KARL MARX FRIEDRICH ENGELS BAND 19

KARL MARX • FRIEDRICH ENGELS
WERKE - BAND 19
I NSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS
WERKE
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DIETZ VERLAG BERLIN
1987
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS
BAND 19
DIETZ VERLAG BERLIN
Die deutsche Ausgabe der Werke von Marx und Engels fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten zweiten russischen Ausgabe.
Leitung der Editionsarbeiten: Ludwig Arnold Editorische Bearbeitung (Text, Anhang und Register): Käte Schwank unter Mitarbeit von Christa Müller und Peter Langstein Verantwortlich für die Redaktion: Walter Schulz • Richard Sperl
Marx, Karl: Werke / Karl Marx ; Friedrich Engels. Inst, für Marxismus-Leninismus beim ZK d. SED. — Berlin : Dietz Verl. [Sammlung]. Bd. 19. [März 1875 - Mai 1S83J. - 9. Aufl. - 1987. XXVIII, 679 S. : 8 Abb., 2 Kt.
Marx/Engels: Werke ISBN 3-320-00611-8 Bd. 19 ISBN 3-320-00220-1
Mit 8 Abbildungen und 2 Karten 9. Auflage 1987 Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962 © Dietz Verlag Berlin 1962 Lizenznummer 1 • LSV 0046 Printed in the German Democratic Republic Satz: Offizin Andersen Nexö, Graphischer Großbetrieb Leipzig Druck und Bindearbeit: INTERDRUCK, Graphischer Großbetrieb Leipzig Fotomechanischer Nachdruck Best.-Nr.: 735 092 1
Vorwort
Der neunzehnte Band der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels enthält Schriften, die in der Zeit zwischen März 1875 und Mai 1883 geschrieben wurden. Lenin charakterisiert die Geschichtsperiode, die nach der Niederlage der Pariser Kommune begann, als „die Epoche der vollen Herrschaft und des Niedergangs der Bourgeoisie, die Epoche des Übergangs von der fortschrittlichen Bourgeoisie zum reaktionären und erzreaktionären Finanzkapital. Es ist dies die Epoche der Vorbereitung und langsamen Kräftesammlung seitens der neuen Klasse, der modernen Demokratie" (W.I.Lenin, Werke, Band 21, Berlin 1960, S. 135). „Marx und Engels", betont Lenin, „beurteilten die Lage richtig, sie verstanden die internationale Situation, sie erkannten die Autgabe: das langsame Vorwärtsschreiten zum Beginn der sozialen Revolution" (W.I.Lenin, Werke, Band 24, Berlin 1959, S. 72). Als die Internationale Arbeiterassoziation (I. Internationale) ihre Tätigkeit einstellte, nachdem sie ihre große Aufgabe beim Zusammenschluß der proletarischen Kräfte auf internationaler Ebene verwirklicht hatte, betrachteten die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus es als erstrangige historische Aufgabe, in den einzelnen Ländern sozialistische Massenparteien der Arbeiter zu schaffen. Im Kampf um die Formierung und Festigung der ersten proletarischen Parteien in Europa und Amerika stützten sich Marx und Engels hauptsächlich auf die Funktionäre des Bundes der Kommunisten und der Internationalen Arbeiterassoziation. Marx und Engels, die inmitten des Kampfes der internationalen Arbeiterklasse standen, verallgemeinerten und propagierten ständig die Erfahrungen dieses Kampfes, machten sich die konkreten Lehren aller hervorragenden Bewegungen zu eigen und leiteten daraus stets das Wesentlichste und Aktuellste ab. Sie halfen den sozialistischen Arbeitern jedes Landes, die richtige politische Linie einzuschlagen und eine selbständige, den Klassen
interessen des Proletariats entsprechende Politik, unter Berücksichtigung der konkreten Besonderheiten der nationalen Entwicklung, durchzuführen. Umfangreich und vielseitig ist in dieser Periode Marx' wissenschaftlichtheoretische Arbeit. Er setzt intensiv seine Studien für die Arbeit am zwei » ten und dritten Band des „Kapitals" fort, studiert alle neuen Erscheinungen in der kapitalistischen Ökonomie, analysiert eine große Anzahl russischer Quellen zur Agrarfrage und viele Materialien über die stürmische Entwicklung des Kapitalismus in den USA und liest eine Fülle von Spezialliteratur über den Geldmarkt und die Banken. Gegenstand seiner systematischen Studien sind auch Agrochemie, Geologie, Physiologie, Physik und insbesondere Mathematik. Viel Zeit widmet er dem Studium der Geschichte aller Länder und Völker. Gleichzeitig setzt Marx auch seine Arbeit am ersten Band des „Kapitals" fort, und zwar im Zusammenhang mit den Neuauflagen und den von Vertretern der sozialistischen Parteien verschiedener Länder herausgegebenen populären Darlegungen des „Kapitals". Er führt eine Reihe Studien durch, die erforderlich waren, um theoretische und politische Anfragen aus der sich entwickelnden Arbeiterbewegung gründlich beantworten zu können, und unterstützt in kritischen Augenblicken diese oder jene sozialistische Partei in ihrem Kampf gegen den Klassenfeind und gegen die Opportunisten innerhalb der Partei. Auch Engels betreibt in diesen Jahren umfangreiche Studien. Er setzt die 1873 begonnene Arbeit an einem seiner bedeutendsten theoretischen Werke - „Dialektik der Natur" - fort. In diesem Werk verallgemeinert er die Erkenntnisse der Naturwissenschaften vom dialektisch-materialistischen Standpunkt und unterzieht idealistische, vulgär-materialistische und metaphysische Anschauungen bürgerlicher Gelehrter der Kritik. In den Jahren 1876 bis 1878 schreibt Engels - von Marx mit Hinweisen und Beiträgen unterstützt - den „Anti-Dühring" (siehe Band 20 unserer Ausgabe). Mit dem ihm eignen Talent legt er hier systematisch die drei Bestandteile des Marxismus dar - den dialektischen und historischen Materialismus, die marxistische politische Ökonomie und den wissenschaftlichen Kommunismus. Außerordentlich erfolgreich arbeitete Engels auf dem Gebiete der Geschichte Deutschlands und anderer europäischer Staaten. Unschätzbar sind seine Beiträge zur Ausarbeitung der Grundlagen von Strategie und Taktik der proletarischen Parteien; sie finden sich hauptsächlich in den Briefen, die er an die Führer der sozialistischen Parteien Europas und Amerikas schrieb. Viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete er der Popularisierung der Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus.
Der Band wird eingeleitet mit zwei Arbeiten der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus, die große prinzipielle Bedeutung für die revolutionäre Theorie und Praxis der gesamten internationalen kommunistischen Bewegung haben: Marx' berühmte „Kritik des Gothaer Programms" und Engels' Brief an Bebel vom 18./28.März 1875, in dem er ebenfalls zum Gothaer Programm Stellung nimmt. Die grundlegenden Ideen dieser programmatischen Schriften, deren Bedeutung von W.I.Lenin in einer Reihe seiner Werke hervorgehoben wird, erhalten besonders jetzt Aktualität, da die Sowjetunion in die Phase des entfalteten Aufbaus des Kommunismus eintritt und andere Länder des sozialistischen Lagers erfolgreich die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Aus diesen Werken von Marx und Engels schöpfen die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die kommunistischen und Arbeiterparteien der anderen Länder weiterhin reiches ideologisches Material für ihren theoretischen und praktischen Kampf. In der „Kritik des Gothaer Programms" (1875 unter dem Titel „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei" geschrieben) formuliert Marx eine ganze Reihe Gedanken zu Grundfragen der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus: über die sozialistische Revolution, die Diktatur des Proletariats, über die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, über die zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft, über Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts im Sozialismus und die Grundzüge des entfalteten Kommunismus, über den proletarischen Internationalismus und die Partei der Arbeiterklasse. Dieses klassische Werk ist, im Vergleich zum „Manifest der Kommunistischen Partei", zum „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" und zum „Bürgerkrieg in Frankreich", ein neuer Schritt in der Entwicklung der marxistischen Lehre vom Staat und von der Diktatur des Proletariats. Marx zieht Bilanz aus den Erfahrungen aller Revolutionen und aller Kämpfe des Proletariats und stellt die außerordentlich wichtige These auf, daß ein besonderes Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Kommunismus mit entsprechender Staatsform historisch unvermeidbar ist. „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen, Gesellschaft", schreibt Marx, „liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats." (Siehe vorl. Band, S. 28.) Marx war ebenso wie Engels der Ansicht, daß der Staat im Kommunismus absterben muß. Wenn er vom „Staatswesen in einer kommunistischen
Gesellschaft" spricht, meint er den absterbenden Staat, d.h. die Frage: „Welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind?" (Siehe vorl. Band, S.28.) W.I.Lenin betont in seiner Arbeit „Staat und Revolution", wo er die von Marx aufgestellte These über das „Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft" analysiert, daß in dieser These der langwierige Prozeß enthalten ist, den das allmählich absterbende Staatswesen im Kommunismus durchmachen muß und daß dieser Prozeß abhängig ist von dem Entwicklungstempo, das die höhere Phase des Kommunismus'nimmt. Die Frage, wann und wie das „Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft" absterben wird, ließen Marx und Engels offen, da die Erfahrung damals noch keine Unterlagen zu ihrer Beantwortung gab. In seinen Arbeiten über den Staat vertieft W.I.Lenin auf Grund der neuen historischen Erfahrungen in der Epoche des Imperialismus und des Sieges der proletarischen Revolution in der UdSSR die marxistische Lehre vom Staat, die Lehre von der Übergangsperiode des Kapitalismus zum Kommunismus und von der Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion, die kommunistischen und Arbeiterparteien der Länder der Volksdemokratie entwickeln die Lehre des Marxismus-Leninismus vom Staat der Arbeiterklasse, von seinen Aufgaben und Funktionen in den besonderen Etappen des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus schöpferisch weiter. In der „Kritik des Gothaer Programms" gibt Marx eine auf wissenschaftlicher Analyse beruhende Charakterisierung der Grundzüge der kommunistischen Gesellschaft - der Anfangsstufe (der ersten oder niederen Phase, dem Sozialismus) und der Stufe seiner vollen Entfaltung (der höheren Phase, dem Kommunismus). Seine Leitsätze über die beiden Phasen der kommunistischen Gesellschaft waren eine geniale Voraussicht. Von seiner Theorie der Reproduktion ausgehend, analysiert Marx in der „Kritik des Gothaer Programms" auch die wichtigsten Besonderheiten der Produktion und Verteilung im Sozialismus. Er widerlegt Lassalles „Idee", daß die Arbeiter im Sozialismus den „unverkürzten" oder „vollen Arbeitsertrag" erhalten, und erklärt, daß ökonomische Notwendigkeit dazu zwingt, von dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt das abzuziehen, was in den gemeinschaftlichen Fonds geht - für Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, für Ausdehnung der Produktion und für den Reserve- oder Assekuranzfonds usw. Marx weist nach, welche Vorzüge der Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus besitzt, da die sozialistische Gesellschaftsordnung eine
genossenschaftliche ist, dieauf Gemeingutan den Produktionsmitteln beruht. Unter den Verhältnissen des Sozialismus, so betont er, wird die Gleichheit der Menschen im Sinne ihres gleichen Verhältnisses zu den Produktionsmitteln verwirklicht; das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist aufgehoben, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt; für gleiche Arbeit erhalten die Menschen gleichen Lohn. Marx entlarvt die für die vulgäre politische Ökonomie und den kleinbürgerlichen Sozialismus charakteristischen Vorstellungen, im Sozialismus herrsche ein gleichmacherisches Prinzip der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. In seiner Kritik an diesen Vorstellungen geht er von der Analyse der gesellschaftlichen Produktion aus und leitet die Verteilung von den Hauptbedingungen und den Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Produktion im Sozialismus ab. Marx weist darauf hin, daß der Sozialismus noch in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, mit den „Muttermalen" der alten kapitalistischen Gesellschaft, aus deren Schoß er herkommt, behaftet ist, und daß er dabei alle Qualen der Geburtswehen erleidet. Marx hält daher die Ungleichheit der Menschen im Sozialismus noch solange für unvermeidlich, solange die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts nach Quantum der von jedem Gesellschaftsmitglied dafür aufgewandten Arbeit fortbestehen wird, die Verteilung nach den Bedürfnissen also noch nicht möglich ist. „Gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern" (siehe vorl. Band, S. 20) lautet das sozialistische Verteilungsprinzip, das auf dem erreichten Niveau der ökonomischen Entwicklung beruht und berücksichtigt, daß die Menschen es erst lernen müssen, ohne alle Rechtsnormen für die Gesellschaft zu arbeiten. Dann formuliert Marx seine geniale Charakteristik der kommunistischen Gesellschaft; „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" (Siehe vorl. Band, S. 21.) Die „Kritik des Gothaer Programms", mit der sich Marx unmittelbar an die deutsche Arbeiterpartei wendet, ist faktisch ein Kampfprogramm
für die ganze internationale Arbeiterbewegung. „Die große Bedeutung der Erörterungen von Marx", schrieb W. I.Lenin über die „Kritik des Gothaer Programms", „besteht darin, daß er auch hier konsequent die materialistische Dialektik, die Entwicklungslehre, anwendet, indem er den Kommunismus als etwas betrachtet, das sich aus dem Kapitalismus entwickelt. An. Stelle scholastisch ausgeklügelter, .erdachter' Definitionen und fruchtloser Wortklaubereien (was Sozialismus, was Kommunismus sei) gibt Marx eine Analyse dessen, was man als Stufen der ökonomischen Reife des Kommunismus bezeichnen könnte." (W.I.Lenin, Werke, Band25, Berlin 1960, S.485.) Ebenso wie die „Kritik des Gothaer Programms" war Engels' Brief an August Bebel vom 18./28.März 1875 für die gesamte Führung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei bestimmt. Dieser Brief enthält den gemeinsamen Standpunkt der beiden Führer des Proletariats zur Vereinigung der damals in Deutschland existierenden Arbeiterorganisationen (der Eisenacher und der Lassalleaner) und ihren Protest gegen die Kompromisse, die die Eisenacher in theoretischen und politischen Fragen mit ihren ideologischen Gegnern - den Lassalleanern - eingegangen sind. Marx und Engels werteten die Tatsache, daß eine einheitliche deutsche Arbeiterpartei geschaffen werden soll, durchaus positiv. Aber sie setzten dabei voraus, daß die Vereinigung sich auf einer bestimmten prinzipiellen Grundlage vollziehen müsse, und zwar unter der Bedingung, daß die Lassalleaner ihre kleinbürgerliche Ideologie und ihre sektiererischen Dogmen aufgeben und als Grundlage des gemeinsamen Programms der geeinten Arbeiterpartei die Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus angenommen würden. Als sie erfuhren, daß diese Hauptbedingung nicht beachtet und in der Jagd nach „Einheit um jeden Preis" ein durch und durch opportunistisches Programm entworfen worden war, unterzogen sie diesen Entwurf einer scharfen Kritik und einer gründlichen, wissenschaftlichen Untersuchung. Großen Raum widmet Engels in seinem Brief der Kritik an solchen Leitsätzen des Programmentwurfs wie der von Lassalle entlehnten Phrase, im Verhältnis zur Arbeiterklasse seien alle übrigen Klassen, darunter folglich auch die Bauernschaft, nur eine „reaktionäre Masse", oder dem Lassalleschen „ehernen Lohngesetz", das auf der Malthusschen Bevölkerungstheorie basiert. Als einzige soziale Forderung ist im Programmentwurf die Lassallesche „Staatshilfe" für „Produktivgenossenschaften" enthalten. Damit wird die Illusion erzeugt, das Proletariat könne seine Befreiung nicht durch Klassenkampf, sondern mit Hilfe des reaktionären deutschen, junkerlich-bourgeoisen Staates erreichen. Der Programment
wurf für den Gothaer Parteitag ignorierte vollständig solche für den Erfolg des proletarischen Kampfes lebenswichtigen Fragen wie die internationale proletarische Solidarität, ihre Unterstützung und Entwicklung; die Rolle der Gewerkschaften, ihre Beziehung zur Partei der Arbeiterklasse, die Einstellung zum Streikkampf usw. Engels kritisiert sehr scharf die dem wissenschaftlichen Sozialismus widersprechende vulgär-idealistische These vom „freien Staat", die Idee von dem angeblich über den Klassen stehenden Staat. Er unterstreicht in diesem Zusammenhang den Gedanken, daß das Proletariat, nachdem es die Macht erobert hat, den von ihm geschaffenen Staat gebrauchen muß, zur „Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann", d.h. wenn die kommunistische Gesellschaft gesiegt hat, „hört der Staat als solcher auf zu bestehen" (siehe vorl. Band, S. 7). Schon die Pariser Kommune, die den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen hatte, war, wie Engels bestätigt, kein Staat im eigentlichen Sinne mehr, da sie nicht die Mehrheit, sondern nur die Minderheit (die Ausbeuter) niederhalten mußte und ihr dabei die ganze Bevölkerung half. Engels' Ansichten über Fragen des Staates, die er in seinem Brief an Bebel darlegt, werden von W.I.Lenin in „Staat und Revolution" hoch eingeschätzt (W.I.Lenin, Werke, Band 25, Berlin 1960, S.453-455). In den siebziger und achtziger Jahren verfolgten Marx und Engels besonders aufmerksam die Arbeiterbewegung in Deutschland, wohin sich nach der gewaltsamen Niederwerfung der Pariser Kommune das Zentrum der proletarischen Bewegung verlagert hatte. Sie halfen der deutschen sozialdemokratischen Partei systematisch, gaben in ihren Briefen den führenden Funktionären wichtige praktische Ratschläge und Hinweise und lenkten deren Aufmerksamkeit auf Gefahren, die einer gesunden Entwicklung der Partei drohten. Der im Band aufgenommene Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a. ist ein weiteres wichtiges Dokument und ein Beweis dafür, wie Marx und Engels den Kampf um die richtige politische Linie in der deutschen sozialdemokratischen Partei führten. Im Zirkularbrief brachten sie ihre unversöhnliche Haltung gegen den Opportunismus unmißverständlich zum Ausdruck. Die rasche Entwicklung der deutschen sozialdemokratischen Partei und ihr wachsender Einfluß unter den Arbeitern wurden ein ernstes Hindernis für die junkerlich-bourgeoise Regierung Deutschlands. Um dieses zu beseitigen, ließ Bismarck Ende 1878 mit Unterstützung der Junker und der Bourgeoisie im Reichstag das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten
annehmen. Mit einem Schlage wurde jede legale Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei gewaltsam unterbrochen und die Partei faktisch für außerhalb des Gesetzes stehend erklärt. Die Parteiführung zeigte sich diesem Schlag gegenüber völlig unvorbereitet. Sie verlor so sehr die Fassung, daß sie beschloß, Parteiorganisation und Vorstand aufzulösen, statt sich sofort umzubilden und in die Illegalität zu gehen, um als Antwort auf das Ausnahmegesetz den Kampf aufzunehmen. Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes und der Desorganisation in der Leitung, die nicht die notwendige Standhaftigkeit und revolutionäre Entschlossenheit zeigte, wuchs der Opportunismus zusehends. Ein Teil der labilen Elemente bezog eine anarchistische Position. Ein anderer Teil, der in der Partei, besonders in der Parlamentsfraktion, eine angesehene Stellung innehatte, vertrat bedenkenlos die Linie der Liquidation und erhob Opportunisten, wie Höchberg, Bernstein und Schramm, zu Ideologen dieser Linie. Im „Zirkularbrief" enthüllen die Führer des Proletariats vor allem das kapitulantenhafte Wesen der Anführer des rechten Flügels, die in Zürich das „Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Socialpolitik", ein Sprachrohr des Opportunismus, herausgaben. „Statt entschiedner politischer Opposition", schreiben Marx und Engels, „allgemeine Vermittlung; statt des Kampfs gegen Regierung und Bourgeoisie - der Versuch, sie zu gewinnen und zu überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Mißhandlungen von oben - demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient." (Siehe vorl. Band, S. 163.) Mit aller Schärfe verurteilen sie diese Ansichten und weisen darauf hin, daß ein solches Verhalten in einer proletarischen Partei unzulässig ist. „Meinen sie, was sie schreiben, so müssen sie aus der Partei austreten, mindestens Amt und Würden niederlegen" (siehe vorl. Band, S. 160), erklären Marx und Engels und versuchen alles, um die Opportunisten vom Partei vorstand zu isolieren. In ihrer Kritik an der versöhnlerischen Haltung der sozialdemokratischen Parteiführung enthüllen Marx und Engels im „Zirkularbrief" klar und überzeugend die klassenpolitischen und ideologischen Wurzeln des Opportunismus und begründen prinzipiell die Linie der Partei. Im „Zirkularbrief" kommt besonders eindrucksvoll ihre konsequente, parteiliche Haltung und ihre revolutionäre Uberzeugung zum Ausdruck. „Was uns betrifft", schreiben sie, „so steht uns nach unsrer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Geschichte und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir können also unmöglich mit Leuten Zusammengehn,
die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen." (Siehe vorl. Band, S. 165.) Durch das energische Auftreten von Marx und Engels zogen sich die Opportunisten zurück. Der Klasseninstinkt der Arbeitermassen, die Kritik, die Ratschläge und die Hilfe der beiden Führer des internationalen Proletariats verbesserten die Situation in der deutschen Partei. Es gelang ihr in der Zeit des Sozialistengesetzes, trotz Verfolgungen aller Art, ihre Reihen zu festigen, die Parteiorganisation umzugestalten, den richtigen Weg zu den Massen zu finden, weil sie es verstand, die legalen und illegalen Formen des Kampfes auszunutzen und miteinander zu verbinden. Der im Band veröffentlichte Aufsatz „Karl Marx" von Engels ist ein populärer Lebensabriß, eine Skizze über die wissenschaftliche und politische Tätigkeit des großen Begründers der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus und Führers des internationalen Proletariats. Dieser Aufsatz unterstützte die Propagierung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus unter den deutschen Arbeitern. Mit seiner Schrift über Wilhelm Wolff, den bedeutenden Funktionär der deutschen Arbeiterbewegung, den treuen Mitkämpfer und Freund von Marx und Engels, verfolgte Engels das Ziel, in den deutschen Arbeitern und Bauern Erinnerungen an die revolutionären Traditionen von 1848/49 wachzurufen und das Bemühen der „Neuen Rheinischen Zeitung", die ausgebeuteten Massen der Bauernschaft auf die Seite der Arbeiterklasse zu ziehen, zu popularisieren. In dieser Arbeit werden von Engels eine Reihe wichtiger Verallgemeinerungen über die sozialökonomische Entwicklung Deutschlands formuliert. Auch Engels' Artikel „Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag" trug dazu bei, die junge deutsche Arbeiterpartei ideologisch zu festigen. Deutschland war damals eben erst vereinigt, war einheitlicher Nationalstaat geworden, aber nicht auf dem von Marx und Engels erstrebten Weg, nicht von unten, nicht als Ergebnis einer erfolgreichen demokratischen Revolution, sondern von oben - durch „Blut und Eisen", unter der Hegemonie des preußischen Staates der Junker, der Bourgeoisie und der Militaristen. Unter diesen Verhältnissen hielt es Engels für seine Pflicht, den deutschen Arbeitern den reaktionären Klassencharakter des Deutschen Reichs und seiner Regierung klarzumachen, deren Vertreter Junker, „Meister in Schnapsgeschäften", Börsenjobber und Großunternehmer waren. Die in diesem Band enthaltenen Aufsätze von Engels „Das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten in Deutschland - Die Lage in Rußland" (für
das italienische sozialistische Organ „La Plebe" geschrieben) und „Bismarck und die deutsche Arbeiterpartei" (in der englischen Zeitung „The Labour Standard" erschienen) lassen erkennen, daß er großen Wert darauf legte, den Arbeitern das wahre Wesen des bürgerlichen Staates zu enthüllen, ihnen den Haß der Vertreter dieses Staates gegen die proletarische Partei vor Augen zu führen, den erfolgreichen Kampf und die Erfahrungen der Partei zu propagieren und im Proletariat die internationale Klassensolidarität zu wecken und zu festigen. Im Bestreben, die Arbeiter aller Länder zur unverbrüchlichen Treue zum proletarischen Internationalismus zu erziehen, informierten Marx und Engels ständig die leitenden Funktionäre der deutschen sozialdemokratischen Partei über die Ereignisse in anderen Ländern, sammelten Material darüber, schrieben Aufsätze über die Arbeiter- und die sozialistische Bewegung und veröffentlichten sie in den Publikationsorganen der verschiedenen Arbeiterparteien. Engels, der in ständiger Verbindung mit den italienischen Sozialisten stand, schrieb für den „Vorwärts" den Artikel „Aus Italien" (siehe vorl. Band, S. 91—95), in dem er den deutschen Arbeitern von der Entwicklung der sozialistischen Bewegung unter den italienischen Arbeitern berichtet und schildert, wie dort der Einfluß der Anarchisten zurückgedrängt wird. Vorher setzte Engels die italienischen Sozialisten von den Erfolgen der deutschen Partei in Kenntnis. Der in diesem Band veröffentlichte Brief von Engels an den angesehenen Funktionär der italienischen sozialistischen Bewegung Enrico Bignami über die deutschen Wahlen von 1877 wurde auf dem Kongreß der Arbeiter der Oberitalienisc'nen Föderation verlesen und erschien dann in der Zeitung „La Hebe". Im Januar 1878 schrieb Engels für diese Zeitung den Artikel „Die Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Rußland". Im Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Partei „Der Sozialdemokrat" erschien Engels' Schrift über „Bruno Bauer und das Urchristentum", in der Engels vom Standpunkt des dialektischen Materialismus und des proletarischen Atheismus Fragen über Herkunft und Wesen des Christentums wissenschaftlich klärt. In den 1878 entstandenen Aufsätzen - „Die europäischen Arbeiter im Jahre 1877" von Friedrich Engels und „Herrn George Howells Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation" von Karl Marx - wird die Situation in der internationalen Arbeiterbewegung eingeschätzt, der Kampf um die Schaffung von Arbeiterparteien in Europa und in den USA analysiert und werden die Traditionen der Internationalen Arbeiterassoziation propagiert.
Engels weist in seinem Aufsatz auf wesentliche Fakten hin, die für die Arbeiterbewegung einer ganzen Reihe von Ländern charakteristisch sind, und stellt fest, daß sich überall die Arbeiterbewegung nicht nur erfolgreich, sondern auch schnell und, was besonders wichtig ist, in ein und derselben Richtung entwickelte: Überall zeichnete sich das Bemühen der Arbeiter ab, eigene Parteien zu schaffen. Es wurde offensichtlich, daß die Anarchisten mit ihrem Dogma, die Arbeiter vom politischen Kampf fernzuhalten, bei den Wahlen in die bürgerlichen Parlamente eine Abfuhr erhielten. Es fanden sich Mittel und Wege, um die Verbindung zwischen den Arbeiterorganisationen und den Sozialisten der verschiedenen Länder aufrechtzuerhalten. Engels analysiert außerdem gründlich die Lage der Arbeiterklasse in Frankreich, wobei er ihre Rolle bei der Entwicklung der Geschicke des Landes und ihr politisches Bewußtsein, vor allem im Hinblick auf die aktive Verteidigung der Republik gegen die Anschläge monarchistischer Elemente, sehr hoch einschätzt. Für sehr bedeutend hält Engels die Tatsache, daß die französische Bauernschaft ihre politische Haltung zu ändern begann, von den bonapartistischen Illusionen abging und für die Verteidigung der Republik eintrat. Engels gibt den französischen Arbeitern den Rat, unverzüglich eine eigene, unabhängige Klassenorganisation zu schaffen, und ruft die französischen Bauern auf, sich mit den Arbeitern der Städte zu verbünden. Engels gibt ferner eine klare Charakteristik: von der Situation in Rußland nach der Reform von 1861. Dabei stellt er fest, daß die inneren und äußeren Umstände des Landes „von ganz besonderer Art sind und in ihrem Schoß Ereignisse von höchster Bedeutung hinsichtlich der Zukunft nicht nur der Arbeiter Rußlands, sondern der Arbeiter ganz Europas tragen". Mit dem Sturz des Absolutismus und dem Sieg der Revolution in Rußland verbanden Marx und Engels die Hoffnung auf eine unvermeidliche Veränderung der ganzen gesellschaftspolitischen Situation in Europa. Sie riefen die Arbeiter aller Länder auf, den künftigen Sieg des russischen Volkes „als einen Riesenschritt zu dem gemeinsamen Ziel - der allgemeinen Befreiung der Arbeit" zu begrüßen. (Siehe vorl. Band, S. 133 und S. 137.) Engels betont, daß die Parteien der Arbeiterklasse - dort, wo sie entstanden waren - bei ihrer Tätigkeit in der Regel'dem gemeinsamen Aktionsplan folgten, der von der Internationalen Arbeiterassoziation aufgestellt worden war und der den realen Erfordernissen der proletarischen Bewegung Rechnung trug. Dieser Plan, schrieb Engels, paßt „sich den verschiedenartigen Bedingungen jeder Nation ... frei an, ist dennoch überall in seinen Grundzügen derselbe und gibt so Gewähr für einheitliche Absichten und
allgemeine Übereinstimmung in den Mitteln, die man anwendet, um das gemeinsame Ziel - die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst - zu erreichen" (siehe vorl. Band, S. 124). In seinem Aufsatz „Herrn George Howells Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation" weist Marx vor allem darauf hin, daß die Arbeiterbewegung in Europa und Amerika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre anwächst und die Formierung sozialistischer Parteien durch die Arbeiter selbst beschleunigt wird. Als sehr wichtiges Moment hebt Marx die Rolle der französischen Arbeiterklasse hervor, die nach der blutigen Unterdrückung und Verfolgung durch die Bourgeoisie im Jahre 1871 wieder zum aktiven politischen Leben zurückkehrt. Als nächste bedeutende Tatsache unterstreicht er die aktive Beteiligung der Slawen, insbesondere Polens, Böhmens und Rußlands, an der internationalen Arbeiterbewegung. Für besonders wertvoll hält Marx in der genannten Periode die ständige, wirksame, unmittelbare Information und den Erfahrungs- und Ideenaustausch zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder, der vorbereitet worden war durch die Tätigkeit der Internationalen Arbeiterassoziation, indem sie die Proletarier aller Länder gelehrt hatte, wie notwendig und wichtig die gegenseitige Hilfe und Solidarität im Kampfe ist. Vom Standpunkt des „insularen Philisters" George Howell (Funktionär der englischen Trade-Unions, Renegat) war die Tätigkeit der Internationalen Arbeiterassoziation ein Fehlschlag, hatte sich die Internationale gewissermaßen „überlebt". Marx weist die falschen Behauptungen Howells entschieden zurück und schreibt am Schluß seines Artikels: „So ist die Internationale, anstatt abzusterben, bloß aus ihrer ersten Inkubationsperiode in eine höhere Phase getreten, in der bereits ihre ursprünglichen Bestrebungen zum Teil Wirklichkeit geworden sind. Im Laufe dieser fortschreitenden Entwicklung wird sie noch manche Veränderungen durchzumachen haben, bevor das letzte Kapitel ihrer Geschichte geschrieben werden kann." (Siehe vorl. Band, S. 147.) Viel Aufmerksamkeit widmen Marx und Engels der französischen Arbeiterbewegung und den französischen Sozialisten. Sie beteiligen sich unmittelbar an der Ausarbeitung programmatischer Dokumente und an der Festlegung der politischen Linie der Partei. Als die Führer der soeben erst gebildeten französischen Arbeiterpartei 1880 nach London kamen, um Marx' und Engels' Hilfe bei der Abfassung des Programms zu erbitten, waren Marx und Engels bereit, mit ihnen alle Programmpunkte bis ins einzelne zu erörtern. Sie erhielten von Marx Vorschläge für den theoretischen Teil (siehe vorl. Band, S. 238) oder, wie Engels sich ausdrückte, „die
kommunistische Begründung" des Programms. Das Programm der französischen Arbeiterpartei war frei von den opportunistischen Fehlern des Gothaer Programms und spielte eine positive Rolle in der Entwicklung der sozialistischen Bewegung Frankreichs. Um bei der Schaffung und Festigung der marxistischen Arbeiterpartei Frankreichs, ihrer ideologischen Abgrenzung vom Anarchismus, vom kleinbürgerlichen Sozialismus und von dem in Sektierertum ausgearteten Sozialismus der Utopisten zu helfen, schrieb Engels „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1880). In dieser bedeutenden Schrift sind die theoretischen Grundlagen der proletarischen Weltanschauung, die Hauptthesen des wissenschaftlichen Sozialismus dargelegt. Indem Engels die Hauptetappen der Entwicklung der Philosophie verfolgt, zeigt er, wie der dialektische und historische Materialismus vorbereitet worden war, wie - dank der zwei großen Entdeckungen von Marx: der materialistischen Geschichtsauffassung und der Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts - der Sozialismus zur Wissenschaft wurde. Nachdem Engels den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen und dem utopischen Sozialismus aufgedeckt, die historische Rolle des utopischen Sozialismus und dessen Schwächen nachgewiesen hat, erklärt er die Voraussetzungen für die Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus. Im Schlußkapitel seiner Schrift weist Engels nach, daß der Hauptwiderspruch des Kapitalismus - der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der kapitalistischen Aneignung - nur durch die proletarische Revolution gelöst werden kann und erklärt: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum", es schafft damit der Entfaltung ihrer gesellschaftlichen Natur volle Freiheit, es ermöglicht die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion nach einem vorher festgelegten Plan. Die Menschen beherrschen die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und wenden sie bewußt im Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft an. Engels sagt dazu: „Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit... Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats." (Siehe vorl. Band, S. 226 und S. 228.) „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" war ein sehr wichtiger Beitrag von Engels zur Verbreitung des Marxismus unter den Arbeitern und der sozialistisch gesinnten Intelligenz.
Für die französische Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" schrieb Marx eine besondere Einführung. Er charakterisiert darin Engels als einen der „hervorragendsten Vertreter des modernen Sozialismus" und teilt die wesentlichsten Tatsachen aus Engels' Leben und seiner revolutionären Tätigkeit mit. Marx nennt „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" eine „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus" (siehe vorl. Band, S. 185). Im vorliegenden Band wird auch der 100 Fragen enthaltende „Fragebogen für Arbeiter" veröffentlicht, den Marx für die französischen Sozialisten verfaßt hatte. Dieser Fragenkomplex diente der allseitigen Erforschung der ökonomischen, physischen, geistigen und moralischen Lebensund Kampfbedingungen des städtischen und ländlichen Proletariats. Eine derartige Befragung hätte dazu beitragen können, die mannigfaltigen Formen und Methoden, mit denen die Arbeiterklasse ausgebeutet wurde, genau festzustellen und zu entlarven, sowie der proletarischen Partei die Möglichkeit zu geben, in ihrer ganzen Tätigkeit bei der Leitung der Arbeiterbewegung von präzisen statistischen Angaben auszugehen. Marx, der die Einwilligung gegeben hatte, in der „Egalite" (Organ der französischen Arbeiterpartei) sein Werk „Misere de la philosophie" zu veröffentlichen, schreibt dazu einige einführende Worte, in denen er erklärt, diese Arbeit und das „Manifest der Kommunistischen Partei" können „zur Einführung... in das Studium des .Kapitals'" dienen. (Siehe vorl. Band, S.229.) Von der aktiven Teilnahme der Begründer des Marxismus an der französischen Arbeiterbewegung zeugen auch Engels' Veröffentlichungen in verschiedenen sozialistischen Presseorganen Frankreichs', insbesondere in der Zeitung „L'Egalite", die große Popularität unter den französischen Arbeitern besaß und eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus spielte. In der „Egalite" erschien z.B. Engels' Artikel „Der Sozialismus des Herrn Bismarck", worin Bismarcks Demagogie entlarvt wird. Die Einführung der Zolltarife, die Umwandlung der wichtigsten Eisenbahnlinien in Staatseigentum bezeichnete Bismarck als „soziale Maßnahme", in Wirklichkeit dienten diese Maßnahmen ausschließlich dem Interesse der herrschenden Klassen. Diese Entlarvung Bismarcks durch Engels war vortrefflich dazu geeignet, den Stand der politischen Bildung in der jungen französischen Arbeiterpartei zu heben. Sein Artikel war gegen jene gerichtet, die von einer Bewegung zum Sozialismüs unter Beibehaltung der Klassenherrschaft der Kapitalisten und Großgrundbesitzer faselten.
Marx und Engels kämpften gegen die Erscheinungen des rechten Opportunismus, der als Folge direkter Einwirkungen der Bourgeoisie und ihrer Ideologie auf die Arbeiterklasse entstanden war. Sie traten dabei leidenschaftlich gegen die Versuche auf, die revolutionären Prinzipien der proletarischen Lehre zu entstellen. Sie kämpften aber auch gegen die andere Gefahr, die der internationalen Arbeiterbewegung drphte: gegen das Sektierertum und den damit verbundenen Doktrinarismus und Dogmatismus, die schon immer die schöpferische Anwendung und Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und die erfolgreiche Entwicklung der Arbeiterbewegung gehemmt haben. Es waren besonders die englischen und amerikanischen Sozialisten, die wegen ihrer sektiererischen und dogmatischen Haltung häufig von Marx und Engels kritisiert und beharrlich aufgefordert wurden, sich eng mit den Massen, mit der Arbeiterbewegung zu verbinden und den sektiererischen Geist aus ihren Organisationen zu verbannen. Ein glänzendes Beispiel dafür, wie ein proletarischer Führer über die Köpfe opportunistischer Führer hinweg unmittelbar an die Masse der Arbeiter appelliert, sind die im vorliegenden Band enthaltenen elf Artikel von Engels („Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk", „Das Lohnsystem", „Die Trade-Unions", „Eine Arbeiterpartei" u.a.), die im Organ der englischen Trade-Unions „The Labour Standard" erschienen. Der hohe theoretische Inhalt dieser Artikel ist einfach und allgemeinverständlich dargelegt. Engels erklärt darin den englischen Arbeitern, daß eine rein gewerkschaftliche Organisation, die nur den ökonomischen Kampf um die Erhöhung des Arbeitslohnes und die Verkürzung des Arbeitstages führt, unzulänglich ist. Er erläutert das Wesen der von Marx geschaffenen proletarischen politischen Ökonomie und die Notwendigkeit des politischen Kampfes für die Beseitigung des kapitalistischen Systems und für die Eroberung der Macht durch das Proletariat. Er ruft die Arbeiter auf, die Gewerkschaften in Kampf Organisationen der Massen umzuwandeln, sie mit neuem, politischem Leben zu erfüllen und außerdem eine selbständige politische Organisation der Arbeiterklasse - eine proletarische Partei - zu schaffen, die diese Gewerkschaften leitet. In dem Artikel „Notwendige und überflüssige Gesellschaftsklassen" richtet Engels an die englischen Arbeiter den Aufruf, sich ihrer großen historischen Mission bewußt zu werden und sich darauf vorzubereiten, Herren der von ihnen geschaffenen Reichtümer zu werden und den ganzen Ablauf der gesellschaftlichen Produktion materieller Güter in ihre eigenen Hände zu nehmen. „Die ökonomische Entwicklung unserer modernen Gesellschaft", schreibt Engels, „hat mehr und mehr die Tendenz zur
Konzentration, zur Vergesellschaftung der Produktion in Riesenunternehmen, die nicht mehr von einzelnen Kapitalisten geleitet werden können... Was aber der Herr nicht zu tun vermag - die Arbeiter... können es tun tfnd tun es mit Erfolg... So finden wir nicht nur", schließt er, „daß wir ohne die Einmischung der Kapitalistenklasse in die großen Industrien des Landes sehr gut fertig werden können, sondern wir finden auch, daß ihre Einmischung sich mehr und mehr zu einer Plage auswächst." (Siehe vorl. Band, S.290.) In den siebziger und achtziger Jahren verfolgen Marx und Engels mit besonderem Interesse die Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika. Marx widmet besondere Aufmerksamkeit dem ungewöhnlich raschen Tempo der ökonomischen Entwicklung in den USA, dem außergewöhnlichen Konzentrationsprozeß des Kapitals und der wachsenden Macht großer Gesellschaften, die Industrie, Handel, Grund und Boden, Eisenbahnen und Finanzen in ihren Händen halten. Engels lenkt in einem speziellen Artikel, der im „Sozialdemokrat" erscheint, die Aufmerksamkeit der europäischen Sozialisten auf den Konzentrationsprozeß des Kapitals in den USA (siehe vorl. Band, S.306-308). Die ungeheure Geschwindigkeit, mit der sich dieser Prozeß vollzog, die zunehmende Monopolisierung und der steigende Einfluß großer Gesellschaften ließen in Marx und Engels die Überzeugung reifen, daß die Arbeiterklasse in den USA unvermeidlich mit dieser zusammengeballten erbarmungslosen Macht in Konflikt geraten und erkennen wird, daß es aussichtslos ist, auf Verbesserung ihrer Lage zu hoffen, solange die Macht des Großkapitals nicht vernichtet ist. In der Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei" zeigen Marx und Engels die Ursachen der raschen ökonomischen Entwicklung in den USA und folgern, daß auch in den USA die Zukunft dem Proletariat gehören wird, das im gleichen Maße wächst, wie die schier unvorstellbare Konzentration des Kapitals voranschreitet. Neben ihrer ununterbrochenen aktiven Hilfe für die internationale Arbeiterbewegung und die sozialistischen Parteien setzen Marx und Engels gleichzeitig ihre wissenschaftliche Arbeit fort. Die im Abschnitt „Aus dem handschriftlichen Nachlaß" veröffentlichten „Randglossen zu Adolph Wagners .Lehrbuch der politischen Ökonomie'" sind von großem theoretischen Interesse. Wagner, der mit pseudo-sozialistischen Phrasen spekulierte, war ein Vertreter der sog. sozialrechtlichen Schule der bürgerlichen politischen Ökonomie und ein treuer Diener der deutschen Bourgeoisie und des Junkertums. Marx kritisiert Wagners Behauptungen und Schlußfolgerun
gen, formuliert wichtige Thesen der Werttheorie und kommentiert und vertieft die im ersten Band des „Kapitals" enthaltenen entsprechenden Gedanken. In seinen „Randglossen" verallgemeinert Marx eine ganze Reihe von Erkenntnissen hinsichtlich seiner Analyse der Ware, der Grundlage ihres „Doppelseins", das sich darstellt im zwiefachen Charakter der Arbeit, deren Produkt die Ware ist: der „nützlichen Arbeit, i.e. den konkreten Modi der Arbeiten, die Gebrauchswerte schaffen, und der abstrakten Arbeit, der Arbeit als Verausgabung der Arbeitskraft, gleichgültig in welcher .nützlichen* Weise sie verausgabt werde" (siehe vorl. Band, S.370). Marx weist darauf hin, welche Rolle in seiner Analyse der Gebrauchswert im Vergleich zur bürgerlichen politischen Ökonomie spielt; er betont, daß bei ihm der Gebrauchswert „immer nur in Betracht kommt, wo solche Betrachtung aus der Analyse gegebner ökonomischer Gestaltungen entspringt, nicht aus Hin- und Herräsonieren über die Begriffe oder Worte .Gebrauchswert' und ,Wert'" (siehe vorl. Band, S.371). Mit diesen Worten gibt Marx eine treffende Antwort den bürgerlichen und revisionistischen Verfälschern der marxistischen politischen Ökonomie, die hartnäckig ihre alte „These" wiederholen, Marx habe angeblich ein „abstraktes" System geschaffen, das im Widerspruch zur kapitalistischen Wirklichkeit stehe. In den „Randglossen" zu Adolph Wagners Buch liefert Marx den unwiderlegbaren Beweis, daß in seiner Forschung nicht von irgendeinem rein abstrakten, ausschließlich logischen Prozeß die Rede ist, sondern von der realen ökonomischen Wirklichkeit und ihrer Widerspiegelung im Denken. In den vorliegenden Band sind drei Manuskripte von Engels aufgenommen worden. Eines von ihnen („Bemerkung zu Seite 29 der .Histoire de la commune'") ist der Geschichte Frankreichs am Vorabend der Pariser Kommune gewidmet. Engels analysiert hier glänzend die Ereignisse des Deutsch-Französischen Krieges und die verräterischen Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Thiers und den Preußen im Herbst 1870. Die Manuskripte „Zur Urgeschichte der Deutschen" und „Fränkische Zeit" zeugen von Engels' umfassendem Fachwissen und davon, wie gründlich er bei seiner wissenschaftlichen Arbeit die historischen Quellen erforschte und analysierte. In der Arbeit „Fränkische Zeit" legt Engels dar, wie sich die Voraussetzungen für das Entstehen des Privateigentums an Grund und Boden herausbildeten, wie der Konzentrationsprozeß des Grundeigentums verlief, die Klasse der feudalen Großgrundbesitzer und die Klasse der von
ihnen abhängigen Bauern entstanden, wie sich die Staatsmacht bildete und was das Fränkische Reich darstellte. Engels widmete der Linguistik und der Philologie viel Aufmerksamkeit. Äußerst bewandert in den Hauptproblemen der Sprachwissenschaft und ausgezeichneter Kenner der linguistischen Richtungen seiner Zeit, verfolgte Engels interessiert die Literatur auf diesem Gebiet, insbesondere Fragen der vergleichenden Grammatik der deutschen, romanischen und slawischen Sprachen, und beschäftigte sich mit speziellen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen. Seine Arbeit über den fränkischen Dialekt ist ein Musterbeispiel für die Anwendung des historischen Materialismus auf die Sprachwissenschaft. In direkter Beziehung zu Engels' Forschungen über die Urgeschichte der Deutschen steht die von ihm 1882 veröffentlichte Arbeit „Die Mark*. Uber diese Abhandlung schreibt Engels am 22. Dezember 1882 an Bebel folgendes: „Es ist die Erstlingsfrucht meiner seit einigen Jahren betriebenen Studien über deutsche Geschichte, und es freut mich sehr, daß ich sie nicht zuerst den Schulmeistern und sonstigen ,Jebildeten\ sondern den Arbeitern vorlegen kann." Er analysiert in dieser Arbeit kurz aber außerordentlich inhaltsreich die allgemeinen Entwicklungswege der Agrarverhältnisse und die historischen Geschicke der Bauern in Deutschland. Engels bekräftigt noch einmal die von Marx und ihm aufgestellte These, daß für die erfolgreiche Entwicklung und für den Sieg der proletarischen Revolution ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft notwendig ist. Er bekräftigt ferner die grundlegende These des wissenschaftlichen Sozialismus über die Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit des Übergangs zum gemeinschaftlichen Eigentum und zur gemeinschaftlichen Produktion nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft. Nur der Übergang zum gemeinschaftlichen Eigentum, betont Engels in der „Mark", wird den landwirtschaftlichen Produzenten die Möglichkeit sichern, einen Großbetrieb zu organisieren und erfolgreich zu entwickeln, alle seine Vorteile auszunutzen (Anwendung von Maschinen, Erkenntnissen der Wissenschaft, Errungenschaften der Technik usw.) und damit ihren schöpferischen Beitrag zum Aufbau der neuen, kommunistischen Gesellschaft zu leisten. In vielen Werken, die in diesem Band enthalten sind, ist auf die eine oder andere Art Rußland erwähnt, wird die Rolle Rußlands, seine innere und äußere Lage und die sich im Lande entfaltende revolutionäre Bewegung behandelt. Rußland tritt als integrierendes Glied in der Kette gesamteuropäischer Ereignisse in Erscheinung, als ein Land, das sich am Vor
abend großer revolutionärer Veränderungen befindet. Im Januar 1878 schrieb Engels an die italienischen Sozialisten (in dem Artikel „Die Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Rußland"): „Rußland ist jenes Land,... das in naher Zukunft die bedeutendste Rolle spielen wird." (Siehe vorl. Band, S. 114.) Ein Jahr später erklärt er: „Seit einigen Jahren lenke ich die Aufmerksamkeit der europäischen Sozialisten auf „den Zustand Rußlands, wo sich eine entscheidende Bewegung vorbereitet." (Siehe vorl. Band, S. 149.) In den speziell Rußland gewidmeten und an den russischen Leser gerichteten Arbeiten von Marx und Engels beeindruckt die Fülle theoretischer und politischer Einschätzungen - ein Ergebnis ausgezeichneter Kenntnis der konkreten sozialökonomischen und politischen Verhältnisse Rußlands. In den siebziger Jahren erlebte Rußland eine umwälzende Epoche - den Übergang vom rückständigen, halbfeudalen System zum sich rasch entfaltenden Kapitalismus; eine Epoche, die von einer stürmischen Entwicklung der gesellschaftlichen Antagonismen und dem Anwachsen der revolutionären Kräfte begleitet war. Das Land befand sich, wie Marx und Engels mehrfach betonten, am Vorabend einer gewaltigen Revolution, deren Ergebnisse unweigerlich große internationale Bedeutung haben müßten, in erster Linie in dem Sinne, daß dadurch günstige Voraussetzungen für die Entwicklung der proletarischen Befreiungsbewegung geschaffen würden. Mit Beginn der siebziger Jahrie unternimmt Marx ein intensives Studium russischer Originalquellen über den Grundbesitz bzw. die Agrarverhältnisse allgemein. Die Analyse der russischen Wirtschaft, insbesondere der landwirtschaftlichen Produktion, nahm in Marx' Vorbereitungsarbeiten für den dritten Band des „Kapitals" einen sehr bedeutenden Platz ein. „Bei der Mannigfaltigkeit der Formen sowohl des Grundbesitzes wie der Ausbeutung der ackerbauenden Produzenten in Rußland", schrieb Engels im Vorwort zum dritten Band des „Kapitals", „sollte im Abschnitt über Grundrente Rußland dieselbe Rolle spielen wie im Buch I, bei der industriellen Lohnarbeit, England." (Karl Marx, „Das Kapital", Band 3, Berlin 1959, S.8.) Dank der vielen gesellschaftlichen, literarischen und freundschaftlichen Beziehungen zu Vertretern des gesellschaftlichen Lebens in Rußland erhielt Marx zahlreiche russische Bücher, verschiedene Dokumente, Zeitschriften usw. Viele sehr wertvolle und mannigfaltige Informationen verdankten Marx und Engels auch ihren direkten Verbindungen zu russischen Revolutionären, zu Vertretern der russischen Wissenschaft und Kultur. Ein umfangreicher Briefwechsel mit russischen Korrespondenten trug gleichfalls zur Vertiefung ihrer Kenntnisse über Rußland bei; so z.B. der Briefwechsel
mit Lopatin, Lawrow, Dmitrijewa-Tomanowskaja, Danielson, Kablukowa, Kowalewski, Plechanow, Vera Sassulitsch u.a. Marx' Studium der Probleme des Grundeigentums und der Grundrente an Hand russischer Materialien ermöglichte es ihm, rasch einen Einblick in das Leben des russischen Volkes und in die Entwicklung Rußlands zu gewinnen. Durch das systematische Studium der russischen Probleme, das Marx und Engels bis an ihr Lebenseride an Hand der besten Werke der sozialökonomischen und schöngeistigen Literatur Rußlands betrieben, konnten sie auch gut beobachten, in welchem Maße das revolutionäre Bewußtsein des russischen Volkes und der Protest gegen die Ausbeuter wuchs, wie sich der Volkskampf gegen den Zarismus, gegen die politische und soziale Unterjochung entfaltete. Mit vollem Recht erklärt Engels in einem Brief an Bebel vom 13. September 1886, daß er niemanden kenne, der „Rußland so gut verstand..., nach innen wie nach außen", wie Marx. In seinem Brief an die Redaktion der Zeitschrift „Otetschestwennyje Sapiski" (November 1877) schreibt Marx zu der Entwicklungstendenz Rußlands, „eine kapitalistische Nation zu werden", daß Rußland sich seit 1861 in dieser Richtung entwickle. Gleichzeitig verwahrt sich Marx ganz entschieden gegen die Behauptung, die der Volkstümler Michailowski in dem Artikel „Karl Marx vor dem Tribunal des Herrn Shukowski" aufstellt, daß er - Marx - gleich den russischen Liberalen die Vernichtung der russischen bäuerlichen Dorfgemeinde für dringend nötig halte, um zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung überzugehen. Marx protestiert energisch dagegen, seine Theorie von der kapitalistischen Produktionsweise als einen Schlüssel zu betrachten, mit dessen Hilfe man den Entwicklungsgang jedes beliebigen Landes bestimmen könne, unabhängig von den historischen Gegebenheiten. Als Antwort auf die Frage, ob Rußland der kapitalistischen Entwicklung entgehen könne, empfiehlt Marx vor allem, die russischen Materialien über die sozialökonomische Entwicklung des Landes allseitig zu studieren und zu analysieren sowie das historische Milieu zu beachten, in dem sich Rußland befindet. Der Sturz des Zarismus schien Marx im Jahre 1877 nahe bevorzustehen. Er war der Meinung, daß die russische Revolution günstige Voraussetzungen für den Sieg des westeuropäischen Proletariats schaffen wird, während das westeuropäische Proletariat seinerseits helfen kann, Rußland den kapitalistischen Entwicklungsweg zu ersparen. Diese Konzeption von Marx hatte nichts mit dem Traum der Volkstümler gemeinsam, ohne Entwicklung der Großindustrie, nur mit Hilfe der russischen Dorfgemeinde zur sozialistischen Gesellschaftsordnung zu gelangen.
Mit dieser letzten Frage beschäftigt sich auch ein anderer Brief von Marx, der 1881 geschrieben wurde und an V.I.Sassulitsch gerichtet ist. „Die zerstörenden Einflüsse", die von allen Seiten auf die russische Dorfgemeinde einstürmten, konnte nach Marx* Ansicht nur die russische Volksrevolution beseitigen, unterstützt durch eine proletarische Revolution in Westeuropa. Die theoretische Bedeutung und die große historische Aktualität der in den beiden genannten Dokumenten enthaltenen marxistischen These von der Möglichkeit, daß einige Völker unter gewissen entsprechenden historischen Umständen den kapitalistischen Entwicklungsweg vermeiden können, wurde durch das Leben, durch die revolutionäre Praxis in der UdSSR und im sozialistischen Lager vollauf bestätigt. In ihrem Brief vom 16. Februar 1881 teilte Vera Sassülitsch Marx mit, welche Rolle das „Kapital" in den Auseinandersetzungen der russischen Sozialisten über die Geschicke des Kapitalismus in Rußland spielte, und bat ihn im Namen ihrer Mitkämpfer, der russischen „revolutionären Sozialisten", seine Ansichten zu dieser Frage und insbesondere zu Problemen der russischen Dorfgemeinde zu äußern. Zum Zeitpunkt des Empfangs dieses Briefes (sowie eines Schreibens aus Petersburg vom Exekutivkomitee der Narodnaja Wolja mit gleichlautender Bitte) hatte Marx bereits viel Mühe verwandt auf das Studium sowohl der sozialökonomischen Verhältnisse Rußlands, als auch der inneren Struktur und des Zustandes der russischen Dorfgemeinde. Im Zusammenhang mit den erwähnten Schreiben leistete Marx eine umfangreiche zusätzliche wissenschaftliche Arbeit zur Verallgemeinerung der vorher studierten Quellen. Wie aus den im Abschnitt „Aus dem handschriftlichen Nachlaß" veröffentlichten Entwürfen von Marx für einen Antwortbrief an Vera Sassülitsch zu ersehen ist, wägte Marx auf das sorgfältigste jede Formulierung ab, bevor er seine endgültige, verhältnismäßig kurze Antwort abfaßte. In den Brief entwürfen formulierte er eine ganze Reihe von Thesen, die folgende Probleme betreffen: den Urtyp der kollektiven Produktion und dessen Charakter; Möglichkeit ünd Voraussetzungen zur Vermeidung des qualvollen kapitalistischen Entwicklungsweges; Ursachen des Verfalls und Bedingungen für die Erhaltung der Dorfgemeinde in Rußland; die Krise der kapitalistischen Produktionsweise; Formen der Expropriation der Bauernschaft; Ursachen der Erschöpfung des Bodens und der Verringerung der Fruchtbarkeit der Felder; Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit der kooperativen Arbeit in der Landwirtschaft, die im großen Maßstab organisiert werden muß; Umstände, die eine mechanisierte Bearbeitung des Bodens und kooperative Arbeitsformen in Rußland begünstigen.
