die Bescheidenheit der Kontakttheorie wird immer größer. Zuerst wird anerkannt, daß die gewaltige elektrische Scheidungskraft, die später solche Riesenarbeit zu leisten hat, in sich selbst keine eigne Energie besitzt, sondern daß sie nicht fungieren kann, solange ihr nicht Energie von außen zugeführt wird. Und dann wird ihr eine mehr als zwerghafte Energiequelle angewiesen, die lebendige Kraft der Adhäsion, die erst auf kaum meßbaren Entfernungen in Wirksamkeit tritt und die Körper einen kaum meßbaren Weg zurücklegen läßt. Doch einerlei: Sie besteht unleugbar und verschwindet beim Kontakt ebenso unleugbar. Aber auch diese Minimalquelle liefert noch zu viel Energie für unsern Zweck: Ein großer Teil setzt sich in Wärme um, und nur ein keiner Teil dient dazu, die elektrische Scheidungskraft ins Leben zu rufen. Obwohl nun bekanntlich Fälle genug in der Natur vorkommen, wo äußerst geringe Anstöße äußerst gewaltige Wirkungen herbeiführen, so scheint doch Wiedemann selbst zu fühlen, daß hier seine kaum noch tropfende Energiequelle schwerlich ausreicht, und er sucht eine mögliche zweite Quelle in der Annahme einer Interferenz der Molekularschwingungen der beiden Metalle an den Berührungsflächen. Abgesehn von andern Schwierigkeiten, die uns hier entgegentreten, haben Grove und Gassiot nachgewiesen, daß zur Elektrizitätserregung wirklicher Kontakt gar nicht einmal erforderlich ist, wie uns Wiedemann eine Seite vorher
selbst erzählt. Kurz, die Energiequelle für die elektrische Scheidungskraft versiegt mehr und mehr, je länger wir sie betrachten. Und dennoch kennen wir bis jetzt für die Elektrizitätserregung beim Metallkontakt kaum eine andre. Nach Naumann („Allg. u. phys. Chemie", Heidelberg 1877, S.675) „verwandeln die kontakt-elektromotorischen Kräfte Wärme in Elektrizität"; er findet „die Annahme natürlich, daß das Vermögen dieser Kräfte, elektrische Bewegung hervorzubringen, auf der vorhandnen Wärmemenge beruht oder, mit andern Worten, eine Funktion der Temperatur ist", was auch durch Le Roux experimentell bewiesen sei. Auch hier bewegen wir uns ganz im unbestimmten. Auf die chemischen Vorgänge zurückzugreifen, die an den stets mit einer dünnen, für uns so gut wie untrennbaren Schicht von Luft und unreinem Wasser beschlagnen Kontaktflächen in geringem Maß unaufhörlich vorgehn, also die Elektrizitätserregung aus der Anwesenheit eines unsichtbaren aktiven Elektrolyten zwischen den Kontaktflächen zu erklären, verbietet uns das Gesetz der Spannungsreihe der Metalle. Ein Elektrolyt müßte im Schließungskreis einen dauernden Strom erzeugen; die Elektrizität des bloßen Metallkontakts verschwindet im Gegenteil, sobald der Kreis geschlossen wird. Und hier kommen wir auf den'eigentlichen Punkt: ob und in welcher Weise diese von Wiedemann selbst zuerst auf die Metalle beschränkte, ohne fremde Energiezufuhr für arbeitsunfähig erklärte und dann auf eine v/ahrhaft mikroskopische Energiequelle ausschließlich angewiesene „elektrische Scheidungskraft" durch Kontakt chemisch indifferenter Körper die Bildung des dauernden Stroms möglich macht. Die Spannungsreihe ordnet die Metalle derart, daß jedes gegen das vorhergehende elektronegativ und gegen das folgende elektropositiv sich verhält. Legen wir also in dieser Ordnung eine Reihe von Metallstücken, etwa Zink, Zinn, Eisen, Kupfer, Platin, aneinander, so werden wir an den beiden Enden elektrische Spannungen erhalten können. Ordnen wir aber die Metallreihe zu einem Schließungskreis, so daß auch das Zink und das Platin sich berühren, so gleicht sich die Spannung sofort aus und verschwindet.
„In einem geschlossenen Kreise von Körpern, welche der Spannungsreihe angehören, ist also die Bildung einer dauernden Elektrizitätsströmung nicht möglich." II, S.45.] Diesen Satz unterstützt Wiedemann noch durch folgende theoretische Erwägung:
„ In der Tat würde, wenn ein dauernder Elektrizitätsstrcm in dem Kreise aufträte, durch denselben in den metallischen Leitern selbst Wärme erzeugt, die höchstens durch
eine Erkältung an den Kontaktstellen der Metalle aufgehoben würde. Es würde jedenfalls eine ungleiche Wärmeverteilung hervorgerufen; auch könnte durch den Strom ohne [irgendeine] Zufuhr von außen dauernd eine elektro-magnetische Bewegungsmaschine getrieben und so eine Arbeit geleistet werden, was unmöglich ist, da bei fester Verbindung der Metalle, etwa durch Lötung, auch an den Kontaktstellen keine Veränderungen mehr statthaben können, die diese Arbeit kompensieren." [I, S.44/45.] Und nicht genug mit dem theoretischen und experimentellen Beweis, daß die Kontaktelektrizität der Metalle allein keinen Strom erzeugen kann: Wir werden auch sehn, daß Wiedemann eine besondre Hypothese aufzustellen sich genötigt sieht, um ihre Wirksamkeit auch da zu beseitigen, wo sie sich im Strom etwa geltend machen könnte. Versuchen wir also einen andern Weg, um von der Kontaktelektrizität zum Strom zu kommen. Denken wir uns mit Wiedemann
„zwei Metalle, wie einen Zink- und einen Kupferstab, mit ihren einen Enden verlötet, ihre freien Enden aber durch einen dritten Körper verbunden, der gegen beide Metalle nicht elektromotorisch wirkte, sondern nur die auf ihren Oberflächen angesammelten entgegengesetzten Elektrizitäten leitete, so daß sie sich in ihm ausglichen, so würde die elektrische Scheidungskraft dann stets die frühere Spannungsdifferenz wiederherstellen und so ein dauernder Elektrizitätsstrom in dem Kreise entstehen, der ohne jeden Ersatz eine Arbeit leisten könnte, was wiederum unmöglich ist. Demnach kann es keinen Körper geben, der ohne elektromotorische Tätigkeit gegen die andern Körper nur die Elektrizität leitet." [I, S.45.] Wir sind nicht weiter als vorher: Die Unmöglichkeit, Bewegung zu erschaffen, versperrt uns abermals den Weg. Mit dem Kontakt chemisch indifferenter Körper, also mit der eigentlichen Kontaktelektrizilät, bringen wir nie und nimmer einen Strom zustande. Kehren wir also nochmals um, und versuchen wir einen dritten Weg, den Wiedemann uns zeigt:
„Senken wir. endlich eine Zink- und eine Kupferplatte in eine Flüssigkeit ein, welche eine sogenannte binäre Verbindung enthält, welche also in zwei chemisch verschiedne Bestandteile zerfallen kann, die sich völlig sättigen, z.B. in verdünnte Chlorwasserstoffsäure (H + CI) usf., so ladet sich nach § 27 das Zink negativ, das Kupfer positiv. Bei Verbindung der Metalle gleichen sich diese Elektrizitäten durch die Kontaktstelle hindurch aus, durch welche also ein Strom positiver Elektrizität vom Kupfer zum Zink fließt. Da auch die beim Kontakt letzterer Metalle auftretende elektrische Scheidungskraft die positive Elektrizität in gleichem Sinne fortführt, so heben sich die Wirkungen der elektrischen Scheidungskräfte nicht auf wie in einem geschlossenen Metallkreise. Es entsteht also ein dauernder Strom von positiver Elektrizität, der in dem geschlossenen Kreise vom Kupfer durch seine Kontaktstelle mit dem Zink zu letzterem und vom Zink durch die Flüssigkeit zum Kupfer fließt. Wir werden alsbald (§ 34 [sqq.]) darauf zurückkommen, inwiefern wirklich die einzelnen, in der Schließung
vorhandenen elektrischen Scheidungskräfte an der Bildung dieses Stromes mitwirken. - Eine Kombination von Leitern, welche einen solchen .galvanischen Strom* liefert, nennen wir ein galvanisches Element, auch wohl eine galvanische Kette."1 (I, S.45.) Das Wunder wäre also fertiggebracht. Durch die bloße elektrische Scheidungskraft des Kontakts, die nach Wiedemann selbst ohne Energiezufuhr von außen nicht wirken kann, ist hier ein dauernder Strom erzeugt. Und wenn uns zu seiner Erklärung weiter nichts geboten würde als obige Stelle aus Wiedemann, so bliebe das in der Tat ein vollständiges Wunder. Was lernen wir hier über den Vorgang? 1. Wenn Zink und Kupfer in eine Flüssigkeit getaucht werden, welche eine sog. binäre Verbindung enthält, so ladet sich nach § 27 das Zink negativ, das Kupfer positiv. - Nun steht im ganzen § 27 kein Wort von einer binären Verbindung. Er beschreibt nur ein einfaches Voltasches Element aus einer Zink- und einer Kupferplatte, zwischen denen eine mit einer sauren Flüssigkeit befeuchtete Tuchscheibe liegt, und untersucht dann, ohne Erwähnung irgendwelcher chemischen Vorgänge, die dabei erfolgenden statisch-elektrischen Ladungen der beiden Metalle. Die sog. binäre Verbindung wird hier also durchs Hintertürchen hineingeschmuggelt, 2. Was diese binäre Verbindung hier soll, bleibt vollständig geheimnisvoll. Der Umstand, daß sie „in zwei chemische Bestandteile zerfallen kann. die sich völlig sättigen", (sich völlig sättigen, nachdem sie zerfallen sind?!), könnte uns doch höchstens etwas Neues lehren, wenn sie wirklich zerfiele. Davon wird uns aber kein Wort gesagt; wir müssen also einstweilen annehmen, daß sie nicht zerfällt z.B. beim Paraffin. 3. Nachdem also das Zink in der Flüssigkeit negativ Und das Kupfer positiv geladen, bringen wir sie (außerhalb der Flüssigkeit) in Berührung. Alsbald „gleichen sich diese Elektrizitäten durch die Kontaktstellen hindurch aus, durch welche also ein Strom positiver Elektrizität vom Kupfer zum Zink hinfließt". Wir erfahren wieder nicht, warum nur ein Strom „positiver" Elektrizität in, der einen Richtung, und nicht auch ein Strom „negativer" Elektrizität in der entgegengesetzten Richtung fließt. Wir erfahren überhaupt nicht, was aus der negativen Elektrizität wird, die doch bisher ebenso notwendig war wie die positive; die Wirkung der elektrischen Scheidungskraft bestand ja grade darin, sie beide einander frei gegenüberzustellen. Jetzt wird sie plötzlich unterdrückt, gewissermaßen unterschlagen, und der Schein wird angenommen, als existiere bloß positive Elektrizität.
Dann aber wird auf S.51 wieder das gerade Gegenteil gesagt, denn hier „vereinen sich die Elektrizitäten1 in einem Strom", es fließt darin also sowohl negative wie positive! Wer hilft uns aus dieser Verwirrung? 4. „Da auch die beim Kontakt letzterer Metalle auftretende elektrische Scheidungskraft die positive Elektrizität in gleichem Sinne fortführt, so heben sich die Wirkungen der elektrischen Scheidungskräfte nicht auf wie in einem geschlossenen Metallkreise. Es entsteht also ein dauernder Strom"1 usw. Dies ist etwas stark. Denn wie wir sehen werden, weist uns wenige Seiten später (S.52) Wiedemann nach, daß bei der „Bildung des dauernden Stroms ... die elektrische Scheidungskraft an der Kontaktstelle der Metalle ... untätig sein muß"1, daß nicht nur ein Strom stattfindet, auch wenn sie, statt die positive Elektrizität in gleichem Sinn fortzuführen, der Stromesrichtung entgegenwirkt, sondern daß sie auch in diesem Fall nicht durch einen bestimmten Anteil der Scheidungskraft der Kette kompensiert wird, also wiederum untätig ist. Wie kann also Wiedemann auf S.45 eine elektrische Scheidungskraft als notwendigen Faktor an der Strombildung mitwirken lassen, die er S.52 für die Dauer des Stroms außer Tätigkeit setzt, und noch dazu durch eine eigens zu diesem Zweck aufgestellte Hypothese? 5. „Es entsteht also ein dauernder Strom von positiver Elektrizität, der in dem geschlossenen Kreise vom Kupfer durch seine Kontaktstelle mit dem Zink zu letzterem und vom Zink durch die Flüssigkeit zum Kupfer fließt." Aber es würde bei einem solchen dauernden Elektrizitätsstrom „durch denselben in den Leitern selbst Wärme erzeugt", auch könnte durch ihn „eine elektromagnetische Bewegungsmaschine getrieben und so eine Arbeit geleistet werden", was aber ohne Zufuhr von Energie unmöglich ist. Da uns Wiedemann bisher nicht mit einer Silbe verraten hat, ob und woher eine solche Zufuhr von Energie stattfindet, so bleibt der dauernde Strom bis jetzt ebensosehr ein Ding der Unmöglichkeit wie in den vorher untersuchten beiden Fällen. Niemand fühlt dies mehr als Wiedemann. Er findet es also angemessen, so rasch wie möglich über die vielen kitzligen Punkte dieser verwunderlichen Erklärung der Slrombildung hinwegzueilen und den Leser dafür ein paar Seiten lang mit allerlei elementaren Histörchen über die thermischen, chemischen, magnetischen und physiologischen Wirkungen dieses noch immer geheimnisvollen Stroms zu unterhalten, wobei er ausnahmsweise sogar in ganz populären Ton fällt. Dann fährt er auf einmal fort (S.49):
„Wir haben jetzt zu untersuchen, in welcher Weise die elektrischen Scheidungskräfte in einem geschlossenen Kreise von zwei Metallen und einer Flüssigkeit, z.B. Zink, Kupfer, Chlorwasserstoffsäure, tätig sind." „Wir wissen, daß die Bestandteile der in der Flüssigkeit enthaltenen binären Verbindung (HCl) bei dem Hindurchfließen des Stromes sich in der Weise trennen, daß der eine (H) am Kupfer und eine äquivalente Menge des andern (Cl) am Zink frei wird, wobei der letztere sich mit einer äquivalenten Menge Zink zu ZnCl verbindet."1 Wir wissen! Wenn wir dies wissen, so wissen wir es sicher nicht von Wiedemann, der uns von diesem Vorgang, wie wir sahen, bisher auch nicht eine Silbe verraten hatte. Und ferner, wenn wir etwas über diesen Vorgang wissen, so ist es dies, daß er nicht in der von Wiedemann geschilderten Weise vor sich gehn kann. Bei der Bildung eines Moleküls HCl aus Wasserstoffgas und Chlorgas wird eine Energiemenge = 22000 Wärmeeinheiten freigesetzt (Julius Thomsen)[2441. Um das Chlor aus seiner Verbindung mit dem Wasserstoff wieder loszureißen, muß also für jedes Molekül HCl die gleiche Energiemenge von außen zugeführt werden. Woher bezieht die Kette diese Energie? Die Wiedemannsche Darstellung sagt es uns nicht; sehen wir uns also selbst um. Wenn sich Chlor mit Zink zu Zinkchlorid verbindet, so wird dabei eine bedeutend größere Energiemenge freigesetzt, als nötig ist, das Chlor vom Wasserstoff zu trennen. (Zn, Cl2) entwickelt 97 210, 2(H, Cl) 44 000 Wärmeeinheiten (Jul. Thomsen). Und hiermit wird der Vorgang in der Kette erklärlich. Es wird also nicht, wie Wiedemann erzählt, der Wasserstoff ohne weiteres am Kupfer und das Chlor am Zink frei, „wobei" dann nachträglicher- und zufälligerweise Zink und Chlor sich verbinden. Im Gegenteil: Die Verbindung des Zinks mit dem Chlor ist die wesentlichste Grundbedingung des ganzen Prozesses und, solange sich diese nicht vollzieht, wird man am Kupfer vergebens auf Wasserstoff warten. Der Uberschuß der Energie, welche bei der Bildung eines Moleküls ZnCl2 frei wird, über die, welche zur Freisetzung zweier Atome H aus zwei Molekülen HCl verwendet wird, verwandelt sich in der Kette in elektrische Bewegung und liefert die gesamte „elektromotorische Kraft", die im Stromkreis zutage tritt. Es ist also nicht eine mysteriöse „elektrische Scheidungskraft", die ohne bisher nachgewiesene Energiequelle Wasserstoff und Chlor auseinanderreißt, es ist der in der Kette sich vollziehende chemische Gesamtprozeß, der die sämtlichen „elektrischen Scheidungskräfte" und „elektromotorischen Kräfte" des Schließungskreises mit der zu ihrer Existenz nötigen Energie versieht.
Konstatieren wir also einstweilen, daß Wiedemanns zvjeite Stromerklärung ebensowenig vom Fleck hilft wie seine erste, und gehn wir weiter im Text:
„Dieser Vorgang beweist, daß das Verhalten des binären Korpers zwischen den Metallen nicht mehr allein in einer einfachen überwiegenden Anziehung seiner ganzen Masse gegen die eine oder andre Elektrizität, wie bei den Metallen, besteht, sondern hierbei noch eine besondre Wirkung seiner Bestandteile hinzutritt. Da der Bestandteil C1 sich da abscheidet, wo der Strom der positiven Elektrizität in die Flüssigkeit eintritt, der Bestandteil H da, wo die negative Elektrizität eintritt, nehmen wir an, daß je ein Äquivalent des Chlors in der Verbindung HCl mit einer bestimmten Menge negativer Elektrizität geladen sei, die seine Anziehung durch die eintretende positive Elektrizität bedingt. Es ist der elektronegative Bestandteil1 der Verbindung. Ebenso muß das Äquivalent H mit positiver Elektrizität geladen sein und so den elektropositiven Bestandteil der Verbindung darstellen. Diese Ladungen könnten sich bei der Verbindung von H und C1 ganz ähnlich herstellen, wie beim Kontakt von Zink und Kupfer. Da die Verbindung HCl für sich unelektrisch ist, müssen wir dementsprechend annehmen, daß in derselben die Atome des positiven und negativen Bestandteils gleiche Mengen positiver und negativer Elektrizität enthalten. Wird nun in verdünnte Chlorwasserstoffsäure eine Zinkplatte und eine Kupferplatte eingesenkt, so können wir vermuten, daß das Zink eine stärkere Anziehung gegen den elektronegativen Bestandteil (Cl) derselben habe, als gegen den elektropositiven (H). Infolgedessen würden sich die das Zink berührenden Moleküle der Chlorwasserstoffsäure so lagern, daß sie ihre elektronegativen Bestandteile dem Zink, ihre elektropositiven dem Kupfer zukehrten. Indem die so geordneten Bestandteile durch ihre elektrische Anziehung auf die Bestandteile der folgenden Moleküle HCl einwirken, ordnet sich die ganze Reihe der Moleküle zwischen der Zink- und Kupferplatte wie in Fig. 10:
Zink I E HI HZ" Kupfer ci H OH a H A H f| + G© ©© ©© ©©
Wirkte das zweite Metall auf den positiven Wasserstoff, wie das Zink auf das negative Chlor, so würde hierdurch die Einstellung befördert. Wirkte es entgegengesetzt, nur schwächer, so bleibt wenigstens die Richtung derselben ungeändert. Durch die influenzierende Wirkung der negativen Elektrizität des dem Zink anliegenden elektronegativen Bestandteils Cl würde im Zink die Elektrizität so verteilt, daß diejenigen Stellen desselben, welche dem Cl des zunächstliegendcn Säureatomsf24Bl
nahe liegen, sich positiv, die ferner liegenden negativ lüden. Ebenso würde im Kupfer zunächst dem elektropositiven Bestandteil (H) des anliegenden Chlorwasserstoffatoms die negative Elektrizität angehäuft, die positive zu den ferneren Teilen hingetrieben. Darauf würde sich die positive Elektrizität im Zink mit der negativen des zunächst liegenden Atoms Cl1 und letzteres selbst mit dem Zink [zu unelektrischem ZnCl] verbinden. Das elektropositive Atom H, welches vorher mit jenem Atom [Cl] verbunden war, würde sich mit dem ihm zugekehrten Atom Cl des zweiten Atoms HCl unter gleichzeitiger Verbindung der in diesen Atomen enthaltenen Elektrizitäten vereinen; ebenso verbände sich dasH des zweiten Atoms HCl mit dem Cl des dritten Atoms usf., bis endlich am Kupfer ein Atom H frei würde, dessen positive Elektrizität sich mit der verteilten negativen des Kupfers vereinte, so daß es im unelektrischen Zustand entwiche." Dieser Prozeß würde „so lange sich wiederholen, bis die Abstoßung der in den Metallplatten. angehäuften Elektrizitäten auf die Elektrizitäten der ihnen zugewandten Bestandteile des Chlorwasserstoffs grade die chemische Anziehung der letzteren durch die Metalle äquilibrierte. Werden aber die Metallplatten miteinander leitend verbunden, so vereinen sich die freien Elektrizitäten der Metallplatten miteinander, und es können von neuem die früher erwähnten Prozesse eintreten. Auf diese Weise entstände eine dauernde Strömung von Elektrizität. - Es ist ersichtlich, daß hierbei ein beständiger Verlust an lebendiger Kraft stattfindet, indem die zu den Metallen hinwandernden Bestandteile der binären Verbindung sich mit einer gewissen Geschwindigkeit zu den Metallen hinbewegen und dann, entweder unter Bildung einer Verbindung (ZnCl), oder indem sie frei entweichen (H), zur Ruhe gelangen." (Anmerkung [von Wiedemann]: „Da sich der Gewinn an lebendiger Kraft bei der Trennung der Bestandteile Cl und H durch die bei der Vereinigung derselben mit den Bestandteilen der nächstliegenden Atome verlorene lebendige Kraft wieder ausgleicht, so ist der Einfluß dieses Prozesses zu vernachlässigen.") „Dieser Verlust an lebendiger Kraft ist der Wärmemenge äquivalent, welche bei dem sichtbar hervortretenden chemischen Prozeß, also im wesentlichen bei der Auflösung eines Äquivalentes Zink in der verdünnten Säure frei wird. Diesem Wert muß die auf die Verteilung der Elektrizitäten verwendete Arbeit gleichwertig sein. Vereinen sich daher die Elektrizitäten in einem Strom, so muß während der Auflösung eines Äquivalentes Zink und Abscheidung eines Äquivalentes Wasserstoff aus der Flüssigkeit im ganzen Schließungskreis eine Arbeit, sei es in Form von Wärme, sei es in Form von äußerer Arbeitsleistung hervortreten, die ebenfalls der jenem chemischen Prozeß entsprechenden Wärmeentwicklung äquivalent ist." [I, S.49 bis 51.]
„Nehmen wir an - könnten - müssen wir annehmen - können wir vermuten - würde verteilt - lüden sich" usw. usw. Lauter Mutmaßlichkeit und Konjunktivus, aus denen nur drei tatsächliche Indikative sich mit
1 Bei Engels: „Darauf würde sich die negative Elektrizität im Zink mit der positiven des nächstliegenden Atoms Cl ,.." ; alle Hervorhebungen von Engels
Bestimmtheit herausfischen lassen: erstens, daß die Verbindung des Zinks mit dem Chlor jetzt als Bedingung der Freisetzung des Wasserstoffs ausgesprochen wird; zweitens, wie wir jetzt ganz am Schluß und sozusagen nebenbei erfahren, daß die hierbei freigesetzte Energie die Quelle, und zwar die ausschließliche Quelle aller zur Strombildung erforderten Energie ist, und drittens, daß diese Erklärung der Strombildung den beiden vorher gegebnen ebenso direkt ins Gesicht schlägt wie diese beiden sich gegenseitig. Weiter heißt es:
„Es kann also zur Bildung des dauernden Stroms einzig und allein die elektrische Scheidungskraft tätig sein, welche von der ungleichen Anziehung und Polarisierung der Atome der binären Verbindung in der Erregerflüssigkeit der Kette durch die Metallelektroden herrührt; die elektrische Scheidungskraft an der Kontaktstelle der Metalle, an welcher keine mechanischen Veränderungen mehr vorgehen können, muß dagegen untätig sein. Daß dieselbe, wenn sie etwa der elektromotorischen Erregung der Metalle durch die Flüssigkeit entgegenwirkt (wie bei Einsenken von Zinn und Blei in Zyankaliumlösung), nicht durch einen bestimmten Anteil der Scheidungskraft an letzteren kompensiert wird, beweist die erwähnte völlige Proportionalität der gesamten elektrischen Scheidungskraft (und elektromotorischen Kraft) im Schließungskreis mit dem erwähnten Wärmeäquivalent der chemischen Prozesse. Sie muß also auf eine andre Art neutralisiert werden. Dies würde am einfachsten unter der Annahme geschehen, daß beim Kontakt der Erregerflüssigkeit mit den Metallen die elektromotorische Kraft in einer doppelten Weise erzeugt wird: einmal durch eine ungleich starke Anziehung der Massen der Flüssigkeit als Ganzes gegen die eine öder die andre Elektrizität; sodann durch die ungleiche Anziehung der Metalle gegen die mit entgegengesetzten Elektrizitäten geladenen Bestandteile der Flüssigkeit... Infolge der ersteren ungleichen Massenanziehung [gegen die Elektrizitäten] würden sich die Flüssigkeiten ganz nach dem Gesetz der Spannungsreihe der Metalle verhalten und in einem geschlossenen Kreise eine völlige Neutralisation der elektrischen Scheidungskräfte (und elektromotorischen Kräfte) zu Null eintreten; die zweite (chemische) Einwirkung würde dagegen allein die zur Stromesbildung erforderliche elektrische Scheidungskraft und die derselben entsprechende elektromotorische Kraft liefern." (I, S.52/53.) Hiermit wäre nun der letzte Rest der Kontakttheorie glücklich aus der Strombildung entfernt und gleichzeitig auch der letzte Rest der ersten, S.45 gegebnen Wiedemannschen Erklärung der Strombildung. Es wird endlich ohne Vorbehalt zugegeben, daß die galvanische Kette ein simpler Apparat ist zur Umsetzung von freiwerdender chemischer Energie in elektrische Bewegungen sog. elektrische Scheidungskraft und elektromotorische Kraft, ganz wie die Dampfmaschine ein Apparat ist zur Umsetzung von Wärmeenergie in mechanische Bewegung. Im einen wie im andern Falle
liefert der Apparat nur die Bedingungen zur Freisetzung und ferneren Wandlung der Energie, liefert aus sich selbst aber keine Energie. Dies einmal festgestellt, bleibt uns jetzt noch die nähere Untersuchung der dritten Version der Wiedemannschen Stromeserklärung: Wie werden hier die Energieumsätze im Schließungskreis der Kette dargestellt? Es ist ersichtlich, sagt er, daß in der Kette „ein beständiger Verlust an lebendiger Kraft stattfindet, indem die zu den Metallen hinwandernden Bestandteile der binären Verbindung sich mit einer gewissen Geschwindigkeit zu den Metallen hinbewegen und dann, entweder unter Bildung einer Verbindung (ZnCl), oder indem sie frei entweichen (H), zur Ruhe gelangen. Dieser Verlust ist der Wärmemenge äquivalent, welche bei dem sichtbar hervortretenden chemischen Prozeß, also im wesentlichen bei der Auflösung eines Äquivalents Zink, in der verdünnten Säure frei wird." [I, S.51.] Erstens wird, wenn der Prozeß rein vor sich geht, in der Kette bei Auflösung des Zinks gar keine Wärme frei; die freiwerdende Energie wird ja grade in Elektrizität verwandelt und erst aus dieser wieder durch den Widerstand des ganzen Schließungskreises in Wärme umgesetzt. Zweitens ist lebendige Kraft das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit. Der obige Satz würde also lauten: Die bei Auflösung eines Äquivalents Zink in verdünnter Salzsäure freiwerdende Energie = soundso viel Kalorien ist ebenfalls gleichwertig dem halben Produkt der Masse der Ionen in das Quadrat der Geschwindigkeit, mit der sie zu den Metallen hinwandern. So ausgesprochen ist der Satz augenscheinlich falsch; die in der Wanderung der Ionen erscheinende lebendige Kraft jsj v/eit entfernt davon, der durch den chemischen Prozeß freigesetzten unergie gieicnwertig zu sein." Ware sie es aoer, so wäre kein btrom mog
* Neuerdings hat F. Kohlrausch ( „Wiedemanns Annalen" l246J, VI [Leipzig 1879], [S.] 206) berechnet, daß „immense Kräfte" dazu gehören, die Ionen durch das lösende Wasser zu schieben. Um 1 mg den Weg von 1 mm zurücklegen zu lassen, sei eine Zugkraft erforderlich, für H - 32 500 kg, für Cl - 5200 kg, also für HCl = 37 700 kg. Auch wenn diese Zahlen unbedingt richtig, berühren sie das oben Gesagte nicht. Die Rechnung enthält aber die auf dem Elektrizitätsgebiet bisher unvermeidlichen hypothetischen Faktoren und bedarf also der Kontrolle durch das Experiment. Diese scheint möglich. Erstens müssen diese „immensen Kräfte" da, wo sie verbraucht werden, also im obigen Fall in der Kette, wiedererscheinen als bestimmte Wärmemenge. Zweitens muß die von ihnen verbrauchte Energie geringer sein als die von den chemischen Prozessen der Kette gelieferte, und zwar um eine bestimmte Differenz. Drittens muß diese Differenz im übrigen Schließungskreis verbraucht werden und dort ebenfalls quantitativ nachweisbar sein. Erst nach Bestätigung durch diese Kontrolle können obige Zahlenbestimmungen definitiv gelten. Die Nachweisung in der Zersetzungszelle erscheint noch ausführbarer.
lieh, da keine Energie übrigbliebe für den Strom im Rest des Schließungskreises. Daher wird noch die Bemerkung untergebracht, daß die Ionen zur Ruhe gelangen „entweder unter Bildung einer Verbindung oder indem sie frei entweichen". Wenn aber der Verlust an lebendiger Kraft auch die bei diesen beiden Vorgängen sich vollziehenden Energieumsätze einschließen soll, so sind wir erst recht festgefahren. Denn diese beiden Vorgänge zusammengenommen sind es ja grade, denen wir die ganze freiwerdende Energie verdanken, so daß hier von einem Verlust an lebendiger Kraft absolut nicht die Rede sein kann, sondern höchstens von einem Gewinn. Es ist also augenscheinlich, daß sich Wiedemann bei diesem Satze selbst nichts Bestimmtes gedacht hat, vielmehr der „Verlust an lebendiger Kraft" nur den deus ex machina1 vorstellt, der ihm den fatalen Sprung aus der alten Kontakttheorie in die chemische Stromerklärung möglich machen soll. In der Tat hat der Verlust an lebendiger Kraft jetzt seine Schuldigkeit getan und wird verabschiedet; von nun an gilt der chemische Vorgang in der Kette unbestritten als einzige Energiequelle der Strombildung, und die einzige, noch übrige Sorge unsres Verfassers ist die, wie er den letzten Rest der Elektrizitätserregung beim Kontakt chemisch indifferenter Körper, nämlich die an der Kontaktstelle der beiden Metalle tätige Scheidungskraft, auch noch mit guter Manier aus dem Strom los wird. Wenn man die obige Wiedemannsche Erklärung der Strombildung liest, so glaubt man ein Stück jener Apologetik vor sich zu haben, mit der die ganz- und halbgläubigen Theologen vor beinahe vierzig Jahren der philologisch-historischen Bibelkritik von Strauß, Wilke, Bruno Bauer u.a. entgegentraten. Die Methode ist ganz dieselbe. Sie muß es sein. Denn in beiden Fällen handelt es sich um die Rettung der überlieferten Tradition vor der denkenden Wissenschaft. Die exklusive Empirie, die sich das Denken höchstens in der Form des mathematischen Rechnens erlaubt, bildet sich ein, nur mit unleugbaren Tatsachen zu hantieren. In Wirklichkeit aber hantiert sie vorzugsweise mit überkommenen Vorstellungen, mit großenteils veralteten Produkten des Denkens ihrer Vorgänger, als da sind positive und negative Elektrizität, elektrische Scheidungskraft, Kontakttheorie. Diese dienen ihr zur Grundlage endloser mathematischer Rechnungen, in denen sich die hypothetische Natur der Voraussetzungen über der Strenge der mathematischen Formulierung angenehm vergessen läßt. So skeptisch diese Art Empirie sich verhält gegen die Resultate des gleichzeitigen
1 der Gott aus der Maschine - Begriff für die gekünstelte Lösung eines Dilemmas oder Konflikts; plötzliche Lösung
Denkens, so gläubig steht sie davor jenen des Denkens ihr er Vorgänger. Sogar die experimentell festgestellten Tatsachen sind ihr allgemach untrennbar geworden von den zugehörigen überlieferten Deutungen; die einfachste elektrische Erscheinung wird in der Darstellung verfälscht, z.B. durch Einschmuggelung der beiden Elektrizitäten; diese Empirie kann die Tatsachen nicht mehr richtig schildern, weil die überkommene Deutung mit in die Schilderung unterläuft. Mit einem Wort, wir haben hier auf dem Gebiet der Elektrizitätslehre eine ebenso entwickelte Tradition wie auf dem der Theologie. Und da auf beiden Gebieten die Resultate der neueren Forschung, die Feststellung bisher unbekannter oder bestrittener Tatsachen und die daraus notwendig sich ergebenden theoretischen Folgerungen der alten Überlieferung unbarmherzig ins Gesicht schlagen, so geraten die Verteidiger dieser Überlieferung in die ärgste Klemme. Sie müssen ihre Zuflucht nehmen zu allerhand Winkelzügen, unhaltbaren Ausreden, zu Vertuschungen unversöhnbarer Widersprüche und geraten damit schließlich selbst in ein Gewirr von Widersprüchen, aus dem für sie kein Ausweg ist. Es ist dieser Glaube an die ganze alte Elektrizitätstheorie, der Wiedemann hier in den rettungslosesten Widerspruch mit sich selbst verwickelt, einfach durch den hoffnungslosen Versuch, die alte Stromerklärung durch „Kontaktkraft" mit der neueren durch Freisetzung chemischer Eneigie rationalistisch zu vermitteln. Man wird vielleicht einwenden, die obige Kritik der Wiedemannschen Stromerklärung beruhe auf Wortklauberei; wenn Wiedemann sich im Aniang aucn etwas nacmassig unu ungenau ausurucrce, so geue er uocn SCUÜCIJlich die richtige, mit dem Satz von der Erhaltung der Energie stimmende Darstellung und mache damit alles gut. Demgegenüber lassen wir hier ein andres Beispiel folgen, seine Schilderung des Hergangs in der Kette: Zink, verdünnte Schwefelsäure, Kupfer.
„Verbindet man die beiden Platten durch einen Draht, so entsteht ein galvanischer Strom... Es scheidet sich durch den elektrolytischen Prozeß aus dem Wasser1 der verdünnten Schwefelsäure am Kupfer 1 Äq. Wasserstoff aus, welcher in Blasen entweicht. Am Zink bildet sich 1 Äq. Sauerstoff, der das Zink zu Zinkoxyd oxydiert, welches sich in der umgebenden Säure zu schwefelsaurem Zinkoxyd löst." (I, S. [592-] 593.) Um Wasserstoffgas und Sauerstoffgas aus Wasser abzuscheiden, dazu ist für jedes Wassermolekül eine Energie = 68 924 Wärmeeinheiten erforderlich. Woher kommt nun in obiger Kette die Energie? „Durch den
elektrolytischen Prozeß." Und woher nimmt sie der elektrolytische Prozeß? Keine Antwort. Nun aber erzählt uns ferner Wiedemann nicht einmal, sondern mindestens zweimal (I, S.472 und 614), daß überhaupt „nach neueren Erfahrungen [bei der Elektrolyse] das Wasser selbst nicht zersetzt wird", sondern in unserm Fall die Schwefelsäure H2SO4, die einerseits, zu H2, andrerseits zu S03 + 0 zerfällt, wobei H2 und 0 unter Umständen gasförmig entweichen können. Dadurch aber ändert sich die ganze Natur des Prozesses. Das H2 von H2S04 wird direkt ersetzt durch das zweiwertige Zink und bildet Zinksulfat ZnS04. Bleibt übrig auf der einen Seite H2, auf der andern S03 + O. Die beiden Gase entweichen in den Verhältnissen, in denen sie Wasser bilden, das S03 verbindet sich mit Lösungswasser H20 wieder zu H2S04, d.h. Schwefelsäure. Bei der Bildung von ZnS04 wird aber eine Energiemenge entwickelt, die nicht nur zur Verdrängung und Freisetzung des Wasserstoffs der Schwefelsäure hinreicht, sondern noch einen bedeutenden Überschuß läßt, der in unserm Fall zur Strombildung verwendet wird. Das Zink wartet also nicht, bis der elektrolytische Prozeß ihm den freien Sauerstoff zur Verfügung stellt, um sich damit erst zu oxydieren und dann in der Säure zu lösen. Im Gegenteil. Es tritt direkt in den Prozeß ein, der erst durch diesen Eintritt des Zinks überhaupt zustande kommt. Wir sehen hier, wie den veralteten Kontaktvorstellungen veraltete chemische Vorstellungen zu Hülfe kommen. Nach der neueren Anschauung ist ein Salz eine Säure, worin der Wasserstoff durch ein Metall ersetzt ist. Der hier zu untersuchende Vorgang bestätigt diese Anschauung: Die direkte Verdrängung des Wasserstoffs der Säure durch das Zink erklärt den Energieumsatz vollkommen. Die ältere Anschauung, der Wiedemann folgt, hält ein Salz für eine Verbindung eines Metalloxyds mit einer Säure und spricht daher statt von Zinksulfat von schwefelsaurem Zinkoxyd. Um aber in unsrer Kette von Zink und Schwefelsäure zu schwefelsaurem Zinkoxyd zu kommen, muß das Zink erst oxydiert werden. Um das Zink schnell genug zu oxydieren, müssen wir freien Sauerstoff haben. Uin zu freiem Sauerstoff zu kommen, müssen wir - da am Kupfer Wasserstoff erscheint annehmen, daß das Wasser zersetzt wird. Um das Wasser zu zersetzen, brauchen wir eine gewaltige Energie. Wie zu dieser kommen? Einfach „durch den elektrolytischen Prozeß", der selbst wieder nicht in Gang kommen kann, solange nicht sein chemisches Schlußprodukt, das „schwefelsaure Zinkoxyd", angefangen, sich zu bilden. Das Kind gebiert die Mutter.
Auch hier also wird bei Wiedemann der ganze Verlauf total umgekehrt und auf den Kopf gestellt. Und zwar deswegen, weil Wiedemann aktive und passive Elektrolyse, zwei direkt entgegengesetzte Prozesse, ohne weiteres zusammenwirft als Elektrolyse schlechthin.
Bisher haben wir nur die Vorgänge in der Kette untersucht, d.h. denjenigen Prozeß, bei dem ein Überschuß von Energie durch chemische Aktion frei und durch die Einrichtungen der Kette in Elektrizität umgesetzt wird. Dieser Prozeß kann aber bekanntlich auch umgekehrt werden: Die in der Kette aus chemischer Energie dargestellte Elektrizität des dauernden Stroms kann ihrerseits wieder in chemische Energie rückverwandelt werden in der in den Schließungskreis eingesetzten Zersetzungszelle. Beide Prozesse sind augenscheinlich einander entgegengesetzt; fassen wir den ersten als chemisch-elektrisch, so ist der zweite elektro-chemisch. Beide können in demselben Schließungskreise an den gleichen Stoffen vorgehn. So kann die Säule aus Gaselementen, deren Strom durch Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser erzeugt wird, in einer eingeschalteten Zersetzungszelle Wasserstoffgas UHU Bauers cottg CCiS Iii den Verhältnissen liefern, in denen sie Wasser bilden. Die übliche Betrachtungsweise faßt diese beiden entgegengesetzten Prozesse zusammen unter den Einen Ausdruck" Elektrolyse und unterscheidet nicht einmal zwischen einer ak— tiven und einer passiven Elektrolyse, einer Erregerflüssigkeit und einem passiven Elektrolyten. So behandelt Wiedemann die Elektrolyse im allgemeinen auf 133 Seiten und fügt dann am Schluß einige Bemerkungen über „Elektrolyse in der Kette" hinzu, von denen die Vorgänge in wirklichen Ketten noch dazu nur den kleinsten Teil der 17 Seiten dieses Abschnitts einnehmen. Auch in der folgenden „Theorie der Elektrolyse" wird dieser Gegensatz von Kette und Zersetzungszelle nicht einmal erwähnt, und wer in dem sich anschließenden Kapitel „Einfluß der Elektrolyse auf den Leitungswiderstand und [die] elektromotorische Kraft im Schließungskreis" irgendwelche Berücksichtigung der Energieumsätze im Schließungskreise suchte, der würde bitter enttäuscht werden. Betrachten wir nun den unwiderstehlichen „elektrolytischen Prozeß", der ohne sichtbare Energiezufuhr H2 von 0 trennen kann und der in den vorliegenden Abschnitten des Buchs dieselbe Rolle spielt wie vorhin die geheimnisvolle „elektrische Scheidungskraft".
„Neben dem primären, rein elektrolytischen1 Prozeß der Trennung der Ionen treten nun noch eine Menge sekundärer, von demselben ganz unabhängiger, rein chemischer Prozesse durch Einwirkung der durch den Strom abgeschiednen Ionen auf. Diese Einwirkung kann auf den Stoff der Elektroden und auf den zersetzten Körper, in Lösungen auch auf das Lösungsmittel stattfinden." (I, S.481.) Gehn wir zurück auf obige Kette: Zink und Kupfer in verdünnter Schwefelsäure. Hier sind nach Wiedemanns eigner Aussage die getrennten Ionen das H2 und O des Wassers. Folglich ist ihm die Oxydation des Zinks und die Bildung von ZnS04 ein sekundärer, vom elektrolytischen Prozeß unabhängiger, rein chemischer Vorgang, trotzdem durch ihn der primäre erst möglich wird. Betrachten wir nun etwas im einzelnen die Verwirrung, die aus dieser Verkehrung des wirklichen Verlaufs notwendig entstehn muß. Halten wir uns zunächst an die sog. sekundären Prozesse in der Zersetzungszelle, wovon uns Wiedemann einige Beispiele* vorführt (S. 481/482).
I. Elektrolyse von schwefelsaurem Natron (Na2S04), in Wasser gelöst. Dies „zerfällt... in 1 Äq. S03 + 0... und 1 Äq. Na... Letzteres reagiert aber auf das Lösungswasser und scheidet aus demselben 1 Äq. H ab, während sich 1 Äq. Natron [NaOH] bildet und in dem umgebenden Wasser löst". Die Gleichung ist: Na2S04 + 2 H20 = O + S03 + 2 NaOH + 2H. In diesem Beispiel könnte in der Tat die Zersetzung Na2S04 = Na2 + S03 + O als primärer, elektrochemischer, und die weitere Umsetzung Na2 + 2H20 = 2NaOH + 2 H als sekundärer, rein chemischer Vorgang gefaßt werden. Aber dieser sekundäre Vorgang wird unmittelbar an der Elektrode bewirkt, wo der Wasserstoff erscheint, die dabei freigesetzte, sehr bedeutende Energiemenge (III 810 Wärmeeinheiten für Na, O, H, aq. nach Jul. Thomsen) wird daher, wenigstens größtenteils, in Elektrizität umgesetzt, und nur ein Teil in der Zelle unmittelbar in Wärme verwandelt. Letzteres kann aber auch der in der Kette direkt oder primär freigesetzten chemischen Energie passieren.
* Ein für allemal sei bemerkt, daß Wiedemann überall die alten chemischen Äquivalentwerte anwendet, HO, ZnCl usw. schreibt. In meinen Gleichungen sind überall die modernen Atomgewichte angewandt, es heißt also H20, ZnCl2 usw.
Die so verfügbar gewordene und in Elektrizität verwandelte Energiemenge subtrahiert sich aber von derjenigen, die der Strom zur fortdauernden Zersetzung des Na2S04 liefern muß. Erschien die Verwandlung des Natriums in Oxydhydrat im ersten Moment des Gesamtvorgangs als sekundärer Frozeß, so wird sie vom zweiten Moment an wesentlicher Faktor des Gesamtvorgangs und hört damit auf, sekundär zu sein. Nun findet aber noch ein dritter Prozeß in dieser Zersetzungszelle statt: S03 verbindet sich, falls es nicht mit dem Metall der positiven Elektrode eine Verbindung eingeht, wobei wieder Energie frei würde, mit H20 zu H2S04, Schwefelsäure. Diese Umsetzung geht aber nicht notwendig unmittelbar an der Elektrode vor sich, und die dabei freiwerdende Energiemenge (21 320 Wärmeeinheiten, J.Thomsen) verwandelt sich daher ganz oder zum allergrößten Teil in der Zelle selbst in Wärme und gibt höchstens einen sehr kleinen Teil als Elektrizität an den Strom ab. Der einzige wirklich sekundäre Prozeß, der in dieser Zelle vorgeht, wird also von Wiedemann gar nicht erwähnt.
II. „Elektrolysiert man eine Lösuni, von Kupfervitriol [CuS04 + 5H20] zwischen einer positiven Elektrode von Kupfer und einer negativen von Platin, so scheidet sich, bei gleichzeitiger Zersetzung von schwefelsaurem Wasser in demselben Stromkreis, an der negativen Platinelektrade auf 1 Aq. zersetzten Wassers 1 Äq. Kupfer aus; an der positiven Elektrode sollte 1 Äq. SO4 erscheinen; letzteres verbindet sich aber mit dem Kupfer der Elektrode zu 1 Äq. Q1SO4, welches sich in dem Wasser der elektrolysierten Lösung auflöst." [I, S.481.]
IT* KAKEN UNE A^OR» P^ATÖA IN ^LAS« RRTAFLA^RSARS TT 11UUV1I ULLO U^LL A 1 U^W III UVA 111UUW1 11^11 VTLWILLTOULL^LL 4 SMOU1 UOIVO TT ULOU also so vorzustellen: Am Platin schlägt sich Cu nieder; das freiwerdende S04, das als solches für sich nicht bestehn kann, zerfällt in S03 4- O, welches letztere frei entweicht; S03 nimmt aus dem Lösungswasser H20 auf und bildet H2Sü4, welches sich wieder unter Freisetzung von H2 mit dem Kupfer der Elektrode zu CuS04 verbindet. Wir haben hier, genau gesprochen, drei Vorgänge: 1. Trennung von Cu und S04; 2. S03 + O + H20 = H2S04 + 0; 3. H2S04 + Cu = H2 + CuS04. Es liegt nahe, den ersten als primär, die beiden andern als sekundär aufzufassen. Fragen wir aber nach den Energieumsätzen, so finden wir, daß der erste durch einen Teil des dritten Vorgangs vollständig kompensiert wird: die Trennung des Kupfers von S04 durch die Wiedervereinigung beider an der andern Elektrode. Wenn wir von der zur Fortschiebung des Kupfers von einer Elektrode zur andern erforderlichen Energie absehn und ebenso von unvermeidlichem, nicht genau bestimmbarem Energieverlust in der Kette durch Umsetzung in Wärme, so haben wir hier den Fall, daß der sog.
primäre Vorgang dem Strom keine Energie entzieht. Der Strom liefert Energie ausschließlich zur Ermöglichung der noch dazu indirekten Trennung von H2 und 0, die als wirkliches chemisches Resultat des ganzen Prozesses sich erweist - also zur Durchführung eines sekundären oder gar tertiären Prozesses. In beiden obigen Beispielen wie auch in andern Fällen hat die Unterscheidung von primären und sekundären Prozessen indes eine unleugbare relative Berechtigung. So wird beide Male unter anderm anscheinend auch Wasser zersetzt und die Elemente des Wassers an den entgegengesetzten Elektroden abgeschieden. Da nach den neuesten Erfahrungen absolut reines Wasser dem Ideal eines Nichtleiters, also auch eines Nicht-Elektrolyts so nahe wie möglich kommt, ist es wichtig nachzuweisen, daß in diesen und ähnlichen Fällen nicht das Wasser direkt elektrochemisch zersetzt wird, sondern daß die Elemente des Wassers aus der Säure, zu deren Bildung hier das Lösungswasser allerdings mitwirken muß, abgeschieden werden. III. „Elektrolysiert man gleichzeitig in zwei U-förmigen Röhren... Chlorwasserstoffsäure [HCl + 8 Ha0]... und bedient sich in dem einen Rohr einer positiven Elektrode von Zink, in dem andern einer solchen von Kupfer, so löst sich in dem ersten Rohre die Zinkmenge 32,53, in dem zweiten die Kupfermenge 2x31,7." II, S.482.] Lassen wir das Kupfer einstweilen beiseite, und halten wir uns ans Zink. Als primärer Prozeß gilt hier die Zersetzung von HCl, als sekundärer die Lösung von Zn. Nach dieser Auffassung also führt der Strom von außen der Zersetzungszelle die zur Trennung von H und Cl nötige Energie zu, und nachdem diese Trennung vollzogen, vereinigt sich das Cl mit dem Zn, wobei eine Energiemenge frei wird, die sich von der zur Trennung von H und Cl erforderlichen subtrahiert; der Strom braucht also nur die Differenz zuzuführen. Soweit stimmt alles aufs schönste; betrachten wir uns aber die beiden Energiemengen näher, so finden wir, daß die bei Bildung von ZnCl2 freigesetzte größer ist als die bei Trennung von 2HCl verbrauchte; daß also der Strom nicht nur keine Energie zuzuführen braucht, sondern im Gegenteil Energie empfängt. Wir haben gar kein passives Elektrolyt mehr vor uns, sondern eine Erregerflüssigkeit, keine Zersetzungszelle, sondern eine Kette, die die strombildende Säule um ein neues Element verstärkt; der Prozeß, den wir als sekundär auffassen sollen, wird absolut primär, wird die Energiequelle des ganzen Vorgangs und macht ihn unabhängig von dem zugeführten Strom der Säule.
Hier sehn wir deutlich, was die Quelle der ganzen in Wiedemanns theoretischer Darstellung herrschenden Verwirrung ist. Wiedemann geht aus von der Elektrolyse, ob diese aktiv oder passiv, Kette oder Zersetzungszelle, ist einerlei: Pflasterkasten ist Pflasterkasten, wie der alte Major zum „Einjährigen" Doktor der Philosophie sagte12'17'. Und da die Elektrolyse in der Zersetzungszelle viel einfacher zu studieren ist als in der Kette, so geht er tatsächlich aus von der Zersetzungszelle, macht die in ihr sich vollziehenden Vorgänge, ihre teilweise berechtigte Einteilung in primäre und sekundäre, zum Maßstab der gradezu umgekehrten Vorgänge in der Kette und merkt dabei nicht einmal, wenn ihm unter der Hand die Zersetzungszelle sich in eine Kette verwandelt. Daher kann er den Satz aufstellen: „Die chemische Affinität der ausgeschiedenen Stoffe gegen die Elektroden ist ohne Einfluß auf den eigentlichen elektrolytischen Prozeß" (I, S.471),
ein Satz, der in dieser absoluten Form, wie wir sahen, total falsch ist. Daher dann die dreifache Theorie der Strombildung bei ihm: zuerst die altüberkommene, vermittelst des reinen Kontakts; zweitens die vermittelst der schon abstrakter gefaßten elektrischen Scheidungskraft, die auf unerklärliche Weise sich oder dem „elektrolytischen Prozeß" die Energie verschafft, das H und Cl in der Kette auseinanderzureißen und außerdem noch einen Strom zu bilden; endlich die moderne, chemisch-elektrische, die in der algebraischen Summe aller chemischen Aktionen in der Kette die Quelle dieser Energie nachweist. Wie er nicht merkt, daß die zweite Erklärung die crefo UTrsc^ÄRi- ^KßTlcrsTAronior alinf s^f rlsfi /lia H V: r1- r.~ r- .-1 :,.7,.,i . V, -J IV UIIIUIUI^T, V^I/VI^WYIV^IJ, VI , A • 1 INIWO^ILO UI^ F, YTUILV. über den Haufen wirft. Im Gegenteil, der Satz von der Erhaltung der Energie wird ganz äußerlich an die alte, von der Routine überkommene Theorie angefügt, wie man einen neuen geometrischen Lehrsatz an die früheren anhängt. Keine Ahnung davon, daß dieser Satz eine Revision der ganzen traditionellen Anschauungsweise auf diesem wie auf allen andern Gebieten der Naturwissenschaft nötig macht. Dabei beschränkt sich Wiedemann darauf, ihn bei der Stromerklärung einfach zu konstatieren, und legt ihn dann ruhig beiseite, um ihn erst ganz am Schluß des Buchs, im Kapitel über die Arbeitsleistungen des Stroms, wieder hervorzusuchen. Selbst in der Theorie der Elektrizitätserregung durch Kontakt (I, S.781 ff.) spielt die Erhaltung der Energie in Beziehung auf die Hauptsache gar keine Rolle und wird nur gelegentlich zur Aufhellung von Nebenpunkten herbeigezogen; sie ist und bleibt ein „sekundärer Vorgang". Kehren wir zurück zu obigem Exempel III. Dort wurde durch denselben Strom in zwei U-förmigen Röhren Chlorwasserstoffsäure elektrolysiert,
aber in der einen Zink, in der andern Kupfer als positive Elektrode verwandt. Nach dem Faradayschen elektrolytischen Grundgesetz zersetzt derselbe galvanische Strom in jeder Zelle äquivalente Mengen der Elektrolyte, und die Quantitäten der an beiden Elektroden abgeschiednen Stoffe stehn gleichfalls im Verhältnis ihrer Äquivalente (I, S.470). Nun fand sich, daß in obigem Fall im ersten Rohr die Zinkmenge 32,53, im andern die Kupfermenge 2 X 31,7 gelöst wurde.
„Es ist dies indes", fährt Wiedemann fort, „kein Beweis für die Äquivalenz dieser Werte. Dieselben werden nur bei sehr wenig dichten Strömen unter Bildung von Zinkchlorid ... einerseits und von Kupferchlorür... andererseits beobachtet. Bei dichteren Strömen würde für dieselbe gelöste Zinkmenge die Menge des gelösten Kupfers unter Bildung steigender Mengen von Chlorid... bis zu 31,7 sinken." Zink bildet bekanntlich nur eine Chlorverbindung, Zinkchlorid ZnCl2; Kupfer dagegen zwei, Cuprichlorid CuCl2 und Cuprochlorid Cu2Cl2. Der Hergang ist also, daß der schwache Strom auf je zwei Chloratome von der Elektrode zwei Kupferatome losreißt, die mit einer ihrer beiden Verbindungseinheiten unter sich verbunden bleiben, während ihre beiden freien Verbindungseinheiten sich mit den zwei Chloratomen vereinigen: Cu Cl
Cu Cl
Wird der Strom dagegen stärker, so reißt er die Kupferatome ganz voneinander, und jedes für sich vereinigt sich mit zwei Chloratomen:
Cu
Bei Strömen mittlerer Stärke bilden sich beide Verbindungen, nebeneinander. Es ist also lediglich die Stromstärke, die die Bildung der einen oder der andern Verbindung bedingt, und der Vorgang ist daher wesentlich elektro~ chemisch, wenn anders dies Wort einen Sinn hat. Trotzdem erklärt ihn Wiedemann ausdrücklich für sekundär, also für nicht elektrochemisch, sondern rein chemisch. Der obige Versuch ist von Renault (1867) und gehört zu einer ganzen Reihe ähnlicher Versuche, bei denen derselbe Strom in einer U-Röhre durch Kochsalzlösung (positive Elektrode Zink), in einer andern Zelle durch wechselnde Elektrolyte mit verschiednen Metallen als positiven Elektroden
geleitet wurde. Hierbei wichen die auf ein Äquivalent Zink gelösten Mengen der andern Metalle sehr ab, und Wiedemann gibt die Resultate der ganzen Versuchsreihe, die aber in der Tat meist chemisch sich von selbst verstehn und gar nicht anders sein können. So wurde auf 1 Äq. Zink nur s/3 Aq. Gold in Salzsäure gelöst. Dies kann nur dann verwunderlich erscheinen, wenn man sich wie Wiedemann an die alten Äquivalentgewichte hält und für Zinkchlorid ZnCl schreibt, wonach das Chlor sowohl wie das Zink nur mit einer Verbindungseinheit in dem Chlorid erscheint. In Wirklichkeit stecken darin auf ein Zinkatom zwei Chloratome (ZnCl2), und sowie wir diese Formel kennen, sehn wir sofort, daß in obiger Bestimmung der Äquivalente das Chloratom als Einheit anzunehmen ist und nicht das Zinkatom. Die Formel für Goldchlorid ist aber AuC!3, wonach es auf der Hand liegt, daß 3 ZnCl2 genaüsoviel Chlor enthalten wie 2AuCl3 und somit alle, primären, sekundären und tertiären Prozesse in der Kette oder Zelle genötigt sein werden, auf einen in Zinkchlorid verwandelten Gewichtsteil12481 Zink nicht mehr und nicht weniger als 2/3 Gewichtsteile Gold in Goldchlorid zu verwandeln. Dies gilt absolut, es sei denn, daß auch die Verbindung AuCl auf galvanischem Wege herstellbar wäre, in welchem Falle auf 1 Äq. Zink sogar 2Äq. Gold gelöst werden müßten, und wo dann auch ähnliche Variationen je nach der Stromstärke eintreten könnten wie oben beim Kupfer und Chlor. Der Wert der Versuche von Renault besteht darin, daß sie aufzeigen, wie das Faradaysche Gesetz bestätigt wird durch Tatsachen, die ihm zu widersprechen scheinen. Was sie aber zur Beleuchfnrs« ^rArs eöLursrlaVcrs Vn?"rrQ«rfön köi Plolrf^Alirea kaifi'anföPi e?n]Inr-. -a-3» V1M V VI GUILGVIL UVT VI J OW UVLUUGVIL OWILWJ N > nicht abzusehn. Das dritte Beispiel aus Wiedemann führte uns bereits wieder von der Zersetzungszelle zur Kette. Und in der Tat bietet die Kette bei weitem das größte Interesse dar, sobald man die elektrolytischen Vorgänge in Beziehung auf die dabei stattfindenden Umsetzungen von Energie untersucht. So stoßen wir nicht selten auf Ketten, in denen die chemisch-elektrischen Prozesse direkt im Widerspruch mit dem Gesetz der Erhaltung der Energie zu stehn und sich entgegen der chemischen Verwandtschaft zu vollziehen scheinen. Nach Poggendorffs Messungen'249' liefert die Kette: Zink, konzentrierte Kochsalzlösung, Platin, einen Strom von der Stärke 134,61. Wir haben hier also eine ganz respektable Elektrizitätsmenge, 1/3 mehr als im Daniell
1 Am Rande des Manuskripts fügte Engels hinzu: „Wenn man annimmt, daß die Stromstärke von einem Danielischen Element — 100."
sehen Element. Woher stammt die hier als Elektrizität erscheinende Energie? Der „primäre" Vorgang ist die Verdrängung des Natriums aus der Chlorverbindung durch das Zink. Aber in der gewöhnlichen Chemie verdrängt nicht das Zink das Natrium, sondern umgekehrt, das Natrium verdrängt das Zink aus Chlor- und andern Verbindungen. Der „primäre" Vorgang, weit entfernt davon, dem Strom obige Energiemenge abgeben zu können, bedarf im Gegenteil, um zustande zu kommen, selbst einer Energiezufuhr von außen. Mit dem bloßen „primären" Vorgang sitzen wir also wieder fest. Sehen wir uns also den wirklichen Vorgang an. Da finden wir» daß die Umsetzung ist nicht Zn + 2NaCl = ZnCl2 + 2Na, sondern Zn + 2NaCl + 2H20 = ZnCl2 + 2NaOH + H2. Mit andern Worten, das Natrium wird nicht an der negativen Elektrode frei abgeschieden, sondern oxydratisiert, wie oben im Beispiel I (S.[419/420]). Um die hierbei stattfindenden Energieumsätze zu berechnen, geben uns Julius Thomsens Bestimmungen wenigstens Anhaltspunkte. Danach haben wir freigesetzte Energie bei den Verbindungen: (Zn, Cl2) = 97 210, (ZnCl2, aqua) = 15 630 zusammen für gelöstes Zinkchlorid =112 840 Wärmeeinheiten 2(Na, O, H, aqua) = 223 620 „ 336 460 „ „ Davon ab Energieverbrauch bei den Trennungen: 2(Na, Cl, aq.) = 193 020 Wärmeeinheiten 2(Ha,Q) = 136 720 „ „ 329 740 . „ Überschuß freigesetzter Energie == 6720 Wärmeeinheiten. Diese Summe ist offenbar gering für die erlangte Stromstärke, aber sie reicht hin, um einerseits die Trennung des Natriums vom Chlor und andrerseits die Strombildung überhaupt zu erklären. Hier haben wir ein schlagendes Beispiel dafür, daß die Unterscheidung von primären und sekundären Vorgängen durchaus relativ ist und uns ad absurdum führt, sobald wir sie absolut nehmen. Der primäre elektrolytische Prozeß kann, allein genommen, nicht nur keinen Strom erzeugen, sondern nicht einmal sich selbst vollziehn. Der sekundäre, angeblich rein chemische Prozeß ist es, der den primären erst möglich macht und oben
drein den ganzen Energieüberschuß für die Strombildung liefert. Er hat sich also in Wirklichkeit als der primäre, und dieser sich als sekundär erwiesen. Wenn Hegel den Metaphysikern und metaphysizierenden Naturforschern ihre eingebildeten festen Unterschiede und Gegensätze dialektisch in ihr Gegenteil verkehrte, so hieß es, er habe ihnen die Worte im Munde verdreht. Wenn aber die Natur damit ebenso verfährt wie der alte Hegel, so wird es doch wohl Zeit, die Sache etwas näher zu untersuchen. Mit größerem Recht kann man Vorgänge als sekundär betrachten, die sich zwar infolge des chemisch-elektrischen Prozesses der Kette oder des elektrochemischen der Zersetzungszelle vollziehn, aber unabhängig und getrennt davon, die also in einiger Entfernung von den Elektroden stattfinden. Die bei solchen sekundären Prozessen vor sich gehenden Energieumsätze treten daher auch nicht in den elektrischen Prozeß ein; weder entziehn sie, noch liefern sie ihm direkt Energie. Solche Vorgänge kommen in der Zersetzungszelle sehr häufig vor; wir hatten oben unter Ex. I ein Beispiel an der Bildung von Schwefelsäure bei der Elektrolyse von Natriumsulfat. Sie haben hier jedoch weniger Interesse. Dagegen ist ihr Auftreten in der Kette von größerer praktischer Wichtigkeit. Denn wenn sie auch dem chemischelektrischen Prozeß nicht direkt Energie zufügen oder entziehn, so verändern sie doch die Summe der in der Kette überhaupt vorhandenen verfügbaren Energie und affizieren ihn dadurch indirekt. Dahin gehören, außer nachträglichen chemischen Umsetzungen gewöhnlicher Art, die Erscheinungen, welche auftreten, wenn die Ionen an den Elektroden in einen andern Zustand abgeschieden werden als der, worin sie gewöhnlich frei auftreten, und wenn sie dann in diesen letzteren übergehn, erst nachdem sie sich von den Elektroden entfernt haben. Die Ionen können dabei eine andre Dichtigkeit oder einen andern Aggregatzustand annehmen. Sie können aber auch in Beziehung auf ihre Molekularkonstitution bedeutende Veränderungen erleiden, und dieser Fall ist der interessanteste. In allen diesen Fällen entspricht der sekundären, in einer gewissen Entfernung von den Elektroden vor sich gehenden chemischen oder physikalischen Veränderung der Ionen eine analoge Wärmeveränderung; meist wird Wärme freigesetzt, in einzelnen Fällen wird sie verbraucht. Diese Wärmeänderung beschränkt sich selbstredend zunächst auf den Ort, wo sie eintritt: Die Flüssigkeit in der Kette oder Zersetzungszelle erwärmt sich oder kühlt sich ab, der übrige Schließungskreis bleibt davon unberührt. Daher heißt diese Wärme die loyale Wärme. Um das Äquivalent dieser in der Kette erzeugten positiven oder negativen lokalen Wärme wird also die für die Umwandlung in Elektrizität disponible, freigesetzte chemische Energie
vermindert, resp. vermehrt. In einer Kette mit Wasserstoffsuperoxyd und Salzsäure wurde nach Favre 2/3 der ganzen freigesetzten Energie als lokale Wärme verbraucht; das Grovesche Element dagegen kühlte sich nach der Schließung bedeutend ab und führte also dem Stromkreis durch Wärmeabsorption noch Energie von außen zu. Wir sehen also, daß auch diese sekundären Prozesse auf den primären zurückwirken. Wir mögen uns anstellen, wie wir wollen, die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Vorgängen bleibt eine bloß relative und hebt sich in der Wechselwirkung beider aufeinander regelmäßig wieder auf. Wenn man dies vergißt, wenn man solche relativen Gegensätze als absolute behandelt, so fährt man schließlich rettungslos in Widersprüchen fest, wie wir oben gesehn. Bei der elektrolytischen Abscheidung von Gasen beschlagen sich bekanntlich die Metallelektroden mit einer dünnen Gasschicht; die Stromstärke nimmt infolgedessen ab, bis die Elektroden mit Gas gesättigt sind, worauf der geschwächte Strom wieder konstant wird. Favre und Silbermann haben nachgewiesen, daß in einer solchen Zersetzungszelle ebenfalls lokale Wärme entsteht, die nur daher rühren kann, daß die Gase an den Elektroden nicht in dem Zustand freigesetzt werden, in dem sie gewöhnlich auftreten, sondern daß sie nach ihrer Trennung von den Elektroden erst in diesen gewöhnlichen Zustand versetzt werden durch einen weiteren mit Wärmeentwicklung verbundenen Prozeß. Aber in weichern Zustand werden die Gase an den Elektroden abgeschieden? Man kann sich hierüber nicht vorsichtiger aussprechen, als Wiedemann dies tut. Er nennt ihn „einen gewissen", einen „allotropen", einen „aktiven", bei Sauerstoff endlich manchmal einen „ozonisierten" Zustand. Beim Wasserstoff wird noch viel geheimnisvoller gesprochen. Gelegentlich bricht die Ansicht durch, daß Ozon und Wasserstoffsuperoxyd die Formen sind, in denen dieser „aktive" Zustand sich realisiert. Dabei verfolgt das Ozon unsern Verfasser derart, daß er sogar die extrem elektronegativen Eigenschaften gewisser Superoxyde daraus erklärt, daß sie „einen Teil des Sauerstoffs möglicherweise im ozonisierten Zustand1 enthalten"! (I, S. 57.) Sicher bildet sich bei der sog. Wasserzersetzung sowohl Ozon wie Wasserstoffsuperoxyd, aber nur in kleinen Mengen. Es fehlt aller Grund anzunehmen, daß die lokale Wärme im vorliegenden Fall durch erst Entstehung und dann Zersetzung größerer Mengen obiger beider Verbindungen vermittelt werde. Die Bildungswärme von Ozon (03) aus den freien Sauerstoffatomen kennen wir nicht. Diejenige
des Wasserstoffsuperoxyds aus H20 (flüssig) + O ist nach Berthelot12503 = — 21 480; die Entstehung dieser Verbindung in größeren Mengen würde also einen starken Energiezuschuß (etwa 30 Prozent der zur Trennung von H2 und O erforderlichen Energie) bedingen, der doch auffällig und nachweisbar sein müßte. Endlich aber würden Ozon und Wasserstoffsuperoxyd nur vom Sauerstoff Rechenschaft geben (wenn wir von Stromumkehrungen absehn, wobei beide Gase an derselben Elektrode zusammenkämen), nicht aber vom Wasserstoff. Und doch entweicht auch dieser in einem „aktiven" Zustand, so zwar, daß er sich in der Kombination; Kaliumnitratlösung zwischen Platinelektroden, mit dem aus der Säure abgeschiedenen Stickstoff direkt zu Ammoniak verbindet. Alle diese Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten existieren in der Tat nicht. Körper „in einem aktiven Zustand" abzuscheiden, ist kein Monopol des elektrolytischen Prozesses. Jede chemische Zersetzung tut dasselbe. Sie scheidet das freigesetzte chemische Element aus zunächst in der Form von freien Atomen 0, H, N etc., die sich erst nach ihrer Freisetzung zu Molekülen 02, H2, N2 etc. verbinden können und bei dieser Verbindung eine bestimmte, bisher indes noch nicht feststellbare Menge Energie abgeben, die als Wärme erscheint. Während des verschwindenden Augenblicks aber, wo die Atome frei sind, sind sie Träger der gesamten Energiemenge, die sie überhaupt auf sich nehmen können; im Besitz ihres Energiemaximums sind sie frei, jede sich ihnen darbietende Verbindung einzugehn. Sie sind also „in einem aktiven Zustand" gegenüber den Molekülen 02, H2, N2. die bereits einen Teil jener Energie abgegeben haben und in eine Verbindung mit andern Elementen nicht eintreten können, ohne daß diese abgegebne Energiemenge von außen wieder zugeführt werde. Wir haben also gar nicht nötig, erst zu Ozon und Wasserstoffsuperoxyd, die selbst erst Produkte jenes aktiven Zustands sind, unsre Zuflucht zu nehmen. Wir können z.B. die eben erwähnte Ammoniakbildung bei Elektrolyse von Kaliumnitrat auch ohne Kette einfach chemisch vornehmen, indem wir Salpetersäure oder eine Nitratlösung einer Flüssigkeit zusetzen, in der Wasserstoff durch chemische Prozesse frei wird. Der aktive Zustand des Wasserstoffs ist in beiden Fällen derselbe. Das Interessante am elektrolytischen Prozeß ist aber dies, daß hier das verschwindende Dasein freier Atome sozusagen faßbar wird. Der Vorgang teilt sich hier in zwei Phasen: Die Elektrolyse liefert die freien Atome an den Elektroden ab, aber ihre Verbindung zu Molekülen findet statt in einiger Entfernung von den Elektroden. So verschwindend klein diese Entfernung auch für Massenverhältnisse sein mag, sie reicht hin, um die Verwendung der bei der Molekülbildung freigesetzten Energie für den elek
Irischen Prozeß wenigstens großenteils zu verhindern und damit ihre Verwandlung in Wärme - die lokale Wärme in der Kette - zu bedingen. Hierdurch aber ist konstatiert, daß die Elemente als freie Atome abgeschieden worden sind und einen Moment als freie Atome in der Kette bestanden haben. Diese Tatsache, die wir in der reinen Chemie nur durch theoretische Schlußfolgerungen feststellen können, wird uns hier experimentell bewiesen, soweit dies möglich ist ohne sinnliche Wahrnehmung der Atome und Moleküle selbst. Und darin liegt die hohe wissenschaftliche Bedeutung der sog. lokalen Wärme der Kette.
Die Verwandlung der chemischen Energie in Elektrizität vermittelst der Kette ist ein Vorgang, über dessen Verlauf wir so gut wie nichts wissen und auch wohl erst dann etwas Näheres erfahren werden, wenn der modus operandi1 der elektrischen Bewegung selbst besser bekannt sein wird. Der Kette wird eine „elektrische Scheidungskraft" zugeschrieben, die für jede bestimmte Kette bestimmt ist. Wie wir gleich am Anfang sahen, ist von Wiedemann zugegeben, daß diese elektrische Scheidungskraft nicht eine bestimmte Form der Energie ist. Sie ist im Gegenteil zunächst nichts als das Vermögen, die Eigenschaft einer Kette, in der Zeiteinheit eine bestimmte Menge freigesetzter chemischer Energie in Elektrizität umzuwandeln. Diese chemische Energie selbst nimmt in dem ganzen Verlauf nie die Form der „elektrischen Scheidungskraft" an, sondern im Gegenteil sogleich und unmittelbar die der sog. „elektromotorischen Kraft", d. h. der elektrischen Bewegung. Wenn man im gewöhnlichen Leben von der Kraft einer Dampfmaschine spricht in dem Sinn, daß sie imstande ist, in der Zeiteinheit eine bestimmte Menge Wärme in Massenbewegung umzusetzen, so liegt darin kein Grund, diese Begriffsverwirrung auch in die Wissenschaft einzuführen. Ebensogut könnten wir von der verschiedenen Kraft einer Pistole, eines Karabiners, eines glattläufigen Gewehrs und einer Langgeschoßbüchse sprechen, weil sie bei gleicher Pul Verladung und gleichem Geschoßgewicht verschieden weit schießen. Hier tritt aber die Verkehrtheit des Ausdrucks deutlich vor Augen. Jedermann weiß, daß es die Entzündung der Pulverladung ist, die die Kugel forttreibt, und daß die verschiedne Tragweite der Waffe nur bedingt ist durch die größere oder geringere Energieverschwendung je nach der Rohrlänge, nach dem Spielraum des Geschosses12511 und nach seiner Form. Der Fall ist aber derselbe bei der Dampfkraft und bei der elektrischen Scheidungskraft. Zwei Dampfmaschinen
bei sonst gleichbleibenden Umständen, d. h. die in gleichen Zeiträumen in beiden freiwerdende Energiemenge gleichgesetzt - oder zwei galvanische Ketten, von denen dasselbe gilt, unterscheiden sich in ihren Arbeitsleistungen nur durch die in ihnen stattfindende größere oder geringere Energieverschwendung. Und wenn die Feuerwaffentechnik aller Armeen bisher fertig geworden ist ohne die Annahme einer besondern Schießkraft der Gewehre, so hat die Wissenschaft von der Elektrizität gar keine Entschuldigung für die Annahme einer, dieser Schießkraft analogen „elektrischen Scheidungskraft", einer Kraft, in der absolut keine Energie steckt, und die also auch aus sich selbst kein Milliontel Milligramm-Millimeter Arbeit leisten kann. Dasselbe gilt von der zweiten Form dieser „Scheidungskraft", der von Helmholtz erwähnten „elektrischen Kontaktkraft der Metalle". Sie ist nichts andres, als die Eigenschaft der Metalle, bei ihrem Kontakt vorhandene Energie anderer Form in Elektrizität umzusetzen. Sie ist also ebenfalls eine Kraft, die kein Fünkchen Energie enthält. Nehmen wir mit Wiedemann an, die Energiequelle der Kontaktelektrizität liege in der lebendigen Kraft der Adhäsionsbewegung; so existiert diese Energie zueist in der Form dieser Massenbewegung und setzt sich bei deren Verschwinden sofort um in elektrische Bewegung, ohne auch nur für einen Moment die Form der „elektrischen Kontaktkraft" anzunehmen. Und nun wird uns noch dazu versichert, dieser „elektrischen Scheidungskraft", die nicht nur keine Energie in sich enthält, sondern nach ihrem Begriff gar keine enthalten hann} sei proportional die elektromotorische Kraft, d. h. die als Elektrizitätsbewegung wieder erscheinende chemische Energie! Diese Proportionalität zwischen Nicht-Energie und Energie gehört offenbar in dieselbe Mathematik, in der das „Verhältnis der Elektrizitätseinheit zum Milligramm"1 figuriert. Hinter der absurden Form aber, die nur der Auffassung einer simplen Eigenschaft als einer mystischen Kraft ihr Dasein verdankt, steckt eine ganz einfache Tautologie: Die Fähigkeit einer bestimmten Kette, freiwerdende chemische Energie in Elektrizität zu verwandeln, wird gemessen - durch was? Nun, durch die Menge der als Elektrizität im Schließungskreis wieder erscheinenden Energie im Verhältnis zu der in der Kette verbrauchten chemischen. Das ist alles. Um zu einer elektrischen Scheidungskraft zu kommen, muß man den Notbehelf der beiden elektrischen Fluida ernsthaft nehmen. Um diese aus ihrer Neutralität heraus in ihre Polarität zu versetzen, um sie also aus
einanderzureißen, dazu gehört ein gewisser Aufwand von Energie - die elektrische Scheidungskraft. Einmal voneinander getrennt, können die beiden Elektrizitäten bei ihrer Wiedervereinigung dieselbe Energiemenge wieder abgeben - elektromotorische Kraft. Da aber heutzutage kein Mensch mehr, nicht einmal Wiedemann, die beiden Elektrizitäten als wirkliche Wesenheiten betrachtet, so hieße es für ein verstorbenes Publikum schreiben, wollte man auf solche Vorstellungsweise des breiteren eingehn. Der Grundirrtum der Kontakttheorie besteht darin, daß sie sich nicht von der Vorstellung trennen kann, die Kontaktkraft oder elektrische Scheidungskraft sei eine Energiequelle, was allerdings schwer war, nachdem man die bloße Eigenschaft eines Apparats, Energieverwandlung zu vermitteln, in eine Kraft verwandelt hatte; denn eine Kraft soll ja eben eine bestimmte Form der Energie sein. Weil Wiedemann diese unklare Kraftvorstellung nicht loswerden kann, obwohl sich ihm daneben die modernen Vorstellungen von unzerstörbarer und unerschaffbarer Energie aufgezwungen haben, deshalb verfällt er in jene sinnlose Stromerklärung Nr. I und in alle die später nachgewiesenen Widersprüche. Wenn der Ausdruck: elektrische Scheidungskraft, direkt widersinnig, so ist der andere: elektromotorische Kraft, mindestens überflüssig. Wir hatten Thermomotoren lange, ehe wir Elektromotoren hatten, und dennoch wird die Wärmetheorie ganz gut fertig ohne eine besondre thermomotorische Kraft. Wie der einfache Ausdruck Wärme alle Bewegungserscheinungen in sich faßt, die dieser Form der Energie angehören, so kann es auch der Ausdruck Elektrizität auf seinem Gebiet. Dazu sind sehr viele Wirkungsformen der Elektrizität gar nicht direkt „motorisch", das Magnelisieren von Eisen, die chemische Zersetzung, die Umwandlung in Wärme. Und endlich ist es in jeder Naturwissenschaft, selbst in der Mechanik, jedesmal ein Fortschritt, wenn man das Wort Kraft irgendwo los wird. Wir sahen, daß Wiedemann die chemische Erklärung der Vorgänge in der Kette nicht ohne ein gewisses Widerstreben annahm. Dies Widerstieben verfolgt ihn fortwährend; wo er der sog. chemischen Theorie etwas anhängen kann, geschieht's gewiß. So
„ist es durchaus nicht begründet, daß die elektromotorische Kraft proportional der Intensität der chemischen Aktion ist" (I, S.79I).