Die in den Briefentwürfen enthaltenen Gedanken von Marx sind sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht von großem aktuellen Interesse für den Leser, für die kommunistischen Parteien aller Länder. Unter der Vielzahl der von Marx hinterlassenen Manuskripte über Rußland sind die in diesem Band veröffentlichten „Notizen zur Reform von 1861 und der damit verbundenen Entwicklung Rußlands" besonders wichtig. Zur Zeit, da Marx diese „Notizen" abfaßte (1881/1882), schickte er sich - wie aus dem Inhalt ersichtlich - bereits an, Bilanz aus seinem Studium der sozialökonomischen Entwicklung Rußlands zu ziehen, die studierten Materialien zu systematisieren und auszuwerten. Im Unterschied zur Auswertung anderer russischer Materialien, die Marx bis dahin in seinen Aufzeichnungsheften vornahm und die in ihrer Mehrzahl mit kritischem Kommentar versehene Auszüge aus Quellen darstellen oder Konspekte von Büchern sind, die Marx gelesen und zu denen er Bemerkungen gemacht hat, sind die „Notizen zur Reform" größtenteils eine Darlegung des Problems durch Marx selbst. Diese Notizen sind ein Ergebnis tiefschürfender Forschungsarbeit zu Problemen Rußlands und ergänzen das Bild über Marx* schöpferische wissenschaftliche Leistungen während der letzten Periode seines Lebens; sie zeigen das Verhältnis des großen Führers des internationalen Proletariats zum Leben und Kampf des russischen Volkes. In ihrer Adresse an das Slawische Meeting, das im März 1881 stattfand, bezeichnen Marx und Engels die Ermordung Alexanders II. als ein Symptom einer heranreifenden russischen Revolution. Schon damals sahen sie; voraus, daß die nahende Revolution in Rußland die Sache der Pariser Kommune fortsetzen wird und begrüßten die künftige „russische Kommune" (siehe vorl. Band, S. 244). In der Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei", das von beiden Begründern des wissenschaftlichen Kommunismus am 21 . Januar 1882 unterzeichnet worden ist, nennen Marx und Engels Rußland die „Vorhut der revolutionären Aktion in Europa". Marx und Engels waren, nach den Worten Lenins, „vom freudigsten Glauben an die russische Revolution und ihre gewaltige Bedeutung für die ganze Welt erfüllt" (W.I.Lenin, Werke, Band 12, Berlin 1959, S.374). Auch die polnische Frage betrachteten Marx und Engels vom Gesichtspunkt einer erfolgreichen Entwicklung der internationalen revolutionären Bewegung. Im vorliegenden Band sind der polnischen Frage ebenfalls einige Schriften der Begründer des Marxismus gewidmet (siehe insbeson
dere die Adresse „An das Meeting in Genf, einberufen zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830"). Am 14. März 1883 starb Karl Marx. Die in diesen Band aufgenommenen Nekrologe von Engels - „Entwurf zur Grabrede für Karl Marx", „Das Begräbnis von Karl Marx" und „Zum Tode von Karl Marx" - sind dem Gedenken des großen Lehrers und Führers des internationalen Proletariats gewidmet. Sie enthalten eine klassische Beurteilung der welthistorischen Bedeutung seiner theoretischen und praktischen revolutionären Tätigkeit und legen Zeugnis ab über die Trauer und Anteilnahme, die Marx* Tod in der ganzen Welt hervorgerufen hat. Engels teilt ferner Einzelheiten mit über den Umfang des von seinem großen Mitkämpfer und Freund hinterlassenen handschriftlichen Erbes. Das welthistorische Verdienst von Marx besteht darin, daß er zum erstenmal in der Geschichte eine wirklich wissenschaftliche Theorie der Entwicklung der Gesellschaft schuf und durch eine wissenschaftliche Analyse nachwies, daß der Sturz des Kapitalismus und der Sieg des Kommunismus notwendig und unausbleiblich sind. Marx und Engels legten das theoretische Fundament des Kommunismus, den dialektischen und historischen Materialismus - die wissenschaftliche Weltanschauung des Proletariats. Marx betrachtete die Wissenschaft, wie Engels betont, als „einen großen Hebel der Geschichte, eine revolutionäre Kraft im wahrsten Sinn des Wortes" (siehe vorl. Band, S.333). Marx und Engels vereinigten den von ihnen geschaffenen wissenschaftlichen Kommunismus mit dem Befreiungskampf des Proletariats und verwandelten dadurch die Theorie in eine mächtige Waffe zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU
Abweichend vom neunzehnten Band der Ausgabe in russischer Sprache enthält der neunzehnte Band der deutschen Ausgabe als Beilagen zusätzlich noch folgende Arbeiten von Friedrich Engels: „Vorwort zur ,Kritik des Gothaer Programms' von Karl Marx" (1891), „Vorwort zur vierten Auflage (1891) ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft'" und die „Einleitung zur englischen Ausgabe (1892) ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft'". Der Text des vorliegenden Bandes wurde an Hand von Originalen bzw. Fotokopien überprüft. Bei jeder Arbeit ist die für den Abdruck oder die
Ubersetzung herangezogene Quelle vermerkt. Ein Teil der fremdsprachigen Arbeiten wurde neu übersetzt, bereits vorhandene Übersetzungen wurden nochmals sorgfältig mit dem Originaltext verglichen. Die von Marx und Engels angeführten Zitate sind - soweit die Quellen zur Verfügung standen - ebenfalls überprüft worden. Längere Zitate werden zur besseren Übersicht in kleinerem Druck gebracht. Fremdsprachige Zitate und im Text vorkommende fremdsprachige Wörter oder Satzteile sind in Fußnoten übersetzt. In den deutschsprachigen Texten sind Rechtschreibung und Zeichensetzung, soweit vertretbar, modernisiert; der Lautstand der Wörter blieb unverändert. Alle in eckigen Klammern stehende Titel, Wörter und Wortteile stammen von der Redaktion. Offensichtliche Druck- bzw. Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Wiedergabe russischer Personennamen erfolgt nach der Duden-Transkription. Fußnoten von Marx und Engels sind durch Sternchen gekennzeichnet und mit einer kurzen Linie vom Text getrennt; Fußnoten der Redaktion sind mit einer durchgehenden Linie vom Text getrennt und durch hochgestellte Ziffern gekennzeichnet. Zur Erläuterung ist der Band mit Anmerkungen versehen, auf die im Text durch hochgestellte und in eckige Klammern gesetzte Zahlen hingewiesen wird; außerdem wird im Anhang beigefügt: ein Literaturverzeichnis, Daten über das Leben und die Tätigkeit von Marx und Engels, ein Personenverzeichnis, ein Verzeichnis der literarischen, biblischen und mythologischen Namen, eine Liste der geographischen Namen, eine Erklärung der Fremdwörter bzw. der fremdsprachigen oder seltenen Ausdrücke und Abkürzungen sowie ein Verzeichnis der Gewichte, Maße und Münzen.
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KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS März 1875-Mai 1883

Friedrich Engels [Brief an Bebel[,]]
London, 18./28. März 1875
Lieber Bebel! Ich habe Ihren Brief vom 23. Februar erhalten und freue mich, daß es Ihnen körperlich so gut geht. Sie fragen mich, was wir von der Einigungsgeschichte halten? Leider ist es uns ganz gegangen wie Ihnen. Weder Liebknecht noch sonst jemand hat uns irgendwelche Mitteilung gemacht, und auch wir wissen daher nur, was in den Blättern steht, und da stand nichts, bis vor zirka acht Tagen der Programmentwurf kam. Der hat uns allerdings nicht wenig in Erstaunen gesetzt. Unsere Partei hatte so oft den Lassalleanern die Hand zur Versöhnung oder doch wenigstens zum Kartell geboten und war von den Hasenclever, Hasselmann und Tölckes so oft und so schnöde zurückgewiesen worden, daß daraus jedes Kind den Schluß ziehn mußte: Wenn diese Herren jetzt selbst kommen und Versöhnung bieten, so müssen sie in einer verdammten Klemme sein. Bei dem wohlbekannten Charakter dieser Leute ist es aber unsere Schuldigkeit,diese Klemme zu benutzen, um uns alle und jede mögliche Garantien auszubedingen, damit nicht jene Leute auf Kostenünserer Partei in der öffentlichen Arbeitermeinung ihre erschütterte Stellung wieder befestigen. Man mußte sie äußerst kühl und mißtrauisch empfangen, die Vereinigung abhängig machen von dem Grade ihrer Bereitwilligkeit, ihre Sektenstichworte und ihre Staatshilfe fallenzulassen und im wesentlichen das Eisenacher Programm von 1869[2J oder eine für den heutigen Zeitpunkt angemessene verbesserte Ausgabe desselben anzunehmen. Unsere Partei hätte von den Lassalleanern in theoretischer Beziehung, also in dem, was fürs Programm entscheidend ist, absolut nichts zu lernen, die Lassalleaner aber wohl von ihr; die erste Bedingung der Vereinigung war, daß sie auf
hörten, Sektierer, Lassalleaner zu sein, daß sie also vor allem das Allerweltsheilmittel der Staatshilfe wo nicht ganz aufgaben, doch als eine untergeordnete Übergangsmaßregel unter und neben vielen möglichen anderen anerkannten. Der Programmentwurf beweist, daß unsere Leute theoretisch den Lassalleanerführern hundertmal überlegen - ihnen an politischer Schlauheit ebensowenig gewachsen sind; die „Ehrlichen" sind einmal wieder von den Nichtehrlichen grausam über den Löffel barbiert. Zuerst nimmt man die großtönende, aber historisch falsche Lassallesche Phrase an: Gegenüber der Arbeiterklasse seien alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse. Dieser Satz ist nur in einzelnen Ausnahmefällen wahr, z. B. in einer Revolution des Proletariats, wie die Kommune, oder in einem Land, wo nicht nur die Bourgeoisie Staat und Gesellschaft nach ihrem Bilde gestaltet hat, sondern auch schon nach ihr das demokratische Kleinbürgertum diese Umbildung bis auf ihre letzten Konsequenzen durchgeführt hat. Wenn z.B. in Deutschland das demokratische Kleinbürgertum zu dieser reaktionären Masse gehörte, wie konnte da die Sozialdemokratische Arbeiterpartei jahrelang mit ihm, mit der Volkspartei[3] Hand in Hand gehen? Wie kann der „Volksstaat" [4] fast seinen ganzen politischen Inhalt aus der kleinbürgerlich-demokratischen „Frankfurter Zeitung"t5] nehmen? Und wie kann man nicht weniger als sieben Forderungen in dies selbe Programm aufnehmen, die direkt und wörtlich übereinstimmen mit dem Programm der Volkspartei und kleinbürgerlichen Demokratie? Ich meine die sieben politischen Forderungen 1 bis 5 und 1 bis 2[61? von denen keine einzige, die nicht iür^cr/f'c/?-demokratisch. Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung praktisch für die Gegenwart vollständig verleugnet, und das von den Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der deutschen Arbeiter an der Spitze der europäischen Bewegung beruht wesentlich auf ihrer echt internationalen Haltung während des Kriegs; kein anderes Proletariat hätte sich so gut benommen. Und jetzt soll dieses Prinzip von ihnen verleugnet werden im Moment, wo überall im Ausland die Arbeiter es in demselben Maß betonen, in dem die Regierungen jeden Versuch seiner Betätigung in einer Organisation zu unterdrücken streben! Und was bleibt allein vom Internationalismus der Arbeiterbewegung übrig? Die blasse Aussicht - nicht einmal auf ein späteres Zusammenwirken der europäischen Arbeiter zu ihrer Befreiung - nein, auf eine künftige „internationale Völkerverbrüderung" - auf die „Vereinigten Staaten von Europa" der Bourgeois von der Friedensligat7]!
Es war natürlich gar nicht nötig, von der Internationale als solche zu sprechen. Aber das mindeste war doch, keinen Rückschritt gegen das Programm von 1869 zu tun und etwa zu sagen: obgleich die deutsche Arbeiterpartei zunächst innerhalb der ihr gesetzten Staatsgrenzen wirkt (sie hat kein Recht, im Namen des europäischen Proletariats zu sprechen, besonders nicht, etwas Falsches zu sagen), so ist sie sich ihrer Solidarität bewußt mit den Arbeitern aller Länder und wird stets bereit sein, wie bisher auch fernerhin die ihr durch diese Solidarität auferlegten Verpflichtungen zu erfüllen. Derartige Verpflichtungen bestehen,auch ohne daß man gerade sich als Teil der „Internationale" proklamiert oder ansieht, z.B. Hilfe, Abhalten von Zuzug bei Streiks, Sorge dafür, daß die Parteiorgane die deutschen Arbeiter von der ausländischen Bewegung unterrichtet halten, Agitation gegen drohende oder ausbrechende Kabinettskriege, Verhalten Während solcher, wie 1870 und 1871 mustergültig durchgeführt, usw. Drittens haben sich unsere Leute das Lassallesche „eherne Lohngesetz" aufoktroyieren lassen, das auf einer ganz veralteten ökonomischen Ansicht beruht, nämlich daß der Arbeiter im Durchschnitt nur das Minimum des Arbeitslohnes erhält, und zwar deshalb, weil nach Malthusscher Bevölkerungstheorie immer zuviel Arbeiter da sind (dies war Lassalles Beweisführung). Nun hat Marx im „Kapital" ausführlich nachgewiesen, daß die Gesetze, die den Arbeitslohn regulieren, sehr kompliziert sind, daß je nach den Verhältnissen bald dieses, bald jenes vorwiegt, daß sie also keineswegs ehern, sondern im Gegenteil sehr elastisch sind und daß die Sache gar nicht so mit ein paar Worten abzumachen ist, wie Lassalle sich einbildete. Die Malthussche Begründung des von Lassalle ihm und Ricardo (unter Verfälschung des letzteren) abgeschriebenen Gesetzes, wie sie sich z.B. „Arbeiterlesebuch", Seite 5, aus einer andern Broschüre Lassallest8] zitiert findet, ist von Marx in dem Abschnitt über „Akkumulationsprozeß des Kapitals"1 ausführlich widerlegt. Man bekennt sich also durch Adoptierung des Lassalleschen „ehernen Gesetzes" zu einem falschen Satz und einer falschen Begründung desselben. Viertens stellt das Programm als einzige soziale Forderung auf - die Lassallesche Staatshilfe in ihrer nacktesten Gestalt, wie Lassalle sie von Buchez gestohlen hatte. Und das, nachdem Bracke diese Forderung sehr gut in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgewiesen19^ nachdem fast alle, wo nicht alle Redner unserer Partei im Kampf mit den Lassalleanern genötigt gewesen sind, gegen diese „Staatshilfe" aufzutreten! Tiefer konnte unsere
1 Siehe Band 23 unserer Ausgabe, S. 589-802
Partei sich nicht demütigen. Der Internationalismus heruntergekommen auf Amand Goegg, der Sozialismus auf den Bourgeoisrepublikaner Buchez, der diese Forderung gegenüber den Sozialisten stellte, um sie auszustechen! Im besten Falle aber ist die „Staatshilfe" im Lassalleschen Sinne doch nur eine einzige Maßregel unter vielen anderen, um das Ziel zu erreichen, was hier mit den lahmen Worten bezeichnet wird: „um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen", als ob es für uns noch eine theoretisch ungelöste soziale Frage gäbe! Wenn man also sagt: Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau und auf nationalem Maßstab; sie tritt ein für jede Maßregel, welche geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen! - so kann kein Lassalleaner etwas dagegen haben. Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittelst der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede. Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platterdings nicht mehr kaputtzumachen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offenzulassen. Das alles haben unsere Leute den Lassalleanern zu Gefallen getan. Und was haben die anderen nachgegeben? Daß ein Haufen ziemlich verworrener rein demokratischer Forderungen im Programm figurieren, von denen manche reine Modesache sind, wie z.B. die „Gesetzgebung durch das Volk", die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie überhaupt was anrichtet. Verwaltung durch das Volk, das wäre noch etwas. Ebenso fehlt die erste Bedingung aller Freiheit: daß alle Beamte für alle ihre Amtshandlungen jedem Bürger gegenüber vor den gewöhnlichen Gerichten und nach gemeinem Recht verantwortlich sind. Davon, daß solche Forderungen wie: Freiheit der Wissenschaft-Gewissensfreiheit in jedem liberalen Bourgeoisprogramm figurieren und sich hier etwas befremdend ausnehmen, davon will ich weiter nicht sprechen. Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der Volksstaat ist uns von den
Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx' gegen Proudhon1 und nachher das „Kommunistische Manifest"2 direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat „Gemeinwesen" zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische „Kommune" sehr gut vertreten kann. „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit" ist auch eine sehr bedenkliche Phrase statt: „Aufhebung aller Klassenunterschiede". Von Land zu Land, von Provinz zu Provinz, von Ort zu Ort sogar wird immer eine gewisse Ungleichheit der Lebensbedingungen bestehen, die man auf ein Minimum reduzieren, aber nie ganz beseitigen können wird. Alpenbewohner werden immer andere Lebensbedingungen haben als Leute des flachen Landes. Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden sind. Ich höre auf, obwohl fast jedes Wort in diesem dabei saft- und kraftlos redigierten Programm zu kritisieren wäre. Es ist derart, daß, falls es angenommen wird, Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen können und uns sehr ernstlich werden überlegen müssen, welche Stellung wir - auch öffentlich - ihr gegenüber zu nehmen haben. Bedenken Sie, daß man uns im Auslande für alle und jede Äußerungen und Handlungen der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin in seiner Schrift „Politik und Anarchie"[10J, wo wir einstehen müssen für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des „Demokratischen Wochenblattes"[11] gesagt und geschrieben. Die Leute bilden sich eben ein, wir kommandierten von
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S. 63-182 - 2 ebenda, S.459 - 493
hier aus die ganze Geschichte, während Sie so gut wie ich wissen, daß wir uns fast nie im geringsten in die inneren Parteiangelegenheiten gemischt, und auch dann nur, um Böcke, die nach unserer Ansicht geschossen worden, und zwar nur theoretische, wieder nach Möglichkeit gutzumachen. Sie werden aber selbst einsehen,daß dies Programm einen Wendepunkt bildet, der uns sehr leicht zwingen könnte, alle und jede Verantwortlichkeit mit der Partei, die es anerkennt, abzulehnen. Im allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer Partei an, als auf das, was sie tut. Aber ein neues Programm ist doch immer eine öffentlich aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt beurteilt danach die Partei. Es sollte daher keinenfalls einen Rückschritt enthalten, wie dies gegenüber dem Eisenacher. Man sollte doch auch bedenken, was die Arbeiter anderer Länder zu diesem Programm sagen werden; welchen Eindruck diese Kniebeugung des gesamten deutschen sozialistischen Proletariats vor dem Lassalleanismus machen wird. Dabei bin ich überzeugt, daß eine Einigung auf dieser Basis kein Jahr dauern wird. Die besten Köpfe unserer Partei sollten sich dazu hergeben, auswendig gelernte Lassallesche Sätze vom ehernen Lohngesetz und der Staatshilfe abzuleiern? Ich möchte z.B. Sie dabei sehen! Und täten sie es, ihre Zuhörer würden sie auszischen. Und ich bin sicher, die Lassalleaner bestehen gerade auf diesen Stücken des Programms wie der Jude Shylock auf seinem Pfund Fleisch. Die Trennung wird kommen; aber wir werden Hasselmann, Hasenclever und Tölcke und Konsorten wieder „ehrlich gemacht" haben; wir werden schwächer und die Lassalleaner stärker aus der Trennung hervorgehen; unsere Partei wird ihre politische Jungferschaft verloren haben und wird nie wieder gegen Lassalle-Phrasen, die sie eine Zeitlang selbst auf die Fahne geschrieben, herzhaft auftreten können; und wenn die Lassalleaner dann wieder sagen: sie seien die eigentlichste und einzige Arbeiterpartei, unsere Leute seien Bourgeois, so ist das Programm da, um es zu beweisen. Alle sozialistischen Maßregeln darin sind ihre, und unsere Partei hat nichts hineingesetzt als Forderungen der kleinbürgerlichen Demokratie, die doch auch von ihr in demselben Programm als Teil der „reaktionären Masse" bezeichnet ist! Ich hatte diesen Brief liegenlassen, da Sie doch erst am 1 .April zu Ehren von Bismarcks Geburtstag freikommen und ich ihn nicht der Chance des Abfassens bei einem Schmuggelversuch aussetzen wollte. Da kommt nun gerade ein Brief von Bracke, der auch wegen des Programms seine schweren Bedenken hat und unsere Meinung wissen will. Ich schicke ihn daher zur Beförderung an ihn, damit er ihn lese und ich den ganzen Kram nicht noch
einmal zu schreiben brauche. Übrigens habe ich Ramm ebenfalls klaren Wein eingeschenkt, an Liebknecht schrieb ich nur kurz. Ich verzeihe ihm nicht, daß er uns von der ganzen Sache kein Wort mitgeteilt (während Ramm und andere glaubten, er habe uns genau unterrichtet), bis es sozusagen zu spät war. Das hat er zwar von jeher so gemacht - und daher die viele unangenehme Korrespondenz, die wir, Marx sowohl wie ich, mit ihm hatten -, aber diesmal ist es doch zu arg, und wir gehen entschieden nicht mit. Sehen Sie, daß Sie es einrichten, im Sommer herzukommen, Sie wohnen natürlich bei mir, und wenn das Wetter gut, können wir ein paar Tage seebaden gehen, das wird Ihnen nach dem langen Brummen recht nützlich sein. Freundlichst Ihr
"F.E.
Marx ist eben ausgezogen, er wohnt 41, Maitland Park Crescent, NW, London.
Nach: August Bebel, „Aus meinem Leben", 2. Teil, Stuttgart 1911.

KARL MARX Kritik des Gothaer Programms"21
Geschrieben von April bis Anfang Mai 1875. Erstmalig veröffentlicht in: „Die Neue Zeit", Nr.!8, 9. Jahrgang, I.Band, 1890-1891. Der vorliegende Abdruck erfolgt nach der Handschrift von Marx. Inhaltliche Abweichungen in der Veröffentlichung von 1891 werden in Fußnoten vermerkt. Stellen, die 1891 ausgelassen und durch Punkte ersetzt wurden, sind in spitze Klammern gesetzt.
[Brief an Wilhelm Bracke"31]
London, 5.Mai 75
Lieber Bracke, Nachstehende kritische Randglossen zu dem Koalitionsprogramm sind Sie wohl so gut, nach Durchlesung, zur Einsicht an Geib und Auer, Bebel und Liebknecht mitzuteilen. Ich bin überbeschäftigt und muß schon weit über das Arbeitsmaß hinausschießen, das mir ärztlich vorgeschrieben ist. Es war mir daher keineswegs ein „Genuß", solch langen Wisch zu schreiben. Doch war es notwendig, damit später meinerseits zu tuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mitteilung bestimmt ist, nicht mißdeutet werden. (Nach äbgehaltnem Koalitionskongreß werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, daß wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehn und nichts damit zu tun haben.) Es ist dies unerläßlich, da man im Ausland die von Parteifeinden sorgsamst genährte Ansicht - die durchaus irrige Ansicht - hegt, daß wir die Bewegung der sog. Eisenacher Partei insgeheim von hier aus lenken. Noch in einer jüngst erschienenen russischen Schrift[10] macht Bakunin mich z.B. (nicht nur) für alle Programme etc. jener Partei verantwortlich <,sondern sogar für jeden Schritt, den Liebknecht, vom Tag seiner Kooperation -mit der Volksparteian, getan hat). Abgesehn davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen. Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht - und die Zeitumstände ließen das nicht zu - über das Eisenacher Programm^21 hinausgehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktion gegen den gemeinsamen Feind abschließen
sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt dies bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt. Die Chefs der Lassalleaner kamen, weil die Verhältnisse sie dazu zwangen. Hätte man ihnen von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit einem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion begnügen müssen. Statt dessen erlaubt man ihnen, sich mit Mandaten bewaffnet einzustellen, und erkennt diese Mandate seinerseits als bindend an, ergibt sich also den Hilfsbedürftigen auf Gnade und Ungnade. Um der Sache die Krone aufzusetzen, halten sie wieder einen Kongreß vor dem Kompromißkongreß, während die eigne Partei ihren Kongreß postfestum hält. (Man wollte offenbar alle Kritik eskamotieren und die eigne Partei nicht zum Nachdenken kommen lassen.) Man weiß, wie die bloße Tatsache der Vereinigung die Arbeiter befriedigt, aber man irrt sich, wenn man glaubt, dieser augenblickliche Erfolg sei nicht zu teuer erkauft. Übrigens taugt das Programm nichts, auch abgesehn von der Heiligsprechung der Lassalleschen Glaubensartikel. (Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit die Schlußlieferungen der französischen Ausgabe des „Kapitals"[14] schicken. Der Fortgang des Drucks war auf längere Zeit durch Verbot der französischen Regierung gehemmt. Diese Woche oder Anfang der nächsten wird die Sache fertig. Haben Sie die früheren 6 Lieferungen erhalten? Schreiben Sie mir gefälligst auch die Adresse von Bernhard Becker, dem ich ebenfalls die Schlußlieferungen schicken muß.) Die „Volksstaats"-Buchhandlung hat eigne Manieren. So hat man mir bis zu diesem Augenblick z.B. auch nicht ein einziges Exemplar des Abdrucks des „Kölner Kommunistenprozesses"1151 zukommen lassen.
Mit bestem Gruß. Ihr Karl Marx
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Zweite Seite aus Karl Marx' Brief an Wilhelm Bracke mit den „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei'

Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei
I
1. „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern." Erster Teil des Paragraphen: „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur." Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben. Nur1 soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände, verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.
1 (1891) Und
Lassen wir jetzt den Satz, wie er geht und steht, oder vielmehr hinkt. Was hätte man als Schlußfolgerung erwartet? Offenbar dies: „Da die Arbeit die Quelle alles Reichtums ist, kann auch in der Gesellschaft sich niemand Reichtum aneignen, außer als Produkt der Arbeit. Wenn er also nicht selber arbeitet, lebt er von fremder Arbeit und eignet sich auch seine Kultur auf Kosten fremder Arbeit an." Statt dessen wird durch die Wortschraube „und da" ein zweiter Satz angefügt, um aus ihm, nicht aus dem ersten, eine Schlußfolgerung zu ziehn. Zweiter Teil des Paragraphen: „Nutzbringende Arbeit ist nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich." Nach dem ersten Satz war die Arbeit die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, also auch keine Gesellschaft ohne Arbeit möglich. Jetzt erfahren wir umgekehrt, daß keine „nutzbringende" Arbeit ohne Gesellschaft möglich ist. Man hätte ebensogut sagen können, daß nur in der Gesellschaft nutzlose und selbst gemeinschädliche Arbeit ein Erwerbszweig werden kann, daß man nur in der Gesellschaft vom Müßiggang leben kann etc. etc. kurz, den ganzen Rousseau abschreiben können. Und was ist „nutzbringende" Arbeit? Doch nur die Arbeit, die den bezweckten Nutzeffekt hervorbringt. Ein Wilder - und der Mensch ist Wilder, nachdem er aufgehört hat, Affe zu sein -, der ein Tier mit einem Stein erlegt, der Früchte sammelt etc., verrichtet „nutzbringende" Arbeit. Drittens: Die Schlußfolgerung: „Und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist - gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach1 gleichem Rechte, allen Cieselischaftsgliedern." Schöner Schluß! Wenn die nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Arbeitsertrag der Gesellschaft - und kommt dem einzelnen Arbeiter davon nur soviel zu, als nicht nötig ist, um die „Bedingung" der Arbeit, die Gesellschaft, zu erhalten. In der Tat ist dieser Satz auch zu allen Zeiten von den Vorfechtern2 des jedesmaligen Gesellschaftszustands geltend gemacht worden. Erst kommen die Ansprüche der Regierung mit allem, was daran klebt, denn sie ist das gesellschaftliche Organ zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung; dann kommen die Ansprüche der verschiednen Sorten von Privateigentümern3, denn die verschiednen Sorten Privateigentum sind die Grundlagen der Gesellschaft etc. Man sieht, man kann solche hohlen Phrasen drehn und wenden, wie man will.
1 (1891) mit - 2 (1891) Verfechtern - 3 (1891) Privateigentum
Irgendwelchen verständigen Zusammenhang haben der erste und zweite Teil des Paragraphen nur in dieser Fassung: „Quelle des Reichtums und der Kultur wird die Arbeit nur als gesellschaftliche Arbeit" oder, was dasselbe ist, „in und durch die Gesellschaft". Dieser Satz ist unstreitig richtig, denn wenn die vereinzelte Arbeit (ihre sachlichen Bedingungen vorausgesetzt) auch Gebrauchswerte schaffen kann, kann sie weder Reichtum noch Kultur schaffen. Aber ebenso unstreitig ist der andre Satz: „Im Maße, wie die Arbeit sich gesellschaftlich entwickelt und dadurch Quelle von Reichtum und Kultur wird, entwickeln sich Armut und Verwahrlosung auf Seiten des Arbeiters, Reichtum und Kultur auf Seiten des Nichtarbeiters." Dies ist das Gesetz der ganzen bisherigen Geschichte. Es war also, statt allgemeine Redensarten über „die Arbeit" und „die Gesellschaft" zu machen, hier bestimmt nachzuweisen, wie in der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft endlich die materiellen etc. Bedingungen geschaffen sind, welche die Arbeiter befähigen und zwingen, jenen geschichtlichen1 Fluch zu brechen. In der Tat aber ist der ganze, stilistisch und inhaltlich verfehlte Paragraph nur da, um das Lassallesche Stichwort vom „unverkürzten Arbeitsertrag" als Losungswort auf die Spitze der Parteifahne zu schreiben. Ich komme später zurück auf den „Arbeitsertrag", „das gleiche Recht" etc., da dieselbe Sache in etwas andrer Form wiederkehrt.
2. „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen." Der dem internationalen Statut1161 entlehnte Satz ist in dieser „verbesserten" Ausgabe falsch. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Grundeigentümer (das Monopol des Grundeigentums ist sogar Basis des Kapitalmonopols) und der Kapitalisten. Das internationale Statut nennt im betreffenden Passus weder die eine noch die andere Klasse der Monopolisten. Es spricht vom „Monopol der Arbeitsmittel, d.h. der Lebensquellen"; der Zusatz „Lebensquellen" zeigt hinreichend, daß der Grund und Boden in den Arbeitsmitteln einbegriffen ist. Die Verbesserung wurde angebracht, weil Lassalle, aus jetzt allgemein bekannten Gründen, nur die Kapitalistenklasse angriff, nicht die Grund
1 (1891) gesellschaftlichen
eigentümer. In England ist der Kapitalist meistens nicht einmal der Eigentümer des Grund und Bodens, auf dem seine Fabrik steht. 3. „Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrags." „Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut"! Soll wohl heißen ihre „Verwandlung in Gemeingut". Doch dies nur nebenbei. Was ist „Arbeitsertrag"P Das Produkt der Arbeit oder sein Wert? Und im letzteren Fall, der Gesamtwert des Produkts oder nur der Wertteil, den die Arbeit dem Wert der aufgezehrten Produktionsmittel neu zugesetzt hat? „Arbeitsertrag" ist eine lose Vorstellung, die Lassalle an die Stelle bestimmter ökonomischer Begriffe gesetzt hat. Was ist „gerechte" Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung „gerecht" ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige „gerechte" Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen? Haben nicht auch die sozialistischen Sektierer die verschiedensten Vorstellungen über „gerechte" Verteilung? Um zu wissen, was man sich bei dieser Gelegenheit unter der Phrase „gerechte Verteilung" vorzustellen hat, müssen wir den ersten Paragraphen mit diesem zusammenhalten. Letzterer unterstellt eine Gesellschaft, worin „die Arbeitsmittel Gemeingut sind und die Gesamtarbeit genossenschaftlich geregelt ist", und aus dem ersten Paragraphen ersehn wir, daß „der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern gehört". „Allen Gesellschaftsgliedern"? Auch den nicht arbeitenden? Wo bleibt da „der unverkürzte Arbeitsertrag"? Nur den arbeitenden Gesellschaftsgliedern? Wo bleibt da „das gleiche Recht" aller Gesellschaftsglieder? Doch „alle Gesellschaftsglieder" und „das gleiche Recht" sind offenbar nur Redensarten. Der Kern besteht darin, daß in dieser kommunistischen Gesellschaft jeder Arbeiter seinen1 „unverkürzten" Lassalleschen „Arbeitsertrag" erhalten muß. Nehmen wir zunächst das Wort „Arbeitsertrag" im Sinne des Produkts der Arbeit, so ist der genossenschaftliche Arbeitsertrag das gesellschaftliche Gesamtprodukt.
1 (1891) einen
Davon ist nun abzuziehen: Erstens: Deckung zum Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel. Zweitens: zusätzlicher Teil für Ausdehnung der Produktion. Drittens: Reserve- oder Assekuranzfonds gegen Mißfälle, Störungen durch Naturereignisse etc. Diese Abzüge vom „unverkürzten Arbeitsertrag" sind eine ökonomische Notwendigkeit, und ihre Größe ist zu bestimmen nach vorhandenen Mitteln und Kräften, zum Teil durch Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber sie sind in keiner Weise aus der Gerechtigkeit kalkulierbar. Bleibt der andere Teil des Gesamtprodukts, bestimmt, als Konsumtionsmittel zu dienen. Bevor es zur individuellen Teilung kommt, geht hiervon wieder ab: Erstens: die allgemeinen, nicht direkt1 zur Produktion gehörigen Verwaltungskosten. Dieser Teil wird von vornherein aufs bedeutendste beschränkt im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und vermindert sich im selben Maß, als die neue Gesellschaft sich entwickelt. Zweitens: was zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc. Dieser Teil wächst von vornherein bedeutend im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und nimmt im selben Maß zu, wie die neue Gesellschaft sich entwickelt. Drittens: Fonds für Arbeitsunfähige etc., kurz, für, was heute zur sog. offiziellen Armenpflege gehört. Erst jetzt kommen wir zu der „Verteilung", die das Programm, unter Lassalleschem Einfluß, bornierterweise allein ins Auge faßt, nämlich an den Teil der Konsumtionsmittel, der unter die individuellen Produzenten der Genossenschaft verteilt wird. Der „unverkürzte Arbeitsertrag" hat sich unterderhand bereits in den „verkürzten" verwandelt, obgleich, was dem Produzenten in seiner Eigenschaft als Privatindividuum entgeht, ihm direkt oder indirekt in seiner Eigenschaft als Gesellschaftsglied zugut kommt. Wie die Phrase des „unverkürzten Arbeitsertrags" verschwunden ist, verschwindet jetzt die Phrase des „Arbeitsertrags" überhaupt. Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit
1 (1891) fehlt: direkt
als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren. Das Wort „Arbeitsertrag", auch heut* 7 " J ' | ' J' L JJ £1 • zutage wegen seiner z-weiueutigKeu verwefiiicn, venieri so axien oinn. Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück. Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht. Das gleiche Recht ist hier daher immer noch — dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert. Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportioneil; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann
während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf , Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist A^ie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter1 als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr2 ungleich sein. Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft. In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte3 gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! Ich bin weitläufiger auf den „unverkürzten Arbeitsertrag" einerseits, „das gleiche Recht", „die gerechte Verteilung" andrerseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer
1 (1891) fehlt: der Arbeiter - 2 (1891) fehlt: vielmehr - 3 (1891) die Produktionskräfte
gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetemPhrasenkram geworden, unsrer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andrerseits aber die realistische Auffassung, die der Partei so mühvoll beigebracht worden, aber Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts-undandre, den i_/cniOiutticii unu. naiiiuSi&ciicii oo^iuiibteii Su geisuiiyc lausen verarent. Abgesehn von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen. Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst; letztere Verteilung aber ist ein Charakter der Produktionsweise selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z.B. beruht darauf, daß die sachlichen Produktionsbedingungen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich Von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel. Der Vulgärsozialismus (und von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen Ökonomen überkommen, die Distribution als von der Produktionsweise unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen. Nachdem das wirkliche Verhältnis längst klargelegt, warum wieder rückwärtsgehn ? 4. „Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle andren Klassen nur eine reaktionäre Masse sind." Die erste Strophe ist aus den Eingangsworten der internationalen Statuten, aber „verbessert". Dort heißt es: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muß die Tat der Arbeiter selbst sein"; hier hat dagegen „die Arbeiterklasse" zu befreien - was? „die Arbeit". Begreife, wer kann. Zum Schadenersatz ist dagegen die Gegenstrophe Lassallesches Zitat vom reinsten Wasser: „der (der Arbeiterklasse) gegenüber alle andern Klassen nur eine reaktionäre Masse bilden". Im „Kommunistischen Manifest" heißt es: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehn, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehn unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt."1
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S. 472
Die Bourgeoisie ist hier als revolutionäre Klasse aufgefaßt - als Trägerin der großen Industrie - gegenüber Feudalen und Mittelständen, welche alle gesellschaftlichen Positionen behaupten wollen, die das Gebilde veralteter Produktionsweisen. Sie bilden also nicht zusammen mit der Bourgeoisie nur eine reaktionäre Masse. Andrerseits ist das Proletariat der Bourgeoisie gegenüber revolutionär, weil es, selbst erwachsen auf dem Boden der großen Industrie, der Produktion den kapitalistischen Charakter abzustreifen strebt, den die Bourgeoisie zu verewigen sucht. Aber das Manifest setzt hinzu: daß die „Mittelstände.,. revolutionär (werden)... im Hinblick auf ihren bevorstehenden Ubergang ins Proletariat". Von diesem Gesichtspunkt ist es also wieder Unsinn, daß sie, „zusammen mit der Bourgeoisie" und obendrein den Feudalen, gegenüber der Arbeiterklasse „nur eine reaktionäre Masse bilden". Hat man bei den letzten Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen etc. und Bauern zugerufen: Uns gegenüber bildet ihr mit Bourgeois und Feudalen nur eine reaktionäre Masse? .„, Lassalle wußte das „Kommunistische Manifest" auswendig wie seine Gläubigen die von ihm verfaßten Heilsschriften. Wenn er es also so grob verfälschte, geschah es nur, um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie zu beschönigen. Im obigen Paragraph wird nun zudem sein Weisheitsspruch an den Haaren herbeigezogen, ohne allen Zusammenhang mit dem verballhornten Zitat aus dem Statut der Internationalen. Es ist also hier einfach eine Impertinenz, und zwar keineswegs Herrn Bismarck mißfällige, eine jener wohlfeilen Flegeleien, worin der Berliner Marat[17] macht. 5. „Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats, sich bewußt, daß das notwendige Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird." Lassalle hatte, im Gegensatz zum „Kommunistischen Manifest" und zu allem früheren Sozialismus, die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen Standpunkt gefaßt. Man folgt ihm darin - und dies nach dem Wirken der Internationalen! Es versteht sich ganz von selbst, daß, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muß als Klasse, und daß das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das „Kommunistische Manifest" sagt, „der Form nach" national. Aber der „Rahmen des heutigen
nationalen Staats", z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch „im Rahmen des Weltmarkts", politisch „im Rahmen des Staatensystems". Der erste beste Kaufmann weiß, daß der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner1 Art internationaler Politik. Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewußtsein, daß das Ergebnis ihres Strebens „die internationale Völkerverbrüderung sei« wird" - eine dem bürgerlichen Freiheitsund Friedensbund[7) entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen. Von internationalen Funktionen der deutschen Arbeiterklasse also kein Wort! Und so soll sie ihrer eignen, mit den Bourgeois aller andern Länder bereits gegen sie verbrüderten Bourgeoisie und Herrn Bismarcks internationaler Verschwörungspolitik das Paroli bieten! In der Tat steht das internationale Bekenntnis des Programms noch unendlich tief unter dem der Freihandelspartei. Auch sie behauptet, das Ergebnis ihres Strebens sei „die internationale Völkerverbrüderung". Sie tutaher auch etwas, um den Handel international zu machen, und begnügt sich keineswegs bei dem Bewußtsein - daß alle Völker bei sich zu Haus Handel treiben. Die internationale Tätigkeit der Arbeiterklassen hängt in keiner Art von der Existenz der „Internationalen Arbeiterassoziation" ab. Diese war nur der erste Versuch, jener Tätigkeit ein Zentralorgan zu schaffen; ein Versuch,, der durch den Anstoß, welchen er gab, von bleibendem Erfolg, aber in seiner ersten historischen Form nach dem ir all der Pariser Kommune nicht länger durchführbar war. Bismarcks „Norddeutsche" war vollständig im Recht, wenn sie zur Zufriedenheit ihres Meisters verkündete, die deutsche Arbeiterpartei habe in dem neuen Programm dem Internationalismus abgeschworen.[18J
II
„Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die deutsche Arbeiterpartei mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat - und — die sozialistische Gesellschaft; die Aufhebung des Lohnsystems mit dem ehernen Lohngesetz - und - der Ausbeutung in jeder Gestalt; die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit." Auf den „freien" Staat komme ich später zurück. Also in Zukunft hat die deutsche Arbeiterpartei an Lassalles „ehernes
1 (1891) einer
Lohngesetz" zu glauben! Damit es nicht verlorengeht, begeht man den Unsinn, von „Aufhebung des Lohnsystems" (sollte heißen: System der Lohnarbeit) „mit dem ehernen Lohngesetz" zu sprechen. Hebe ich die Lohnarbeit auf, so hebe ich natürlich auch ihre Gesetze auf, seien sie „ehern" oder schwammig. Aber Lassalles Bekämpfung der Lohnarbeit dreht sich fast nur um dies sog. Gesetz. Um daher zu beweisen, daß die Lassallesche Sekte gesiegt hat, muß das „Lohnsystem mit dem ehernen Lohngesetz" aufgehoben werden und nicht ohne dasselbe. Von dem „ehernen Lohngesetz" gehört Lassalle bekanntlich nichts als das den Goetheschen „ewigen, ehernen, großen Gesetzen" entlehnte Wort „ehern". Das Wort ehern ist eine Signatur, woran sich die Rechtgläubigen erkennen. Nehme ich aber das Gesetz mit Lassalles Stempel und daher in seinem Sinn, so muß ich es auch mit seiner Begründung nehmen. Und was ist sie? Wie Lange schon kurz nach Lassalles Tod zeigte: die (von Lange selbst gepredigte) Malthussche Bevölkerungstheorie[19J. Ist diese aber richtig, so kann ich wieder das Gesetz nicht aufheben, und wenn ich hundertmal die Lohnarbeit aufhebe, weil das Gesetz dann nicht nur das System der Lohnarbeit, sondern jedes gesellschaftliche System beherrscht. Grade hierauf fußend, haben seit fünfzig Jahren und länger die Ökonomisten bewiesen, daß der Sozialismus das naturbegründete Elend nicht aufheben, sondern nur verallgemeinern, gleichzeitig über die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen könne! Aber all das ist nicht die Hauptsache. Ganz abgesehn von der falschen Lassalleschen Fassung des Gesetzes, besteht der wahrhaft empörende Rückschritt darin: Seit Lassalles Tode hat sich die wissenschaftliche Einsicht in unsrer Partei Bahn gebrochen, daß der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich der Wert respektive Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert resp. Preis der Arbeitskraft. Damit war die ganze bisherige bürgerliche Auffassung des Arbeitslohns sowie die ganze bisher gegen selbe gerichtete Kritik ein für allemal über den Haufen geworfen und klargestellt, daß der Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eignes Leben zu arbeiten, d.h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten (daher auch für dessen Mitzehrer am Mehrwert) arbeitet; daß das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum dreht, diese Gratisarbeit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstags oder durch" Entwicklung der Produktivität,1 größere Spannung der Arbeitskraft
1 (1891) eingefügt: resp.
etc.; daß also das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei ist, die im selben Maß härter wird, wie sieb die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange. Und nachdem diese Einsicht unter unsrer Partei sieb mehr und mehr Bahn gebrochen, kehrt man zu Lassalles Dogmen zurück, obgleich man nun wissen mußte, daß Lassalle nicht wußte, was der Arbeitslohn war, sondern, im Gefolg der bürgerlichen Ökonomen, den Schein für das Wesen der Sache nahm. Es ist, als ob unter Sklaven, die endlich hinter das Geheimnis der Sklaverei gekommen und in Rebellion ausgebrochen, ein in veralteten Vorstellungen befangener Sklave auf das Programm der Rebellion schriebe: Die Sklaverei muß abgeschafft werden, weil die Beköstigung der Sklaven im System der Sklaverei ein gewisses niedriges Maximum nicht überschreiten kann! Die bloße Tatsache, daß die Vertreter unsrer Partei fähig waren, ein so ungeheuerliches Attentat auf die in der Parteimasse verbreitete Einsicht zu begehn - beweist sie nicht allein, mit welchem (frevelhaften) Leichtsinn, (mit welcher Gewissenlosigkeit) sie bei Abfassung des Kompromißprogramms zu Werke gingen! Anstatt der unbestimmten Schlußphrase des Paragraphen, „die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit", war zu sagen, daß mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringende soziale und politische Ungleichheit verschwindet.
„Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volks• Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht." Nach dem Lassalleschen „ehernen Lohngesetz" das Heilsmittel des Propheten! Es wird in würdiger Weise „angebahnt"! An die Stelle des existierenden Klassenkampfs tritt eine Zeitungsschreiberphrase - „die soziale Frage", deren „Lösung" man „anbahnt". Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft „entsteht" die „sozialistische Organisation der Gesamtarbeit" aus der „Staatshilfe", die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter, „ins Leben ruft". Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsaniehn ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!
Aus (einem Rest von) Scham stellt man „die Staatshilfe" - „unter die demokratische Kontrolle des arbeitenden Volks". Erstens besteht „das arbeitende Volk" in Deutschland zur Majorität aus Bauern und nicht aus Proletariern. Zweitens heißt „demokratisch" zu deutsch „volksherrschaftlich". Was heißt aber „die volksherrschaftliche Kontrolle des arbeitenden Volkes"? Und nun gar bei einem Arbeite rvolk, das durch diese Forderungen, die es an den Staat stellt, sein volles Bewußtsein ausspricht, daß es weder an der Herrschaft ist, noch zur Herrschaft reif ist! Auf die Kritik des von Buchez unter Louis-Philippe im Gegensatz gegen die französischen Sozialisten verschriebnen und von den reaktionären Arbeitern des „Atelier" [201 angenommenen Rezepts ist es überflüssig, hier einzugehn. Es liegt auch der Hauptanstoß nicht darin, daß man diese spezifische Wunderkur ins Programm geschrieben, sondern daß man überhaupt vom Standpunkt der Klassenbewegung zu dem der Sektenbewegung zurückgeht. Daß die Arbeiter die Bedingungen der genossenschaftlichen Produktion auf sozialem und zunächst bei sich, also [auf] nationalem Maßstab herstellen wollen, heißt nur, daß sie an der Umwälzung der jetzigen Produktionsbedingungen arbeiten, und hat nichts gemein mit der Stiftung von Kooperativgesellschaften mit Staalshilfe! Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so haben sie nur Wert, soweit sie unabhängige, weder von den Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind.
[IV]
Ich komme jetzt zum demokratischen Abschnitt. A. „Freiheitliche Grundlage des Staats." Zunächst nach II erstrebt die deutsche Arbeiterpartei „den freien Staat". Freier Staat - was ist das? Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat „frei" zu machen. Im Deutschen Reich ist der „Staat" fast so „frei" als in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die „Freiheit des Staats" beschränken.
Die deutsche Arbeiterpartei - wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht - zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen „geistigen, sittlichen, freiheit~ liehen Grundlagen" besitzt. Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten „heutiger Staat", „heutige Gesellschaft" treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet! Die „heutige Gesellschaft" ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der „heutige Staat" wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußischdeutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. „Der heutige Staat" ist also eine Fiktion. Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von „heutigem Staatswesen" sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist. Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft untergehn1? In andern Worten, welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher. Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft.
1 (1891) erleiden
Seine politischen Forderungen enthalten nichts außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc. Sie sind bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens» und Freiheitsbundes. Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den Vereinigten Staaten etc. Diese Sorte „Zukunftsstaat" ist heutiger Staat, obgleich außerhalb „des Rahmens" des Deutschen Reichs existierend. Aber man hat eins vergessen. Da die deutsche Arbeiterpartei ausdrücklich erklärt, sich innerhalb „des heutigen nationalen Staats", also ihres Staats, des preußisch-deutschen Reichs, zu bewegen - ihre Forderungen wären ja sonst auch großenteils sinnlos, da man nur fordert, was man noch1 nicht hat -, so durfte sie die Hauptsache nicht vergessen, nämlich daß alle jene schönen Sächelchen auf der Anerkennung der sog. Volkssouveränität beruhn, daß sie daher nur in einer demokratischen Republik am Platze sind. Da man nicht den Mut hat2 - und weislich, denn die Verhältnisse gebieten Vorsicht -, die demokratische Republik zu verlangen, wie es die französischen Arbeiterprogramme unter Louis-Philippe und unter LouisNapoleon taten - so hätte man auch nicht zu der (weder „ehrlichen" noch würdigen) Finte flüchten sollen, Dinge, die nur in einer demokratischen Republik Sinn haben, von einem Staat zu verlangen, der nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich3 schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist, (und diesem Staat obendrein noch zu beteuern, daß man ihm dergleichen „mit gesetzlichen Mitteln" aufdringen zu können wähnt!) Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß grade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist - selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten. Daß man in der Tat unter „Staat" die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus bildet, zeigen schon die Worte:„Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als wirtschaftliche Grundlage des Staats:
1 (1891) fehlt: noch - 2 (1891) Da man nicht in der Lageist -s (1891) fehlt: und zugleich
eine einzige progressive Einkommensteuer etc." Die Steuern sind die wirtschaftliche Grundlage der Regierurigsmaschinerie und von sonst nichts. In dem in der Schweiz existierenden Zukunftsstaat ist diese Forderung ziemlich erfüllt. Einkommensteuer setzt die verschiednen Einkommenquellen der verschiednen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft. Es ist also nichts Auffälliges, daß die Financial Reformers von Liverpool - Bourgeois mit Gladstones Bruder an der Spitze - dieselbe Forderung stellen wie das Programm. B. „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: 1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlichen Unterricht." Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein?. Glaubt man, daß in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, daß auch die höheren Klassen zwangsweise auf das Modikum Erziehung der Volksschule - reduziert werden sollen, das allein mit den ökonomischen Verhältnissen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Bauern verträglich ist? „Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht." Die erste existiert selbst in Deutschland, das zweite in der Schweiz [und] den Vereinigten Staaten für Volksschulen. Wenn in einigen Staaten der letzteren auch „höhere" Unterrichtsanstalten „unentgeltlich" sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten. Nebenbei gilt dasselbe von der unter A. 5 verlangten „unentgeltlichen Rechtspflege". Die Kriminaljustiz ist überall unentgeltlich zu haben; die Ziviljustiz dreht sich fast nur um Eigentümskonflikte, berührt also fast nur die besitzenden Klassen. Sollen sie auf Kosten des Volkssäckels ihre Prozesse führen ? Der Paragraph über die Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische) in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen. Ganz verwerflich ist eine „Volkserziehung durch den Staat"„ Durch ein allgemeines Gesetz die Mittel der Volksschulen bestimmen, die Qualifizierung des Lehrerpersonals, die Unterrichtszweige etc., und, wie es in den Vereinigten Staaten geschieht, durch Staatsinspektoren die Erfüllung dieser gesetzlichen Vorschriften überwachen, ist etwas ganz andres, als den Staat zum Volkserzieher zu ernennen! Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluß auf die Schule auszuschließen. Im preußisch
deutschen Reich nun gar (und man helfe sich nicht mit der faulen Ausflucht, daß man von einem „Zukunftsstaat" spricht; wir haben gesehn, welche Bewandtnis es damit hat) bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauhen Erziehung durch das Volk. Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben. „Freiheit der Wissenschaft" lautet ein Paragraph der preußischen Verfassung. Warum also hier? „Gewissensfreiheit"/ Wollte man zu dieser Zeit des Kulturkampfes[213 dem Liberalismus seine alten Stichworte zu Gemüt führen, so konnte es doch nur in dieser Form geschehen: Jeder muß seine religiöse wie seine leibliche Notdurft1 verrichten können, ohne daß die Polizei ihre Nase hineinsteckt. Aber die Arbeiterpartei mußte doch bei dieser Gelegenheit ihr Bewußtsein darüber aussprechen, daß die bürgerliche „Gewissensfreiheit" nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit, und daß sie vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien strebt. Man beliebt aber das „bürgerliche" Niveau nicht zu überschreiten. Ich bin jetzt zu Ende gelangt, denn der nun im Programm folgende Anhang bildet keinen charakteristischen Bestandteil desselben. Ich habe mich daher hier ganz kurz zu fassen. „2. Normalarbeitstag." Die Arbeiterpartei keines andern Landes hat sich auf solch unbestimmte Forderung beschränkt, sondern stets die Länge des Arbeitstags fixiert, die sie unter den gegebnen Umständen für normal hält. „3. Beschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit." Die Normierung des Arbeitstags muß die Beschränkung der Frauenarbeit schon einschließen, soweit sie sich auf Dauer, Pausen etc. des Arbeitstags bezieht; sonst kann sie nur Ausschluß der Frauenarbeit aus Arbeitszweigen bedeuten, die speziell gesundheitswidrig für den weiblichen Körper oder die für das weibliche Geschlecht sittenwidrig sind. Meinte man das, so mußte es gesagt werden. „Verbot der Kinderarbeit"! Hier war absolut nötig, die Altersgrenze anzugeben.
1 (1891) seine religiösen... Bedürfnisse
Allgemeines Verbot der Kinderarbeit ist unverträglich mit der Existenz der großen Industrie und daher leerer frommer Wunsch. Durchführung desselben - wenn möglich - wäre reaktionär, da, bei strenger Reglung der Arbeitszeit nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutz der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft ist. „4. Staatliche Überwachung der Fabrik-, Werkstatt- und Hausindustrie." Gegenüber dem preußisch-deutschen Staat war bestimmt zu verlangen, daß die Inspektoren nur gerichtlich absetzbar sind; daß jeder Arbeiter sie wegen Pflichtverletzung den Gerichten denunzieren kann; daß sie dem ärztlichen Stand angehören müssen. „5. Regelung der Gefängnisarbeit." Kleinliche Forderung in einem allgemeinen Arbeiterprogramm, jedenfalls mußte man klar aussprechen, daß man aus Konkurrenzneid die gemeinen Verbrecher nicht wie Vieh behandelt wissen und ihnen namentlich ihr einziges Besserungsmittel, prodüktive Arbeit, nicht abschneiden will. Das war doch das Geringste, was man von Sozialisten erwarten durfte. „6. Ein wirksames Haftgesetz." Es war zu sagen, was man unter „wirksamem" Haftgesetz versteht. Nebenbei bemerkt, hat man beim Normalarbeitstag den Teil der Fabrikgesetzgebung übersehn, der Gesundheitsmaßregeln und Schutzmittel gegen Gefahr etc. betrifft. Das Haftgesetz tritt erst in Wirkung, sobald diese Vorschriften verletzt werden. {Kurz, auch dieser Anhang zeichnet sich durch schlottrige Redaktion aus.) Dixi et salvavi animam meam.1
1 Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet.
Friedrich Engels [Brief an den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation in New York[22]]
London, 122 Regents Park Road, NW, 13. August 1875
An den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation
Bürgerl Die mit Brief des Sekretärs Speyer mir zugesandten (4. Juni, empfangen 21.) Zirkulare[231 sind nach Instruktion in Zirkulation versetzt, und zwar habe ich folgendes im Interesse der Sadhe tun können: 1. Da der hiesige Arbeiter-Verein (deutsche Sektion)[24] durch Verschmelzung mit den Lassalleanern und übergroße Liberalität in der Aufnahme von Mitgliedern - zirka 120 - sich für- vertrauliche Mitteilungen nur dann eignen würde, wenn man solche sofort veröffentlicht wünscht, so habe ich Zirkulare an Leßner und Frankel gegeben, die mit mir einig waren, daß der Inhalt sich nicht zu offizieller Mitteilung im Verein eigne und man sich auf Mitteilung an geeignete Personen beschränken müsse, und sonst im stillen im Interesse der angeregten Angelegenheit zu wirken habe. Davon hier aus sicher keine deutschen Arbeiter nach Philadelphia geschickt werden, so wird das an den praktischen Folgen nichts ändern. 2. Unser Freund Mesa aus Madrid, der jetzt in Paris wohnt, war gerade hier, als das Zirkular ankam. Er nahm die Sache sehr lebhaft auf, ich übersetzte ihm das Zirkular, und da er Mitglieder des Komitees kennt, das in Paris die Subskriptionen zum Zweck der Arbeitersendung nach Philadelphia verwaltet, so wird er bei seiner bekannten Tätigkeit wohl etwas ausrichten können. Er schickt es auch nach Spanien. 3. Nach Belgien konnte ich's nicht schicken, weil ja die ganze belgische Internationale zu den Allianzisten[25] hält und es doch nicht in unserm Interesse liegt, diesen den Plan mitzuteilen. In Portugal und Italien habe
ich keine Adressen. Die „Plebe"1263 von Lodi hat sich so ziemlich den Allianzisten angeschlossen und wäre imstande, die Geschichte sofort zu veröffentlichen. N 4. Da in der Instruktion Deutschland, Österreich und die Schweiz nicht erwähnt sind, auch der Generalrat dort reichliche direkte Verbindung hat, so habe ich dort keine Schritte getan, um nicht die etwa direkt von dort aus getanen zu durchkreuzen. 5. Das Zirkular hat bei allen, die es gesehn, großen Anklang gefunden und wird der gerechte Vorschlag einer Konferenz allgemein als der einzig praktische angesehn. Aber eine Abstimmung darüber zustande zu bringen, erscheint uns hier unmöglich. Der hiesige Verein ist schon erwähnt. Andre Sektionen in England sind alle eingeschlafen, die besten Leute meist fort. In Dänemark, Frankreich, Spanien, wo die Internationale direkt verboten ist, kann von Abstimmung keine Rede sein. In Deutschland hat man nie über so etwas abgestimmt und nach der Vereinigung mit den Lassalleanern die ohnehin lose Verbindung mit der Internationale ganz abgesagt. Unter diesen Umständen sollten die amerikanischen Stimmen hinreichen, den Generalrat zu decken, wenn er den Vorschlag zum Beschluß erhebt, um so mehr, als wir durch gute Quelle wissen, daß die Allianzisten ebenfalls dies Jahr (und auch wohl nie wieder) keinen Kongreß abhalten. 6. Wäre es nicht gut, wenn um die Zeit der Ausstellungseröffnung in den europäischen Parteiblättern eine kurze Notiz eingerückt würde, etwa der Art: „Sozialistische Arbeiter, welche die Ausstellung in Philadelphia besuchen, werden gebeten, sich... (Adresse) zu begeben, wo sie mit den Philadelphiaer Parteigenossen m Verbindung gesetzt werden" oder wenn man ein „Komitee zur Unterbringung sozialistischer Arbeiter resp. deren Beschützung vor Prellerei" stiftete und dessen Adresse veröffentlichte? Letzteres besonders würde sehr unschuldig aussehn, aber ein paar Privatbriefe würden hinreichen, den Sachverhalt genügend zu verbreiten.
Brüderlichen Gruß F. Engels
Nach der Handschrift.
Friedrich Engels Rede auf der Versammlung zum Jahrestag des polnischen Aufstands 1863[27]
Bürger! Polen spielt in der Geschichte der europäischen Revolutionen eine ganz besondere Rolle. Jede Revolution des Westens, der es nicht gelang, Polen mit einzubeziehen und ihm Unabhängigkeit und Freiheit zu sichern, war zum Scheitern verurteilt. Nehmen wir zum Beispiel die Revolution von 1848. Sie ergriff ein weit ausgedehnteres Gebiet als jede vorangegangene Revolution; sie zog in ihren Strudel Osterreich, Ungarn und Preußen hinein. Aber an den Grenzen Polens, das von den Armeen Rußlands besetzt war, machte sie halt. Als Zar Nikolaus die Nachricht von der Februarrevolution erhielt, sagte er zu seiner Umgebung: „Auf die Pferde, meine Herren!" Alsbald mobilisierte er seine Truppen und konzentrierte sie in Polen, bereit, sie im geeigneten Augenblick die Grenzen überschreiten zu lassen gegen das aufständische Europa. Die Revolutionäre wußten ihrerseits genau, daß das Feld, wo die entscheidende Schlacht geliefert werden müßte, Polen war. Am 15. Mai drang die Bevölkerung von Paris mit dem Ruf „Es lebe Polen!"' in die Nationalversammlung ein, um sie zum Kriege für die polnische Unabhängigkeit zu zwingen. Zur gleichen Zeit forderten Marx und ich in der „Neuen Rheinischen Zeitung" [38J, daß Preußen sofort Rußland den Krieg erkläre, um Polen zu befreien1, und wir wurden von der ganzen fortschrittlichen Demokratie Deutschlands unterstützt. In Frankreich und in Deutschland wußte man also genau, wo der entscheidende Punkt war: mit Polen war die Revolution gesichert, ohne Polen mußte sie verlorengehen. Jedoch hatten in Frankreich Herr Lamartine, in Preußen Friedrich Wilhelm IV., der Schwager des Zaren, und sein bürgerlicher Minister, Herr Camphausen, überhaupt nicht die Absicht, die Streitkräfte
1 Siehe Band 5 unserer Ausgabe, S. 334/335
Rußlands zu zerschlagen, in denen sie mit Recht ihren letzten Schutzwall gegen die revolutionäre Flut sahen. Nikolaus brauchte sein Pferd nicht zu besteigen, seine Truppen konnten sich für den Augenblick damit begnügen, Polen niederzuhalten und Preußen, Österreich und Ungarn zu drohen bis zu dem Augenblick, wo die Fortschritte der aufständischen Ungarn die in Wien siegreiche österreichische Reaktion bedrohten. Erst dann überschwemmten die russischen Armeen Ungarn und sicherten, indem sie die ungarische Revolution zerschlugen, den Sieg der Reaktion im gesamten Westen. Europa lag dem Zaren zu Füßen, weil Europa Polen aufgegeben hatte. Fürwahr, Polen ist kein Land wie jedes andere. In Sachen der Revolution ist es der Schlußstein des europäischen Gebäudes; wer von beiden, Revolution oder Reaktion, sich in Polen zu halten vermag, der wird schließlich in ganz Europa herrschen. Und dieser ganz besondere Charakter verleiht Polen die Bedeutung, die es für alle Revolutionäre hat und die uns heute noch ausrufen läßt: Es lebe Polenl
Nach der Handschrift. Aus dem Französischen.
Friedrich Engels Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag1293
[„Der Volksstaat" Nr.23 vom 25. Februar 1876]
I
Am 4. Februar interpellierte Herr Von Kardorff die Reichsregierung wegen der hohen Besteuerung des deutschen „Sprits" in England und Italien. Er machte die Herren darauf aufmerksam, daß (Referat der „Kölnischen Zeitung"130 ]) „in unseren östlichen und nördlichen Provinzen weite Länderstrecken, Hunderte von Quadratmeilen eines ziemlich unfruchtbaren, sterilen Bodens, zu einer verhältnismäßig hohen Ertragsfähigkeit und Kultur gediehen sind durch einen sehr ausgedehnten Kartoffelbau, und daß dieser Kartoffelbau wieder zur Grundlage die Tatsache hat, daß über diese Länder zahlreiche Brennereien zerstreut liegen, in welchen die Spritfabrifeation als landwirtschaftliches Nebengewerbe betrieben wird. Während früher in jenen Ländern auf der Quadratmeile etwa tausend Menschen lebten, ernährt das Land jetzt infolge der Spritfabrikation etwa dreitausend Menschen pro Quadratmeile, denn die Brennereien sind für die Kartoffel deshalb ein notwendiger Absatzmarkt, weil sie ihrem Volumen nach schwierig zu transportieren ist und im Winter wegen des Frostes gar nicht transportiert werden kann. Zweitens wandeln die Brennereien die Kartoffel in den wertvollen und leicht transportabeln Alkohol um und machen endlich den Boden fruchtbarer durch zahlreiche Futterrückstände. Wie bedeutend die hierbei in Frage kommenden Interessen sind, das kann sich jeder klarmachen, der überlegt, daß wir aus der Spiritussteuer für unsere Staatseinnahmen etwa 36 Millionen Mark entnehmen, trotzdem Deutschland von allen Ländern der Welt die niedrigste Spiritussteuer besitzt, z.B. eine fünfmal niedrigere als Rußland." Den preußischen Junkern muß in der letzten Zeit der Kamm sehr geschwollen sein, daß sie den Mut haben, die Augen der Welt auf ihre „Spritindustrie", vulgo Schnapsbrennerei zu ziehn. Im vorigen Jahrhundert wurde in Deutschland nur wenig Branntwein destilliert, und dieser nur aus Korn. Man verstand zwar nicht, das auch in
diesem Branntwein enthaltene Fuselöl (wir kommen auf diesen Punkt zurück) auszuscheiden, da man dies Fuselöl selbst noch gar nicht kannte; aber man wußte aus Erfahrung, daß die Qualität des Branntweins durch längeres Aufbewahren sich wesentlich verbesserte, daß der brennende Geschmack sich verlor und daß sein Genuß weniger berauschend und weniger störend auf die Gesundheit wirkte. Die kleinbürgerlichen Bedingungen, unter denen damals gebrannt wurde, und die noch unentwickelte, mehr auf Qualität als auf Quantität sehende Nachfrage erlaubten fast überall, das Produkt im Keller jahrelang aufzubewahren und ihm so durch allmähliche chemische Umwandlung der schädlicheren Bestandteile einen weniger verderblichen Charakter zu geben. So finden wir am Ende des vorigen Jahrhunderts eine ausgedehntere Brennerei meist auf wenige städtische Orte beschränkt, Münster, Ulrichstein, Nordhausen u.a., und deren Produkt gewöhnlich mit dem Beiwort „alt" ausgestattet. Gegen Anfang dieses Jahrhunderts vermehrten sich die Brennereien auf dem Lande als Nebengewerbe der größeren Gutsbesitzer und Pächter, besonders in Hannover und Braunschweig. Sie fanden Abnehmer, einerseits durch den sich stets weiter verbreitenden Branntweingenuß, andrerseits durch die Bedürfnisse der stets wachsenden und stets kriegführenden Armeen, die ihrerseits wieder den Geschmack am Branntwein in immer weitere Kreise trugen. So konnte denn nach dem Frieden von 1814 die Brennerei sich weiter und weiter ausdehnen, und m der beschriebenen, von der alten städtischen Brennerei ganz verschiedenen Art, als Nebengewerbe großer Gutsbewirtschaftet am Niederrhein, in Preußisch-Sachsen, Brandenburg und der Lausitz festen büß fassen. Der Wendepunkt für die Brennerei war aber die Entdeckung, daß man Branntwein nicht nur aus Korn lohnend herstellen könne, sondern auch aus Kartoffeln. Damit wurde das ganze Gewerbe revolutioniert, Einerseits wurde damit der Schwerpunkt der Brennerei endgültig von den Städten aufs Land verlegt und die kleinbürgerlichen Produzenten von gutem altem Getränk mehr und mehr durch die infamen Kartoffelfusel produzierenden Großgrundbesitzer verdrängt. Andrerseits aber, und dies ist geschichtlich viel wichtiger, wurde der kornbrennende Großgrundbesitzer vom kartoffelbrennenden Großgrundbesitzer verdrängt; die Brennerei verzog sich mehr und mehr vom fruchtbaren Kornland aufs unfruchtbare Kartoffelland, d.h. von Nordwestdeutschland nach Nordostdeutschland - nach Altpreußen östlich der Elbe, Dieser Wendepunkt trat ein mit der Mißernte und Hungersnot von 1816. Trotz der besseren Ernten der beiden folgenden Jahre blieben infolge
«der anhaltenden Kornausfu'nr nach England und andern Ländern die Kornpreise so hoch, daß es fast unmöglich wurde, Korn zur Brennerei zu verwenden. Das Oxhoft Schnaps, das 1813 nur 39 Taler gegolten, wurdel817 zu 70 Taler verkauft. Da trat die Kartoffel an die Stelle des Korns, und 1823 war das Oxhoft bereits zu 14 bis 17 Taler zu haben! Wie aber kamen die armen, durch den Krieg und ihre dem Vaterland gebrachten Opfer angeblich total ruinierten ostelbischen Junker zu den Mitteln, vermöge deren sie ihre drückenden Hypothekenschulden in einträgliche Schnapsbrennereien verwandelten? Die günstigen Konjunkturen der Jahre 1816 bis 1819 lieferten ihnen zwar sehr vorteilhafte Erträge und vermehrten ihren Kredit durch die allgemein steigenden Bodenpreise; das reichte jedoch lange nicht hin. Unsre patriotischen Junker erhielten aber außerdem: erstens Staatshülfe in verschiedenen direkten und indirekten Formen, und zweitens kam ein Umstand hinzu, den wir besonders ins Auge fassen müssen. Bekanntlich war in Preußen 1811 die Ablösung der bäuerlichen Frondienste und überhaupt die Auseinandersetzung zwischen Bauern und Gutsherrn gesetzlich derart geregelt worden, daß die Naturalleistungen in Geldleistungen umgewandelt, diese kapitalisiert und entweder in barem Geld in bestimmten Ratenzahlungen oder aber durch Abtretung eines Stücks bäuerlichen Landes an den Gutsherrn oder auch teilweise in Geld, teilweise in Boden abgelöst werden konnten. Dies Gesetz blieb ein toter Buchstabe, bis die hohen Kornpreise 1816 bis 1819 die Bauern in den Stand setzten, mit der Ablösung voranzugehen. Von 1819 an nahmen die Ablösungen in Brandenburg raschen Fortgang, langsamer in Pommern, noch langsamer in Posen und Preußen. Das auf diese Weise den Bauern zwar gesetzlich aber widerrechtlich (denn die Fronlasten waren ihnen widerrechtlich aufgezwungen worden) abgenommene Geld, soweit es nicht in altadliger Weise sofort verjubelt wurde, diente hauptsächlich zur Anlage von Brennereien. Auch in den übrigen drei genannten Provinzen breitete sich die Brennerei in demselben Maße aus, in dem die bäuerlichen Ablösungen die Mittel dazu lieferten. Die Schnapsindustrie der preußischen Junker ist also buchstäblich mit dem den Bauern abgenommenen Gelde gegründet worden. Und sie ging flott voran, besonders seit 1825. Schon zwei Jahre später, 1827, wurden in Preußen 125 Millionen Quart Schnaps gebrannt, also IOV2 Quart für jeden Kopf der Bevölkerung, im Gesamtwert von 15 Millionen Taler; Hannover dagegen, fünfzehn Jahre vorher der erste Schnapsstaat Deutschlands, produzierte nur 18 Millionen Quart. Man begreift, daß nunmehr ganz Deutschland, soweit sich die Einzelstaaten oder Zollverbände von Einzelstaaten nicht durch Zollschranken
dagegen eindämmten, von einer wahren Sturmflut von preußischem Kartoffelfusel überströmt wurde. 14 Taler das Ohm zu 180 Quart, also das Quart 2 Groschen 4 Pfennig im Großhandel! Die Besoffenheit, die früher das Drei- und Vierfache gekostet hatte, war jetzt auch den Unbemitteltsten tagtäglich zugänglich gemacht, seit der Mann für 15 Silbergroschen die ganze Woche lang im höchsten Tran bleiben konnte. Die Wirkung dieser an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten, aber stets fast urplötzlich sich fühlbar machenden, beispiellos wohlfeilen Branntweinpreise war unerhört. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie Ende der zwanziger Jahre die Schnapswohlfeilheit plötzlich über den niederrheinisch-märkischen Industriebezirk hereinbrach. Namentlich im Bergischen, und ganz besonders in Eiberfeld-Barmen, verfiel die Masse der arbeitenden Bevölkerung dem Trunk. Scharenweise Arm in Arm, die ganze Breite der Straße einnehmend, schwankten von 9 Uhr abends an die „besoffenen Männer" unter disharmonischem Gejohle von Wirtshaus zu Wirtshaus und endlich nach Hause. Bei dem damaligen Bildungszustand der Arbeiter, bei der vollständigen Ausw^gslosigkeit ihrer Lage war das kein Wunder. Namentlich nicht im gesegneten Wuppertal, wo seit sechzig Jahren immer eine Industrie die andre ablöst, wo also fortwährend ein Teil der Arbeiter gedrückt, wo nicht brotlos war, während ein andrer (damals die Färber) für jene Zeit gut bezahlt wurde. Und wenn, wie damals, den Wuppertaler Arbeitern keine andre Wahl blieb als die zwischen dem irdischen Schnaps der Kneipen und dem himmlischen Schnaps der pietistischen Pfaffen - was Wunder, daß sie den ersteren vorzogen, so schlecht er war. Und er war sehr schlecht. Wie er aus dem Kühlapparat kam, ohne weitere Reinigung, mit all seinem Gehalt an Fuselöl, wurde er verschickt und frisch getrunken. Alle aus Weintrebern, Runkelrüben, Korn oder Kartoffeln destillierten Branntweine enthalten dieses Fuselöl, ein Gemisch von höheren Alkoholen, d. h. von dem gewöhnlichen Alkohol analog zusammengesetzten, jedoch mehr Kohlenstoff und Wasserstoff enthaltenden Flüssigkeiten (u.a. primärer Propylalkohol, Isobutylalkohol, bei.weitem vorwiegend aber Amylalkohol). Alle diese Alkohole sind schädlicher als der gewöhnliche Weingeist (Äthylalkohol), und die Dosis, in der sie giftig wirken, ist viel geringer als bei diesem. Professor Binz in Bonn hat neuerdings durch zahlreiche Versuche nachgewiesen, daß die berauschenden Wirkungen unsrer geistigen Getränke, ebensosehr wie deren unangenehme Nachwirkungen im wohllöblichen Katzenjammer respektive in ernsthafteren Krankheits- und Vergiftungserscheinungen, weit weniger dem gewöhnlichen Weingeist oder
Äthylalkohol als vielmehr den höheren Alkoholen, also dem Fuselöl, zuzuschreiben sind. Nicht allein aber wirken sie berauschender und zerstörender, sie bestimmen auch den Charakter des Rausches. Jedermann weiß aus eigner Anschauung, wo nicht Erfahrung, wie verschieden Weinrausch (ja selbst die Räusche der verschiedenen Weinsorten), Bierrausch, Schnapsrausch in ihrer Wirkung auf das Gehirn sind. Je mehr Fuselöl im Getränk und je ungesunder dies Fuselöl in seiner Zusammensetzung, desto wüster und wilder wird der Rausch. Junger, ungereinigter Kartoffelschnaps enthält aber bekanntlich von allen gebrannten Getränken das meiste und das am ungünstigsten zusammengesetzte Fuselöl. Die Wirkung ungewöhnlich starker Quantitäten dieses Getränks auf eine so erregbare, leidenschaftliche Bevölkerung wie die des Bergischen Landes war denn auch ganz dementsprechend. Der Charakter des Rausches hatte sich total verändert. Jede Lustbarkeit, die früher mit gemütlicher Anheiterung und nur selten mit Exzessen endigte, bei welchen letzteren dann freilich der Kneif (das Messer, englisch knife) nicht selten seine Rolle spielte, jede solche Lustbarkeit artete nun aus in ein wüstes Gelage und endigte mit unfehlbarer Keilerei, wobei Messerverwundungen nie fehlten und die tödlichen Messerstiche immer häufiger wurden. Die Pfaffen schoben das auf die zunehmende Gottlosigkeit, die Juristen und andren Philister auf die Kneipenbälle. Die wahre Ursache war die plötzliche Überflutung mit preußischem Fuselöl, das eben seine normale physiologische Wirkung ausübte und Hunderte armerTeufel in die Festungsbaugefangenschaft ablieferte. Diese akute Wirkung des wohlfeilen Schnapses dauerte jahrelang, bis sie allmählich sich mehr oder weniger verlor. Aber die Einwirkung auf die Sitten verschwand nicht ganz; der Branntwein blieb für die Arbeiterklasse ein Lebensbedürfnis in höherem Grade als vorher, und die Qualität, wenn sie sich auch etwas besserte, blieb weit unter der des früheren alten Kornbranntweins.
{„Der Volksstaat" Nr.24 vom 27. Februar 1876] Und wie im Bergischen, so ging es anderswo. Zu keiner Zeit waren die Wehklagen des Philisteriums über Zunahme des übermäßigen Branntweintrinkens unter den Arbeitern allgemeiner, einstimmiger und lauter als von 1825 bis 1835. Es ist sogar fraglich, ob nicht die Dumpfheit, in der speziell die norddeutschen Arbeiter die Ereignisse von 1830[31J über sich ergehen ließen, ohne davon berührt zu werden, großenteils dem Schnaps zu danken ist, der sie damals mehr als je beherrschte. Ernstliche und besonders erfolg
reiche Aufstände kamen nur in Weinländern oder in solchen deutschen Staaten vor, die sich durch Zölle vor preußischem Schnaps mehr oder weniger geschützt hatten. Es wäre nicht das einzige Mal, daß der Schnaps den preußischen Staat gerettet hätte. Die einzige Industrie, die es zu noch verheerenderen direkten Wirkungen -und dies doch nicht gegen das eigene Volk, sondern gegen Fremde - gebracht hat, ist die englisch-indische Opiumindustrie zur Vergiftung von China. Indessen ging die Schnapsfabrikation lustig ihren Gang fort, dehnte sich mehr und mehr nach Osten zu aus und brachte einen Morgen nach dem andern von der nordostdeutschen Sand- und Sumpfwüste unter die Kartoffel. Nicht zufrieden damit, das Vaterland zu beglücken, strebte sie darnach, dem Ausland die Segnungen des altpreußischen Fuselöls zugänglich zu machen. Man destillierte den gewöhnlichen Schnaps nochmals, um einen Teil des darin enthaltenen Wassers zu entfernen, und nannte den so erhaltenen wasserhaltigen und unreinen Weingeist „Sprit", welches die Übersetzung von Spiritus ins Preußische ist. Die höheren Alkohole haben sämtlich höhere Siedepunkte als der Äthylalkohol. Während dieser bei 781/2 Grad des hundertteiligen Thermometers siedet, ist der Siedepunkt des primären Propylalkohols 97 Grad, der des Isobutylalkohols 109 Grad, der des Amylalkohols 132 Grad. Nun sollte man glauben, bei vorsichtiger Destillation müsse mindestens der größte Teil des letzteren, des Hauptbestandteils des Fuselöls, sowie ein Teil des Isobutylalkohols zurückbleiben, und es werde höchstens ein Teil von diesem mit überdestillieren sowie der meiste primäre Propylalkohol, der indes nur sehr schwach im Fuselöl vertreten ist. Aber selbst die wissenschaftliche Chemie verzichtet auf Trennung der drei niedrigeren hier in Frage kommenden Alkohole durch die Destillation und kann den Amylalkohol nur durch die in der Brennerei unabwendbare fraktionierte Destillation aus dem Fuselöl absondern. Dabei geht es bei Destillationen in ländlichen Schnapsfahriken rauh genug her. Kein Wunder also, wenn der anfangs der vierziger Jahre ausgeführte Sprit noch bedeutend mit Fuselöl versetzt war, wie man das am Geruch leicht erkennen konnte; der reine oder nur wasserhaltige Weingeist ist fast geruchlos. Dieser Sprit ging vorzugsweise nach Hamburg. Was geschah damit? Ein Teil wurde in solche Länder verschickt, wo die Eingangszölle ihm nicht Tor und Tür versperrten - an diesem Export nahm auch Stettin teil; die Hauptmasse aber wurde in Hamburg und Bremen zur Fälschung von Rum benutzt. Dieser in Westindien teilweise aus dem Zuckerrohr selbst, größten
teils aber aus den bei der Zuckerbereitung bleibenden Abfällen des Rohrs destillierte Schnaps war der einzige, der infolge seiner wohlfeilen Herstellungskosten als eine Art Luxusgetränk der Massen noch mit dem Kartoffelschnaps konkurrieren konnte. Um nun einen „feinen" aber dennoch wohlfeilen Rum herzustellen, nahm man z.B. ein Faß wirklich feinen Jamaikarum, drei bis vier Fässer wohlfeilen schlechten Berbicerum und zwei bis drei Fässer preußischen Kartoffelsprit - und dies oder ein ähnliches Gemisch durcheinander ergab denn das Gewünschte. Dieses „Gift", wie es bei der Fälschung beteiligte Kaufleute selbst in meiner Gegenwart nannten, wurde verschifft nach Dänemark, Schweden, Norwegen und Rußland, sehr bedeutenden Teils aber auch ging es wieder elbaufwärts oder über Stettin in die Länder, woher der edle Sprit gekommen war, und wurde dort teils für Rum getrunken, teils nach Österreich und Polen eingeschmuggelt. Die Hamburger Kaufleute blieben nicht bei der Rumfälschung stehen. Mit der ihnen eigenen Genialität sahen sie zuerst, welche welterschütternde Zukunftsrolle dem preußischen Kartoffelschnaps vorbehalten war. Sie hatten sich schon an allerlei andern Getränken versucht, und bereits Ende der dreißiger Jahre wollte niemand im außerpreußischen Norddeutschland, der von Wein etwas verstand, weiße französische Weine aus Hamburg beziehen, da es allgemein hieß, diese würden dort mit Bleizucker süß gemacht und damit gleichzeitig vergiftet. Wie dem aber auch sei, der Kartoffelsprit wurde bald die Grundlage einer immer wachsenden Getränkefälschung. Dem Rum folgte der Kognak, der schon mehr Kunst in der Behandlung erforderte. Bald fing man an, Wein mit Sprit zu behandeln, und endlich kam man dahin, Portwein und spanische Weine ganz ohne Wein zu bereiten aus Sprit, Wasser und Pflanzensäften, die mehrfach durch Chemikalien versetzt wurden. Das Geschäft florierte um so mehr, als in vielen Ländern dergleichen Praktiken entweder direkt verboten waren oder doch so nahe an das Strafgesetz anstreiften, daß man es noch nicht für geraten hielt, sich daranzuwagen. Aber Hamburg war der Sitz des unbeschränkten Freihandels, und so wurde „auf Hamburgs Wohlergehen" flott drauflos gefälscht. Indes das Monopol der Fälschung dauerte nicht lange. Nach der Revolution von 1848, als in Frankreich die ausschließliche Herrschaft der großen Finanz und einiger weniger hervorragender Großindustrieller durch die momentane Herrschaft der gesamten Bourgeoisie ersetzt worden, fingen die französischen Produzenten und Händler an einzusehen, welche Wunderkräfte in so einem Faß preußischen Kartoffelsprits schlummerten. Man
begann seinen Kognak schon zu Hause zu versetzen, statt ihn unverfälscht ins Ausland zu senden, und noch mehr den für die inländische Konsumtion bestimmten Kognak (ich nenne so der Kürze halber allen aus Weintrebern destillierten Schnaps) durch kräftigen Zusatz von preußischem Kartoffelsprit zu veredeln. Dadurch wurde der Kognak - der einzige Schnaps, der in Frankreich in die Massenkonsumtion eingeht - bedeutend wohlfeiler. Das Zweite Kaiserreich begünstigte diese Manöver natürlich im Interesse der leidenden Massen, und so finden wir beim Sturze der napoleonischen Dynastie, daß dank den Gnadenwirkungen des altpreußischen Schnapses die Trunkenheit, früher dort fast unbekannt, in Frankreich eine bedeutende Ausdehnung erlangt hat. Eine unerhörte Reihe schlechter Weinernten und schließlich der Handelsvertrag von 1860, der England dem französischen Weinhandel öffnete, gaben den Anlaß zu einem neuen Fortschritt. Die schwachen Weine schlechter Jahrgänge, deren Säure durch Zuckerzusatz nicht zu beseitigen war, bedurften eines Alkoholbeisatzes, um haltbar zu werden. Man mischte sie also mit preußischem Sprit. Ferner war der englische Geschmack an starke Weine gewöhnt-die natürlichen französischen Landweine, die jetzt massenhaft zum Export kamen, waren den Engländern zu dünn und zu kalt. Was in der Welt konnte man Besseres finden, um sie kräftig und warm zu machen, als den preußischen Sprit? Bordeaux wurde mehr und mehr der Hauptplatz für die Fälschung französischer, spanischer und italienischer Weine, die dort in „feinen Bordeaux" umgewandelt wurden, und - für die Vernutzung von preußischem Sprit. Jawohl, spanische und italienische Weine. Seitdem der Konsum französischer Rotweine - und andere will kein Bourgeois trinken - so enorm in England, Nord- und Südamerika und den Kolonien zugenommen hat, reicht selbst der fast unerschöpfliche Weinreichtum Frankreichs nicht mehr aus. Fast die ganze brauchbare Weinernte von Nordspanien, u.a. die ganze Ernte der weinreichen Rioia im Ebrotal, geht nach Bordeaux. Ebendahin schicken Genua, Livorno, Neapel ganze Schiffsladungen von Weih. Während diese Weine mit Hilfe des preußischen Sprits fähig gemacht werden, den Seetransport auszuhalten, steigert diese Weinausfuhr die Weinpreise in Spanien und Italien derart, daß der Wein ganz unerschwinglich wird für die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die ihn früher täglich trank. Statt dessen trinkt sie Schnaps, und der Hauptbestandteil dieses Schnapses ist wieder - preußischer Kartoffelsprit. Ja, Herr von Kardorff beklagt sich im Reichstag darüber, daß dies in Italien noch nicht in hinreichendem Maß der Fall sei.
Wohin wir uns wenden, überall finden wir preußischen Sprit. Der preußische Sprit reicht unvergleichlich weiter als der Arm der deutschen Reichsregierung. Und wo wir diesen Sprit finden, dient er vor allem - der Fälschung. Er wird das Mittel, wodurch südeuropäische Weine verschiffbar und damit der inländischen arbeitenden Bevölkerung entzogen werden. Und wie die Lanze des Achilles die Wunden heilt, die sie geschlagenl321, so bietet der preußische Sprit den des Weins beraubten Arbeiterklassen gleichzeitig den Ersatz in verfälschtem Branntwein! Kartoffelsprit ist für Preußen das, was Eisen und Baumwollenwaren für England sind, der Artikel, der es auf dem Weltmarkt repräsentiert/Wohl mag daher der neueste Adept und zugleich Regenerator des Sozialismus, Herr Eugen Dühring, die Brennerei „in erster Linie... als natürlichen Anschluß (der Industrie) an die landwirtschaftlichen Tätigkeiten" feiern und triumphierend ausrufen:
„Die Spirituserzeugung ist von einer solchen Bedeutung, daß man sie eher unterschätzen als überschätzen wird!" Aber freilich, das „Anch'io son pittore" (Auch ich bin Maler, wie Correggio sagtet33]) heißt auf preußisch: „Auchich bin Schnapsbrenner." Damit aber sind die Wundertaten des preußischen Kartoffelschnäpses noch lange nicht erschöpft.
„Während früher in jenen Ländern", sagt Herr von Kardorff, „auf der Quadratmeile etwa tausend Menschen wohnten, ernährt das Land jetzt infolge der Spritfahrikaiion etwa dreitausend Menschen pro Quadratmeile." Und das ist im ganzen richtig. Ich weiß nicht, von welcher Zeit Herr von Kardorff spricht, wenn er die Bevölkerung auf tausend Köpfe pro Quadratmeile angibt. So eine Zeit hat sicher einmal existiert. Wenn wir aber die Provinzen Sachsen und Schlesien ausschließen, in denen die Brennerei neben den andern Industrien eine weniger hervorragende Rolle spielt, ferner Posen, dessen größter Teil trotz aller Anstrengungen der Regierung noch immer keine Lust bezeigt, etwas andres zu sein als polnisch, so bleiben uns die drei Provinzen Brandenburg, Pommern und Preußen. Diese drei Provinzen haben eine Oberfläche von zusammen 2415 Quadratmeilen. Sie hatten eine Gesamtbevölkerung 1817 von 3 479825 Köpfen oder 1441 auf die Quadratmeile; 1871 von 7 432 407 Köpfen oder 3078 auf die Quadratmeile. Wir stimmen ganz mit Herrn von Kardorff über ein, wenn er diesen Zuwachs der Bevölkerung wesentlich als direkte oder indirekte Folge der Schnapsbrennerei ansieht. Rechnen wir hierzu die Altmark, das nörd
liehe, ackerbautreibende Niederschlesien und den überwiegend deutschen Teil von Posen, wo die Bevölkerungsverhältnisse sich ähnlich gestaltet haben werden, so haben wir das eigentliche Schnapsgebiet, aber auch gleichzeitig den Kern der preußischen Monarchie. Und hiermit eröffnet sich eine ganz andere Perspektive. Die Brennerei zeigt sich jetzt als die eigentliche materielle Grundlage des gegenwärtigen Preußens. Ohne sie mußte das preußische Junkertum zugrunde gehen; seine Güter wären zum Teil von großen Landmagnaten aufgekauft worden, die eine wenig zahlreiche Aristokratie im russischen Sinn gebildet hätten; zum Teil wären sie zerschlagen worden und hätten die Grundlage zu einem selbständigen Bauernstand gebildet. Ohne sie wäre der Kern Preußens ein Land von etwa 2000 Köpfen auf die Quadratmeile geblieben, unfähig, in der Geschichte weiterhin eine Rolle zu spielen, weder im guten noch im schlechten, bis die bürgerliche Industrie sich hinreichend entwickelt, um auch hier die gesellschaftliche und vielleicht politische Leitung zu übernehmen. Die Brennerei hat der Entwicklung eine andere Wendung gegeben. Auf einem Boden, der fast nichts hervorbringt als Kartoffeln und Krautjunker, aber diese auch massenhaft, konnte sie der Konkurrenz einer Welt Trotz bieten. Mehr und mehr begünstigt von der Nachfrage - aus schon erklärten Umständen -, konnte sie sich zur Zentralschnapsfabrik der Welt erheben. Unter den vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen hieß dies nichts anderes als die Ausbildung einerseits einer Klasse mittelgroßer Grundbesitzer, deren jüngere Söhne das Hauptmaterial lieferten für die Offiziere der Armee und für die Bürokratie, d.h. eine neue Lebensfrist für das Junkertum, andererseits einer sich verhältnismäßig rasch vermehrenden Klasse von Halbhörigen, aus denen sich die Masse der „Kernregimenter" der Armee rekrutiert. Was die Lage dieser nominell Freien, aber meist durch Jahreskontrakte, durch Naturalempfänge,durch die Wohnungsverhältnisse, schließlich durch die gutsherrliche Polizei, die mit der neuen Kreisordnung[34] nur eine veränderte Form angenommen hat, dem Gutsherrn praktisch vollständig hörig gemachten Arbeitermasse ist, darüber kann man in den Schriften von Professor von der Goltz sich Rats erholen. Kurz, wenn Preußen in den Stand gesetzt wurde, die 1815 verschluckten westelbischen Brocken1351 einigermaßen zu verdauen, 1848 die Revolution in Berlin zu erdrücken, 1849 trotz der rheinisch-westfälischen Aufstände an die Spitze der deutschen Reaktion zu treten, 1866 den Krieg mit Österreich durchzuführen und 1871 ganz Kleindeutschland unter die Führung dieses zurückgebliebensten, stabilsten, ungebildetsten, noch halbfeudalen Teils von Deutschland zu bringen, wem verdankt es das? Der Schnapsbrennerei.
[„Der Volksstaat" Nr.25 vom 1. März 1876]
II
Kehren wir indes zum Reichstag zurück. An der Debatte beteiligen sich vorwiegend Herr von Kardorff, Herr von Delbrück und der hamburgische Bundesbevollmächtigte Krüger. Nach dieser Debatte scheint es fast, als täten wir dem preußischen Kartoffelspiritus ein himmelschreiendes Unrecht. Nicht der preußische, sondern der russische Sprit ist vom Übel. Herr von Kardorff beklagt sich, daß Hamburger Industrielle russischen Schnaps (und dieser ist, wie Herr Krüger ausdrücklich hervorhebt, aus Korn, nicht aus Kartoffeln gebrannt) zu Sprit verarbeiten, „als deutschen Sprit versenden und damit dem Renommee des deutschen Sprits Abbruch tun". Herrn Delbrück „ist gesagt worden, daß eine solche Unterschiebung dadurch große Schwierigkeiten finden würde, daß es bis jetzt noch nicht gelungen sei, aus russischem Branntwein geruchlosen Sprit herzustellen wie aus deutschem", er fügte aber vorsichtig hinzu: „Meine Herren, das kann ich natürlich nicht wissen." Also nicht der preußische Kartoffelspiritus, sondern der russische Kornspiritus ist vom Übel. Der preußische Kartoffelsprit ist „geruchlos", d.h. fuselfrei; der russische Kornsprit ist bis jetzt noch nicht geruchlos herzustellen, enthält also Fuselöl, und wenn er als preußischer verkauft wird, so bringt er diesen um sein fuselfreies Renommee. Hiernach hätten wir den preußischen „Fuselfreien" allerdings in bübischer Weise und in durchaus reichsfeindlicher Absicht verleumdet. Sehen wir zu, wie es in der Wirklichkeit sich verhält. Man hat allerdings ein Verfahren, um Branntwein zu entfuseln, indem man ihn mit frisch geglühter Holzkohle behandelt. Infolgedessen ist der in den Handel kommende Sprit überhaupt in letzter Zeit weniger mit Fuselöl versetzt gewesen. Nun aber ist zwischen den beiden Spritsorten, die uns hier angehen, folgender Unterschied: Der Kornspiritus kann ohne große Mühe vollständig entfuselt werden, während die Entfuselung des Kartoffelsprits viel schwieriger und in der Großproduktion praktisch so sehr unmöglich ist, daß selbst der reinste aus Kartoffelschnaps hergestellte Spiritus beim Zerreiben auf der Hand stets Fuselgeruch zurückläßt. Daher ist es Regel, daß für Verwendung in Apotheken und zu feinen Likören nur Kornspiritus, nie aber Kartoffelsprit genommen wird oder doch genommen werden soll (denn auch hier wird ja gefälscht!). Und ein paar Tage nachdem die „Kölnische Zeitung" obige Schnaps
debatte gebracht, bringt sie (8. Februar, erstes Blatt) in den Vermischten Nachrichten folgenden Stoßseufzer eines rheinischen Schoppenstechers: „Äußerst wünschenswert wäre es nun, auch den Zusatz von Kartoffelsprit zum dünnen Wein darzutun. Wüste Eingenommenheit des Kopfes hinterher weist allerdings, aber zu spät, darauf hm. Der Kartoffelsprit enthält noch Fuselöl, dessen sonst unangenehmer Geruch durch den eigentümlichen des Weins verdeckt wird. Diese Verfälschung gehört zu den häufigsten. Endlich, um die altpreußischen Schnapsbrenner zu beruhigen, läßt Herr Krüger das bedenkliche Faktum ans Tageslicht, daß der russische Kornspiritus im Hamburger Markt vier Mark teurer bezahlt wird als der preußische Kartoffelsprit. Letzterer wurde am 7. Februar in Hamburg mit 35 Mark pro 100 Liter notiert; der russische holt also einen um 12 Prozent besseren Preis als der preußische, dessen Renommee er angeblich Abbruch tut! Und nun sehe man sich nach allen diesen Tatsachen die verletzte Unschuldsmiene des verleumdeten, „geruchlosen", auf sein Renommee eifersüchtigen, tugendhaften preußischen „Fuselfreien" an, der im Großhandel nur 35 Markpfennige das Liter kostet, wohlfeiler als Bier! Wenn man jene Debatte und diese Tatsachen zusammenhält, kommt man da nicht in Versuchung zu fragen: Wer wird hier zum Narren gehalten? Weltumfassend ist der gesegnete Einfluß des preußischen Fuselöls, denn mit dem Kartoffelsprit fließt es in jedes Getränk ein. Von dem sauren dünnen Mosel- und Rheinwein schlechter Lagen, der mit Kartoffelzucker und Kartoffelsprit in Brauneberger und Niersteiner umgezaubert wird, von dem schlechten Rotwein, der seit Gladstones Handeis vertrag England überschwemmt und dort „Gladstone" genannt wird, bis zum Chäteau Lafitte und Champagner, Portwein und Madeira, den die Bourgeois in Indien, China, Australien und Amerika trinken, ist kein Getränk, in dessen Zusammensetzung nicht preußisches Fuselöl einträte. Die Produktion dieser Getränke floriert überall, wo Wein wächst und wo Wein in großen Massen lagert, und sie jubelt dem Kartoffelsprit Dithyramben entgegen. Aber die Konsumtion? Ja, die Konsumtion wird es inne, vermittelst der „wüsten Eingenommenheit des Kopfes", worin die Segnungen des preußischen Fuselöls bestehen, und versucht sich diese Segnungen vom Leibe zu halten. In Italien, sagt Herr von Kardorff, wendet man den Handelsvertrag so an, daß der preußische Sprit einen viel zu hohen Zoll zahlt. Belgien, Amerika, England machen durch hohe Zölle die Spritausfuhr dorthin unmöglich. In Frankreich kleben die Zollbeamten rote Zettel auf die Spritfässer, um sie als preußische zu kennzeichnen - wirklich das erste Mal, daß die
französischen Zollbeamten irgend etwas Gemeinnütziges getan haben! Kurz, es ist so weit gekommen, daß Herr von Kardorff verzweiflungsvoll ausruft: „Meine Herren, wenn Sie sich die Lage der deutschen Spritindustrie vergegenwärtigen, werden Sie finden, daß sich alle Länder aujs ängstlichste gegen unsere Sprits verschließen/" Natürlich genug! Die Gnaden Wirkungen dieser Sprits sind allgemach weltbekannt geworden, und die einzige Manier, sich die „wüste Eingenommenheit des Kopfes" vom Leibe zu halten, ist die, das Fuselzeug überhaupt nicht ins Land zu lassen. Und nun zieht noch gar, schwer und dumpfig, eine Wetterwolke von Osten über die bedrängten Schnapsjunker empor. Der große Bruder in Rußland, der letzte Hort und Schirm aller altehrwürdigen Einrichtungen gegen moderne Zerstörungswut, fängt nun auch an, Schnaps zu brennen und auszuführen, und zwar Kornschnaps, und diesen liefert er obendrein ebenso wohlfeil wie die preußischen Junker ihren Kartoffelschnaps. Von Jahr zu Jahr mehrt sich die Produktion und die Ausfuhr dieses russischen Schnapses, und wenn er bisher in Hamburg zu Sprit rektifiziert wurde, so erzählt uns Herr Delbrück, daß „in den russischen Häfen... jetzt schon in der Anlage befindlich sind eine Anzahl mit vorzüglichsten Apparaten ausgestatteter Anstalten zur Rektifikation von russischem Branntwein", und bereitet die Herren Junker darauf vor, daß die russische Konkurrenz mit jedem Jahre ihnen mehr über den Kopf wachsen wird. Herr von Kardorff fühlt das sehr gut und verlangt, die Regierung solle die Durchfuhr von russischem Spiritus durch Deutschland kurzerhand verbieten. Herr von Kardorff sollte doch als freikonservativer Abgeordneter in der Lage sein, die Stellung der deutschen Reichsregierung zu Rußland besser zu würdigen. Nach der Annexion von Elsaß-Lothringen und der unerhörten Kriegsentschädigung der fünf Milliarden, wodurch man Frankreich zum notwendigen Bundesgenossen jedes Feindes von Deutschland gemacht hatte, und bei der Politik, sich überall geachtet oder vielmehr gefürchtet, aber nirgends geliebt zu machen, blieb nur eine Wahl: entweder nun auch rasch Rußland niederzuschlagen oder aber - sich die russische Allianz zu sichern (soweit auf Rußland Verlaß ist), indem man der gehorsame Diener der russischen Diplomatie wurde. Da man sich zur ersten Alternative nicht entschließen konnte, verfiel man rettungslos der zweiteni Preußen, und mit ihm das Reich, ist wieder in derselben Abhängigkeit von Rußland wie nach 1815 und nach 1850; und gerade wie nach 1815 dient die „Heilige Allianz" zum Deckmantel dieser Abhängigkeit. Das Resultat aller glorreichen Siege ist, daß man nach wie vor das fünfte Rad am europäischen Wagen bleibt. Und da wundert sich Bismarck, daß das deutsche Publikum nach wie vor
sich um die Angelegenheiten des Auslandes kümmert, wo die wirklichen Schwerpunkte der Entscheidung liegen, statt um die Taten der Reichsregierung, die in Europa, und um die Reden des Reichstags, der in Deutschland nichts zu sagen hat! Die Durchfuhr russischen Sprits verbieten! Ich möchte den Reichskanzler sehen, der das wagte, ohne gleichzeitig die Kriegserklärung gegen Rußland im Sack zu haben! Und wenn Herr von Kardorff ein so sonderbares Verlangen an die Reichsregierung stellt, so sollte man fast glauben, nicht nur das Schnapsfn'n^en, sondern schon das SchnapsBrennen wirke benebelnd auf den Verstand. Haben doch auch berühmtere Schnapsbrenner als Herr von Kardorff in der letzten Zeit Dinge vorgenommen, für die sich, von ihrem eigenen Standpunkte aus, absolut keine rationelle Erklärung finden läßt. Im übrigen ist nichts begreiflicher, als daß die russische Konkurrenz unsern Schnapsjunkern ein unheimliches Grauen einflößt. Im Innern von Rußland gibt es große Landstriche, wo Korn ebenso wohlfeil zu haben ist wie Kartoffeln in Preußen. Brennmaterial ist zudem in Rußland meistens wohlfeiler als in unsern Brenner ei dist;rikten. Alle materiellen Vorbedingungen sind da. Was Wunder, daß ein Teil des russischen Adels, ganz wie die preußischen Junker, das vom Staat bei der Frondenablösung für Rechnung der Bauern vorgeschossene Geld in Brennereien anlegt? Daß diese Brennereien, bei dem stets wachsenden Markt und bei dem Vorzug, den Kornbranntwein bei gleichem oder wenig höherem Preis stets vor Kartoffelbranntwein haben wird, sich rasch ausdehnen und daß schon jetzt die Zeit abzusehen ist, wo ihr Produkt den preußischen Kartoffelsprit gänzlich vom markte verdrängt? Da hilft kein Klagen und kein jammern. Die Gesetze der kapitalistischen Produktion, solange diese dauert, sind ebenso unerbittlich für Junker wie für Juden. Dank der russischen Konkurrenz rückt der Tag heran, wo die heilige Ilios hinsinkt, wo die herrliche preußische Schnapsindustrie vom Weltmarkt verschwindet und höchstens noch den innern Markt befuselt. Aber an dem Tages wo den preußischen Junkern der Destillierhelm entwunden wird und ihnen nur noch der Wappenhelm oder höchstens der Armeehelm bleibt - an dem Tage ist es aus mit Preußen. Sehen wir ganz ab vom übrigen Gang der Weltgeschichte, von der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Unvermeidlichkeit neuer Kriege oder Umwälzungen - die russische Schnapskonkurrenz allein muß Preußen ruinieren, indem sie die Industrie vernichtet, die den Ackerbau der östlichen Provinzen auf seiner jetzigen Entwickelungsstufe erhält. Damit vernichtet sie aber auch die Lebensbedingungen der ostelbischen Junker und ihrer 3000 Hörigen auf die Quadratmeile; und damit vernichtet sie die Grundlage des
preußischen Staats: das Material der Offiziere wie der Unteroffiziere und der unbedingt Ordre parierenden Soldaten, dazu das Material des Kerns der Bürokratie, das Material, das dem jetzigen Preußen seinen spezifischen Charakter aufdrückt. Mit dem Sturz der Branntweinbrennerei stürzt der preußische Militarismus, und ohne ihn ist Preußen nichts. Dann werden diese Ostprovinzen in den Rang zurücksinken, der ihnen nach ihrer dünnen Bevölkerung, ihrer unter dem Ackerbau geknechteten Industrie, ihren halbfeudalen Zuständen, ihrem Mangel an bürgerlicher Entwickelung und allgemeiner Bildung in Deutschland zukommt. Dann werden die übrigen Länder des Deutschen Reichs, befreit von dem Druck dieser halbmittelalterlichen Herrschaft, aufatmen und die ihnen nach ihrer industriellen Entwickelung und fortgeschritteneren Bildung zukommende Stellung einnehmen. Die Ostprovinzen selbst werden sich andere, weniger vom Ackerbau abhängige und weniger feudalen Betrieb zulassende Industrien aussuchen und in der Zwischenzeit, statt dem preußischen Staat, der Sozialdemokratie ihre Armee zuführen. Die ganze übrige Welt wird jubeln, daß es mit der preußischen Fuselölvergiftung endlich einmal zu Ende ist; die preußischen Junker und der dann endlich „in Deutschland aufgegangene" preußische Staat aber werden sich trösten müssen mit den Worten des Dichters: Was unsterblich im Gesang soll leben, Muß im Leben untergehn.t36J
Geschrieben im Februar 1876.

FRIEDRICH ENGELS Wilhelm WolfF'
Geschrieben zwischen Juni und Ende November 1876 als Artikelserie. Die Artikel erschienen in „Die Neue Welt", Leipzig, wie folgt: I in Nr. 27 vom 1. Juli 1876 II in Nr.28 vom 8. Juli 1876 III in Nr.30 vom 22. Juli 1876 IV in Nr. 31 vom 29. Juli 1876 V in Nr. 40 vom 30. September 1876 VI in Nr. 41 vom 7. Oktober 1876 VI I in Nr. 42 vom 14. Oktober 1876 VIII in Nr.43 vom 21.Oktober 1876 IX in Nr. 44 vom 28. Oktober 1876 X in Nr. 45 vom 4. November 1876 XI in Nr. 47 vom 25. November 1876 Der biographische Teil dieser Artikel erschien außerdem 1886 als erster Teil der Einleitung zu Wilhelm Wolffs Arbeit „Die schlesische Milliarde", die als broschierter Neuabdruck in Köttingen-Zürich herausgegeben wurde.
Es war, wenn ich nicht irre, gegen Ende April 1846. Marx und ich wohnten damals in einer Vorstadt von Brüssel; wir waren grade bei einer gemeinschaftlichen Arbeit beschäftigt1381, als man uns mitteilte, ein Herr aus Deutschland wünsche uns zu sprechen. Wir fanden einen kleinen, aber stark gedrungen gebauten Mann; der Gesichtsausdruck ebensosehr Wohlwollen wie ruhige Entschiedenheit verkündend; die Gestalt eines ostdeutschen Bauern in der Tracht eines ostdeutschen kleinstädtischen Bürgers. Das war Wilhelm Wolff. Wegen Preßvergehens verfolgt, war er den preußischen Gefängnissen glücklich entgangen. Wir ahnten nicht bei seinem ersten Anblick, welch einen seltnen Mann diese unscheinbare Äußerlichkeit barg. Wenige Tage genügten, um uns mit dem neuen Exilsgenossen auf herzlichen Freundesfuß zu stellen und uns zu überzeugen, daß wir es mit keinem gewöhnlichen Menschen zu tun hatten. Sein in der Schule des klassischen Altertums feingebildeter Geist, sein reicher Humor, sein klares Verständnis schwieriger theoretischer Fragen, sein lohender Haß gegen alle Unterdrücker der Volksmassen, sein energisches und doch ruhiges Wesen enthüllten sich bald; aber es brauchte lange Jahre des Zusammenwirkens und des Freundesverkehrs in Kampf, Sieg und Niederlage, in guten und schlechten Zeiten, um seine unerschütterliche Charakterstärke, seine absolute, keinen Zweifel zulassende Zuverlässigkeit, sein gegen Feind, Freund und sich selbst gleich strenges, unentwegbares Pflichtgefühl in ihrer ganzen Fülle zu erproben.