Ganz gewiß nicht in jedem Fall; wo aber diese Proportionalität nicht stattfindet, ist dies nur ein Beweis dafür, daß die Kette schlecht konstruiert ist, daß in ihr Energievergeudung stattfindet. Und deswegen hat derselbe Wiedemann ganz recht, wenn er in seinen theoretischen Ableitungen auf
dergleichen Nebenumstände, die die Reinheit des Prozesses fälschen, durchaus keine Rücksicht nimmt, sondern schlankweg versichert, die elektromotorische Kraft eines Elements sei gleich dem mechanischen Äquivalent der in der Zeiteinheit in demselben, bei der Einheit der Stromintensität» stattfindenden chemischen Aktion. An einer andern Stelle heißt es:
„Daß femer in der Säure-Alkali-Kette die Verbindung der Säure und des Alkalis nicht die Ursache der Strombildung ist» folgt aus den Versuchen §§61" (Becquerel und Fechner), „ §260" (DuBois-Reymond) und „§261"(Worm-Müller), „nach denen in gewissen Fällen, wenn sich dieselben in äquivalenten Mengen finden, kein Strom auftritt, und ebenso aus dem § 62 angeführten Versuche" (Henrici), „daß die elektromotorische Kraft bei Zwischenschaltung von Salpeterlösung zwischen die Kalilauge und Salpetersäure in gleicher Weise auftritt wie ohne dieselbe." (I, [S.} 7911/792].)
Die Frage, ob die Verbindung von Säure und Alkali eine Ursache der Strombildung sei, beschäftigt unsern Verfasser sehr ernstlich. Sie ist in dieser Form sehr einfach zu beantworten. Die Verbindung von Säure und Alkali ist zunächst die Ursache der Bildung von Salz unter Entbindung von Energie. Ob diese Energie ganz oder zum Teil die Form von Elektrizität annehmen soll, hängt von den Umständen ab, unter denen sie freigesetzt wird. In der Kette: Salpetersäure und Kalilösung zwischen Platinelektroden z. B. wird dies wenigstens teilweise der Fall sein, wobei es für die Strombildung gleichgültig ist, ob man eine Salpeterlösung zwischen Säure und Alkali schiebt oder nicht, da dies die Salzbildung höchstens verlangsamen, aber nicht verhindern kann. Macht man aber eine Kette wie die eine von Worm-Müller, auf die Wiedemann sich fortwährend beruft, wo Säure und Alkalilösung in der Mitte, an beiden Enden aber eine Lösung ihres Salzes sich befindet, und zwar in derselben Konzentration wie die sich in der Kette bildende Lösung, so kann selbstredend kein Strom entstehn, weil wegen der Endglieder - da sich überall identische Körper bilden - keine Ionen entstehn können. Man hat also die Umsetzung der freiwerdenden Energie in Elektrizität ebenso direkt verhindert, als hätte man den Kreis gar nicht geschlossen; man darf sich also nicht wundern, wenn man keinen Strom erhält. Daß aber Säure und Alkali überhaupt einen Strom erzeugen können, beweist die Kette: Kohle, Schwefelsäure (1 in 10 Wasser), Kali (1 in 10 Wasser), Kohle, die nach Raoult eine Stromstärke von 73* hat; und daß sie bei zweckmäßiger Einrichtung der Kette eine der bei ihrer Verbindung
* In allen folgenden Angaben über Stromstärke wird das Daniellsche Element = 100 gesetzt.
freigesetzten großen Energiemenge entsprechende Stromstärke liefern können, geht daraus hervor, daß die stärksten bekannten Ketten fast ausschließlich auf Bildung von Alkalisalzen beruhen, z. B. Wheatstone: Platin, Platinchlorid, Kaliumamalgam, Stromstärke 230; Bleisuperoxyd, verdünnte Schwefelsäure, Kaliumamalgam = 326; Mangansuperoxyd statt des Bleisuperoxyds = 280; wobei jedesmal, wenn statt Kaliumamalgam Zinkamalgam angewandt wurde, die Stromstärke fast genau um 100 abnahm. Ebenso erhielt Beetz in der Kette: fester Braunstein, Kaliumpermanganatlösung, Kalilauge, Kalium, die Stromstärke 302, ferner: Platin, verdünnte Schwefelsäure, Kalium = 293,8; Joule: Platin, Salpetersäure, Kalilauge, Kaliumamalgam = 302. Die „Ursache" dieser ausnahmsweise starken Strombildungen ist allerdings die Verbindung von Säure und Alkali, respektive Alkalimetall, und die dabei freigesetzte große Energiemenge.12521 Ein paar Seiten weiter heißt es abermals:
„Es ist indes wohl zu beachten, daß nicht direkt das Arbeitsäquivalent der ganzen, an der Kontaktstelle der heterogenen Körper auftretenden chemischen Aktion als Maß für die elektromotorische Kraft im geschlossenen Kreise anzusehn ist. Wenn z.B. in der Säure-Alkali-Kette" (iterum CrispinusU253]) „von Becquerel diese beiden Stoffe sich verbinden, wenn in der Kette: Platin, geschmolzener Salpeter, Kohle, die Kohle verbrennt, wenn in einem gewöhnlichen Element Kupfer, unreines Zink, verdünnte Schwefelsäure sich das Zink unter Bildung von Lokalströmen schnell auflöst, so wird ein großer Teil der bei diesen chemischen Prozessen erzeugten Arbeit" (soll heißen: freigesetzten Energie) „in Wärme verwandelt und geht so für den gesamten Stromkreis verloren." (I, S. 798.)
Alle diese Vorgänge führen sich zurück auf Energieverlust in der Kette; sie berühren nicht die Tatsache, daß die elektrische Bewegung aus umgewandelter chemischer Energie entsteht, sondern nur die Menge der umgewandelten Energie. Die Elektriker haben eine unendliche Zeit und Mühe darauf verwandt, die verschiedensten Ketten zu komponieren und ihre „elektromotorische Kraft" zu messen. Das hierdurch angehäufte experimentelle Material enthält sehr viel Wertvolles, aber sicher noch viel mehr Wertloses. Welchen wissenschaftlichen Wert haben Z.B.Versuche, in denen „Wasser" als Elektrolyt angewandt wird, das, wie jetzt durch F. Kohlrausch erwiesen, der schlechteste Leiter, also auch das schlechteste Elektrolyt ist*, wo also nicht
* Eine Säule des reinsten von Kohlrausch dargestellten Wassers von 1 mm Länge offerierte denselben Widerstand wie eine Kupferleitung vom gleichen Durchmesser und von der Länge etwa der Mondbahn (Naumann, „Allg. Chemie", S.729).
das Wasser, sondern seine unbekannten Unreinigkeiten den Prozeß vermitteln? Und doch beruht z. B. fast die Hälfte aller Versuche Fechners auf solcher Anwendung von Wasser, sogar sein „experimentum crucis "[2541, wodurch er die Kontakttheorie unerschütterlich auf den Trümmern der chemischen Theorie etablieren wollte. Wie schon hieraus hervorgeht, sind überhaupt in fast allen Versuchen, einige wenige ausgenommen, die chemischen Vorgänge in der Kette, in denen doch die Quelle der sog. elektromotorischen Kraft liegt, so gut wie unberücksichtigt geblieben. Es gibt aber eine ganze Reihe Ketten, aus deren chemischer Formulierung durchaus kein sicherer Schluß auf die nach der Stromschließung in ihnen vor sich gehenden chemischen Umsätze zu ziehn ist. Im Gegenteil ist, wie Wiedemann (I, S. 797) sagt,
„nicht zu leugnen, daß wir die chemischen Anziehungen in der Kette durchaus noch nicht in allen Fällen übersehen können".
Alle solche Experimente sind also nach der immer wichtiger werdenden chemischen Seite hin solange wertlos, bis sie unter Kontrollierung jener Prozesse wiederholt werden. Von einer Berücksichtigung der in der Kette sich vollziehenden Energieumsetzungen ist nun erst ganz ausnahmsweise bei diesen Versuchen die Rede. Viele sind gemacht, ehe das Gesetz von der Äquivalenz der Bewegung naturwissenschaftlich anerkannt war, schleppen sich aber gewohnheitsmäßig unkontrolliert und unabgeschlossen aus einem Handbuch ins andre fort. Wenn man gesagt hat: die Elektrizität hat keine Trägheit (was ungefähr soviel Sinn hat wie: die Geschwindigkeit hat kein spezifisches Gewicht), so kann man dies von der Elektrizitätslehre keineswegs behaupten.
Wir haben bisher das galvanische Element als eine Vorrichtung betrachtet, worin, infolge der hergestellten Kontaktverhältnisse, auf eine einstweilen unbekannte Weise, chemische Energie freigesetzt und in Elektrizität verwandelt wird. Wir haben ebenso die Zersetzungszelle als einen Apparat dargestellt, in dem der umgekehrte Prozeß eingeleitet, elektrische Bewegung in chemische Energie umgesetzt und als solche verbraucht wird. Wir mußten dabei die von den Elektrikern so sehr vernachlässigte chemische Seite des Vorgangs in den Vordergrund stellen, weil dies der einzige Weg war, den Wust der aus der alten Kontaktlehre und der Theorie von den beiden elektrischen Fluiden überkommenen Vorstellungen loszuwerden.
Dies einmal erledigt, handelt es sich darum, ob der chemische Prozeß in der Kette unter denselben Bedingungen vor sich geht wie außerhalb derselben, oder ob dabei besondre, von der elektrischen Erregung abhängige Erscheinungen auftreten. Unrichtige Vorstellungen in jeder Wissenschaft sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehn, unrichtige Vorstellungen von richtigen Tatsachen. Die letzteren bleiben, wenn wir auch die ersteren als falsch nachgewiesen. Haben wir die alte Kontakttheorie abgeschüttelt, so bestehn noch die festgestellten Tatsachen, denen sie zur Erklärung dienen sollte. Betrachten wir diese und damit die eigentlich elektrische Seite des Vorgangs in der Kette. Daß beim Kontakt heterogener Körper mit oder ohne chemische Veränderungen Elektrizitätserregung stattfindet, die vermittelst des Elektroskops resp. des Galvanometers nachzuweisen ist, darüber wird nicht gestritten. Die Energiequelle dieser an sich äußerst minimalen Bewegungserscheinungen ist im einzelnen Fall, wie wir schon anfangs sahen, schwer festzustellen, genug, die Existenz einer solchen äußeren Quelle ist allgemein zugegeben. Kohlrausch hat 1850-[18]53 eine Reihe von Versuchen veröffentlicht, worin er die einzelnen Bestandstücke einer Kette paarweise zusammenstellt und auf die jedesmal nachweisbaren statisch-elektrischen Spannungen prüft; aus der algebraischen Summe dieser Spannungen soll sich dann die elektromotorische Kraft des Elements zusammensetzen. So berechnet er, die Spannung Zn|Cu = 100 genommen, die relative Stärke des Daniellschen und Groveschen Elements wie folgt: Daniell: Zn|Cu + amalg. Zn|HaS04 + Cu|S04Cu - 100 + 149-21 = 228; Grove: Zn|Pt + amalg. Zn|H2S04 +Pt|HN03 = 107 + 149 + 149 = 405, was mit der direkten Messung der Stromstärke dieser Elemente nahezu stimmt. Diese Ergebnisse sind aber keineswegs sicher. Erstens macht Wiedemann selbst darauf aufmerksam, daß Kohlrausch nur das Schlußresultat, aber „leider keine Zahlenangaben für d'.e Ergebnisse der einzelnen Versuche angibt" [I, S. 104]. Und zweitens erkennt Wiedemann selbst wiederholt an, daß alle Versuche, die elektrischen Erregungen beim Kontakt von Metallen und mehr noch von Metall und Flüssigkeit, quantitativ zu bestimmen, wegen der zahl
reichen unvermeidlichen Fehlerquellen mindestens sehr unsicher sind. Wenn er trotzdem mehrfach mit Kohlrauschs Zahlen rechnet, so tun wir besser, ihm hierin nicht zu folgen, um so mehr, als ein andres Bestimmungsmittel vorliegt, gegen das sich diese Einwände nicht machen lassen. Senkt man die beiden Er reger platten einer Kette in die Flüssigkeit und verbindet sie dann mit den Enden eines Galvanometers zum Schließungskreis, so ist nach Wiedemann
„der anfängliche Ausschlag seiner Magnetnadel, ehe chemische Veränderungen die Stärke der elektrischen Erregung geändert haben, ein Maß für die Summe der elektromotorischen Kräfte im Schließungskreise" [I, S.62]. Verschieden starke Ketten geben also verschieden starke Anfangsausschläge, und die Größe dieser Anfangsausschläge ist proportional der Stromstärke der entsprechenden Ketten. Dies sieht aus, als hätten wir hier die „elektrische Scheidungskraft", die „Kontaktkraft", die unabhängig von jeder chemischen Aktion eine Bewegung verursacht, handgreiflich vor Augen. So in der Tat meint die gesamte Kontakttheorie. Und wirklich liegt hier eine Beziehung vor zwischen elektrischer Erregung und chemischer Aktion, die wir im vorstehenden noch nicht untersucht haben. Um hierauf überzugehn, wollen wir zunächst das sog. elektromotorische Gesetz etwas näher betrachten; wir werden dabei finden, daß auch hier die überkommenen Kontaktvorstellungen nicht nur keine Erklärung bieten, sondern den Weg zur Erklärung wieder direkt versperren. Wenn man in ein beliebiges Element aus zwei Metallen und einer Flüssigkeit, z. B. Zink, verdünnte Salzsäure, Kupfer, ein drittes Metall, z. B. eine Platinplatte, stellt, ohne sie mit dem äußern Schließungskreis durch einen Leitungsdraht zu verbinden, so ist der anfängliche Ausschlag des Galvanometers genau derselbe wie ohne die Platinplatte. Sie wirkt also nicht ein auf die Elektrizitätserregung. So einfach darf das aber in elektromotorischer Sprache nicht ausgedrückt werden. Es heißt da;
„An die Stelle der elektromotorischen Kraft von Zink und Kupfer in der Flüssigkeit ist nun aber die Summe der elektromotorischen Kräfte von Zink und Platin und Platin und Kupfer getreten. Da der Weg der Elektrizitäten durch die Einschiebung der Platinplatte nicht merklich geändert ist, so können wir aus der Gleichheit der Angaben des Galvanometers in beiden Fällen schließen, daß die elektromotorische Kraft von Zink und Kupfer in der Flüssigkeit gleich ist der von Zink und Platin plus der von Platin und Kupfer in derselben. Es entspräche dies der von Volta aufgestellten Theorie der Elektrizitätserregung zwischen den Metallen für sich. Man spricht das Resultat, welches für alle beliebigen Flüssigkeiten und Metalle gilt, aus, indem man sagt:
Die Metalle folgen bei ihrer elektromotorischen Erregung mit Flüssigkeiten dem Gesetz der Spannungsreihe. Man bezeichnet dies Gesetz auch mit dem Neunen des elektromotorischen Gesetzes." (Wiedemann, I, S.62.) Wenn man sagt, das Platin wirkt in dieser Kombination überhaupt nicht elektrizitätserregend, so spricht man die einfache Tatsache aus. Wenn man sagt, es wirkt doch elektrizitätserregend, aber in zwei entgegengesetzten Richtungen mit gleicher Stärke, so daß die Wirkung sich aufhebt, so verwandelt man die Tatsache in eine Hypothese, bloß um der „elektromotorischen Kraft" die Honneurs zu machen. In beiden Fällen spielt das Platin die Rolle des Strohmanns. Während des ersten Ausschlags existiert noch kein Schließungskreis. Die Säure, unzersetzt, leitet nicht; sie kann nur leiten vermittelst der Ionen. Wirkt das dritte Metall nicht auf den ersten Ausschlag, so kommt dies einfach daher, daß es noch isoliert ist. Wie verhält sich nun das dritte Metall nach Herstellung des dauernden . Stroms und während seiner Dauer? Die Spannungsreihe der Metalle in den meisten Flüssigkeiten hat das Zink nach den Alkalimetallen so ziemlich am positiven und das Platin am negativen Ende, und Kupfer steht zwischen beiden. Wird also wie oben Platin zwischen Kupfer und Zink gestellt, so ist es gegen beide negativ. Der Strom in der Flüssigkeit, wenn das Platin überhaupt wirkte, müßte vom Zink und vom Kupfer zum Platin fließen, also von beiden Elektroden weg zumunverbundenen Platin; was eine contradictio in adjecto1ist. Die Grundbedingung der Wirksamkeit mehrerer Metalle in der Kette besteht grade darin, daß sie nach außen zum Schließungskreis unter sich verbunden sind. Ein unverbundnes, überzähliges Metall in der Kette figuriert als Nichtleiter; es kann Ionen weder bilden noch durchlassen, und ohne Ionen kennen wir in Elektrolyten keine Leitung. Es ist also nicht bloß Strohmann, es ist sogar im Wege, indem es die Ionen zwingt, sich seitwärts an ihm vorbeizudrücken. Ebenso, wenn wir Zink und Platin verbinden und das Kupfer unverbunden in die Mitte stellen: Hier würde dieses, wenn es überhaupt wirkte, einen Strom vom Zink zum Kupfer und einen zweiten vom Kupfer zum Platin erzeugen, es müßte also als eine Art Zwischenelektrode dienen und an der dem Zink zugekehrten Seite Wasserstoff gas abscheiden, was wiederum unmöglich ist. Schütteln wir die überkommene elektromotorische Redeweise ab, so
stellt sich der Fall äußerst einfach. Die galvanische Kette, sahen wir, ist eine Vorrichtung, in der chemische Energie freigesetzt und in Elektrizität übergeführt wird. Sie besteht in der Regel aus einer oder mehreren Flüssigkeiten und zwei Metallen als Elektroden, die unter sich außerhalb der Flüssigkeiten leitend verbunden sein müssen. Damit ist der Apparat hergestellt. Was wir noch sonst in die Erregerflüssigkeit unverbunden eintunken, sei es Metall, Glas, Harz oder was sonst, kann an dem in der Kette vorgehenden chemisch-elektrischen Prozeß, an der Strombildung, nicht teilnehmen, solange es die Flüssigkeit nicht chemisch ändert, es kann den Prozeß höchstens stören. Was auch immer die elektrische Erregungsfähigkeit eines dritten, eingetauchten Metalls in Beziehung auf die Flüssigkeit und eine oder beide Elektroden der Kette sein möge, sie kann nicht wirken, solange dies Metall nicht außerhalb der Flüssigkeit mit dem Schließungskreis verbunden ist. Hiernach ist also nicht nur die obige Ableitung des sog. elektromotorischen Gesetzes durch Wiedemann falsch; auch der Sinn, den er diesem Gesetz gibt, ist falsch. Weder kann gesprochen werden von einer sich kompensierenden elektromotorischen Tätigkeit des unverbundnen Metalls, da dieser Tätigkeit von vornherein die einzige Bedingung abgeschnitten ist, unter der sie in Wirksamkeit treten kann; noch kann das sog. elektromotorische Gesetz abgeleitet werden aus einer Tatsache, die außer seinen Bereich fällt. Der alte Poggendorff veröffentlichte 1845 eine Reihe von Experimenten,
ir% ÖV /lio aldL-FVRKMRKFRIRI p/^KN I^^n HA?* TTNVP^li taJ^nci fon K^offo« J\ K IN U^II^N I/I UIC ^IUMI yji.nyjL.yjk IOUI^ A^IUH U^I V UI OCIUVUVIIPI^II AXV^IIV^II9 U< 41« die von jeder in der Zeiteinheit gelieferte Elektrizitätsmenge maß. Darunter sind von besondrem Wert die ersten 27, in deren jedem drei bestimmte Metalle in derselben Erregerflüssigkeit nacheinander zu drei verschiednen Ketten verbunden und diese auf die gelieferte fc/lektrizitätsmenge untersucht und verglichen werden. Als guter Kontaktelektriker stellte Poggendorff jedesmal auch das dritte Metall unverbunden mit in die Kette und hatte so die Genugtuung, sich zu überzeugen, daß in allen 81 Ketten dieser „Dritte im Bunde" ein reiner Strohmann blieb. Die Bedeutung dieser Versuche besteht aber keineswegs hierin, sondern vielmehr in der Bestätigung und in der Feststellung des richtigen Sinns des sog. elektromotorischen Gesetzes. Bleiben wir bei der obigen Reihe von Ketten, wo in verdünnter Salzsäure Zink, Kupfer und Platin je zu zweien unter sich verbunden werden. Hier fand Poggendorff die gelieferten Elektrizitätsmengen, wenn die eines Danielischen Elements = 100 gesetzt wird, wie folgt:
Zink-Kupfer = 78,8 Kupfer-Platin = 74,3
Summe 153J
Zink-Platin = 153,7
Zink in direkter Verbindung mit Platin lieferte also fast genau dieselbe Elektrizitätsmenge wie Zink-Kupfer + Kupfer—Platin. Dasselbe fand statt in allen andern Ketten, welche Flüssigkeiten und Metalle auch angewandt wurden. Wenn aus einer Reihe Metalle in derselben Erregerflüssigkeit Ketten gebildet werden, derart, daß je nach der für diese Flüssigkeit geltenden Spannungsreihe das zweite, dritte, vierte usw. nacheinander als negative Elektrode für das vorhergehende und als positive für das nächstfolgende dient, so ist die Summe der durch alle diese Ketten gelieferten Elektrizitätsmengen gleich der Elektrizitätsmenge, geliefert durch eine direkte Kette zwischen den beiden Endgliedern der ganzen Metallreihe. Es würden demnach z.B. in verdünnter Salzsäure die von den Ketten Zink—Zinn, ZinnEisen, Eisen—Kupfer, Kupfer—Silber, Silber—Platin insgesamt gelieferten Elektrizitätsmengen gleich sein der von der Kette Zink—Platin gelieferten; eine Säule, gebildet aus allen Elementen der obigen Reihe, würde unter sonst gleichen Verhältnissen durch ein mit entgegengesetzter Stromesrichtung eingeschaltetes Zink—Platin-Element gerade neutralisiert. In dieser Fassung erhält das sog. elektromotorische Gesetz eine wirkliche und große Bedeutung. Es enthält eine neue Seite des Zusammenhangs zwischen chemischer und elektrischer Aktion. Bisher, bei vorwiegender Untersuchung der Energiegue/Ze des galvanischen Stroms, erschien diese Quelle, die chemische Umsetzung, als die aktive Seite des Prozesses; die Elektrizität wurde aus ihr erzeugt, erschien also zunächst als passiv. Jetzt kehrt sich dies um. Die durch die Beschaffenheit der in der Kette in Berührung gesetzten heterogenen Körper bedingte elektrische Erregung kann der chemischen Aktion Energie weder zusetzen, noch entziehn (anders als durch Umsetzung frei werdender Energie in Elektrizität). Aber sie kann, je nach der Einrichtung der Kette, diese Aktion beschleunigen oder verlangsamen. Wenn die Kette Zink—verdünnte Salzsäure—Kupfer in der Zeiteinheit nur halb soviel Elektrizität für den Strom liefert, wie die Kette Zink—verdünnte Salzsäure—Platin, so heißt dies, chemisch ausgedrückt, daß die erste Kette in der Zeiteinheit nur halb soviel Zinkchlorid und Wasserstoff liefert wie die zweite. Die chemische Aktion ist also verdoppelt worden, obwohl die rein chemischen Bedingungen dieselben geblieben sind. Die elektrische
Erregung ist zum Regulator der chemischen Aktion geworden; sie erscheint jetzt als die aktive Seite, die chemische Aktion als die passive. So wird es denn verständlich, wenn eine ganze Reihe von früher als rein chemisch betrachteten Prozessen sich jetzt als elektrochemische darstellen. Chemisch reines Zink wird von verdünnter Säure, wenn überhaupt, nur sehr schwach angegriffen; gewöhnliches käufliches Zink dagegen löst sich rasch unter Salzbildung und Wasserstoffentwicklung; es enthält Beimischung von andern Metallen und Kohle, die an verschiednen Stellen der Oberfläche ungleich stark vertreten sind. Zwischen ihnen und dem Zink selbst bilden sich in der Säure Lokalströme, wobei die Zinkstellen die positiven, die andern Metalle die negativen Elektroden bilden, an denen die Wasserstoffbläschen sich ausscheiden. Ebenso wird die Erscheinung, daß in Kupfervitriollösung eingetauchtes Eisen sich mit einer Kupferschicht bedeckt, jetzt als eine elektrochemische angesehn: als bedingt durch Ströme, die zwischen den heterogenen Stellen der Eisenoberfläche entstehn. Demgemäß finden wir auch, daß die Spannungsreihen der Metalle in Flüssigkeiten im ganzen und großen den Reihen entsprechen, in denen die Metalle einander aus ihren Verbindungen mit den Halogenen und Säureradikalen verdrängen. Am äußersten negativen Ende der Spannungsreihen finden wir regelmäßig die Metalle der Goldgruppe: Gold, Platin, Palladium, Rhodium, die schwer oxydierbar sind, von Säuren kaum oder gar nicht angegriffen und aus ihren Salzen durch andre Metalle leicht gefällt werden. Am äußersten positiven Ende stehn die Alkalimetalle, die das grade entgegengesetzte Verhalten zeigen: Sie sind aus ihren Oxyden unter dem größten Energieaufwand kaum abzuscheiden, kommen in der Natur fast nur in Form von Salzen vor und haben von allen Metallen bei weitem die größte Verwandtschaft zu Halogenen und Säureradikalen. Zwischen beiden stehn die übrigen Metalle in etwas wechselnden Reihenfolgen, doch so, daß im ganzen elektrisches und chemisches Verhalten miteinander stimmen. Die Reihenfolge der einzelnen darunter wechselt je nach den Flüssigkeiten und ist auch wohl kaum für eine einzige Flüssigkeit endgültig festgestellt. Es ist sogar erlaubt zu zweifeln, ob es für eine einzelne Flüssigkeit eine solche absolute Spannungsreihe der Metalle gibt. Zwei Stücke desselben Metalls können in geeigneten Ketten und Zersetzungszellen als positive und negative Elektrode dienen, dasselbe Metall also kann gegen sich selbst sowohl positiv wie negativ sein. In den Thermoelementen, die Wärme in Elektrizität umsetzen, schlägt bei starken Temperaturdifferenzen an den beiden Lötstellen die Stromesrichtung um: Das früher positive Metall wird negativ und umgekehrt. Ebenso gibt es keine absolute Reihe, nach der die
Metalle einander aus ihren chemischen Verbindungen mit einem bestimmten Halogen oder Säureradikal verdrängen; durch Energiezufuhr in Form von Wärme können wir die für die gewöhnliche Temperatur geltende Reihe in vielen Fällen fast nach Belieben abändern und umkehren. Wir finden hier also eine eigentümliche Wechselwirkung zwischen Chemismus und Elektrizität. Die chemische Aktion in der Kette, die der Elektrizität die gesamte Energie für die Strombildung liefert, wird ihrerseits in vielen Fällen erst in Gang gebracht und in allen Fällen quantitativ reguliert durch die in der Kette eingeleiteten elektrischen Spannungen. Wenn uns früher die Vorgänge in der Kette als chemisch-elektrische erschienen, so sehn wir hier, daß sie ebensosehr elektrochemisch sind. Vom Standpunkt der Bildung des dauernden Stroms erschien die chemische Aktion als das Primäre; vom Standpunkt der Stromeserregung erscheint sie als sekundär, akzessorisch. Die Wechselwirkung schließt jedes absolut Primäre und absolut Sekundäre aus; aber ebensosehr ist sie ein doppelseitiger Prozeß, der seiner Natur nach von zwei verschiednen Standpunkten betrachtet werden kann; um als Gesamtheit verstanden zu werden, muß sie sogar nacheinander von beiden Standpunkten aus untersucht werden, ehe das Gesamtresultat zusammengefaßt werden kann. Halten wir aber den einen Standpunkt einseitig als den absoluten fest gegenüber dem andern, oder springen wir willkürlich, je nach dem momentanen Bedürfnis des Räsonnements, über von dem einen auf den andern, so bleiben wir befangen in der Einseitigkeit des metaphysischen Denkens; der Zusammenhang entgeht uns, und wir verwickeln uns in einen Widerspruch über den andern. Wir sahen oben, daß nach Wiedemann der anfängliche Ausschlag des Galvanometers, unmittelbar nach der Eintauchung der Erregerplatten in die Flüssigkeit der Kette, und ehe noch chemische Veränderungen die Stärke der elektrischen Erregung geändert haben, „ein Maß ist für die Summe der elektromotorischen Kräfte im Schließungskreise".
Bisher lernten wir die sog. elektromotorische Kraft kennen als eine Form der Energie, die in unserm Fall aus chemischer Energie in äquivalenter Menge erzeugt war und sich im weitern Verlauf wieder in äquivalente Mengen von Wärme, Massenbewegung etc. umsetzte. Hier auf einmal erfahren wir, daß die „Summe der elektromotorischen Kräfte im Schließungskreise" bereits existiert, ehe chemische Veränderungen jene Energie freigesetzt haben; mit andern Worten, daß die elektromotorische Kraft nichts andres ist als die Kapazität einer bestimmten Kette, in der Zeiteinheit eine bestimmte Quantität chemischer Energie freizusetzen und in elektrische
Bewegung zu verwandeln. Wie früher die elektrische Scheidungskraft, erscheint hier auch die elektromotorische Kraft als eine Kraft, die kein Fünkchen Energie enthält. Wiedemann versteht also unter „elektromotorischer Kraft" zwei total verschiedne Dinge: einerseits die Kapazität einer Kette, eine bestimmte Menge gegebner chemischer Energie freizusetzen und in elektrische Bewegung zu verwandeln, andrerseits die entwickelte Menge elektrischer Bewegung selbst. Daß beide einander proportional sind, daß die eine ein Maß für die andre ist, hebt ihre Verschiedenheit nicht auf. Die chemische Aktion in der Kette, die entwickelte Elektrizitätsmenge, und die im Schließungskreis, wenn sonst keine Arbeit geleistet wird, aus ihr entstandene Wärme sind noch mehr als proportional, sie sind sogar äquivalent; das tut aber ihrer Verschiedenheit keinen Abbruch. Die Kapazität einer Dampfmaschine von bestimmtem Zylinderdurchmesser und Kolbenhub, eine bestimmte Menge mechanischer Bewegung aus zugeführter Wärme zu erzeugen, ist sehr verschieden von dieser mechanischen Bewegung selbst, so proportional sie ihr auch ist. Und wenn solche Redeweise zu einer Zeit erträglich war, wo von Erhaltung der Energie in der Naturwissenschaft noch nicht gesprochen wurde, so liegt doch auf der Hand, daß seit Anerkennung dieses Grundgesetzes die wirkliche lebendige Energie unter irgendeiner Form nicht mehr verwechselt werden darf mit der Kapazität eines beliebigen Apparats, freiwerdender Energie diese Form zu erteilen. Es ist diese Verwechslung ein Korollar der Verwechslung von Kraft und Energie bei Gelegenheit der elektrischen Scheidungskraft; sie beide sind es, in denen die drei einander total widersprechenden Stromeserklärungen Wiedemanns sich harmonisch lösen, und die überhaupt allen seinen Irrungen und Wirrungen über die sog. „elektromotorische Kraft" schließlich zugrunde liegen. Außer der bereits betrachteten eigentümlichen Wechselwirkung zwischen Chemismus und Elektrizität findet sich noch eine zweite Gemeinsamkeit, die ebenfalls eine engere Verwandtschaft dieser beiden Bewegungsformen andeutet. Beide können nur verschwindend bestehn. Der chemische Prozeß vollzieht sich für jede in ihn eintretende Gruppe von Atomen plötzlich. Nur durch die Gegenwart von neuem Material, das stets von neuem in ihn eintritt, kann er verlängert werden. Ebenso mit der elektrischen Bewegung. Kaum ist sie aus einer andern Bewegungsform erzeugt, so schlägt sie auch schon wieder um in eine dritte Bewegungsform; nur fortwährende Bereitschaft verfügbarer Energie kann den dauernden Strom herstellen, in dem in jedem Augenblick neue Bewegungsmengen die Form der Elektrizität annehmen und wieder verlieren.
Die Einsicht in diesen engen Zusammenhang der chemischen mit der elektrischen Aktion und umgekehrt wird auf beiden Untersuchungsgebieten zu großen Resultaten führen. Sie wird bereits immer allgemeiner. Unter den Chemikern hat Lothar Meyer und nach ihm Kekule geradezu ausgesprochen, daß eine Wiederaufnahme der elektrochemischen Theorie in verjüngter Form bevorstehe. Auch unter den Elektrikern scheint, wie namentlich die jüngsten Arbeiten von F. Kohlrausch andeuten, die Überzeugung endlich durchdringen zu wollen, daß nur eine genaue Beachtung der chemischen Vorgänge in Kette und Zersetzungszelle ihrer Wissenschaft aus der Sackgasse der alten Traditionen heraushelfen kann. Und in der Tat ist nicht abzusehn, wodurch anders der Lehre vom Galvanismus und damit in zweiter Linie derjenigen vom Magnetismus und von der Spannungselektrizität eine feste Grundlage gegeben werden kann als durch eine chemisch-exakte Generalrevision aller überkommenen, unkontrollierten, auf einem überwundnen wissenschaftlichen Standpunkt angestellten Versuche, unter genauer Beachtung und Feststellung der Energieumsätze und unter vorläufiger Beiseitesetzung aller traditionellen theoretischen Vorstellungen über die Elektrizität.
Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen12551
Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies - neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen. Vor mehreren hunderttausend Jahren, während eines noch nicht fest bestimmbaren Abschnitts jener Erdperiode, die die Geologen die tertiäre nennen, vermutlich gegen deren Ende, lebte irgendwo in der heißen Erdzone - wahrscheinlich auf einem großen, jetzt auf den Grund des Indischen Ozeans versunkenen Festlande - ein Geschlecht menschenähnlicher Affen von besonders hoher Entwicklung. Darwin hat uns eine annähernde Beschreibung dieser unsrer Vorfahren gegeben. Sie waren über und über behaart, hatten Bärte und spitze Ohren, und lebten in Rudeln auf Bäumen.12561 Wohl zunächst durch ihre Lebensweise veranlaßt, die beim Klettern den Händen andre Geschäfte zuweist als den Füßen, fingen diese Affen an, auf ebner Erde sich der Beihülfe der Hände beim Gehen zu entwöhnen und einen mehr und mehr aufrechten Gang anzunehmen. Damit war der entscheidende Schritt getan für den Übergang Vom Affen zum Menschen. Alle noch jetzt lebenden menschenähnlichen Affen können aufrecht stehn und sich auf den beiden Füßen allein fortbewegen. Aber nur zur Not und höchst unbehülflich. Ihr natürlicher Gang geschieht in halbaufgerichteter Stellung und schließt den Gebrauch der Hände ein. Die meisten stützen die Knöchel der Faust auf den Boden und schwingen den Körper mit eingezogenen Beinen zwischen den langen Armen durch, wie ein Lahmer, der auf Krücken geht. Überhaupt können wir bei den Affen alle Übergangs
stufen vom Gehen auf allen vieren bis zum Gang auf den beiden Füßen noch jetzt beobachten. Aber bei keinem von ihnen ist der letztere mehr als ein Notbehelf geworden. Wenn der aufrechte Gang bei unsern behaarten Vorfahren zuerst Regel und mit der Zeit eine Notwendigkeit werden sollte, so setzt dies voraus, daß den Händen inzwischen mehr und mehr anderweitige Tätigkeiten zufielen. Auch bei den Affen herrscht schon eine gewisse Teilung der Verwendung von Hand und Fuß. Die Hand wird, wie schon erwähnt, beim Klettern in andrer Weise gebraucht als der Fuß. Sie dient vorzugsweise zum Pflücken und Festhalten der Nahrung, wie dies schon bei niederen Säugetieren mit den Vorderpfoten geschieht. Mit ihr bauen sich manche Affen Nester in den Bäumen oder gar, wie der Schimpanse, Dächer zwischen den Zweigen zum Schutz gegen die Witterung. Mit ihr ergreifen sie Knüttel zur Verteidigung gegen Feinde oder bombardieren diese mit Früchten und Steinen. Mit ihr vollziehen sie in der Gefangenschaft eine Anzahl einfacher, den Menschen abgesehener Verrichtungen. Aber grade hier zeigt sich, wie groß der Abstand ist zwischen der unentwickelten Hand selbst der menschenähnlichsten Affen und der durch die Arbeit von Jahrhunderttausenden hoch ausgebildeten Menschenhand. Die Zahl und allgemeine Anordnung der Knochen und Muskeln stimmen bei beiden; aber die Hand des niedrigsten Wilden kann Hunderte von Verrichtungen ausführen, die keine Affenhand ihr nachmacht. Keine Affenhand hat je das rohste Steinmesser verfertigt. Die Verrichtungen, denen unsre Vorfahren im Übergang vom Affen zum Menschen im Lauf vieler Jahrtausende allmählich ihre Hand anpassen lernten, können daher anfangs nur sehr einfache gewesen sein. Die niedrigsten Wilden, selbst diejenigen, bei denen ein Rückfall in einen mehr tierähnlichen Zustand mit gleichzeitiger körperlicher Rückbildung anzunehmen ist, stehn immer noch weit höher als jene Übergangsgeschöpfe. Bis der erste Kiesel durch Menschenhand zum Messer verarbeitet wurde, darüber mögen Zeiträume verflossen sein, gegen die die uns bekannte geschichtliche Zeit unbedeutend erscheint. Aber der entscheidende Schritt war getan: Die Hand war frei geworden und konnte sich nun immer neue Geschicklichkeiten erwerben, und die damit erworbene größere Biegsamkeit vererbte und vermehrte sich von Geschlecht zu Geschlecht. So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt. Nur durch Arbeit, durch Anpassung an immer neue Verrichtungen, durch Vererbung der dadurch erworbenen besondern Ausbildung der Muskel, Bänder, und in längeren Zeiträumen auch der Knochen, und durch immer erneuerte Anwendung dieser vererbten Verfeinerung auf neue, stets ver
wickeitere Verrichtungen hat die Menschenhand jenen hohen Grad von Vollkommenheit erhalten, auf dem sie Raffaelsche Gemälde, Thorvaldsensche Statuen, Paganinische Musik hervorzaubern konnte. Aber die Hand stand nicht allein. Sie war nur ein einzelnes Glied eines ganzen, höchst zusammengesetzten Organismus. Und was der Hand zugute kam, kam auch dem ganzen Körper zugute, in dessen Dienst sie arbeitete - und zwar in doppelter Weise. Zuerst infolge des Gesetzes der Korrelation des Wachstums, wie Darwin es genannt hat. Nach diesem Gesetz sind bestimmte Formen einzelner Teile eines organischen Wesens stets an gewisse Formen andrer Teile geknüpft, die scheinbar gar keinen Zusammenhang mit jenen haben. So haben alle Tiere, welche rote Blutzellen ohne Zellenkern besitzen und deren Hinterkopf mit dem ersten Rückgratswirbel durch zwei Gelenkstellen (Kondylen) verbunden ist, ohne Ausnahme auch Milchdrüsen zum Säugen der Jungen. So sind bei Säugetieren gespaltene Klauen regelmäßig mit dem mehrfachen Magen zum Wiederkäuen verbunden. Änderungen bestimmter Formen ziehn Änderungen der Form andrer Körperteile nach sich, ohne daß wir den Zusammenhang erklären können. Ganz weiße Katzen mit blauen Augen sind immer, oder beinahe immer, taub. Die allmähliche Verfeinerung der Menschenhand und die mit ihr Schritt haltende Ausbildung des Fußes für den aufrechten Gang hat unzweifelhaft auch durch solche Korrelation auf andre Teile des Organismus rückgewirkt. Doch ist diese Einwirkung noch viel zu wenig untersucht, als daß wir hier mehr tun könn-ii i —ICH, AIS SIE ALLGEMEIN IVUUOIAUCI CÜ. Weit wichtiger ist die direkte, nachweisbare Rückwirkung der Entwicklung der Hand auf den übrigen Organismus. Wie schon gesagt, waren unsre äffischen Vorfahren gesellig; es ist augenscheinlich unmöglich, den Menschen, das geselligste aller Tiere, von einem ungeselligen nächsten Vorfahren abzuleiten. Die mit der Ausbildung der Hand, mit der Arbeit, beginnende Herrschaft über die Natur erweiterte bei jedem neuen Fortschritt den Gesichtskreis des Menschen. An den Naturgegenständen entdeckte er fortwährend neue, bisher unbekannte Eigenschaften. Andrerseits trug die Ausbildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder näher aneinanderzuschließen, indem sie die Fälle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens vermehrte und das Bewußtsein von der Nützlichkeit dieses Zusammenwirkens für jeden einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam aber sicher um, durch Modulation für stets gesteigerte
Modulation, und die Organe des Mundes lernten allmählich einen artikulierten Buchstaben nach dem andern aussprechen. Daß diese Erklärung der Entstehung der Sprache aus und mit der Arbeit die einzig richtige ist, beweist der Vergleich mit den Tieren. Das wenige, was diese, selbst die höchstentwickelten, einander mitzuteilen haben, können sie einander auch ohne artikulierte Sprache mitteilen. Im Naturzustand fühlt kein Tier es als einen Mangel, nicht sprechen oder menschliche Sprache nicht verstehn zu können. Ganz anders, wenn es durch Menschen gezähmt ist. Der Hund und das Pferd haben im Umgang mit Menschen ein so gutes Ohr für artikulierte Sprache erhalten, daß sie jede Sprache leicht soweit verstehn lernen, wie ihr Vorstellungskreis reicht. Sie haben sich ferner die Fähigkeit für Empfindungen wie Anhänglichkeit an Menschen, Dankbarkeit usw. erworben, die ihnen früher fremd waren; und wer viel mit solchen Tieren umgegangen ist, wird sich kaum der Überzeugung verschließen können, daß es Fälle genug gibt, wo sie jetzt die Unfähigkeit zu sprechen als einen Mangel empfinden, dem allerdings bei ihren allzusehr in bestimmter Richtung spezialisierten Stimmorganen leider nicht mehr abzuhelfen ist. Wo aber das Organ vorhanden ist, da fällt auch diese Unfähigkeit innerhalb gewisser Grenzen weg. Die Mundorgane der Vögel sind sicher so verschieden wie nur möglich von denen des Menschen, und doch sind Vögel die einzigen Tiere, die sprechen lernen; und der Vogel mit der abscheulichsten Stimme, der Papagei, spricht am besten. Man sage nicht, er verstehe nicht, was er spricht. Allerdings wird er aus reinem Vergnügen am Sprechen und an der Gesellschaft von Menschen stundenlang seinen ganzen Wortreichtum plappernd wiederholen. Aber soweit sein Vorstellungskreis reicht, soweit kann er auch verstehen lernen, was er sagt. Man lehre einen Papagei Schimpfwörter, so daß er eine Vorstellung von ihrer Bedeutung bekommt (ein Hauptvergnügen aus heißen Ländern zurücksegelnder Matrosen); man reize ihn, und man wird bald finden, daß er seine Schimpfwörter ebenso richtig zu verwerten weiß wie eine Berliner Gemüsehökerin. Ebenso beim Betteln um Leckereien. Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache - das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommnere eines Menschen allmählich übergegangen ist. Mit der Fortbildung des Gehirns aber ging Hand in Hand die Fortbildung seiner nächsten Werkzeuge, der Sinnesorgane. Wie schon die Sprache in ihrer allmählichen Ausbildung notwendig begleitet wird von einer entsprechenden Verfeinerung des Gehörorgans, so die Ausbildung des Gehirns überhaupt von der der sämtlichen Sinne. Der
Adler sieht viel weiter als der Mensch» aber des Menschen Auge sieht viel mehr an den Dingen als das des Adlers. Der Hund hat eine weit feinere Spürnase als der Mensch, aber er unterscheidet nicht den hundertsten Teil der Gerüche, die für diesen bestimmte Merkmale verschiedner Dinge sind. Und der Tastsinn, der beim Affen kaum in seinen rohsten Anfängen existiert, ist erst mit der Menschenhand selbst, durch die Arbeit, herausgebildet worden. Die Rückwirkung der Entwicklung des Gehirns und seiner dienstbaren Sinne, des sich mehr und mehr klärenden Bewußtseins, Abstraktions- und Schlußvermögens auf Arbeit und Sprache gab beiden immer neuen Anstoß zur Weiterbildung, einer Weiterbildung, die nicht etwa einen Abschluß fand, sobald der Mensch endgültig vom Affen geschieden war, sondern die seitdem bei verschiednen Völkern und zu verschiednen Zeiten verschieden nach Grad und Richtung, stellenweise selbst unterbrochen durch örtlichen und zeitlichen Rückgang, im ganzen und großen gewaltig vorangegangen ist; einerseits mächtig vorangetrieben, andrerseits in bestimmtere Richtungen gelenkt durch ein mit dem Auftreten des fertigen Menschen neu hinzutretendes Element - die Gesellschaft. Hunderttausende von Jahren - in der Geschichte der Erde nicht mehr als eine Sekunde im Menschenleben* - sind sicher vergangen, ehe aus dem Rudel baumkletternder Affen eine Gesellschaft von Menschen hervorgegangen war. Aber schließlich war sie da. Und was finden wir wieder als den bezeichnenden Unterschied zwischen Affenrudel und Menschengesellschaft? Die Arbeit. Das Affenrudel begnügte sich damit, seinen Futterbezirk abzuweiden, der ihm durch die geographische Lage oder durch den Widerstand benachbarter Rudel zugeteilt war; es unternahm Wanderungen und Kämpfe, um neues Futtergebiet zu gewinnen, aber es war unfähig, aus dem Futterbezirk mehr herauszuschlagen, als er von Natur bot, außer daß es ihn unbewußt mit seinen Abfällen düngte. Sobald alle möglichen Futterbezirke besetzt waren, konnte keine Vermehrung der Affenbevölkerung mehr stattfinden; die Zahl der Tiere konnte sich höchstens gleichbleiben. Aber bei allen Tieren findet Nahrungsverschwendung in hohem Grade statt, und daneben Ertötung des Nahrungsnachwuchses im Keime. Der Wolf schont nicht, wie der Jäger, die Rehgeiß, die ihm im nächsten Jahr die Böcklein liefern soll; die Ziegen in Griechenland, die das junge Gestrüpp abweiden,
* Eine Autorität ersten Rangs in dieser Beziehung, Sir W.Thomson, hat berechnet, daß nicht viel mehr als hundert Millionen fahre verflossen sein können seit der Zeit, wo die Erde soweit abgekühlt war, daß Pflanzen und Tiere auf ihr leben konntenj257!
eh' es heranwächst, haben alle Berge des Landes kahlgefressen. Dieser „Raubbau" der Tiere spielt bei der allmählichen Umwandlung der Arten eine wichtige Rolle, indem er sie zwingt, andrer als der gewohnten Nahrung sich anzubequemen, wodurch ihr Blut andre chemische Zusammensetzung bekommt und die ganze Körperkonstitution allmählich eine andre wird, während die einmal fixierten Arten absterben. Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Raubbau mächtig zur Menschwerdung unsrer Vorfahren beigetragen hat. Bei einer Affenrasse, die an Intelligenz und Anpassungsfähigkeit allen andern weit voraus war, mußte er dahin führen, daß die Zahl der Nahrungspflanzen sich mehr und mehr ausdehnte, daß von den Nahrungspflanzen mehr und mehr eßbare Teile zur Verzehrung kamen, kurz, daß die Nahrung immer mannigfacher wurde und mit ihr die in den Körper eingehenden Stoffe, die chemischen Bedingungen der Menschwerdung. Das alles war aber noch keine eigentliche Arbeit. Die Arbeit fängt an mit der Verfertigung von Werkzeugen. Und was sind die ältesten Werkzeuge, die wir vorfinden? Die ältesten, nach den vorgefundenen Erbstücken vorgeschichtlicher Menschen und nach der Lebensweise der frühesten geschichtlichen Völker wie der rohesten jetzigen Wilden zu urteilen? Werkzeuge der Jagd und des Fischfangs, erstere zugleich Waffen. Jagd und Fischfang aber setzen den Übergang von der bloßen Pflanzennahrung zum Mitgenuß des Fleisches voraus, und hier haben wir wieder einen wesentlichen Schritt zur Menschwerdung. Die Fleischkost enthielt in fast fertigem Zustand die wesentlichsten Stoffe, deren der Körper zu seinem Stoffwechsel bedarf; sie kürzte mit der Verdauung die Zeitdauer der übrigen Vegetativen, dem Pflanzenleben entsprechenden Vorgänge im Körper ab und gewann damit mehr Zeit, mehr Stoff und mehr Lust für die Betätigung des eigentlich tierischen (animalischen) Lebens. Und je mehr der werdende Mensch sich von der Pflanze entfernte, desto mehr erhob er sich auch über das Tier. Wie die Gewöhnung an Pflanzennahrung neben dem Fleisch die wilden Katzen und Hunde zu Dienern des Menschen gemacht, so hat die Angewöhnung an die Fleischnahrung neben der Pflanzenkost wesentlich dazu beigetragen, dem werdenden Menschen Körperkraft und Selbständigkeit zu geben. Am wesentlichsten aber war die Wirkung der Fleischnahrung auf das Gehirn, dem nun die zu seiner Ernährung und Entwicklung nötigen Stoffe weit reichlicher zuflössen als vorher, und das sich daher von Geschlecht zu Geschlecht rascher und vollkommener ausbilden konnte. Mit Verlaub der Herren Vegetarianer, der Mensch ist nicht ohne Fleischnahrung zustande gekommen, und wenn die Fleischnahrung auch bei allen uns bekannten Völkern zu irgendeiner Zeit einmal zur Menschenfresserei
geführt hat (die Vorfahren der Berliner, die Weletaben oder Wilzen, aßen ihre Eltern noch im 10.Jahrhundert[258]), so kann uns das heute nichts mehr ausmachen. Die Fleischkost führte zu zwei neuen Fortschritten von entscheidender n: i-i 1 r J ucucuiung . /.ui ivicusiuai umciiuug ucs x cucia uiiu /.ui £*aiiinung von X IC ren. Die erstere kürzte den Verdauungsprozeß noch mehr ab, indem sie die Kost schon sozusagen halbverdaut an den Mund brachte; die zweite machte die Fleischkost reichlicher, indem sie neben der Jagd eine neue regelmäßigere Bezugsquelle dafür eröffnete, und lieferte außerdem in der Milch und ihren Produkten ein neues, dem Fleisch an Stoffmischung mindestens gleichwertiges Nahrungsmittel. So wurden beide schon direkt neue Emanzipationsmittel für den Menschen; auf ihre indirekten Wirkungen im einzelnen einzugehn, würde uns hier zu weit führen, von so hoher Wichtigkeit sie auch für die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft gewesen sind. Wie der Mensch alles Eßbare essen lernte, so lernte er auch in jedem Klima leben. Er verbreitete sich über die ganze bewohnbare Erde, er, das einzige Tier, das in sich selbst die Machtvollkommenheit dazu besaß. Die andren Tiere, die sich an alle Klimata gewöhnt haben, haben dies nicht aus sich selbst, nur im Gefolge des Menschen, gelernt: Haustiere und Ungeziefer. Und der Übergang aus dem gleichmäßig heißen Klima der Urheimat in kältere Gegenden, wo das Jahr sich in Winter und Sommer teilte, schuf neue Bedürfnisse: Wohnung und Kleidung zum Schutz gegen Kälte und Nässe, neue Arbeitsgebiete und damit neue Betätigungen, die den Menschen immer weiter vom Tier entfernten. Durch das Zusammenwirken von Hand, Sprachorganen und Gehirn nicht allein bei jedem einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft, wurden die Menschen befähigt, immer verwickeitere Verrichtungen auszuführen, immer höhere Ziele sich zu stellen und zu erreichen. Die Arbeit selbst wurde von Geschlecht zu Geschlecht eine andre, vollkommnere, vielseitigere. Zur Jagd und Viehzucht trat der Ackerbau, zu diesem Spinnen und Weben, Verarbeitung der Metalle, Töpferei, Schiffahrt. Neben Handel und Gewerbe trat endlich Kunst und Wissenschaft, aus Stämmen wurden Nationen und Staaten. Recht und Politik entwickelten sich, und mit ihnen das phantastische Spiegelbild der menschlichen Dinge im menschlichen Kopf: die Religion. Vor allen diesen Gebilden, die zunächst als Produkte des Kopfs sich darstellten und die die menschlichen Gesellschaften zu beherrschen schienen, traten die bescheidneren Erzeugnisse der arbeitenden Hand in den Hintergrund; und zwar um so mehr, als der die Arbeit planende
Kopf schon auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe der Gesellschaft (z. B. schon in der einfachen Familie) die geplante Arbeit durch andre Hände ausführen lassen konnte als die seinigen. Dem Kopf, der Entwicklung und Tätigkeit des Gehirns, wurde alles Verdienst an der rasch fortschreitenden Zivilisation zugeschrieben; die Menschen gewöhnten sich daran, ihr Tun aus ihrem Denken zu erklären statt aus ihren Bedürfnissen (die dabei allerdings im Kopf sich widerspiegeln, zum Bewußtsein kommen) - und so entstand mit der Zeit jene idealistische Weltanschauung, die namentlich seit Untergang der antiken Welt die Köpfe beherrscht hat. Sie herrscht noch so sehr, daß selbst die materialistischsten Naturforscher der Darwinschen Schule sich noch keine klare Vorstellung von der Entstehung des Menschen machen können, weil sie unter jenem ideologischen Einfluß die Rolle nicht erkennen, die die Arbeit dabei gespielt hat. Die Tiere, wie schon angedeutet, verändern durch ihre Tätigkeit die äußere Natur ebensogut, wenn auch nicht in dem Maße wie der Mensch, und diese durch sie vollzogenen Änderungen ihrer Umgebung wirken, wie wir sahen, wieder verändernd auf ihre Urheber zurück. Denn in der Natur geschieht nichts vereinzelt. Jedes wirkt aufs andre und umgekehrt, und es ist meist das Vergessen dieser allseitigen Bewegung und Wechselwirkung, das unsre Naturforscher verhindert, in den einfachsten Dingen klarzusehn. Wir sahen, wie die Ziegen die Wiederbewaldung von Griechenland verhindern; in Sankt Helena haben die von den ersten Anseglern ans Land gesetzten Ziegen und Schweine es fertiggebracht, die alte Vegetation der Insel fast ganz auszurotten, und so den Boden bereitet, auf dem die von späteren Schiffern und Kolonisten zugeführten Pflanzen sich ausbreiten konnten. Aber wenn die Tiere eine dauernde Einwirkung auf ihre Umgebung ausüben, so geschieht dies unabsichtlich und ist, für diese Tiere selbst, etwas Zufälliges. Je mehr die Menschen sich aber vom Tier entfernen, desto mehr nimmt ihre Einwirkung auf die Natur den Charakter vorbedachter, planmäßiger, auf bestimmte, vorher bekannte Ziele gerichteter Handlung an. Das Tier vernichtet die Vegetation eines Landstrichs, ohne zu wissen, was es tut. Der Mensch vernichtet sie, um in den freigewordnen Boden Feldfrüchte zu säen oder Bäume und Reben zu pflanzen, von denen er weiß, daß sie ihm ein Vielfaches der Aussaat einbringen werden. Er versetzt Nutzpflanzen und Haustiere von einem Land ins andre und ändert so die Vegetation und das Tierleben ganzer Weltteile. Noch mehr. Durch künstliche Züchtung werden Pflanzen wie Tiere unter der Hand des Menschen in einer Weise verändert, daß sie nicht wiederzuerkennen sind. Die wilden Pflanzen, von denen unsre Getreidearten abstammen, werden noch ver
gebens gesucht. Von welchem wilden Tier unsre Hunde, die selbst unter sich so verschieden sind, oder unsre ebenso zahlreichen Pferderassen abstammen, ist noch immer streitig. Es versteht sich übrigens von selbst, daß es uns nicht einfällt, den Tieren die Fähigkeit planmäßiger, vorbedachter Handlungsweise abzustreiten. Im Gegenteil. Planmäßige Handlungsweise existiert im Keime schon überall, wo Protoplasma, lebendiges Eiweiß existiert und reagiert, d. h. bestimmte, wenn auch noch so einfache Bewegungen als Folge bestimmter Reize von außen vollzieht. Solche Reaktion findet statt, wo noch gar keine Zelle, geschweige eine Nervenzelle, besteht. Die Art, wie insektenfressende Pflanzen ihre Beute abfangen, erscheint ebenfalls in gewisser Beziehung als planmäßig, obwohl vollständig bewußtlos. Bei den Tieren entwickelt sich die Fähigkeit bewußter, planmäßiger Aktion im Verhältnis zur Entwicklung des Nervensystems und erreicht bei den Säugetieren eine schon hohe Stufe. Auf der englischen Fuchsparforcejagd kann man täglich beobachten, wie genau der Fuchs seine große Ortskenntnis zu verwenden weiß, um seinen Verfolgern zu entgehn, und wie gut er alle Boden vorteile kennt und benutzt, die die Fährte unterbrechen. Bei unsern im Umgang mit Menschen höher entwickelten Haustieren kann man tagtäglich Streiche der Schlauheit beobachten, die mit denen menschlicher Kinder ganz auf derselben Stufe stehn. Denn wie die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Keims im Mutterleibe nur eine abgekürzte Wiederholung der millionenjährigen körperlichen Entwicklungsgeschichte unsrer tierischen Vorfahren, vom Wurm angefangen, darstellt, so die geistige Entwicklung des menschlichen Kindes eine, nur noch mehr abgekürzte, Wiederholung der intellektuellen Entwicklung derselben Vorfahren, wenigstens der späteren. Aber alle planmäßige Aktion aller Tiere hat es nicht fertiggebracht, der Erde den Stempel ihres Willens aufzudrücken. Dazu gehörte der Mensch. Kurz, das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderungen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt.1 Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu
1 Am Rande des Manuskripts ist mit Bleistift vermerkt: „Veredlung"
oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinner*, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen.[259] Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirgs so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, daß sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wußten nicht, daß sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können. Und in der Tat lernen wir mit jedem Tag ihre Gesetze richtiger verstehn und die näheren und entfernteren Nachwirkungen unsrer Eingriffe in den herkömmlichen Gang der Natur erkennen. Namentlich seit den gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft in diesem Jahrhundert werden wir mehr und mehr in den Stand gesetzt, auch die entfernteren natürlichen Nachwirkungen wenigstens unsrer gewöhnlichsten Produktionshandlungen kennen und damit beherrschen zu lernen. Je mehr dies aber geschieht, desto mehr werden sich die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen, und je unmöglicher wird jene widersinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib, wie sie seit dem Verfall des klassischen Altertums in Europa aufgekommen und im Christentum ihre höchste Ausbildung erhalten hat. Hat es aber schon die Arbeit von Jahrtausenden erfordert, bis wir einigermaßen lernten, die entferntem natürlichen Wirkungen unsrer auf die Produktion gerichteten Handlungen zu berechnen, so war dies noch weit schwieriger in bezug auf die entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen dieser Handlungen. Wir erwähnten die Kartoffel und in ihrem Gefolge die Ausbreitung der Skrofeln. Aber was sind die Skrofeln gegen die Wirkungen, die die Reduktion der Arbeiter auf Kartoffelnahrung auf die Lebenslage der Volksmassen ganzer Länder hatte, gegen die Hungersnot, die 1847 im
Gefolge der Kartoffelkrankheit Irland betraf, eine Million kartoffel- und fast nur kartoffelessender Irländer unter die Erde und zwei Millionen über das Meer warf? Als die Araber den Alkohol destillieren lernten, ließen sie sich nicht im Traume einfallen, daß sie damit eins der Hauptwerkzeuge geschaffen, womit die Ureinwohner des damals noch gar nicht entdeckten Amerikas aus der Welt geschafft werden sollten. Und als dann Kolumbus dies Amerika entdeckte, wußte er nicht, daß er damit die in Europa längst überwundne Sklaverei zu neuem Leben erweckte und die Grundlage zum Negerhandel legte. Die Männer, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert an der Herstellung der Dampfmaschine arbeiteten, ahnten nicht, daß sie das Werkzeug fertigstellten, das mehr als jedes andre die Gesellschaftszustände der ganzen Welt revolutionieren und namentlich in Europa durch Konzentrierung des Reichtums auf Seite der Minderzahl, und der Besitzlosigkeit auf Seite der ungeheuren Mehrzahl, zuerst der Bourgeoisie die soziale und politische Herrschaft verschaffen, dann aber einen Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat erzeugen sollte, der nur mit dem Sturz der Bourgeoisie und der Abschaffung aller Klassengegensätze endigen kann. Aber auch auf diesem Gebiet lernen wir allmählich, durch lange, oft harte Erfahrung und durch Zusammenstellung und Untersuchung des geschichtlichen Stoffs, uns über die mittelbaren, entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven Tätigkeit Klarheit zu verschaffen, und damit wird uns die Möglichkeit gegeben, auch diese Wirkungen zu beherrschen und zu regeln. Um diese Regelung aber durchzuführen, dazu gehört mehr als die bloße Erkenntnis. Dazu gehört eine vollständige Umwälzung unsrer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetzigen gesamten gesellschaftlichen Ordnung. Alle bisherigen Produktionsweisen sind nur auf Erzielung des nächsten, unmittelbarsten Nutzeffekts der Arbeit ausgegangen. Die weiteren erst in späterer Zeit eintretenden, durch allmähliche Wiederholung und Anhäufung wirksam werdenden Folgen blieben gänzlich vernachlässigt. Das ursprüngliche gemeinsame Eigentum am Boden entsprach einerseits einem Entwicklungszustand der Menschen, der ihren Gesichtskreis überhaupt auf das Allernächste beschränkte, und setzte andrerseits einen gewissen Überfluß an verfügbarem Boden voraus, der gegenüber den etwaigen schlimmen Folgen dieser waldursprünglichen Wirtschaft einen gewissen Spielraum ließ. Wurde dieser Überschuß von Land erschöpft, so verfiel auch das Gemeineigentum. Alle höheren Formen der Produktion aber sind zur Trennung der Bevölkerung in verschiedne Klassen und damit zum Gegensatz
von herrschenden und unterdrückten Klassen vorangegangen; damit aber wurde das Interesse der herrschenden Klasse das treibende Element der Produktion, soweit diese sich nicht auf den notdürftigsten Lebensunterhalt der Unterdrückten beschränkte. Am vollständigsten ist dies in der jetzt in Westeuropa herrschenden kapitalistischen Produktionsweise durchgeführt. Die einzelnen, Produktion und Austausch beherrschenden Kapitalisten können sich nur um den unmittelbarsten Nutzeffekt ihrer Handlungen kümmern. Ja selbst dieser Nutzeffekt - soweit es sich um den Nutzen des erzeugten oder ausgetauschten Artikels handelt - tritt vollständig in den Hintergrund; der beim Verkauf zu erzielende Profit wird die einzige Triebfeder.
Die Sozialwissenschaft der Bourgeoisie, die klassische politische Ökonomie, beschäftigt sich vorwiegend nur mit den unmittelbar beabsichtigten gesellschaftlichen Wirkungen der auf Produktion und Austausch gerichteten menschlichen Handlungen. Dies entspricht ganz der gesellschaftlichen Organisation, deren theoretischer Ausdruck sie ist. Wo einzelne Kapitalisten um des unmittelbaren Profits willen produzieren und austauschen, können in erster Linie nur die nächsten, unmittelbarsten Resultate in Betracht kommen. Wenn der einzelne Fabrikant oder Kaufmann die fabrizierte oder eingekaufte Ware nur mit dem üblichen Profitchen verkauft, so ist er zufrieden, und es kümmert ihn nicht, was nachher aus der Ware und deren Käufer wird. Ebenso mit den natürlichen Wirkungen derselben Handlungen. Die spanischen Pflanzer in Kuba, die die Wälder an den Abhängen niederbrannten und in der Asche Dünger genug für eine Generation höchst rentabler Kaffeebäume vorfanden - was lag ihnen daran, daß nachher die tropischen Regengüsse die nun schutzlose Dammerde herabschwemmten und nur nackten Fels hinterließen? Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, daß die entfernteren Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind, daß die Harmonie von Nachfrage und Angebot in deren polaren Gegensatz umschlägt, wie der Verlauf jedes zehnjährigen industriellen Zyklüs ihn vorführt und wie auch Deutschland im „Krach"C260] ein kleines Vorspiel davon erlebt hat; daß das auf eigne Arbeit gegründete Privateigentum sich mit Notwendigkeit fortentwickelt zur Eigentumslosigkeit der Arbeiter, während aller Besitz sich mehr und mehr in den Händen von Nichtarbeitern konzentriert; daß [.. .J1 1 Hier bricht das Manuskript ab
[Notizen und Fragmente]
[Aus der Geschichte der Wissenschaft]
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Die sukzessive Entwicklung der einzelnen Zweige der Naturwissenschaft zu studieren. - Zuerst Astronomie - schon der Jahreszeiten halber für Hirten- wie Ackerbauvölker absolut nötig. Astronomie kann sich nur entwickeln mit Hülfe der Mathematik. Diese also ebenfalls in Angriff genommen. - Ferner auf einer gewissen Stufe des Ackerbaus und in gewissen Gegenden (Wasserhebung zur Bewässerung in Ägypten) und namentlich mit der Entstehung der Städte, der großen Bauwerke und der Entwicklung der Gewerbe die Mechanik' Bedürfnis bald auch für Schiffahrt und Krieg. — Auch sie braucht die Hülfe der Mathematik und treibt so zu deren Entwicklung. So schon von Anfang an die Entstehung und Entwicklung der ssenschaften durch die Produktion bedingt. Eigentliche wissenschaftliche Untersuchung bleibt während des ganzen Altertums auf diese 3 Fächer beschränkt, und zwar als exakte und systematische Forschung auch erst in der nachklassischen Periode (die Alexandriner[25], Archimedes etc.). In Physik und Chemie, die in den Köpfen noch kaum getrennt (Elementartheorie, Abwesenheit der Vorstellung eines chemischen Elements), in Botanik, Zoologie, Anatomie des Menschen und der Tiere konnte man bis dahin nur Tatsachen sammeln und sie möglichst systematisch ordnen. Die Physiologie war ein bloßes Raten, sowie man sich von den handgreiflichsten Dingen - Verdauung und Exkretion z. B. - entfernte, wie das nicht anders sein konnte, solange selbst die Zirkulation nicht erkannt. - Am Ende der Periode erscheint die Chemie in der Urform der Alchimie. Wenn nach der finstern Nacht des Mittelalters auf einmal die Wissenschaften neu und in ungeahnter Kraft erstehn und mit der Schnelle des Mirakels emporwachsen, so verdankten wir dies Wunder wieder - der Pro
duktion. Erstens war seit den Kreuzzügen die Industrie enorm entwickelt und hatte eine Menge neuer mechanischer (Weberei, Uhrmacherei, Mühlen), chemischer (Färberei, Metallurgie, Alkohol) und physikalischer Tatsachen (Brillen) ans Licht gebracht, und diese gaben nicht nur ungeheures Material zur Beobachtung, sondern lieferten auch durch sich selbst schon ganz andre Mittel zum Experimentieren als bisher und erlaubten die Konstruktion neuer Instrumente; man kann sagen, daß eigentlich systematische Experimentalwissenschaft jetzt erst möglich geworden. Zweitens entwickelte sich jetzt ganz West- und Mitteleuropa inkl. Polen im Zusammenhang, wenn auch Italien kraft seiner altüberkommenen Zivilisation noch an der Spitze stand. Drittens eröffneten die geographischen Entdeckungen - rein im Dienst des Erwerbs, also in letzter Instanz der Produktion gemacht ein endloses bis dahin unzugängliches Material in meteorologischer, zoologischer, botanischer und physiologischer (des Menschen) Beziehung. Viertens war die Presse da.1 Jetzt - von Mathematik, Astronomie und Mechanik abgesehn, die schon bestanden - scheidet sich die Physik definitiv von der Chemie (Torricelli, Galilei - ersterei; in Abhängigkeit von industriellen Wasserbauten studiert zuerst die Bewegung der Flüssigkeiten, siehe Clerk Maxwell). Boyle stabiliert die Chemie als Wissenschaft, Harvey durch die Entdeckung der Zirkulation die Physiologie (des Menschen, resp. der Tiere). Zoologie und Botanik bleiben zunächst Sammelwissenschaften, bis die Paläontologie hinzutritt - Cuvier - und bald darauf die Entdeckung der Zelle und die Entwicklung der organischen Chemie. Damit vergleichende Morphologie und Physiologie möglich, und von da an beide wahre Wissenschaften. Ende vorigen Jahrhunderts die Geologie gegründet, neuerdings die schlecht sog. Anthropologie - Vermittlung des Übergangs von Morphologie und Physiologie des Menschen und seiner Rassen zur Geschichte. Weiter zu studieren im Detail und zu entwickeln.
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1 Am Rande des Manuskripts ist gegenüber diesem Absatz geschrieben: „Bisher nur geprahlt, was die Produktion der Wissenschaft verdankt, aber die Wissenschaft verdankt der Produktion unendlich mehr"
Naturanschauung der Alten
(Hegel, „Geschichte der Philosophie", Bd. I.Griechische Philosophie) [261]
Von den ersten Philosophen sagt Aristoteles („Metaphysik", I, 3), sie behau pten,
„woraus alles Seiende ist, und woraus es als aus dem Ersten entsteht, und worein als in das Letzte es zugrunde geht, das als die Substanz (ouaia) immer dasselbe bleibt und nur in seinen Bestimmungen (xix&sai) sich ändert, dies sei das Element (axoi/eiov) und dies das Prinzip (apxH) alles Seienden. Deshalb halten sie dafür, daß kein Ding werde (OUTS YIYVSA-9-AI ouSc'v) noch vergehe, weil dieselbe Natur sich immer erhält." (P. 198).
Hier also schon ganz der ursprüngliche, naturwüchsige Materialismus, der ganz natürlich in seinem Anfang die Einheit in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen als selbstverständlich ansieht und in etwas Bestimmt-Körperlichem, einem Besonderen sucht, wie Thaies im Wasser. Cicero sagt:
„Thaies1 aus Milet ... erklärte das Wasser für den Urstoff der Dinge, die Gottheit aber für einen Geist, der aus dem Wasser alles bilde"[2621 („De Natura Deorum" I, 10).
Hegel erklärt dies ganz richtig für einen Zusatz des Cicero und fügt hinzu:
„Allein diese Frage, ob Thaies noch außerdem an Gott geglaubt, geht uns hier nichts an; es ist nicht von Annehmen, Glauben, Volksreligion die Rede ... und ob er von Gott als dem Büdner alier Dinge aus jenem Wasser gesprochen, so wüßten wir damit nichts mehr von diesem Wesen ... es ist leeres Wort ohne seinen Begriff." [S.] 209 (ca. 600 [v.u.Z.]).
Die ältesten griechischen Philosophen gleichzeitig Naturforscher: Thaies» Geometer, bestimmte das Jahr auf 365 Tage, soll eine Sonnenfinsternis vorhergesagt haben. - Anaximander machte eine Sonnenuhr, eine Art Karte (zepijxeTpov) des Landes und Meeres und verschiedne astronomische Instrumente. - Pythagoras Mathematiker. Anaximander aus Milet läßt, nach Plutarch („Quaest[iones] convivalfes]", VIII, 8) „den Menschen aus einem Fisch werden, hervorgehen aus
dem Wasser auf das Land1" ([S.]213). Für ihn die dp'/jj xod a-roi/eTov ~ö änsigov2, ohne es als Luft oder Wasser oder etwas andres zu bestimmen (Stopt^cov) (Diogenes Laertius, II, § 1). Dies Unendliche von Hegel (p.215) als „die unbestimmte Materie" richtig wiedergegeben (ca. 580). Anaximenes aus Milet setzt die Luft als Prinzip und Grundelement, die unendlich sei (Cicero „De Natura Deorum", I, 10) und
„aus ihr trete alles hervor, und in sie löse alles sich wieder auf" (Plutarch „De placitis philos[ophorum]"[263], I, 3). Dabei die Luft arjp = Ttvsuaa3:
„Wie unsre Seele, die Luft ist, uns zusammenhält, so hält auch die ganze Welt ein Geist (uveu;j.a) und Luft zusammen; Geist und Luft ist gleichbedeutend" (Plutarch) [S. 215/216]. Seele und Luft als allgemeines Medium gefaßt (ca. 555). Aristoteles schon sagt, daß diese älteren Philosophen das Urwesen in eine Weise der Materie setzen: Luft und Wasser (und vielleicht Anaximander in ein Mittelding zwischen beiden), später Heraklit ins Feuer, aber keiner in die Erde wegen ihrer vielfachen Zusammensetzung (Sia TTJV [xeyaXo^peiav), „Metaphysik", I, 8 (S.217). Von ihnen allen sagt Aristoteles richtig, daß sie den Ursprung der Bewegung unerklärt lassen, ([p.] 218ff.) Pythagoras aus Samos (ca. 540): Die Zahl ist das Grundprinzip:
„daß die Zahl das Wesen aller Dinge, und die Organisation des Universums überhaupt in seinen Bestimmungen ein harmonisches System von Zahlen und deren Verhältnissen ist"4 (Aristoteles, „Metaphysik", I, 5 passim).