I
Wilhelm Wolff wurde geboren am 21 .Juni 1809 in Tarnau, in der Gegend von Frankenstein in Schlesien1391. Sein Vater war erbuntertäniger Bauer und hielt zugleich den Gerichtskretscham (das Wirtshaus - polnisch
karczma --, wo die Dorfgerichtssitzungen stattfanden), was ihn nicht verhinderte, mit Frau und Kindern für den gnädigen Herrn Frondienste verrichten zu müssen. Wilhelm lernte somit die scheußliche Lage der ostdeutschen hörigen Bauern von Kindesbeinen an nicht nur kennen, sondern auch persönlich erdulden. Aber er lernte auch mehr. Seine Mütter, von der er immer mit besonderer Anhänglichkeit sprach und die eine über ihren Stand hinausgehende Bildung besaß, weckte und nährte in ihm den Zorn über die schamlose Ausbeutung und niederträchtige Behandlung der Bauern durch die Feudalherren. Und wie dieser Zorn in ihm lebenslang gärte und kochte, das werden wir sehen, wenn wir zu dem Zeitabschnitt seines Lebens kommen, wo er ihn endlich einmal öffentlich ausschütten konnte. Die Talente und die Lernlust des Bauern jungen machten sich bald bemerklich; er sollte womöglich aufs Gymnasium, aber welche Hindernisse waren nicht zu überwinden, bis das fertiggebracht wurde! Von den Geldschwierigkeiten abgesehen, war da der gnädige Herr und sein Verwalter, und ohne die konnte nichts geschehen. Die Erbuntertänigkeit war zwar 1810 dem Namen nach aufgehoben, aber Feudallieferungen, Frondienste, Patrimonialgericht, gutsherrKche Polizei dauerten fort und ließen auch die Erbuntertänigkeit der Sache nach fortbestehen. Und der gnädige Herr und seine Beamten machten aus den Bauernjungen viel lieber Sauhirten als Studenten. Indes, alle Hindernisse wurden überwunden. Wolff kam aufs Gymnasium nach Schweidnitz und dann auf die Universität nach Breslau. Auf beiden Anstalten hatte er sich den größeren Teil seines Unterhalts durch Privatstunden selbst zu erwerben. Auf der Universität warf er sich mit Vorhebe auf die klassische Philologie; aber er war kein silbenstechender Philolog der alten Schule; die großen Dichter und Prosaiker der Griechen und Römer fanden volles Verständnis bei ihm und blieben seine Lieblingslektüre solange er lebte. Er war mit seinem Universitätsstudium beinah zu Ende, als die in den zwanziger Jahren endlich eingeschlafene Demagogenhetze[40] des Bundestags [41] und der österreichischen und preußischen Regierung von neuem begann. Mitglied der Burschenschaft, wurde auch er 1834 verhaftet, jahrelang in Untersuchung von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt, endlich verurteilt. Wozu? Ich glaube nicht, daß er je der Mühe wert fand, es zu sagen. Genug, er kam nach Silberberg auf die Festung. Dort fand er Leidensgenossen, unter anderen auch Fritz Reuter. Wenige Monate vor Wolffs Tode fielen ihm des letzteren „Ut mine Festungstid" in die Hände, und kaum hatte er im Verfasser seinen alten Leidensgefährten entdeckt, als er ihm durch die Verlagshandlung Nachricht zukommen ließ.[42) Reuter
antwortete ihm sogleich in einem langen und sehr herzlichen Briefe, der mir vorliegt und der beweist, daß wenigstens am 12. Januar 1864 der alte Demagog alles war, nur kein zahmer Zukreuzkriecher. „Da sitze ich nun", schreibt er, „schon an die dreißig Jahr, bis mir das Haar grau geworden ist, und warte auf eine tüchtige Revolution, in der sich der Volkswille einmal energisch dokumentieren soll, aber was hilft's? ... Wenn doch das preußische Volk wenigstens zur Steuerverweigerung griffe, es ist das einzige Mittel, den Bismarck et Comp, loszuwerden und den alten König totzuärgern." Auf Silberberg machte Wolff alle die vielen Leiden und wenigen Freuden festungsgefangener Demagogen durch, die Fritz Reuter in dem obigen Buch so lebhaft und mit so vielem Humor geschildert hat. Für die feuchten Kasematten und bitterkalten Winter war es eine ärmliche Entschädigung, daß das alte Felsennest eine Besatzung von alten Invaliden hatte, sogenannten Garnisönern, die sich aber nicht durch Strenge auszeichneten und einem Schnaps oder einem Viergroschenstück manchmal zugänglich waren. Genug, 1839 hatte Wolff so sehr an seiner Gesundheit gelitten, daß er begnadigt wurde. Er ging nach Breslau und suchte als Lehrer fortzukommen. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und der Wirt war die preußische Regierung. Mitten in seinen Studien durch die Haft unterbrochen, hatte er die vorgeschriebenen drei Universitätsjahre nicht absolvieren können, noch weniger das Examen gemacht. Und in dem preußischen China galt ja nur der als zünftiger Gelehrter, der alles das vorschriftsmäßig abgewickelt hatte. Jeder andere, mochte er auch in seinem Fach so gelehrt sein, wie Wolff dies in der klassischen Philologie war, stand außerhalb der Zunft, war von der öffentlichen Verwertung seiner Kenntnisse ausgeschlossen. Blieb die Aussicht, sich als Privatlehrer durchzuschlagen. Aber dazu gehörte eine Konzession der Regierung, und als Wolff darum einkam, wurde sie ihm verweigert. Der Demagog hätte verhungern oder wieder im heimatlichen Dorf Frondienste tun müssen, wenn es in Preußen keine Polen gegeben hätte. Ein posenscher Gutsbesitzer nahm ihn als Hauslehrer an; bei ihm verlebte er « mehrere Jahre, von denen er immer mit besonderem Vergnügen sprach. Nach Breslau zurückgekehrt, erlangte er endlich nach vielem Tribulieren und Querulieren die Erlaubnis einer hochpreislichen königlichen Regierung, Privatstunden geben zu dürfen, und konnte sich nun wenigstens eine bescheidene Existenz gründen. Mehr verlangte der fast bedürfnislose Mann nicht. Zugleich nahm er den Kampf gegen die bestehende Unterdrückung wieder auf, soweit dies unter den damaligen jammervollen Verhältnissen möglich war. Er mußte sich darauf beschränken, einzelne Tat
sachen von Beamten-, Gutsherren- oder Fabrikantenwillkür an die Öffentlichkeit zu bringen, und fand auch da noch Hindernisse an der Zensur. Aber er ließ sich nicht irremachen. Das damals neueingesetzte Oberzensurgericht hatte keinen hartnäckigeren, immer wiederkehrenden Stammgast als den Privatlehrer Wolff in Breslau. Nichts machte ihm mehr Spaß, als die Zensur zu prellen, was bei der Dummheit der meisten Zensoren nicht sehr schwer war, sobald man ihre schwachen Seiten einigermaßen kannte. So war er es, der die frommen Gemüter aufs äußerste skandalisierte, indem er in einem alten Kirchengesangbuch, das noch in einigen Orten in Gebrauch war, das folgende „Kernlied" des bußfertigen Sünders entdeckte und in den schlesischen Provinzialblättern zur Öffentlichkeit brachte: Ich bin ein rechtes Rabenaas, Ein wahrer Sündenkrüppel, Der seine Sünden in sich fraß, Als wie der Russ' die Zwippel. Herr Jesu, nimm mich Hund beim Ohr, Wirf mir den Gnadenknochen vor, Und schmeiß mich Sündenlümmel In deinen Gnadenhimmel. Wie ein Lauffeuer ging das Lied durch ganz Deutschland, das schallende Gelächter der Gottlosen, die Entrüstung der „Stillen im Lande" hervorrufend. Der Zensor bezog einen derben Rüffel, und die Regierung begann mit der Zeit wieder ein wachsames Auge auf diesen Privatlehrer Wolff, diesen unruhigen Schwindelkopf, zu werfen, den fünf Jahre Festung nicht hatten zahmen Können. üs mauerte auen mcnt lange, so läna man wieaer einen Vorwand, ihm den frozeß zu machen. Die altpreußische Gesetzgebung war ja über das Land ausgebreitet wie ein kunstreich angelegtes System von Fallen, Schlingen, Wolfsgruben und Fangnetzen, denen selbst die getreuen Untertanen nicht immer entgehen konnten, denen aber die ungetreuen um so sicherer verfielen. Das Preßvergehen, wegen dessen Wolff Ende 1845 oder Anfang 1846 in Anklagezustand versetzt wurde, war so unbedeutend, daß jetzt keiner von uns sich mehr auf die näheren Umstände besinnen kann.[43] Die Verfolgung nahm aber solche Dimensionen an, daß Wolff, der die preußischen Gefängnisse und Festungen satt hatte, sich der drohenden Verhaftung entzog und nach Mecklenburg ging.* Hier fand er bei Freunden sicheres Unter
* Nach Wermuth-Stieber: „Die Communisten-Verschwörungen des 19. Jahrhunderts", II, S.141, wurde Wolff 1846 vom Breslauer Oberlandgericht wegen „Preßvergehen" zu drei Monaten Festungshaft verurteilt. [1886 von Engels eingefügt.]
kommen, bis seine unbehinderte Einschiffung nach London in Hamburg arrangiert werden konnte. In London, wo er zum ersten Male in einem öffentlichen Verein - dem noch bestehenden deutschen kommunistischen ArbeiterbildungsvereinIa4] - auftrat, blieb er nicht lange und kam dann, wie schon erzählt, nach Brüssel. II In Brüssel fand er bald Beschäftigung in einem dort gegründeten Korrespondenzbüro, das deutsche Blätter mit französischen, englischen und beigischen Nachrichten versah und das, soweit die Umstände dies zuließen, in sozialdemokratischem Geiste redigiert wurde. Als die „Deutsche-Brüsseler-Zeitung" [441 sich unsrer Partei zur Verfügung stellte, arbeitete auch Wolff daran mit. Im Brüsseler deutschen Arbeiterverein1451, der von uns um diese Zeit gestiftet wurde, war Wolff bald einer der beliebtesten Redner. Er gab dort wöchentlich eine Übersicht der Tagesereignisse, die jedesmal ein Meisterstück volkstümlicher, ebenso humoristischer wie kräftiger Darstellung war und namentlich die Kleinlichkeiten und Gemeinheiten der Herren wie der Untertanen in Deutschland gebührend züchtigte. Diese politischen Übersichten wurden für ihn so sehr ein Lieblingsthema, daß er sie in jedem Verein abhandelte, an dem er sich beteiligte, und immer mit derselben Meisterschaft populärer Darstellung. Die Februarrevolution brach los und fand sofortigen Widerhall in Brüssel. Scharen von Menschen versammelten sich jeden Abend auf dem Großen Markt vor dem Rathause, das von der Bürgerwehr und Gensdarmerie besetzt war; die vielen Bier- und Schnapswirtschaften um den Markt waren gedrängt voll. Man schrie „Vive laRepublique!", man sang die Marseillaise, man drängte, schob und wurde geschoben. Die Regierung hielt sich scheinbar mäuschenstill, berief aber in den Provinzen die Reserven und Beurlaubten zur Armee ein. Sie ließ dem angesehensten belgischen Republikaner Herrn Jottrand unterderhand mitteilen, der König sei bereit, abzudanken, falls das Volk es wünsche, und er könne das vom König selber hören, sobald er wolle. Jottrand ließ sich in der Tat von Leopold erklären, er selbst sei in seinem Herzen Republikaner und werde nie im Wege stehen, falls Belgien sich als Republik zu konstituieren wünsche; er wünsche nur, daß alles ordentlich und ohne Blutvergießen abgehe und hoffe übrigens auf eine anständige Pension. Die Nachricht wurde unterderhand rasch verbreitet und wiegelte so weit ab, daß kein Erhebungsversuch gemacht wurde. Aber kaum waren die Reserven beisammen und die Mehrzahl der Truppen um Brüssel konzentriert - drei bis vier Tage genügten in dem kleinen Ländchen -, so war
von der Abdankung keine Rede mehr, die Gensdarmerie schritt plötzlich abends mit flacher Klinge gegen die Menschenhaufen auf dem Markte ein, und man verhaftete rechts und links. Unter den ersten der so Gemißhandelten und Verhafteten war auch Wolff, der ruhig seines Weges nach Hause ging. Ins Rathaus geschleppt, wurde er von den wütenden und angetrunkenen Bürgergardisten noch nachträglich gemißhandelt und nach mehrtägiger Haft über die Grenze nach Frankreich spediert. In Paris hielt er sich nicht lange auf. Die Berliner Märzrevolution und die Vorbereitungen zum Frankfurter Parlament und zur Berliner Versammlung veranlaßten ihn, zunächst nach Schlesien zu gehen, um dort für radikale Wahlen zu wirken. Sobald wir, sei es in Köln, sei es in Berlin, eine Zeitung gegründet, wollte er dann zu uns kommen. Seiner allgemeinen Beliebtheit und seiner populär-kräftigen Beredsamkeit gelang es, namentlich in ländlichen Wählerkreisen, radikale Kandidaturen durchzusetzen, die ohne ihn aussichtslos waren. Inzwischen erschien am 1 .Juni in Köln die „Neue Rheinische Zeitung" mit Marx als Redakteur en Chef, und bald kam Wolff, seinen Posten auf der Redaktion zu übernehmen. Sein unermüdlicher Fleiß, seine peinliche, durch nichts zu beirrende Gewissenhaftigkeit hatten in der aus lauter jungen Leuten bestehenden Redaktion den Nachteil für ihn, daß die andern sich manchmal eine Extra-Freistunde nahmen, in der Gewißheit, „Lupus werde schon dafür sorgen, daß die Zeitung zustande komme", und will ich mich selbst durchaus nicht davon freisprechen. Daher kam es, daß Wolff in der ersten Zeit des Blattes sich weniger mit Leitartikeln, als mit den laufenden Arbeiten beschäftigte. Bald fand er jedoch einen Weg, auch diese zu selbständiger Tätigkeit zu verwenden. Unter der laufenden Rubrik „Aus dem Reich" wurden die Nachrichten aus den deutschen Kleinstaaten zusammengestellt, die kleinstaatlichen und kleinstädtischen Beschränktheiten und Philistereien der Regenten wie der Regierten mit unvergleichlichem Humor behandelt. Gleichzeitig gab er in der Demokratischen Gesellschaft1463 allwöchentlich die Ubersicht der Tagesereignisse, die ihn auch hier bald zu einem der beliebtesten und wirkungsvollsten Redner machte. Die Dummheit und Feigheit des Bürgertums, die seit der Pariser Junischlacht sich immer höher steigerte, hatte der Reaktion wieder erlaubt, zu Kräften zu kommen. Die Kamarillen von Wien, Berlin, München usw. arbeiteten Hand in Hand mit dem edlen Reichsverweser1 und hinter den Kulissen stand die russische Diplomatie und lenkte die Drähte, an denen
1 Erzherzog Johann
jene Marionetten tanzten. Jetzt, im September 1848, rückte für diese Herren der Augenblick zum Handeln heran. Unter direktem und indirektem (durch Lord Palmerston besorgtem) russischen Druck war der erste schleswig-holsteinsche Feldzug durch den schmählichen Waffenstillstand von Malmöt473 beschlossen worden. Das Frankfurter Parlament erniedrigte sich dazu, ihn zu bestätigen und damit offenbar und unzweifelhaft sich von der Revolution loszusagen. Der Frankfurter Aufstand vom 18. September war die Antwort; er wurde niedergeschlagen. Fast gleichzeitig war in Berlin die Krisis zwischen der Verfassungs-Vereinbarungs-Versammlung[483 und der Krone ausgebrochen. Am 9. August hatte die Versammlung durch einen höchst zahmen, ja schüchternen Beschluß die Regierung gebeten, doch etwas zu tun, damit das schamlose Gebaren der reaktionären Offiziere nicht mehr so offenbar und anstößig betrieben werde. Als sie im September Ausführung dieses Beschlusses verlangte, war die Antwort die Einsetzung des direkt reaktionären Ministeriums Pfuel mit einem General an der Spitze (19. Sept.) und die Ernennung des bekannten Wrangel zum Obergeneral in den Marken: zwei Winke mit dem Zaunpfahl für die Berliner Vereinbarer, entweder zu Kreuz zu kriechen oder Auseinander jagung zu gewärtigen. Die Aufregung würde allgemein. Auch in Köln wurden Volksversammlungen gehalten und ein Sicherheitsausschüß ernannt. Die Regierung beschloß, den ersten Streich in Köln zu führen. Demgemäß wurden am Morgen des 25. September eine Anzahl Demokraten verhaftet, darunter auch der jetzige Oberbürgermeister, damals als „der rote Becker" allgemein bekannt. Die Aufregung stieg. Nächmittags wurde auf dem alten Markt eine Volksversammlung gehalten. Wolff präsidierte. Die Bürgerwehr stand ringsumher aufgestellt, der demokratischen Bewegung nicht abgeneigt, jedoch das eigne Heil in erster Linie vertretend. Auf eine Anfrage erklärte sie, sie sei da, das Volk zu schützen. Plötzlich dringen Leute auf den Markt mit dem Ruf: „Die Preußen kommen!" Joseph Moll, der des Morgens auch verhaftet, aber vom Volk befreit worden war, und der grade das Wort führte, rief: „Bürger, wollt ihr vor den Preußen auseinandergehen?" - „Nein, nein!" war die Antwort. - „Dann müssen wir Barrikaden bauen!" und sofort ging's ans Werk. - Der Ausgang des Kölner Barrikadentages ist bekannt. Durch einen blinden Lärm hervorgerufen, ohne Widerstand zu finden, ohne Waffen - die Bürgerwehr ging vorsichtig nach Hause - verlief die ganze Bewegung blutlos im Sande; die Regierung erreichte ihren Zweck: Köln wurde in Belagerungszustand erklärt, die Bürgerwehr entwaffnet, die „Neue Rheinische Zeitung" suspendiert, ihre Redakteure genötigt, ins Ausland zu gehen.
III
Der Kölner Belagerungszustand war nicht von langer Dauer. Er verschwand am 4.Oktober. Am 12. erschien die „Neue Rheinische Zeitung" wieder, Wolff war nach Dürkheim in der Pfalz gegangen, wo man ihn ruhig gewähren ließ. Er sowohl wie mehrere andere Redakteure wurden wegen Komplotts usw. steckbrieflich verfolgt. Aber es litt unsern Wolff nicht lange in der Pfalz, und als die Weinlese abgemacht, erschien er plötzlich wieder in dem Redaktionszimmer, Unter Hutmacher 17[49]. Es gelang ihm, nebenan eine Wohnung zu finden, von der er über den Hof in das Redaktionszimmer kommen konnte, ohne die Straße zu betreten. Indes wurde er die Gefangenschaft bald müde; in einem langen Paletot und mit langschirmiger Mütze verkleidet, ging er bald fast jeden Abend in der Dunkelheit aus, unter dem Vorwande, Tabak zu kaufen. Er glaubte sich unerkannt, obwohl die eigentümlich knorrige Gestalt und der determinierte Gang absolut unverbergbar waren; jedenfalls wurde er nicht verraten. So lebte er mehrere Monate, während wir andern nach und nach außer Verfolgung gesetzt wurden. Endlich, am I.März 1849, wurden wir benachrichtigt, daß keine Gefahr mehr vorhanden sei, und nun stellte sich Wolff dem Untersuchungsrichter, der auch erklärte, der ganze Prozeß sei, als auf übertriebenen Polizeiberichten beruhend, fallengelassen. Indessen war Anfang Dezember die Berliner Versammlung auseinandergejagt und die Manteuffelsche Reaktionsperiode eröffnet worden. Eine der ersten Maßregeln der neuen Regierung war, die Feudalherren der Ostprovinzen wegen ihres bestrittenen Rechts auf unbezahlte Bauernarbeit zu beruhigen. Nach den Märztagen hatten die Bauern der Ostprovinzen überall die Fronarbeit eingestellt, ja hier und da von den gnädigen Herren schriftliche Verzichtleistung auf solche Arbeit erzwungen. Es handelte sich also nur darum, diesen bestehenden Zustand für gesetzlich zu erklären und der lange genug geschundene ostelbische Bauer war ein freier Mann. Aber die Berliner Versammlung, volle 59 Jahre nach dem 4. August 1789, wo die französische Nationalversammlung alle Feudallasten unentgeltlich aufgehoben, hatte sich noch immer nicht zu einem gleichen Schritt zu ermannen vermocht. Man erleichterte in etwas die Bedingungen der FrondenAblösung; aber nur einige der skandalösesten und empörendsten Feudalrechte sollten unentgeltlich abgeschafft werden; jedoch ehe dieser Gesetzentwurf endgiltig angenommen, erfolgte die Sprengung, und Herr Manteuffei erklärte, diesen Entwurf werde die Regierung nicht zum Gesetz erheben. Damit waren die Hoffnungen der altpreußischen fronpflichtigen
Bauern vernichtet, und es galt, auf diese zu wirken, indem man ihnen ihre Lage klarmachte. Und hierzu war Wolff der Mann. Nicht nur, daß er selbst ursprünglich höriger Bauernsohn war und in seiner Kindheit selbst Hofedienste hatte tun müssen; nicht nur, daß er sich die volle Glut des Hasses gegen die feudalen Unterdrücker bewahrt hatte, die eine solche Kindheit in ihm erzeugt; niemand kannte die feudale Knechtungsweise so sehr in allen ihren Einzelheiten wie er, und das grade in der Provinz, die eine vollständige Musterkarte aller ihrer mannigfaltigen Formen lieferte ~ in Schlesien.1 In der Nummer vom 17. Dezember 1848 eröffnete er den Feldzug in einem Artikel über die erwähnte Erklärung des Ministeriums. Am 29. Dezember folgte ein zweiter, derberer, über die oktroyierte „Verordnung wegen interimistischer Regelung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse in Schlesien". Diese Verordnung, sagt Wolff, „ist eine Aufforderung an die Herren Fürsten, Standesherren, Grafen, Barone etc., sich zu sputen und .interimistisch' das Landvolk unter dem Anschein des Gesetzes noch
1 An Stelle de? hier folgenden Textes bis zu dem Satz: „Doch zurück zu unserm Wolff." (siehe vorl. Band, S. 83) schrieb Engels 1886: „So eröffnete Wolff die Kampagne gegen die Feudalherren, die in der .Schlesischen Milliarde' gipfelte und auf die ich weiter Unten zurückkomme. Es war eine Kampagne, die zu führen die Bourgeoisie von Rechts wegen verpflichtet war. Der Kampf gegen den Feudalismus war ja grade die weltgeschichtliche Aufgabe dieser Klasse. Aber wie wir sahen, sie führte ihn nicht oder nur zum Schein. Dank der gesellschaftlichen und politischen Zurückgebliebenheit Deutschlands ließ die deutsche Bourgeoisie überall ihre eigensten politischen Interessen im Stich, weil sich hinter ihr bereits das Proletariat drohend erhob. Die unklaren Hoffnungen und Wünsche der Pariser Arbeiter im Februar, noch mehr aber ihr viertägiger Verzweiflungskampf im Juni 1848 erschreckten die Bourgeoisie nicht nur Frankreichs, sondern ganz Europas. Und in Deutschland kamen den angstmeiernden Bürgern sogar einfach demokratische Forderungen, wie sie selbst in der Schweiz längst gesetzlich durchgeführt, als Angriffe auf ihr Eigentum, ihre Sicherheit, ihr Leben vor. Wie immer feig, opferten die deutschen Bourgeois ihre gemeinsamen, d.h. politischen Interessen, damit jeder sein Privatinteresse, sein Kapital rette. Lieber Rückkehr zum alten bürokratisch-feudalen Absolutismus als ein Sieg der Bourgeoisie als Klasse, als ein moderner Bourgeoisiestaat, erkämpft auf revolutionärem Weg, unter Stärkung der revolutionären Klasse, des Proletariats! Das war der Angstruf der deutschen Bourgeoisie, unter dem die Reaktion auf der ganzen Linie siegte. So mußte die Partei des Proletariats den Kampf da aufnehmen, wo die Bourgeoisie vom Schlachtfeld ausgerissen war. Und so nahm Wolff in der .Neuen Rheinischen Zeitung' den Kampf gegen den Feudalismus auf. Aber nicht so, daß die Bourgeois Freude daran erleben konnten; nein, in echt revolutionärer Weise, dergestalt, daß die Bourgeoisie sich über diese den Geist der großen französischen Revolution atmenden Artikel ebenso entsetzte wie die Feudalherren und die Regierung selbst."
so auszusäckeln und auszuplündern, daß sie nach dem fetten Jahre die mageren desto leichter überdauern können. Vor dem März war Schlesien das gelobte Land der gnädigen Gutsherren. Durch die Ablösungsgesetze seit dem Jahre 182t hatte sich das feudale Junkertum so warm gebettet als nur immer möglich. Infolge der Ablösungen, die stets und überall zum Vorteil der Privilegierten und zum Ruin des Landvolks betrieben und durchgeführt wurden, hatte das schlesische Junkertum nicht weniger als zirka 80 Milliönchen an barem Gelde, an Ackerland und Renten aus den Handeln des Landvolks erhalten. Und noch waren die Ablösungen noch lange nicht zu Ende. Daher die Wut über die gottlose Revolution des Jahres 1848. Die Landleute weigerten sich, dem gnädigen Herrn fernerhin wie das liebe Vieh Hofedienste zu tun und die bisherigen furchtbaren Lasten, Zinsen und Abgaben aller Art weiter zu entrichten. In den'Geldkästen der Gutsherren trat eine bedenkliche Ebbe ein." Die Berliner Versammlung nahm die Regelung dieser Verhältnisse in die Hand. „Es war Gefahr im Verzuge. Das begriff die Kamarilla zu Potsdam, deren Säckel sich ebenfalls aus dem Schweiß und Blut des Landvolks zu füllen versteht. Also fort mit der Versammlung! Machen wir selbst die Gesetze;, wie sie uns am einträglichsten erscheinen! - Und so geschah es. Die für Sqhlesien im .Staats-Anzeiger' t50! erschienene Verordnung ist nichts als ein Verhau mit Wolfsgruben und allem Zubehör, in welchem das Landvolk, wenn es sich'einmal hineinbegibt, unrettbar verloren ist." Wolff weist nun nach, daß im wesentlichen mit der Verordnung die vormärzlichen Zustände wiederhergestellt werden und schließt; „Allein was hilft's? Die gnädigen Herren brauchen Geld. Der Winter ist da mit seinen Bällen, Maskeraden, lockenden Spieltischen etc. Die Bauern, die bisher die Vergnügungsmittel geliefert, müssen sie auch ferner schaffen. Das Junkertum will sich wenigstens noch einmal einen vergnügten Karneval bereiten und die November-Errungenschaften des Absolutismus möglichst ausbeuten. Es tut recht daran, sich zu beeilen, zu tanzen und zu jubeln in herausforderndem Übermut. Denn bald dürften galizische Wutszenenf51] in die gottbegnadete Adels-Orgie hineinspielen." Am 20. Januar erfolgte ein neuer Artikel Wolffs, der in dies Gebiet einschlug. Die Reaktionspartei hatte einen Schulzen Krengel in Nessin bei Kolberg nebst mehreren Tagelöhnern dahin gebracht, eine Anfrage an den König zu unterschreiben,.ob es wahr sei, daß Se. Majestät wirklich beabsichtigten, das Grundeigentum zu teilen und den Besitzlosen zuzuwenden? „Man kann sich", sagt Wolff, „den Todesschrecken und die schlaflosen Nächte der Tagelöhner von Nessin vorstellen, als sie von solchen Absichten hörten. Wie? Der König will den Grundbesitz teilen? Wir Tagelöhner, die wir bisher für 5 Silbergroschen täglich mit solcher Wollust den Acker des gnädigen Herrn bestellten, wir sollten aufhören zu tagelöhnern und unser eignes Feld bearbeiten? Der gnädige Herr, der 80 bis 90 Dominien besitzt und bloß einige hunderttausend Morgen, von dem sollen soundso
viele Morgen an uns ausgegeben werden? - Nein, bei dem bloßen Gedanken an so schreckliches Unheil zitterten unsere Tagelöhner an allen Gliedern. Sie hatten keine ruhige Stunde mehr, bis sie die Versicherung hatten, daß man sie wirklich nicht in dieses bodenlose Elend stürzen, die drohenden Morgen Landes fernhalten und den gnädigen Herren nach wie vor belassen wollte."
IV
Alles das war indes nur noch Geplänkel. Um den Anfang 1849 kam bei den französischen Sozialdemokraten der schon früher gemachte Vorschlag mehr und mehr auf, man solle die im Jahre 1825 den aus der Emigration zurückgekehrten Adligen, als Ersatz für ihre in der großen Revolution verlorenen Güter, von Staats wegen geschenkte Milliarde Franken zurückverlangen und im Interesse der arbeitenden Massen verwenden. Am 16. März brachte die „Neue Rheinische Zeitung" einen Leitartikel über diese Frage und am folgenden Tage schon brachte Wolff eine Arbeit: „Die preüßische Milliarde".
„Ritter Schnapphanski" (Lichnowski) „ist tot. Aber Schnapphähne haben wir noch in großer Menge. Die Junker in Pommerland und der Mark haben sich mit den übrigen preußischen Junkern vereinigt. Sie haben den heiligen Rock des biedern Bourgeois angezogen und nennen sich ,Verein zum Schutz des Eigentums in allen Volksklassen', natürlich des feudalenEigentums... Sie haben nichts Geringeres vor, als unter andern auch die Rheinprovinz um etwa 20 Mill. Tlr. zu prellen und dies Geld in ihre Tasche zu stecken. Der Plan ist nicht übel. Die Rheinländer mögen es sich zur besondern Ehre anrechnen, daß die Junker von Thadden-Trieglaff in Hinterpommern, die v. Arnim und v. Manteuffel nebst einigen tausend Krautjunkern ihnen die Ehre antun wollen, von rheinischem Gelde ihre Schulden zu bezahlen." Nämlich Herr v. Bülow-Cummerow, damals als Bülow-Kummervoll bekannt, hatte ein Plänchen ersonnen und von obigem Junkerverein, oder wie Wolff ihn nannte: Junkerparlament, annehmen und als Petition der Regierung und den Kammern zuschicken lassen - ein Plänchen zur Regulierung der Grundsteuer in Preußen. Einerseits klagten die bäuerlichen Grundbesitzer, besonders der Westprovinzen, daß sie zuviel Grundsteuer zu zahlen hätten; andererseits zahlten die adligen Großgrundbesitzer der Ostprovinzen gar keine Grundsteuer, obwohl schon das Gesetz vom 27. Oktober 1810 diese ihnen wie allen andern Grundbesitzern auflegt. Das Junkerparlament hatte einen Weg gefunden, beiden Übelständen abzuhelfen. Hören wir Wolff:
„Die Junker wollen .Opfer bringen, um die jetzt herrschende Mißstimmung zu beseitigen*. Das sagen sie. Wer hätte solche Großmut von ihnen erwartet! Worin bestehen indessen die Opfer? Sie tragen darauf an, daß der Ertrag aller Grundstücke durch eine ungefähre Schätzung festgestellt und sodann die Grundsteuer nach gleichem Prozentsatze des Ertrags im ganzen Staat verteilt werde. Nun, dieser Edelmut ist nicht groß, da sie jetzt nur das tun wollen, wozu sie gesetzlich schon seit 38 Jahren verpflichtet waren. Aber weiter! Sie fordern, daß die Junker und Rittergutsbesitzer, welche sich bisher der Steuerzahlung widerrechtlich entzogen haben - etwa die Steuern nachzahlen? - nein: dafür, daß sie von jetzt die Gnade haben wollen, Steuern zu entrichten, durch ein entsprechendes Kapital entschädigt werden" - nämlich durch Auszahlung des 25fachen Betrags der künftig zu zahlenden Steuer. „Diejenigen dagegen, welchen man bisher ungerechterweise zu hohe Grundsteuern abgenommen hatte, sollen - nicht etwa das Zuvielbezahlte zurückerstattet erhalten - sondern im Gegenteil, sie sollen befugt sein, den Mehrbetrag abzulösenindem sie je nach Umständen sich durch einmalige Zahlung des 18-20fachen Betrags loskaufen. - „Die höheren Steuern werden jetzt in den östlichen Provinzen von den Bauern und außerdem namentlich von der Rheinprovinz entrichtet. Die altländischen Bauern und die Rheinländer sollen also jetzt dafür auch noch Kapitalien herauszahlen. Gar keine oder nur geringe Grundabgaben zahlten bisher die Rittergutsbesitzer in den östlichen Provinzen... Diese also erhalten das Geld, welches die Rheinländer und die Bauern aufbringen sollen." Folgt eine Übersicht der von den verschiedenen Provinzen 1848 gezahlten Grundsteuer und ihrer Bodenfläche, woraus hervorgeht: „Das Rheinland entrichtet im Durchschnitt für jede Quadratmeile ungefähr fünfmal soviel Grundsteuer wie Preußen, Posen und Pommern, viermal soviel als die Mark Brandenburg." Allerdings ist der Boden besser, indes, „wenn wir es gering veranschlagen, so mag die Rheinprovinz jetzt etwa eine Million Taler mehr an Grundsteuer zu bezahlen haben, als nach dem Durchschnittsanschlage auf sie kommen würde. Nach dem Gesetzesvorschlag des Junkerparlaments müßten also die Rheinländer zur Strafe dafür noch 18 bis 22 Millionen Taler bar bezahlen, die in die Taschen der Junker in den östlichen Provinzen fließen würden! Der Staat wäre dabei nur der Bankier. Das sind die großartigen Opfer, die die Herren Krautjunker und Mistfinken zu bringen geneigt sind, das ist der Schutz, den sie dem Eigentum wollen angedeihen lassen. So schützt jeder Taschendieb das Eigentum... Die Rheinländer, namentlich die rheinischen Bauern, nicht minder die westfälischen und schlesischen, mögen sich beizeiten umsehen, wo sie das Geld zur Bezahlung der Junker auftreiben können. Hundert Millionen Taler sind in jetziger Zeit nicht so bald angeschafft. Während also in Frankreich die Bauern eine Milliarde Francs vom Adel verlangen, verlangt in Preußen der Adel eine halbe Milliarde Francs von den Bauern! Hoch, dreimal Hoch der Berliner Märzrevolution!"
Indes genügte diese bloße Abwehr nicht gegenüber der Unverschämtheit der preußischen Junker. Die „Neue Rheinische Zeitung" suchte und fand ihre Stärke im Angriff, und so eröffnete Wolff in der Nummer vom 22.März 1849 eine Reihe von Artikeln: „Die schlesische Milliarde", worin er nachrechnete, welche Beträge in Geld, Geldeswert und Grundbesitz allein der schlesische Adel seit Beginn der Fronden-Ablösung den Bauern widerrechtlich entzogen. Wenige der vielen zündenden Artikel der „Neuen Rheinischen Zeitung" hatten eine solche Wirkung wie diese acht, in der Zeit vom 22. März bis 25. April erschienenen. Die Bestellungen auf die Zeitung aus Schlesien und den anderen Ostprovinzen nahmen reißend zu; man verlangte die einzelnen Nummern nach, und endlich, da die ausnahmsweise Preßfreiheit, die uns das rheinische Gesetz zusicherte, in den übrigen Provinzen fehlte und an einen Wiederabdruck unter dem edlen Landrecht nicht zu denken war, kam man auf den Einfall, diese acht ganzen Nummern, dem Original in äußerer Ausstattung so ähnlich wie möglich, in Schlesien heimlich nachzudrucken und in Tausenden von Exemplaren zu verbreiten — ein Verfahren, wogegen natürlich niemand weniger etwas einzuwenden hatte als die Redaktion.
V
In der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom 22. März 1849 eröffnete Wolff seinen Angriff gegen die schlesischen Junker wie folgt: „Kaum war die Hof- und Krautjunkerkammer" (die auf Grund der oktroyierten Verfassung und des oktroyierten Wahlgesetzes am 26. Februar 1849 zusammentrat) „konstituiert, als auch sofort ein Antrag auf Regulierung, d. h. Ablösung der Feudallasten gestellt wurde. Die gnädigen Herren haben's eilig. Sie wünschen aus der ländlichen Bevölkerung noch vor Torschluß so viel herauszupressen, daß sie einen hübschen Sparpfennig für etwaige schlimme Tage beiseite legen und ihren Personen voraus ins Ausland senden können. Für den Schreck, für die namenlose Angst, die sie in der ersten Zeit nach dem .Mißverständnis' des Berliner März und seinen nächsten Folgen erduldet, suchen sie jetzt aus den Taschen der geliebten Dorfuntertanen einen doppelt lieblichen Balsam zu gewinnen. Schlesien insbesondere, das bisherige Goldland der Feudal- und Industriebarone, soll noch einmal gründlich ausgebeutelt werden, damit der Glanz seiner gutsherrlichen Ritterschaft, vermehrt und verstärkt, fortstrahle. Wir haben gleich nach Erscheinen des im Dezember vorigen Jahres oktroyierten provisorischen Ablösungsgesetzes nachgewiesen, daß es lediglich auf den Vorteil der gnäd'gen Gutsherren berechnet, daß der sogenannte kleine Mann der reinen Willkür
der Großen, schon bei der Zusammensetzung des Schiedsgerichts, preisgegeben ist. Trotzdem ist die noble Ritterschaft nicht mit ihm zufrieden. Sie verlangt ein Gesetz, das dem ritterlichen Beutel noch einige Annehmlichkeiten mehr zuwenden soll. Im März und April 1848 stellten eine Menge hoher Herren in Schlesien ihren Bauern schriftliche Urkunden aus, worin sie auf alle bisherigen gutsuntertänigen Abgaben und Leistungen verzichteten. Um ihre Schlösser vor dem Niederbrennen und sich selbst vor einer eigentümlichen Verzierung mancher Schloßlinde oder Hofpappel zu sichern, gaben sie ihre sogenannten wohlerworbenen Rechte mit einem Federzuge dahin. Zum Glück für sie war das Papier auch damals sehr geduldig. Als daher die Revolution, statt vorwärts zu marschieren, im Sumpf der Philisterei und des gemütlichen Abwartens steckenblieb, da langten die Herren ihre Entsagungsurkunde hervor, nicht um sie zu erfüllen, sondern um sie als Beweisstücke zur Untersuchung gegen die rebellische Bauernkanaille dem Kriminalgericht einzusenden." Wolff erzählt nun, wie die Bürokratie, unter Leitung des Oberpräsidenten Pinder und mit Hülfe mobiler Militärkolonnen, die Bauern zur Erfüllung der alten Leistungen nötigte, wie den Bauern nur die Hoffnung auf die Berliner Vereinbarungsversammlung blieb, wie die Herren Vereinbarer, statt vor allen Dingen alle Feudalabgaben für unentgeltlich aufgehoben zu erklären, die Zeit mit Untersuchungen über Natur, Ursprung etc. der prächtigen Feudaldienste und Abgaben vertrödelten, bis die Reaktion hinreichend erstarkt war, um die ganze Versammlung auseinanderzujagen, ehe sie über die Abschaffung der Feudallasten irgendwelchen Beschluß gefaßt; wie dann das neue Ablösungsgesetz oktroyiert worden, wie aber sogar dies erzreaktionäre Gesetz den gnädigen Herren nicht genüge und sie jetzt noch weitergehende Forderungen stellten. Aber die Herren Ritter hätten ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht, dieser Wirt sei „der schlesische Bauer, nicht der Bourgeoisbauer mit 3,4 und mehr Hufen Landes, sondern jene Masse von kleineren Bauern, von Hof- und Freigärtnern, Häuslern und ,Zuhausinnewohnern', welche bisher die eigentlichen Lasttiere der großen Grundbesitzer gewesen sind und nach dem Plane der letzteren unter einer andern Form fernerhin bleiben sollen. Im Jahre 1848 hätte sich jene Masse mit unentgeltlicher Aufhebung der Feudallasten begnügt... Nach der bitteren Lehrzeit in den letzten Monaten des Jahres 1848 und der bisherigen im Jahr 1849 ist das schlesische Landvolk, der .kleine Mann', immer mehr und mehr zu der Einsicht gekommen, daß die Herren Rittergutsbesitzer, statt sich durch ein feinersonnenes Ablösungsgesetz neue Reichtümer zu oktroyieren, von Rechts wegen mindestens denjenigen Teil ihres Raubes zurückgeben müssen, den sie mit Hülfe der früheren Ablösungsgesetze ins trockne gebracht haben... Von Dorf zu Dorf beschäftigt man sich jetzt mit der Frage, wieviel die Herren Raubritter bloß seit den letzten dreißig Jahren dem Landvolke gestohlen haben."
Man hat's nicht so leicht wie in Frankreich, wo die Entschädigung der Nation in einer runden Summe von 1000 Millionen Franken, beinahe 300 Millionen Taler, abgepreßt wurde, so daß „der französische Bauer weiß, wieviel er an Kapital und Zinsen zurückerhalten muß". In Preußen geschah die Ausbeutung jahraus, jahrein, und bisher wußte nur der einzelne Bauer, was er und sein Dorf gezahlt haben. „jetzt hat man aber den Überschlag für die ganze Provinz gemacht und gefunden, daß das Landvolk auf dem Wege der Ablösung an die gnädigen Herren1 teils in Grundstücken, teils in barem Kapital und in Renten mehr als 80 Millionen Taler gezahlt hat2. Dazu kommen die jährlichen Abgaben und Leistungen der bisher Nicht-Abgelösten. Diese Summe beträgt für die letzten dreißig Jahre mindestens 160 Millionen Taler, macht mit den obigen zusammen ca. 240 Millionen Taler. Dem Landvolk ist mit. diesen erst jetzt zu seiner Kunde gelangten Berechnungen ein Licht aufgegangen, vor dessen Helle die feudalen Spießgesellen... in sich zusammenschrecken. Sie haben 240 Millionen aus den Taschen des Landvolks geschluckt, und .unsere 240 Millionen müssen wir bei der nächsten Gelegenheit zurückhaben' - das ist der nunmehr im schlesischen Landvolk umherwandelnde Gedanke, das ist die Forderung, die bereits in tausenden von Dörfern laut ausgesprochen wird. Das mehr und mehr sich ausbreitende Bewußtsein, daß, Wenn überhaupt von Entschädigung wegen der Feudallasten die Rede sein soll, die Bauern für den an ihnen begangenen ritterschaftlichen Raub entschädigt werden müssen - das ist eine , Errungenschaft', die bald ihre Früchte tragen wird. Sie läßt sich durch keinerlei Oktroyierungskünste umstoßen. Die nächste Revolution wird ihr zur praktischen Geltung verhelfen, und die schlesischen Bauern werden dann wahrscheinlich ein .Entschädigungsgesetz' auszuarbeiten wissen, durch das nicht bloß das geraubte Kapital, sondern auch die .landesüblichen Interessen' den Rückweg in die Taschen des Volks finden." Auf welchen „Rechtstitel" hin die Herren Junker sich diese Summe angeeignet, lehrt der zweite Artikel, in der Nummer vom 25. März 1849. „Wie's mit Erwerbung dieser raubritterlichen .Rechte* beschaffen ist, davon legt nicht bloß jede Seite der mittelalterlichen Geschichte, sondern jedes Jahr bis auf die allerneueste Zeit das lauteste Zeugnis ab. Das mittelalterliche Ritterschwert wußte sich später ganz herrlich mit dem Gänsekiel des Juristen und der Beamtenhorde zu verbünden. Aus der Gewalt wurde mittels einer Kartenschläger-Volte das .Recht', das .wohlerworbene Recht' fabriziert. Ein Beispiel aus dem vorigen Jahrhundert. In den achtziger Jahren wurden in Schlesien, auf Veranlassung des Adels, Kommissionen zur Feststellung der Urbarien, der gutsherrlich-bäuerlichen Leistungen und Gegenleistungen. niedergesetzt... Die Kommissionen, aus Adligen und ihren Kreaturen zusammengesetzt, arbeiteten vortrefflich-im Interesse der Aristokratie. Gleichwohl gelang es den
1 In der „N. Rh. Z.": an die schlesischen Raubritter - 2 in der „N. Rh. Z.": um mehr als 80 Millionen Taler geprellt worden ist
hohen Herren bei weitem nicht überall, sogenannte .konfirmierte*" (von den Bauern anerkannte) „Urbarien zustande zu bringen. Wo es aber gelang, geschah es nur durch Gewalt oder Betrug... Ganz naiv wird in der Einleitung zu einer Anzahl solcher Schriftstücke angeführt, daß die Bauern nicht unterkreuzen gewollt (schreiben konnten damals nur äußerst wenige) und daß sie teils durch Androhung, teils durch wirkliche Anwendung von Waffengewalt zur Unterschrift der sie und ihre Nachkommen übervorteilenden Urkunde gezwungen wurden. Auf Grund solcher .wohlerworbenerRechte* haben die Herren Ritter in Schlesien während der letzten dreißig Jahre jenes artige Sümmchen von 240 Millionen Talern aus dem Schweiß und Blut des Bauernstandes in ihre ahnenstolzen Geldkisten hinüberzudestillieren gewußt."
VI
Von der direkten Ausbeutung der Bauern durch den Adel geht Wolff auf die verschiedenen Formen der indirekten über, wobei die Mitwirkung des Staats eine Hauptrolle spielt. Zuerst die Grundsteuer, die in Schlesien noch 1849 nach einem 1749 angelegten Kataster erhoben wurde. In diesem Kataster war von vornherein das Adelsland mit geringerer, das Bauernland mit größerer als der wirklichen Morgenzahl eingetragen, der Ertrag eines Morgens Wiesen- oder Ackerland zu 1 Tlr. veranschlagt und darnach die Grundsteuer erhoben. Wälder und Weiden waren frei. Die Adeligen hatten seitdem ganze Striche Waldungen ausgerodet und bedeutende Flächen Ödland urbar gemacht. Die Steuer wurde immer nach der im Kataster von 1749 aufgeführten Morgenzahl urbaren Landes fortentrichtet i Der Bauer, der kein Udland urbar zu machen hatte, wurde also bei beiderseits gleichbleibender Steuer bedeutend überlastet, vulgo geprellt. Noch mehr: „Ein großer Teil der Ritterschaft, gerade derjenige Teil, der die größten und einträglichsten Güterkomplexe besitzt, hat unter dem Titel von .wohlerworbenen Rechten* als mediatisierte Standesherren bis jetzt noch nicht einen Deut Grundsteuer gezahlt. Rechnen wir das, was die Herren Ritter in den letzten 30 Jahren bloß an Grundsteuer zu wenig oder gar nicht gezahlt, auf 40 Millionen Taler - und das ist doch wahrlich noch eine Rechnung unter Brüdern so macht dies mit den auf direkte Weise aus den Taschen des schlesischen Landvolkes geraubten 240 Millionen eine Summe von 280 Millionen." („Neue Rheinische Zeitung" vom 25.März 1849.) Folgt die Klassensteuer, Ein schlesischer Bauer, den Wolff aus der Masse herausnimmt, „besitzt 8 Morgen Landes von mittlerer Qualität, entrichtet jährlich eine Masse Abgaben an den .gnädigen' Herrn, muß ihm jährlich eine Menge Frondieriste tun und
zahlt dabei an Klassensteuer monatlich 7 Sgr. 6 Pf, macht jährlich 3 Taler. Ihm gegenüber steht ein gnädiger Herr mit ausgedehntestem Grundbesitz, mit Wäldern und Wiesen, mit Eisenhütten, Galmeigruben, Kohlenbergwerken etc., z.B.derErzheulert63!, Russenfreund, Demokratenfr-esser und Deputierte zur Zweiten Kammer, Graf Renard. Dieser Mann hat ein jährliches Einkommen von 240 000 Talern. Er entrichtet auf der höchsten Stufe jährlich 144 Taler Klassensteuer. Im Verhältnis zu jenem Rustikalbesitzer mit 8 Morgen hätte er jährlich mindestens 7000 Taler Klassensteuer zu zahlen, macht in 20 Jahren 140 000 Taler. Er hat also in 20 Jahren zu wenig eingezahlt 137 120 Taler." Wolff vergleicht nun den Klassensteuer-Betrag, den derselbe Graf Renard zahlt, mit der Steuerzahlung eines Hofeknechts mit 10 Talern jährlichem Lohn, der 1/2 Tlr. oder 5 Prozent seines baren Einkommens, und mit derjenigen einer Hofgärtnersmagd, die bei 6 Talem Jahreslohn ebenfalls x/2 Tlr. oder 8V3 Prozent ihres Einkommens an Klassensteuer zahlt. Hiernach hat der edle Graf in 20 Jahren gegenüber dem Knecht 237 120 Tlr., gegenüber der Magd sogar 397 120 Tlr. zu wenig Klassensteuer gezahlt. „Nach dem landesvlterlichen Willen von Friedrich Wilhelm IV., Eichhorn-Ladenberg und der übrigen christlich-germanischen Genossenschaft sollte die Volksschule (man vergleiche die Eichhornschen Reskripte bis Anfang 1848) sich lediglich auf Lesen, Schreiben und das notdürftigste Rechnen beschränken. Die 4 Spezies wären also dem Landvolk immerhin erlaubt geblieben. Es bedurfte indessen der Volksschule nicht, um dem Landmann die verschiedenen Spezies, namentlich das Subtrahieren oder Ab- und Entziehen, beizubringen. In Schlesien wenigstens hat die gottbegnadete Raubritterschaft so viel an ihm herum und von ihm heraus subtrahiert, daß er nun seinerseits bei der ersten besten Gelegenheit in dieser Spezies des Subtrahierens, auf die hohen Herren angewandt, ganz famos bestehen dürfte." Von dieser Subtraktions-Praxis des schlesischen Adels gibt Wolff dann wieder ein Beispiel: Die wüsten Huben. „Überall, wo im vorigen Jahrhundert durch Krieg, Epidemien, Feuersbrünste und andere Unfälle Rustikalwirte" (d.h. Bauern) „zugrunde gingen, da war der Patrimonialherr schleunig bei der Hand, um den Acker der betreffenden Rustikalstelle entweder ganz oder teilweise als ,wüste Hube* seinem Dominium einzuverleiben. Grundsteuer, Haussteuer und die übrigen Lasten hütetet Ihr Herren Euch wohl mit hinüber zu nehmen. Diese mußten fort und fort entweder die ganze Gemeinde oder der nachfolgende Besitzer tragen, der oft nur den dritten, den sechsten, den achten Teil der früheren Bodenfläche, aber alle früheren Steuern, Abgaben und Leistungen mit in den Kaufbrief gesetzt erhielt. Ähnlich machtet Ihr's mit Gemeindeweiden und -ackern, wenn z.B. die oben erwähnten Ursachen eine mehr oder weniger vollständige Entvölkerung des Dorfs herbeigeführt hatten. Diese und noch andere Gelegenheiten benutztet Ihr, um soviel Ländereien wie möglich zusammenzuschlagen. Die Gemeinden
aber und die einzelnen Bauern mußten die Gemeinde-, Schul-, Kirchen-, Kreis- und andere Lasten unvermindert tragen, als wenn ihnen nicht das mindeste abhanden gekommen wäre... Mit dem Maß, womit Ihr messen wollt, wollen wir Euch auch messen, wird Euch der Landmann antworten. In Eurem wütigen Entschädigungs-Appetit seid Ihr blindlings an ein wahres Horr.issennest von Volksentschädigungen angerannt; fliegen diese, gereizt wie sie sind, eines Tages hervor, dann könnte Euch leicht, außer genauester Entschädigung, noch eine gute Portion Beschädigung zuteil werden!" („Neue Rheinische Zeitung" vom 27. März.) Im nächsten Artikel (Nummer vom 29. März) beschreibt Wolff das Verfahren bei der Ablösung der Feudallasten selbst. Unter den berüchtigten General-Kommissionen, welche die Angelegenheit für die ganze Provinz zu ordnen hatten, standen die kgl. Ökonomie-Kommissarien und ihre Gehülfen, die kgl. Vermessungs-Kondukteure und Aktuare. Sowie der Ablösungsantrag vom Gutsherrn oder Bauern gestellt war, erschienen diese Beamte im Dorf, wo sie vom gnädigen Herrn sofort im Schloß aufs flotteste bewirtet und bearbeitet wurden. „Oft hatte diese Bearbeitung auch schon vorher stattgefunden, und da die Herren Ritter den Champagner nicht sparen, wenn etwas dadurch erreicht werden kann, so waren die patrimonialvergnüglichen Begiühungen meist erfolgreich." Allerdings gab es hie und da auch unbestechliche Beamte, allein sie waren die Ausnahmen, und selbst dann war den Bauern nicht geholfen. „In Fällen, wo der Ökonomie-Kommissarius seinerseits sich genau ans Gesetz hielt, nutzte es den Bauern wenig, sobald z.B. der Kondukteur vom Dominialherrn oder dessen Beamten gewonnen war, Noch schlimmer für die Bauern, wenn, wie es in der Rege! der Fall war, zwischen Ökonomie-Kommissarius, Kondukteur und Patrimonialherrn das herzlichste Einverständnis herrschte. Dann war das ritterliche Herz fröhlich und guter Dinge. In seiner ganzen Machtfülle, womit namentlich das altpreußische Beamtentum seine Angehörigen zu umkleiden wußte, trat jetzt der kgl. Kommissarius unter die im Gerichtskretscham versammelten Bauern. Er verfehlte nicht, die Bauern zu erinnern, daß er ,im Namen des Königs' hier sei und mit ihnen verhandele. ,Im Namen des Königs!' Bei dieser Phrase treten dem Bauer alle düsteren Gestalten, wie Gensdarmen, Exekutoren, Patrimonialrichter, Landräte etc., gleichzeitig vor Augen. War er doch von ihnen allen stets in jenem Namen bedrückt oder ausgesaugt worden! ,Im Namen des Königs!' Das klang ihm gleich Stock oder Zuchthaus, es kiang wie Steuern, Zehnten, Fronden und Sportelgelder. Das alles mußte er ja auch ,im Namen des Königs' zahlen. Schlug diese kommissarische Einleitung nicht vollständig an, zeigte sich die Gemeinde oder einzelne Bauern in ihr bei diesem oder jenem Punkt gegen die dominial-kommissarischen Pläne widerspenstig, so verwandelte sich
der Kommissarius in den olympischen Donnerer, der ein heiliges Tausendsackerment nach dem andern in die verdutzte Bauernschar hineinschleuderte und dann sanfter hinzusetzte: Macht Ihr noch ferner solche dumme Weitläufigkeiten, so sage ich Euch» daß Ihr noch ganz gehörig dafür blechen sollt. Dies symbolische Anfassen des bäuerlichen Geldbeutels gab dann meist den Ausschlag: die Leistungen und Gegenleistungen konnten nun den gutsherrlichen Wünschen bequem angepaßt werden." Jetzt ging's ans Vermessen, und hierbei prellte dann der bestochene Kondukteur seinerseits die Bauern zugunsten des Gutsherrn. Zur Abschätzung von Nutznießungen, Bodenbeschaffenheit etc. zog man die Kreisschulzen als Sachverständige zu, und diese gaben ihr Gutachten meistenteils ebenfalls zugunsten des Gutsherrn ab. Nachdem dies alles geordnet und das nach Abzug des als Schadenersatz für die wegfallenden Feudaldienste an den gnädigen Herrn abzutretenden Bodenteils den Bauern noch verbleibende Morgenmaß Landes endlich festgestellt war, bestimmten die Herren Ritter meist den Ökonomie-Kommissarius, den Acker der kleinen Leute, wenn's irgend ging, auf die schlechteste Seite hin zu verlegen. Der gute Boden wurde zum herrschaftlichen geschlagen und dafür den Bauern herrschaftlicher Acker zugemessen, der in nassen Jahren regelmäßig ersäuft. Andernteils wurde dann noch den Bauern ein Teil ihres Ackers bei der Rückvermessung vom Kondukteur wegeskamotiert. In der ungeheuren Mehrzahl der Fälle waren die Bauern wehrlos; wer einen Prozeß anfing, wurde in der Regel dadurch ruiniert, und nur unter ganz ausnahmsweise günstigen Umständen kam ein Bauer zu seinem Recht. Den Schluß des Geschäfts bildete die Ausfertigung und Unterzeichnung der sämtlichen Rezesse oder Auseinandersetzungs-Urkunden durch die Generalkommission und - die Generalkostennote, und mit ihr begann erst recht der Jammer des Landmanns.
„Zur Charakterisierung dieser Rechnungen gibt es keinen andern Ausdruck als: unverschämt. Der Bauer mochte protestieren, sich die Haare raufen: half alles nichts. Auf seinen Geldbeutel war's ja eben abgesehen; der Fiskus nahm seinen Teil Stempelsteuer vorweg und das übrige diente zur Besoldung der General-Kommission, der Ökonomie-Kommission etc. Dieser ganze Beamtenschwarm lebte herrlich und in Freuden. Pauvre Burschen haben sich in ihrer Stellung als Ökonomie-Kommissarien mit Hülfe des raubritterlichen Nefas sehr bald ebenfalls zu Rittergutsbesitzern heraufgeschwungen. Daß die Entscheidung bei den General-Kommissionen in den Händen von Adligen lag, bedarf kaum der Bemerkung. Ohne sie wäre es um die Geschäftchen der Herren Ritter nicht so gut bestellt gewesen." Eine Abrechnung über sämtliche Kosten dieser General-Kommissionen ist auf gut altpreußisch nie veröffentlicht worden, also weiß das Volk gar
nicht, was ihm die Ablösung der Feudallasten, soweit sie bis 1848 bewerkstelligt, eigentlich gekostet hat. Aber die einzelnen Gemeinden und Bauern werden nie vergessen, was sie damals haben „blechen" müssen. „Ein kleines Dorf z.B., dessen Bauern zusammen noch nicht 30 Morgen besaßen, mußte an Rezeßkosten ca. 137 Taler bezahlen; in einem andern kommen auf einen Stellenbesitzer mit 7 Morgen Acker nicht weniger als 29 Taler Kosten... Das raubritterliche Entschädigungsgericht war so köstlich, daß es, mit einigen christlich-germanischen Ingredienzen gewürzt, auch ferner auf der Tafel der hohen und noblen Herren nicht fehlen soll. Es schmeckt nach mehr! - spricht die schlesische Raubritterschaft, streicht sich schmunzelnd den Schnauzbart und schnalzt mit der Zunge, wie die Krautjunker pflegen." Wolff schrieb dies vor siebenundzwanzig Jahren, und die geschilderten Ereignisse gehören der Zeit von 1820 bis 1848 an; aber wenn man sie heute liest, so glaubt man, eine Beschreibung des Verfahrens zu lesen, nachdem seit 1861 die Leibeigenen Rußlands in sogenannte freie Bauern verwandelt wurden. Es stimmt aufs Haar. Zug für Zug ist die Bauernprellerei zugunsten der gnädigen Herren in beiden Fällen dieselbe. Und wie in allen offiziellen und liberalen Darstellungen die russische Ablösung als eine enorme Wohlfahrt für die Bauern, als der größte Fortschritt in der russischen Geschichte geschildert wird, geradeso stellt die offizielle und nationalservile Geschichtsschreibung uns jene altpreußische Bauernbeschwindelung als ein weltbefreiendes Ereignis dar, wogegen die große Französische Revolution - die doch die Ursache der ganzen Ablösung war - in den Schatten tritt!