Hegel macht mit Recht aufmerksam auf
„die Kühnheit einer solchen Rede, die alles, was der Vorstellung als seiend und wesenhaft (für wahr) gilt, auf einmal so niederschlägt und das sinnliche Wesen vertilgt" [p.237/2381 und das Wesen in eine, wenn auch noch so sehr beschränkte und einseitige Gedankenbestimmung setzt. Wie die Zahl bestimmten Gesetzen unterworfen, so auch das Universum; seine Gesetzmäßigkeit hiermit zuerst ausgesprochen. Pythagoras wird die Reduzierung der musikalischen Harmonien auf mathematische Verhältnisse zugeschrieben.
1 Hervorhebung von Engels - 2 Anfang und Urelement sei das Unbegrenzte (Hervorhebung von Engels) - 3 Hauch = Geist - 4 Hervorhebung von Engels
Ebenso: „In die Mitte haben die Pythagoräer das Feuer gesetzt, die Erde aber als einen Stern, der sich um diesen Zentralkörper im Kreise herumbewegt" (Aristoteles „De coelo", II, 13 [p.265]). Dieses Feuer aber nicht die Sonne; immer die erste Ahnung, daß die Erde sich bewegt. Hegel über das Planetensystem: „...das Harmonische, wodurch sich die Abstände [zwischen den Planeten] bestimmen - dafür hat alle Mathematik noch keinen Grund anzugeben vermocht. Die empirischen Zahlen kennt man genau; aber alles hat den Schein der Zufälligkeit, nicht der Notwendigkeit. Man kennt eine ungefähre Regelmäßigkeit der Abstände und hat so zwischen Mars und Jupiter mit Glück noch Planeten da geahnt, wo man später die Ceres, Vesta, Pallas usw. entdeckt hat; aber eine konsequente Reihe, worin Vernunft, Verstand ist, hat die Astronomie noch nicht darin gefunden. Sie sieht vielmehr mit Verachtung auf die regelmäßige Darstellung dieser Reihe; für sich ist es aber ein höchst wichtiger Punkt, der nicht aufzugeben ist." ([p.] 267[/268].) Bei aller naiv-materialistischen Gesamtauffassung der Kern der spätem Spaltung bereits bei den ältesten Griechen. Die Seele ist schon bei Thaies etwas Besondres, vom Körper Verschiednes (wie er auch dem Magnet eine Seele zuschreibt), bei Anaximenes ist sie Luft (wie in der Genesis12641)» bei den Pythagoräern ist sie bereits unsterblich und wandernd, der Körper für sie rein zufällig. Auch bei den Pythagoräern ist die Seele „ein Splitter des Äthers (&Tsöoraco[xa alSipo*;)" (Diogenes Laertius, VIII, 26-28), wo der Äther - der kalte - die Luft, der dicke das Meer und die Feuchtigkeit ist. [p. 279/280.] Aristoteles wirft auch den Pythagoräern richtig vor: Mit ihren Zahlen „sagen sie nicht, wie die Bewegung wird, und wie, ohne Bewegung und Veränderung, Entstehen und Vergehen ist, oder die Zustände und Tätigkeiten der himmlischen Dinge" („Metaphysik", I, 8 [p.277]). Pythagoras soll erkannt haben die Identität des Morgen- und Abendsterns, daß der Mond sein Licht von der Sonne bekommt. Endlich den pythagoräischen Lehrsatz. „Pythagoras soll eine Hekatombe geschlachtet haben bei Findung dieses Satzes... Und merkwürdig mag es wohl sein, daß seine Freude so weit gegangen, deshalb ein großes Fest anzuordnen, wo die Reichen und das ganze Volk eingeladen waren; der Mühe wert war es. Es ist Fröhlichkeit, Freude des Geistes (Erkenntnis) - auf Kosten der Ochsen." (S.279.) Eleaten.
Leukipp und Demokrit[265].
„Leukippos aber und sein Schüler Demokritos setzen als Element das Volle und das Leere, womit sie das Seiende und das Nichtseiende meinen, indem sie hier unter dem Vollen und dem Festen" (nämlich xa a-ro^a1) „das Seiende, dagegen unter dem Leeren und dem Hohlen das Nichtseiende verstehen. Darum lassen sie auch das Seiende um nichts mehr existieren als das Nichtseiende... Diese Elemente sind ihnen aber Seinsgründe in Weise der Materie. Und wie diejenigen, welche die zugrunde liegende Substanz" (die Materie) „als eins setzen, das andere durch ihre Eigenschaften erzeugen..., ganz in gleicher Weise bezeichnen auch diese die Unterschiede" (nämlich der Atome) „als Ursache des übrigen. Solcher Unterschiede aber nehmen sie drei an: Gestalt, Ordnung und Lage... So unterscheidet sich A von N durch die Gestalt, AN von NA durch die Ordnung und Z von N durch die Lage." (Aristoteles, „Metaphysik", Buch I, Kapitel 4.)[2661 „Er" (Leukippos) „hat zuerst Atome als das Ursprüngliche hingestellt..., mit welchen Ausdrücken er die Elemente bezeichnet. Daraus entstehen unzählige Welten und lösen sich auch wieder in die Elemente auf. Die Welten aber entstehen auf folgende Weise: Nach Maßgabe der Ablösung von dem Unendlichen bewegen sich zahlreiche Körper von mannigfachster Gestaltung in den großen leeren Raum hinein, die zusammengeballt einen einzigen großen Wirbel ausmachen, durch den sie, gegeneinander stoßend und mannigfach im Kreise sich umschwingend, in der Weise gesondert werden, daß sich das Gleiche zum Gleichen gesellt. Wenn sie nun nach hergestelltem Gleichgewicht sich wegen der Menge nicht mehr im Kreise umschwingen können, entweichen die feineren (leichteren) in der Richtung nach dem äußeren Leeren, als wären sie durchgesiebt, die übrigen bleiben beisammen, halten, sich miteinander verflechtend, die gleiche Bahn ein und bilden so die erste kugelförmige Massengestaltung." (Diogenes Laertius, Buch IX, Kapitel 6.)
Folgendes über Epikur:
„Die Atome bewegen sich aber unablässig. Weiter unten aber sagt er, daß sie sich auch gleich schnell bewegen, da der leere Raum die gleiche Nachgiebigkeit zeigt sowohl gegen das leichteste wie gegen das schwerste Atom ... Die Atome besäßen auch keine Qualitäten, sondern nur Gestalt, Größe und Schwere... Auch komme ihnen nicht jede beliebige Größe zu. Wenigstens wurde noch niemals ein Atom durch Sinneswahrnehmung erschaut." (Diogenes Laertius, Buch X, § 43-44.) „Ferner kommt den Atomen notwendig die gleiche Geschwindigkeit zu, wenn sie bei ihrer Bewegung durch den leeren Raum auf keinen Widerstand stoßen. Denn weder werden die schweren sich schneller bewegen als die kleinen und leichten, wenigstens wenn ihnen kein Hindernis entgegentritt, noch werden die kleinen den großen vorauseilen, obschon sie überall bequemen Durchgang finden; nur darf den großen kein Widerstand entgegentreten/ ' (Ebenda, §6I.)t267]
„Daß also das Eins in jeder Gattung [der Dinge] eine bestimmte Natur ist, und bei keinem eben dies, das Eins, seine Natur ist, leuchtet ein" (Aristoteles, „Metaphysik", Buch IX, Kapitel 2)t268J.
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Aristarch von Samos 270 v. Chr. hatte schon die Kopernikanische Theorie von Erde und Sonne (Mädler[180], [S.] 44; Wolf[269], [S.] 35-37). Demokrit hatte schon vermutet, die Milchstraße werfe uns das vereinigte Licht zahlloser kleiner Sterne zu (Wolf, [S.] 313).
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Unterschied der Lage hei Ende der Alten Welt ca. 300 - und Ende des Mittelalters - 1453
1. Anstatt eines dünnen Kulturstreifens entlang der Küste des Mittelmeers, der seine Arme sporadisch ins Innere und bis an die Atlantische Küste von Spanien, Frankreich und England ausstreckte und so leicht von den Deutschen und Slawen von Norden und Arabern von Südosten durchbrochen und aufgerollt werden konnte - jetzt ein geschlossenes Kulturgebiet - ganz Westeuropa mit Skandinavien, Polen und Ungarn als Vorposten. 2. Anstatt des Gegensatzes von Griechen resp. Römern und Barbaren, jetzt 6 Kulturvölker mit irs^rachen die s käu d i ns vi seilen ctc nicli t zählt, die alle soweit entwickelt waren, daß sie den gewaltigen Literaturaufschwung des 14. Jahrhunderts mitmachen konnten und eine weit größere Vielseitigkeit der Bildung garantierten als die Ende des Altertums bereits verfallene und absterbende griechische und lateinische Sprache. 3. Eine unendlich höhere Entwicklung der industriellen Produktion und des Handels, geschaffen durch das mittelalterliche Bürgertum; einerseits die Produktion vervollkommneter, mannigfacher und massenhafter, andrerseits der Handelsverkehr weit stärker, die Schiffahrt seit der Sachsen-, Friesen- und Normannenzeit unendlich kühner, und andrerseits die Menge Erfindungen und Import von orientalischen Erfindungen, die den Import und Verbreitung der griechischen Literatur, die See-Entdeckungen und die bürgerliche religiöse Revolution nicht nur erst möglich machten, sondern ihnen auch ganz andre und raschere Tragweite gaben, und obendrein eine Masse wissenschaftlicher Tatsachen, wenn auch noch ungeordnet, lieferten.
wie sie dem Altertum nie vorgelegen (Magnetnadel, Druck, Lettern, Leinenpapier - von Arabern und spanischen Juden seit dem 12. Jahrhundert gebraucht, Baumwollpapier seit dem 1 O.Jahrhundert allmählich aufkommend, im 13. und 14. Jahrhundert schon verbreiteter, Papyrus seit den Arabern in Ägypten ganz eingegangen) - Schießpulver, Brillen, mechanische Uhren, großer Fortschritt sowohl der Zeitrechnung wie auch der Mechanik. (Erfindungen siehe N°. 11.)1 Dazu der Reisestoft (Marco Polo ca. 1272 etc.). Viel verbreitetere allgemeine Bildung, wenn auch noch schlechte, durch die Universitäten. Mit der Erhebung von Konstantinopel und dem Fall Roms schließt die alte Zeit, mit dem Fall von Konstantinopel ist das Ende des Mittelalters unlösbar verknüpft. Die neue Zeit fängt an mit der Rückkehr zu den Griechen. — Negation der Negation! *
Historisches. - Erfindungen
Vor Chr. Feuerspritze, Wasseruhr ca. 200 v. Chr., Straßenpflaster (Rom). Pergament ca. 160. Nach Chr. Wassermühlen an der Mosel, ca. 340, in Deutschland zu Karls des Großen Zeit. Erste Spur von Glasfenstern. Straßenbeleuchtung in Antiochien ca. 370. Seidenwürmer aus China ca. 550 in Griechenland. Schreibfedern im 6. Jahrhundert. Baumwollpapier aus China zu den Arabern im 7. Jahrhundert, im 9. in Italien. Wasserorgeln in Frankreich im 8. Jahrhundert. Silbergruben am Harz bearbeitet seit 10. Jahrhundert. Windmühlen gegen 1000. Noten, Tonleiter des Guido von Arezzo gegen 1000. Seidenzucht nach Italien gegen 1100. Uhren mit Rädern - do. Magnetnadel von den Arabern zu den Europäern ca. 1180. Straßenpflaster in Paris 1184.
1 Engels meint das 11.Blatt seiner Notizen. Die auf diesem Blatt niedergeschriebene chronologische Tabelle der Erfindungen wird weiter unten wiedergegeben
Brillen in Florenz. Glasspiegel. | Zweite Hälfte Heringeinsalzen. Schleusen. ? des 13. JahrSchlaguhren. Baumwollpapier in Frankreich. j hunderts, Lumpenpapier Anfang 14. Jahrhundert. W7„ 1 „„1 * ** .. 1 wecnsei — miiie ao. Erste Papiermühle in Deutschland (Nürnberg) 1390. Straßenbeleuchtung in London Anfang 1 S.Jahrhundert. Post in Venedig - do. Holzschnitt und Druck - do. Kupferstecherkunst — Mitte do. Reitende Posten in Frankreich 1464. Erzgebirgisch-sächsische Silbergruben 1471. Pedalklavier erfunden 1472. Taschenuhren. Windbüchsen. Flintenschloß - Ende 15. Jahrhundert. Spinnrad 1530. Taucherglocke 1538.
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Historisches127 0]
Die moderne Naturwissenschaft - die einzige, von der qua1 Wissenschaft die Rede sein kann gegenüber den genialen Intuitionen der Griechen und den sporadisch zusammenhangslosen Untersuchungen der Araber ~ beginnt mit jener gewaltigen Epoche, die den Feudalismus durch das Bürgertum brach - im Hintergrund des Kampfs zwischen Städtebürgern und Feudaladel die rebellischen Bauern und hinter den Bauern die revolutionären Anfänge des modernen Proletariats, schon die rote Fahne in der Hand und den Kommunismus auf den Lippen, zeigte -, die großen Monarchien in Europa schuf, die geistige Diktatur des Papstes brach, das griechische Altertum wieder heraufbeschwor und mit ihm die höchste Kunstentwicklung der neuen Zeit, die Grenzen des alten Orbis2 durchbrach und die Erde erst eigentlich entdeckte. Es war die größte Revolution, die die Erde bis dahin erlebt hatte. Auch die Naturwissenschaft lebte und webte in dieser Revolution, war revolutionär durch und durch, ging Hand in Hand mit der erwachenden modernen Philosophie der großen Ilaliener, und lieferte ihre Märtyrer auf die Scheiter
1 als - 2 Orbis terrarum - des Erdkreises
häufen und in die Gefängnisse. Es ist bezeichnend, daß Protestanten wie Katholiken in ihrer Verfolgung wetteiferten. Die einen verbrannten Servet, die andern Giordano Bruno. Es war eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen hervorbrachte, Riesen an Gelehrsamkeit, Geist und Charakter, die Zeit, die die Franzosen richtig die Renaissance, das protestantische Europa einseitig borniert die der Reformation benannten. Auch die Naturwissenschaft hatte damals ihre Unabhängigkeitserklärung, die freilich nicht gleich im Anfang kam, ebensowenig wie Luther der erste Protestant gewesen. Was auf religiösem Gebiet die Bullenverbrennung Luthers, war auf naturwissenschaftlichem des Kopernikus großes Werk, worin er, schüchtern zwar, nach 36jährigem Zögern und sozusagen auf dem Totenbett, dem kirchlichen Aberglauben den Fehdehandschuh hinwarf.[1721 Von da an war die Naturforschung von der Religion wesentlich emanzipiert, obwohl die vollständige Auseinandersetzung aller Details sich noch bis heute hingezogen und in manchen Köpfen noch lange nicht fertig ist. Aber von da an ging auch die Entwicklung der Wissenschaft mit Riesenschritten, sie nahm zu sozusagen im quadratischen Verhältnis der zeitlichen Entfernung von ihrem Ausgangspunkt, gleichsam als ob sie der Welt zeigen wollte, daß für die Bewegung der höchsten Blüte der organischen Materie, den Menschengeist, das umgekehrte Gesetz gelte wie für die Bewegung unorganischer Materie. Die erste Periode der neueren Naturwissenschaft schließt - auf dem Gebiet des Unorganischen - mit Newton ab. Es ist die Periode der Bewältigung des gegebnen Stoffs, und sie hatte im Bereich des Mathematischen, der Mechanik und Astronomie, der Statik und Dynamik, Großes geleistet, besonders durch Kepler und Galilei, aus denen Newton die Schlußfolgerungen zog. Auf dem Gebiete des Organischen aber war man nicht über die ersten Anfänge hinaus. Die Untersuchung der historisch aufeinanderfolgenden und sich verdrängenden Lebensformen sowie die der ihnen entsprechenden wechselnden Lebensbedingungen-Paläontologie und Geologie - existierten noch nicht. Die Natur galt überhaupt nicht für etwas, das sich historisch entwickelt, das seine Geschichte in der Zeit hat; bloß die Ausdehnung im Raum kam in Betracht; nicht nacheinander, nur nebeneinander waren die verschiedenen Formen gruppiert worden; die Naturgeschichte galt für alle Zeiten, wie die Ellipsenbahnen der Planeten. Es fehlten für alle nähere Untersuchung der organischen Gebilde die beiden ersten Grundlagen, die Chemie und die Kenntnis der wesentlichen organischen Struktur, der Zelle. Die anfangs revolutionäre Naturwissenschaft stand vor einer durch und durch konservativen Natur, in der alles noch
heute so war wie von Anfang der Welt an, und in der bis zum Ende der Welt alles so bleiben werde, wie es von Anfang an gewesen. Es ist bezeichnend, daß diese konservative Naturanschauung sowohl im Anorganischen wie im Organischen [...]1
1 te Bresche: Kant und Laplace. 2te: Geologie und Paläontologie (Lyell, langsame Entwicklung). 3te: organische Chemie, die organische Körper herstellt und die Gültigkeit der chemischen Gesetze für die lebenden Körper darstellt. 4te: 1842, mechanische [Theorie der] Wärme, Grove. 5te: Darwin, Lamarck, Zelle etc. (Kampf, Cuvier und Agassiz). 6te: das vergleichende Element in Anatomie, Klimatologie (Isothermen), Tier- und Pflanzengeographie (wissenschaftliche Reiseexpeditionen seit Mitte 18. Jahrhunderts), überhaupt physikalischer Geographie (Humboldt), das Zusammenbringen des Materials in Zusammenhang. Morphologie (Embryologie,
Die alte Teleologie ist zum Teufel, aber fest steht jetzt die Gewißheit, daß die Materie in ihrem ewigen Kreislauf nach Gesetzen sich bewegt, die auf bestimmter Stufe - bald hier, bald da - in organischen Wesen den denkenden Geist mit Notwendigkeit produzieren. Die normale Existenz der Tiere gegeben in den gleichzeitigen Verhältnissen, worin sie leben und denen sie sich adaptieren - die des Menschen, sobald er sich vom Tier im engern Sinn differenziert, sind noch nie dagewesen, erst durch künftige historische Entwicklung herauszuarbeiten. Der Mensch ist das einzige Tier, das sich aus dem bloß tierischen Zustand herausarbeiten kann - sein Normalzustand ein seinem Bewußtsein angemessener, von ihm selbst zu schaffender.
Ausgelassenes aus „Feuerbach"[27I]
[Die vulgarisierenden Hausierer, die in den fünziger Jahren in Deutschland in Materialismus machten, kamen in keiner Weise über diese Schran
1 Der Satz ist unvollendet geblieben - 2 bis hierher ist der gesamte Text der Notiz im Manuskript, als von Engels im ersten Teil der „Einleitung" benutzt, mit einem senkrechten Strich durchstrichen (siehe vorl. Band, S. 311-320). Weiter folgen noch zwei Absätze, die teilweise im zweiten Teil der „Einleitung" (S. 320-327) benutzt wurden, aber im Manuskript nicht gestrichen sind
Astronomie Mechanik Mathematik
Physik Chemie
Geologie Pflanzenphysiologie Paläontologie Tierphysiologie Mineralogie Anatomie Therapeutik Diagnostik.
Baer)2.
ken ihrer Lehrer1 hinaus. Alle seitdem gemachten Fortschritte der Naturwissenschaft dienten ihnen nurj als neue Argumente gegen den Glauben an den Weltschöpfer; und in der Tat lag es ganz außerhalb ihres Geschäfts, die Theorie weiterzuentwickeln. Der Idealismus war durch 1848 schwer getroffen, aber der Materialismus in dieser seiner erneuten Gestalt war noch tiefer heruntergekommen. Daß Feuerbach die Verantwortlichkeit für diesen Materialismus ablehnte, darin hatte er entschieden recht; nur durfte er die Lehre der Reiseprediger nicht mit dem Materialismus überhaupt zusammenwerfen. Um dieselbe Zeit aber nahm die empirische Naturwissenschaft einen solchen Aufschwung und erreichte so glänzende Resultate, daß dadurch nicht nur eine vollständige Überwindung der mechanischen Einseitigkeit des 18. Jahrhunderts möglich wurde, sondern auch die Naturwissenschaft selbst durch den Nachweis der in der Natur selbst vorhandenen Zusammenhänge der verschiednen Untersuchungsgebiete (der Mechanik, Physik, Chemie, Biologie etc.) aus einer empirischen in eine theoretische Wissenschaft und bei der Zusammenfassung des Gewonnenen in ein System der materialistischen Naturerkenntnis sich verwandelte. Die Mechanik der Gase; die neugeschaffene organische Chemie, die einer sogenannten organischen Verbindung nach der andern den letzten Rest der Unbegreiflichkeit abstreifte, indem sie sie aus anorganischen Stoffen herstellte; die von 1818 datierende wissenschaftliche Embryologie; die Geologie und Paläontologie; die vergleichende Anatomie der Pflanzen und Tiere - sie alle lieferten neuen Stoff in bisher unerhörtem Maß. Von entscheidender Wichtigkeit aber waren drei große Entdeckungen. Die erste war der von der Entdeckung des mechanischen Äquivalents der Wärme (durch Robert Mayer, Joule und Colding) sich herleitende Nachweis der Verwandlung der Energie. Alle die zahllosen wirkenden Ursachen in der Natur, die bisher als sogenannte Kräfte ein geheimnisvolles, unerklärtes Dasein führten - mechanische Kraft, Wärme, Strahlung (Licht und strahlende Wärme), Elektrizität, Magnetismus, chemische Kraft der Verbindung und Trennung -, sind jetzt nachgewiesen als besondre Formen, Daseinsweisen einer und derselben Energie, d. h. Bewegung; wir können nicht nur ihre in der Natur stets vorgehende Verwandlung aus einer Form in die andre nachweisen, sondern sie selbst im Laboratorium und in der Industrie vollführen, und zwar so, daß einer gegebnen Menge von Energie in der einen Form stets eine bestimmte Menge von Energie in dieser oder jener
1 d. h.der französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts
andern Form entspricht. Wir können so die Wärmeeinheit in KilogrammMetern, und die Einheiten oder beliebigen Mengen von elektrischer oder chemischer Energie wieder in Wärmeeinheiten ausdrücken und umgekehrt; wir können ebenso den Energieverbrauch und die Energiezufuhr eines lebendigen Organismus messen und in einer beliebigen Einheit, z. B. in Wärmeeinheiten, ausdrücken. Die Einheit aller Bewegung in der Natur ist nicht mehr eine philosophische Behauptung, sondern eine naturwissenschaftliche Tatsache. Die zweite - der Zeit nach frühere - ist die Entdeckung der organischen Zelle durch Schwann und Schleiden, der Zelle als der Einheit, aus deren Vervielfältigung und Differenzierung alle Organismen mit Ausnahme der niedrigsten entstehen und herauswachsen. Erst mit dieser Entdeckung erhielt die Untersuchung der organischen, lebendigen Naturprodukte - sowohl die vergleichende Anatomie und Physiologie wie die Embryologie einen festen Boden. Der Entstehung, dem Wachstum und der Struktur der Organismen war das Geheimnis abgestreift; das bisher unbegreifliche Wunder hatte sich aufgelöst in einen nach einem für alle vielzelligen Organismen wesentlich identischen Gesetz sich vollziehenden Prozeß. Aber noch blieb eine wesentliche Lücke. Wenn alle vielzelligen Organismen - Pflanzen wie Tiere mit Einschluß des Menschen - aus je einer Zelle nach dem Gesetz der Zellspaltung herauswachsen, woher dann die unendliche Verschiedenheit dieser Organismen? Diese Frage wurde beantwortet durch die dritte große Entdeckung, die Entwicklungstheorie, die Tiiorct va« rSflrtArjn im Zusammenhang darCTeste!!t und begrün rlo* manche Umwandlungen diese Theorie auch noch im einzelnen durchmachen wird, so löst sie im ganzen und großen schon jetzt das Problem in mehr als genügender Weise. Die Entwicklungsreihe der Organismen von wenigen einfachen zu stets mannigfacheren und komplizierteren, wie wir sie heute vor uns sehn, und bis zum Menschen herauf, ist in den großen Grundzügen nachgewiesen; es ist damit nicht nur die Erklärung ermöglicht für den vorgefundnen Bestand an organischen Naturprodukten, sondern auch die Grundlage gegeben für die Vorgeschichte des Menschengeistes, für die Verfolgung seiner verschiednen Entwicklungsstufen vom einfachen strukturlosen, aber Reize empfindenden Protoplasma der niedrigsten Organismen bis zum denkenden Menschenhirn. Ohne diese Vorgeschichte aber bleibt das Dasein des denkenden Menschenhirns ein Wunder. Mit diesen drei großen Entdeckungen sind die Hauptvorgänge der Natur erklärt, auf natürliche Ursachen zurückgeführt. Nur eines bleibt hier noch zu tun: die Entstehung des Lebens aus der unorganischen Natur zu
erklären. Das heißt auf der heutigen Stufe der Wissenschaft nichts andres als: Eiweißkörper aus unorganischen Stoffen herzustellen. Dieser Aufgabe rückt die Chemie immer näher. Sie ist noch weit von ihr entfernt. Wenn wir aber bedenken, daß erst 1828 der erste organische Körper, der Harnstoff, von Wöhler aus unorganischem Material dargestellt wurde, und wie unzählige sogenannte organische Zusammensetzungen jetzt künstlich ohne irgendwelche organische Stoffe dargestellt werden, werden wir der Chemie kein Halt! vor dem Eiweiß gebieten wollen. Bis jetzt kann sie jeden organischen Stoff darstellen, dessen Zusammensetzung sie genau kennt. Sobald die Zusammensetzung der Eiweißkörper einmal bekannt ist, wird sie an die Herstellung von lebendigem Eiweiß gehn können. Daß sie aber von heute auf morgen das leisten soll, was der Natur selbst nur unter sehr günstigen Umständen auf einzelnen Weltkörpern nach Millionen Jahren gelingt - das hieße ein Wunder verlangen. Somit steht die materialistische Naturanschauung heute auf ganz anders festen Füßen als im vorigen Jahrhundert. Damals-war nur die Bewegung der Himmelskörper und die von irdischen festen Körpern unter dem Einfluß der Schwere einigermaßen erschöpfend verstanden; fast das ganze Gebiet der Chemie und die ganze organische Natur blieben unverstandne Geheimnisse. Heute liegt die ganze Natur als ein wenigstens in den großen Grundzügen erklärtes und begriffenes System von Zusammenhängen und Vorgängen vor uns ausgebreitet. Allerdings heißt materialistische Naturanschauung weiter nichts als einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat, und daher verstand sie sich bei den griechischen Philosophen ursprünglich von selbst. Aber zwischen jenen alten Griechen und uns liegen mehr als zwei Jahrtausende wesentlich idealistischer Weltanschauung, und da ist die Rückkehr auch zum Selbstverständlichen schwerer, als es auf den ersten Blick scheint. Denn es handelt sich keineswegs um einfache Verwerfung des ganzen Gedankeninhalts jener zwei Jahrtausende, sondern um seine Kritik, um die Losschälung der innerhalb der falschen, aber für ihre Zeit und den Entwicklungsgang selbst unvermeidlichen idealistischen Form gewonnenen Resultate aus dieser vergänglichen Form. Und wie schwer das ist, beweisen uns jene zahlreichen Naturforscher, die innerhalb ihrer Wissenschaft unerbittliche Materialisten sind, außerhalb derselben aber nicht nur Idealisten, sondern selbst fromme, ja orthodoxe Christen. Alle diese epochemachenden Fortschritte der Naturwissenschaft gingen an Feuerbach vorüber, ohne ihn wesentlich zu berühren. Es war dies nicht so sehr seine Schuld als die der elenden deutschen Verhältnisse, kraft deren
die Lehrstühle der Universitäten von hohlköpfigen, eklektischen Flohknackern in Beschlag genommen wurden, während Feuerbach, der sie turmhoch überragte, in einsamer Dorfabgeschiedenheit fast verbauern mußte. Daher kommt es, daß er über die Natur - bei einzelnen genialen Zusammenfassungen - soviel belletristisches Stroh dreschen muß. So sagt er:
„Das Leben ist allerdings nicht Produkt eines chemischen Prozesses, nicht Produkt überhaupt einer vereinzelten Naturkraft oder Erscheinung, worauf der metaphysische Materialist das Leben reduziert; es ist ein Resultat der ganzen Natur".!272]
Daß das Leben ein Resultat der ganzen Natur ist, widerspricht keineswegs dem Umstand, daß das Eiweiß, welches der ausschließliche selbständige Träger des Lebens ist, unter bestimmten, durch den ganzen Naturzusammenhang gegebnen Bedingungen entsteht, aber eben als Produkt eines chemischen Prozesses entsteht. (Hätte Feuerbach unter Umständen gelebt, die ihm erlaubten, die Entwicklung der Naturwissenschaft auch nur oberflächlich zu verfolgen, so würde er nie in den Fall gekommen sein, von einem chemischen Prozeß zu sprechen als von der Wirkung einer vereinzelten Naturkraft.)1 Derselben Vereinsamung ist es zuzuschreiben, wenn Feuerbach sich in eine Reihe unfruchtbarer und sich im Kreise drehender Spekulationen über das Verhältnis des Denkens zum denkenden Organ, dem Gehirn, verliert - ein Gebiet, worauf ihm Starcke mit Vorliebe folgt. Genug, Feuerbach sträubt sich gegen den Namen Materialismus.f273 ] T Inrl niVVit Bari7 mit I IrsiV»i-}->f • r!f»nn »r «nrrS A&rt 0 —~"" " ~ X »M dem Gebiet der Natur ist er Materialist; aber auf dem Gebiet der menschlichen [...]2
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Gott wird nirgends schlechter behandelt als bei den Naturforschern, die an ihn glauben. Die Materialisten explizieren einfach die Sache, ohne auf solche Phrasen einzugehn, sie tun dies erst, wenn zudringliche Gläubige ihnen den Gott aufdrängen wollen, und da antworten sie kurz, sei es wie Laplace: Sire, je n'avais etc.[274], sei es derber in der Art der holländischen Kaufleute, die deutsche Handelsreisende bei Aufdrängung ihrer Schund
1 Dieser Satz ist im Manuskript gestrichen - 2 hier endet S. 19 des ursprünglichen Manuskripts „Ludwig Feuerbach". Das Ende dieses Satzes befindet sich auf der folgenden Seite, die nicht erhalten ist. Auf Grund des gedruckten Textes des „Ludwig Feuerbach" kann man annehmen, daß der zweite Teil des letzten Satzes so lautete: „aber auf dem Gebiet der menschlichen Geschichte ist er Idealist"
fabrikate mit den Worten abzuweisen pflegen: Ik kan die zaken niet gebruiken, und damit ist's abgetan. Aber was hat Gott von seinen Verteidigern erdulden müssen! In der Geschichte der modernen Naturwissenschaften wird Gott von seinen Verteidigern behandelt wie Friedrich Wilhelm III. in der Kampagne von Jena[34] von seinen Generalen und Beamten. Ein Armeeteil nach dem andern streckt das Gewehr, eine Festung nach der andern kapituliert vor dem Anmarsch der Wissenschaft, bis zuletzt das ganze unendliche Gebiet der Natur von ihr erobert und keine Stätte mehr in ihr ist für den Schöpfer. Newton ließ ihm noch den „ersten Anstoß", verbat sich aber jede fernere Einmischung in sein Sonnensystem. P[ater] Secchi komplimentiert ihn, zwar mit allen kanonischen Honneurs, aber darum nicht weniger kategorisch, aus dem Sonnensystem ganz heraus und erlaubt ihm nur noch in Beziehung auf den Urnebel einen Schöpfungsakt. Und so auf allen Gebieten. In der Biologie mutet ihm sein letzter großer Don Quixote, Agassiz, sogar positiven Unsinn zu: Er soll nicht nur die wirklichen Tiere, sondern auch abstrakte Tiere, den Fisch als solchen schaffen!1 Und zuletzt verbietet ihm Tyndall gar den Zutritt zur Natur total und verweist ihn in die Welt der Gefühlsbewegungen und läßt ihn nur zu, weil es doch jemand geben muß, der von allen diesen Dingen (der Natur) mehr weiß als J. Tyndall!f275] Welch ein Abstand vom alten Gott - Schöpfer Himmels und der Erden, Erhalter aller Dinge, ohne den kein Haar vom Haupt fallen kann! Das emotionale Bedürfnis Tyndalls beweist nichts. Der Chevalier des Grieux hatte auch das emotionale Bedürfnis, die Manon Lescaut zu lieben und zu besitzen, die sich und ihn einmal über das andre Mal verkaufte; er wurde ihr zuliebe Falschspieler und Maquereau, und wenn Tyndall ihm dann Vorwürfe machen will, so antwortet er mit seinem „emotionalen Bedürfnis"! Gott = nescio2; aber ignorantia non est argumentum3156] (Spinoza).
[Naturwissenschaft und Philosophie]
*
Büchner™6*
Aufkommen der Richtung. Auflösung der deutschen Philosophie in Materialismus - die Kontrolle über die Wissenschaft beseitigt - Losplatzen der platt materialistischen Popularisation, deren Materialismus den Mangel an Wissenschaft ersetzen sollte. Flor zur Zeit der tiefsten Erniedrigung des bürgerlichen Deutschlands und der offiziellen deutschen Wissenschaft 1850-1860. Vogt, Moleschott, Büchner. Gegenseitige Assekuranz. - Neubelebung durch Modewerden des Darwinismus, den diese Herrn gleich pachteten. Man könnte sie laufen lassen und ihrem nicht unlöblichen, wenn auch engen Beruf überlassen, dem deutschen Philister Atheismus etc. beizubringen, aber 1. das Schimpfen auf die Philosophie (Stellen anzuführen)*, die trotz alledem den Ruhm Deutschlands bildet, und 2= die Anmaßung, die Naturtheorien auf die Gesellschaft anzuwenden und den Sozialismus zu reformieren. So zwingen sie uns zur Notiznahme. Zuerst, was leisten sie auf ihrem eignen Felde? Zitate. 2. Umschlag, p. 170/171. Woher plötzlich dies Hegelsche?[278] Übergang zur Dialektik. Zwei philosophische Richtungen, die metaphysische mit fixen Kategorien, die dialektische (Aristoteles und Hegel besonders) mit flüssigen; die Nachweise, daß diese fixen Gegensätze von Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Identität und Unterschied, Schein und Wesen unhaltbar sind,
* Büchner kennt die Philosophie nur als Dogmatiker, wie er selbst Dogmatiker des plattesten Abspülicht des deutschen Auf klär ichts, dem der Geist und die Bewegung der großen französischen Materialisten abhanden gekommen (Hegel über diese) - wie dem Nicolai der [Geist] des Voltaire. Lessings „toter Hund Spinoza" ([Hegel,] „Enzyklopädie]", Vorrfede, SJ 19) f277l.
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Eine Seite aus den Notizen zur „Dialektik der Natur"

daß die Analyse einen Pol schon als in nuce1 vorhanden im andern nachweist, daß an einem bestimmten Punkt der eine Pol in den andern umschlägt, und daß die ganze Logik sich erst aus diesen fortschreitenden Gegensätzen entwickelt. - Dies bei Hegel selbst mystisch, weil die Kategorien als präexistierend, und die Dialektik der realen Welt als ihr bloßer Abglanz erscheint. In Wirklichkeit umgekehrt: die Dialektik des Kopfs nur Widerschein der Bewegungsformen der realen Welt, der Natur wie der Geschichte. Die Naturforscher bis Ende vorigen Jahrhunderts, ja bis 1830 wurden mit der alten Metaphysik ziemlich fertig, weil die wirkliche Wissenschaft nicht über Mechanik - irdische und kosmische - hinausging. Trotzdem brachte schon die höhere Mathematik, die die ewige Wahrheit der niedern Mathematik als einen überwundnen Standpunkt betrachtet, oft das Gegenteil behauptet und Sätze aufstellt, die dem niedern Mathematiker als barer Unsinn erscheinen, Konfusion hinein. Die festen Kategorien lösten sich hier auf, die Mathematik war auf ein Terrain gekommen, wo selbst so einfache Verhältnisse, wie die der bloßen abstrakten Quantität, das schlechte Unendliche, eine vollkommen dialektische Gestalt annahmen und die Mathematiker zwangen, wider Willen und ohne es zu wissen, dialektisch zu werden. Nichts komischer als die Windungen, faulen Schliche, und Notbehelfe der Mathematiker, diesen Widerspruch .zu lösen, die höhere und niedre Mathematik zu versöhnen, ihrem Verstand klarzumachen, daß das, was sich ihnen als unleugbares Resultat ergab, nicht reiner Blödsinn sei, und überhaupt Ausgangspunkt, Methode und Resultat der Mathematik des Unendlichen rationell zu erklären. Jetzt aber ist das alles anders. Die Chemie, abstrakte Teilbarkeit desPhysikalischen, schlechte Unendlichkeit - Atomistik. Die Physiologie - Zelle (der organische Entwicklungsprozeß sowohl des Individuums wie der Arten durch Differenzierung die schlagendste Probe auf die rationelle Dialektik) und endlich die Identität der Naturkräfte und ihre gegenseitige Verwandlung, die aller Fixität der Kategorien ein Ende machte. Trotzdem die Masse der Naturforscher noch immer fest in den alten metaphysischen Kategorien und hülflos, wenn diese modernen Tatsachen, die die Dialektik sozusagen in der Natur nachweisen, rationell erklärt und in Zusammenhang unter sich gebracht werden sollen. Und hier mußte gedacht werden: Atom und Molekül etc. kann man nicht mit dem Mikroskop beobachten, sondern nur mit Denken. Vergleiche die Chemiker (ausgenommen Schorlemmer, der Hegel kennt) und Virchows „Zellularpathologie", wo schließ
lieh allgemeine Phrasen die Hülflosigkeit verdecken müssen. Die des Mystizismus entkleidete Dialektik wird eine absolute Notwendigkeit für die Naturwissenschaft, die das Gebiet verlassen hat, wo die festen Kategorien, gleichsam die niedre Mathematik der Logik, ihr Hausgebrauch, ausreichten. Die Philosophie rächt sich posthum an der Naturwissenschaft dafür, daß diese sie verlassen hat - und doch hätten die Naturforscher schon an den naturwissenschaftlichen Erfolgen der Philosophie sehn können, daß in all dieser Philosophie etwas stak, das auch auf ihrem eignen Gebiet ihnen überlegen war (Leibniz - Gründer der Mathematik des Unendlichen, gegen den der Induktionsesel Newton[279] als Plagiator und Verderber trittt280]; Kant - kosmische Entstehungstheorie vor Laplace[26]; Oken - der erste in Deutschland, der die Entwicklungstheorie annahm; Hegel - dessen [...]1 Zusammenfassung und rationelle Gruppierung der Naturwissenschaften eine größere Tat ist als all der materialistische Blödsinn zusammen).