VII Das Sündenregister des schlesischen Adels ist noch immer nicht erschöpft, In der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom S.April erzählt Wolff, wie die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen den Raubrittern eine neue Gelegenheit zur Prellerei des Landvolks geboten. „Solange der Zunftzwang dauerte, zählte der ländliche Handwerker und Gewerbtreibende für sein Handwerk oder Geschäft eine jährliche, der Regel nach ziemlich hohe Abgabe an den gnädigen Gutsherrn. Dafür genoß er den Vorteil, daß ihn der Gutsherr gegen die Konkurrenz anderer durch Versagung der Betriebserlaubnis schützte, und daß der Gutsherr außerdem bei ihm arbeiten lassen mußte. So verhielt es sich namentlich bei den Müllern, Brauern, Fleischern, Schmieden, Backern, Kretscham- oder Wirtshaus-Besitzern, Krämern etc." Als die Gewerbefreiheit eingeführt wurde, hörte der den privilegierten Handwerkern gewährte Schutz auf und überall erstand ihnen Konkurrenz.
Trotzdem erhoben die Gutsherren die bisher gezahlte Abgabe weiter, unter dem Vorwande, sie hafte nicht am Handwerk, sondern am Grund und Boden, und die Gerichte, ebenfalls vorwiegend im Interesse des Adels, erkannten diesen widersinnigen Anspruch in der großen Mehrzahl der Fälle an. Damit nicht genug. Mit der Zeit legten die gnädigen Herren selbst Wasser- und Windmühlen und später Dampfmühlen an, machten also selbst dem früher privilegierten Müller eine überlegene Konkurrenz, ließen sich aber trotzdem von diesem die alte, für das frühere Monopol gezahlte Abgabe ruhig weiterzahlen, unter dem Vorwande, es sei entweder Grundzins oder Entschädigung für gewisse unbedeutende, vom Gutsherrn zu leistende Reparaturen am Wasserlauf und mehr. So zitiert Wolff eine Wassermühle mit zwei Gängen, ohne allen Acker, die 40 Taler jährlich an den Gutsherrn zu zahlen hatte, trotzdem daß dieser eine Konkurrenzmühle errichtet, so daß ein Müller nach dem andern auf der ersten Mühle bankerott machte. Um so besser für den Gutsherrn: die Mühle mußte dann verkauft werden und von der Kaufsumme bei jedem Besitzwechsel erhob der gnädige Herr vorab 10 Prozent Laudemien für sich selbst! Ebenso mußte eine Windmühle, zu der nur der Boden gehörte, worauf sie stand, dem Gutsherrn 53 Taler jährlich entrichten. Genauso ging es den Schmieden, die den alten Monopolzins fortzahlen oder ablösen mußten, trotzdem daß nicht nur das Monopol abgeschafft war, sondern derselbe Gutsherr, der den Zins einstrich, ihnen durch seine eigene Schmiede Konkurrenz machte - ebenso den übrigen Handwerkern und Gewerb treibenden: der Zins wurde entweder per „Rezeß" abgelöst oder weitergezahlt, obwohl die Gegenleistung, der Schutz gegen fremde Konkurrenz, längst weggefallen war. Bis jetzt sind bloß die verschiedenen Formen der Ausbeutung betrachtet worden, deren der Feudaladel sich bediente gegenüber den besitzenden Landleuten, Bauern mit zwei und mehr Hufen bis herab zum Freigärtner, Frei- und Auenhäusler und wie die Leute alle heißen mögen, die wenigstens ein Hüttchen und meist auch ein Gärtchen besitzen. Blieb die zahlreiche Klasse, die weder bei dem gnädigen Herrn in Dienst steht, noch ein Häuschen oder einen Quadratfuß Landes besitzt.
„Es ist dies die Klasse der Inlieger, der Zuhause-Innewohner, der Inwohner kurzweg, Leute, die bei Bauefn, Gärtnern, Häuslern eine Stube, meist ein Hundeloch, für 4-8 Taler jährlich gemietet haben. Entweder sind's Auszügler, d.h. Personen, welche die Wirtschaft an Verwandte übergeben oder an Fremde verkauft und sich in das darin befindliche Stübchen mit oder ohne .Ausgedinge' zur Ruhe gesetzt haben, oder - und diese bilden die Mehrzahl - es sind arme Tagelöhner, Dorfhandwerker, Weber, Grubenarbeiter etc."
Wie diesen beikommen? Die Patrimonialgerichtsbarkeit, jener schöne, jetzt erst durch die Kreisordnung zu beseitigende Zustand, bei dem der Gutsherr die Gerichtsbarkeit über seine Ex-Untertanen besitzt, mußte den Vorwand dazu hergeben. Sie brachte es mit sich, daß, wenn der gnädige Herr einen seiner Gerichtsangehörigen ins Gefängnis ablieferte, er auch die Kosten der Unterhaltung wie der Untersuchung tragen mußte. Dafür erhielt derselbe gnädige Herr auch alle Sportein, die bei der Patrimonialgerichtsbarkeit abfielen. War der Verhaftete ein Bauer, so trieb der gnädige Herr die Kosten von ihm wieder ein und ließ im äußersten Falle Haus und Hof verkaufen. Damit er aber auch für die Kosten gedeckt sei, die ihm etwaige verhaftete Inlieger verursachen, erhob der Gutsherr von den sämtlichen seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Leuten dieser Klasse ein jährliches Schutzgeld, mit seinem vornehmen Namen jurisdiktionsgeld getauft.
„Einige der gnädigen Herren", sagt Wolff („Neue Rheinische Zeitung" vom 12.April), „begnügten sich mit einem Taler jährlich; andere erhoben P/a Taler und noch andere trieben die Unverschämtheit so weit, 2 Taler jährlich diesem Teil des ländlichen Proletariats abzuverlangen. Mit difesem Blutgeld spielte und hurte es sich dann um so besser in der Hauptstadt und in den Bädern. Wo durchaus kein bares Geld herauszupressen war, da verwandelte der gnädige Herr oder sein Amtmann das Schutzgeld in 6, 10 bis 12 unentgeltliche Hofetage" (die der Inlieger dem gnädigen Herrn unentgeltlich abarbeiten mußte). „Bar Geld lacht! Wenn daher der Inlieger nicht zahlen konnte, so wurde ihm gewöhnlich der Exekutor auf den Hals geschickt, der ihm die letzten Lumpen, das letzte Stück Bett, Tisch und Stuhl wegnehmen mußte. Einige wenige unter den gnädigen Herren enthielten sich der Barbarei und forderten kein Schutzgeld, aber nicht weil es ein angemaßtes Recht war, sondern v/eil sie in patriarchalischer Milde keinen Gebrauch von diesem angeblichen Recht machen wollten. So ist denn, bis auf wenige Ausnahmen, der Inlieger zugunsten des gutsherrlichen Beutels jahraus, jahrein schändlich geplündert worden. Der arme Weber z.B., den der Fabrikant auf der einen Seite aussaugte, mußte auf der anderen, bei einem Verdienst von 3 - 4 Silbergroschen täglich, bei x/a Taler Klassensteuer an den Staat, bei Abgaben an Schule, Kirche und Gemeinde, auch noch dem gnädigen Herrn 1 bis 2 Taler Schutzgeld, das recht eigentlich Blutgeld zu nennen ist, entrichten. So der Bergmann, so alle übrigen Inlieger. Welchen Vorteil hat er, der Inlieger, davon? Daß, wenn er durch Not, Elend und Roheit zum Stehlen oder anderen Verbrechen getrieben undzur Strafe gezogen wird, er mit dem frohen Bewußtsein im Zucht- oder Korrektionshaus sitzen kann, daß er und die Klasse der Inlieger, der er angehört, die Gefängniskosten dem gutsherrlichen Beutel schon hundertfach vorausbezahlt hat... Der Inlieger, der das Schutzgeld — nehmen wir es durchschnittlich zu P/3 Taler jährlich - 30 Jahre lang gezahlt und nicht ins Zuchthaus kommt, hat dem gutsherrlichen Beutel, von Zins und Zinseszinsen
abgesehen, 40 Taler bar hinwerfen müssen. Dafür verzinst der Herr ein bei der Landschaft" (dem Kreditverein der Rittergutsbesitzer) „aufgenommenes Kapitel von mehr als 1000 Talern. Welch ergiebige Quelle die Herren Raubritter im Schutzgelde fanden, ergibt sich aus der Tatsache, daß in den meisten Dörfern ebensoviel, oft noch mehr, Inlieger als Wirte sind. Wir erinnern uns eines der kleinsten Raubritter, der 3 Dominien besaß und von den in seinen 3 Dörfern befindlichen Inliegern jährlich 240 Taler Schutzgeld erpreßte, womit er ein landschaftliches" (auf sein Gut aufgenommenes) „Kapital von 6000 Talern verzinste... Naive Leute werden nach alledem vielleicht glauben, daß die Herren Ritter nua auch wirklich etwa entstehende Kriminalkosten aus ihren pränumerando (durch Vorausbezahlung) gefüllten Beuteln bezahlen? Solch naiver Glaube wird an der ritterlichen Spekulation völlig zuschanden. Es sind uns aus den zwanziger wie aus späteren Jahren her eine Menge Fälle bekannt, wo die ritterliche Unverschämtheit nicht bloß von den Inliegern das Schutzgeld erhob, sondern bei entstehenden Untersuchungsund Gefängniskosten die geliebten Dorfuntertanen zur Tragung teils von 1/3, teils von l/a» ja in mehreren Dörfern von 2/s der Kosten zu zwingen wußte."1
Vlil
In der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom 14. April kommt Wolff auf das Jagdrecht zu sprechen, das 1848 unentgeltlich aufgehoben worden war, dessen Wiederherstellung oder Abkaufung durch eine „Entschädigung" die Herren Junker damals mit lauter Stimme verlangten.
„Die Heiligsprechung des Wildes brachte es mit sich, daß man lieber eine Kanaille von Bauer erschoß als einen Hasen, ein Rebhuhn oder ähnliche eximierte Geschöpfe. Beim Jagen mit Treibern, aus den lieben Dorfuntertanen genommen, genierte man sich nicht sehr; wurde auch einer der Treiber angeschossen oder tot hingestreckt, so gab's höchstens eine Untersuchung und damit basta. Außerdem sind uns aus jener dominialen Glanzperiode mehrere Fälle bekannt, wo der noble Ritter dem oder jenem Treiber eine Ladung Schrot in die Beine oder in den Hintern schoß - zum reinen ritterlichen Privatvergnügen. Auch außerhalb der eigentlichen Jagd trieben die Herren Ritter solche Kurzweil mit Passion. Wir erinnern uns bei solcher Gelegenheit stets des Herrn Barons, der einem Weibe, das gegen sein Verbot auf dem abgeernteten herrschaftlichen Acker Ähren las, eine Portion Schrot in die Schenkel jagte und dann beim Mittagsmahl in einer auserlesenen raubritterlichen Gesellschaft seine Heldentat mit unverkennbarer Selbstbefriedigung erzählte... Dagegen hatten die geliebten Dorfuntertanen bei den großherrschaftlichen Treibjagden die Freude, als Treiber roboten
1 Der letzte Absatz ist aus der „N. Rh. Z." vom 13. April 1849 zitiert
(Dienst tun) zu müssen. Jeder Wirt, d.h. jeder Ackerbesitzer und jeder Häusler, wurde angewiesen, .morgen in aller Frühe' einen Treiber zur großen herrschaftlichen Jagd auf soundso viele Teige zu stellen. Es mußte freilich den Herren Rittern das Herz vor Wonne klopfen, wenn an kalten, nassen Oktober- und Novembertagen eine Hetze schlechtgekleideter, oft barfüßiger, hungernder Dorfinsassen neben ihnen hertrabten. Die Karbatsche hing an der Jagdtasche zu Nutz und Frommen für Hund und Treiber. Die beste Portion pflegte letzterer davon zu tragen... Andere Ritter legten sich große Fasanerien an... Wehe der Frau oder der Magd, die unvorsichtig oder aus Mangel an Spürkraft beim Grafen einem Fasanennest zu nahe kam und die Henne störte... Wir sind selbst in unserer Jugend Augenzeuge gewesen, wie eine Bauersfrau aus besagtem Grunde von einem jungen Raubritter aufs barbarischste, aufs viehischste mißhandelt und zum Krüppel geschlagen wurde, ohne daß ein Hahn danach gekräht. Eis waren arme Leute, und zum Klagen, d.h. zum Prozessieren, gehört Geld und dann auch einiges Vertrauen zur Justiz, Dinge, die bei der Mehrzahl des schlesischen Landvolks teils spärlich, teils gar nicht anzutreffen. Knirschend vor Wut hat es der Landmann ansehen müssen, wie die ritterlichen Herren mit oder ohne ihre Jäger, oder wie diese allein über sein mit Mühe und Not angebautes Feld zertretend und verwüstend einherjagten, wie sie keine Feldfrucht schonten, ob hoch oder niedrig, ob dick oder dünn. Mitten durch oder drüber hinweg ging's mit Jägern und Hunden. Wagte der Bauer Einsprache, so war im mildesten Falle Hohnlachen die Antwort; den schlimmeren hat so mancher an seinem mißhandelten Körper erfahren. Den Kohl auf dem Felde des Bauern suchte sich der gottbegnadete eximierte Hase zu seiner Atzung aus, und seine Bäume pflanzte der Landmann, damit der Hase im Winter seinen Hunger stillen konnte... Aber dieser Schaden steht noch in gar keinem Verhältnis zu dem, welchen ihm Rot- und Schwarzwild angerichtet, das... im größten Teile Schlesiens gehegt wurde. Wildschweine, Hirsche und Rehe durchwühlten, fraßen, zertraten oft in einer Nacht, was dem Bauer oder dem .kleinen Mann' fürs ganze Jahr zum Unterhalt und zur Bezahlung der Steuern und Abgaben dienen sollte. Allerdings stand es dem Beschädigten frei, auf Ersatz zu klagen. Es haben's auch einzelne und ganze Gemeinden versucht. Das Ergebnis solcher Prozesse wird sich jeder selbst sagen, der in seinem Leben von dem altpreußischen Beamtenwesen und Richterstande und dem Prozeßverfahren auch nur eine entfernte Idee erlangt hat... Nach unendlichem Schreiben und Terminieren erlangte der Bauer, wenns Glück günstig war, in ein paar Jahren ein Urteil gegen den Gnädigen, und Wenn er sich das bei Lichte besah und alles nachrechnete, so stand er erst recht als der Geprellte da... Die Zahl der Dörfer aber, auf deren Rustikaläckern seit 30 Jahren, und von Jahr zu Jahr ärger, die gottbegnadeten Wildschweine, Hirsche und Rehe verwüstend gehaust, beträgt über 1000. Wir kennen mehrere derselben, die lange nicht zu den größten gehören, denen bloß das eximierte Hochwild ein Jahr ums andere jährlich 200-300 Tlr. Schaden verursacht hat."
Und wenn nun der Adel eine Entschädigung fordert für Abschaffung dieses Jagdrechts, so stellt Wolff dieser Forderung die andere gegenüber:
„Volle Entschädigung für allen Wildschaden, für alle Verwüstungen, die seit 30 Jahren von gottbegnadeten Rehen, Hirschen, Wildschweinen und von den Herren Rittern selbst auf unsern Fluren angerichtet worden, das heißt in runder Zahl: Eine Entschädigung von mindestens 20 Millionen Taler 1" Den Schluß des Ganzen („Neue Rheinische Zeitung" vom 25. April 1849) bildet ein Artikel über den polnischen Teil der Provinz, Oberschlesien, das im Herbst 1847 von einer Hungersnot betroffen wurde, so schlimm, wie sie gleichzeitig Irland entvölkerte. Wie in Irland, brach der Hungertyphus auch in Oberschlesien aus und verbreitete sich pestartig. Im folgenden Winter brach er hier aufs neue aus, und zwar ohne daß eine Mißernte, Überschwemmung oder sonstige Kalamität eingetreten wäre. Wie erklärt sich dies? Wolff antwortet:
„Zur größeren Hälfte ist der Grund und Boden in den Händen großer Grundbesitzer, des Fiskus" (Staats) „und der toten Hand. Nur 2/5 der gesamten Ländereien sind in den Händen der Bauern und mit Fronden und Abgaben an die Gutsherren wie mit Steuern an den Staat, an Kirche, Schule, Kreis und Gemeinde aufs unglaublichste und schamloseste überlastet, während die gnädigen Herren, im Verhältnis zu den Bauern, höchstens eine wahre Lumperei an den Staat entrichten... Wenn der Tag der Rente kommt, werden die Silberzinse mittelst der Knute vom Bauern eingetrieben, wenn er sie nicht freiwillig zahlen will. Und so zwangen Mangel an Kapital und Kredit und Uberfluß an Abgaben und Leistungen an die Raubritter wie an Staat und Kirche den Bauer, sich dem Juden in die Arme zu werfen und in den Schlingen des pfiffigen Wucherers ohnmächtig zappelnd zu verenden. In der langen Erniedrigung und Knechtschaft, worin das oberschlesische Landvolk durch die christlich-germanische Regierung und ihre Raubritterschaft darnieder gehalten worden, hat der Bauer seinen einzigen Trost wie seine Stärkung und halbe Nahrung im Branntwein gefunden. Man muß es den gnädigen Herren lassen, daß sie den Bauern diesen Artikel aus ihren Brennereien reichlich zu immer billigerem Preise verschafften ... Neben den Lehmhütten der wasserpolakischen Bauern, wo Hunger, Typhus und Vertierung ihre Stätten aufgeschlagen, nehmen sich die prachtvollen Schlösser, Burgen und übrigen Besitztümer der oberschlesischen Magnaten nur desto romantischer aus... Auf der einen Seite unglaublich schnelle Anhäufung von Reichtümern, kolossale Jahresrevenuen der .Gnädigen'. Auf der andern Seite fortschreitende Massenverarmung. Der Taglohn für ländliche Arbeiter ist äußerst niedrig; für den Mann 5-6 Sgr., für die Frau 21/2~3 Sgr. ist schon als ein hoher Satz zu betrachten. Viele arbeiten notgedrungen um einen Tagelohn von resp. 4 und 2 Sgr. und sogar darunter. Die Nahrung besteht fast einzig und allein aus Kartoffeln und Schnaps. Hätte der Arbeiter noch diese beiden Gegenstände in hinreichender Menge gehabt, so wäre wenigstens Hungertod und Typhus von Oberschlesien ferngeblieben. Als aber infolge der Kartoffelkrankheit das Häuptnahrungsmittel immer teurer und seltener wurde, der Tagelohn
aber nicht bloß nicht stieg, sondern noch fiel - da griffen die Menschen nach Kräutern, <lie sie auf Feldern und in den Wäldern pflückten, nach Quecken und Wurzeln, und kochten sich Suppen aus gestohlenem Heu und aßen krepiertes Vieh. Ihre Kräfte schwanden. Der Schnaps wurde teurer und - noch schlechter als zuvor. ,Schenker' heißen die meistenteils jüdischen Personen, welche gegen einen enormen Pacht an den gnädigen Herrn den Schnaps an das Volk verkaufen. Der Schenker war schon früher gewohnt, den Schnaps, den er durch gehörige Portionen Wassers verdünnte, durch allerlei Ingredienzen, wobei Viiriolöl eine Hauptrolle spielte, zu kräftigen. Diese Giftmischerei nahm von Jahr zu Jahr zu und wurde nach dem Auftreten der Kartoffelkrankheit auf die höchste Spitze getrieben. Der durch Heu- und Queckensuppen und durch den Genuß roher Wurzeln geschwächte Magen des Landmannes konnte solche Medizin nicht mehr überwinden. Bedenkt man ferner die schlechte Kleidung, die schmutzigen, ungesunden Wohnungen, die Kälte im Winter, Mangel entweder an Arbeit oder an Kraft zur Arbeit, so wird man begreifen, wie aus den Hungerzuständen sich sehr bald, nicht mehr und nicht minder als in Irland, der Typhus entwickelte. ,Die Leute hatten nichts zum Zusetzen!' Damit ist alles erklärt. Sie waren fortwährend -vom Staat und von den Raubrittern so ausgesaugt und ausgepumpt worden, daß sie bei der geringsten Steigerung ihres Elends zugrund gehen mußten... Die Raubritter, die Beamtenkaste und die ganze gottbegnadete königlich-preußische Regierungsschar machte Geschäfte, bezog Gehälter, verteilte Gratifikationen, während da unten, in den gemeinen Schichten des Volks, die von Hunger und Typhus Gepeitschten hundertweise gleich dem Vieh zu krepieren anfingen und zu krepieren fortfuhren. Nicht viel besser als mit den Tagelöhnern steht's mit den Wirten oder denjenigen, die ein Haus und ein größeres oder kleineres Stück Land dazu besitzen. Auch ihre Hauptnahrung ist Kartoffeln und Schnaps. Was sie produzieren, müssen sie verkaufen, um die Abgaben an den Gutsherrn, den Staat etc. aufzubringen... Und noch Hofedienste" (für den gnädigen Herrn) „tun zu müssen, hier vom Gnädigen oder dessen Beamten mit dem Kantschu barbarisch malträtiert zu werden, arbeitend, hungernd und geprügelt den Luxus und den Übermut der Raubritter und einer anschnauzenden Beamtenkaste mit ansehen und ertragen zu müssen - das war und das ist das Los eines großen Teils der wasserpolnischen Bevölkerung... Welche Behandlung dem Hofgesinde, den Knechten und Mägden der Gnädigen zuteil wird, läßt sich schon aus derjenigen ermessen, welche die arbeitspflichtigen Dorfuntertanen und die sogenannten Lohnarbeiter zu erdulden haben. Der Kantschu ist auch hier das Alpha und das Omega des raubritterlichen Evangeliums... Die Raubritterschaft schaltet und waltet nach Belieben. Aus ihren Reihen wurden die Landräte genommen; sie übt die Dominial- und Distriktspolizei, und die ganze Bürokratie arbeitet in ihrem Interesse. Dazu kommt, daß dem wasserpolnischen Bauer nicht ein deutsches - das wäre vielleicht zu human - sondern ein altpreußisches Beamtentum mit seiner preußischen Sprache und seinem Landrecht gegenübersteht. Von allen Seiten ausgesaugt, malträtiert, verhöhnt, gekantschut und in Fesseln geschlagen, mußte das oberschlesische Landvolk endlich auf dem Punkte ankommen, wo es angekommen ist. Hungertod und Pest mußten nötwendig als letzte Frucht auf diesem
echt christlich-germanischen Boden heranreifen. Wer noch zum Stehlen die Fähigkeit hat, der stiehlt. Das ist die einzige Form, in welcher der verirländerte Oberschlesier gegen das christliche Germanen- und Raubrittertum tatsächlich Opposition macht. Auf der nächsten Stufe wird gebettelt; scharenweise sieht man die verelendeten Gestalten von einem Ort zum andern ziehen. In dritter Reihe erblicken wir die, welche weder zum Stehlen noch zum Betteln Kraft und Geschick haben. Auf ihren Lagern von vermodertem Stroh hält der epidemische Würgengel seine ergiebigste Rundschau. Das sind die Früchte einer hundertjährigen gottbegnadeten monarchischen Regierung und der mit ihr verbündeten Raubritterschaft und Bürokratie." Und wie vorher, fordert Wolff nun, daß die Ritterschaft die Bauern entschädige, daß alle Fronden und Geldzinsen unentgeltlich abgeschafft und schließlich, daß die großen Güter der ober schlesischen Magnaten zerschlagen Werden. Das werde freilich unter der Brandenburg-Manteuffelschen Regierung nicht geschehen, und somit Würden „die Oberschlesier nach wie vor dem Hunger und dem Hungertyphus scharenweise zum Opfer fallen", was sich buchstäblich bewährt hat, bis der enorme Aufschwung der oberschlesischen Industrie in den fünfziger und sechziger Jahren die ganzen Lebensverhältnisse der Gegend revolutionierte und an die Stelle der brutalfeüdalen Ausbeutung mehr und mehr die zivilisiertere, aber noch gründlichere moderne bürgerliche Ausbeutung setzte.
IX Wir haben absichtlich die „Schlesische Milliarde" in größeren Auszügen mitgeteilt, nicht nur weil darin der Charakter Wolffs am deutlichsten sich zeigt, sondern auch weil sie ein treues Bild der Zustände gibt, die bis 1848 auf dem Lande in ganz Preußen, mit Ausnahme der Rheinprovinz, in Mecklenburg, Hannover und einigen anderen Kleinstaaten, sodann in ganz Osterreich herrschten. Wo Ablösungen stattgefunden hatten, war der Bauer übervorteilt worden; aber für die Hälfte bis Zweidrittel der Bauernbevölkerung - je nach der Lokalität - bestanden die Feudaldienste und Abgaben an den Gutsherrn noch fort, mit wenig Aussicht auf ein beschleunigteres Tempo der Ablösung, bis das Donnerwetter von 1848 und die ihm folgende Periode industrieller Entwicklung auch mit diesen Resten des Mittelalters so ziemlich aufräumte. Wir sagen so ziemlich, denn in Mecklenburg besteht der Feudalismus noch in ungeschwächter Kraft fort und auch in anderen zurückgebliebenen Teilen von Norddeutschland dürften sich hie und da noch Gegenden finden, wo die Ablösung noch nicht erledigt ist. 1849 wurden in Preußen das Schutzgeld und einige andere weniger bedeutende Feudalabgaben unentgeltlich aufgehoben, die andern Lasten wurden
rascher als vorher abgelöst, da der Adel, nach den Erfahrungen von 1848 und bei der anhaltenden Schwierigkeit, aus den widerspenstigen Bauern eine profitliche Arbeit herauszuschlagen, jetzt selbst auf Ablösung drang. Endlich, mit der Kreisordnung, fiel auch die Patrimonialgerichtsbarkeit der Gutsherren, und wenigstens der Form nach ist damit der Feudalismus in Preußen beseitigt. Aber auch nur der Form nach. Überall, wo großer Grundbesitz vorherrscht, erhält sich eine halbfeudale Herrschaftsstellung der großen Grundeigentümer, auch unter sonst modern-bürgerlichen Bewirtschaf tungsverhältnissen. Nur die Formen dieser herrschenden Stellung ändern sich. Sie sind andere in Irland, wo der Boden von kleinen Pächtern bewirtschaftet wird, andere in England und Schottland, wo kapitalbesitzende Pächter mit Lohnarbeitern große Pachtungen bebauen. An diese letztere Form schließt sich die in Norddeutschland, besonders im Osten, vorwiegende Adelsherrschaft an. Die großen Güter werden meist für Rechnung des Besitzers, seltener für Rechnung von Großpächtern bewirtschaftet, mit Hülfe von Hofgesinde und Tagelöhnern. Das Hofgesinde steht unter der Gesindeordnung, die in Preußen von 1810 datiert und so sehr für feudale Verhältnisse eingerichtet ist, daß sie „geringe Tätlichkeiten" der Herrschaft gegen das Gesinde ausdrücklich erlaubt, dem Gesinde aber tätliche Widersetzlichkeit gegen Mißhandlung der Herrschaft, außer in Lebens- oder Gesundheitsgefahr, bei Kriminalstrafe ausdrücklich verbietet! (Allg. Gesinde-Ordnung, §§ 77, 79.) Die Tagelöhner sind teils durch Kontrakte, teils aber durch die vorwiegende Ablohnung in Naturalien - wozu auch die Wohnung gehört - in eine faktische Abhängigkeit vom Gutsherrn gebracht, die der des Gesindes nichts nachgibt, und so floriert auch heute noch östlich der Elbe jene patriarchalische Behandlung der Landarbeiter und des Hausgesindes mit Maulschellen, Stock- und Kantschuhieben, die uns Wolff in Schlesien geschildert. Leider wird indes das gemeine Volk immer rebellischer und will sich diese väterlichen Besserungsmaßregeln hier und da schon nicht mehr gefallen lassen. Da nun Deutschland immer noch ein vorwiegend ackerbautreibendes Land ist, und daher die Masse der Bevölkerung sich vom Ackerbau ernährt und auf dem Lande lebt, bleibt es die hauptsächlichste, aber auch schwierigste Aufgabe der Arbeiterpartei, die Landarbeiter über ihre Interessen und ihre Lage aufzuklären. Der erste Schritt hierzu ist, daß man diese Interessen und diese Lage der Landarbeiter selbst kennenlernt. Die Parteigenossen, denen die Umstände dies erlauben, würden der Sache einen großen Dienst tun, wenn sie die Darstellungen Wolffs mit den jetzigen Zuständen vergleichen, die eingetretenen Veränderungen zusammenstellen,
die jetzige Lage der Landarbeiter schildern wollten. Neben dem eigentlichen Tagelöhner wäre der kleine Bauer ebenfalls nicht aus dem Auge zu lassen. Wie verhält es sich mit den Ablösungen seit 1848? Ist dabei der Bauer ebenso übers Ohr gehauen worden wie vorher? Solche und andere Fragen ergeben sich von selbst aus der Durchlesung der „Schlesischen Milliarde", Und wenn deren Beantwortung ernsthaft in die Hand genommen und das gewonnene Material im Parteiorgan veröffentlicht würde, so geschähe damit der Arbeitersache ein größerer Dienst, als mit noch so vielen Artikeln über die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im einzelnen. Noch einen andern Punkt regt der Schluß der Wolffschen Artikel an. Oberschlesien ist seit 1849 zu einem der wichtigsten Mittelpunkte der deutschen Industrie geworden. Diese Industrie wird, wie überhaupt in Schlesien, vorwiegend auf dem Lande, in großen Dörfern oder neu entstehenden Städten, fern von großstädtischen Zentren, betrieben. Wenn es sich darum handelt, die Sozialdemokratie auf dem Lande zu verbreiten, so bietet also Schlesien, und namentlich Oberschlesien, den geeignetsten Ort, um den Hebel anzusetzen. .Trotzdem scheint wenigstens Oberschlesien bis jetzt für die sozialistische Propaganda noch jungfräulicher Boden zu sein. Die Sprache kann kein Hindernis abgeben; einerseits hat mit der Industrie der Gebrauch des Deutschen dort sehr zugenommen, andrerseits gibt es doch gewiß genug Sozialisten, die polnisch sprechen. Doch zurück zu unserm Wolff. Am 19. Mai wurde die „Neue Rheinische Zeitung" unterdrückt, nachdem die letzte, rotgedruckte Nummer erschienen wah Die preußische Polizei hatte, außer 23 noch schwebenden Preßprozessen, so viel andere Angriffsvorwände gegen jeden einzelnen Redakteur, daß sie alle Köln und Preußen sofort verließen. Die meisten von uns gingen nach Frankfurt, wo die Entscheidung sich vorzubereiten schien. Die Siege der Ungarn riefen den Einmarsch der Russen hervor; der Konflikt zwischen den Regierungen und dem Frankfurter Parlament wegen der Reichsverfassung hatte verschiedene Aufstände erzeugt, von denen die in Dresden, Iserlohn und Elberfeld niedergeschlagen, die in der Pfalz und Baden aber noch im Fortschreiten waren. Wolff hatte ein altes Breslauer Mandat als Stellvertreter des Geschichtsverdrehers Stenzel in der Tasche; man hatte den Heuler Stenzel nur dadurch durchgebracht, daß man den Wühler1543 Wolff als Stellvertreter mitnahm. Stenzel war natürlich, wie alle guten Preußen, dem Befehl der preußischen Regierung auf Abberufung von Frankfurt gefolgt. Wolff trat nun an seine Stelle. Das Frankfurter Parlament, durch eigne Trägheit und Dummheit von der Stellung der mächtigsten Versammlung, die je in Deutschland zu
sammentrat, hinabgesunken zu der äußersten, allen Regierungen, sogar der von ihm selbst eingesetzten Reichsregierung und ihm, dem Parlamente selbst, jetzt offenkundigen Ohnmacht, stand ratlos da zwischen den ihre Streitkräfte sammelnden Regierungen und dem für die Reichsverfassung aufgestandenen Volk* Noch war alles zu gewinnen, wenn das Parlament und die Führer der süddeutschen Bewegung nur Mut und Entschlossenheit hatten. Ein Parlamentsbeschluß, der die badische und Pfälzer Armee zum Schutz der Versammlung nach Frankfurt rief, hätte genügt. Die Versammlung eroberte sich dadurch mit einem Schlag wieder das Vertrauen des Volks. Der Abfall der hessen-darmstädtischen Truppen, der Anschluß Württembergs und Bayerns an die Bewegung konnte dann mit Sicherheil erwartet werden; die mitteldeutschen Kleinstaaten wurden ebenfalls hineingerissen; Preußen bekam genug bei sich zu tun, und gegenüber einer so gewaltigen Bewegung in Deutschland war Rußland genötigt, einen Teil der seitdem in Ungarn erfolgreich verwandten Truppen in Polen zurückzubehalten. Ungarn konnte also in Frankfurt gerettet werden, und andrerseits ist alle Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß angesichts einer siegreich fortschreitenden Revolution in Deutschland der in Paris täglich zu erwartende Ausbruch nicht auf die kampflose Niederlage der radikalen Spießbürger hinausgelaufen wäre, die am 13. Juni 1849 sich zutrug. Die Chancen waren so günstig, wie sie nur sein konnten. Der Rat zum Herbeirufen des badisch-pfälzischen Schutzes wurde1 in Frankfurt, der zum Marsch auf Frankfurt auch ohne Ruf in Mannheim2 gegeben. Aber weder die badischen Führer noch die Frankfurter Parlamentler hatten Mut, Energie, Verstand oder Initiative.
X
Statt zu handeln, beschloß das Parlament, als ob es nicht schon viel zuviel geredet, noch einmal zu reden, und zwar in einer „Proklamation an das deutsche Volk". Eine Kommission wurde niedergesetzt, und diese brachte zwei Entwürfe ein, wovon der der Majorität von Uhland redigiert war. Beide waren matt, saft- und kraftlos und drückten nur die eigne Ratund Mutlosigkeit und das böse Gewissen der Versammlung selbst aus. Am 26. Mai zur Debatte gestellt, gaben sie unserm Wolff den Anlaß, den Herrn Parlamentlern ein für allemal seine Meinung zu sagen. Der stenographische Bericht über diese Rede lautet:
1 (1886) eingefügt: von uns allen - 2 (1886) eingefügt: von Marx und mir
„Wolff von Breslau: ,Meine Herren! Ich habe mich gegen die Proklamation an das Volk einschreiben fassen, die von der Majorität verfaßt und hier verlesen worden ist, weil ich sie für durchaus unangemessen den jetzigen Zuständen halte, weil ich sie viel zu schwach finde - geeignet, bloß als Journalartikel in denjenigen Tagesblättern zu erscheinen, welche die Partei vertreten, von der diese Proklamation ausgegangen ist, aber nicht für eine Proklamation an das deutsche Volk. Da nun jetzt noch eine zweite verlesen ist, so will ich nur so beiläufig bemerken, daß ich mich gegen diese noch viel mehr erklären würde, aus Gründen, die ich nicht anzuführen brauche.' (Stimme im Zentrum: »Warum nicht?'), Ich spreche nur von der Majoritätsproklamation; sie ist allerdings so mäßig gehalten, daß selbst Herr Büß nicht viel dagegen sagen könnte, und das ist doch gewiß die schlimmste Empfehlung für eine Proklamation. Nein, meine Herren, wenn Sie irgend und überhaupt noch einen Einfluß auf das Volk haben wollen, müssen Sie nicht zum Volke sprechen in der Weise, wie in der Proklamation geschieht; Sie dürfen da nicht von Gesetzlichkeit, von gesetzlichem Boden und dergleichen sprechen, sondern von Ungesetzlichkeit in derselben Weise wie die Regierungen, wie die Russen, und ich verstehe unter Russen die Preußen, die Österreicher, Bayern, Hannoveraner .'(Unruhe und Gelächter.) ,Diese sind alle unter dem gemeinsamen Namen Russen zusammengefaßt.' (Große Heiterkeit.) Ja, meine Herren, auch in dieser Versammlung sind die Russen vertreten. Sie müssen ihnen sagen: So, wie ihr euch auf den gesetzlichen Standpunkt stellt, so stellen wir uns auch darauf. Es ist der Standpunkt der Gewalt, und erklären Sie in Parenthese die Gesetzlichkeit dahin, daß Sie den Kanonen der Russen die Gewalt entgegenstellen, wohlorganisierte Sturmkolonnen,, Wenn überhaupt eine Proklamation zu erlassen ist, so erlassen Sie eine, in welcher Sie von vornherein den ersten Volksverräter, den Rcichsveriüeser, für vogelfrei erklären.' (,Zur Ordnung!' Lebhafter Beifall von den Galerien.) ,Ebenso alle Minister/' (Erneuerte Unruhe.) ,0h, ich lasse mich nicht stören. Er ist der erste Volksverräter.* Präsident Reh: ,Ich glaube, daß Herr Wolff jede Rücksicht überschritten. Er kann den Erzherzog Reichsverweser nicht vor diesem Hause einen Volksverräter nennen, und ich muß ihn deshalb zur Ordnung rufen.. Wolff: ,Ich für meinen Teil nehme den Ordnungsruf an und erkläre, daß ich die Ordnung habe überschreiten wollen, daß er und seine Minister Verräter sind' (Von allen Seiten des Hauses: ,Zur Ordnung, das ist pöbelhaft!') Präsident: »Ich muß Ihnen das Wort entziehen.* Wolff: ,Gut, ich protestiere; ich habe im Namen des Volks hier sprechen wollen und sagen wollen, wie man im Volke denkt. Ich protestiere gegen jede Proklamation, die in diesem Sinne abgefaßt ist.'" Wie ein Donnerschlag fielen diese wenigen Worte in die erschrockene Versammlung. Zum ersten Mal war die wirkliche Sachlage den Herren klar und unverhohlen ausgesprochen worden. Der Verrat des Reichsverwesers und seiner Minister war ein öffentliches Geheimnis; jeder der Anwesenden sah ihn sich vor seinen Augen vollziehen; aber keiner wagte das, was er
sah, auszusprechen. Und nun kommt dieser rücksichtslose kleine Schlesier und wirft ihnen ihr ganzes konventionelles Kartenhaus mit einem Mal über den Haufen! Sogar die „entschiedene Linke" konnte nicht umhin, gegen diese durch einfache Konstatierung der Wahrheit begangene unverzeihliche Verletzung alles parlamentarischen Anstands sich energisch zu verwahren, durch den Mund ihres würdigen Vertreters, des Herrn Karl Vogt (Vogt - man hat ihm im August 1859 Frs. 40 000 Übermacht, sagen die 1870 veröffentlichten Listen der von Louis-Napoleon an seine Agenten gezahlten Summen[55]). Herr Vogt bereicherte die Debatte mit folgendem, ebenso lumpig verlegnen wie infam verlognen Protest: „Meine Herren, ich habe mich zum Worte gemeldet, um den kristallhellen Strom, der aus einer Dichterseele in diese Proklamation geflossen ist, zu verteidigen gegen den unwürdigen Schmutz, welcher in denselben geworfen oder (!) gegen denselben (!) geschleudert worden ist, um diese Worte zu verteidigen gegen den Kot, der aufgehäuft worden ist in dieser letzten Bewegung und dort alles zu überfluten und zu beschmutzen droht. Ja, meine Herren! Das ist ein Kot und ein Schmutz, den man auf diese (!) Weise an alles, was nur Reines gedacht werden kann, heranwirft, und ich spreche meine tiefste Entrüstung darüber aus, daß so etwas (!) geschehen konnte." Da Wolff von Uhlands Redaktion der Proklamation gar nicht gesprochen, sondern nur ihren Inhalt zu schwach befunden, so begreift man gar nicht, woher Herr Vogt seine Entrüstung und seinen „Schmutz" und „Kot" eigentlich bezieht. Aber einerseits war es die Erinnerung an die rücksichtslose Weise, mit der die „Neue Rheinische Zeitung" die falschen Brüder von der Sorte Vogts stets behandelt, andererseits Wut über die grade Sprache Wolffs, die diesen selben falschen Brüdern das bisherige achselträgeriscne Spiel fernerhin unmöglich machte. Zwischen der wirklichen Revolution und der Reaktion zur Wahl genötigt, erklärt sich Herr Vogt für die letztere und den Reichsverweser und seine Minister - für „alles, was Reines gedacht werden kann". Leider wollte die Reaktion von Herrn Vogt nichts wissen. Noch denselben Tag ließ Wolff Herrn Vogt durch den Abgeordneten Würth von Sigmaringen auf Pistolen fordern, und als Herr Vogt es ablehnte, sich zu schießen, ihm körperliche Züchtigung androhen. Herr Vogt, obwohl körperlich ein Riese gegenüber Wolff, flüchtete sich nun unter den Schutz seiner Schwester, ohne deren Begleitung er sich nirgends mehr sehen ließ. Wolff ließ den Maulhelden laufen. Jedermann weiß, wie, wenige Tage nach der Szene, die Versammlung selbst die Richtigkeit von Wolffs Äußerungen anerkannte, indem sie sich vor ihrem eignen Reichsverweser und seiner Regierung durch die Flucht nach Stuttgart rettete.
XI Wir kommen zu Ende. Wolff blieb in Stuttgart auf seinem Posten, auch bei Sprengung der Nationalversammlung durch die württembergischen Truppen, kam dann nach Baden und endlich mit den übrigen Flüchtlingen nach der Schweiz. Er wählte Zürich zu seinem Aufenthaltsorte, wo er sich alsbald wieder als Privatlehrer konstituierte, aber natürlicherweise bei den vielen dort anwesenden studierten Flüchtlingen starke Konkurrenz fand. Trotz der hieraus sich ergebenden kümmerlichen Lebensstellung wäre Wolff doch in der Schweiz geblieben. Aber es trat immer deutlicher hervor, daß der Schweizer Bundesrat, gehorsam dem Gebot der europäischen Reaktion, entschlossen war, die sämtlichen Flüchtlinge nach und nach aus der Schweiz hinauszudrangsalieren, wie Wolff dies nannte. Für die große Mehrzahl bedeutete dies Auswanderung nach Amerika, und das war es, was die Regierungen wollten. Waren die Flüchtlinge jenseits des Ozeans, so hatte man Ruhe vor ihnen. Auch Wolff trug sich häufig mit dem Gedanken einer Auswanderung nach Amerika, zu der ihn seine vielen schon dorthin gegangenen Freunde aufforderten. Halb entschlossen kam er, als die „Drangsalierung" auch ihm zu arg wurde, im Juni 1851 nach London, wo wir ihn einstweilen festhielten. Auch hier war die Konkurrenz der Privatlehrer eine sehr starke. Wolff konnte trotz der größten Mühe kaum den dürftigsten Lebensunterhalt gewinnen. Seinen Freunden verheimlichte er seine Lage möglichst, wie immer, wenn es ihm schlecht ging. Trotzdem war er genötigt, bis Ende 1853 ca. 37 Pfund Sterling (750 Mark) Schulden zu machen, die ihn schwer drückten; und schrieb im Sommer desselben Jahres in sein Tagebuch: „Am 2I.Juni 1853 hatte ich meinen Geburtstag in nahezu schrecklichem distress (Hülflosigkeit) zu verleben." Die Absicht, nach Amerika zu gehen, wäre diesmal wohl in Erfüllung gegangen, wenn nicht ein ebenfalls flüchtiger deutscher Arzt in Manchester, der mit Wolff von Breslau her befreundet war, ihm durch seine Verbindungen soviel Privatstunden in Manchester verschafft hätte, daß er wenigstens davon leben konnte. So kam er denn Anfang Januar 1854 herüber.1561 Anfangs ging's freilich knapp genüg. Aber die Existenz war doch gesichert, und dann konnte Wolff, bei seinem außerordentlichen Geschick, mit Kindern umzugehen und ihre Zuneigung zu gewinnen, auf allmähliche Ausbreitung seines Wirkungskreises rechnen, sobald er einmal unter den dortigen Deutschen bekannt war. Dies blieb denn auch nicht aus. Nach einigen Jahren fand er sich in einer für seine Ansprüche ganz behaglichen materiell
len Lage, von seinen Schülern vergöttert, bei alt und jung, Engländern wie Deutschen allgemein geachtet und beliebt wegen seiner Gradheit, Pflichttreue und heitern Liebenswürdigkeit. Die Natur der Sache brachte es mit sich, daß er vorwiegend mit bürgerlichen, also mehr oder weniger politisch gegnerischen Elementen in Berührung kam; allein obwohl er weder seinem Charakter, noch seiner Uberzeugung je das mindeste vergab, hatte er doch nur äußerst selten Konflikte zu bestehen, und bestand sie ehrenvoll. Eine öffentliche politische Tätigkeit war damals für uns alle abgeschnitten; wir wurden von der Reaktionsgesetzgebung mundtot gemacht, von der Tagespresse totgeschwiegen, von den Verlegern kaum einer ablehnenden Antwort unserer etwaigen Offerten gewürdigt; der Bonapartismus schien endgiltig über den Sozialismus gesiegt zu haben. Mehrere Jahre lang war Wolff der einzige Gesinnungsgenosse, den ich in Manchester hatte; kein Wunder, daß wir uns fast täglich sahen und daß ich auch da noch oft genug Gelegenheit hatte, sein fast instinktiv richtiges Urteil über die Tagesvorgänge zu bewundern. Von welcher^ Gewissenhaftigkeit Wolff war, davon nur einen Beweis. Einem seiner Schüler gab er ein Rechenexempel aus einem Schulbuch auf. Er verglich die Auflösung mit der in dem sogenannten Schlüssel gegebenen und erklärte sie für falsch. Als der Junge aber nach mehrmaligem Rechnen immer dieselbe Lösung bekam, rechnete Wolff selbst nach und fand, daß der Junge recht hatte; der Schlüssel enthielt hier einen Druckfehler. Sogleich setzte sich Wolff hin und rechnete sämtliche Exempel des Buches nach, um zu sehen, ob nicht noch mehr solcher Fehler im Schlüssel seien: «Das soll mir nicht wieder passieren!" An dieser Gewissenhaftigkeit ist er auch, noch nicht 55 Jahre alt, gestorben. Im Frühjahr 1864 stellten sich, infolge von Überarbeitung, heftige Kopfschmerzen ein, die nach und nach eine fast gänzliche Schlaflosigkeit zur Folge hatten. Sein Arzt war grade abwesend; einen andern wollte er nicht konsultieren. Alle Bitten, er möge doch seine Stunden für einige Zeit einstellen oder beschränken, waren vergebens; was er einmal übernommen, wollte er auch durchführen. Erst als er absolut nicht mehr konnte, setzte er den Unterricht dann und wann aus. Aber es war zu spät. Die durch über» füllung des Gehirns mit Blut erzeugten Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, die Schlaflosigkeit immer ununterbrochener. Ein Blutgefäß im großen Gehirn sprang, und nach mehrmaligen Blutergüssen auf die Gehirnmasse trat der Tod am 9. Mai 1864 ein. Mit ihm verloren Marx und ich den treuesten Freund, die deutsche Revolution einen Mann von unersetzlichem Wert.
Friedrich Engels [Brief an Bignami über die deutschen Wahlen von 1877]
[„La Plebe" Nr.7 vom 26. Februar 1877]
Mein lieber Bignami! Ihr Berliner Korrespondent wird Ihnen alle Einzelheiten über die Wahlen in Deutschland mitgeteilt haben. Unser Triumph war so groß, daß er die deutsche und die ausländische Bourgeoisie in Schrecken versetzt hat; hier in London hat sich die Rückwirkung in der ganzen Presse bemerkbar gemacht. Das bemerkenswerteste ist nicht die Anzahl der neuen Wahlkreise, die von uns gewonnen wurden, wobei es wert ist, zu erfahren, daß Kaiser Wilhelm, der König von Sachsen und das kleinste Fürstlein Deutschlands (der Fürst von Reuß) alle drei in Wahlkreisen wohnen, die von sozialistischen Arbeitern vertreten werden, daß sie infolgedessen selber von Sozialisten vertreten werden; Wichtig ist, daß wir neben den Mehrheiten starke Minderheiten sowohl in den großen Städten als auch auf dem flachen Lande erlangt haben: in Berlin 31 500, in Hamburg, Barmen-Elberfeld, Nürnberg, Dresden je 11 000 Stimmen. Nicht nur in den ländlichen Gebieten Schleswig-Holsteins, Sachsens, Braunschweigs, sondern sogar in der Hochburg des Feudalismus, in Mecklenburg, gewannen wir eine starke Minderheit bei den Landarbeitern. Am 10.Januar 1874 erhielten wir 350 000 Stimmen, am 10 Januar 1877 mindestens 600 000. Die Wahl gibt uns die Möglichkeit, unsere Kräfte einzuschätzen; jetzt können Ihnen die Bataillone sagen, wie groß die Armeekorps des deutschen Sozialismus sind, die in den Wahltagen Revue passieren. Die moralische Wirkung, sowohl auf die sozialistische Partei, die mit Freude ihre Fortschritte feststellt, als auch auf die Arbeiter, die noch indifferent sind, und auf unsere Feinde ist gewaltig; und es ist gut, daß man einmal in drei Jahren die Todsünde begeht, zur Wahl zu gehen. Die Herren Abstentionisten können sagen, was sie wollen; eine einzige Tatsache wie die Wahlen vom 10. Januar ist mehr wert als alle ihre „revolutionären" Phrasen. Und wenn ich sage Bataillone
und Armeekorps, so spreche ich nicht in übertragenem Sinne. Mindestens die Hälfte - vielleicht sogar mehr - dieser fünfundzwanzigjährigen Männer (das ist das Mindestalter), die für uns gestimmt haben, haben zwei oder drei Jahre unter den Waffen gestanden, verstehen sehr gut mit Zündnadelgewehr und gezogener Kanone umzugehen und gehören der Heeresreserve an. Noch einige Jahre solcher Fortschritte, und die Reserve und die Landwehr[57] (drei Viertel des Kriegsheeres) werden so weit mit uns gehen, daß das Ganze desorganisiert und jeder Offensivkrieg unmöglich gemacht werden kann. Doch es werden sich Leute finden und sagen: Aber warum macht ihr mit solchen Kräften nicht gleich die Revolution? Aus folgendem Grunde: Da wir noch nicht mehr als 600000 von 5l/2 Millionen Stimmen haben und diese Stimmen da und dort in soundso viel Ländern verstreut sind, würden wir sicher besiegt werden und mit unüberlegten Aufständen und Torheiten eine Bewegung vernichten, die nur ein wenig Zeit braucht, um uns zu einem sicheren Triumph zu führen. Es ist klar, daß man uns den Sieg nicht einfach überlassen wird, daß die Preußen nicht tatenlos zusehen werden, wie ihr ganzes Kriegsheer sozialistisch infiziert wird, ohne Gegenmaßnahmen zu treffen; aber je mehr Reaktion und Unterdrückung es geben wird, desto höher werden die Fluten steigen und schließlich die Deiche hinwegschwemmen. Wissen Sie, was in Berlin vorgefallen ist? Am Abend des 10. des vergangenen Monats versperrte eine Ansammlung, die. von der Polizei selbst auf 22000 Menschen geschätzt wurde, alle Straßen in der Nähe des Sozialistischen Komitees. Dank der vollendeten Organisation und Di!7inlin nnepvpi' Pairtw Kattp ^iococ S^nrpitpo dl? PnfiE'iilhfffn WaWyf?!;!1 — — — ™taujuHijv,!! IIIIUUMUI täte zuerst erhalten. Als das Resultat bekanntgegeben wurde, brachte die Menge einen begeisterten Hochruf aus - auf wen? - auf die Gewählten? nein - „auf unseren aktivsten Agitator, auf den königlichen Staatsanwalt Tessendorfl" Er hat sich immer durch seine Gerichtsverfahren gegen die Sozialisten hervorgetan, und durch seine Gewalttätigkeiten hat er unsere Zahl verdoppelt. So antworteten also die Unsrigen auf die Gewaltmaßnahmen: Sie lassen sich nicht nur nicht davon beeindrucken, sondern sie fordern sie sogar noch als das beste Mittel zur Agitation heraus.
Brüderlicher Gruß von Ihrem . F. Engels
Geschrieben am 13. Februar 1877. Aus dem Italienischen.
Str. 32. grthe9. 16. W'i, 1877.