Bei der Prätention des Büchner, über Sozialismus und Ökonomie aus Kampf ums Dasein abzuurteilen: Hegel „Enzyklopädie]I, p. 9, über das Schuhmachen[281]. Bei der Politik und [dem] Sozialismus: Der Verstand, auf den die Welt gewartet hat (p. 1 1)[282]. Außer-, Neben- und Nacheinander. Hegel „Enzyklopädie]", p. 35! als Ro.-fr,'. j„„ Q:—A^ .[283] uiiiiaiwucii; uvi v ui oiviiung ® Hegei „Enzyklopädie]", p. 40. Naturerscheinungen[284i - aber bei Büchner wird nicht gedacht, bloß abgeschrieben, daher das nicht nötig. p. 42. Solon hat seine Gesetze „aus seinem Kopf hervorgebracht" Büchner kann dasselbe für die moderne Gesellschaft. p. 45. Metaphysik - Wissenschaft der Dinge - nicht der Bewegungen, p. 53. „Bei der Erfahrung [kömmt es darauf an, mit welchem Sinn man an die Wirklichkeit geht. Ein großer Sinn macht große Erfahrungen und erblickt in dem bunten Spiel der Erscheinung das, worauf es] ankommt." p. 56. Parallelismus zwischen menschlichem Individuum und Geschichte[285] = Parallelismus zwischen Embryologie und Paläontologie.
*
1 Das Wort ist im Manuskript nicht zu entziffern, da es von einem Tintenklecks verdeckt
ist
Wie Fourier a mathematical poem1[286] und doch noch gebraucht, so Hegel a dialectical poem2. •
Die falsche Porositätstheorie (worin die verschiednen falschen Materien, Wärmestoff etc., in ihren gegenseitigen Poren sitzen und sich doch nicht durchdringen) von Hegel, „Enzyklopädie]", I, [S.] 259, als reine Erdichtung des Verstandestargestellt, siehe auch „Logik"[287].
*
Hegel, „Enz[yklopädie]", I, [S.] 205/206[288], prophetische Stelle über die Atomgewichte gegenüber den damaligen physikalischen Auffassungen und über Atom, Molekül als GeeZan^enbestimmungen, worüber das Denken zu entscheiden hat. *
Wenn Hegel die Natur als eine Manifestation der ewigen „Idee" in der Entäußerung ansieht, und dies ein so schweres Verbrechen ist, was sollen wir sagen zum Morphologen Richard Owen: „Die urbildliche Idee war lange vor der Existenz jener tierischen Arten, die sie jetzt verwirklichen, in verschiedenen solcher Formen auf diesem Planeten verkörpert" („Nature of Limbs", 1849). W Wenn das ein mystischer Naturforscher sagt, der sich nichts dabei denkt, so geht's ruhig hin, wenn aber ein Philosoph dasselbe sagt, der sich etwas, und zwar au fond3 das Richtige, wenn auch in verkehrter Form, dabei denkt, so ist's Mystik und ein unerhörtes Verbrechen.
*
Naturforscherliches Denken: Agassiz* Schöpfungsplan, wonach Gott vom Allgemeinen zum Besondern und Einzelnen fortschafft, zuerst das Wirbeltier als solches, dann das Säugetier als solches, das Raubtier als solches, die Katze als solche und endlich erst den Löwen etc. schafft! also erst abstrakte Begriffe in Gestalt von konkreten Dingen und dann konkrete Dinge! (Siehe Haeckel, p. 59.)[a90] *
Bei Oken (Haeckel, p. 85ff.) tritt der Unsinn hervor, der entstanden aus dem Dualismus zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Oken entdeckt auf dem Gedankenweg das Protoplasma und die Zelle, aber es fällt
1 ein mathematisches Gedicht - 2 ein dialektisches Gedicht - 3 im Grunde genommen
niemand ein, die Sache naturwissenschaftlich zu verfolgen - das Denken soll's leisten! und als Protoplasma und Zelle entdeckt werden, ist Oken im allgemeinen Verschiß! *
Hof mann („Ein Jahrhundert Chemie unter den Hohenzoliern") zitiert Naturphilosophie, Zitat aus Rosenkranz, dem Belletristen, den kein richtiger Hegelianer anerkennt. Die Naturphilosophie für Rosenkranz verantwortlich zu machen, ist ebenso albern, wie wenn Hofmann die Hohenzoliern für die Marggrafsche Entdeckung des Rübenzuckers verantwortlich macht.[291] *
Theorie und Empirie: die Abplattung theoretisch durch Newton festgestellt. Die Cassinis[292] und andere Franzosen behaupteten noch lange nachher, auf ihre empirischen Messungen gestützt, daß die Erde ellipsoidisch und die Polarachse die längste sei. 4c
Die Verachtung der Empiriker für die Griechen erhält eine eigentümliche Illustration, wenn man z. B. Th.Thomson („On Electriciiy")12933 liest, wo Leute wie Davy und selbst noch Faraday im dunkeln herumtappen (elektrischer Funken etc.) und Experimente anstellen, die ganz an die Erzählungen von Aristoteles und Plinius über physikalisch-chemische Verhältnisse erinnern. Grade in dieser neuen Wissenschaft reproduzieren die Empiriker ganz das blinde Tasten der Alten. Und wo der geniale Faraday eine richtige Fährte hat, muß der Philister Thomson dagegen protestieren ([p.l 397).
Haeckel, „Anthropfogenie][S.j 707: „Nach der materialistischen Weltanschauung ist die Materie oder der Stoff früher da als die Bewegung1 oder die lebendige Kraft, der Stoff hat die Kraft geschaffen." Dies sei ebenso falsch, wie daß die Kraft den Stoff geschaffen, da Kraft und Stoff untrennbar. Wo holt der sich seinen Materialismus?
4c
Causae finales und efficientes2 von Haeckel ([S.] 89, 90)[29O] in zweckmäßig wirkende und mechanisch wirkende Ursachen verwandelt, weil ihm
1 Hervorhebung von Engels - 2 Letzte (oder ein bestimmtes Ziel verfolgende) Ursachen und wirkende (hervorbringende) Ursachen
causa finalis = Gott! Ebenso ist ihm „mechanisch" ohne weiteres nach Kant = monistisch, nicht = mechanisch im Sinn der Mechanik. Bei solcher Sprachkonfusion Unsinn unvermeidlich. Was Haeckel hier von Kants „Kritik der Urteilskraft" sagt, stimmt nicht mit Hegel („Gjeschichte] d[er] Philosophie]", [S.] 603).[294] *
Andres1 Exempel der Polarität bei Haeckel: Mechanismus = Monismus, und Vitalismus oder Teleologie = Dualismus. Schon bei Kant und Hegel der innere Zweck ein Protest gegen Dualismus. Mechanismus aufs Leben angewandt eine hülflose Kategorie, wir können höchstens von Chemismus sprechen, wenn wir nicht allen Verstand der Namen aufgeben wollen. Zweck: Hegel, V, [SJ 205[295]:
„Der Mechanismus zeigt sieh selbst dadurch als ein Streben der Totalität, daß er die Natur für sich als ein Ganzes zu fassen sucht, das zu seinem Begriffe keines andern bedarf - eine Totalität, die sich in dem Zwecke und dem damit zusammenhängenden außerWeltlichen Verstände nicht findet." 2
Der Witz aber der, daß der Mechanismus (auch der Materialismus des 18. Jahrhunderts) nicht aus der abstrakten Notwendigkeit und daher auch nicht aus der Zufälligkeit herauskommt. Daß die Materie das denkende Menschenhirn aus sich entwickelt, ist ihm ein purer Zufall, obwohl, wo es geschieht, von Schritt zu Schritt notwendig bedingt. In Wahrheit aber ist es die Natur der Materie, zur Entwicklung denkender Wesen fortzuschreiten, und dies geschieht daher auch notwendig immer, wo die Bedingungen (nicht notwendig überall und immer dieselben) dazu vorhanden. Weiter Hegel, V, [SJ 206:
„Dies Prinzip" (des Mechanismus) „gibt daher in seinem Zusammenhange von äußerer Notwendigkeit das Bewußtsein unendlicher Freiheit gegen die Teleologie, welche die Geringfügigkeiten und selbst Verächtlichkeiten ihres Inhalts als etwas Absolutes aufstellt, in dem sich der allgemeinere Gedanke nur unendlich beengt und selbst ekelhaft affiziert finden kann."
Dabei wieder die kolossale Stoff- und Bewegungsvergeudung der Natur. Im Sonnensystem vielleicht nur 3 Planeten höchstens, auf denen Leben und denkende Wesen existieren können - unter jetzigen Bedingungen. Und um ihretwillen der ganze ungeheure Apparat!
1 Das Wort „Andres" bezieht sich auf die Notiz „Polarität", die unmittelbar vor dieser Notiz auf demselben Blatt steht (siehe vorl. Band, S. 48 ) - 2 Hervorhebung von Engels
Der innere Zweck im Organismus setzt sich dann nach Hegel (V, IS.] 244)f296] durch den Trieb durch. Pas trop fort1. Der Trieb soll das einzelne Lebendige mit seine m Begriff mehr oder weniger in Harmonie bringen. Hieraus geht hervor, wie sehr der ganze innere Zweck selbst eine ideologische Bestimmung ist. Und doch liegt hierin Lemarck.
*
Die Naturforscher glauben sich von der Philosophie zu befreien, indem sie sie ignorieren oder über sie schimpfen. Da sie aber ohne Denken nicht vorankommen und zum Denken Denkbestimmungen nötig haben, diese Kategorien aber unbesehn aus dem von den Resten längst vergangner Philosophien beherrschten gemeinen Bewußtsein der sog. Gebildeten oder aus dem bißchen auf der Universität zwangsmäßig gehörter Philosophie (was nicht nur fragmentarisch," sondern auch ein Wirrwarr der Ansichten von Leuten der verschiedensten und meist schlechtesten Schulen ist) oder aus unkritischer und unsystematischer Lektüre philosophischer Schriften aller Art nehmen, so stehn sie nicht minder in der Knechtschaft der Philosophie, meist aber leider der schlechtesten, und die, die am meisten auf die Philosophie schimpfen, sind Sklaven grade der schlechtesten vulgarisierten Reste der schlechtesten Philosophien. *
Die Naturforscher mögen sich stellen, wie sie wollen, sie werden von der Philosophie beherrscht. Es fragt sich nur, ob sie von einer schlechten Modephilosophie beherrscht werden wollen oder von einer Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mit der Geschichte des Denkens und mit deren Errungenschaften beruht. Physik, hüte dich vor Metaphysik, ist ganz richtig, aber in einem andren Sinnt297!. Die Naturforscher fristen der Philosophie noch ein Scheinleben, indem sie sich mit den Abfällen der alten Metaphysik behelfen. Erst wenn Naturund Geschichtswissenschaft die Dialektik in sich aufgenommen, wird all der philosophische Kram - außer der reinen Lehre vom Denken - überflüssig, verschwindet in der positiven Wissenschaft. t
[Dialektik]
[a) Allgemeine Fragen der Dialektik' Grundgesetze der Dialektik1
*
Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen. Attraktion und Repulsion. Beim Magnetismus fängt die Polarität an, sie zeigt sich an ein und demselben Körper; bei der Elektrizität verteilt sie sich auf 2 oder mehr, die in gegenseitige Spannung geraten. Alle chemischen Prozesse reduzieren sich auf Vorgänge der chemischen Attraktion und Repulsion. Endlich im organischen Leben ist die Bildung des Zellenkerns ebenfalls als eine Polarisierung des lebendigen Eiweißstoffs zu betrachten, und von der einfachen Zelle an weist die Entwicklungstheorie nach, wie jeder Fortschritt bis zur kompliziertesten Pflanze einerseits, bis zum Menschen andrerseits, durch den fortwährenden Widerstreit von Vererbung und Anpassung bewirkt wird. Es zeigt sich dabei, wie wenig Kategorien wie „positiv" und „negativ" auf solche Entwicklungsformen anwendbar sind. Man kann die Vererbung als die positive, erhaltende Seite, die Anpassung als die negative, das Ererbte fortwährend zerstörende Seite, aber ebensogut die Anpassung als die schöpferische, aktive, positive, die Vererbung als die widerstrebende, passive, negative Tätigkeit auffassen. Wie aber in der Geschichte der Fortschritt als Negation des Bestehenden auftritt, so wird auch hier aus rein praktischen Gründen - die Anpassung besser als negative Tätigkeit gefaßt. In der Geschichte tritt die Bewegung in Gegensätzen erst recht hervor in allen kritischen Epochen der leitenden Völker. In solchen Momenten hat ein Volk nur die Wahl zwischen zwei Hörnern eines Dilemmas: entweder — oder!, und zwar ist die Frage immer ganz anders gestellt, als das politisierende Philisterium aller Zeiten sie gestellt wünscht. Selbst der liberale deutsche Philister von 1848 fand sich 1849 plötzlich und unerwartet
und wider Willen vor die Frage gestellt: Rückkehr zur alten Reaktion in verschärfter Form, oder Fortgang der Revolution bis zur Republik, vielleicht gar der einen und unteilbaren mit sozialistischem Hintergrund. Er besann sich nicht lange und half die Manteuffelsche Reaktion als Blüte des deutschen Liberalismus scharfen.[31] Ebenso 1851 der französische Bourgeois vor dem von ihm sicher nicht erwarteten Dilemma: Karikatur des Kaisertums, Prätorianertum und Ausbeutung Frankreichs durch eine Lumpenbande, oder sozialdemokratische Republik - und er duckte sich vor der Lumpenbande, um unter ihrem Schutz die Arbeiter fortausbeuten zu können. *
Hard and fast lines1 mit der Entwicklungstheorie unverträglich - sogar die Grenzlinie zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen schon nicht mehr fest, ebensowenig die zwischen Fischen und Amphibien, und die zwischen Vögeln und Reptilien verschwindet täglich mehr und mehr. Zwischen CompsognathusI298] und Archaeopteryx[177] fehlen nur noch wenige Mittelglieder, und gezahnte Vogelschnäbel tauchen in beiden Hemisphären auf. Das Entweder dies - oder das! wird mehr und mehr ungenügend. Bei den niedern Tieren der Begriff des Individuums gar nicht scharf festzustellen. Nicht nur, ob dies Tier ein Individuum oder eine Kolonie ist,*sondern auch, wo in der Entwicklung Ein Individuum aufhört und das andre anfängt (Ammen)1299- Für eine solche Stufe der Naturanschauung, wo alle Unterschiede in Mittelstufen zusammenfließen, alle Gegensätze durch Zwischenglieder ineinander übergeführt werden, reicht die alte metaphysische Denkmethode nicht mehr aus. Die Dialektik, die ebenso keine hard and fast lines, kein unbedingtes allgültiges Entweder-Oder! kennt, die die fixen metaphysischen Unterschiede ineinander überführt und neben dem EntwederOder! ebenfalls das Sowohl dies - wie jenes! an richtiger Stelle kennt und die Gegensätze vermittelt, ist die einzige ihr in höchster Instanz angemeßne Denkmethode. Für den Alltagsgebrauch, den wissenschaftlichen Kleinhandel, behalten die metaphysischen Kategorien ja ihre Gültigkeit.
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Umschlag von Quantität in Qualität = „mechanische" Weltanschauung, quantitative Veränderung ändert Qualität. Das haben die Herren nie gerochen! #
Die Gegensätzlichkeit der verständigen Denkbestimmungen: die Polarisation. Wie Elektrizität, Magnetismus etc. sich polarisieren, im Gegensatz bewegen, so die Gedanken. Wie dort keine Einseitigkeit festzuhalten, woran kein Naturforscher denkt, so auch hier nicht.
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Die wahre Natur der „Wesens"bestimmungen von Hegel selbst ausgesprochen („Enzyklopädie]", I, §111, Zusatz): „Im Wesen ist alles relativ".1 (Z. B. positiv und negativ, die nur in ihrer Beziehung, nicht jedes für sich Sinn haben.) *
Teil und Ganzes z. B. sind schon Kategorien, die in der organischen Natur unzureichend werden. - Abstoßen des Samens - der Embryo und das geborne Tier sind nicht als „Teil" aufzufassen, der vom „Ganzen" getrennt wird, das gäbe schiefe Behandlung. Erst Teil im Kadaver („ Enzyklopädie]" I, [S.] 268).[300] *
Einfach und zusammengesetzt: Kategorien, die ebenfalls schon in der organischen Natur ihren Sinn verlieren, unanwendbar sind. Weder die mechanische Zusammensetzung aus Knochen, Blut, Knorpel, Muskeln, Geweben etc., noch die chemische aus den Elementen, drücken ein Tier aus. Hegel „Enzyklopädie]", I, [S.] 256t301]. Der Organismus ist weder einfach noch zusammengesetzt, er mag noch so kompliziert sein.
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Identität - abstrakte, a = a; und negativ, a nicht gleich und ungleich a gleichzeitig - ebenfalls in der organischen Natur unanwendbar. Die Pflanze, das Tier, jede Zelle in jedem Augenblick seines Lebens identisch mit sich und doch sich von sich selbst unterscheidend, durch Aufnahme und Ausscheidung von Stoffen, Atmung, durch Zellenbildung und Zellenabsterben, durch den vorgehenden Zirkulationsprozeß, kurz, durch eine Summe unaufhörlicher molekularer Veränderungen, die das Leben ausmachen und deren summierte Resultate in den Lebensphasen - Embryonalleben, Jugend, Geschlechtsreife, Gattungsprozeß, Alter, Tod - augenscheinlich hervortreten. Je weiter die Physiologie sich entwickelt, desto wichtiger werden für sie diese unaufhörlichen, unendlich kleinen Veränderungen, desto
wichtiger für sie also ebenso die Betrachtung des Unterschieds innerhalb der Identität, und der alte abstrakt formelle Identitätsstandpunkt, daß ein organisches Wesen als ein mit sich einfach Identisches, Konstantes zu behandeln, veraltet1. Trotzdem dauert die auf ihn gegründete Denkweise mit ihren Kategorien fort. Aber schon in der unorganischen Natur die Identität als solche in Wirklichkeit nicht existierend. Jeder Körper ist fortwährend mechanischen, physikalischen, chemischen Einwirkungen ausgesetzt, die stets an ihm ändern, seine Identität modifizieren. Nur in der Mathematik einer abstrakten Wissenschaft, die sich mit Gedankendingen beschäftigt, gleichviel ob Abklatschen der Realität - ist die abstrakte Identität und ihr Gegensatz gegen den Unterschied am Platz und wird auch da fortwährend aufgehoben. Hegel „Enzykl [opädie]", I, [S.j 23513021. Die Tatsache, daß die Identität den Unterschied in sich enthält, ausgesprochen in jedem Satz, wo das Prädikat vom Subjekt notwendig verschieden: Die Lilie ist eine Pflanze, die Rose ist rot, wo entweder im Subjekt oder im Prädikat etwas, das vom Prädikat oder Subjekt nicht gedeckt wird. Hegel, [S.] 231[303]. - Daß die Identität mit sich von vornherein den Unterschied von allem andern zur Ergänzung nötig hat, ist selbstredend. Die fortwährende Veränderung, d.h. Aufhebung der abstrakten Identität mit sich, auch im sog. Unorganischen. Die Geologie ist ihre Geschichte. Auf der Oberfläche mechanische Veränderungen (Auswaschung, Frost), chemische (Verwitterung), im Innern mechanische (Druck), Wärme (vulkanische), chemische (Wasser, Säuren, Bindemittel), im Großen Hebungen, Erdbeben etc. Der Schiefer von heute grundverschieden von dem Schlick, aus dem er gebildet, die Kreide von den losen mikroskopischen Schalen, die sie zusammensetzen, noch mehr der Kalkstein, der ja nach einigen ganz organischen Ursprungs sein soll, der Sandstein vom losen Meersand, der wieder aus zerriebenem Granit etc. herrührt, von Kohle nicht zu sprechen.
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Der Satz der Identität im altmetaphysischen Sinn der Fundamentalsatz der alten Anschauung: a = a. Jedes Ding ist sich selbst gleich. Alles war permanent, Sonnensystem, Sterne, Organismen. Dieser Satz ist von der Naturforschung in jedem einzelnen Fall Stück für Stück widerlegt, theoretisch hält er aber noch vor und wird von den Anhängern des Alten immer noch dem Neuen entgegengehalten: Ein Ding kann nicht gleichzeitig es
1 Am Rande des Manuskripts findet sich hier der von Engels unterstrichene Vermerk: „Abgesehn obendrein von der Artenentwicklung" '
selbst und ein anderes sein. Und doch ist die Tatsache, daß die wahre konkrete Identität den Unterschied, die Veränderung in sich schließt, von der Naturforschung neuerdings im Detail nachgewiesen (siehe oben). - Die abstrakte Identität, wie alle metaphysischen Kategorien, reicht aus für den //aasgebrauch, wo kleine Verhältnisse oder kurze Zeiträume in Betracht kommen; die Grenzen, innerhalb deren sie brauchbar, sind fast für jeden Fall verschieden und durch die Natur des Gegenstands bedingt - in einem Planetensystem, wobei für die ordinäre astronomische Rechnung die Ellipse als Grundform angenommen werden kann, ohne praktisch Fehler zu machen, viel weiter als bei einem Insekt, das seine Metamorphose in einigen Wochen vollendet. (Andre Beispiele zu geben, z. B. Arten Veränderung, die nach einer Reihe von Jahrtausenden zählen.) Aber für die zusammenfassende Naturwissenschaft, selbst in jeder einzelnen Branche, ist die abstrakte Identität total unzureichend, und obwohl im ganzen und großen jetzt praktisch beseitigt, beherrscht sie theoretisch noch immer die Köpfe, und die meisten Naturforscher stellen sich vor, Identität und Unterschied seien unversöhnliche Gegensätze, statt einseitige Pole, die nur in ihrer Wechselwirkung, in der Einfassung des Unterschieds in die Identität, Wahrheit haben. *
Identität und Unterschied - Notwendigkeit und Zufälligkeit - Ursache und Wirkung - die beiden Hauptgegensätze[3043, die, getrennt behandelt, ineinander umschlagen. Und dann müssen die „Gründe" helfen.
Positiv und negativ. Kann auch umgekehrt benannt werden: in Elektrizität etc.; Nord und Süd dito. Man kehre dies um, ändre die übrige Terminologie entsprechend, und alles bleibt richtig. Wir nennen dann West Ost und Ost - West. Die Sonne geht im Westen auf, die Planeten revolvieren von Ost nach West usw., die Namen allein sind geändert. Ja, in der Physik nennen wir den eigentlichen Südpol des Magneten, den vom Nordpol des Erdmagnetismus angezognen, den Nordpol, und es macht gar nichts aus. *
Daß Positiv und Negativ gleichgesetzt werden - einerlei, welche Seite positiv und welche negativ -, [findet statt] nicht nur in der analy
tischen Geometrie, noch mehr in der Physik (siehe Clausius, p. 87 und ff.).l30ß] *
Polarität. Magnet, durchschnitten, polarisiert die neutrale Mitte, doch so, daß die alten Pole bleiben. Dagegen ein Wurm, durchschnitten, behält am positiven Pol den aufnehmenden Mund und bildet am andern Ende einen neuen negativen Pol mit ausscheidendem After; aber der alte negative Pol (After) wird jetzt positiv, wird Mund, und ein neuer After oder negativer Pol am Wundende gebildet. Voila1 Umschlagen des Positiven ins Negative. *
Polarisation. Noch für J. Grimm stand der Satz fest, [daß] ein deutscher Dialekt entweder hochdeutsch oder niederdeutsch sein müsse. Dabei ging ihm der fränkische Dialekt total verloren.[306] Weil das Schriftfränkische der spätem karolingischen Zeit hochdeutsch war (indem die hochdeutsche Lautverschiebung den fränkischen Südosten ergriffen), ging das Fränkische, nach seiner Vorstellung, hier im Althochdeutschen, dort im Französischen unter. Dabei blieb absolut unerklärlich, woher denn das Niederländische in die altsalischen Gebiete kam. Erst seit Grimms Tod ist das Fränkische wieder aufgefunden worden: das Salische in seiner Verjüngung als Niederländisch, das Ripuarische in den mittel- und niederrheinischen Dialekten, die teilweise in verschiedene Stufen hochdeutsch verschoben sind, teilweise niederdeutsch geblieben, so daß das Fränkische ein Dialekt ist, der sowohl hochdeutsch wie niederdeutsch ist.
*
Zufälligkeit und Notwendigkeit
Ein andrer Gegensatz, in dem die Metaphysik befangen ist, ist der von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Was kann sich schärfer widersprechen als diese beiden Denkbestimmungen? Wie ist es möglich, daß beide identisch seien, daß das Zufällige notwendig und das Notwendige ebenfalls zufällig sei? Der gemeine Menschenverstand und mit ihm die große Menge der Naturforscher behandelt Notwendigkeit und Zufälligkeit als Bestimmungen, die einander ein für allemal ausschließen. Ein Ding, ein Verhältnis, ein Vorgang ist entweder zufällig oder notwendig, aber nicht beides. Beide bestehn
also nebeneinander in der Natur; diese enthält allerlei Gegenstände und Vorgänge, von denen die einen zufällig, die andern notwendig sind und wobei es nur darauf ankommt, die beiden Sorten nicht miteinander zu verwechseln. Man nimmt so z. B. die entscheidenden Artmerkmale als notwendig an und bezeichnet sonstige Verschiedenheiten der Individuen derselben Art als zufällig, und dies gilt von Kristallen wie von Pflanzen und Tieren. Dabei wird dann wieder die niedere Gruppe zufällig gegen die höhere, so daß man es für zufällig erklärt, wieviel verschiedne Spezies des Genus felis1 oder equus2 oder wieviel Genera und Ordnungen in einer Klasse, und wieviel Individuen von jeder dieser Spezies existieren, oder wieviel verschiedne Arten von Tieren in einem bestimmten Gebiet vorkommen, oder wie überhaupt Fauna, Flora. Und dann erklärt man das Notwendige für das einzig wissenschaftlich Interessierende und das Zufällige für das der Wissenschaft Gleichgültige. Das heißt: Was man unter Gesetze bringen kann, was man also kennt, ist interessant, das, was man nicht unter Gesetze bringen kann, was man also nicht kennt, ist gleichgültig, kann vernachlässigt werden. Damit hört alle Wissenschaft auf, denn sie soll grade das erforschen, was wir nicht kennen. Das heißt: Was man unter allgemeine Gesetze bringen kann, gilt für notwendig, und was nicht, für zufällig. Jedermann sieht, daß dies dieselbe Art Wissenschaft ist, die das, was sie erklären kann, für natürlich ausgibt, und das ihr Unerklärliche auf übernatürliche Ursachen schiebt; ob ich die Ursache des Unerklärlichen Zufall nenne oder Gott, bleibt für die Sache selbst vollständig gleichgültig. Beide sind nur ein Ausdruck für: Ich weiß es nicht, und gehören daher nicht in die Wissenschaft. Diese hört auf, wo der notwendige Zusammenhang versagt. Demgegenüber tritt der Determinismus, der aus dem französischen Materialismus in die Naturwissenschaft übergegangen und der mit der Zufälligkeit fertig zu werden sucht, indem er sie überhaupt ableugnet. Nach dieser Auffassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Daß diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs, daß der Schwanz dieses Hundes fünf Zoll lang ist und nicht eine Linie länger oder kürzer, daß diese Kleeblüte dies Jahr durch eine Biene befruchtet wurde und jene nicht, und zwar durch diese bestimmte Biene und zu dieser bestimmten Zeit, daß dieser bestimmte verwehte Löwenzahnsamen aufgegangen ist und jener nicht, daß mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um drei oder fünf, und zwar auf die
rechte Schulter, nicht aber auf die linke Wade, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit hervorgebracht sind, so zwar, daß bereits der Gasball, aus dem das Sonnensystem hervorging, derart angelegt war, daß diese Ereignisse sich so und nicht anders zutragen mußten. Mit dieser Art Notwendigkeit kommen wir auch nicht aus der theologischen Naturauffassung heraus. Ob wir das den ewigen Ratschluß Gottes mit Augustin und Calvin, oder mit den Türken das Kismet, oder aber die Notwendigkeit nennen, bleibt sich ziemlich gleich für die Wissenschaft. Von einer Verfolgung der Ursachenkette ist in keinem dieser Fälle die Rede, wir sind also so klug im einen Falle wie im andern, die sog. Notwendigkeit bleibt eine leere Redensart, und damit - bleibt auch der Zufall, was er war. Solange wir nicht nachweisen können, worauf die Zahl der Erbsen in der Schote beruht, bleibt sie eben zufällig, und mit der Behauptung, daß der Fall bereits in der ursprünglichen Konstitution des Sonnensystems vorgesehn sei, sind wir keinen Schritt weiter. Noch mehr. Die Wissenschaft, welche sich daransetzen sollte, den casus dieser einzelnen Erbsenschote in seiner Kausalverkettung rückwärts zu verfolgen, wäre keine Wissenschaft mehr, sondern pure Spielerei; denn dieselbe Erbsenschote allein hat noch unzählige andre, individuelle, als zufällig erscheinende Eigenschaften, Nuance der Farbe, Dicke und Härte der Schale, Größe der Erbsen, von den durch das Mikroskop zu enthüllenden individuellen Besonderheiten gar nicht zu reden. Die Eine Erbsenschote gäbe also schon mehr Kausalzusammenhänge zu verfolgen, als alle Botaniker der ^X^elt lösen könnten. Die Zufälligkeit ist also hier nicht aus der Notwendigkeit erklärt, die Notwendigkeit ist vielmehr heruntergebracht auf die Erzeugung von bloß Zufälligem. Wenn das Faktum, daß eine bestimmte Erbsenschote sechs Erbsen enthält und nicht fünf oder sieben, auf derselben Ordnung steht, wie das Bewegungsgesetz des Sonnensystems oder das Gesetz der Verwandlung der Energie, dann ist in der Tat nicht die Zufälligkeit in die Notwendigkeit erhoben, sondern die Notwendigkeit degradiert zur Zufälligkeit. Noch mehr. Die Mannigfaltigkeit der auf einem bestimmten Terrain nebeneinander bestehenden organischen und anorganischen Arten und Individuen mag noch so sehr als auf unverbrüchlicher Notwendigkeit begründet behauptet werden, für die einzelnen Arten und Individuen bleibt sie, was sie war, zufällig. Es ist für das einzelne Tier zufällig, wo es geboren ist, welches Medium es zum Leben vorfindet, welche und wie viele Feinde es bedrohen. Es ist für die Mutterpflanze zufällig, wohin der Wind ihren Samen verweht, für die Tochter pflanze, wo das Samenkorn Keimboden findet, dem
sie entstammt, und die Versicherung, daß auch hier alles auf unverbrüchlicher Notwendigkeit beruhe, ist ein pauvrer1 Trost. Die Zusammenwürfelung der Naturgegenstände auf einem bestimmten Gebiet, noch mehr, auf der ganzen Erde, bleibt bei aller Urdetermination von Ewigkeit her doch, was sie war - zufällig. Gegenüber beiden Auffassungen tritt Hegel mit den bisher ganz unerhörten Sätzen, daß das Zufällige einen Grund hat, weil es zufällig ist, und ebensosehr auch keinen Grund hat, weil es zufällig ist; daß das Zufällige notwendig ist, daß die Notwendigkeit sich selbst als Zufälligkeit bestimmt, und daß andrerseits diese Zufälligkeit vielmehr die absolute Notwendigkeit ist („Logik", II, Buch III, 2: „Die Wirklichkeit"). Die Naturwissenschaft hat diese Sätze einfach als paradoxe Spielereien, als sich selbst widersprechenden Unsinn links liegenlassen und ist theoretisch verharrt einerseits in der Gedankenlosigkeit der Wolffschen Metaphysik, nach der etwas entweder zufällig ist oder notwendig, aber nicht beides zugleich; oder andrerseits im kaum weniger gedankenlosen mechanischen Determinismus, der den Zufall im allgemeinen in der Phrase wegleugnet, um ihn in der Praxis in jedem besondern Fall anzuerkennen. Während die Naturforschung fortfuhr, so zu denken, was tat sie in der Person Darwins? Darwin, in seinem epochemachenden Werk, geht aus von der breitesten vorgefundnen Grundlage der Zufälligkeit. Es sind grade die unendlichen zufälligen Verschiedenheiten der Individuen innerhalb der einzelnen Arten, Verschiedenheiten, die sich bis zur Durchbrechung des Artcharakters steigern und deren selbst nächste Ursachen nur in den wenigsten Fällen nachweisbar sind, die ihn zwingen, die bisherige Grundlage aller Gesetzmäßigkeit in der Biologie, den Artbegriff in seiner bisherigen metaphysischen Starrheit und UnVeränderlichkeit, in Frage zu stellen. Aber ohne den Artbegriff war die ganze Wissenschaft nichts. Alle ihre Zweige hatten den Artbegriff als Grundlage nötig: Die Anatomie des Menschen und die vergleichende - die Embryologie, die Zoologie, Paläontologie, Botanik etc., was waren sie ohne den Artbegriff ? Alle ihre Resultate waren nicht nur in Frage gestellt, sondern direkt aufgehoben. Die Zufälligkeit wirft die Notwendigkeit, wie sie bisher aufgefaßt, über den Haufen.2 Die bisherige Vorstellung von der Notwendigkeit versagt. Sie beizubehalten heißt, die sich
1 ärmlicher - 2 am Rande des Manuskripts steht etwas über dieser Stelle folgender Satz in Klammern: „Das inzwischen angehäufte Material von Zufälligkeiten hat die alte Vorstellung der Notwendigkeit erdrückt und durchbrochen."
selbst und der Wirklichkeit widersprechende Willkürbestimmung des Menschen der Natur als Gesetz aufzudiktieren, heißt damit alle innere Notwendigkeit in der lebenden Natur leugnen, heißt das chaotische Reich des Zufalls allgemein als einziges Gesetz der lebenden Natur proklamieren. „Gilt nichts mehr der Tausves-Jontof!"t307) - schrien die Biologen aller Schulen ganz konsequent. Darwin1.
Hegel, „Logik", Band Il308]
„Das dem Etwas entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas ist ein bestimmtes Nichtsa" (S. 74) .3 „In Rücksicht des wechselbestimmenden Zusammenhangs des" (Welt-) „Ganzen konnte die Metaphysik die - im Grunde tautologische2 ~ Behauptung machen, daß, wenn ein Stäubchen zerstört würde, das ganze Universum zusammenstürze" (S.78).
Negation Hauptstelle. „Einleitung", S. 38: „daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts, auflöst, sondern in die Negation seines bestimmten Inhalts2" etc.
Negation der Negation. „Phänomenologie", Vorrede, S. 4: Knospe, Blüte, Frucht etc.[309]
[b) Dialektische Logik und Erkenntnistheorie. Von den „Grenzen der Erkenntnis"]
*
Einheit von Natur und Geist. Den Griechen von selbst einleuchtend, daß die Natur nicht unvernünftig sein konnte, aber selbst heute noch die dümmsten Empiriker beweisen durch ihr Räsonnement (so falsch es auch sein mag), daß sie von vornherein überzeugt sind, die Natur könne nicht unvernünftig und die Vernunft nicht widernatürlich sein.
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1 Vgl. vorl. Band, S. 563 - 2 Hervorhebung von Engels - 3 Engels verwandte dieses Zitat in der Notiz über die Null (siehe vorl. Band, S. 524-526)
Die Entwicklung eines Begriffs oder Begriffsverhältnisses (Positiv und Negativ, Ursache und Wirkung, Substanz und Akzidenz) in der Geschichte des Denkens verhält sich zu seiner Entwicklung im Kopf des einzelnen Dialektikers wie die Entwicklung eines Organismus in der Paläontologie zu seiner Entwicklung in der Embryologie (oder vielmehr in der Geschichte und im einzelnen Keim). Daß dies so ist, zuerst von Hegel für die Begriffe entdeckt. In der geschichtlichen Entwicklung spielt die Zufälligkeit ihre Rolle, die im dialektischen Denken wie in der Entwicklung des Embryos sich in Notwendigkeit zusammenfaßt. *
Abstrakt und konkret. Das allgemeine Gesetz des Formwechsels der Bewegung ist viel konkreter als jedes einzelne „konkrete" Beispiel davon.
*
Verstand und Vernunft. Diese Hegeische Unterscheidung, in der nur das dialektische Denken vernünftig, hat einen gewissen Sinn. Alle Verstandstätigkeit: Induzieren, Deduzieren, also auch Abstrahieren (Didos[310] Gattungsbegriffe: Vierfüßler und Zweifüßler), Analysieren unbekannter Gegenstände (schon das Zerbrechen einer Nuß ist Anfang der Analyse), Synthesieren (bei tierischen Schlauheitsstückchen) und, als Vereinigung beider, Experimentieren (bei neuen Hindernissen und in fremden Lagen) haben wir mit dem Tier gemein. Der Art nach sind diese sämtlichen Verfahrungsweisen - also alle Mittel der wissenschaftlichen Forschung, die die ordinäre Logik anerkennt - vollkommen gleich beim Menschen und den höheren Tieren. Nur dem Grade (der Entwicklung der jedesmaligen Methode) nach sind sie verschieden. Die Grundzüge der Methode sind gleich und führen zu gleichen Resultaten bei Mensch und Tier, solange beide bloß mit diesen elementaren Methoden arbeiten oder auskommen. - Dagegen das dialektische Denken - eben weil es die Untersuchung der Natur der Begriffe selbst zur Voraussetzung hat - ist nur dem Menschen möglich, und auch diesem erst auf einer verhältnismäßig hohen Entwicklungsstufe (Buddhisten und Griechen) und erreicht seine volle Entwicklung noch viel später durch die moderne Philosophie - und trotzdem schon die kolossalen Resultate bei den Griechen, die die Untersuchung weit antizipieren! Die Chemie, in der die Analyse die vorherrschende Untersuchungsform ist, ist nichts ohne ihren Gegenpol, die Synthese.
[ Über die Klassifikation des Urteils]
Die dialektische Logik, im Gegensatz zur alten, bloß formellen, begnügt sich nicht wie diese, die Formen der Bewegung des Denkens, d. h. die verschiednen Urteils- und Schlußformen, aufzuzählen und zusammenhangslos nebeneinander zu stellen. Sie leitet im Gegenteil diese Formen die eine aus der andern ab, sie subordiniert sie einander statt sie zu koordinieren, sie entwickelt die höheren Formen aus den niederen. Getreu seiner Einteilung der ganzen Logik gruppiert Hegel die Urteile als1311 ] 1. Urteil des Daseins, die einfachste Form des Urteils, worin von einem einzelnen Ding eine allgemeine Eigenschaft bejahend oder verneinend ausgesagt wird (positives Urteil: Die Rose ist rot; negatives: Die Rose ist nicht blau; unendliches: Die Rose ist kein Kamel); 2. Urteil der Reflexion, worin vom Subjekt eine Verhältnisbestimmung, eine Relation ausgesagt wird (singuläres Urteil: Dieser Mensch ist sterblich; partikuläres: Einige, viele Menschen sind sterblich; universelles: Alle Menschen sind, oder der Mensch ist sterblich)13123; 3. Urteil der Notwendigkeit, worin vom Subjekt seine substantielle Bestimmtheit ausgesagt wird (kategorisches Urteil: Die Rose ist eine Pflanze; hypothetisches Urteil: Wenn die Sonne aufgeht, so ist es Tag; disjunktives: Der Lepidosiren1 ist entweder ein Fisch oder ein Amphibium); 4. Urteil des Begriffs, worin vom Subjekt aus gesagt wird, inwieweit es seiner allgemeinen Natur oder, wie Hegel sagt, seinem Begriff entspricht (assertorisches Urteil: Dies Haus ist schlecht; problematisches: Wenn ein Haus so und so beschatten ist, so ist es gut; apodiktisches: Das Haus, so und so beschaffen, ist gut). 1. Einzelnes Urteil, 2. und 3. besondres, 4. allgemeines. So trocken sich dies hier auch liest, und so willkürlich auch auf den ersten Blick diese Klassifikation der Urteile hie und da erscheinen mag, so wird doch die innere Wahrheit und Notwendigkeit dieser Gruppierung jedem einleuchtend werden, der die geniale Entwicklung in Hegels „Großer Logik" (Werke, V, S. 63-115)13131 durchstudiert. Wie sehr aber diese Gruppierung in den Denkgesetzen nicht nur, sondern auch in den Naturgesetzen begründet ist, dafür wollen wir hier ein außer diesem Zusammenhang sehr bekanntes Beispiel anführen. Daß Reibung Wärme erzeugt, wußten schon die vorgeschichtlichen Menschen praktisch, als sie das Reibfeuer, vielleicht schon vor 100 000Jahren, erfanden und noch früher kalte Körperteile durch Reibung erwärmten.
Aber von da bis zur Entdeckung, daß Reibung überhaupt eine Wärmequelle ist, sind wer weiß wieviel Jahrtausende vergangen. Genug, die Zeit kam, wo das menschliche Gehirn sich hinreichend entwickelt hatte, um das Urteil fällen zu können: Die Reibung ist eineQuelle von Wärme, ein Urteil des Daseins, und zwar ein positives. Wieder vergingen Jahrtausende, bis 1842 Mayer, Joule und Colding diesen Spezialvorgang nach seinen Beziehungen zu inzwischen entdeckten andern Vorgängen ähnlicher Art, d. h. nach seinen nächsten allgemeinen Bedingungen untersuchten und das Urteil dahin formulierten: Alle mechanische Bewegung ist fähig, sich vermittelst der Reibung in Wärme umzusetzen. So viel Zeit und eine enorme Menge empirischer Kenntnisse waren erforderlich, bis wir in der Erkenntnis des Gegenstands von obigem positiven Urteil des Daseins zu diesem universellen Urteil der Reflexion fortrücken konnten. Jetzt aber ging's rasch. Schon drei Jahre später konnte Mayer, wenigstens der Sache nach, das Urteil der Reflexion auf die Stufe erheben, auf der es jetzt Geltung hat: Jede Form der Bewegung ist ebenso befähigt wie genötigt, unter den für jeden Fall bestimmten Bedingungen, direkt oder indirekt, in jede andre Form der Bewegung umzuschlagen - Urteil des Begriffs, und zwar apodiktisches, höchste Form des Urteils überhaupt. Was also bei Hegel als eine Entwicklung der Denkform des Urteils als solchen erscheint, tritt uns hier entgegen als Entwicklung unsrer auf empirischer Grundlage beruhenden theoretischen Kenntnisse von der Natur der Bewegung überhaupt. Das zeigt denn doch, daß Denkgesetze und Naturgesetze notwendig miteinander stimmen, sobald sie nur richtig erkannt sind. Wir können das erste Urteil fassen als das der Einzelheit: Das vereinzelte Faktum, daß Reibung Wärme erzeugt, wird registriert. Das zweite Urteil als das der Besonderheit: Eine besondre Form der Bewegung, die mechanische, hat die Eigenschaft gezeigt, unter besondern Umständen (durch Reibung) in eine andre besondre Bewegungsform, die Wärme, überzugehn.Das dritte Urteil ist das der Allgemeinheit: Jede Form der Bewegung hat sich erwiesen als befähigt und genötigten jede andre Form der Bewegung umzuschlagen. Mit dieser Form hat das Gesetz seinen letzten Ausdruck erlangt. Wir können durch neue Entdeckungen ihm neue Belege, neuen, reicheren Inhalt geben. Aber dem Gesetz selbst, wie es da ausgesprochen, können wir nichts mehr hinzufügen. In seiner Allgemeinheit, in der Form und Inhalt beide gleich allgemein, ist es keiner Erweiterung fähig: Es ist absolutes Naturgesetz.
Leider hapert's bei der Bewegungsform des Eiweißes» alias Leben, solange wir kein Eiweiß machen können.
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Oben aber auch nachgewiesen, daß zum Urteilen nicht nur Kantsche „Urteilskraft" gehört, sondern eine [. .J1
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Einzelnheit, Besonderheit, Allgemeinheit, das sind die drei Bestimmungen, in denen sich die ganze „Lehre vom Begriff"t314] bewegt. Darunter wird dann nicht in einer, sondern vielen Modalitäten vom Einzelnen zum Besondern und von diesem zum Allgemeinen fortgeschritten, und dies oft genug von Hegel als Fortschritt: Individuum, Art, Gattung, exemplifiziert. Und nun kommen die Induktions-Haeckel und posaunen es als eine große Tat aus - gegen Hegel -, daß vom Einzelnen zum Besondern und dann zum Allgemeinen fortgeschritten werden solle! vom Individuum zur Art und dann zur Gattung - und erlauben dann Deduktionsschlüsse, die weiterführen sollen. Die Leute haben sich so in den Gegensatz von Induktion und Deduktion festgeritten, daß sie alle logischen Schlußformen auf diese 2 reduzieren und dabei gar nicht merken, daß sie 1 . unter jenen Namen ganz andre Schlußformen unbewußt anwenden, 2. den ganzen Reichtum der Schlußformen entbehren, soweit er sich nicht unter jene 2 zwängen läßt, und 3. damit die beiden Formen: Induktion und Deduktion, selbst m reinen Blödsinn verwandeln. *
Induktion und Deduktion. Haeckel, p. 75ff., wo Goethe den Induktionsschluß macht, daß der den Zwischenkiefer normal nicht habende Mensch ihn haben muß, also durch falsche Induktion auf etwas Richtiges kommt![315]
Unsinn von Haeckel: Induktion gegen Deduktion. Als ob nicht Deduk
1 Die kurze, nicht vollendete Notiz steht am Ende der 4.Seite jenes Bogens, derauf der 2., 3. und am Anfang der 4. Seite das oben wiedergegebene größere Fragment über die Klassifikation des Urteils enthält. In dem nicht geschriebenen Ende dieser Notiz wollte Engels wahrscheinlich dem Kantschen Apriorismus die These von der empirischen Grundlage aller unserer Kenntnisse gegenüberstellen (vgl. vorl. Band, S. 493)
tiön = Schließen, also auch die Induktion eine Deduktion. Das kommt vom Polarisieren. Haeckel, „Schöpfungsgeschichte", S. 76/77. Der Schluß polarisiert in Induktion und Deduktion!
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Durch Induktion gefunden vor 100 Jahren, daß Krebse und Spinnen Insekten und alle niedern Tiere Würmer waren. Durch Induktion jetzt gefunden, daß dies Unsinn, und x Klassen bestehn. Worin also der Vorzug des sog. Induktionsschlusses, der ebenso falsch sein kann als der sog, Deduktionsschluß, dessen Grund doch die Klassifikation? Induktion kann nie beweisen, daß es nicht einmal ein Säugetier geben wird ohne Milchdrüsen. Früher die Zitzen Zeichen des Säugetiers. Aber das Schnabeltier hat keine. Der ganze Induktionsschwindel [geht aus] von den Engländern, Whewell, inductive sciences1, die bloß mathematischen [Wissenschaften] umfassend13163, und so der Gegensatz gegen Deduktion erfunden. Davon weiß die Logik, alte und neue, nichts. Experimentell und auf Erfahrung beruhend sind alle Schlußformen, die vom Einzelnen anfangen, ja der induktive Schluß fängt sogar vom A—E—B13173 (allgemein) an. Auch bezeichnend für die Denkkraft unsrer Naturforscher, daß Haeckel fanatisch für die Induktion auftritt grade im Moment, wo die Resultate der Induktion - die Klassifikationen - überall in Frage gestellt (Limulus eine Spinne, Aszidia ein Wirbeltier oder Chordatum, die Dipnoi2 entgegen aller ursprünglichen Definition der Amphibien dennoch Fische13183) und täglich neue Tatsachen entdeckt, die die ganze bisherige Induktionsklassifikation umwerfen. Wie schöne Bestätigung von Hegels Satz, daß der Induktionsschluß wesentlich ein problematischer! Ja, sogar die ganze Klassifikation der Organismen ist durch die Entwicklungstheorie der Induktion abgenommen und auf die „Deduktion", die Abstammung zurückgeführt - eine Art wörtlich von einer andern durch Abstammung deduziert - und die Entwicklungstheorie durch bloße Induktion nachzuweisen unmöglich, da sie ganz antiinduktiv. Die Begriffe, womit die Induktion hantiert: Art, Gattung, Klasse, durch die Entwicklungstheorie flüssig gemacht und damit relativ geworden: mit relativen Begriffen aber nicht zu induzieren.
1 induktive Wissenschaften - 2 Doppelatmer
Den Allinduktionisten1-. Mit aller Induktion in der Welt wären wir nie dahin gekommen, uns über den Induktionspro-zeß klarzuwerden. Das konnte nur die Analyse dieses Prozesses fertigbringen. - Induktion und Deduktion gehören so notwendig zusammen wie Synthese und Analyse2. Statt die eine auf Kosten der andern einseitig in den Himmel zu erheben, soll man suchen, sie jede an ihrem Platz anzuwenden, und das kann man nur dann, wenn man ihre Zusammengehörigkeit, ihr wechselseitiges Sichergänzen im Auge behält. - Nach den Induktionisten wäre die Induktion eine unfehlbare Methode. Sie ist es so wenig, daß ihre scheinbar sichersten Resultate jeden Tag durch neue Entdeckungen umgeworfen [werden]. Die Lichtkörper chen, der Wärmestoff waren Resultate der Induktion. Wo sind sie? Die Induktion lehrte uns, daß alle Wirbeltiere ein in Hirn und Rückenmark differenziertes Zentralnervensystem haben, und daß das Rückenmark in knorplige oder knochige Wirbel - woher sogar der Name genommen eingeschlossen. Da entpuppte sich der Amphioxus als ein Wirbeltier mit undifferenziertem Zentralnervenstrang und ohne Wirbel. Die Induktion stellte fest, daß Fische diejenigen Wirbeltiere sind, welche lebenslang ausschließlich durch Kiemen atmen. Da tauchen Tiere auf, deren Fischcharakter fast allgemein anerkannt, die aber neben den Kiemen gut entwickelte Lungen haben, und es stellt sich heraus, daß jeder Fisch in der Luftblase eine potentielle Lunge führt. Erst durch kühne Anwendung der Entwicklungslehre half Haeckel den in diesen Widersprüchen sich ganz behaglich fühlenden Induktionisten heraus. - Wäre die Induktion wirklich so unfehlbar, woher dann die sich überstürzenden Klassihkationsumwälzungen in der organischen Welt? Sie sind doch das eigenste Produkt der Induktion und schlagen doch einander tot. *
Induktion und Analyse. Ein schlagendes Exempel, wie wenig die Induktion den Anspruch hat, einzige oder doch vorherrschende Form der wissenschaftlichen Entdeckung zu sein, bei der Thermodynamik: Die Dampfmaschine gab den schlagendsten Beweis, daß man Wärme einsetzen und mechanische Bewegungen erzielen kann. 100 000 Dampfmaschinen bewiesen das nicht mehr als Eine, drängten nur mehr und mehr die Physiker zur Notwendigkeit, dies zu erklären. Sadi Carnot war der erste, der sich ernstlich dranmachte. Aber nicht per Induktion. Er studierte die Dampfmaschine,
1D. h. jenen, die die Induktion für die einzig richtige Methode halten - 2 am Rande des Manuskripts findet sich der Vermerk: „Die Chemie, in der Analyse die vorherrschende Untersuchungsform ist, ist nichts ohne ihren Gegenpol, die Synthese."
analysierte sie, fand, daß bei ihr der Prozeß, auf den es ankam, nicht rein erscheint, von allerhand Nebenprozessen verdeckt wird, beseitigte diese für den wesentlichen Prozeß gleichgültigen Nebenumstände und konstruierte eine ideale Dampfmaschine (oder Gasmaschine), die zwar ebensowenig herstellbar ist wie z. B. eine geometrische Linie oder Fläche, aber in ihrer Weise denselben Dienst tut wie diese mathematischen Abstraktionen: Sie stellt den Prozeß rein, unabhängig, unverfälscht dar. Und er stieß mit der Nase auf das mechanische Äquivalent der Wärme (siehe die Bedeutung seiner Funktion C1), das er nur nicht entdecken und sehn konnte, weil er an den Wärmestoff glaubte. Hier auch der Beweis vom Schaden falscher Theorien.
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Die Empirie der Beobachtung allein kann nie die Notwendigkeit genügend beweisen. Post hoc2, aber nicht propter hoc3 („Enzyklopädie]", I, S. 84)[3191. Dies ist so sehr richtig, daß aus dem steten Aufgehn der Sonne des Morgens nicht folgt, sie werde morgen wieder aufgehn, und in der Tat wissen wir jetzt, daß ein Moment kommen wird, wo die Sonne eines Morgens nicht aufgeht. Aber der Beweis der Notwendigkeit liegt in der menschlichen Tätigkeit, im Experiment, in der Arbeit: Wenn ich das post hoc machen kann, wird es identisch mit dem propter hoc.4
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Kausalität. Das erste, was uns bei der Betrachtung der sich bewegenden Materie auffällt, ist der Zusammenhang der Einzelbewegungen einzelner Körper unter sich, ihr Bedingtsein durch einander. Wir finden aber nicht nur, daß auf eine gewisse Bewegung eine andre folgt, sondern wir finden auch, daß wir eine bestimmte Bewegung hervorbringen können, indem wir die Bedingungen herstellen, unter denen sie in der Natur vorgeht, ja daß wir Bewegungen hervorbringen können, die in der Natur gar nicht vorkommen (Industrie), wenigstens nicht in dieser Weise, und daß wir diesen Bewegungen eine vorher bestimmte Riehtung und Ausdehnung geben können. Hierdurch, durch die Tätigkeit des Menschen, begründet sich die Vorstellung von Kausalität, die Vorstellung, daß eine Bewegung die
1 Siehe vorl. Band, S. 335 - 2 nach diesem - 3 wegen diesem. Die Formel „post hoc, ergo propter hoc" (nach diesem, folglich wegen diesem) bedeutet einen unberechtigten Schluß auf den ursächlichen Zusammenhang zweier Erscheinungen, der sich nur darauf gründet, daß die eine Erscheinung nach der anderen auftritt - 4 d.h. wenn ich eine bestimmte Folge der Erscheinungen hervorrufen kann, dann ist das gleichbedeutend mit dem Beweis ihres notwendigen ursächlichen Zusammenhangs
Ursache einer andern ist. Die regelmäßige Aufeinanderfolge gewisser Naturphänomene allein kann zwar die Vorstellung der Kausalität erzeugen: die Wärme und das Licht, die mit der Sonne kommen; aber hierin liegt kein Beweis, und sofern hätte der Humesche Skeptizismus recht, zu sagen, daß das regelmäßige post hoc nie ein propter hoc begründen könne. Aber die Tätigkeit des Menschen macht die Probe auf die Kausalität. Wenn wir mit feinem] Brennspiegel die Sonnenstrahlen ebenso in einen Fokus konzentrieren und wirksam machen wie die des gewöhnlichen Feuers, so beweisen wir dadurch, daß die Wärme von der Sonne kommt. Wenn wir in eine Flinte Zündung, Sprengladung und Geschoß einbringen und dann abfeuern, so rechnen wir auf den erfahrungsmäßig im voraus bekannten Effekt1, weil wir den ganzen Prozeß der Entzündung, Verbrennung, Explosion durch die plötzliche Verwandlung in Gas, Druck des Gases auf das Geschoß in allen seinen Einzelheiten verfolgen können. Und hier kann2 der Skeptiker nicht einmal sagen, daß aus der bisherigen Erfahrung nicht folge, es werde das nächste Mal ebenso sein. Denn es kommt in der Tat vor, daß es zuweilen nicht ebenso ist, daß die Zündung oder das Pulver versagt, daß der Flintenlauf springt etc. Aber grade dies beweist die Kausalität, statt sie umzustoßen, weil wir für jede solche Abweichung von der Regel bei gehörigem Nachforschen die Ursache auffinden können: chemische Zersetzung der Zündung, Nässe etc. des Pulvers, Schadhaftigkeit des Laufs etc., so daß hier die Probe auf die Kausalität sozusagen doppelt gemacht ist. Naturwissenschaft wie Philosophie haben den Einfluß der Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken andrerseits. Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffassung der Geschichte, wie z. B. mehr oder weniger bei Draper und andern Naturforschern, als ob die Natur ausschließlich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine geschichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergißt, daß der Mensch auch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen schafft. Von der „Natur" Deutschlands zur Zeit, als die Germanen einwanderten, ist verdammt wenig übrig. Erdoberfläche, Klima, Vegetation, Fauna, die Menschen selbst haben sich
1 Im Manuskript: „...dann abfeuern, und auf den erfahrungsmäßig im voraus bekannten Effekt rechnen..." - 2 Im Manuskript statt „Und hier kann": so kann hier"
unendlich verändert und alles durch menschliche Tätigkeit, während die Veränderungen, die ohne menschliches Zutun in dieser Zeit in der Natur Deutschlands, unberechenbar klein sind. •
Wechselwirkung ist das erste, was uns entgegentritt, wenn wir die sich bewegende Materie im ganzen und großen, vom Standpunkt der heutigen Naturwissenschaft betrachten. Wir sehn eine Reihe von Bewegungsformen, mechanische Bewegung, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, chemische Zusammensetzung und Zersetzung, Übergänge der Aggregatzustände, organisches Leben, die alle, wenn wir jetzt noch das organische Leben ausnehmen, ineinander übergehn, einander gegenseitig bedingen, hier Ursache, dort Wirkung sind, und wobei die Gesamtsumme der Bewegung in allen wechselnden Formen dieselbe bleibt (Spinoza: Die Substanz ist causa sui1 - drückt die Wechselwirkung schlagend aus[320J). Mechanische Bewegung schlägt um in Wärme, Elektrizität, Magnetismus, Licht etc. etc., und vice versa. So wird von der Naturwissenschaft bestätigt, was Hegel sagt (wo?), daß die Wechselwirkung die wahre causa finalis2 der Dinge ist. Weiter zurück als zur Erkenntnis dieser Wechselwirkung können wir nicht, weil eben dahinter nichts zu Erkennendes liegt. Haben wir die Bewegungsformen der Materie erkannt (woran allerdings noch immer sehr viel fehlt, vu3 die kurze Zeit, seit welcher Naturwissenschaft existiert), so haben wir die Materie selbst erkannt, und damit ist die Erkenntnis fertig. (Groves ganzes Mißverständnis über Kausalität beruht darauf, daß er die Kategorfe der Wechselwirkung nicht fertigbringt; er hat die Sache, aber nicht den abstrakten Gedanken, und daher die Konfusion, p. 10-14[1751.) Erst von dieser universellen Wechselwirkung kommen wir zum wirklichen KausalitätsVerhältnis. Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehn, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da erscheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andre als Wirkung. *
Wer Kausalität leugnet, dem ist jedes Naturgesetz eine Hypothese und unter anderm die chemische Analyse der Weltkörper durch das prismatische Spektrum ebenfalls. Welche Seichtigkeit des Denkens, dabei stehnzubleiben! *
1 Ursache ihrer selbst - 2 letzte Ursache - 3 gesehen
Über Nägelis Unfähigkeit, das Unendliche zu ernennen13213
Nägeli, p.l2/13[322]
Nägeli sagt zuerst, daß wir wirklich qualitative Unterschiede nicht erkennen können, und sagt gleich darauf, daß solche „absolute Unterschiede" in der Natur nicht vorkommen! ([SJ 12.) Erstens hat jede Qualität unendlich viele quantitative Gradationen, z. B. Farbennuancen, Härte und Weiche, Langlebigkeit etc., und diese sind, obwohl qualitativ unterschieden, meßbar und erkennbar. Zweitens existieren keine Qualitäten, sondern nur Dinge mit Qualitäten, und zwar unendlich vielen Qualitäten. Bei 2 verschiednen Dingen sind stets gewisse Qualitäten (die Eigenschaften der Körperlichkeit zum mindesten) gemeinsam, andre graduell verschieden, noch andre können dem Einen ganz fehlen. Halten wir diese beiden extrem verschiednen Dinge z.B. einen Meteoriten und einen Menschen - separat zusammen, so kommt dabei wenig heraus, höchstens, daß beiden Schwere und andre allgemeine Körpereigenschaften gemeinsam. Aber zwischen beiden fügen sich eine unendliche Reihe andrer Naturdinge und Natur Vorgänge ein, die uns erlauben, die Reihe vom Meteoriten bis zum Menschen zu vervollständigen und jedem seine Stelle im Naturzusammenhang anzuweisen, sie damit zu erkennen. Dies gibt Nägeli selbst zu. Drittens könnten uns unsre verschiednen Sinne absolut qualitativ verschiedne Eindrücke geben. Die Eigenschaften, die wir vermittelst Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn erfahren, wären hiernach absolut verschieden. Aber auch hier fallen die Unterschiede mit dem Fortschritt der Untersuchung. Geruch und Geschmack sind längst als verwandte, zusammengehörige Sinne erkannt, die zusammengehörige, wo nicht identische Eigenschaften wahrnehmen. Gesicht und Gehör nehmen beide Wellenschwingungen wahr. Tastsinn und Gesicht ergänzen sich wechselseitig so sehr, daß wir vom Ansehn eines Dings oft genug seine Tasteigenschaften vorhersagen können. Und endlich ist es immer dasselbe Ich, das alle diese verschiednen Sinneseindrücke in sich aufnimmt und verarbeitet, also in eins zusammenfaßt, und ebenso sind diese verschiednen Eindrücke geliefert durch dasselbe Ding, als dessen gemeinsame Eigenschaften sie erscheinen, das sie also erkennen helfen. Diese verschiednen, nur verschiednen Sinnen zugänglichen Eigenschaften zu erklären, in innern Zusammenhang unter sich zu bringen, ist eben Aufgabe der Wissenschaft, die sich bis jetzt
nicht darüber beklagt hat, daß wir statt der 5 Spezialsinne nicht einen Generalsinn haben oder daß wir die Geschmäcke und Gerüche nicht sehn oder hören können. Wohin wir sehn, nirgendwo in der Natur gibt's solche „qualitativ oder absolut verschiedne Gebiete", die als unbegreiflich angegeben werden. Die ganze Konfusion entspringt aus der Konfusion über Qualität und Quantität. Nach der herrschenden mechanischen Ansicht gelten Nägeli alle qualitativen Unterschiede nur soweit für erklärt, als sie auf quantitative reduziert werden können (worüber anderswo das Nötige), resp. daraus, daß ihm Qualität und Quantität als absolut verschiedene Kategorien gelten. Metaphysik.
„Wir können nur das Endliche1 erkennen etc." [p. 13.]
Dies ist soweit ganz richtig, als nur endliche Gegenstände in den Bereich unsres Erkennens fallen. Aber der Satz hat auch die Ergänzung nötig: „Wir können im Grunde nur das Unendliche erkennen." In der Tat besteht alles wirkliche, erschöpfende Erkennen nur darin, daß wir das Einzelne im Gedanken aus der Einzelheit in die Besonderheit und aus dieser in die Allgemeinheit erheben, daß wir das Unendliche im Endlichen, das Ewige im Vergänglichen auffinden und feststellen. Die Form der Allgemeinheit ist aber Form der Insichabgeschlossenheit, damit Unendlichkeit, sie ist die Zusammenfassung der vielen Endlichen zum Unendlichen. Wir wissen, daß Chlor und Wasserstoff innerhalb gewisser Druck- und Temperaturgrenzen und unter Einwirkung des Lichts sich unter Explosion zu Chlorwasserstoffgas verbinden, und sobald wir dies "wissen, wissen wir auch, daß dies überall und immer geschieht, wo obige Bedingungen vorhanden, und es kann gleichgültig sein, ob sich dies einmal oder millionenmal wiederholt und auf wieviel Weltkörpern. Die Form der Allgemeinheit in der Natur ist Gesetz, und niemand mehr als die Naturforscher führen die Ewigkeit der Naturgesetze im Mund. Wenn also Nägeli sagt, man mache das Endliche unergründlich, wenn man nicht bloß dies Endliche erforschen wolle, sondern ihm Ewiges beimische, so leugnet er entweder die Erkennbarkeit der Naturgesetze oder ihre Ewigkeit. Alle wahre Naturerkenntnis ist Erkenntnis von Ewigem, Unendlichem und daher wesentlich absolut. Aber diese absolute Erkenntnis hat einen bedeutenden Haken. Wie die Unendlichkeit des erkennbaren Stoffs aus lauter Endlichkeiten sich zusammensetzt, so setzt sich auch die Unendlichkeit des absolut erkennenden
Denkens zusammen aus einer unendlichen Anzahl endlicher Menschenköpfe, die neben- und nacheinander an dieser unendlichen Erkenntnis arbeiten, praktische und theoretische Böcke schießen, von schiefen, einseitigen, falschen Voraussetzungen ausgehn, falsche, krumme, unsichre Bahnen verfolgen und oft nicht einmal das Richtige treffen, wenn sie mit der Nase drauf stoßen (Priestley)l323]. Das Erkennen des Unendlichen ist daher mit doppelten Schwierigkeiten umschanzt und kann sich, seiner Natur nach, nur vollziehn in einem unendlichen asymptotischen Progreß. Und das genügt uns vollständig, um sagen zu können: Das Unendliche ist ebenso erkennbar wie unerkennbar, und das ist alles, was wir brauchen. Komischerweise sagt Nägeli dasselbe: „Wir können nur das Endliche, aber wir können auch alles Endliche1 erkennen, das in den Bereich unsrer sinnlichen Wahrnehmung fällt" [p. 13]. Das Endliche, das in den Bereich usw. fällt, macht eben in Summa das Unendliche aus, denn diese ist es grade, woraus Nägeli sich seine Vorstellung Vom Unendlichen geholt l Ohne dies Endliche usw. hätte er ja gar keine Vorstellung vom Unendlichen! (Über das schlechte Unendliche als solches anderswo zu reden.)
Vor dieser Unendlichkeitsuntersuchung das Folgende:
1. Das „winzige Gebiet" nach Raum und Zeit. 2. Die „wahrscheinlich mangelnde Ausbildung von Sinnesorganen". 3. Daß wir „nur das Endliche, Vergängliche, Wechselnde, nur das gradweise Verschiedene und Relative erkennen, [weil wir nur mathematische Begriffe auf die natürlichen Dinge übertragen und die letzteren nur nach den an ihnen selber gewonnenen Maßen beurteilen können. Für alles Endlose oder Ewige, für alles Beständige, für alle absoluten Verschiedenheiten haben wir keine Vorstellungen. Wir wissen genau, was eine Stunde, ein Meter, ein Kilogramm bedeutet, aber] wir wissen nicht, was Zeit, Raum, Kraft und Stoff, Bewegung und Ruhe, Ursache und Wirkung ist." [p. 13.] Es ist die alte Geschichte. Erst macht man Abstraktionen von den sinnlichen Dingen, und dann will man sie sinnlich erkennen, die Zeit sehn und den Raum riechen. Der Empiriker vertieft sich so sehr in die Gewohnheit des empirischen Erfahrens, daß er sich noch auf dem Gebiet des sinnlichen Erfahrens glaubt, wenn er mit Abstraktionen hantiert. Wir wissen, was eine Stunde, ein Meter ist, aber nicht, was Zeit und Raum! Als ob die Zeit etwas
andres als lauter Stunden, und der Raum etwas andres als lauter Kubikmeter! Die beiden Existenzformen der Materie sind natürlich ohne die Materie nichts, leere Vorstellungen, Abstraktionen, die nur in unserm Kopf existieren. Aber wir sollen ja auch nicht wissen, was Materie und Bewegung sind! Natürlich nicht, denn die Materie als solche und die Bewegung als solche hat noch niemand gesehn oder sonst erfahren, sondern nur die verschiednen, wirklich existierenden Stoffe und Bewegungsformen. Der Stoff, die Materie ist nichts andres als die Gesamtheit der Stoffe, aus der dieser Begriff abstrahiert, die Bewegung als solche nichts als die Gesamtheit aller sinnlich wahrnehmbaren Bewegungsformen; Worte wie Materie und Bewegung sind nichts als Abkürzungen, in die wir viele verschiedne sinnlich wahrnehmbare Dinge zusammenfassen nach ihren gemeinsamen Eigenschaften. Die Materie und Bewegung kann also gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto1 auch die Materie und Bewegung als solche. Indem Nägeli also sagt, daß wir nicht wissen, was Zeit, Raum, Materie, Bewegung, Ursache und Wirkung ist, sagt er bloß, daß wir uns erst mit unserm Kopf Abstraktionen von der wirklichen Welt machen und dann diese selbstgemachten Abstraktionen nicht erkennen können, weil sie Gedankendinge und keine sinnlichen Dinge sind, alles Erkennen aber sinnliches Messen ist! Grade wie die Schwierigkeit bei Hegel, wir können wohl Kirschen und Pflaumen essen, aber kein Obst,weil noch niemand Obst als solches gegessen hat.13241
Wenn Nägeli behauptet, es gebe wahrscheinlich eine ganze Menge von Bewegungsformen in der Natur, die wir mit unsern Sinnen nicht wahrnehmen können, so ist das eine pauvre 2 Entschuldigung, gleichbedeutend mit Aufhebung, Wenigstens für unsre Erkenntnis, des Gesetzes von der Unerschaffbarkeit von Bewegung. Denn sie können sich ja in für uns wahrnehmbare Bewegung verwandeln! Da wäre z. B. die Kontaktelektrizität leicht erklärt! *
Ad vocem3 Nägeli: Unfaßbarkeit des Unendlichen. Sobald wir sagen, Materie und Bewegung sind nicht erschafft und unzerstörbar, sagen wir,
1 insofern - 2 ärmliche - 3 Anläßlich
daß die Welt als unendlicher Progreß, d. h. in der Form der schlechten Unendlichkeit, existiert, und haben damit an diesem Prozeß alles begriffen, was zu begreifen ist. Höchstens fragt sich noch, ob dieser Prozeß eine - in großen Kreisläufen - ewige Wiederholung desselben ist, oder ob die Kreisläufe ab« und aufsteigende Aste haben.
*
Schlechte Unendlichkeit. Die wahre schon von Hegel richtig in den erfüllten Raum und Zeit gelegt, in den Naturprozeß und die Geschichte. Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden. Diese unendliche Mannigfaltigkeit von Natur und Geschichte hat die Unendlichkeit des Raums und der Zeit - die schlechte - nur als aufgehobnes, zwar wesentliches, aber nicht vorwiegendes Moment in sich. Die äußerste Grenze unsrer Naturwissenschaft ist bis jetzt unser Universum, und die unendlich vielen Universen da draußen brauchen wir nicht, um die Natur zu erkennen. Ja, selbst nur Eine Sonne unter Millionen Sonnen und ihr System bildet den wesentlichen Boden unsrer astronomischen Forschung. Für irdische Mechanik, Physik, Chemie sind wir mehr oder weniger, für organische Wissenschaft ganz auf die kleine Erde beschränkt. Und doch tut dies der praktisch unendlichen Mannigfaltigkeit der Phänomene und der Naturerkenntnis keinen wesentlichen Eintrag, ebensowenig wie bei der Geschichte die gleiche, noch größere Beschränkung auf eine verhältnismäßig kurze Zeit und kleinen Teil der Erde»
*
1. Der unendliche Progreß ist bei Hegel die leere öde, weil er nur als ewige Wiederholung desselben erscheint: 1+1+1 etc. 2. Aber in Wirklichkeit ist er keine Wiederholung, sondern Entwicklung, Fortschritt oder Rückschritt, und damit wird er notwendige Bewegungsform. Abgesehn davon, daß er nicht unendlich ist: Das Ende der Lebensperiode der Erde ist schon jetzt abzusehn. Dafür ist denn auch die Erde nicht die ganze Welt. Im Hegeischen System war für die zeitliche Geschichte der Natur jede Entwicklung ausgeschlossen, sonst wäre die Natur nicht das Außersichsein des Geistes. Aber in der Menschengeschichte ist der unendliche Progreß von Hegel als die einzig wahre Daseinsform des „Geistes" anerkannt, nur daß phantastischerweise ein Ende dieser Entwicklung angenommen wird ~ in der Herstellung der Hegeischen Philosophie,
3. Es gibt auch unendliches Erkennen1: Questa infinita che le cose non hanno in progresso, la hanno in giro2 [326]. So ist das Gesetz von dem Formwechsel der Bewegung ein unendliches, sich in sich zusammenschließendes. Aber solche Unendlichkeiten sind wieder mit der Endlichkeit behaftet, kommen nur stückweise vor. So auch -s .13271 r2
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Die ewigen Naturgesetze verwandeln sich auch immer mehr in historische. Daß Wasser von 0-100°C flüssig ist, ist ein ewiges Naturgesetz, aber damit es Geltung haben kann, muß 1. Wasser, 2. die gegebne Temperatur und 3. Normaldruck da sein. Auf dem Mond ist kein Wasser, auf der Sonne nur seine Elemente, und für diese Weltkörper existiert das Gesetz nicht. Die Gesetze der Meteorologie sind auch ewig, aber nur für die Erde oder für einen Körper von der Größe, Dichtigkeit, Achsenneigung und Temperatur der Erde, und vorausgesetzt, daß er eine Atmosphäre von gleicher Mischung Sauerstoff und Stickstoff und gleiche Mengen aufsteigenden und sich niederschlagenden Wasserdampfs hat. Der Mond hat keine Atmosphäre, die Sonne eine von glühenden Metalldämpfen; der erstere hat keine Meteorologie, die zweite eine ganz andre als die unsre. - Unsre ganze offizielle Physik, Chemie und Biologie ist exklusiv geozentrisch, nur für die Erde berechnet. Die Verhältnisse elektrischer und magnetischer Spannung auf der Sonne, den Fixsternen und Nebelflecken, ja auf Planeten von andrer Dichtigkeit, kennen wir noch gar nicht. Die Gesetze der chemischen Verbindungen der Elemente sind auf der Sonne durch die hohe Temperatur suspendiert resp. nur momentan an den Grenzen der Sonnenatmosphäre wirksam, und die Verbindungen lösen sich bei Annäherung an die Sonne wieder. Die Chemie der Sonne ist eben im Werden begriffen und notwendig eine ganz andre als die der Erde, sie stößt diese nicht um, aber sie steht außer ihr. Auf den Nebelflecken existieren vielleicht nicht einmal diejenigen der 65 Elemente, die möglicherweise selbst zusammengesetzt sind. Wenn wir also von allgemeinen Naturgesetzen sprechen wollen, die auf alle Körper vom Nebelfleck bis zum Menschen - gleichmäßig passen, so bleibt uns nur die Schwere und etwa die allgemeinste Fassung der Theorie von der Umwandlung der Energie vulgo mechanische Wärmetheorie. Aber diese
1 Im Manuskript findet sich hier der nachträgliche Zusatz von Engels: „(Quantität, S.259. Astronomie)" I325J - 2 Jenes Unendliche, das die Dinge im Fortschreiten nicht haben, haben sie im Kreislauf
Theorie selbst verwandelt sich mit ihrer allgemeinen konsequenten Durchführung auf alle Naturerscheinungen in eine geschichtliche Darstellung der in einem Weltsystem von seiner Entstehung bis zu seinem Untergang nacheinander vorgehenden Veränderungen, also in eine Geschichte, in der auf jeder Stufe andre Gesetze, d. h. andre Erscheinungsformen derselben universalen Bewegung herrschen, und somit als durchgehend Allgemeingültiges nichts bleibt als - die Bewegung.