Friedrich Engels Aus Italien
j>Vorwärts" Nr. 32 vom 16. März 1877] Endlich ist auch in Italien die sozialistische Bewegung auf einen festen Boden gestellt und verspricht eine rasche und siegreiche Entwicklung. Damit aber die Leser den vorgegangenen Umschwung vollständig verstehen, müssen wir auf die Entstehungsgeschichte des italienischen Sozialismus zurückgreifen. Die Anfänge der Bewegung in Italien führen auf bakunistische Einflüsse zurück. Während bei den arbeitenden Massen ein leidenschaftlicher, aber höchst unklarer Klassenhaß gegen ihre Ausbeuter vorherrschte, bemächtigte sich eine Schar junger Advokaten, Doktoren, Literaten, Kommis usw., unter Bakunins persönlichem Kommando, der Leitung an allen Orten, wo ein revolutionäres Arbeiterelement hervortrat. Sie alle waren Mitglieder, in verschiedenen Graden der Weihe, der geheimen bakunistischen „Allianz", die den Zweck hatte, die gesamte europäische Arbeiterbewegung ihrer Führung zu unterwerfen und der bakunistischen Sekte somit in der kommenden sozialen Revolution die Herrschaft zu erschwindeln. Das Nähere darüber findet sich ausführlich dargestellt in der Schrift: „Ein Complot gegen die Internationale" (Braunschweig, bei Bracke). Solange die Bewegung unter den Arbeitern selbst noch im Entstehen war, ging dies vortrefflich. Die tollen bakunistischen Revolutionsphrasen erweckten überall den gewünschten Applaus; selbst die aus den früheren politisch-revolutionären Bewegungen herstammenden Elemente wurden vom Strom fortgeschwemmt, und neben Spanien wurde Italien, nach Bakunins eigenem Ausdruck, „das revolutionärste Land Europas"[S8J. Revolutionär im Sinne des vielen Geschreies und der wenigen Wolle. Im Gegensatz zu dem wesentlich politischen Kampf, wodurch die englische, nach ihr
die französische und zuletzt die deutsche Arbeiterbewegung groß und mächtig geworden war, wurde hier jede politische Tätigkeit verdammt, weil sie die Anerkennung des „Staats" in sich schließe, und „der Staat" der Inbegriff alles Bösen sei. Also: Verbot der Bildung einer Arbeiterpartei; Verbot der Erkämpfung jeder Schutzmaßregel gegen die Ausbeutung, z.B. des Normalarbeitstags, der Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit; Verbote, vor allem der Beteiligung an allen Wahlen. Dagegen Gebot der Agitation, Organisation und Konspiration für die zukünftige Revolution, die dann, sobald sie vom Himmel herabgeschneit kam, durchgeführt werden sollte, ohne irgendwelche provisorische Regierung, unter vollständiger Vernichtung aller staatlichen und an den Staat erinnernden Einrichtungen, durch die bloße (im geheimen von der Allianz dirigierte) Initiative der arbeitenden Massen - „aber fragt mich nur nicht wie!"[59] Solange die Bewegung, wie gesagt, in ihrer Kindheit war, zog dies alles vortrefflich. Die große Mehrzahl der italienischen Städte steht noch immer so ziemlich außerhalb des Weltverkehrs, den sie nur in der Gestalt des Fremdenverkehrs kennt. Diese Städte versorgen die umliegenden Bauern mit Handwerkserzeugnissen und vermitteln den Verkauf der Ackerbauprodukte in größeren Kreisen; außerdem lebt der grundbesitzende Adel in ihnen und verzehrt dort seine Renten; endlich bringen die vielen Fremden ihr Geld dorthin. In diesen Städten sind die proletarischen Elemente wenig zahlreich und noch weniger entwickelt, dazu stark durchsetzt von Leuten ohne regelmäßige oder ständige Beschäftigung, wie sie der Fremdenverkehr und das milde Klima begünstigen. Hier fand die hochrevolutionäre Phrase, die im stillen auch wohl von Dolch und Gift munkelte, zunächst einen fruchtbaren Boden. Aber Italien hat auch Industriestädte, namentlich im Norden, und sobald die Bewegung unter den echt proletarischen Massen dieser Städte Fuß gefaßt, könnte eine so dunstige Nahrung nicht mehr genügen, und ebensowenig konnten diese Arbeiter sich auf die Dauer bevormunden lassen durch jene gescheiterten jungen Bourgeois, die sich auf den Sozialismus geworfen, weil sie, in Bakunins Worten, sich in einer „Karriere ohne Ausweg" befanden. So geschah es. Die Unzufriedenheit der oberitalienischen Arbeiter mit dem Verbot jeder politischen, d.h. jeder über leeres Geschwätz und über Verschwörungsschwindel hinausgehenden wirklichen Tätigkeit wuchs von Tage zu Tage. Die deutschen Wahlsiege von 1874 und ihre die Vereinigung der deutschen Sozialisten erzielende Nachwirkung blieb auch in Italien nicht unbekannt. Die aus der alten republikanischen Bewegung hervorgegangenen Elemente, die sich nur mit Widerwillen dem „anarchischen"
Geschrei gefügt hatten, fanden mehr und mehr Gelegenheit, die Notwendigkeit des politischen Kampfes zu betonen und gaben der erwachenden Opposition Ausdruck in dem Journal „La Plebe". Dies Wochenblatt, in den ersten Jahren seines Bestehens republikanisch, hatte sich bald der sozialistischen Bewegung angeschlossen und sich von aller „anarchischen" Sektiererei solange wie möglich ferngehalten. Als endlich in Oberitalien die Arbeitermassen ihren zudringlichen Führern über den Kopf wuchsen und eine wirkliche Bewegung an die Stelle einer phantastischen setzten, bot sich ihnen in der „Plebe" ein williges Organ, das von Zeit zu Zeit ketzerische Andeutungen über die Notwendigkeit des politischen Kampfes verlauten ließ. Wäre Bakunin am Leben geblieben, er hätte diese Ketzerei in seiner gewohnten Weise bekämpft. Er hätte den Leuten von der „Plebe" „Autoritarismus", Herrschsucht, Ehrgeiz usw. angedichtet, allerhand kleinliche persönliche Klagen gegen sie erhoben und dies durch sämtliche Organe der „Allianz" in der Schweiz, in Italien, in Spanien aber- und abermals wiederholen lassen. Erst in zweiter Linie hätte er dann nachgewiesen, daß alle diese Verbrechen nichts anderes seien als unvermeidliche Folgen jener Urtodsünde, der Ketzerei der Anerkennung der politischen Aktion; denn politische Aktion, das sei Anerkennung des Staates, der Staat aber die Verkörperung des Autoritarismus, der Herrschaft, und folglich müsse jeder, der politische Aktion der Arbeiterklasse wolle, konsequenterweise die politische Herrschaft für sich selbst wollen, sei also ein Feind der Arbeiterklasse - steiniget ihn! In dieser dem seligen Maximilien Robespierre abgelernten Methode besaß Bakunin eine große Gewandtheit, nur daß er sie allzu regelmäßig und allzu einförmig anwandte. Und dennoch war diese Methode noch die einzige, die wenigstens augenblicklichen Erfolg versprach. Aber Bakunin war gestorben, und damit war die geheime Weltregierung in die Hände des Herrn James Guillaume von Neuchatel in der Schweiz übergegangen. An die Stelle des in vielen Wassern gewaschenen Weltmannes trat ein engherziger Pedant, der den Fanatismus des Schweizer Kalvinisten auf die Lehre von der Anarchie anwandte. Der wahre Glaube sollte um jeden Preis durchgesetzt und der beschränkte Schulmeister von Neuchatel unbedingt als der Papst dieses wahren Glaubens anerkannt werden. Das „Bulletin der jurassischen Föderation"t60] - die eingestandenermaßen kaum 200 Mitglieder zählt gegenüber den 5000 des schweizerischen Arbeiterbundes - wurde zum Staatsanzeiger der Sekte ernannt und fing an, die im Glauben Wankenden einfach zu „rüffeln". Aber die lombardischen Arbeiter, die sich als „oberitalische Föderation" konstituiert hatten, waren nicht mehr gewillt, sich diese Vermahnungen gefallen zu lassen. Und als gar
vorigen Herbst das jurassische Bulletin sich unterstand, der „Plebe" befehlen zu wollen, einen dem Herrn Guillaume mißliebigen Pariser Korrespondent abzuschaffen, da war es mit der Freundschaft am Ende. Das Bulletin fuhr in seinen Verketzerungen der „Plebe" und der Oberitaliener fort. Aber diese wußten jetzt, woran sie waren; sie wußten, daß hinter der Predigt von der Anarchie und Selbstherrschaft der Anspruch einiger weniger Intriganten steckte, die ganze Arbeiterbewegung diktatorisch zu kommandieren. „Vier kleine, sehr ruhige Zeilen Anmerkung haben dem Jura-Bulletin den Senf in die Nase steigen lassen, und es tut, als wären wir wütend über es, da es uns doch bloß erbaut hat. Wahrhaftig, man müßte sehr kindlich sein, um auf den Köder von Leuten anzubeißen, die, krank vor Mißgunst, an alle Türen klopfen, um mittelst der Verleumdung ein bißchen Bosheit gegen uns und die Unsern zu erbetteln. Die Hand, die seit langer Zeit umgeht, Unkraut und Streit säend, ist bekannt genug, als daß ihre jesuitischen (loyolasche) Umtriebe noch täuschen könnten." („Plebe", 21 .Januar 1877.) Und in der Nummer vom 26. Februar werden eben diese Leute bezeichnet als „einige beschränkte anarchische^und-ungeheuerlicherWiderspruch zugleich diktatorische Köpfe"; der beste Beweis, daß diese Herren in Mailand vollkommen durchschaut sind und dort kein ferneres Unheil mehr anrichten werden. Die deutschen Wahlen vom 10. Januar und der damit zusammenhängende Umschwung in der belgischen Bewegung - die Beseitigung der bisherigen politischen Enthaltungspolitik und deren Ersetzung durch die Agitation für allgemeines Stimmrecht und ein Fabrikgesetz - taten den Rest. Am 17. und 18. Februar hielt die oberitalische Föderation in Mailand ihren Kongreß ab. Die Beschlüsse enthalten sich jeder unnötigen und unangebrachten Feindseligkeiten gegen die bakunistischen Gruppen der italienischen Internationalen. Sie erklären auch die Bereitwilligkeit, den nach Brüssel berufenen Kongreß zu beschicken, der eine Vereinigung der verschiedenen Fraktionen der europäischen Arbeiterbewegung versuchen soll. Aber sie sprechen gleichzeitig mit der größten Bestimmtheit drei Punkte aus, die für die italienische Bewegung von der entschiedensten Wichtigkeit sind: 1. daß zur Förderung der Bewegung alle sich darbietenden Mittel angewandt werden müssen - also auch die politischen; 2. daß die sozialistischen Arbeiter sich als eine sozialistische Partei zu konstituieren haben, unabhängig von jeder anderen politischen oder religiösen Partei, und 3. daß der oberitalische Bund, unter Vorbehalt seiner eigenen Auto
nomie und auf Grundlage der ursprünglichen Statuten der Internationale1, sich als Glied dieser großen Verbindung betrachtet, und zwar unabhängig von allen anderen italienischen Verbindungen, denen er indes wie bisher auch fernerhin Beweise seiner Solidarität geben wird. Also: politischer Kampf, Organisation als politische Partei und Trennung von den Anarchisten. Mit diesen Beschlüssen hat sich der oberitalische Bund endgültig von der bakunistischen Sekte losgesagt und sich auf den gemeinsamen Boden der großen europäischen Arbeiterbewegung gestellt. Und da er den industriellsten Teil Italiens umfaßt - Lombardei, Piemont, Venetien - so können ihm die Erfolge nicht ausbleiben. Gegenüber der Anwendung derselben rationellen Agitationsmittel, die durch die Erfahrung aller andern Länder bewährt sind, wird die Klüngelei der bakunistischen Wunderdoktoren rasch genug ihre Ohnmacht offenbaren, das italienische Proletariat aber auch im Süden des Landes bald das Joch von Leuten abschütteln, die ihren Beruf zur Führung der Arbeiterbewegung herleiten aus ihrer Stellung als verkommene Bourgeois.
Geschrieben zwischen dem 6. und M.März 1877.
1 Siehe Band 16 unserer Ausgabe, S. 14-16
Friedrich Engels Karl Marx
Der Mann, der dem Sozialismus und damit der ganzen Arbeiterbewegung unsrer Tage zuerst eine wissenschaftliche Grundlage gegeben hat, Karl Marx, wurde geboren zu Trier 1818, Er studierte in Bonn und Berlin zuerst Rechtswissenschaft, warf sich aber bald ausschließlich auf das Studium der Geschichte und Philosophie und war 1842 im Begriff, sich als Dozent der Philosophie zu habilitieren, als die seit dem Tode Friedrich Wilhelms III. entstandene politische'Bewegung ihn in eine andere Laufbahn warf. Unter seiner Mitwirkung hatten die Häupter der rheinischen liberalen Bourgeoisie, die Camphausen, Hansemann etc. in Köln die „Rheinische Zeitung"1615 gegründet, und Marx, dessen Kritik der Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtags das größte Aufsehen erregt hatte, wurde Herbst 1842 an die Spitze des Blattes berufen. Die „Rheinische Zeitung" erschien natürlich unter der Zensur, aber die Zensur wurde mit ihr nicht fertig.* Die „Rheinische Zeitung" brachte fast immer die Artikel durch, auf die es ankam; man warf dem Zensor zuerst geringeres Futter zum Streichen vor, bis er entweder von selbst nachgab oder durch die Drohung: dann erscheint morgen die Zeitung nicht, zum Nachgeben genötigt wurde. Zehn Zeitungen, die denselben Mut hatten wie die „Rheinische", und deren Verleger ein paar Hundert Taler mehr an Satzkosten draufgehen ließen - und die Zensur war schon 1843 in Deutschland unmöglich gemacht. Aber die deutschen Zeitungsbesitzer waren kleinliche, ängstliche Spießbürger, und die „Rheinische Zeitung" führte den Kampf allein. Sie verbrauchte Zensor auf Zensor; endlich wurde sie doppelt zensiert, so daß nach der ersten
* Der erste Zensor der „Rh. Ztg." war der Polizeirat Dolleschall, derselbe, der einst in der „Kolnischen Zeitung" die Annonce der Übersetzung von Dantes „Goettlicher Comoedie" von Philalethes (dem späteren König Johann von Sachsen) strich, mit dem Bemerken: Mit göttlichen Dingen soll man keine Komödie treiben.
Zensur der Regierungspräsident sie nochmals und endgültig zu zensieren hatte. Auch das half nichts. Anfangs 1843 erklärte die Regierung, mit dieser Zeitung sei nicht fertig zu werden und unterdrückte sie ohne weiteres. Marx, der inzwischen die Schwester des späteren Reaktionsministers v. Westphalen geheiratet, siedelte nach Paris über und gab dort mit A. Rüge die „Deutsch-Französischen Jahrbücher"1623 heraus, in denen er die Reihe seiner sozialistischen Schriften mit einer „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie"1 eröffnete. Ferner mit F. Engels: „Die heilige Familie. Gegen Bruno Bauer und Consorten"3, eine satirische Kritik einer der letzten Formen, in die sich der damalige deutsche philosophische Idealismus verlaufen hatte. Das Studium der politischen Ökonomie und der Geschichte der großen Französischen Revolution ließ Marx immer noch Zeit zu gelegentlichen Angriffen auf die preußische Regierung; diese rächte sich, indem sie im Frühjahr 1845 bei dem Ministerium Guizot - Herr Alexander von Humboldt soll den Vermittler gespielt haben - seine Ausweisung aus Frankreich durchsetzte.1631 Marx verlegte seinen Wohnsitz nach Brüssel und veröffentlichte dort in französischer Sprache 1848 einen „Discours sur le libre echange"8 (Abhandlung über den Freihandel) und 1847: „Misere de la philosophie"4, eine Kritik der „Philosophie de la mis&re" (Philosophie des Elends) von Proudhon. Gleichzeitig fand er Gelegenheit, in Brüssel einen deutschen Arbeiterverein[451 zu stiften und trat damit in die praktische Agitation ein. Noch wichtiger wurde diese für ihn, seitdem er und seine politischen Freunde 1847 in den seit längeren Jahren bestehenden geheimen Bund der Kommunisten eingetreten waren. Die ganze Einrichtung wurde nun umgewälzt; die bisher mehr oder weniger konspiratorische Verbindung verwandelte sich in eine einfache, nur notgedrungen geheime Organisation der kommunistischen Propaganda, die erste Organisation der deutschen sozialdemokratischen Partei. Der Bund bestand überall, wo deutsche Arbeitervereine bestanden; fast in allen diesen Vereinen Englands, Belgiens, Frankreichs und der Schweiz und in sehr vielen Vereinen Deutschlands waren die leitenden Mitglieder Bundesangehörige, und der Anteil des Bundes an der entstehenden deutschen Arbeiterbewegung war sehr bedeutend. Dabei aber war unser Bund der erste, der den internationalen Charakter der gesamten Arbeiterbewegung hervorhob und auch praktisch betätigte, Engländer,
1 Siehe Band 1 unserer Ausgabe, S.201—333 und S.378-391 - 2 siehe Band 2 unserer Ausgabe, S.3-223 - 8 siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.444-458 - 4 ebenda, S.63-182
Belgier, Ungarn, Polen etc. zu Mitgliedern hatte und namentlich in London internationale Arbeiterversammlungen veranstaltete. Die Umgestaltung des Bundes vollzog sich auf zwei im Jahre 1847 abgehaltenen Kongressen, deren zweiter die Zusammenstellung und Veröffentlichung der Parteigrundsätze in einem von Marx und Engels zu redigierenden Manifest beschloß. So entstand das „Manifest der Kommunistischen Partei"1, das 1848 kürz vor der Februarrevolution zuerst erschien und seitdem in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurde. Die „Deutsche-Brüsseler-Zeitung"1441, an der Marx sich beteiligte und worin die vaterländische Polizeiglückseligkeit schonungslos bloßgelegt wurde, hatte die preußische Regierung wiederum veranlaßt, auf Marx' Ausweisung hinzuwirken, jedoch vergebens. Als aber die Februarrevolution auch in Brüssel Volksbewegungen zur Folge hatte und ein Umschwung in Belgien bevorzustehen schien, verhaftete die belgische Regierung Marx ohne Umstände und wies ihn aus. Inzwischen hatte ihn die provisorische Regierung Frankreichs durch Flocon einladen lassen, wieder nach Paris zu kommen, und er folgte diesem Ruf. In Paris trat er vor allem dem unter den dortigen Deutschen eingerissenen Schwindel entgegen, der in Frankreich die deutschen Arbeiter in bewaffnete Legionen formieren wollte, um damit in Deutschland Revolution und Republik einzuführen. Einerseits mußte Deutschland seine Revolution selbst machen, und andererseits war jede in Frankreich sich bildende fremde Revolutionslegion durch die Lamartines der provisorischen Regierung von vornherein an die zu stürzende Regierung verraten, wie auch in Belgien und Baden geschah. Nach der Märzrevolution ging Marx nach Köln und gründete dort die „Neue Rheinische Zeitung", die vom l.Juni 1848 bis zum 19.Mai 1849 bestand - das einzige Blatt, das innerhalb der damaligen demokratischen Bewegung den Standpunkt des Proletariats vertrat, und zwar schon durch seine rückhaltlose Parteinahme für die Pariser Juni-Insurgenten von 1848, die dem Blatt fast seine sämtlichen Aktionäre abtrünnig machte. Vergebens wies die „Kreuz-Zeitung"t64] auf die „Chimborasso-Frechheit" hin, mit der die „N. Rh. Ztg." alles Heilige angreife, vom König und Reichsverweser bis zum Gensdarmen, und das in einer preußischen Festung mit damals 8000 Mann Besatzung; vergebens eiferte das liberale, plötzlich reaktionär gewordene rheinische Philisterium; vergebens suspendierte der Kölner Belagerungszustand im Herbst 1848 das Blatt auf längere Zeit; vergebens
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S. 459-493
denunzierte das Frankfurter Reichsjustizministerium dem Kölner Staatsanwalt Artikel auf Artikel zur gerichtlichen Verfolgung; das Blatt wurde, angesichts der Hauptwache, ruhig weiter redigiert und gedruckt, die Verbreitung und der Ruf der Zeitung wuchs mit der Heftigkeit der Angriffe auf Regierung und Bourgeoisie. Als der preußische Staatsstreich im November 1848 erfolgte, forderte die „N. Rh. Ztg." an der Spitze jeder Nummer das Volk auf, die Steuern zu verweigern und der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Im Frühling 1849 deswegen sowie wegen eines andern Artikels vor die Geschwornen gestellt, wurde sie beidemal freigesprochen.1 Endlich, als die Maiaufstände 1849 in Dresden und der Rheinprovinz niedergeschlagen und der preußische Feldzug gegen den badisch-pfälzischen Aufstand durch Konzentration und Mobilmachung bedeutender Truppenmassen eingeleitet wurde, glaubte die Regierung sich stark genug, die „N. Rh. Ztg." mit Gewalt zu unterdrücken. Die letzte - rotgedruckte Nummer erschien am 19. Mai. Marx ging wieder nach Paris, wurde aber schon wenige Wochen nach der Demonstration vom 13. Juni 1849 von der französischen Regierung vor die Wahl gestellt, entweder seinen Wohnsitz in die Bretagne zu verlegen oder Frankreich zu verlassen. Er zog letzteres vor und siedelte nach London über, wo er seitdem ununterbrochen gewohnt hat. Ein Versuch, die „N. Rh. Ztg." in der Form einer Revue (in Hamburg)1651 weitererscheinen zu lassen (1850), mußte nach einiger Zeit gegenüber der immer heftiger auftretenden Reaktion aufgegeben werden. Gleich nach dem Staatsstreich in Frankreich im Dezember 1851 veröffentlichte Marx: „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte" 2 (New York 1852; zweite Auflage Hamburg 1869, kurz vor dem Krieg). 1853 schrieb er: „Enthüllungen über den Kölner Kommunisten-Prozeß"3 (zuerst gedruckt in Basel, später in Boston, neuerdings wieder in Leipzig). Nach der Verurteilung der Mitglieder des Kommunistenbundes in Köln zog Marx sich von der politischen Agitation zurück und widmete sich einerseits während zehn Jahren der Durchforschung der reichen Schätze, welche die Bibliothek des Britischen Museums auf dem Gebiete der politischen Ökonomie darbot, andrerseits der Mitarbeiterschaft an der „NewYork Tribüne"[66], welche bis zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs nicht nur die von ihm gezeichneten Korrespondenzen, sondern auch zahlreiche Leitartikel über europäische und asiatische Verhältnisse aus
1 Siehe Band 6 unserer Ausgabe, S. 223 -239 - 2 siehe Band 8 unserer Ausgabe, S. 111 bis 207-3 ebenda, S.405 -470
seiner Feder brachte. Seine auf eingehende Studien der englischen offiziellen Aktenstücke gegründeten Angriffe gegen Lord Palmerslon wurden in London als Pamphlets wieder abgedruckt.1 Als erste Frucht seiner langjährigen ökonomischen Studien erschien 1859: „Zur Kritik der Politischen Oekonomie", erstes Heft (Berlin, Duncker)"2. Diese Schrift enthält die erste zusammenhängende Darstellung der Marxschen Werttheorie einschließlich der Lehre vom Gelde. Während des italienischen Krieges bekämpfte Marx in der zu London erscheinenden deutschen Zeitung „Das Volk"1671 den damals sich liberal färbenden und den Befreier der unterdrückten Nationalitäten spielenden Bonapartismus, sowie die damalige preußische Politik, die unter dem Deckmantel der Neutralität im trüben zu fischen suchte. Bei dieser Gelegenheit mußte auch Herr Karl Vogt angegriffen werden, der damals im Auftrag des Prinzen Napoleon (Plon-Plon) und im Solde Louis-Napoleons für die Neutralität, ja die Sympathie Deutschlands agitierte. Von Vogt mit den infamsten, wissentlich erlogenen Verleumdungen überhäuft, antwortete Marx im: „Herr Vogt"3, London 1860, worin Vogt und die übrigen Herren von der imperialistischen falschen Demokratenbande enthüllt und Vogt aus äußeren wie inneren Gründen der Bestechung durch das Dezemberkaisertum überführt wurde. Genau zehn Jahre später kam die Bestätigung: In der in den Tuilerien 1870 gefundenen und von der Septemberregierung veröffentlichten Liste der bonapartistischen Mietlinge fand sich unter dem Buchstaben V: „Vogt - im August 1859 wurden ihm Übermacht... Fr. 40000."[55] Endlich 1867 erschien in Hamburg: „Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band" - das Hauptwerk von Marx, das die Grundlagen seiner ökonomisch-sozialistischen Anschauungen und die Hauptzüge seiner Kritik der bestehenden Gesellschaft, der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Folgen darlegt. Die zweite Auflage dieses epochemachenden Werkes erschien 1872; mit der Ausarbeitung des zweiten Bandes ist der Verfasser beschäftigt. Inzwischen war in verschiedenen Ländern Europas die Arbeiterbewegung wieder soweit erstarkt, daß Marx daran denken konnte, einen langgehegten Wunsch zur Ausführung zu bringen: die Gründung einer die fortgeschrittensten Länder Europas und Amerikas umfassenden ArbeiterAssoziation, die den internationalen Charakter der sozialistischen Bewegung sowohl den Arbeitern selbst wie den Bourgeois und den Regierungen so
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 353 —418 — 2 siehe Band 13 unserer Ausgabe — 3 siehe Band 14 unserer Ausgabe
zusagen leiblich vorführen sollte - dem Proletariat zur Ermutigung und Stärkung, seinen Feinden zum Schrecken. Eine Volksversammlung zugunsten des eben von Rußland wieder erdrückten Polens am 28. September 1864 in St. Martin's Hall in London gab den Anlaß, die Sache vorzubringen, die mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die Internationale Arbeiter-Assoziation war gestiftet; ein provisorischer Generalrat mit dem Sitz in London wurde auf der Versammlung gewählt, und die Seele dieses sowie aller folgenden Generalräte bis zum Haager Kongreß war Marx. Von ihm sind fast sämtliche vom Generalrat der Internationale erlassenen Schriftstücke redigiert, von der Inauguraladresse 18641 bis zur Adresse über den Bürgerkrieg in Frankreich 18712. Marx' Tätigkeit in der Internationale schildern, hieße die Geschichte dieser Assoziation selbst schreiben, die übrigens noch im Gedächtnis der europäischen Arbeiter lebt. Der Fall der Pariser Kommune brachte die Internationale in eine unmögliche Lage. Sie wurde in den Vordergrund der europäischen Geschichte gedrängt, in einem Augenblick, wo ihr die Möglichkeit aller erfolgreichen, praktischen Aktion überall abgeschnitten war. Die Ereignisse, die sie zur siebenten Großmacht erhoben, verboten ihr gleichzeitig, ihre Streitkräfte mobil zu machen und tätig zu verwenden, bei Strafe der unfehlbaren Niederlage und Zurückdämmung der Arbeiterbewegung auf Jahrzehnte. Dazu drängten sich von verschiedenen Seiten Elemente vor, die den so plötzlich gewachsenen Ruf der Assoziation zu Zwecken persönlicher Eitelkeit oder persönlichen Ehrgeizes auszubeuten versuchten, ohne Einsicht in die wirkliche Lage der Internationale oder ohne Rücksicht darauf. Es mußte ein heroischer Entschluß gefaßt werden, und es war wieder Marx, der ihn faßte und auf dem Haager Kongreß durchführte. Die Internationale sagte sich durch einen feierlichen Beschluß von jeder Verantwortlichkeit los für das Treiben der Bakunisten, die den Mittelpunkt jene^ unverständigen und unsaubern Elemente bildeten; dann, angesichts der Unmöglichkeit, gegenüber der allgemeinen Reaktion auch den an sie gestellten, gesteigerten Forderungen zu entsprechen und ihre volle Wirksamkeit anders aufrechtzuerhalten als durch eine Reihe von Opfern, an denen die Arbeiterbewegung hätte verbluten müssen - angesichts dieser Lage zog sich die Internationale vorläufig von der Bühne zurück, indem sie den Generalrat nach Amerika verlegte. Die Folge hat bewiesen, wie richtig dieser - damals und seitdem oft getadelte - Beschluß war. Einerseits war und blieb allen Versuchen die Spitze abgebrochen, auf den Namen der Internationale hin nutzlose Putsche
1 Siehe Band 16 unserer Ausgabe, S.5-13- 2siehe Band 17 unserer Ausgabe, S.319-362
zu machen, und andrerseits aber bewies der fortdauernde innige Verkehr zwischen den sozialistischen Arbeiterparteien der verschiedenen Länder, daß das durch die Internationale geweckte Bewußtsein der Interessengleichheit und der Solidarität des Proletariats aller Länder sich zur Geltung zu bringen weiß auch ohne das für den Augenblick zur Fessel gewordene Band einer förmlichen internationalen Assoziation. Nach dem Haager Kongreß fand Marx endlich wieder Ruhe und Muße, seine theoretischen Arbeiten wieder aufzunehmen, und wird er hoffentlich in nicht gar zu langer Zeit den zweiten Band des „Kapitals" dem Druck übergeben können. Von den vielen wichtigen Entdeckungen, mit denen Marx seinen Namen in die Geschichte der Wissenschaft eingeschrieben hat, können wir hier nur zwei hervorheben. Die erste ist die durch ihn vollzogene Umwälzung in der gesamten Auffassung der Weltgeschichte. Die ganze bisherige Geschichtsanschauung beruhte auf der Vorstellung, daß die letzten Gründe aller geschichtlichen Veränderungen zu suchen sind in den sich verändernden Ideen der Menschen, und daß von allen geschichtliehen Veränderungen wieder die politischen die wichtigsten, die ganze Geschichte beherrschenden sind. Woher aber den Menschen die Ideen kommen und welches die treibenden Ursachen der politischen Veränderungen sind, danach hatte man nicht gefragt. Nur der neueren Schule der französischen und teilweise auch der englischen Geschichtsschreiber hatte sich die Überzeugung aufgedrängt, wenigstens seit dem Mittelalter sei die treibende Kraft in der europäischen Geschichte der Kampf des sich entwickelnden Bürgertums mit dem Feudaladel um die gesellschaftliche und politische Herrschaft. Marx wies nun nach, daß die ganze bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, daß es sich in all den vielfachen und verwickelten politischen Kämpfen nur um die gesellschaftliche und politische Herrschaft von Gesellschaftsklassen handelt, um die Behauptung der Herrschaft seitens älterer, um die Erringung der Herrschaft seitens neu emporkommender Klassen. Wodurch aber entstehen und bestehen wieder diese Klassen? Durch die jedesmaligen materiellen, grobsinnlichen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit ihren Lebensunterhalt produziert und austauscht. Die Feudalherrschaft des Mittelalters beruhte auf der selbstgenügsamen, fast alle ihre Bedürfnisse selbst erzeugenden, fast austauschlosen Wirtschaft kleiner Bauerngemeinden, denen der streitbare Adel Schutz nach außen und nationalen oder doch politischen Zusammenhang verlieh; als die Städte und mit ihnen eine gesonderte Handwerksindustrie
und ein erst binnenländischer, später internationaler Handelsverkehr aufkamen, entwickelte sich das städtische Bürgertum und eroberte sich, im Kampf mit dem Adel, noch im Mittelalter seine Einfügung als ebenfalls bevorrechteter Stand in die feudale Ordnung. Aber mit der Entdeckung der außereuropäischen Erde von der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an erhielt dies Bürgertum ein weit umfassenderes Handelsgebiet und damit einen neuen Sporn für seine Industrie; das Handwerk wurde in den wichtigsten Zweigen verdrängt durch die schon fabrikmäßige Manufaktur und diese wieder durch die mit den Erfindungen des vorigen Jahrhunderts, namentlich der Dampfmaschine, möglich gewordene große Industrie, die wieder auf den Handel zurückwirkte, indem sie in zurückgebliebenen Ländern die alte Handarbeit verdrängte und in den weiter entwickelten die gegenwärtigen neuen Verkehrsmittel, Dampfmaschinen, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen schuf. So vereinigte das Bürgertum mehr und mehr die gesellschaftlichen Reichtümer und die gesellschaftliche Macht in seiner Hand, während es noch lange Zeit von der in den Händen des Adels und des auf den Adel gestützten Königtums befindlichen politischen Macht ausgeschlossen blieb. Aber auf gewisser Stufe - in Frankreich seit der großen Revolution - eroberte es auch diese und wurde nun seinerseits herrschende Klasse gegenüber dem Proletariat und den Kleinbauern. Von diesem Gesichtspunkte aus erklären sich alle geschichtlichen Erscheinungen - bei genügender Kenntnis der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslage, die freilich unsern Geschichtsschreibern von Fach total abgeht - aufs einfachste, und ebenso erklären sich höchst einfach die Vorstellungen und Ideen einer jeden Geschichtsperiode aus den wirtschaftlichen Lebensbedingungen und den, von diesen wieder bedingten, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen dieser Periode. Die Geschichte war zum ersten Mal auf ihre wirkliche Grundlage gestellt; die handgreifliche, aber bisher total übersehene Tatsache, daß die Menschen vor allem essen, trinken, wohnen und sich kleiden, also arbeiten müssen, ehe sie um die Herrschaft streiten, Politik, Religion, Philosophie usw. treiben können ~ diese handgreifliche Tatsache kam jetzt endlich zu ihrem geschichtlichen Recht. Für die sozialistische Anschauung aber war diese neue Auffassung der Geschichte von der höchsten Bedeutung. Sie wies nach, daß alle bisherige Geschichte sich in Klassengegensätzen und Klassenkämpfen bewegt, daß es immer herrschende und beherrschte, ausbeutende und ausgebeutete Klassen gegeben hat und die große Mehrzahl der Menschen stets zu harter Arbeit und wenig Genuß verurteilt war. Warum dies? Einfach deshalb, weil auf allen früheren Entwicklungsstufen der Menschheit die Produktion noch
so wenig entwickelt war, daß die geschichtliche Entwicklung nur in dieser gegensätzlichen Form vor sich gehen konnte, daß der geschichtliche Fortschritt im ganzen und großen der Tätigkeit einer kleinen, bevorrechteten Minderheit überwiesen war, während die große Masse dazu verdammt blieb, den kärglichen Lebensunterhalt für sich und dazu noch den immer reichlicher werdenden der Bevorrechteten zu erarbeiten. Aber dieselbe Untersuchung der Geschichte, die auf diese Weise die bisherige, sonst nur aus der Bosheit der Menschen zu erklärende Klassenherrschaft natürlich und vernünftig erklärt, führt auch zu der Einsicht, daß infolge der so kolossal gesteigerten Produktionskräfte der Gegenwart auch der letzte Vorwand einer Scheidung der Menschen in Herrschende und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern verschwunden ist; daß das herrschende Großbürgertum seinen geschichtlichen Beruf erfüllt hat, daß es der Leitung der Gesellschaft nicht mehr gewachsen und sogar ein Hindernis der Entwicklung der Produktion geworden ist, wie die Handelskrisen und namentlich der letzte große Krach1681 und die gedrückte Lage der Industrie in allen Ländern beweisen; daß die geschichtliche Leitung übergegangen ist. auf das Proletariat, eine Klasse, die sich nach ihrer ganzen Gesellschaftslage nur dadurch befreien kann, daß sie alle Klassenherrschaft, alle Knechtschaft und alle Ausbeutung überhaupt beseitigt; und daß die den Händen der Bourgeoisie entwachsenen gesellschaftlichen Produktivkräfte nur der Besitzergreifung durch das assoziierte Proletariat harren, um einen Zustand herzustellen, der jedem Gesellschaftsmitglied die Teilnahme nicht nur an der Erzeugung, sondern auch an der Verteilung und Verwaltung der gesellschaftlichen Reichtümer ermöglicht und durch planmäßigen Betrieb der gesamten Produktion die gesellschaftlichen Produktivkräfte und deren Erträge derart steigert, daß die Befriedigung aller rationellen Bedürfnisse einem jeden in stets wachsendem Maße gesichert bleibt. Die zweite wichtige Entdeckung von Marx ist die endliche Aufklärung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, in andern Worten der Nachweis, wie innerhalb der jetzigen Gesellschaft, in der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise, die Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten sich vollzieht. Seitdem die politische Ökonomie den Satz aufgestellt hatte, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums und alles Werts sei, war die Frage unvermeidlich geworden: Wie es denn damit vereinbar sei, daß der Lohnarbeiter nicht die ganze, durch seine Arbeit erzeugte Wertsumme erhalte, sondern einen Teil davon an den Kapitalisten abgeben müsse? Sowohl die bürgerlichen Ökonomen wie die Sozialisten mühten sich ab, auf die
Frage eine wissenschaftlich stichhaltige Antwort zu geben, aber vergebens, bis endlich Marx mit der Lösung hervortrat. Diese Lösung ist die folgende: Die heutige kapitalistische Produktionsweise hat zur Voraussetzung das Dasein zweier Gesellschaftsklassen; einerseits der Kapitalisten, die sich im Besitz der Produktions- und Lebensmittel befinden, und andrerseits der Proletarier, die, von diesem Besitz ausgeschlossen, nur eine einzige Ware zu verkaufen haben: ihre Arbeitskraft; und die diese ihre Arbeitskraft daher verkaufen müssen, um in den Besitz von Lebensmitteln zu gelangen. Der Wert einer Ware wird aber bestimmt durch die in ihrer Erzeugung, also auch in ihrer Wiedererzeugung verkörperte gesellschaftlich notwendige Arbeitsmenge, der Wert der Arbeitskraft eines durchschnittlichen Menschen während eines Tages, Monates, Jahres also durch die Menge von Arbeit, die in der zur Erhaltung dieser Arbeitskraft während eines Tages, Monates, Jahres notwendigen Menge von Lebensmitteln verkörpert ist. Nehmen wir an, die Lebensmittel des Arbeiters für einen Tag erforderten sechs Arbeitsstunden zu ihrer Erzeugung oder, was dasselbe ist, die in ihnen enthaltene Arbeit repräsentiere eine Arbeitsmenge von sechs Stunden; dann wird der Wert der Arbeitskraft für einen Tag sich ausdrücken in einer Geldsumme, die ebenfalls sechs Arbeitsstunden in sich verkörpert. Nehmen wir ferner an, der Kapitalist, der Unsern Arbeiter beschäftigt, zahle ihm dafür diese Summe, also den vollen Wert seiner Arbeitskraft. Wenn nun der Arbeiter sechs Stunden des Tages für den Kapitalisten arbeitet, so hat er diesem seine Auslagen vollständig wieder ersetzt - sechs Stunden Arbeit für sechs Stunden Arbeit. Dabei fiele freilich nichts ab für den Kapitalisten, und dieser faßt deshalb auch die Sache ganz anders auf: Ich habe, sagt er, die Arbeitskraft dieses Arbeiters nicht für sechs Stunden, sondern für einen ganzen Tag gekauft, und demgemäß läßt er den Arbeiter je nach Umständen 8, 10, 12,14 und mehr Stunden arbeiten, so daß das Produkt der siebenten, achten und folgenden Stunden ein Produkt unbezahlter Arbeit ist und zunächst in die Tasche des Kapitalisten wandert. So erzeugt der Arbeiter im Dienste des Kapitalisten nicht nur den Wert seiner Arbeitskraft wieder, den er bezahlt erhält, sondern er erzeugt auch darüber hinaus einen Mehrwert, der, zunächst vom Kapitalisten angeeignet, im weiteren Verlauf nach bestimmten ökonomischen Gesetzen auf die gesamte Kapitalistenklasse sich verteilt und den Grundstock bildet, aus dem Bodenrente, Profit, Kapitalanhäufung, kurz, alle von den nichtarbeitenden Klassen verzehrte oder aufgehäufte Reichtümer entspringen. Hiermit war aber nachgewiesen, daß die Reichtumserwerbung der heutigen Kapitalisten ebensogut in der Aneignung von fremder, unbezahlter Arbeit besteht, wie die der Sklavenbesitzer oder
der die Fronarbeit ausbeutenden Feudalherren, und daß sich alle diese Formen der Ausbeutung nur unterscheiden durch die verschiedene Art und Weise, in der die unbezahlte Arbeit angeeignet wird. Damit war aber auch allen heuchlerischen Redensarten der besitzenden Klassen, als herrsche in der jetzigen Gesellschaftsordnung Recht und Gerechtigkeit, Gleichheit der Rechte und Pflichten und allgemeine Harmonie der Interessen, der letzte Boden unter den Füßen weggezogen, und die heutige bürgerliche Gesellschaft nicht minder als ihre Vorgängerinnen enthüllt als eine großartige Anstalt zur Ausbeutung der ungeheuren Mehrzahl des Volks durch eine geringe und immer kleiner werdende Minderzahl. Auf diese beiden wichtigen Tatsachen gründet sich der moderne, wissenschaftliche Sozialismus. Im zweiten Band des „Kapitals" werden diese und andere kaum minder wichtige wissenschaftliche Entdeckungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems weiterentwickelt und damit auch die im ersten Bande noch nicht berührten Seiten der politischen Ökonomie einer Umwälzung unterworfen. Möge es Marx gestattet sein, ihn bald dem Druck übergeben zu können.
Geschrieben Mitte Juni 1877. Nach: „Volks-Kalender", Braunschweig 1878.
Karl Marx [Brief ein die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski"[69!]
Sehr geehrter Herr Redakteur! Der Verfasser1 des Artikels „Karl Marx vor dem Tribunal des Herrn Shukowski" ist augenscheinlich ein Mann von Geist, und wenn er in meiner Darstellung der ursprünglichen Akkumulation eine einzige Stelle gefunden hätte, die ihm zur Unterstützung seiner Schlußfolgerungen dienen könnte, hätte er sie angeführt. In Ermanglung einer solchen Stelle sieht er sich gezwungen, sich einer Nebenbemerkung zu bemächtigen, einer Art Polemik gegen einen russischen „Belletristen" a, die im Nachtrag zur ersten deutschen Ausgabe des „Kapitals" abgedruckt ist. Was werfe ich dort diesem Schriftsteller vor? Daß er die russische Dorfgemeinde nicht in Rußland, sondern in dem Buch von Haxthausen, einem preußischen Regierungsrat, entdeckt hat und daß in seinen Händen die russische Dorfgemeinde nur als Argument dafür dient, daß das verfaüite alte Europa durch den Sieg des Panslawismus erneuert werden müsse. Meine Einschätzung dieses Schriftstellers kann richtig oder falsch sein, aber sie kann in keinem Fall den Schlüssel liefern zu meiner Ansicht über die Bemühungen „pyccKHX Jiio^eö Hafira ßJiH CBoer© oTenecTBa nyrb pa.3BHTHfl, OTJIHHHMÖ OT Toro, KOToptiM nuia h H,n;eT 3anaflHaH Eßpona"3 etc. Im Nachwort zur zweiten deutschen Auflage des „Kapitals"4 — das der Verfasser des Artikels über Herrn Shukowski kennt, da er es zitiert - spreche ich von „einem großen russischen Gelehrten und Kritiker"5 mit der Hochachtung, die er verdient: Dieser hat in bemerkenswerten Artikeln die Frage behandelt, ob Rußland, wie die liberalen Ökonomen verlangen, mit der Zerstörung der Bauerngemeinde anfangen und dann zum kapitalistischen
1 N. K. Michailowski - 2 A. I. Herzen - 3 „russischer Männer, für ihr Vaterland einen Entwicklungsgang zu finden, verschieden von dem, den das westliche Europa gegangen ist und geht" (zitiert aus Michailowskis Artikel in „Otetschestwennyje Sapiski" Nr. 10, 1877, S. 326) — 4 siehe Band 23 unserer Ausgabe, S.21 - 5 N. G.Tschernyschewski
Regime übergehn muß, oder ob es im Gegenteil, ohne die Qualen dieses Systems durchzumachen, sich alle Früchte desselben aneignen kann, indem es seine eignen geschichtlich gegebnen Voraussetzungen weiter entwickelt. Er spricht sich in diesem letztern Sinn aus. Und mein verehrter Kritiker hätte zumindest ebensoviel Grund, aus meiner Hochachtung für diesen „großen russischen Gelehrten und Kritiker" zu folgern, daß ich seine Ansichten über diese Frage teile, wie aus meiner Polemik gegen den „Belletristen" und Panslawisten zu schließen, daß ich sie ablehne. Kurzum, da ich nicht gern „etwas zu erraten" lassen möchte, will ich ohne Rückhalt sprechen. Um die ökonomische Entwicklung Rußlands in voller Sachkenntnis beurteilen zu können, habe ich Russisch gelernt und dann lange Jahre hindurch die darauf bezüglichen offiziellen und sonstigen Druckschriften studiert. Das Resultat, wobei ich angekommen bin, ist dies: Fährt Rußland fort, den Weg zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchzumachen.
II Das Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation will nur den Weg schildern, auf dem im westlichen Europa die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus dem Schoß der feudalen Wirtschaftsordnung hervorgegangen ist. Es stellt also die geschichtliche Bewegung dar, die, indem sie die Produzenten von ihren Produktionsmitteln trennte, die ersteren in Lohnarbeiter (Proletarier im modernen Sinne des Wortes) und die Besitzer der letzteren in Kapitalisten verwandelte. In dieser Geschichte „machen alle Umwälzungen Epoche, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienet, vor aliem aber die Momente, worin große Menschenmassen von ihren traditionellen Produktions- und Subsistenzmitteln losgerissen und plötzlich auf den Arbeitsmarkt geworfen werden. Aber die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist bisher radikal erst in England durchgeführt... Aber alle Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung" etc. („Capital", ed. fran?aise, p.315170 Am Schluß des Kapitels wird die geschichtliche Tendenz der Produktion auf folgendes zurückgeführt: daß sie „mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation erzeugt", daß sie selbst die Elemente einer neuen Wirtschaftsordnung geschaffen hat, indem sie gleichzeitig den Produktivkräften der gesellschaftlichen Arbeit und der allseitigen Entwicklung jedes
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Erste Seite von Karl Marx' Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski"

individuellen Produzenten den größten Aufschwung gibt, daß das kapitalistische Eigentum, das in der Tat schon auf einer Art kollektiver Produktion beruht, sich nur in gesellschaftliches Eigentum verwandeln kann. An dieser Stelle liefere ich hierfür keinen Beweis, aus dem guten Grunde, daß diese Behauptung selbst nichts anderes ist als die summarische Zusammenfassung langer Entwicklungen, die vorher in den Kapiteln über die kapitalistische Produktion gegeben worden sind. Welche Anwendung auf Rußland konnte nun mein Kritiker machen von dieser geschichtlichen Skizze? Einfach nur diese: Strebt Rußland dahin, eine kapitalistische Nation nach westeuropäischem Vorbild zu werden - und in den letzten Jahren hat es sich in dieser Richtung sehr viel Mühe kosten lassen -, so wird es dies nicht fertig bringen, ohne vorher einen guten Teil seiner Bauern in Proletarier verwandelt zu haben; und dann, einmal hineingerissen in den Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft, wird es die unerbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie die andern profanen Völker. Das ist alles. Aber das ist meinem Kritiker zu wenig. Er muß durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden, um schließlich zu jener ökonomischen Formation zu gelangen, die mit dem größten Aufschwung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit die allseitigste Entwicklung des Menschen sichert. Aber ich bitte ihn um Verzeihung. (Das heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun.) Nehmen wir ein Beispiel. An mehreren Stellen im „Kapital" spiele ich auf das Schicksal an, das die Plebejer des alten Roms ereilte. Das waren ursprünglich freie Bauern, die, jeder auf eigne Rechnung, ihr eignes Stück Land bebauten. Im Verlauf der römischen Geschichte wurden sie expropriiert. Die gleiche Entwicklung, die sie von ihren Produktions- und Subsistenzmitteln trennte, schloß nicht nur die Bildung des Großgrundbesitzes, sondern auch die großer Geldkapitalien ein. So gab es eines schönen Tages auf der einen Seite freie Menschen, die von allem, außer ihrer Arbeitskraft, entblößt waren, und auf der andern, zur Ausbeutung dieser Arbeit, die Besitzer all der erworbenen Reichtümer. Was geschah? Die römischen Proletarier wurden nicht Lohnarbeiter, sondern ein faulenzender Mob, noch verächtlicher als die sog. „poor whites"1 der Südstaaten der Vereinigten Staaten, und an
1 „armen Weißen"
ihrer Seite entwickelte sich keine kapitalistische, sondern eine auf Sklavenarbeit beruhende Produktionsweise. Ereignisse von einer schlagenden Analogie, die sich aber in einem unterschiedlichen historischen Milieu abspielten, führten also zu ganz verschiedenen Ergebnissen. Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangien mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.
Geschrieben etwa November 1877. Nach der Handschrift. Aus dem Französischen.
Friedrich Engels [Die Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Rußland]
[„La Plebe" Nr.3 vom 22. Januar 18781 Die sozialistische Bewegung in Deutschland geht bewundernswert voran. Es gibt gegenwärtig 62 sozialistische Periodica, davon sind 46 Zeitungen im eigentlichen Sinne, 1 ist eine Zeitschrift und 15 sind Organe von Gewerkschaftsverbänden. Außerdem werden in deutscher Sprache in der Schweiz 4 Zeitungen und 1 Zeitschrift, in Österreich 3, in Ungarn 1 und in Amerika 6 Zeitungen veröffentlicht. Die Gesamtzahl der sozialistischen periodischen Veröffentlichungen in deutscher Sprache beträgt: Deutschland 62 Österreich 3 Ungarn 1 75 Schweiz 3 Amerika 6 Somit weist die periodische Literatur des Sozialismus in deutscher Sprache eine größere Zahl von Organen auf als in allen anderen Sprachen zusammengenommen. Zu dieser Anzahl rechne ich nicht die mehr oder weniger sozialistischen Zeitungen der Universitätsprofessoren (Kathedersozialisten1), sondern nur die von der Partei anerkannten Organe. Als das Attentat auf Bismarck stattfand[71J, schrieb mir ein Bourgeois: „Ganz Deutschland (das bürgerliche) ist völler Freude, weil Bismarck nicht getötet wurde", und ich antwortete ihm: „Auch wir sind zufrieden, denn er arbeitet für uns, als ob er dafür bezahlt bekäme." Ihr wißt, wie recht ich hatte, denn ohne die Verfolgungen und Leiden, ohne den Militarismus und die ständig anwachsenden Steuern, hätten wir es nicht so weit gebracht. Obgleich die Krise in Frankreicht7aJ ein recht wenig befriedigendes Ergebnis gezeitigt hat, so wird, wie mir scheint, sich daraus ein Zustand
1 Kathedersozialisten: in „La Plebe" deutsch
ergeben, der es den französischen Sozialisten möglich machen wird, mittels Presse, öffentlicher Versammlungen und durch Vereinigungen zu wirken und sich als Arbeiterpartei zu organisieren, das ist alles, was wir jetzt - nach dem Blutbad von 1871 - erreichen können. Außerdem ist es eine feststehende Tatsache, daß Frankreich zwei große Fortschritte gemacht hat: der Übergang der Bauern auf die Seite der Republik und die Bildung einer republikanischen Armee. Der Staatsstreich von Ducrot, Batbie und Co. ist gescheitert, weil die Soldaten sich entschieden geweigert haben, gegen das Volk zu marschieren. In Amerika wurde die Arbeiterfrage durch den blutigen Streik des Personals der großen Eisenbahnlinien1731 auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist ein Ereignis, das in der amerikanischen Geschichte Epoche machen wird; auf diese Weise geht die Bildung einer Arbeiterpartei in den Vereinigten Staaten mit großen Schritten voran. In jenem Lande geht es rasch vorwärts, und wir müssen die Bewegung verfolgen, um nicht von irgendeinem großen Erfolg überrascht zu werden, der bald zustande kommen wird. Rußland ist jenes Land, glaube ich, das in naher Zukunft die bedeutendste Rolle spielen wird. Die durch die sogenannte Befreiung der Leibeignen geschaffene Lage war schon vor dem Kriege unerträglich. Diese große Reform ist so gut durchgeführt worden, daß sie schließlich Adelige und Bauern ruiniert hat. Ihr folgte eine weitere Reform - angeblich mit dem Ziel, den Gouvernements oder Kreisen eine Verwaltung zu geben, die verhältnismäßig frei von der Einmischung der Zentralregierung gewählt werden sollte -, die aber weiter nichts brachte als die Erhöhung der ohnehin unerträglichen Steuern. Den Gouvernements wurden einfach die Kosten ihrer Verwaltung auferlegt, so daß der Staat weniger zahlte, jedoch weiter dieselben Steuern eintrieb; daher gab es neue Steuern für Begleichung der Ausgaben der Gouvernements und Gemeinden. Dann kam noch die allgemeine Wehrpflicht hinzu, was einer neuen Steuer gleichzusetzen ist, die drückender ist als die anderen, und einer neuen, zahlenmäßig stärkeren Armee gleichkommt. So näherte sich der Zusammenbruch der Finanzen mit großen Schritten. Das Land befand sich schon vor dem Kriege im Zustande des Bankrotts. Die russische Hochfinanz, die in großem Maße an den betrügerischen Spekulationen zwischen 1871 und 1873 teilgenommen hatte, verwickelte das Land in die Finanzkrise, die 1874 in Wien und Berlin ausbrach und auf Jahre hinaus Industrie und Handel in Rußland ruinierte. Bei dieser Lage der Dinge begann der heilige Krieg gegen die Türken1741, und da man keine
Die Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, den USA und Rußland 115
Anleihe im Ausland erhalten konnte und die inneren Anleihen nicht das ergaben, was man benötigte, mußte zu den Millionen der Bank (den Reservefonds) und der Ausgabe von Assignaten Zuflucht genommen werden; infolgedessen vermindert sich der Wert des Papiergeldes von Tag zu Tag, er wird bald, schon in ein oder zwei Jahren, seinen Tiefpunkt erreicht haben. Schließlich haben wir alle Elemente eines russischen 1789, dem notwendigerweise ein 1793 folgen wird. Was immer der Ausgang des Krieges sein wird, die russische Revolution steht vor der Tür, sie wird bald, vielleicht dieses Jahr ausbrechen; sie wird,entgegen den Annahmen von Bakunin, von oben, im Palast, im Schöße des verarmten und frondierenden Adels beginnen. Doch einmal in Bewegung, wird sie die Bauern mitreißen, und ihr werdet dann Szenen sehen, denen gegenüber jene von 1793 verblassen werden. Ist einmal Rußland zur Revolution getrieben, dann wird sich das Antlitz ganz Europas verändern. Das alte Rußland war bisher die große Reservearmee der europäischen Reaktion, so hat es 1789, 1805, 1815, 1830 und 1848 gehandelt. Wenn einmal diese Reservearmee vernichtet sein wird, - dann werden wir sehen!
Geschrieben am 12. Januar 1878. Aus dem Italienischen.

FRIEDRICH ENGELS Die europäischen Arbeiter im Jahre.1877™
Geschrieben Mitte Februar bis Mitte März 1878. Veröffentlicht in „The Labor Standard", New York, wie I- 3.Marz 1878 III - 17.März 1878 II - 10.März 1878 IV - 24.März 1878 V-31. März 1878 Aus dem Englischen.
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Das abgelaufene Jabr war für* die europäische Arbeiterklasse reich an Ereignissen und Erfolgen. Große Fortschritte wurden in fast allen Ländern hinsichtlich der Organisation und Ausbreitung einer Arbeiterpartei gemacht; die Einigkeit, die eine Zeitlang durch eine kleine, aber aktive Sektet76] bedroht war, ist im wesentlichen wiederhergestellt; die Arbeiterbewegung ist mehr und mehr in den Vordergrund aller Tagespolitik getreten, und ein sicheres Zeichen des nahendes Sieges - gleichgültig welche Wendung die politischen Ereignisse nahmen, erwiesen sie sich auf diese oder jene Weise als günstig für das Vorwärtsschreiten dieser Bewegung. Gleich zu Anfang wurde^das Jahr 1877 eingeleitet von einem der größten Siege, der je von Arbeitern errungen wurde. Am 10. Januar fanden die alle drei Jahre auf Grund des allgemeinen Wahlrechts sich wiederholenden Wahlen für das deutsche Parlament (Reichstag1) statt; Wahlen, die schon seit 1867 der deutschen Arbeiterpartei Gelegenheit gegeben haben, ihre Kräfte zu messen und vor der Welt Heerschau zu halten über ihre gut organisierten und stets wachsenden Bataillone. Im Jahre 1874 erhielten die Kandidaten der Arbeiterpartei 400 000 Stimmen. 1877 mehr als 600 000. Zehn Abgeordnete wurden am 10. Januar gewählt, während über weitere 24 bei den Stichwahlen abgestimmt wurde, welche 14 Tage später stattfanden. Von diesen 24 wurden tatsächlich nur einige gewählt, da alle anderen Parteien sich gegen sie zusammengeschlossen hatten. Aber die bedeutungsvolle Tatsache blieb bestehen, daß in allen großen Städten und Industriezentren des Reichs die Arbeiterbewegung mit Riesenschritten vorwärts gekommen war, und daß ihr alle diese Wahlkreise mit Sicherheit bei den nächsten Wahlen 1880 zufallen werden. Berlin, Dresden, die
1 Reichstag: in „The Labor Standard" deutsch
gesamten sächsischen Industriebezirke und Solingen waren erobert worden; in Hamburg, Breslau, Nürnberg, Leipzig, Braunschweig, in SchleswigHolstein und den Industriebezirken Westfalens und des Niederrheins hatte eine Koalition aller anderen Parteien mit Müh und Not ausgereicht, die Arbeiterkandidaten mit knapper Mehrheit zu schlagen. Die deutsche Sozialdemokratie erwies sich als eine Macht, und als eine schnell wachsende Macht, mit der künftig alle anderen Mächte des Landes, die regierenden öder die sonstigen, zu rechnen haben würden. Die Wirkung dieser Wahlen war gewaltig. Die Bourgeoisie wurde von einer schrecklichen Panik ergriffen, um so mehr, als ihre Presse beständig die Sozialdemokratie so hingestellt hatte, als schiumpfe sie zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Die Arbeiterklasse, stolz auf ihren Sieg, setzte den Kampf mit erneuter Kraft und auf jedem sich bietenden Schlachtfeld fort, während die Arbeiter der anderen Länder, wie wir sehen werden, den Sieg der Deutschen nicht nur als ihren eigenen Sieg feierten, sondern sich durch ihn auch zu frischen Anstrengungen anspornen ließen, um in dem Wettlauf für die Emanzipation der Arbeit nicht zurückzubleiben. Der rasche Fortschritt der Arbeiterpartei in Deutschland wird nicht erkauft ohne beträchtliche Opfer auf seiten derer, die dabei eine recht aktive Rolle spielen. Verfolgungen durch die Regierung, Geld- und noch öfter Gefängnisstrafen hageln auf sie nieder, und sie haben sich schon längst dazu entschließen müssen, den größeren Teil ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen. Obgleich es sich meistens um kürzere Gefängnisstrafen handelt, von ein paar Wochen bis zu drei Monaten, so sind doch lange Haftzeiten keineswegs eine Seltenheit. So wurden kürzlich, um das wichtige Bergbau- und Industriegebiet von Saarbrücken vor der Ansteckung mit dem sozialdemokratischen Gift zu bewahren, zwei Agitatoren zu je zweieinhalb Jahren verurteilt, weil sie sich auf dieses verbotene Gebiet gewagt hatten. Die elastischen Reichsgesetze bieten für solche Maßregelungen eine Fülle von Vorwänden, und wo sie nicht ausreichen, sind die Richter meist gern bereit, sie bis zu dem Punkt auszudehnen, der für eine Verurteilung erforderlich ist. Ein großer Vorteil für die deutsche Bewegung ist, daß die Gewerkschaftsorganisation mit der politischen Organisation Hand in Hand arbeitet. Die unmittelbaren Vorteile, die die Gewerkschaften gewähre^, ziehen viele sonst Gleichgültige irt die politische Bewegung hinein, während die Gemeinsamkeit der politischen Aktion die sonst isolierten Gewerkschaften zusammenhält und ihnen gegenseitige Unterstützung gewährleistet. Der Erfolg, den unsere deutschen Freunde bei den Reichstagswahlen
erzielten, hat sie ermutigt, ihr Glück auch auf anderen Wahlebenen zu versuchen. So ist es ihnen in zwei Landtagen der kleineren Staaten des Reichs geglückt, die Wahl von Arbeitern durchzusetzen, und auch in zahlreiche Stadtparlamente sind sie eingedrungen; in den sächsischen Industriegebieten wird so manche Stadt von einem sozialdemokratischen Gemeinderat geleitet. Da das Wahlrecht bei diesen Wahlen beschränkt ist, so darf kein großer Erfolg erwartet werden; aber jedes errungene Mandat hilft, den Regierungen und der Bourgeoisie zu beweisen, daß sie künftig mit den Arbeitern zu rechnen haben. Jedoch der beste Beweis für den raschen Fortschritt der Organisation klassenbewußter Arbeiter ist die wachsende Zahl ihrer periodischen Presseorgane. Und hierbei müssen wir die Grenzen von Bismarcks „Reich" überschreiten, denn Einfluß und Aktion der deutschen Sozialdemokratie wird durch diese keineswegs begrenzt. Am 3I.Dezember 1877 wurden in deutscher Sprache nicht weniger als 75 Zeitungen und Zeitschriften im Dienst der Arbeiterpartei veröffentlicht. Davon im Deutschen Reich 62 (darunter 15 Organe von ebenso vielen Gewerkschaften), in der Schweiz 3, in Österreich 3, in Ungarn 1, in Amerika 6, insgesamt 75, das sind mehr als sämtliche Arbeiterblätter in allen anderen Sprachen zusammen. Nach der Schlacht bei Sedan im September 1870 erklärte der Vorstand der deutschen Arbeiterpartei seinen Wählern, daß durch das Kriegsergebnis der Schwerpunkt der europäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt worden und daß den deutschen Arbeitern dadurch eine höhere Aufgabe und neue Verantwortung zugefallen sei, die von ihnen weitere Anstrengungen fordere. Das Jahr 1877 war Beweis dafür und bestätigte zugleich, daß das deutsche Proletariat durchaus fähig ist, die ihm auferlegte zeitweilige Führerschaft zu übernehmen. Welche Fehler einige ihrer Führer auch immer begangen haben mögen - und sie sind zahlreich und mannigfach -, die Massen selbst sind entschlossen, ohne Zögern und auf dem richtigen Wege vorwärtsmarschiert. Ihre Haltung, ihre Organisation und Disziplin bilden einen merklichen Gegensatz zu der Schwäche, Unentschlossenheit, Unterwürfigkeit und Feigheit, die in Deutschland für alle Bewegungen der Bourgeoisie so charakteristisch sind. Aber während die deutsche Bourgeoisie ihre Laufbahn damit beschloß, in eine mehr als byzantinische Verherrlichung „Wilhelms des Siegreichen" hinabzusinken und, an Händen und Füßen gebunden, sich dem eigensinnigen Willen des einen Bismarck auslieferte, marschiert die Arbeiterklasse von Sieg zu Sieg, gefördert und gestärkt gerade durch die Maßnahmen, welche Regierung und Bourgeoisie ersinnen, um sie zu unterdrücken.
II So groß auch die Wirkung der deutschen Wahlen im Lande selbst war, weit größer war sie noch im Ausland. Und vor allem stellte sie in der europäischen Arbeiterbewegung jene Harmonie wieder her, die während der letzten sechs Jahre gestört worden war durch die Anmaßungen einer kleinen, aber äußerst geschäftigen Sekte. Diejenigen unserer Leser, die die Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation verfolgt haben, werden sich erinnern, daß unmittelbar nach dem Fall der Pariser Kommune innerhalb der großen Arbeiterorganisation Meinungsverschiedenheiten auftraten, die auf dem Haager Kongreß 1872 zu offener Spaltung und darauf folgender Auflösung führten. Diese Meinungsverschiedenheiten wurden von einem Russen, Bakunin, und seinem Anhang verursacht, die mit sauberen und unsauberen Mitteln die Herrschaft über eine Körperschaft erlangen wollten, von der sie nur eine kleine Minderheit ausmachten. Ihre Uni Versalmedizin war eine prinzipielle Ablehnung jeglicher politischen Aktion der Arbeiterklasse; dies ging so weit, daß in ihren Augen die Teilnahme an einer Wahl einem Verrat an den Interessen des Proletariats gleichkam. Nichts als handgreifliche, gewaltsame Revolution wollten sie als Mittel der Aktion zulassen. Von der Schweiz aus, wo diese „Anarchisten", wie sie sich selbst nannten, zuerst Wurzel geschlagen hatten, verbreiteten sie sich nach Italien und Spanien, wo sie eine Zeitlang tatsächlich die Arbeiterbewegung beherrschten. Innerhalb der Internationale wurden sie mehr oder weniger von den Belgiern unterstützt, die sich, obgleich aus andern Gründen, ebenfalls für politische Abstention aussprachen. Nach der Spaltung hielten sie einen Schein von Organisation aufrecht und veranstalteten Kongresse, auf denen ein paar Dutzend Menschen, immer die gleichen, als angebliche Vertreter der Arbeiterklasse ganz Europas in deren Namen ihre Dogmen verkündigten. Doch schon die deutschen Wahlen von 1874 und der große Vorteil, den die deutsche Bewegung durch die Anwesenheit von neun ihrer aktivsten Mitglieder im Parlament erfuhr, hatten Elemente des Zweifels untei die „Anarchisten" geworfen. Politische Ereignisse hatten die Bewegung in Spanien unterdrückt, sie verschwand dort, fast ohne eine Spur zurückzulassen. In der Schweiz wurde die Partei, die für politische Aktion eintrat und mit den Deutschen Hand in Hand arbeitete, mit jedem Tag stärker und übertraf bald die wenigen Anarchisten im Verhältnis von 300 zu 1. Nach einem kindischen Versuch der Anarchisten, eine „soziale Revolution" durchzuführen (Bologna 1874), wobei sich weder ihr Verstand noch ihr Mut von
einer vorteilhaften Seite zeigte, begann das wirkliche Arbeiterelement in Italien sich nach vernünftigeren Mitteln der Aktion umzuschauen. In Belgien war die Bewegung durch die Abstentionspolitik ihrer Führer, die die Arbeiterklasse ohne jedes wirkliche Betätigungsfeld ließen, auf einem toten Punkt angelangt. Während die Deutschen ihre politische Aktion von Erfolg zu Erfolg führte, erlitt die Arbeiterklasse der Länder, wo Abstention die Losung des Tages war, tatsächlich Niederlage auf Niederlage und wurde einer Bewegung überdrüssig, die keine Erfolge aufweisen konnte; ihre Organisationen fielen in Vergessenheit, ihre Presseorgane verschwanden eins nach dem anderen. Der vernünftigere Teil dieser Arbeiter konnte nicht umhin, von diesem Kontrast beeindruckt zu werden; die Empörung gegen die „anarchistische" und abstentionistische Lehre brach in Italien sowohl wie in Belgien aus, und man begann sich selbst und anderen die Frage zu stellen, weshalb man einem sinnlosen Dogmatismus zuliebe der Anwendung gerade der Aktionsmittel beraubt sein sollte, die sich als die wirksamsten von allen erwiesen hatten. So war der Stand der Dinge, als der große Wahlsieg der Deutschen allen Zweifeln ein Ende machte, alles Zögern überwand. Kein Widerstand war möglich gegen eine solche hartnäckige Tatsache. Italien und Belgien sprachen sich für politische Aktion aus; die Überreste der italienischen Abstentionisten, zur Verzweiflung getrieben, versuchten noch einen Aufstand in der Nähe von Neapel[77]; einige dreißig Anarchisten proklamierten die „soziale Revolution", wurden aber schleunigst von der Polizei in Gewahrsam genommen. Alles was sie erreichten, war der völlige Zusammenbruch ihrer eigenen sektiererischen Bewegung in Italien. So war die anarchistische Organisation, die den Anspruch auf die Leitung der Arbeiterbewegung von einem Ende Europas bis zum andern erhoben hatte, wieder auf ihren ursprünglichen Kern reduziert, etwa 200 Leute im Schweizer Jura, wo sie aus der Einsamkeit ihrer Bergabgeschiedenheit zu protestieren fortfahren gegen die siegreiche Ketzerei der übrigen Welt und die wahre Orthodoxie hochhalten, wie sie von dem jetzt verstorbenen Kaiser Bakunin niedergelegt wurde. Und als im letzten September der Sozialistische Weltkongreß in Gent in Belgien zusammentrat - ein Kongreß, den sie selbst einberufen hatten —, bildeten sie dort eine unbedeutende Minderheit gegenüber den Delegierten der vereinigten und einmütigen großen Organisationen der Arbeiterklasse Europas. Obwohl der Kongreß energisch ihre lächerlichen Lehren und ihre vermessenen Anmaßungen zurückwies und keinen Zweifel daran ließ, daß er bloß eine kleine Sekte zurückwies, gewährte er ihnen am Ende großmütige Duldung.
So wurde nach vier Jahren innerer Kämpfe die völlige Einigkeit der Aktion der Arbeiterklasse Europas wiederhergestellt, und die Politik, die von der Mehrheit des letzten Kongresses der Internationale proklamiert worden war, wurde völlig gerechtfertigt durch die Ereignisse. Nun hatte man wieder eine Grundlage gewonnen, auf der die Arbeiter der verschiedenen europäischen Länder aufs neue entschlossen zusammen vorgehen und einander jene gegenseitige Unterstützung gewähren konnten, die die Hauptstärke der Bewegung ausmacht. Die Existenz der Internationalen Arbeiterassoziation war unmöglich gemacht worden [...]1 die den Arbeitern dieser Länder verboten, in irgendeinen derartigen internationalen Bund einzutreten. Die Regierungen hätten sich alle diese Mühe ersparen können. Die Arbeiterbewegung war nicht bloß über die Notwendigkeit, sondern sogar über die Möglichkeit irgendeines derartigen formellen Bundes hinausgewachsen; aber das Werk jener großen proletarischen Organisation ist nicht nur völlig erfüllt, sie selbst setzt ihr Leben fort, mächtiger als je in dem weit stärkeren Bund der Einigkeit und Solidarität, in der Gemeinsamkeit der Aktion und der Politik, die jetzt die Arbeiterklasse ganz Europas beseelt und die unbestreitbar ihre eigene und größte Leistung ist. Es gibt eine Fülle verschiedener Auffassungen bei den Arbeitern der einzelnen Länder und sogar innerhalb der einzelnen Länder selbst, aber es gibt keine Sekten mehr, keine Ansprüche auf dogmatische Orthodoxie und doktrinäre Obergewalt, und es gibt einen gemeinsamen Aktionsplan, der ursprünglich von der Internationale entworfen, heute jedoch allgemeine Annahme gefunden hat, weil er überall, bewußt oder sporadisch, aus dem Kampf, aus den Erfordernissen der Bewegung 1 1 • , Dl J__ _1.11 . • 1 1 1 • 1 • frerausgewäcusen isi; ein i ian, uer, oowoni er sicn aen verscnieaenartigen Bedingungen jeder Nation und jedes Ortes frei anpaßt, dennoch überall in seinen Grundzügen derselbe ist und so Gewähr gibt für einheitliche Absichten und allgemeine Übereinstimmung in den Mitteln, die man anwendet, um das gemeinsame Ziel - die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst - zu erreichen.
III In dem vorhergehenden Artikel haben wir schon die wichtigsten Tatsachen erwähnt, die im Zusammenhang mit der Geschichte der Arbeiterbewegung in Italien, Spanien, der Schweiz und Belgien von Interesse sind. Doch bleibt noch einiges, das berichtet werden muß.
1 In „The Labor Standard" fehlen hier ein oder zwei Zeilen
In Spanien hatte sieh die Bewegung zwischen 1868 und 1872, als die Internationale sich mehr als 30 000 zahlender Mitglieder rühmte, rasch ausgedehnt. Aber all das war mehr Schein als Wirklichkeit, mehr das Ergebnis momentaner Erregung, verursacht durch den unsicheren politischen Zustand des Landes als von einem wirklich geistigen Fortschritt. Die spanische Internationale, die in den kantonalistischen (föderalistisch-republikanischen) Aufstand verwickelt war, wurde zusammen mit diesem unterdrückt. Eine Zeitlang bestand sie noch fort in Gestalt einer Geheimgesellschaft, von der ohne Zweifel ein Kern immer noch vorhanden ist. Da sie aber niemals ein Lebenszeichen von sich gegeben hat, außer der Entsendung von drei Delegierten zum Genter Kongreß, so sind wir zu der Folgerung genötigt, daß diese drei Delegierten die spanische Arbeiterklasse ungefähr auf dieselbe Weise vertreten wie weiland die drei Schneider von Tooley-Street das Volk von England vertraten[78]. Und wenn einmal eine politische Erschütterung den Arbeitern Spaniens wieder die Möglichkeit zu aktivem Auftreten geben wird, so können wir mit Sicherheit voraussagen, daß der neue Aufbruch nicht von diesen „anarchistischen" Schwätzern ausgehen wird, sondern von der kleinen Schar intelligenter und energischer Arbeiter, die 1872 der Internationale treu blieben1791 und die jetzt ihre Zeit abwarten, statt geheime Verschwörungen zu betreiben. In Portugal blieb die Bewegung immer frei von der „anarchistischen" Ansteckung und schritt auf derselben vernünftigen Bahn vorwärts wie in den meisten anderen Ländern. Die portugiesischen Arbeiter besaßen zahlreiche Sektionen der Internationale und Gewerkschaften; sie hielten im Januar 1877 einen sehr erfolgreichen Kongreß ab und hatten ein ausgezeichnetes Wochenblatt, „O Protesto" (Der Protest)[80]. Doch waren auch sie gefesselt durch ungünstige Gesetze, die die Presse und die Vereins- und Versammlungsfreiheit beschränkten. Sie setzten den Kampf trotz alledem fort und halten jetzt in Oporto einen neuen Kongreß ab, der ihnen Gelegenheit geben wird, der Welt zu zeigen, daß die Arbeiterklasse Portugals ihren gebührenden Anteil nimmt andern großen weltweiten Kampf für die Befreiung der Arbeit. Auch die Arbeiter Italiens sind in ihrer Aktion sehr behindert durch die bürgerliche Klassengesetzgebung. Eine Anzähl von Sondergesetzen, die eingeführt wurden unter dem Vorwand, das Räuberunwesen und weit verbreitete geheime Räuberorganisationen zu unterdrücken, Gesetze, die der Regierung ungeheure willkürliche Befugnisse geben, werden skrupellos angewandt gegen die Arbeitervereine; ihre hervorragenden Mitglieder werden gleich Räubern ohne Richter oder Geschworene unter polizeiliche
Bewachung gestellt und verbannt. Dennoch geht die Bewegung vorwärts und - das beste Lebenszeichen - ihr Schwerpunkt hat sich aus den ehrwürdigen und halbverödeten Städten der Romagna in die lebhaften Industrieund Fabrikstädte des Nordens verlagert, eine Änderung, die den echten Arbeiterelementen den Vorrang sicherte vor dem Haufen „anarchistischer" Eindringlinge bürgerlichen Ursprungs, der vorher die Führung innehatte. So oft die Arbeiterklubs und Gewerkschaften auch von der Regierung zerschlagen und aufgelöst werden, sie bilden sich immer wieder unter neuen Namen. Die proletarische Presse, obgleich viele ihrer Organe nur kurzlebig sind wegen der Verfolgungen, Geld- und Gefängnisstrafen, welche über die Herausgeber verhängt werden, entsteht immer wieder neu nach jeder Niederlage, und allen Hindernissen zum Trotz bestehen mehrere Zeitungen schon verhältnismäßig lange. Einige dieser Organe, meist solche von nur kurzer Lebensdauer, bekennen sich noch zu „anarchistischen" Lehren, aber diese Fraktion hat alle Ansprüche aufgegeben, die Bewegung zu beherrschen und stirbt allmählich ab ebenso wie die Mazzinische oder bürgerlich-republikanische Partei, und jeder Zoll an Boden, den diese beiden Fraktionen verlieren, bedeutet ebensoviel Bodengewinn für die echte und intelligente Arbeiterbewegung. Auch in Belgien hat sich der Schwerpunkt der Aktion der Arbeiterklasse verlagert, und diese Aktion selbst hat infolgedessen eine wichtige Veränderung erfahren. Bis 1875 lag der Schwerpunkt in dem französisch sprechenden Teil des Landes einschließlich des halb französischen und halb flämischen Brüssel; während dieser Periode wurde die Bewegung stark von proudhonistischen Doktrinen beeinflußt, die ebenfalls die Abstention von politischer Einmischung, namentlich bei Wahlen, vorschreiben. Es blieben also nichts als Streiks übrig, die in der Regel durch blutiges Einschreiten des Militärs unterdrückt wurden, und Versammlungen, in denen der alte Phrasenvorrat ständig wiederholt wurde. Die Arbeiter wurden dessen überdrüssig, und die ganze Bewegung schlief nach und nach ein. Aber seit 1875 nahmen die Fabrikstädte des flämisch sprechenden Teils den Kampf auf mit einem entschlosseneren und, wie sich bald zeigen sollte, neuen Geist. In Belgien gibt es überhaupt keine Fabrikgesetze, die die Arbeitszeit der Frauen oder Kinder beschränken; und so forderten die Arbeiterwähler von Gent und Umgegend als erstes Schutz für ihre Frauen und Kinder, die fünfzehn und mehr Stunden täglich in den Baumwollfabriken fronden mußten. Die Opposition der proudhonistischen Doktrinäre, die solche Nichtigkeiten der Aufmerksamkeit von Männern, die sich mit transzendentem Revolutionarismus beschäftigten, nicht für wert hielten, war
wirkungslos und wurde schrittweise überwunden. Die Forderung nach gesetzlichem Schutz für die in Fabriken beschäftigten Kinder wurde einer der Punkte im Programm der belgischen Arbeiterklasse, und damit war der Zauber gebrochen, der bis dahin die politische Aktion in die Acht getan hatte. Das Beispiel der Deutschen tat ein übriges, und wie die Arbeiter Deutschlands, der Schweiz, Dänemarks, Portugals, Ungarns, Österreichs und eines Teiles von Italien, schließen sich die belgischen Arbeiter jetzt zu einer politischen Partei zusammen - die sich von allen anderen politischen Parteien unterscheidet und in Opposition zu ihnen steht - mit dem Ziel, ihre Emanzipation durch jede politische Aktion, die die jeweilige Lage erfordern mag, zu erringen. Die große Masse der Schweizer Arbeiter - der deutsch sprechende Teil von ihnen - hatte sich seit einigen Jahren in einem „Arbeiterbund" zusammengeschlossen, dem Ende 1876 über 5000 zahlende Mitglieder angehörten. Neben ihm gab es noch eine andere Organisation, den Grütlibund, der ursprünglich von den bürgerlichen Radikalen geschaffen wurde für die Ausbreitung des Radikalismus unter Arbeitern und Bauern; aber allmählich drangen sozialdemokratische Gedanken in diese weitverzweigte Vereinigung ein und eroberten sie schließlich. 1877 schlössen diese beiden Gesellschaften ein Bündnis, das beinahe einer Verschmelzung gleichkam, zum Zweck der Organisierung einer schweizerischen politischen Arbeiterpartei, und sie gingen mit solcher Energie vor, daß sie bei der Volksabstimmung das neue Schweizer Fabrikgesetz durchbrachten, das von allen existierenden Fabrikgesetzen das für die Arbeiter günstigste ist. Jetzt sind sie dabei, eine sorgfältige Überwachung zu organisieren, um seine genaue Durchführung gegen den laut verkündeten Unwillen der Fabrikanten zu sichern. Die „Anarchisten" sind von ihrem überlegenen revolutionären Standpunkt aus natürlich heftige Gegner all dieser Aktionen und erklären sie für ein Stück direkten Hochverrats gegen das, was sie die „Revolution" nennen - aber da ihre Anzahl höchstens 200 beträgt, und sie hier wie anderwärts nur ein Generalstab von Offizieren ohne Heer sind, war dies von keiner Bedeutung. Das Programm der Schweizer Arbeiterpartei ist fast identisch mit dem der deutschen, ja, eigentlich zu identisch, da es sogar einige seiner unvollkommenen und verwirrten Stellen übernommen hat. Aber der bloße Wortlaut des Programms bedeutet wenig, solange der Geist, der die Bewegung beherrscht, von der richtigen Art ist. Die dänischen Arbeiter traten um 1870 in die Schranken und machten zuerst sehr rasche Fortschritte. Durch ein Bündnis mit der Partei der Klein
baüern, unter denen sie mit Erfolg ihre Ansichten verbreiteten, erreichten sie so beträchtlichen politischen Einfluß, daß die „Vereinigte Linke", deren Kern die Bauernpartei ausmachte, für eine Reihe von Jahren die Mehrheit im Parlament besaß. Aber dieses schnelle Wachstum der Bewegung war mehr Schein als Wirklichkeit. Eines Tages wurde entdeckt, daß zwei der Führer verschwunden waren, nachdem sie das Geld durchgebracht hatten, das für Parteizwecke unter den Arbeitern gesammelt worden war. Der Skandal, der dadurch hervorgerufen wurde, war sehr groß, und die dänische Bewegung hat sich von der darauf folgenden Entmutigung noch nicht erholt. Immerhin, wenn die dänische Arbeiterpartei jetzt zurückhaltender vorgeht als zuvor, so besteht doch jeder Grund zu der Annahme, daß sie nach und nach die kurzlebige und scheinbare Herrschaft über die Massen, die sie jetzt verloren hat, durch einen realeren und dauernderen Einfluß ersetzt. In Österreich und Ungarn hat die Arbeiterklasse mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen. Hier steht die politische Freiheit, soweit sie Presse, Versammlungen und Vereine betrifft, auf der niedrigsten Stufe, die mit einer scheinkonstitutionellen Monarchie überhaupt vereinbar ist. Eine Gesetzgebung von unerhörter Dehnbarkeit setzt die Regierung in die Lage, selbst gegen die zahmste Äußerung von Forderungen und Interessen der Arbeiterklasse Verurteilungen zu erzielen. Und dennoch geht die Bewegung hier ebenso wie anderswo unaufhaltsam vorwärts. Die Hauptzentren sind die Fabrikdistrikte von Böhmen, Wien und Pest. Arbeiterzeitungen werden in deutscher, tschechischer und ungarischer Sprache veröffentlicht. Von Unearn hat die Bewesrune sich nach Serbien ausgedehnt. wo vor dem Kriese eine Wochenschrift in serbischer Sprache erschien, die aber bei Kriegsausbruch einfach unterdrückt wurde[81]. So ist überall, wohin wir in Europa blicken, nicht nur ein günstiges, sondern sogar ein schnelles Vorwärtsschreiten der Arbeiterbewegung zu bemerken und, was mehr bedeutet, überall in demselben Geist. Eine vollständige Übereinstimmung ist wiederhergestellt und dadurch auf die eine oder andere Weise eine ständige und regelmäßige Verbindung zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder. Die Männer, die 1864 die Internationale Arbeiterassoziation gründeten, die ihr Banner hoch hielten während der Jahre des Kampfes, zuerst gegen äußere, dann gegen innere Feinde, bis politische Notwendigkeiten mehr noch als innere Streitigkeiten zum Bruch und zum scheinbaren Rückzug führten - diese Männer können jetzt stolz ausrufen: „Die Internationale hat ihr Werk vollbracht, sie hat ihr großes Ziel völlig erreicht - den Zusammenschluß des Proletariats der ganzen Welt zum Kampf gegen seine Unterdrücker."
IV Unsere Leser werden bemerkt haben, daß in den drei vorangegangenen Artikeln eines der wichtigsten Länder Europas kaum erwähnt wurde, nämlich Frankreich, und zwar aus folgendem Grunde: In den Ländern, mit denen wir uns bisher beschäftigten, ist die Aktion der Arbeiterklasse, obgleich sie ihrem Wesen nach eine politische ist, nicht eng verflochten mit der allgemeinen oder sozusagen offiziellen Politik. Die Arbeiterklasse Deutschlands, Italiens, Belgiens etc. ist noch keine politische Mächt im Staate; sie ist eine politische Macht nur im Hinblick"auf die Zukunft, und wenn die offiziellen Parteien in einigen dieser Länder, Konservative, Liberale oder Radikale, mit ihr zu rechnen haben, so bloß darum, weil ihr schneller Aufstieg es offensichtlich macht, daß in sehr kurzer Zeit die proletarische Partei stark genug sein wird, um ihren Einfluß fühlbar zu machen. Aber in Frankreich liegt es anders. Die Arbeiter von Paris, unterstützt von denen der großen Provinzialstädte, sind immer seit der großen Revolution eine Macht im Staate gewesen. Sie haben seit beinahe neunzig Jahren das kämpfende Heer des Fortschritts gebildet; bei jeder großen Krisis der französischen Geschichte gingen sie auf die Straßen, bewaffneten sich so gut sie konnten, errichteten Barrikaden und forderten zum Kampf heraus, und ihr Sieg oder ihre Niederlage entschied über Frankreichs Zukunft auf Jahre hinaus. Von 1789 bis 1830 wurden die Revolutionen der Bourgeoisie von den Pariser Arbeitern ausgefochten; sie waren es, die 1848 die Republik erkämpften. Nachdem sie irrtümlich geglaubt hatten, daß diese Republik Befreiung der Arbeit bedeute, wurden sie grausam enttäuscht durch die Niederlage, die ihnen im Juni desselben Jahres beigebracht wurde; sie leisteten auf den Barrikaden dem Staatsstreich Louis-Napoleons 1851 Widerstand und wurden wiederum besiegt; sie fegten im September 1870 das überlebte Kaiserreich hinweg, das die bürgerlichen Radikalen anzurühren zu feige waren. Thiers' Versuch im März 1871, ihnen die Waffen wegzunehmen, mit denen sie Paris gegen die feindliche Invasion verteidigt hatten, zwang sie in die Revolution der Kommune und den langen Kampf hinein, der mit ihrer blutigen Ausrottung endete. Eine nationale Arbeiterklasse, die so seit fast einem Jahrhundert nicht nur bei jeder Krisis in der Geschichte des eigenen Landes eine entscheidende Rolle gespielt, sondern gleichzeitig immer die Vorhut der europäischen Revolution gebildet hat, solch eine Arbeiterklasse kann nicht das verhältnismäßig abgeschiedene Leben führen, das noch das eigentliche Aktionsgebiet der übrigen Arbeiter auf dem Kontinent ausmacht. Eine
Arbeiterklasse wie die französische, ist an und durch ihre Geschichte gebunden. Ihre Geschichte, nicht weniger als ihre bewährte entscheidende Kampfkraft hat sie in unlöslicher Weise mit der allgemeinen politischen Entwicklung des Landes verknüpft. Und so können wir keinen Rückblick auf die Akt mn rjgf ffÜHZÖSIScllSn eiterklasse oreben ohne auf die französische Politik im allgemeinen einzugehen. Ob die französische Arbeiterklasse ihren eigenen Kampf oder den der liberalen, radikalen oder republikanischen Bourgeoisie ausfocht, auf jede Niederlage, die sie erlitt, folgte bisher eine drückende politische Reaktion, die ebenso gewaltsam war wie sie lange andauerte. So schlössen sich an die Niederlagen des Juni 1848 und Dezember 1851 die achtzehn Jahre des bonapartistischen Kaiserreichs; in dieser Zeit war die Presse geknebelt, das Vereins- und Versammlungsrecht unterdrückt und folglich die Arbeiterklasse aller Mittel beraubt, um miteinander Verbindung aufrechtzuhalten und sich zu organisieren. Das unvermeidliche Ergebnis war, daß, als die Revolution im September 1870 ausbrach, die Arbeiter keine anderen Männer in die Ämter einsetzen konnten als jene bürgerlichen Radikalen, die unter dem Kaiserreich die offizielle parlamentarische Opposition gebildet hatten, und die selbstverständlicherweise die Arbeiter und ihr Land verrieten. Nach der Zerschlagung der Kommune hatte die Arbeiterklasse - in ihrer Kampfkraft auf Jahre hinaus geschwächt - nur das eine unmittelbare Interesse: Die Wiederkehr solch einer erneuten Unterdrückungsperiode zu verhindern, damit sie nicht wieder gezwungen ist, anstatt für ihre eigene unmittelbare Befreiung, erst für eine Ordnung zu kämpfen, die ihr ermöglicht, sich für den endgültigen Befreiungskampf zu rüsten. Jetzt gibt es in Frankreich vier große Parteien: drei monarchistische, die Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten, jede mit ihrem eigenen Kronprätendenten, und die republikanische Partei. Wer von den drei Prätendenten auch auf den Thron steigen würde, er würde in jedem Fall nur die Unterstützung einer kleinen Minderheit des Volkes finden, er würde infolgedessen sich nur auf die Gewalt verlassen können. Daher wäre die Herrschaft der Gewalt, die Unterdrückung aller öffentlichen Freiheiten und persönlichen Rechte, die die Arbeiterklasse zu vermeiden suchen muß, die notwendige Begleiterscheinung jeder monarchistischen Restauration. Auf der anderen Seite ließe die Aufrechterhaltung der bestehenden republikanischen Regierung ihr wenigstens die Aussicht, einen solchen Grad persönlicher und öffentlicher Freiheit zu erlangen, der ihr erlauben würde, eine Arbeiterpresse, eine Agitation durch Versammlungen und eine Organisation als unabhängige politische Partei zu begründen; darüber hinaus würde der
Arbeiterklasse die Erhaltung der Republik die Notwendigkeit ersparen, eine besondere Schlacht für ihre künftige Wiedereroberung schlagen zu müssen. Es war also ein neuer Beweis der hohen instinktiven politischen Intelligenz der französischen Arbeiterklasse, daß, sobald am letzten 16. Mai die große Verschwörung der drei monarchistischen Fraktionen der Republik den Krieg erklärte, die Arbeiter wie ein Mann die Aufrechterhaltung der Republik zu ihrer wichtigsten unmittelbaren Aufgabe machten. Zweifellos handelten sie dabei als der Schwanz der bürgerlichen4 Republikaner und Radikalen, aber eine Arbeiterklasse, die weder über eine Presse noch über Versammlungsmöglichkeiten, noch über Klubs oder politische Verbände verfügt, was kann sie anderes sein als der Schwanz der bürgerlich-radikalen Partei? Was kann sie anderes tun, um ihre politische Unabhängigkeit zu erlangen, als die einzige Partei zu unterstützen, die verpflichtet ist, dem Volk im allgemeinen und damit auch den Arbeitern solche Freiheiten zu sichern; die ihnen eine unabhängige Organisation gestatten? Manche behaupten, die Arbeiter hätten bei den letzten Wahlen ihre eigenen Kandidaten aufstellen sollen. Aber selbst an solchen Orten, wo sie das mit Erfolg hätten tun können, wo gab es Arbeiterkandidaten, die in ihrer eigenen Klasse bekannt genug waren, um die notwendige Unterstützung zu finden? Nicht umsonst hat die Regierung seit der Kommune so gut Sorge dafür getragen, jeden Arbeiter, der sich auch nur durch private Agitation in seinem eigenen Pariser Bezirk bekannt machte, als Teilnehmer an jenem Aufstand zu verhaften. Der Sieg der Republikaner bei den Wahlen im letzten November war bezeichnend. Auf ihn folgten noch bezeichnendere Siege bei den nachfolgenden Departements-, Munizipal- und Ergänzungswahlen. Die monarchistische Verschwörung hätte das alles vielleicht nicht durchgehen lassen, aber ihre Hand war gelähmt durch die nicht mißzuverstehende Haltung der Armee. Es gab nicht nur zahlreiche republikanische Offiziere, besonders unter den Subalternoffizieren, sondern, was entscheidender war, die Masse der Soldaten weigerte sich, gegen die Republik zu marschieren. Das war das erste Ergebnis der Heeresreorganisation, durch die die bezahlten Ersatzleute abgeschafft und das Heer in eine wahre Vertretung der jungen Männer aus allen Klassen verwandelt wurde. So brach die Verschwörung in sich zusammen, ohne daß man Gewalt gegen sie hätte anwenden müssen. Und auch das lag sehr im Interesse der Arbeiterklasse, die, noch zu schwach nach dem Aderlaß von 1871, nicht den Wunsch hegen kann, aufs neue ihr Größtes, ihre Kampfkraft zu verschwenden in Kämpfen zugunsten anderer
oder verwickelt zu werden in eine Reihe gewaltsamer Zusammenstöße, bevor sie ihre volle Stärke wiedererlangt hat. Aber dieser republikanische Sieg hat noch eine andere Bedeutung. Er beweist, daß seit 1870 die ländliche Bevölkerung einen großen Schritt vorwärts getan hat. Bisher wurde jeder Sieg, den die Arbeiterklasse in Paris erzielte, kurze Zeit danach zunichte gemacht durch den reaktionären Geist des Kleinbauerntums, das die große Masse der französischen Bevölkerung bildet. Seit dem Anfang dieses Jahrhunderts war das französische Bauerntum bonapartistisch gewesen. Die Zweite Republik, von den Pariser Arbeitern im Febiuar 1848 eingesetzt, war kassiert worden durch die sechs Millionen bäuerlicher Stimmen, die Louis-Napoleon im folgenden Dezember erhielt. Aber die preußische Invasion von 1870 hat den Glauben an das Kaisertum bei der Bauernschaft erschüttert, und die Wahlen im Vergangenen November beweisen, daß die Masse der Landbevölkerung republikanisch geworden ist. Das aber ist eine Veränderung von höchster Wichtigkeit. Es bedeutet nicht nur, daß von nun an jede monarchistische Restauration in Frankreich aussichtslos geworden ist. Es bedeutet auch das Herannahen des Bündnisses zwischen den Arbeitern in den Städten und den Bauern auf dem Lande. Die Kleinbauern, die die große Revolution hervorbrachte, sind nur dem Namen nach Eigentümer des Bodens. Ihre Höfe sind Wucherern verpfändet, ihre Ernte geht hin für die Bezahlung von Zinsen und Rechtsgebühren; der Notar, der Anwalt, der Gerichtsvollzieher, der Auktionator stehen dauernd drohend vor ihren Türen. Ihre Lage ist genauso schlecht wie die der Arbeiter und fast ebenso unsicher. Und wenn diese Bauern sich jetzt vom Bonapartismus der Republik zuwenden, so zeigen sie damit, daß sie eine Besserung ihrer Lage nicht länger von jenen kaiserlichen Wundern erhoffen, wie sie Louis-Napoleon immer versprach und niemals vollbrachte. Thiers' Glaube an die mystischen Heilsmächte, über die ein „Bauernkaiser " verfügte, ist vom Zweiten Kaiserreich grausam zerstört worden, Der Zauber ist gebrochen. Die französische Bauernschaft ist schließlich vernünftig genug gesonnen, um sich nach den wirklichen Gründen der chronischen Not und nach den praktischen Mitteln, sie zu beseitigen, umzuschauen, und wenn sie einmal zu denken anfängt, muß sie bald herausfinden, daß das einzige Heilmittel für sie in einem Bündnis mit der einzigen Klasse liegt, die aus ihrer gegenwärtigen erbärmlichen Lage keinen Nutzen zieht; das ist die Arbeiterklasse in den Städten. So verächtlich demnach die gegenwärtige republikanische Regierung Frankreichs sein mag, die endgültige Festigung der Republik hat den französischen Arbeitern wenigstens den Boden geschaffen, auf dem sie' sich als
unabhängige polirische Partei organisieren und ihre künftigen Schlachten, nicht zum Vorteil anderer, sondern zu ihrem eigenen, ausfechten können; zugleich den Boden, auf dem sie sich mit der ihnen bisher feindlichen Masse der Bauern verbünden und so künftige Siege nicht bloß wie bisher zu kurzfristigen Triumphen von Paris über Frankreich machen, sondern zu endgültigen Triumphen aller unterdrückten Klassen Frankreichs unter Führung der Arbeiter von Paris und der großen Provinzstädte.
V
Es ist noch ein anderes wichtiges europäisches Land zu betrachten Rußland. Nicht, daß es in Rußland eine erwähnenswerte Arbeiterbewegung gibt. Aber die inneren und äußeren Umstände, in denen Rußland sich befindet, sind von ganz besonderer Art und tragen in ihrem Schoß Ereignisse von höchster Bedeutung hinsichtlich der Zukunft nicht nur'der Arbeiter Rußlands, sondern der Arbeiter ganz Europas. Im Jahre 1861 führte die Regierung Alexanders II. die Befreiung der Leibeigenen durch, die.Verwandlung der ungeheuren Mehrheit des russischen Volkes aus Leibeigenen, die an die Scholle gebunden und der Zwangsarbeit für den Gutsbesitzer unterworfen waren, in freie Bauern. Diese Veränderung, deren Notwendigkeit seit langem klar War, wurde auf solche Weise durchgeführt, daß weder die früheren Gutsbesitzer Hoch die früheren Leibeigenen Nutzen daraus zogen. Die Bauerndörfer empfingen Bodenanteile, die künftig ihr Eigentum sein sollten, während die Gutsbesitzer entschädigt werden sollten für den Wert des Landes, das sie so an die Dörfer abtraten, und in einem gewissen Ausmaß auch für den Anspruch, den sie bis dahin auf die Arbeitskraft des Bauern besessen hatten. Da die Bauern offensichtlich nicht das Geld besaßen, die Gutsbesitzer zu bezahlen, schaltete sich, der Staat ein. Ein Teil dieser Bezahlung erfolgte dadurch, daß den Gutsbesitzern ein Teil des Landes übertragen wurde, das die Bauern bis dahin auf eigene Rechnung bestellt hatten; der Rest wurde in Gestalt von öffentlichen Schuldverschreibungen bezahlt» die der Staat vorschoß und die ihm von den Bauern mit Zinsen in jährlichen Raten zurückgezahlt werden sollten. Die Mehrheit der Gutsbesitzer verkaufte diese Schuldscheine und verausgabte das Geld; sie sind so nicht bloß ärmer als früher, sondern sie können auch keine Landarbeiter finden, umihre Grundstücke zu bestellen, da die Bauern es jetzt ablehnen, dort zu arbeiten und ihre eigenen Felder unbebaut zu lassen. Was die Bauern betrifft, so waren
ihre Landanteile nicht nur im Verhältnis zu ihrem früheren Ausmaß verkleinert worden, und sehr oft so weitgehend, daß sie unter russischen Verhältnissen nicht mehr ausreichten, eine Familie zu unterhalten; diese Anteile bestanden in den meisten Fällen aus den allerschlechtesten Teilen der Gutsländereien, aus Sümpfen oder anderem unfruchtbaren Boden, während das gute Land, das bis dahin den Bauern gehört hatte und durch ihre Arbeit verbessert worden war, auf die Gutsbesitzer übertragen worden war. Unter diesen Umständen waren auch die Bauern beträchtlich schlechter dran als zuvor; aber außerdem erwartete man von ihnen, daß sie der Regierung jedes Jahr die Zinsen und einen Teil des Kapitals zurückzahlten, das der Staat ihnen vorgestreckt hatte, um sie loszukaufen, und darüber hinaus wuchsen die ihnen auferlegten Steuern von Jahr zu Jahr. Sodann hatten die Bauern vor der Befreiung gewisse gemeine Rechte an dem Gutsland gehabt, Weiderechte für ihr Vieh, Recht zum Hauen von Holz für Bauten und andere Zwecke etc. Diese Rechte wurden ihnen ausdrücklich durch die Neuordnung genommen; wenn sie sie wieder ausüben wollten, so mußten sie mit ihrem früheren Gutsherrn darüber verhandeln. Während so die Mehrheit der Gutsbesitzer infolge der Veränderung noch mehr verschuldete als es vorher der Fall gewesen war, so wurde die Bauernschaft in eine Lage heruntergedrückt, in der sie weder leben noch sterben konnte. Die große Tat der Emanzipation, die von der liberalen Presse Europas so allgemein gerühmt und gepriesen wurde, hatte nichts geschaffen als die Grundlage und die absolute Notwendigkeit einer künftigen Revolution. Die Regierung tat alles, was in ihrer Macht lag, um diese Revolution zu beschleunigen: Die Bestechlichkeit, die alle offiziellen Kreise durchdringt und alle guten Vorsätze, die sie noch haben könnten, lähmt - diese traditionelle Bestechlichkeit blieb so schlimm wie nur je und trat grell in jedem öffentlichen Bereich ans Licht beim Ausbruch des türkischen Krieges. Man ließ die Finanzen des Reiches, die beim Ende des Krimkrieges völlig in Unordnung waren, sich immer mehr verschlechtern. Eine Anleihe nach der anderen wurde aufgenommen, bis es keine anderen Mittel mehr gab, die Zinsen der alten Schulden zu bezahlen, als neue Schulden auf sich zu laden. Während der ersten Jahre von Alexanders Herrschaft hatte der alte kaiserliche Despotismus sich ein wenig gelockert; man hatte der Presse mehr Freiheit gelassen, Geschworenengerichte eingeführt und Vertretungskörperschaften, die vom Adel, von den Bürgern der Städte und von den Bauern gewählt wurden, die Erlaubnis gegeben, an der örtlichen und provinziellen Verwaltung einigen Anteil zu nehmen. Sogar mit den
Polen hatte ein gewisses Kokettieren stattgefunden. Aber die Öffentlichkeit hatte die wohlwollenden Absichten der Regierung mißverstanden. Die Presse wurde zu deutlich. Die Geschworenen sprachen politische Gefangene tatsächlich frei, während die Regierung erwartet hatte, daß sie sie ohne Beweise verurteilen würden. Die lokalen und provinziellen Körperschaften erklärten insgesamt, daß die Regierung durch ihr Emanzipationsgesetz das Land ruiniert hätte und daß die Dinge auf diesem Wege nicht länger fortgehen könnten. Es wurde sogar auf eine Nationalversammlung als auf das einzige Mittel angespielt, um aus den Schwierigkeiten herauszukommen, die fast unerträglich geworden waren. Und schließlich weigerten sich die Polen, sich mit schönen Worten abspeisen zu lassen und erhoben sich zu einem Aufstand, der alle Kräfte des Reiches und alle Brutalität der russischen Generale erforderte, um ihn in Strömen von Blut zu ersticken. Darauf machte die Regierung kehrt. Wiederum stand die strenge Unterdrückung auf der Tagesordnung. Die Presse wurde geknebelt, die politischen Gefangenen wurden Sondergerichten überantwortet, die sich aus Richtern zusammensetzten, die man für diesen Zweck parteiisch ausgewählt hatte, die lokalen und provinziellen Körperschaften wurden ignoriert. Aber es war zu spät. Nachdem die Regierung einmal Furcht gezeigt hatte, hatte sie ihr Prestige verloren. Mit dem Glauben an ihre Beständigkeit und an ihre Macht, jeden inneren Widerstand gänzlich niederzuschlagen, war es vorbei. Die Keime einer künftigen öffentlichen Meinung waren aufgegangen. Die Kräfte der Gesellschaft konnten nicht zu der früheren gänzlichen Unterwürfigkeit gegenüber dem Diktat der Regierung zurückgeführt werden. Das Diskutieren über öffentliche Angelegenheiten, wenn auch nur in privaten Kreisen, war unter den gebildeten Klassen zur Gewohnheit geworden. Und schließlich wollte die Regierung bei all ihrem Verlangen, zu dem ungezügelten Despotismus der Regierung Nikolaus* zurückzukehren, vor den Augen Europas noch weiter den Schein des Liberalismus aufrechterhalten, den Alexander eingeführt hatte. Die Folge war ein System des Schwankens und Zögerns, von Zugeständnissen, die heute gemacht und morgen zurückgezogen, dann abwechselnd wieder halb gemacht und halb zurückgezogen wurden, eine Politik, die von Stunde zu Stunde wechselte, die für jedermann die innere Schwäche, den Mangel an Einsicht und Willen offenbar werden ließ bei einer Regierung, die nichts war, wenn sie nicht einen Willen hatte und die Mittel, ihn durchzusetzen. Was war natürlicher, als daß mit jedem Tage die Verachtung wachsen mußte, die man für eine Regierung empfand, von der man seit langem wußte, daß sie zum Guten machtlos war und der man nur aus Furcht gehorchte, und die nun bewies,
daß sie an ihrer Macht, die eigene Existenz aufrechtzuerhalten, zweifelte, und daß sie zum mindesten ebensoviel Furcht vor dem Volke hatte wie das Volk vor ihr? Es gab für die russische Regierung nur einen Weg der Rettung, den Weg, der sich allen Regierungen anbietet, die sich einem überwältigenden Widerstand des Volkes gegenüber befinden - den Krieg nach außen. Und man entschloß sich zu einem auswärtigen Krieg, zu einem Krieg, von dem man Europa erklärte, daß man ihn unternehme, um die Christen von der langen türkischen Mißherrschaft zu befreien, dem russischen Volk aber sagte man, er würde geführt, um die stammverwandten slawischen Brüder aus der türkischen Knechtschaft in die Gemeinschaft des heiligen russischen Reiches zu bringen. Nach Monaten ruhmloser Niederlagen ist dieser Krieg jetzt zu einem Abschluß gekommen durch die ebenso ruhmlose Vernichtung des türkischen Widerstandes teils durch Verrat, teils durch ungeheure zahlenmäßige Überlegenheit. Aber die Eroberung des größten Teils der europäischen Türkei durch die Russen ist selbst nur das Vorspiel zu einem allgemeinen europäischen Krieg. Entweder wird Rußland auf der bevorstehenden europäischen Konferenz (wenn diese Konferenz jemals zusammentritt) von seiner jetzt gewonnenen Stellung soweit zurückweichen müssen, daß das Mißverhältnis zwischen den ungeheuren Opfern und den jämmerlichen Ergebnissen die Unzufriedenheit im Volk zum gewaltigen revolutionären Ausbruch bringen muß, oder Rußland wird seine neu eroberte Stellung in einem europäischen Krieg zu behaupten haben. Mehr als zur Hälfte erschöpft, wie das Land jetzt schon ist, kann seine Regierung es ohne bedeutende Zugeständnisse an das Volk nicht durch einen solchen Krieg hindurchbringen - wie immer auch das Endergebnis sein wird. Solche Zugeständnisse angesichts einer Lage wie der hier beschriebenen, das bedeutet den Beginn einer Revolution. Dieser Revolution kann die russische Regierung unmöglich entrinnen, selbst wenn es ihr glücken sollte, ihren Ausbruch ein oder zwei Jahre hinauszuschieben. Aber eine russische Revolution bedeutet mehr als einen bloßen Regierungswechsel in Rußland selbst. Sie bedeutet das Verschwinden einer gewaltigen, aber schwerfälligen Militärmacht, die seit der Französischen Revolution stets das Rückgrat des verbündeten europäischen Despotismus gebildet hat. Sie bedeutet die Befreiung Deutschlands von Preußen, denn Preußen war bisher die Kreatur Rußlands gewesen und hat nur dadurch existiert, daß es sich auf dieses stützte. Sie bedeutet die Befreiung Polens. Sie bedeutet das Erwachen der kleineren slawischen Nationalitäten Osteuropas aus den panslawistischen Träumen, die von der gegenwärtigen russischen Regierung bei ihnen groß
gezogen werden. Und sie bedeutet den Anfang eines aktiven nationalen Lebens innerhalb des russischen Volkes selbst und damit zugleich den Beginn einer wirklichen Arbeiterbewegung in Rußland. Zusammengefaßt bedeutet sie eine solche Veränderung der ganzen Lage Europas, die von den Arbeitern jedes Landes mit Freuden begrüßt werden muß als ein Riesenschritt zu dem gemeinsamen Ziel - der allgemeinen Befreiung der Arbeit.
Karl Marx Herr Bucher1823
I„The Daily News" Nr. 10030 vom 13. Juni 1878]
An den Redakteur der „Daily News"
Sir, einem Telegramm von Reuters Büro zufolge ist „Herr Legationsrat Bucher designiert zum^secretaire archiviste' des Kongresses". Sollte dieser „Herr Bucher" etwa der gleiche Lothar Bucher sein, der während seines langen Londoner Exils als ein begeisterter Parteigänger des verstorbenen Herrn David Urquhart glänzte, dessen antirussische Doktrinen er Woche für Woche in seinen Korrespondenzen an die Berliner „National-Zeitung"[83] zum Ausdruck brachte; derselbe Lothar Bucher, der nach seiner Rückkehr nach Berlin ein so glühender Verehrer Ferdinand Lassalles wurde, daß dieser ihn zu seinem Testamentsvollstrecker ernannte, ihm ein jährliches Einkommen vermachte und ihm das Herausgaberecht seiner Werke übertrug? Bald nach Lassalles Tod trat Lothar Bucher in das preußische Auswärtige Amt, wurde zum „Legationsrat" ernannt, er wurde Bismarcks Vertrauter und rechte Hand. Er hatte die Naivität, an mich einen Brief zu richten, worin er mich einlud, natürlich mit der Billigung seines Chefs, die Finanzartikel für den preußischen amtlichen „Staats-Anzeiger"l84] zu schreiben. Die pekuniären Bedingungen dieser Stellung zu bestimmen, wurde mir überlassen, indem mir ausdrücklich versichert wurde, daß ich volle Freiheit genießen sollte, die vorkommenden finanziellen Operationen und diejenigen, die sie ausführten, von meinem eigenen „wissenschaftlichen" Standpunkt aus zu behandeln. Nach diesem seltsamen Vorkommnis amüsierte es mich nicht wenig, als ich die Beiträge des Herrn Lothar Bucher, Mitglieds der Internationalen Arbeiterassoziation, fortwährend in den Spalten des von
Johann Philipp Becker in Genf herausgegebenen Organs der Internationale, „Der Vorbote"t85], fand. Wenn hier keine Verwechslung der Personen vorliegt, und wenn die Berichte stimmen, daß die russische und die deutsche Regierung dem Kongreß anläßlich der Attentate von Hödel und Nobiling internationale Maßregeln gegen die Ausbreitung des Sozialismus vorlegen wollen, so ist Herr Bucher der rechte Mann, dem Kongreß mit aller Autorität zu sagen, daß die Organisation, die Tätigkeit und die Lehren der deutschen sozialistischen Partei mit diesen Attentaten nicht mehr zu tun haben als mit dem Untergang des „Großen Kurfürsten"1861 oder mit dem Zusammentritt des Kongresses in Berlin; so ist Herr Bucher der rechte Mann, zu sagen, daß die auf Panik abzielenden Verhaftungen in ganz Deutschland und der von den Pressereptili§n aufgewirbelte Staub ausschließlich dem Zweck dienert, Forderungen nach Wahl eines Reichstags auszulösen, der bereit ist, endlich die schon seit langem von Fürst Bismarck ausgearbeitete Lösung des paradoxen Problems zum Gesetz zu erheben, nämlich die deutsche Regierung mit all den finanziellen Mitteln eines modernen Staates auszustatten und dabei zur gleichen Zeit dem deutschen Volk wieder das alte politische Regime aufzuzwingen, das der Orkan von 1848 zerfetzte. Ich verbleibe, Sir, Ihr ergebener Diener Karl Marx
London, 12. Juni [1878]
Aus dem Englischen.
Karl Marx [Erwiderung auf die »Erklärung" Buchers1871]
Herr Lothar Bucher hat eine „Erklärung m der „ Norddeutschen Allgemeinen" vom 21. Juni veröffentlicht, welche zunächst den unangenehmen Umstand konstatiert, daß mein Brief an die „Daily News" von den nationalliberalen und fortschrittlichen Blättern reproduziert worden sei. Herr Bucher erklärt, 3000 Zeilen seien erforderlich, um die von mir zusammengedrängten Schiefheiten gerade zu renken. Dreißig Zeilen sind mehr als genug, um den Wahrheitswert Bucherscher „Berichtigungen" und „Ergänzungen" ein für allemal festzusetzen. Der Brief, worin mich Herr Bucher für den „Staats-Anzeiger" zu kirren suchte, datiert vom S.Oktober 1865, also aus der Periode des Konflikts der preußischen liberalen und fortschrittlichen Bourgeoisie mit Herrn von Bismarck. Es heißt darin u.a.:
„ In betreff des Inhalts versteht es sich von selbst, daß Sie nur Ihrer wissenschaftlichen Überzeugung folgen; jedoch wird die Rücksicht auf den Leserkreis - haute finance -, nicht auf die Redaktion, es ratsam machen, daß Sie den innersten Kern nur eben für die Sachverständigen durchscheinen lassen." Dagegen besagt die „Berichtigung" des Herrn Bucher, daß er bei „Herrn Marx anfrug, ob er die gewünschten Artikel liefern wolle, in denen es auf eine objektive Behandlung ankäme. Von des Herrn Marx .eigenem wissenschaftlichen Standpunkte* steht nichts in meinem Briefe." Ferner heißt's im selbigen Brief: „Der .Staats-Anzeiger' wünscht monatlich einen Bericht über die Bewegungen des Geldmarktes (und natürlich auch des Warenmarktes, soweit beide nicht zu trennen). Ich wurde gefragt, ob ich nicht jemanden empfehlen könnte und erwiderte, niemand würde das besser machen als Sie. Ich bin infolgedessen ersucht worden, mich an Sie zu wenden."
Also eröffnete Herr Bucher, nach seinen eignen unzweideutigen Worten, seine „Korrespondenz" mit mir auf das Gesuch von irgend jemand. Dagegen beteuert seine „Berichtigung": „Niemand, nicht einmal der Redakteur des ,Staats-Anzeigers*, hat von dieser Korrespondenz gewußt oder erfahren." Soviel über Herrn Buchers Berichtigungsmethode. Nun noch ein Muster seiner Ergänzungsmethode! Mein Brief an die „Daily News" spricht nur von der „naiven" Anfrage des Herrn Bucher bei mir, verliert aber kein Wort über meine Antwort an ihn. Er jedoch, im Drang, dem „sonderbaren Vorfall" den Charakter der Trivialität aufzustempeln, muß mich „ergänzen", und dichtet daher: „Herr Marx habe ihm geantwortet, er schreibe nicht für ein reaktionäres Blatt." Wie sollte ich dergleichen Gemeinplatz antworten auf einen Brief, dessen „innerster Kern" nicht „nur eben" durchscheint, sondern augenblendend durchblitzt in folgendem Schlußpassus: „Der Fortschritt" (er meint die liberale oder Fortschrittsbourgeöisie) „wird sich noch oft häuten, ehe er stirbt; wer also während seines Lebens noch innerhalb des Staates wirken will, der muß sich ralliieren tan die Regierung."
Karl Marx
London, 27. Juni [1878]
Nach der Handschrift.