*
Der geozentrische Standpunkt in der Astronomie borniert und mit Recht beseitigt. Aber sowie wir weitergehn in der Forschung, tritt er mehr und mehr in sein Recht. Sonne etc. dienen der Erde (Hegel „Naturphilosophie]", [S.] 155)[328]. (Die ganze dicke Sonne bloß der kleinen Planeten wegen da.) Etwas anderes als geozentrische Physik, Chemie, Biologie, Meteorologie etc. für uns unmöglich, und sie verliert nichts durch die Phrase, daß dies nur für die Erde gelte und daher nur relativ sei. Nimmt man das ernsthaft und verlangt eine zentrumslose Wissenschaft, so stoppt man alle Wissenschaft. [Es genügt] uns zu wissen, daß unter gleichen Umständen überall das Gleiche erfolgen muß, 1000 Bill[ionen] Sonnenweiten rechts oder links von uns, *
Erkennen. Die Ameisen haben andre Augen als wir, sie sehen die chemischen (?) Lichtstrahlen („Nature", 8. Juni 1882, Lubbock)13295, aber wir haben es in der Erkenntnis derselben, für uns unsichtbaren Strahlen bedeutend weiter gebracht als die Ameisen, und schon daß wir nachweisen können, daß die Ameisen Dinge sehn, die für uns unsichtbar sind, und daß dieser Beweis auf lauter Wahrnehmungen beruht, die mit unsern Augen gemacht sind, zeigt, daß die spezielle Konstruktion des menschlichen Auges keine absolute Schranke des menschlichen Erkennens ist. Zu unserm Auge kommen nicht nur noch die andern Sinne hinzu, sondern unsre Denktätigkeit. Mit dieser verhält sich's wieder grade wie mit dem Auge. Um zu wissen, was unser Denken ergründen kann, nützt es nichts, 100 Jahre nach Kant die Tragweite des Denkens aus der Kritik der Vernunft, der Untersuchung des Erkenntnis-Instruments, entdecken zu wollen; ebensowenig wie wenn Helmholtz die Mangelhaftigkeit unsres Sehens (die ja notwendig ist, ein Auge, das alle Strahlen sähe, sähe ebendeshalb gar nichts) und die auf bestimmte Grenzen das Sehen beschränkende, auch dies nicht ganz richtig reproduzierende Konstruktion unsres Auges als einen
Beweis dafür behandelt, daß wir durch das Auge von der Beschaffenheit des Gesehenen falsch oder unsicher unterrichtet werden. Was unser Denken ergründen kann, sehen wir vielmehr aus dem, was es bereits ergründet hat und noch täglich ergründet. Und das ist schon genug nach Quantität und Qualität. Dagegen ist die Untersuchung der Denkformen, Denkbestimmungen, sehr lohnend und notwendig, und diese hat, nach Aristoteles, nur Hegel systematisch unternommen. Allerdings werden wir nie dahinter kommen, wie den Ameisen die chemischen Strahlen erscheinen. Wen das grämt, dem ist nun einmal nicht zu helfen. *
Die Entwicklungsform der Naturwissenschaft, soweit sie denkt, ist die Hypothese. Eine neue Tatsache wird beobachtet, die die bisherige Erklärungsweise der zu derselben Gruppe gehörenden Tatsachen unmöglich macht. Von diesem Augenblick an werden neue Erklärungsweisen Bedürfnis - zunächst gegründet auf nur beschränkte Anzahl von Tatsachen und Beobachtungen. Ferneres Beobachtungsmaterial epuriert diese Hypothesen, beseitigt die einen, korrigiert die andren, bis endlich das Gesetz rein hergestellt. Wollte man warten, bis das Material fürs Gesetz rein sei, so hieße das, die denkende Forschung bis dahin suspendieren, und das Gesetz käme schon deswegen nie zustande. Die Anzahl und der Wechsel der sich verdrängenden Hypothesen - bei mangelnder logischer und dialektischer Vorbildung der Naturforscher bringt dann leicht die Vorstellung hervor, daß wir das Wesen der Dinge nicht erkennen können (Haller und Goethe)[380]. Dies ist der Naturwissenschaft nicht eigentümlich, da alle menschliche Erkenntnis in einer vielfach verschlungnen Kurve sich entwickelt, und die Theorien auch in den geschichtlichen Disziplinen inklusive Philosophie sich ebenso verdrängen, woraus aber zum Beispiel niemand schließt, daß die formelle Logik Unsinn ist. - Letzte Form dieser Anschauung - das „Ding an sich". Dieser Ausspruch, daß wir das Ding an sich nicht erkennen können (Hegel, „Enzyklopädie]", § 44), tritt 1. aus der Wissenschaft hinaus in die Phantasie. Er fügt 2. unser wissenschaftlichen Kenntnis kein Wort hinzu, denn wenn wir uns nicht mit den Dingen beschäftigen können, so existieren sie für uns nicht. Und 3. ist er reine Phrase und wird nie angewandt. Abstrakt genommen klingt er ganz verständig. Aber man wende ihn an. Was denken von dem Zoologen, der sagte: „Ein Hund scheint 4 Beine zu haben, wir wissen aber nicht, ob er in Wirklichkeit 4 Millionen Beine hat oder gar keine"?
Vom Mathematiker, der erst ein Dreieck als 3 Seiten habend definiert und dann erklärt, er wisse nicht, ob es nicht 25 habe? 2x2 scheine 4 zu sein? Aber die Naturforscher hüten sich wohl, die Phrase vom Ding an sich in der Naturwissenschaft anzuwenden, bloß im Hinausgehn in die Philosophie erlauben sie sich das. Dies bester Beweis, wie wenig sie ihnen ernst, und wie wenig sie selbst wert ist. Wäre sie ihnen ernst, ä quoi bon1 überhaupt etwas untersuchen? Historisch gefaßt hätte die Sache einen gewissen Sinn: Wir können nur unter den Bedingungen unsrer Epoche erkennen und soweit diese reichen.
*
Ding an sich: Hegel „Logik", II, p. 10, auch später ein ganzer Abschnitt darüber13311:
„Es ist, erlaubte sich der Skeptizismus nicht zu sagen; der neuere Idealismus" (i.e. Kant und Fichte) „erlaubte sich nicht, die Erkenntnisse als ein Wissen vom Ding an sich anzusehn2... Zugleich ließ aber der Skeptizismus mannigfaltige Bestimmungen seines Scheins zu, oder vielmehr sein Schein hatte den ganzen mannigfaltigen Reichtum der Welt zum Inhalte. Ebenso begreift die Erscheinung des Idealismus" (i.e. what Idealism calls3 Erscheinung) „den ganzen Umfang dieser mannigfaltigen Bestimmtheiten in sich... Diesem Inhalt mag also wohl kein Sein, kein Ding, oder Ding an sich zugrunde liegen; er für sich bleibt, wie er ist; er isi nur aus dem Sein in den Schein übersetzt worden."4 Hegel ist also hier ein viel entschiednerer Materialist als die modernen Naturforscher. *
Kostbare Selbstkritik des Kantschen Dings an sich, [die zeigt,] daß Kant auch am denkenden Ich scheitert und darin ebenfalls ein unerkennbares Ding an sich ausfindet (Hegel, V, [S.J 256f.).[333}
1 wozu - 2 am Rande des Manuskripts findet sich hier noch der Vermerk: „Vgl. .Enzyklopädie]', I, p.252"t332J - 3 was der Idealismus nennt - 4 alle Hervorhebungen von Engels
[Bewegungsformen der Materie. Klassifizierung der Wissenschaften]
*
Causa finalis1 - die Materie und ihre inhärente Bewegung. Diese Materie keine Abstraktion. Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des Nebelflecks alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als solche verschwimmend, nur als Materie, nicht mit ihren spezifischen Eigenschaften wirkend. (Sonst schon bei Hegel der Gegensatz von causa efficiens3 und causa finalis in der Wechselwirkung aufgehoben.) • Urmaterie. „Die Auffassung der Materie als ursprünglich vorhanden und an sich formlos ist sehr alt und begegnet uns schon bei den Griechen, zunächst in der mythischen Gestalt des Chaos, welches als die formlose Grundlage der existierenden Welt vorgestellt wird." (Hegel, „Enzyklopädie]", I, [S.] 258.)^ Dies Chaos finden wir wieder bei Laplace, und annähernd im Nebelfleck, der auch nur noch einen Anfang von Form hat. Nachher kommt die Differenzierung. *
Die Schwere als allgemeinste Bestimmung der Materialität landläufig angenommen. D. h. die Attraktion ist notwendige Eigenschaft der Materie, aber nicht die Repulsion. Aber Attraktion und Repulsion so untrennbar wie Positiv und Negativ, und daher aus der Dialektik selbst schon vorherzusagen, daß die wahre Theorie der Materie der Repulsion eine ebenso wichtige Stelle anweisen muß wie der Attraktion, daß eine auf bloße Attraktion gegründete Theorie der Materie falsch, ungenügend, halb ist. In der Tat treten Erscheinungen genug auf, die dies voraus anzeigen. Der Äther ist schon des Lichts wegen nicht zu entbehren. Ist der Äther materiell? Wenn
1 Letzte Ursache - 2 wirkende Ursache
er überhaupt ist, muß er materiell sein, unter den Begriff der Materie fallen. Aber er hat keine Schwere. Die Kometenschweife sind zugegeben als materiell. Sie zeigen eine gev/altige Repulsion. Die Wärme im Gas erzeugt Repulsion usw. *
Attraktion und Gravitation. Die ganze Gravitationslehre beruht darauf, zu sagen, die Attraktion ist das Wesen der Materie. Dies notwendig falsch. Wo Attraktion, muß sie durch Repulsion ergänzt werden. Ganz richtig daher schon Hegel, das Wesen der Materie sei Attraktion und Repulsion[335]. Und in der Tat drängt sich die Notwendigkeit mehr und mehr auf, daß die Zerstreuung der Materie eine Grenze hat, wo Attraktion in Repulsion umschlägt, und umgekehrt die Verdichtung der repulsierten Materie eine Grenze, wo sie Attraktion wird.1
*
Umschlag der Attraktion in Repulsion und umgekehrt bei Hegel mystisch, aber der Sache nach hat er darin die spätere naturwissenschaftliche Entdeckung antizipiert. Schon im Gas Repulsion der Moleküle, noch mehr [in] feiner zerteilter Materie, zum Beispiel im Kometenschweif, wo sie sogar mit ungeheurer Kraft wirkt. Selbst darin Hegel genial, daß er die Attraktion als Zweites aus der Repulsion als Vorhergehendem ableitet: Ein Sonnensystem wird nur gebildet durch allmähliches Vorwiegen der Attraktion über ursprünglich vorherrschende Repulsion^ — Ausdehnung durch Wärme = Repulsion. Kinetische Gastheorie.
Teilbarkeit der Materie. Die Frage für die Wissenschaft praktisch gleichgültig. Wir wissen, daß in der Chemie eine bestimmte Grenze der Teilbarkeit besteht, jenseits der die Körper nicht mehr chemisch wirken können Atom, und daß mehrere Atome stets in Verbindung sind - Molekül. Dito in der Physik werden wir zur Annahme gewisser - für die physikalische Betrachtung - kleinster Teilchen genötigt, deren Lagerung Form und Kohäsion der Körper bedingt, deren Schwingungen sich in der Wärme etc. kundgeben. Ob aber das physikalische und das chemische Molekül identisch oder verschieden, davon wissen wir bis jetzt nichts. - Hegel hilft sich sehr leicht über diese Frage der Teilbarkeit, indem er sagt, die Materie ist beides,
1 Siehe die Notiz „Kohäsion" (vorl. Band, S. 546)
teilbar und kontinuierlich, und zugleich keins von beidenC336], was keine Antwort ist, aber jetzt fast erwiesen (siehe Bogen 5, 3 unten: Clausius)1.
*
Teilbarkeit• Säugetiere unteilbar, dem Reptil wächst noch ein Fuß nach.Die Ätherwellen teilbar und meßbar ins unendlich Kleine. - Jeder Körper teilbar, praktisch, innerhalb gewisser Grenzen, bei der Chemie z. B. •
„Ihr" (der Bewegung) „Wesen ist, die unmittelbare Einheit des Raums und der Zeit zu sein, ...zur Bewegung gehört Raum und Zeit; die Geschwindigkeit, das Quantum von Bewegung ist Raum in Verhältnis zu bestimmter Zeit, die verflossen ist." ([Hegel,] „Naturphil[osophie", S.] 65.) „...Raum und Zeit sind mit Materie erfüllt... Wie es keine Bewegung ohne Materie gibt, so auchkeineMaterie ohne Bewegung." ([S.] 67.)t337J • « Die Unzerstörbarkeit der Bewegung im Satz des Descar tes, daß sich im Universum stets dasselbe Quantum Bewegung erhalte[37]. Die Naturforscher drücken dies als „Unzer stör bar keit der Kraft" unvollkommen aus. Der bloß quantitative Ausdruck des Descartes ebenfalls unzureichend: Die Bewegung als solche, als wesentliche Betätigung, Existenzform der Materie, unzerstörbar wie diese selbst, darin ist das Quantitative eingeschlossen. Auch hier also der Philosoph nach 200 Jahren vom Naturforscher bestätigt.
Unzerstörbarkeit der Bewegung. Hübsche Stelle bei Grove - p. 20ff.C3381
*
Bewegung und Gleichgewicht. Das Gleichgewicht untrennbar von der Bewegung2. In der Bewegung der Weltkörper ist Bewegung im Gleichgewicht und Gleichgewicht in der Bewegung (relativ). Aber alle speziell relative Bewegung, d. h. hier alle Einzelbewegung einzelner Körper auf einem sich bewegenden Weltkörper, ist Streben nach Herstellung der relativen Ruhe, des Gleichgewichts. Die Möglichkeit der relativen Ruhe der Körper, die Möglichkeit temporärer Gleichgewichtszustände ist wesentliche Bedingung
1 Siehe die Notiz „Kinetische Theorie" (vorl. Band, S. 546) - 2 Über diese Zeile ist ganz oben auf dem Manuskript mit Bleistift geschrieben: „Gleichgewicht = Vorherrschen der Attraktion über die Repulsion"
der Differenzierung der Materie und damit des Lebens. Auf der Sonne kein Gleichgewicht der einzelnen Stoffe, nur der ganzen Masse, oder doch nur ein sehr geringes, durch bedeutende Dichtigkeitsunterschiede bedingtes; auf der Oberfläche ewige Bewegung und Unruhe, Dissoziation. Auf dem Mond scheint ausschließliches Gleichgewicht zu herrschen, ohne alle relative Bewegung - Tod (Mond = Negativität). Auf der Erde hat sich die Bewegung differenziert in Wechsel von Bewegung und Gleichgewicht: Die einzelne Bewegung strebt dem Gleichgewicht zu, die Masse der Bewegung hebt das einzelne Gleichgewicht wieder auf. Der Fels ist zur Ruhe gekommen, die Verwitterung, die action der Seebrandung, der Flüsse, des Gletschereises heben das Gleichgewicht fortwährend auf. Verdunstung und Regen, Wind, Wärme, elektrische und magnetische Erscheinungen bieten dasselbe Schauspiel dar. Im lebenden Organismus endlich sehn wir die fortwährende Bewegung aller kleinsten Teilchen wie größrer Organe, die während der normalen Lebensperiode das fortwährende Gleichgewicht des Gesamtorganismus zum Resultat hat und doch stets in Bewegung bleibt, die lebendige Einheit von Bewegung und Gleichgewicht. Alles Gleichgewicht nur relativ und temporär.
*
1. Bewegung der Weltkörper. Annäherndes Gleichgewicht von Attraktion und Repulsion in der Bewegung. 2. Bewegung auf einem Weltkörper. Masse. Soweit diese aus rein mechanischen Ursachen, auch Gleichgewicht. Die Massen ruhn auf ihrer Grundlage. Dies auf dem Mond anscheinend komplett. Die mechanische Attraktion hat die mechanische Repulsion überwunden. Vom Standpunkt der reinen Mechanik wissen wir nicht, was aus der Repulsion geworden, und die reine Mechanik erklärt ebensowenig, woher die „Kräfte" kommen, mit denen dennoch z. B. auf der Erde Massen gegen die Schwere bewegt werden. Sie nimmt das Faktum als gegeben. Hier also einfache Mitteilung repulsierender, entfernender Ortsbewegung von Masse zu Masse, wobei Attraktion und Repulsion = sind. 3. Die enorme Masse aller Bewegung auf der Erde aber Verwandlung einer Bewegungsform in die andre - mechanischer in Wärme, Elektrizität, chemische Bewegung - und jeder in die andre; also entweder1 Umschlag
1 Diesem „entweder" folgt kein „oder". Man kann annehmen, daß Engels am Ende dieses Satzes auch auf den umgekehrten Umschlag der Repulsion in Attraktion hinweisen wollte, aber diese Absicht nicht verwirklichte. Eine entsprechende Ergänzung dieses Satzes wird in eckiger Klammer gebracht
von Attraktion in Repulsion - mechanischer Bewegung in Wärme, Elektrizität, chemische Zersetzung (der Umschlag ist die Verwandlung der ursprünglich hebenden mechanischen Bewegung in Wärme, nicht der fallenden, dies nur Schein) [- oder Umschlag von Repulsion in Attraktion]. 4. Alle Energie, die jetzt auf der Erde tätig, verwandelte Sonnenwärme.[339] *
Mechanische Bewegung. Bei den Naturforschern ist Bewegung stets selbstredend als == mechanischer Bewegung, Ortsveränderung, genommen. Dies aus dem vorchemischen 18. Jahrhundert überkommen und erschwert sehr die klare Auffassung der Vorgänge. Bewegung, auf die Materie anwendbar, ist Veränderung überhaupt. Aus dem gleichen Mißverständnis auch die Wut, alles auf mechanische Bewegung zu reduzieren - schon Grove
„ist sehr stark geneigt zu glauben, daß die anderen Kundgebungen der Materie als Arten der Bewegung anerkannt sind oder doch zuletzt werden erkannt werden" (p. 16) t340J -, wodurch der spezifische Charakter der andern Bewegungsformen verwischt wird. Womit nicht gesagt sein soll, daß nicht jede der höheren Bewegungsformen stets notwendig mit einer wirklichen mechanischen (äußerlichen oder molekularen) Bewegung verknüpft sein mag; grade wie die höheren Bewegungsformen gleichzeitig auch andre produzieren, chemische Aktion nicht ohne Temperatur- und Elektrizitätsänderung, organisches Leben nicht ohne mechanische, molekulare, chemische, thermische, elektrische etc. Änderung möglich. Aber die Anwesenheit dieser Nebenformen erschöpft nicht das Wesen der jedesmaligen Hauptform. Wir werden sicher das Denken einmal experimentell auf molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn „reduzieren"; ist aber damit das Wesen des Denkens erschöpft?
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Dialektik der Naturwissenschaft1341 Gegenstand der sich bewegende Stoff. Die verschiednen Formen und Arten des Stoffs selbst wieder nur durch die Bewegung zu erkennen, nur in ihr zeigen sich die Eigenschaften der Körper; von einem Körper, der sich nicht bewegt, ist nichts zu sagen. Aus den Formen der Bewegung also ergibt sich die Beschaffenheit der sich bewegenden Körper. 1. Die erste, einfachste Bewegungsform ist die mechanische, rein ortsverändernde.
a) Bewegung eines einzelnen Körpers existiert nicht - nur relativ [gesprochen]1 - Fall. h) Bewegung getrennter Körper: Flugbahn, Astronomie - scheinbares Gleichgewicht - Ende immer Kontakt. c) Bewegung sich berührender Körper in Beziehung aufeinander Druck. Statik. Hydrostatik und Gase. Hebel und andre Formen der eigentlichen Mechanik, die alle in ihrer einfachsten Form des Kontakts auf die nur graduell verschiedne Reibung und Stoß herauskommen. Aber Reibung und Stoß, in fact2 Kontakt, haben auch andre hier von den Naturforschern nie angeführte Folgen: Sie produzieren, unter Umständen, Schall, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus. 2. Diese verschiednen Kräfte gehn (mit Ausnahme des Schalls) - Physik der Himmelskörper a) ineinander über und ersetzen sich gegenseitig, und b) bei gewisser quantitativer Kraftentwicklung einer jeden, für jeden Körper verschieden, angewandt auf die Körper, seien es chemisch zusammengesetzte, seien es mehrere chemisch einfache, treten chemische Veränderungen ein, und wir in die Chemie. Chemie der Himmelskörper. Kristallographie Teil der Chemie. 3. Die Physik mußte oder konnte den lebendigen organischen Körper unberücksichtigt lassen, die Chemie findet erst in der Untersuchung der organischen Zusammensetzungen den eigentlichen Aufschluß über die wahre Natur der wichtigsten Körper, und setzt andrerseits Körper zusamJ: j„- ;_„! KT_t i inen , uic uui in uci uigaiust.iicii ixaiui »ui nuiiiiucu. i nci ium L UIC vuciiuc auf das organische Leben, und sie ist weit genug, um uns zu versichern, daß sie allein uns den dialektischen Übergang in den Organismus erklären wird. 4. Der wirkliche Ubergang aber in der Geschichte - des Sonnensystems, der Erde; reale Voraussetzung der Organik. 5. Organik. *
Klassifizierung der Wissenschaften, von denen jede eine einzelne Bewegungsform oder eine Reihe zusammengehöriger und ineinander übergehender Bewegungsformen analysiert, ist damit Klassifikation, Anordnung nach ihrer inhärenten Reihenfolge, dieser Bewegungsformen selbst, und darin liegt ihre Wichtigkeit. Ende des vorigen Jahrhunderts, nach den französischen Materialisten,
1 Das in eckige Klammer eingeschlossene Wort wurde aus Engels' Brief an Marx vom 30. Mai 1873 hinzugefügt - 2 in der Tat
die vorwiegend mechanisch sind, trat das Bedürfnis hervor, die ganze Naturwissenschaft der alten Newton-Linneschen Schule enzyklopädisch zusammenzufassen, und zwei der genialsten Leute gaben sich daran, St. Simon (nicht vollendet) und Hegel. Jetzt, wo die neue Naturanschauung in ihren Grundzügen fertig, dasselbe Bedürfnis sich fühlbar machend, und Versuche in dieser Richtung. Aber wo der allgemeine Entwicklungszusammenhang in der Natur jetzt nachgewiesen, reicht äußerliches Aneinanderreihen ebensowenig aus wie Hegels kunststücklich gemachte dialektische Übergänge. Die Übergänge müssen sich selbst machen, müssen natürlich sein. Wie eine Bewegungsform sich aus der andern entwickelt, so müssen auch ihre Spiegelbilder, die verschiednen Wissenschaften, eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgehn. *
Wie wenig Comte der Verfasser seiner von St. Simon abgeschriebenen enzyklopädischen Anordnung der Naturwissenschaft sein kann[342], schon daraus zu sehn, daß sie [bei] ihm nur den Zweck der Anordnung der Lehrmittel und des Lehrgangs hat und damit zum verrückten enseignement integral1 führt, wo je eine Wissenschaft erschöpft wird, ehe die andre nur angebrochen ,wo ein im Grunde richtiger Gedanke ins Absurde mathematisch outriert. *
Hegels Einteilung (die ursprüngliche): Mechanismus, Chemismus, Organismusf343], für die Zeit vollständig. Mechanismus: die Massenbewegung; Chemismus: die Molekular- (denn auch die Physik darunter begriffen, und beide - sowohl die Physik als auch die Chemie - gehören ja zur selben Ordnung) und Atombewegung; Organismus: die Bewegung der Körper, an denen beides untrennbar. Denn der Organismus ist allerdings die höhere Einheit, die Mechanik, Physik und Chemie zu einem Ganzen in sich bezieht, wo die Dreiheit nicht mehr zu trennen. Im Organismus die mechanische Bewegung direkt durch physikalische und chemische Veränderung bewirkt,, und zwar Ernährung, Atmung, Sekretion usw. ebensogut wie die reine Muskelbewegung. Jede Gruppe wieder doppelt. Mechanik: 1. himmlisch, 2. irdisch. Molekularbewegung: I.Physik, 2. Chemie. Organismus: 1. Pflanze, 2. Tier.
*
Physiographie1. Nachdem der Übergang von Chemie zum Leben gemacht, sind nun zuerst die Bedingungen zu entwickeln, innerhalb deren das Leben sich erzeugt hat und besteht, also zuerst Geologie, Meteorologie und der Rest. Dann die verschiednen Lebensformen selbst, die ja auch ohne dies unverständlich. *
Über die „mechanische" Natur auffassttng[344]
Zu S.463: Die verschiedenen Formen der Bewegung und die sie behandelnden Wissenschaften
Seit obiger Artikel erschien („Vorwärts", 9. Februar 1877)3, hat Ke~ kule („Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen der Chemie") Mechanik, Physik und Chemie ganz ähnlich bestimmt: „Wenn diese Vorstellung über das Wesen der Materie zugrunde gelegt wird, so wird man die Chemie als die Wissenschaft der Atome und die Physik als die Wissenschaft der Molekeln definieren dürfen, und es liegt dann nahe, denjenigen Teil der heutigen Physik, der von den Massen handelt, als besondre Disziplin loszulösen und für ihn den Namen Mechanik zu reservieren. Die Mechanik erscheint so als Grundwissenschaft der Physik und Chemie, insofern beide ihre Molekeln und resp. Atome bei gewissen Betrachtungen und namentlich Rechnungen als Massen zu behandeln haben." f345!
Diese Fassung unterscheidet sich, wie man sieht, von der im Text und der vorigen Note4 gegebnen nur durch etwas geringere Bestimmtheit. Wenn aber eine englische Zeitschrift („Nature") Kekules obigen Satz dahin übertrug, daß die Mechanik die Statik und Dynamik der Massen, die Physik die Statik und Dynamik der Moleküle, die Chemie die Statik und Dynamik der Atome sei t®4®^ so scheint mir diese unbedingte Reduktion sogar der chemischen Vorgänge auf bloß mechanische das Feld, wenigstens der Chemie, ungebührlich zu verengern. Und doch ist sie so sehr Mode, daß z. B. bei Haeckel „mechanisch" und „monistisch" fortwährend als gleichbedeutend gebraucht werden, und nach ihm
„die heutige Physiologie... auf ihrem Gebiet nur physikalisch-chemische - oder im weiteren Sinn5 mechanische - Kräfte wirken... läßt" (Perigenesis)t347!. Wenn ich die Physik der Mechanik der Moleküle, die Chemie die
1 D.h. Naturbeschreibung-2 siehe vorl. Band, S.61 - 3 d.h. das VI I.Kapitel des ersten Abschnitts des „Anti-Dühring" — 4 d. h. im Text des „Anti-Dühring" und in der Note „Über die Urbilder des Mathematisch-Unendlichen in der wirklichen Welt" (siehe vorl. Band, S.61 und S.529-534) - 5 Hervorhebung von Engels
Physik der Atome und dann weiterhin die Biologie die Chemie der Eiweiße nenne, so will ich damit den Übergang der einen dieser Wissenschaften in die andre, also sowohl den Zusammenhang, die Kontinuität, wie den Unterschied, die Diskretion, beider ausdrücken. Weiter zu gehn, die Chemie als ebenfalls eine Art Mechanik auszudrücken, erscheint mir unstatthaft. Die Mechanik - weitere oder engere - kennt nur Quantitäten, sie rechnet mit Geschwindigkeiten und Massen und höchstens Volumen. Wo ihr die Qualität der Körper in den Weg kommt, wie in der Hydrostatik und Aerostatik, kann sie ohne Eingehn auf Molekularzustände und Molekularbewegungen nicht fertig werden, ist sie selbst nur noch Hülfswissenschaft, Voraussetzung der Physik. In der Physik aber, und noch mehr in der Chemie, findet aber nicht nur fortwährende qualitative Änderung statt infolge quantitativer Änderungen, Umschlag von Quantität in Qualität, sondern auch sind eine Menge qualitativer Änderungen zu betrachten, deren Bedingtheit durch quantitative Veränderung keineswegs erwiesen ist. Daß die gegenwärtige Strömung der Wissenschaft in dieser Richtung sich bewegt, kann gern zugegeben werden, beweist aber nicht, daß sie die ausschließlich richtige ist, daß die Verfolgung dieser Strömung die Physik und Chemie erschöpfen wird. Alle Bewegung schließt mechanische Bewegung, Ortsveränderung größter oder kleinster Teile der Materie in sich, und erste Aufgabe, aber auch nur erste, der Wissenschaft ist, diese zu erkennen. Aber diese mechanische Bewegung erschöpft die Bewegung überhaupt nicht. Bewegung ist nicht bloß Orts Veränderung, sie ist auf den über mechanischen Gebieten auch Qualitätsänderung. Die Entdeckung, daß Wärme eine Molekularbewegung, war epochemachend. Aber wenn ich von der Wärme weiter nichts zu sagen weiß, als daß sie eine gewisse Orts Veränderung der Moleküle ist, so schweige ich am besten still. Die Chemie scheint auf dem besten Wege, aus dem Verhältnis der Atomvolumen zu den Atomgewichten eine ganze Reihe der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente zu erklären. Kein Chemiker aber wird behaupten, daß die sämtlichen Eigenschaften eines Elements durch seine Stellung in der Kurve Lothar Meyers[348J erschöpfend ausgedrückt, daß allein damit z. B. die eigentümliche Beschaffenheit des Kohlenstoffs, die ihn zum wesentlichen Träger des organischen Lebens macht, oder die Notwendigkeit des Phosphors im Gehirn je zu erklären sein werde. Und doch läuft die „mechanische" Auffassung auf nichts andres hinaus. Sie erklärt alle Veränderungen aus Ortsveränderung, alle qualitativen Unterschiede aus quantitativen, und übersieht, daß das Verhältnis von Qualität und Quantität reziprok ist, daß Qualität ebensogut in Quantität umschlägt, wie Quantität in Qualität, daß eben
Wechselwirkung stattfindet. Wenn alle Unterschiede und Änderungen der Qualität auf quantitative Unterschiede und Änderungen, auf mechanische Ortsveränderung zu reduzieren sind, dann kommen wir mit Notwendigkeit zu dem Satz, daß alle Materie aus identischen kleinsten Teilchen besteht, und alle qualitativen Unterschiede der chemischen Elemente der Materie verursacht sind durch quantitative, Unterschiede in der Zahl und örtlichen Gruppierung dieser kleinsten Teilchen zu Atomen. So weit sind wir aber noch nicht. Es ist die Unbekanntschaft unsrer heutigen Naturforscher mit andrer Philisophie als der ordinärsten Vulgärphilosophie, wie sie heute an den deutschen Universitäten grassiert, die es ihnen erlaubt, in dieser Weise mit Ausdrücken wie „mechanisch" zu hantieren, ohne daß sie sich Rechenschaft geben oder nur ahnen, welche Schlußfolgerungen sie sich damit notwendig aufladen. Die Theorie von der absoluten qualitativen Identität der Materie hat ja ihre Anhänger-sie ist empirisch ebensowenig widerlegbar wie beweisbar. Wenn aber man die Leute fragt, die alles „mechanisch" erklären wollen, ob sie sich dieser Schlußfolgerung bewußt sind und die Identität der Materie akzeptieren, wieviel verschiedene Antworten wird man hören! Das komischste ist, daß die Gleichsetzung von „materialistisch" und „mechanisch" von Hegel herrührt, der den Materialismus durch den Zusatz „mechanisch" verächtlich machen will. Nun war der von Hegel kritisierte Materialismus - der französische des 18. Jahrhunderts - in der Tat ausschließlich mechanisch, und zwar aus dem sehr natürlichen Grund, weil damals Physik, Chemie und Biologie noch in den Windeln lagen und weit entfernt davon waren, die Basis einer allgemeinen Naturanschauung bieten zu können. Ebenfalls entlehnt Haeckel die Übersetzung causae efficientes = „mechanisch wirkende Ursachen" und causae finales = „zweckmäßig wirkende Ursachen" von Hegel, wo Hegel also „mechanisch" = blindwirkend, unbewußt wirkend, setzt, nicht = mechanisch im Haeckelschen Sinn. Dabei ist dieser ganze Gegensatz für Hegel selbst so sehr über wundner Standpunkt, daß er ihn in keiner seiner beiden Darstellungen der Kausalität in der „Logik" auch nur erwähnt - sondern nur in der „Geschichte der Philosophie", da, wo er historisch vorkommt (also reines Mißverständnis Haeckels aus Oberflächlichkeit!), und ganz gelegentlich bei der Teleologie („Logik", III, II, 3) als Form erwähnt, in der die alte Metaphysik den Gegensatz von Mechanismus und Teleologie gefaßt, sonst aber als längst überwundnen Standpunkt behandelt. Haeckel hat also falsch abgeschrieben in seiner Freude, eine Bestätigung seiner „mechanischen" Auffassung zu
finden, und kommt damit zu dem schönen Resultat, daß, wenn an einem Tier oder einer Pflanze durch Naturzüchtung eine bestimmte Veränderung hervorgerufen, dies durch causa efficiens, wenn dieselbe Veränderung durch künstliche Züchtung, dies durch causa finalis bewirkt! Der Züchter causa finalis! Ein Dialektiker vom Kaliber Hegels konnte sich freilich nicht in dem engen Gegensatz von causa efficiens und causa finalis im Kreise herumtreiben. Und für den heutigen Standpunkt ist dem ganzen ausweglosen Gekohl über diesen Gegensatz damit ein Ende gemacht, daß wir aus Erfahrung und Theorie wissen, daß die Materie wie ihre Daseinsweise, die Bewegung, unerschaffbar und also ihre eigne Endursache sind; während den in der Wechselwirkung der Bewegung des Universums sich momentan und lokal isolierenden oder von unsrer Reflexion isolierten Einzelursachen durchaus keine neue Bestimmung, sondern nur ein verwirrendes Element hinzugefügt wird, wenn wir sie wirkende Ursachen nennen. Eine Ursache, die nicht wirkt, ist keine. NB. Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existierendes. Wenn die Naturwissenschaft darauf ausgeht, die einheitliche Materie als solche aufzusuchen, die qualitativen Unterschiede auf bloß quantitative Verschiedenheiten der Zusammensetzung identischer kleinster Teilchen zu reduzieren, so tut sie dasselbe, wie wenn sie statt Kirschen, Birnen, Äpfel das Obst als solches[349], statt Katzen, Hunde, Schafe etc. das Säugetier als solches zu sehen verlangt, das Gas als solches, das Metall als solches, den Stein als solchen, die chemische Zusammensetzung als solche, die Bewegung als solche. Die Darwinsche Theorie fordert ein solches Ursäugetier, Promammale Haeckel[350], muß aber gleichzeitig zugeben, daß, wenn es im Keim alle künftigen und jetzigen Säugetiere in sich enthielt, es in Wirklichkeit allen jetzigen Säugetieren untergeordnet und urroh war, daher vergänglicher als sie alle. Wie schon Hegel („Enzyklopädie]", I, [S.] 199) nachgewiesen, ist diese Anschauung, dieser „einseitig mathematische Standpunkt", auf dem die Materie als nur quantitativ bestimmbar, aber qualitativ ursprünglich gleich angesehn wird, „kein andrer Standpunkt als der des" französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts[351]. Es ist sogar Rückschritt zu Pythagoras, der schon die Zahl, die quantitative Bestimmtheit, als das Wesen der Dinge auffaßte. *
Erstens Kekule[352]. Dann: Die Systematisierung der Naturwissenschaft, die jetzt mehr und mehr nötig wird, kann nicht anders gefunden werden als in den Zusammenhängen der Erscheinungen selbst. So die mechanische Bewegung von kleinen Massen auf einem Weltkörper endigt im Kontakt zweier Körper, der die beiden nur graduell unterschiednen Formen von Reibung und Stoß hat. Wir untersuchen also zuerst die mechanische Wirkung von Reibung und Stoß. Aber wir finden, daß sie damit nicht erschöpft: Reibung produziert Wärme, Licht und Elektrizität, Stoß - Wärme und Licht, wo nicht auch Elektrizität - also Verwandlung von Massenbewegung in Molekularbewegung. Wir treten ein ins Gebiet der Molekularbewegung, die Physik, und untersuchen weiter. Aber auch hier finden wir, daß die Molekularbewegung nicht den Abschluß der Untersuchung bildet. Elektrizität geht über in und geht hervor aus chemischem Umsatz. Warme und Licht dito. Molekularbewegung schlägt über in Atombewegung - Chemie. Die Untersuchung der chemischen Vorgänge findet die organische Welt als Untersuchungsgebiet vor, also eine Welt, in der die chemischen Vorgänge nach denselben Gesetzen, aber unter andern Bedingungen vorgehn als in der unorganischen Welt, für deren Erklärung die Chemie ausreicht. Alle chemischen Untersuchungen der organischen Welt führen dagegen zurück in letzter Instanz auf einen Körper, der, Resultat gewöhnlicher chemischer Vorgänge, sich von allen andern dadurch unterscheidet, daß er sich selbst vollziehender, permanenter chemischer Prozeß ist - das Eiweiß. Gelingt es der Chemie, dies Eiweiß in der Bestimmtheit darzustellen, in der es offeni . ix._i. i j d.-S.: — :_i T T._ Dar entstanden, ein sog. i luiupiasina, uei jjcäuimiiuieii, uuci vieiiueili v^ubestimmtheit, worin es alle andern Formen des Eiweißes potentiell in sich enthält (wobei nicht nötig anzunehmen, daß es nur Einerlei Protoplasma gibt), so ist der dialektische Ubergang auch real dargetan, also vollständig. Bis dahin bleibt's beim Denken, alias der Hypothese. Indem die Chemie das Eiweiß erzeugt, greift der chemische Prozeß über sich selbst hinaus wie oben der mechanische, d. h. er gelangt in ein umfassenderes Gebiet, das des Organismus. Die Physiologie ist allerdings die Physik und besonders die Chemie des lebenden Körpers, aber damit hört sie auch auf, speziell Chemie zu sein, beschränkt einerseits ihren Umkreis,

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