Karl Marx Herrn George Howells Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation1883
[„The Secular Chronicle" Nr. 5 vom 4. August 1878] Ich halte es für angebracht, mit einigen Bemerkungen den neuesten Beitrag zu den massenweisen Fälschungen über die Geschichte der Internationale - siehe das „Nineteenth Century"1893 vom vergangenen Juli - zu illustrieren, denn man mag irrtümlicherweise glauben, ihr jüngster Exponent, Herr George Ho well, Ex-Arbeiter und Ex-Mitglied des Generalrats jener Assoziation, habe seine Weisheit aus Quellen geschöpft, die nicht allgemein zugänglich sind. Herr Howell beginnt seine „Geschichte" mit dem Übergehen der Tatsache, daß ich an der Gründungsversammlung der Internationale am 28. September 1864 teilgenommen habe, dort zum Mitglied des provisorischen Generalrats gewählt wurde und bald danach die Inauguraladresse und die Allgemeinen Statuten der Assoziation entworfen habe, die zuerst 1864 in London veröffentlicht und 1866 auf dem Genfer Kongreß bestätigt wurden. Herr Howell weiß das alles, zieht es aber für seine Zwecke vor, „einen deutschen Doktor namens Karl Marx" zuerst auf dem in London „am 25.September 1865 eröffneten Kongreß"1901 erscheinen zu lassen. Besagter „Doktor" habe dann, behauptet er, bei dieser Gelegenheit „die Saat der Zwietracht und des Verfalls durch das Hineintragen der religiösen Idee gesät". Erstens fand im September 1865 kein „Kongreß" der Internationale statt. Einige wenige Delegierte der hauptsächlichsten europäischen Sektionen der Assoziation kamen zu dem einzigen Zweck nach London, um mit dein Generalrat über das Programm des „Ersten Kongresses" zu beraten, der im September 1866 in Genf stattfinden sollte. Die eigentliche Arbeit der Konferenz fand in geschlossenen Sitzungen statt und nicht auf den allein von dem exakten Historiker Howell erwähnten halböffentlichen Versammlungen in Adelphi Terrace.
Wie die übrigen Vertreter des Generalrats hatte ich bei der Konferenz die Annahme unseres Programms durchzusetzen, das bei seiner Veröffentlichung von dem französischen Historiker Henri Martin in einem Briefe an die Zeitung „Siecle"[91] folgendermaßen charakterisiert wurde:
„Die Großzügigkeit und die hohe moralische, politische und ökonomische Konzeption, die entscheidend war für die Auswahl der Punkte des Programms für den Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation, der nächstes Jahr stattfinden soll, wird alle Freunde des Fortschritts, der Gerechtigkeit und Freiheit in Europa gleichermaßen mit Sympathie erfüllen." Nebenbei lautet ein Abschnitt des Programms, das für den Generalrat zu entwerfen ich die Ehre hatte: „Die Notwendigkeit der Beseitigung des moskowitischen Einflusses in Europa durch Verwirklichung des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung und die Wiederherstellung Pölens auf demokratischer und sozialistischer Grundlage1." Hierüber machte Henri Martin die Bemerkung:
„Wir gestatten uns, zu bemerken, daß der Ausdruck .demokratische und sozialistische Grundlage' sehr einfach ist in Hinblick auf Polen, wo die soziale Struktur der Wiederherstellung ebenso bedarf wie die politische, und wo diese Grundlage in den Dekreten der anonymen Regierung von 1863 gegeben und von allen Klassen der Nation akzeptiert worden ist. Dies also ist die Antwort des wirklichen Sozialismus, des sozialen Fortschritts in Harmonie mit Gerechtigkeit und Freiheit, auf das Vorrücken des auf der Dorfgemeinschaft beruhenden Despotismus Moskowiens. Dies Geheimnis des Volkes von Paris wird nunmehr das gemeinsame Geheimnis der Völker Europas." Unglücklicherweise hatte „das Volk von Paris" sein „Geheimnis" so gründlich gewahrt, daß zwei der Pariser Delegierten zur Konferenz ,Tolain, nunmehr ein Senator der französischen Republik, und Fribourg, nun ein einfacher Renegat, davon gar nichts wußten und gerade über den Progammpunkt herzogen, der die begeisterte Bemerkung des französischen Historikers hervorrief. Das Programm des Generalrats enthielt nicht eine Silbe über „Religion", aber auf das Drängen der Pariser Delegierten gelangte die verbotene Speise in folgender Garnierung in das Menü für den kommenden Kongreß:
„Religiöse Ideen" (und nicht „die religiöse Idee", wie Howells falsche Darstellung sagt) „und ihr Einfluß auf die soziale, politische und geistige Bewegung."
1 Im französischen Text des Protokolls und in Henri Martins Artikel heißt es: auf demokratischer und sozialer Grundlage
Dieses Diskussionsthema, von den französischen Delegierten eingebracht, wurde ihrer Obhut überlassen. Tatsächlich ließen sie es auf dem Genfer Kongreß fallen und niemand griff es wieder auf. Der Londoner „Kongreß" von 1865, das „Hineintragen" der „religiösen Idee" von einem „deutschen Doktor namens Karl Marx" und der erbitterte Kampf, der daraus innerhalb der Internationale erwuchs - diesen dreifachen Mythus krönt Herr George Howell mit einer Legende. Er sagt: „Im Entwurf der Adresse an das amerikanische Volk mit Bezug auf die Abschaffung der Sklaverei wurde der Satz ,Gott hat gemacht von einem Blut aller Menschen Geschlechter' £821 gestrichen etc." Nun richtete der Generalrat seine Adresse nicht an das amerikanische Volk, sondern an dessen Präsidenten, Abraham Lincoln, der sie auch gebührend bestätigte*931. Die Adresse, von mir verfaßt, erlitt keinerlei Veränderung. Da die Worte „Gott hat gemacht von einem Blut aller Menschen Geschlechter" niemals darin gestanden hatten, konnten sie auch nicht „gestrichen" werden. Die Stellung des Generalrats zu der „religiösen Idee" zeigt am besten folgender Fall: Eine der Schweizer Sektionen der von Michail Bakunin begründeten Allianz[251, die sich als Seciion des athees socialisies bezeichnete, verlangte vom Generalrat die Aufnahme in die Internationale, erhielt aber den Bescheid: „Der Generalrat hat bereits im Falle der Young Men's Christian Association erklärt, daß er theologische Sektionen nicht anerkenne" (vgl. S. 13 der „Les pretenda.es scissions dans Vinternationale. Circulaire du conseil genital. Geneve*).1 Selbst Herr George Howell, damals noch nicht durch eingehendes Studium des „Christian Reader" bekehrt, vollzog seine Scheidung von der Internationale, nicht auf das Gebot der „religiösen Idee" hin, sondern aus Gründen höchst weltlicher Natur. Als das „Commonwealth"[94] als „spezielles Organ" des Generalrats gegründet wurde, bewarb er sich eifrig um die „stolze Stellung" des Redakteurs. Nachdem dieser „ehrgeizige" Versuch mißlungen war, begann er zu schmollen, sein Eifer ließ immer mehr nach und bald darauf ließ er nichts mehr von sich hören. Während der ereignisreichsten Zeit der Internationale stand er ihr daher fern. Seiner vollständigen Unfähigkeit bewußt, die Geschichte der Assoziation zu skizzieren, gleichzeitig aber eifrig auf der Suche nach geheimnisvollen Enthüllungen, um seinen Artikel zu würzen, greift er das Erscheinen
1 Siehe Band 18 unserer Ausgabe, S. 19
von General Cluseret in London während der Fenier-Unruhen[961 auf, und wie man uns erzählt, kam im Black Horse, Rathbone Place, Oxford Street, der General mit „einigen wenigen Leuten - glücklicherweise Engländern" zusammen, um sie in seinen „Plan" einer „allgemeinen Insurrektion" einzuweihen. Ich habe Gründe, die Wahrheit der Anekdote anzuzweifeln; aber angenommen, sie stimmt, was anderes beweist sie, als daß Cluseret nicht so beschränkt war, seine Person oder seinen „Plan" dem Generalrat aufzudrängen, sondern beides klüglich für „einige wenige Engländer" aus Howells Bekanntschaft aufhob. Oder war Howell selbst einer von den vierschrötigen Blusenmännern, die es durch ihr „glückliches" Dazwischentreten verstanden, das Britische Reich und Europa von allgemeiner Erschütterung zu retten? Herr GeorgeHowell hat noch ein anderes düsteres Geheimnis zu enthüllen. Anfang Juni 1871 erließ der Generalrat eine „Adresse über den Bürgerkrieg in Frankreich"1, die seitens der Londoner Presse mit einem Schrei der Verwünschung begrüßt wurde. Ein Wochenblatt beschimpfte den „infamen Verfasser", der sich feige hinter dem Generalrat verstecke. Daraufhin bekannte ich mich in der „Daily News" als Verfasser2. Dieses altbackene Geheimnis enthüllt Herr George Howell im Juli 1878 mit all der Gewichtigkeit des Mannes hinter den Kulissen. „Der Verfasser dieser Adresse war Dr. Karl Marx... Herr George Odger und Herr Lucraft, beide Mitglieder des Generalrats, als sie (sie!) angenommen wurde, wiesen sie zurück, als sie veröffentlicht wurde." Nur vergißt er hinzuzufügen, daß die anderen neunzehn anwesenden britischen Mitglieder der „Adresse" zustimmten. Seit dieser Zeit haben die Feststellungen dieser Adresse ihre volle Bestätigung erhalten durch die Enqueten der französischen Krautjunkerversammlung1961, durch die Beweisaufnahme vor dem Kriegsgericht in Versailles, durch den Prozeß Jules Favre und durch die Memoiren von Leuten, die den Siegern keineswegs feindlich gesinnt waren. Es ist ganz natürlich, wenn ein englischer Historiker mit der gründlichen Gelehrsamkeit des Herrn George Howell französische Schriften, offizielle und nicht offizielle, hochmütig ignoriert. Aber ich gestehe, der Abscheu erfaßt mich bei solchen Anlässen, wie zum Beispiel den Attentaten von Hödel und Nobiling, wenn ich sehe, wie die grüßen Londoner Blätter dieselben schmutzigen Verleumdungen wiederkäuen, die ihre eigenen Korrespondenten, die selbst Augenzeugen waren, als erste zurückgewiesen hatten.
1 Siehe Band 17 unserer Ausgabe, S.3I9-362 - 2 ebenda, S.375/376
Herr Howell erreicht den Gipfel des Snobismus bei seiner Darstellung der Finanzen des Generalrats. Der Generalrat macht sich in seinem veröffentlichten Bericht an den Kongreß von Basel (1869)1 über den gewaltigen Schatz lustig, den die geschäftige Zunge der europäischen Polizei und die wilde Phantasie der Kapitalisten ihm angedichtet hatte. Es heißt darin: „Obwohl diese Leute gute Christen sind, wären sie, wenn sie in der ersten Zeit des Christentums gelebt hätten, nach einer römischen Bank geeilt, um da des Apostels Paulus Bankkredit nachzuspähen." Herr Ernest Renan, der zwar nicht an Herrn George Howells orthodoxe Maßstäbe heranreicht, meint sogar, an Hand der Sektionen der Internationale könne am besten illustriert werden, wie die christlichen Urgemöinden das Römische Reich untergruben. Herr George Howell ist auf seine Art als Schriftsteller das, was man in der Kristallographie „pseudomorph" nennt. Die äußere Form seines Stils ist bloß eine Nachahmung der Art des Denkens und des Stils, die dem wohlhabenden Engländer von satter Tugend und zahlungsfähiger Moral „eigen" ist. Obwohl er seine „Ziffern" über die Einnahmen des Generalrats den Kassenberichten eben desselben Generalrats entnimmt, die dieser jährlich einem öffentlichen „Internationalen Kongreß" vorlegte, darf Herr George Howell seiner „imitierten" Würde nichts dadurch vergeben, daß er sich herabläßt, die naheliegende Frage zu berühren: Wie kam es, daß anstatt sich mit den mageren Budgets des Generalrats zu beruhigen, alle Regierungen des kontinentalen Europas erschraken vor „der mächtigen und furchtbaren Organisation der Internationalen Arbeiterassoziation und der rapiden Entwicklung, die sie in wenigen Jahren erreicht hatte"? (Siehe Rundschreiben des spanischen Ministers des Auswärtigen an die Repräsentanten Spaniens im Ausland.) Anstatt das rote Gespenst einfach dadurch zu beschwören, indem man ihm die traurigen Budgets des Generalrats vor Augen hielt, warum, so muß der gesunde Menschenverstand fragen, exorzierten der Papst2 und seine Bischöfe die Internationale, stellte die französische Krautjunkerversammlung sie außerhalb des Gesetzes, bedrohte Bismarck sie - bei der Zusammenkunft der Kaiser von Deutschland und Österreich3 in Salzburg - mit einem Kreuzzug der Heiligen Allianz und übergab der weiße Zar4 sie seiner schrecklichen „dritten Abteilung", die damals von dem Gemütsmenschen Schuwalow geleitet wurde?
1 Siehe Band 16 unserer Ausgabe, S.370-382 - 2 Pius IX. - 3 Wilhelm I. und Franz Joseph I. — 4 Alexander II.
Herr George Howell räumt herablassend ein: „Armut ist kein Verbrechen, aber furchtbar lästig." Ich gebe zu, er spricht die Wahrheit. Aber um so stolzer sollte er an seine frühere Verbindung mit der Arbeiterassoziation gedacht haben, die Weltruf und einen Platz in der Geschichte der Menschheit gewann, nicht durch eine wohlgefüllte Kasse, sondern durch ihre geistige Kraft und ihre selbstlose Energie. Von dem erhabenen Standpunkt eines insularen „Philisters" herab enthüllt Herr George Howell dagegen den „gebildeten Lesern" des „Nineteenth Century", daß die Internationale ein „Fehlschlag" war und dahingeschwunden ist. In Wirklichkeit bilden die sozialdemokratischen Arbeiterparteien in Deutschland, der Schweiz, in Dänemark, Portugal, Italien, Belgien, Holland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, mehr oder weniger in nationalem Umfang organisiert, ebenso viele internationale Gruppen; nicht mehr vereinzelte Sektionen, spärlich verstreut über die verschiedenen Länder und von einem vom Zentrum entfernten Generalrat zusammengehalten, vielmehr stehen die Arbeitermassen selbst im stetigen, aktiven, direkten Verkehr, zusammengeschmiedet durch den Austausch von Ideen, gegenseitige Hilfeleistungen und gemeinsame Ziele. Nach dem Fall der Pariser Kommune war natürlich jegliche Organisation der Arbeiterklasse Frankreichs zeitweilig zerbrochen, sie beginnt sich aber jetzt wieder zu entwickeln. Andererseits beteiligen sich gegenwärtig die Slawen, namentlich in Polen, Böhmen und Rußland, trotz aller politischen und sozialen Hindernisse an der internationalen Bewegung in einem Umfang, der 1872 von dem größten Optimisten nicht vorauszusehen war. So ist die Internationale, anstatt abzusterben, bloß aus ihrer ersten Inkubationsperiode in eine höhere Phase getreten, in der bereits ihre ursprünglichen Bestrebungen zum Teil Wirklichkeit geworden sind. Im Laufe dieser fortschreitenden Entwicklung wird sie noch manche Veränderungen durchzumachen haben, bevor das letzte Kapitel ihrer Geschichte geschrieben werden kann.
Geschrieben Anfang Juli 1878. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels [Das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten in Deutschland Die Lage in Rußland]
[„La Plebe" Nr. 12 vom 30. März 1879] London, 2I.März ...Die letzten sozialistischen Wahlsiege in Deutschland beweisen, daß die sozialistische Bewegung nicht abgewürgt werden kann, indem man ihr den Mund knebelt. Vielmehr wird das Sozialistengesetz für uns ein ausgezeichnetes Ergebnis haben. Es wird clie revolutionäre Erziehung der deutschen Arbeiter vollenden... Sie erfreuten sich jenes Grades von Presse-, Assoziations- und Versammlungsfreiheit, den sie mit großen Anstrengungen und mit großen Opfern errungen hatten; es war ein ständiger Kampf, aber schließlich blieb der Sieg immer auf Seiten der Arbeiter. Sie konnten sich organisieren und jedesmal, wenn es allgemeine Wahlen gab, war dies für sie ein neuer Triumph. Diese legale Agitation führte jedoch dazu, daß einige glaubten, mehr brauche man nicht zu tun, um den Endsieg des Proletariats zu erringen. Das konnte in einem Lande, das so arm an revolutionären Traditionen ist wie Deutschland, gefährlich v/erden. Glücklicherweise haben die brutale Aktion Bismarcks und die Feigheit der deutschen Bourgeoisie, die ihn stützt, die Dinge verändert. Die deutschen Arbeiter haben erfahren, was konstitutionelle Freiheiten wert sind, sobald das Proletariat sich erlaubt, sie ernst zu nehmen und davon Gebrauch zu machen, um die kapitalistische Herrschaft zu bekämpfen. Wenn es diesbezüglich noch Illusionen gab, Freund Bismarck hat sie rücksichtslos zerstreut. Ich sage, Freund Bismarck, weil niemand zuvor der sozialistischen Bewegung in Deutschland solche Dienste geleistet hat wie er. Nachdem er die Revolution durch den raffiniertesten und unerträglichsten Militarismus, durch ständig wachsende Steuern, durch das Bündnis des Staates mit dem unverschämtesten Börsenwucher, durch die Rückkehr zu den Traditionen des ärgsten Feudalismus und der Polizei
herrschaft des alten Preußens, durch die ebenso zahlreichen wie kleinlichen Verfolgungen und durch die Herabwürdigung und öffentliche Erniedrigung einer Bourgeoisie, die übrigens keine bessere Behandlung verdiente, nachdem er also dadurch die Revolution vorbereitet hatte, krönte er seinWerk, indem er das deutsche Proletariat zwang, den revolutionären Weg einzuschlagen. Freund Bismarck mag ruhig sein. Die Revolution, die er so gut vorbereitet hat, werden die deutschen Arbeiter schon machen. Wenn das Signal von Rußland gegeben werden wird, werden sie bereit sein. Seit einigen Jahren lenke ich die Aufmerksamkeit der europäischen Sozialisten auf den Zustand Rußlands, wo sich eine entscheidende Bewegung vorbereitet. Der Kampf zwischen der Regierung und den Geheimgesellschaften hat dort einen so gewalttätigen Charakter angenommen, daß er nicht lange andauern kann. Es scheint, daß die Bewegung von einem Tage zum anderen ausbrechen kann. Die Agenten der Regierung begehen dort unglaubliche Grausamkeiten. Gegen solche wilden Bestien muß man sich verteidigen* so gut es geht, mit Pulver und Blei. In Rußland ist der politische Mord das einzige Mittel, das intelligente,anständige und charakterfeste Menschen haben, um sich gegen die Agenten eines unerhörten Despotismus zu verteidigen. Die mächtige Verschwörung im Heer und sogar am kaiserlichen Hofe, das durch die diplomatischen Niederlagen nach dem Kriege gedemütigte nationale Bewußtsein, die leere Staatskasse, der erschütterte Kredit, die Bankiers, die sich weigern, Anleihen zu geben, wenn sie nicht von einer Nationalversammlung garantiert werden, und schließlich das Elend. Das ist die Bilanz Rußlands. F. Engels
Aus dem Italienischen.
Karl Marx/Friedrich Engels [Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a.1971]
Lieber Bebel! Die Beantwortung Ihres Briefes vom 29. August hat sich verzögert, einerseits durch die verlängerte Abwesenheit von Marx, dann durch einige Zwischenfälle: erst die Ankunft des „Richterschen Jahrbuchs"1983, dann die von Hfirsch] selbst. Ich muß schließen, daß Liebkn[echt] Ihnen meinen letzten Brief an ihn nicht vorgelegt hat, obgleich ich ihm dies gradezu auftrug. Andernfalls würden Sie mir sicher nicht dieselben Gründe vorgeführt haben, die Liebknecht geltend gemacht und auf die ich in jenem Brief bereits geantwortet. Gehn wir nun die einzelnen Punkte durchlauf die es hier ankommt.
I. Die Verhandlungen mit KfarlJ Hirsch Liebknecht fragt bei Hirsch an, ob dieser die Redaktion des in Zürich neuzugründenden Parteiorgansf99] übernehmen will. Hirsch wünscht Auskunft über die Fundierung des Blatts: welche Fonds zur Verfügung stehn und wer sie liefert. Ersteres, um zu wissen, ob das Blatt nicht schon nach ein paar Monaten erlöschen muß. Das andre, um sich zu vergewissern, wer den Knopf auf dem Beutel und damit die schließliche Herrschaft über die Haltung des Blatts behält. Liebknechts Antwort an Hirsch: „alles in Ordnung, wirst von Zürich das Weitere erfahren" (Liebknecht an H[irsch], 28. Juli) kommt nicht an. Von Zürich aber kommt ein Brief Bernsteins an Hirsch (24. Juli), worin Bfernstein] mitteilt, daß „man mit der Inszenierung und Beaufsichtigung (des Blattes) uns beauftragt hat". Es habe eine Besprechung „zwischen Vier[eck] und uns" stattgefunden, worin man fand, „daß Ihre Stellung durch die Differenzen, welche Sie als Laternenmannf100^ mit einzelnen Genossen gehabt, etwas erschwert werden würde, doch halte ich dies Bedenken für nicht sehr gewichtig".
Erste Seite des Zirkularbriefe

Über die Fundierung kein Wort. Hirsch antwortet umgehend 26. Juli mit der Frage nach der materiellen Situation des Blatts. Welche Genossen haben sich zur Deckung des Defizits verpflichtet? Bis zu welchem Betrag und für wie lange Zeit? - Die Gehaltsfrage des Redakteurs spielt hierbei absolut keine Rolle, Hirsch will lediglich wissen, ob „die Mittel gesichert sind, das Blatt mindestens ein Jahr lang zu sichern". Bernstein antwortet 31 .Juli: Ein etwaiges Defizit wird durch freiwillige Beiträge gedeckt, deren einige (!) schon gezeichnet sind. Auf Hirschs Bemerkungen über die Haltung, die er dem Blatt zu geben denke, worüber unten, erfolgen mißbilligende Bemerkungen und Vorschriften: „Darauf muß die Aufsichtskommission um so mehr bestehn, als sie selbst wiederum unter Kontrolle steht, d.h. verantwortlich ist. Über diese Punkte müßten Sie sich also mit der Aufsichtskommission verständigen." Umgehende, womöglich telegraphische Antwort erwünscht. Also, statt aller Antwort auf seine berechtigten Fragen, erhält Hirsch die Nachricht, daß er unter einer in Zürich sitzenden i4u/sic/ifckommission redigieren soll, deren Ansichten von den seinigen sehr wesentlich abweichen und deren Mitglieder ihm nicht einmal genannt werden! Hirsch, mit vollem Recht entrüstet über diese Behandlung, zieht es vor, sich mit den Leipzigern zu verständigen. Sein Brief vom 2.August an Liebk[necht] muß Ihnen bekannt sein, da H[irsch] ausdrücklich Mitteilung an Sie und Viereck verlangte. Hirsch will sogar sich einer Züricher Aufsichtskommission insoweit unterwerfen, als diese der Redaktion soll schriftliche Bemerkungen machen und die Entscheidung der Leipziger Kontrollkommission anrufen dürfen. Liebknfecht] inzwischen schreibt 28. Juli an Hirsch: „Natürlich ist das Unternehmen fundiert, da die ganze Partei + (inklusiv) Höchberg dahinter steht. Um die Details kümmere ich mich aber nicht." Auch der nächste Brief L[iebknecht]s enthält über die Fundierung wieder nichts, dagegen die Versicherung, daß die Züricher Kommission keine Redaktionskommission sei, sondern nur mit der Verwaltung und dem Finanziellen betraut. Noch am 14. August schreibt L[iebknecht] dasselbe an mich und verlangt, wir sollen Hfirsch] zureden, daß er annimmt. Sie selbst sind noch am 29. August so wenig vom wahren Sachverhalt in Kenntnis gesetzt, daß Sie mir schreiben: „Er (Höchberg) hat bei der Redaktion des Blattes nicht mehr Stimme als jeder andre bekannte Parteigenosse."
Endlich erhält Hirsch einen Brief von V[iereck], 11 .August, worin zugegeben wird, daß „die 3 in Zürich Domizilierten als Redaktionskommission die Gründung des Blattes in Angriff nehmen und unter Zustimmung der 3 Leipziger einen Redakteur auswählen sollten... soviel mir erinnerlich, war in den mitgeteilten Beschlüssen auch ausgesprochen, daß das zu 2 erwähnte (Züricher) Gründungskomitee sowohl die politische wie die finanzielle Verantwortlichkeit der Partei gegenüber übernehmen sollten ... Aus diesem Sachverhalt scheint sich nun für mich zu ergeben, daß ... ohne Mitwirkung der 3 in Zürich Domizilierten und von der Partei mit der Begründung Beauftragten an eine Übernahme der Redaktion nicht gedacht werden kann". Hier hätte nun Hirsch endlich wenigstens etwas Bestimmtes, wenn auch nur über die Stellung des Redakteurs zu den Zürichern. Sie sind eine Redaktionskommission; sie haben auch die politische Verantwortlichkeit; ohne ihre Mitwirkung kann keine Redaktion übernommen werden. Kurz, Hirsch wird einfach darauf hingewiesen, sich mit den 3 Leuten in Zürich zu verständigen, deren Namen ihm noch immer nicht angegeben sind. Damit aber die Konfusion vollständig werde, schreibt Liebkn[echt] eine Nachschrift unter den Brief Vierecks: „Soeben war S[inger] aus B[erlinl hier und berichtete: Die Aufsichtskommission in Zürich ist nicht, wie V[iereck] meint, eine Redaktionskommission, sondern wesentlich Verwaltungskommission, die der Partei, d.i. uns gegenüber für das Blatt finanziell verantwortlich ist; natürlich haben die Mitglieder auch das Recht und die Pflicht, sich mit Dir über die Redaktion zu besprechen (ein Recht und eine Pflicht, die beiläufig jeder Parteigenosse hat); Dich unter Kuratel zu stellen, sind sie nicht befugt." Die drei Züricher und ein Leipziger Ausschußmitglied - das einzige, das bei den Verhandlungen zugegen gewesen - bestehn darauf, daß H[irsch] unter amtlicher Direktion der Züricher stehn soll, ein zweites Leipziger Mitglied leugnet dies gradezu. Und da soll Hirsch sich entscheiden, ehe die Herren unter sich einig sind? Daß Hirsch berechtigt war, Kenntnis zu nehmen von den gefaßten Beschlüssen, die die Bedingungen enthielten, denen zu unterwerfen ihm zugemutet wurde, daran wurde um so weniger gedacht, als es den Leipzigern nicht einmal einzufallen schien, selbst von jenen Beschlüssen authentische Kenntnis zu nehmen. Wie war sonst obiger Widerspruch möglich? Wenn die Leipziger nicht einig werden können über die den Zürichern übertragenen Befugnisse, so sind die Züricher darüber vollständig im klaren. Schramm an Hirsch, 14. August: „Hätten Sie nun nicht seiner Zeit geschrieben, Sie würden im gleichen Falle" (wie der Kaysersche) „wieder ebenso vorgehn und damit eine gleiche Schreibweise in Aus
sieht gestellt, dann würden wir kein Wort darüber verlieren. So aber müssen wir uns dieser Ihrer Erklärung gegenüber das Recht vorbehalten, über Aufnahme von Artikeln in das neue Blatt ein entscheidendes Votum abzugeben." Der Brief an Bernstein, in dem Hirsch dies gesagt haben soll, ist vom 26. Juli, lange nach der Konferenz in Zürich, auf der die Vollmachten der 3 Züricher festgestellt worden waren. Man schwelgt aber in Zürich schon so sehr im Gefühl seiner bürokratischen Machtvollkommenheit, daß man auf diesen späteren Brief Hirschs bereits die neue Befugnis beansprucht, über die Aufnahme der Artikel zu entscheiden. Die Redaktionskommission ist bereits eine Zensurkommission. Erst als Höchberg nach Paris kam, erfuhr Hirsch von ihm die Namen der Mitglieder der beiden Kommissionen. Wenn also die Unterhandlungen mit Hirsch sich zerschlugen, woran lag es? 1. an der hartnäckigen Weigerung sowohl der Leipziger wie der Züricher, ihm irgend etwas Tatsächliches mitzuteilen über die finanziellen Grundlagen und damit über die Möglichkeit, das Blatt am Leben zu erhalten, wenn auch nur für ein Jahr. Die gezeichnete Summe hat er erst von mir hier (nach Ihrer Mitteilung an mich) erfahren. Es war also kaum möglich, aus den früher gemachten Mitteilungen (die Partei + Hföchberg]) einen andern Schluß zu ziehn als den, daß das Blatt entweder schon jetzt vorwiegend von Höchberg fundiert sei oder doch bald ganz von seinen Zuschüssen abhängen werde. Und difese letztere Möglichkeit ist auch jetzt lange nicht ausgeschlossen. Die Summe von - wenn ich recht lese - 800 Mark ist genau dieselbe (40 Pfd. St.), die der hiesige Verein der „Freiheit"11013 im ersten Halbjahr hat zusetzen müssen. 2. die wiederholte, seitdem als total unrichtig erwiesene Versicherung Liebkn[echt]s, die Züricher hätten die Redaktion gar nicht amtlich zu kontrollieren und die daraus erwachsene Komödie der Irrungen; 3. die endlich erlangte Gewißheit, daß die Züricher die Redaktion nicht nur zu kontrollieren, sondern selbst zu zensieren hätten, und daß ihm (Hirsch) dabei nur die Rolle des Strohmanns zufalle. Daß er daraufhin ablehnte, darin können wir ihm nur recht geben. Die Leipziger Kommission, wie wir hören von H[öch] blerjg1, ist noch durch 2 nicht am Ort wohnende Mitglieder verstärkt worden, kann also nur dann rasch einschreiten, wenn die 3 Leipziger einig sind. Dadurch wird der wirkliche Schwerpunkt vollends nach Zürich verlegt, und mit den dortigen würde
1 „von Hbg." mit Bleistift zugefügt
Hirsch ebensowenig wie irgendein andrer wirklich revolutionär und proletarisch gesinnter Redakteur auf die Dauer haben arbeiten können. Darüber später. II. Die beabsichtigte Haltung des Blattes Gleich am 24. Juli benachrichtigt Bernstein den Hirsch, die Differenzen, die er als Laternenmann mit einzelnen Genossen gehabt, würden seine Stellung erschweren. Hirsch antwortet, die Haltung des Blattes werde seines Erachtens im allgemeinen dieselbe sein müssen wie die der „Laterne", d.h. eine solche, die in der Schweiz Prozesse vermeidet und in Deutschland nicht unnötig erschreckt. Er fragt, wer jene Genossen seien und fährt fort: „Ich kenne nur einen und ich verspreche Ihnen, daß ich diesen, im gleichen Fall disziplinwidrigen Benehmens, genau wieder so behandeln werde." Darauf antwortet Bernstein im Gefühl seiner neuen amtlichen Zensorwürde: „Was nun die Haltung des Blatts betrifft, so ist die Ansicht der Aufsichtskommission allerdings die, daß die .Laterne' nicht als Vorbild gelten soll, das Blatt soll unsrer Ansicht nach weniger in politischem Radikalismus aufgehn, als prinzipiell sozialistisch gehalten sein. Fälle wie die Attacke gegen Kayser, die von allen Genossen ohne Ausnahme (!) gemißbilligt wurde, müssen unter allen Umständen vermieden werden." Und so weiter, und so weiter. Liebknecht nennt den Angriff gegen Kayser „einen Bock", und Schramm hält ihn für so gefährlich, daß er daraufhin die Zensur über Hirsch verhängt. Hirsch schreibt nochmals an Höchberg, ein Fall wie der Kaysersche „kann nicht vorkommen, wenn ein offizielles Parteiorgan existiert, dessen klare Darlegungen und wohlmeinende Winke ein Abgeordneter nicht so dreist in den Wind schlagen kann*. Auch Viereck schreibt, dem neuen Blatt sei „leidenschaftslose Haltung und tunlichstes Ignorieren aller vorgekommenen Differenzen... vorgeschrieben", es solle keine „vergrößerte .Laterne"* sein, und Bernstein „könnte man höchstens vorwerfen, daß er zu gemäßigter Richtung ist, wenn das in einer Zeit, wo wir doch nicht mit voller Flagge segeln können» ein Vorwurf ist". Was ist nun dieser Fall Kayser, dies unverzeihliche Verbrechen, das Hirsch begangen haben soll? Kayser spricht und stimmt im Reichstag, der einzige unter den sozialdemokratischen Abgeordneten, für Schutzzölle. Hirsch klagt ihn an, die Parteidisziplin verletzt zu haben, indem Kfayser]
1. für indirekte Steuern stimmt, deren Abschaffung das Parteiprogramm ausdrücklich verlangt; 2. dem Bismarck Geld bewilligt und damit die erste Grundregel aller unsrer Parteitaktik verletzt: Dieser Regierung keinen Heller. In beiden Punkten hat Hirsch unleugbar recht. Und nachdem Kayser einerseits das Parteiprogramm, auf das ja die Abgeordneten durch Kongreßbeschluß sozusagen vereidigt worden, und andrerseits die unabweisbarste, allererste Grundregel der Parteitaktik mit Füßen getreten, Bismarck zum Dank für das Sozialistengesetz Geld votiert, hatte Hirsch ebenfalls, unsrer Ansicht nach, vollkommen recht, so derb auf ihn loszuschlagen, wie er tat. Wir haben nie begreifen können, wieso man sich in Deutschland so gewaltig über diesen Angriff auf Kayser hat erbosen können. Jetzt erzählt mir Höchberg, die „Fraktion" habe Kayser die Erlaubnis zu seinem Auftreten erteilt, und durch diese Erlaubnis halte man K[ayser] für gedeckt. Wenn sich das so verhält, so ist das doch etwas stark. Zunächst konnte Hirsch von diesem geheimen Beschluß ebensowenig etwas wissen wie die übrige Welt.1 Sodann wird die Blamage für die Partei, die früher auf Klayser] allein abgewälzt werden konnte, durch diese Geschichte nur noch größer, und ebenso das Verdienst Hirschs, offen und vor aller Welt diese abgeschmackten Redensarten und noch abgeschmacktere Abstimmung Kaysers bloßgelegt und damit die Parteiehre gerettet zu haben. Oder ist die deutsche Sozialdemokratie in der Tat von der parlamentarischen Krankheit angesteckt und glaubt, mit der Volks wähl werde der heilige Geist über die Gewählten ausgegossen, die Fraktionssitzungen in unfehlbare Konzilien, Fraktionsbeschlüsse in unantastbare Dogmen verwandelt? Ein Bock ist allerdings geschossen, nicht aber von Hirsch, sondern von den Abgeordneten, die den Kayser mit ihrem Beschluß deckten. Und wenn diejenigen, die vor allem auf Aufrechterhaltung der Parteidisziplin zu achten berufen sind, diese Parteidisziplin selbst durch einen solchen Beschluß so eklatant brechen, so ist das um so schlimmer. Noch schlimmer aber, wenn man sich bis zu dem Glauben versteigt, nicht Kayser, durch seine Rede und Abstimmung, und die andern Abgeordneten, durch ihren Beschluß, hätten
1 In der Handschrift gestrichen: „Gesetzt auch, zwei oder drei andre sozialdemokratische Abgeordnete (denn mehr waren schwerlich da) hätten sich verleiten lassen, dem K[ayser] zu erlauben, seine Abgeschmacktheiten vor aller Welt herzusagen und Bismarck Geld zu bewilligen; so waren sie verpflichtet, die Verantwortlichkeit dafür öffentlich auf sich zu nehmen und abzuwarten, was Hirsch davon sagen würde."
die Parteidisziplin verletzt, sondern Hirsch, indem er trotz dieses ihm noch dazu unbekannten Beschlusses den Kayser angriff. Es ist übrigens sicher, daß die Partei in der Schutzzollfrage dieselbe unklare und unentschiedene Haltung eingenommen hat wie bisher in fast allen praktisch gewordenen ökonomischen Fragen, z.B. bei den Reichseisenbahnen. Das kommt daher, daß die Parteiorgane, namentlich der „Vorwärts"11023, statt diese Frage gründlich zu diskutieren, sich mit Vorliebe auf die Konstruktion der zukünftigen Gesellschaftsordnung gelegt haben. Als die Schutzzollfrage nach dem Sozialistengesetz plötzlich praktisch wurde, gingen die Ansichten in den verschiedensten Schattierungen auseinander, und es war nicht ein einziger am Platz, der zur Bildung eines klaren und richtigen Urteils die Vorbedingung besaß: Kenntnis der Verhältnisse der deutschen Industrie und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Bei den Wählern konnten dann hie und da schutzzöllnerische Strömungen auch nicht ausbleiben, diese wollte man doch auch berücksichtigen. Der einzige Weg, aus dieser Verwirrung herauszukommen, indem man die Frage rein politisch auffaßte (wie in der „Laterne" geschah), wurde nicht entschieden eingeschlagen. So konnte es nicht fehlen, daß die Partei in dieser Debatte zum erstenmal zaudernd, unsicher und unklar auftrat und schließlich durch und mit Kayser sich gründlich blamierte. Der Angriff auf Kayser wird nun zum Anlaß genommen, um Hirsch in allen Tonarten vorzupredigen, das neue Blatt solle die Exzesse der „Laterne" keineswegs nachahmen, solle weniger in politischem Radikalismus aufgehn, als prinzipiell sozialistisch und leidenschaftslos gehalten werden. Und zwar von Viereck nicht weniger als von Bernstein, der jenem grade deshalb, weil er zu gemäßigt ist, als der rechte Mann erscheint, weil man doch jetzt nicht mit voller Flagge segeln kann. Aber warum geht man denn überhaupt ins Ausland, als um mit voller Flagge zu segeln? Im Ausland steht dem nichts entgegen. In der Schweiz existieren die deutschen Preß-, Vereins- und Strafgesetze nicht. Man kann dort also nicht nur diejenigen Dinge sagen, die man zu Hause schon vor dem Sozialistengesetz wegen der gewöhnlichen deutschen Gesetze nicht sagen konnte, man ist auch verpflichtet dazu. Denn hier steht man nicht bloß vor Deutschland, sondern vor Europa, und hat die Pflicht, soweit die Schweizer Gesetze erlauben, Europa gegenüber die Wege und Ziele der deutschen Partei unverhohlen darzulegen. Wer sich in der Schweiz an deutsche Gesetze binden wollte, bewiese eben nur, daß er dieser deutschen Gesetze würdig ist und in der Tat nichts zu sagen hat als was in Deutschland vor dem Ausnahmegesetz zu sagen erlaubt war. Auch auf die Möglich
keit, der Redaktion die Rückkehr nach Deutschland temporär abzuschneiden, darf keine Rücksicht genommen werden. Wer nicht bereit ist, das zu riskieren, gehört nicht auf einen so exponierten Ehrenposten. Noch mehr. Die deutsche Partei ist mit dem Ausnahmegesetz in Bann und Acht getan worden, grade weil sie die einzige ernsthafte Oppositionspartei in Deutschland war. Wenn sie in einem auswärtigen Organ Bismarck ihren Dank damit abstattet, daß sie diese Rolle der einzigen ernsthaften Oppositionspartei aufgibt, daß sie hübsch zahm auftritt, den Fußtritt mit leidenschaftsloser Haltung hinnimmt, so beweist sie nur, daß sie des Fußtritts wert war. Von allen deutschen Emigrationsblättern, die seit 1830 im Ausland erschienen, ist die „Laterne" sicher eins der gemäßigsten. Wenn aber die „Laterne" schon zu frech war - dann kann das neue Organ die Partei vor den Gesinnungsgenossen der nichtdeutschen Länder nur kompromittieren. III. Das Manifest der drei Züricher Inzwischen ist uns das Höchbergsche „Jahrbuch" zugekommen und enthält einen Artikel: „Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland"11031, der, wie Höchberg selbst mir gesagt, verfaßt ist grade von den drei Mitgliedern der Züricher Kommission. Hier haben wir ihre authentische Kritik der bisherigen Bewegung und damit ihr authentisches Programm für die Haltung des neuen Organs, soweit diese von ihnen abhängt. Gleich von vornherein heißt es: „Die Bewegung, welche Lassalle als eine eminent politische ansah, zu welcher er nicht nur die Arbeiter, sondern alle ehrlichen Demokraten aufrief, an deren Spitze die unabhängigen Vertreter der Wissenschaft und alle von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer marschieren sollten, verflachte sich unter dem Präsidium J. B. v. Schweitzers zu einem einseitigen Interessenkampf der Industriearbeiter." Ich untersuche nicht, ob und inwieweit dies geschichtlich sich so verhält. Der spezielle Vorwurf, der Schweitzer hier gemacht wird, besteht darin, daß Schweitzer den Lassalleanismus, der hier als eine bürgerlich demokratisch-philanthropische Bewegung aufgefaßt wird, zu einem einseitigen Interessenkampf der Industriearbeiter verflacht habe, indem er ihren Charakter als Klassenkampf der Industriearbeiter gegen die Bourgeoisie vertiefte.1 Ferner wird ihm vorgeworfen seine „Zurückweisung der
1 An Stelle dieser beiden Sätze stand ursprünglich der folgende, in der Handschrift gestrichene Passus: „Schweitzer war ein großer Lump, aber ein sehr talentvoller Kopf. Sein
bürgerlichen Demokratie". Was denn hat die bürgerliche Demokratie in der sozialdemokratischen Partei zu schaffen? Wenn sie aus „ehrlichen Männern" besteht, kann sie gar nicht eintreten wollen, und wenn sie dennoch eintreten will, dann doch nur, um zu stänkern. Die Lassallesche Partei »zog vor, sich in einseitigster Weise als Arbeiter* Partei zu gerieren". Die Herren, die das schreiben, sind selbst Mitglieder einer Partei, die sich in einseitigster Weise als Arbeiterpartei geriert, sie bekleiden jetzt Amt und Würden in ihr. Es liegt hier eine absolute Unverträglichkeit vor. Meinen sie, was sie schreiben, so müssen sie aus der Partei austreten, mindestens Amt und Würden niederlegen. Tun sie esnicht,sogestehn sie damit ein, daß sie ihre amtliche Stellung zu benutzen gedenken, um den proletarischen Charakter der Partei zu bekämpfen. Die Partei also verrät sich selbst, wenn sie sie in Amt und Würden läßt. Die sozialdemokratische Partei soll also nach Ansicht dieser Herren keine einseitige Arbeiterpartei sein, sondern eine allseitige Partei „aller von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer". Vor allem soll sie dies beweisen, indem sie die rohen Pl"oletarierleidenschaften ablegt und sich „zur Bildung eines guten Geschmacks" und „zur Erlernung des guten Tons" (S.85) unter die Leitung von gebildeten philanthropischen Bourgeois stellt. Dann wird auch das „verlumpte Auftreten" mancher Führer einem wohlehrbaren „bürgerlichen Auftreten" weichen. (Als ob das äußerlich verlumpte Auftreten der hier Gemeinten nicht noch das Geringste wäre, das man ihnen vorwerfen kann!) Dann auch werden sich „zahlreiche Anhänger aus den Kreisen der gebildeten und besitzenden Klassen einfinden. Diese aber müssen erst gewonnen werden, wenn die... betriebne Agitation greifbare
Verdienst bestand grade darin, daß er den ursprünglichen engen Lassaileanismus mit seiner beschränkten Staatshülfe-Panacee durchbrach... Was er auch aus korrupten Motiven verschuldet hat und wie sehr er auch zur Erhaltung seiner Herrschaft an der Lassalleschen Panacee von der Staatshülfe festhielt, so hat er doch das Verdienst, den ursprünglichen engen Lassaileanismus durchbrochen, den ökonomischen Gesichtskreis der Partei erweitert und damit ihr späteres Aufgehn in die deutsche Gesamtpartei vorbereitet zu haben. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, dieser Angelpunkt alles revolutionären Sozialismus, war schon von Lassalie gepredigt worden. Wenn Schweitzer diesen Punkt noch schärfer betonte, so war das in der Sache selbst jedenfalls ein Fortschritt, wie sehr er auch sich daraus einen Vorwand geschmiedet haben mag, seiner Diktatur gefährliche Personen zu verdächtigen. Ganz richtig ist, daß er den Lassaileanismus zu einem einseitigen Interessenkampf der Industriearbeiter machte. Aber nur darum einseitig, weil er aus Gründen politischer Korruption von dem Interessenkampf der Landarbeiter gegen den großen Grundbesitz nichts wissen wollte. Nicht das ist es, was ihm hier vorgeworfen wird, die ,Verflachung* besteht darin, daß er ihren Charakter als Klassenkampf der Industriearbeiter gegen die Bourgeoisie Vertiefte."
Erfolge erreichen soll". Der deutsche Sozialismus hat „zuviel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sog. oberen Schichten der Gesellschaft energische (!) Propaganda zu machen". Denn „noch fehlt es der Partei an Männern, welche dieselbe im Reichstag zu vertreten geeignet sind". Es ist aber „wünschenswert und notwendig, die Mandate-Männern anzuvertrauen, die Gelegenheit und Zeit genug gehabt haben, sich mit den einschlagenden Materien gründlich vertraut zu machen. Der einfache Arbeiter und Kleinmeister... hat dazu nur in seltenen Ausnahmsfällen die nötige Muße." Wählt also Bourgeois! Kurz, die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu befreien. Dazu muß sie unter die Leitung „gebildeter und besitzender" Bourgeois treten, die allein „Gelegenheit und Zeit haben", sich mit dem vertraut zu machen, was den Arbeitern frommt. Und zweitens ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch energische Propaganda - zu gewinnen. Wenn man aber die oberen Schichten der Gesellschaft oder nur ihre wohlmeinenden Elemente gewinnen will, so darf man sie beileibe nicht erschrecken. Und da glauben die drei Züricher, eine beruhigende Entdeckung gemacht zu haben: „Die Partei zeigt grade jetzt unter dem Druck des Sozialistengesetzes, daß sie nicht gewillt ist, den Weg der gewaltsamen, blutigen Revolution zu gehn, sondern entschlossen ist..., den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der Reform zubeschreiten." Also, wenn die 500 000-600 000 sozialdemokratischen Wähler, Vio bis 1/8 der gesamten Wählerschaft, dazu zerstreut über das ganze weite Land, so vernünftig sind, nicht mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, und einer gegen zehn eine „blutige Revolution" zu versuchen, so beweist das, daß sie sich auch für alle Zukunft verbieten, ein gewaltiges auswärtiges Ereignis, eine dadurch hervorgerufene plötzliche revolutionäre Aufwallung, ja einen in daraus entstandner Kollission erfochtnen Sieg des Volks zu benutzen! Wenn Berlin wieder einmal so ungebildet sein sollte, einen 18. März zu machen11041, so müssen die Sozialdemokraten, statt als „barrikadensüchtige Lumpe" (S.88) am Kampf teilzunehmen, vielmehr den „Weg der Gesetzlichkeit beschreiten", abwiegeln, die Barrikaden wegräumen und nötigenfalls mit dem herrlichen Kriegsheer gegen die einseitigen, rohen, ungebildeten Massen marschieren. Oder wenn die Herren behaupten, das hätten sie nicht so gemeint, was haben sie dann gemeint? Es kommt noch besser. „Je ruhiger, sachlicher^ überlegter sie" (die Partei) „also in ihrer Kritik der bestehenden Zustände und in ihren Vorschlägen zur Abänderung derselben auftritt, um
so weniger kann der jetzt" (bei Einführung des Sozialistengesetzes) „gelungene Schachzug wiederholt werden, mit dem die bewußte Reaktion das Bürgertum durch die Furcht vor dem roten Gespenst ins Bockshorn gejagt hat." (S.88.) Um der Bourgeoisie die letzte Spur von Angst zu benehmen, soll ihr klar und bündig bewiesen werden, daß das ro te 'vaespenst wir iviicxi nur ein Gespenst ist, nicht existiert. Was aber ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? Die Angst vor der unabwendbaren Entscheidung des modernen Klassenkampfs? Man schaffe den Klassenkampf ab, und die Bourgeoisie und „alle unabhängigen Menschen" werden „sich nicht scheuen, mit den Proletariern Hand in Hand zu gehn"! Und wer dann geprellt, wären eben die Proletarier. - Möge also die Partei durch de- und wehmütiges Auftreten beweisen, daß sie die „Ungehörigkeiten und Ausschreitungen" ein für allemal abgelegt hat, die den Anlaß zum Sozialistengesetz gaben. Wenn sie freiwillig verspricht, sich nur innerhalb der Schranken des Sozialistengesetzes bewegen zu wollen, werden Bismarck und die Bourgeois dies dann überflüssige Gesetz aufzuheben doch wohl die Güte haben! „Man verstehe uns wohl", wir wollen nicht „ein Aufgeben unsrer Partei und unsres Programms, wir meinen aber, daß wir auf Jahre hinaus genüg zu tun haben, wenn wir unsre ganze Kraft, ünsre ganze Energie auf Erreichung gewisser naheliegender Ziele richten, welche unter allen Umständen errungen sein müssen, bevor an eine Realisierung der weitergehenden Bestrebungen gedacht werden kann." Dann werden auch Bourgeois, Kleinbürger und Arbeiter sich massenweise an uns anschließen, die „jetztdurch die weitgehenden Forderungen... abgeschreckt werden". Das Programm soll nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben werden bis auf unbestimmte Zeit. Man nimmt es an, aber eigentlich nicht für sich selbst und für seine Lebzeiten, sondern posthum, als Erbstück für Kinder und Kindeskinder. Inzwischen wendet man seine „ganze Kraft und Energie" auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde. Da lobe ich mir doch den Kommunisten Miquel, der seine unerschütterliche Überzeugung von dem in einigen hundert Jahren unvermeidlichen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft dadurch bewährt, daß er tüchtig drauflosschwindelt, sein Redliches zum Krach von 1873[105] beiträgt und damit für den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung wirklich etwas tut.
Ein andres Vergehen gegen den guten Ton waren auch die „übertriebnen Angriffe auf die Gründer", die ja „nur Kinder der Zeit" waren; „das Schimpfen auf Strousberg und dgl. Leute... wäre daher besser unterblieben". Leider sind alle Menschen „nur Kinder der Zeit", und wenn dies hinlänglicher Entschuldigungsgrund, so darf man niemand mehr angreifen, alle Polemik, aller Kampf unsrerseits hört auf; wir nehmen alle Fußtritte unsrer Gegner ruhig hin, weil wir, die Weisen, ja wissen, daß jene „nur Kinder der Zeit" sind und nicht anders handeln können als sie tun. Statt ihnen die Fußtritte mit Zinsen zurückzuzahlen, sollten wir die Armen vielmehr bedauern. Ebenso hatte die Parteinahme für die Kommune immerhin den Nachteil, „daß uns sonst zugeneigte Leute zurückgestoßen und überhaupt der Haß der Bourgeoisie gegen uns vergrößert wurde". Und ferner ist die Partei „nicht ganz ohne Schuld an dem Zustandekommen des Oktobergesetzes t106J, denn sie hat den Haß der Bourgeoisie in unnötiger Weise vermehrt". Da haben Sie das Programm der drei Zensoren von Zürich. Es läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Am allerwenigsten für uns, da wir diese sämtlichen Redensarten von 1848 her noch sehr gut kennen. Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat, durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge „zu weit gehn". Statt entschiedner politischer Opposition - allgemeine Vermittlung; statt des Kampfs gegen Regierung und Bourgeoisie - der Versuch, sie zu gewinnen und zu überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Mißhandlungen von oben - demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient. Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Mißverständnisse und alle Diskussion beendigt mit der Beteuerung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig. Die Leute, die 1848 als bürgerliche Demokraten auftraten, können sich jetzt ebensogut Sozialdemokraten nennen. Wie jenen die demokratische Republik, so liegt diesen der Sturz der kapitalistischen Ordnung in unerreichbarer Ferne, hat also absolut keine Bedeutung für die politische Praxis der Gegenwart; man kann vermitteln, kompromisseln, philanthropisieren nach Herzenslust. Ebenso geht's mit dem Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Auf dem Papier erkennt man ihn an, weil man ihn doch nicht mehr wegleugnen kann, in der Praxis aber wird er vertuscht, verwaschen, abgeschwächt. Die sozialdemokratische Partei soll keine Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Haß der Bourgeoisie oder überhaupt irgend jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die Bourgeois abschreckende und doch in unsrer Generation
unerreichbare Ziele Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen und dadurch die endliche Katastrophe vielleicht in einenallmählichen,stückweisen und möglichst friedfertigen Auf lösungsprozeß verwandeln könnten. Es sind dieselben Leute, die unter dem Schein rastloser Geschäftigkeit nicht nur selbst nichts tun, sondern auch zu hindern suchen,daß überhaupt etwas geschieht als - schwatzen; dieselben Leute, deren Furcht vor jeder Tat 1848 und 1849 die Bewegung bei jedem Schritt hemmte und endlich zu Fall brachte; dieselben Leute, die nie Reaktion sehn und dann ganz erstaunt sind, sich endlich in einer Sackgasse zu finden, wo weder Widerstand noch Flucht möglich ist; dieselben Leute, die die Geschichte in ihren engen Spießbürgerhovizont bannen wollen und über die die Geschichte jedesmal zur Tagesordnung übergeht. Was ihren sozialistischen Gehalt angeht, so ist dieser bereits hinreichend kritisiert im „Manifest", Kapitel: „Der deutsche oder .wahre* Sozialismus"1. Wo der Klassenkampf als unliebsame „rohe" Erscheinung auf die Seite geschoben wird, da bleibt als Basis des Sozialismus nichts als „wahre Menschenliebe" und leere Redensarten von „Gerechtigkeit". Es ist eine im Gang der Entwicklung begründete, unvermeidliche Erscheinung, daß auch Leute aus der bisher herrschenden Klasse sich dem kämpfenden Proletariat anschließen und ihm Bildungselemente zuführen. Das haben wir schon im „Manifest" klar ausgesprochen.2 Es ist aber hierbei zweierlei zu bemerken: Erstens müssen diese Leute, um der proletarischen Bewegung zu nutzen, auch wirkliche Bildungselemente mitbringen. Dies ist aber bei der großen Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Konvertiten nicht der Fall. Weder die „Zukunft" noch die „Neue Gesellschaft"11071 haben irgend etwas gebracht, wodurch die Bewegung um einen Schritt weitergekommen wäre. An wirklichem, tatsächlichem oder theoretischem Bildungsstoff ist da absoluter Mangel. Statt dessen Versuche, die sozialistischen oberflächlich angeeigneten Gedanken in Einklang zu bringen mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten, die die Herren von der Universität oder sonstwoher mitgebracht und von denen einer noch verworrener war als der andre, dank dem Verwesungsprozeß, in dem sich die Reste der deutschen Philosophie heute befinden. Statt die neue Wissenschaft vorerst selbst gründlich zu studieren, stutzte sich jeder sie vielmehr nach dem mitgebrachten Standpunkt
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.485 -488 - 2 ebenda, S.471/472
zurecht, machte sich kurzerhand eine eigne Privatwissenschaft und trat gleich mit der Prätension auf, sie lehren zu wollen. Daher gibt es unter diesen Herren ungefähr soviel Standpunkte wie Köpfe; statt in irgend etwas Klarheit zu bringen, haben sie nur eine arge Konfusion angerichtet - glücklicherweise fast nur unter sich selbst. Solche Bildungselemente, deren erstes Prinzip ist, zu lehren, was sie nicht gelernt haben, kann die Partei gut entbehren. Zweitens. Wenn solche Leute aus andern Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, daß sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen, jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen. In einem so kleinbürgerlichen Land wie Deutschland haben diese Vorstellungen sicher ihre Berechtigung. Aber nur außerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Wenn die Herren sich als sozialdemokratische Kleinbürgerpartei konstituieren, so sind sie in ihrem vollen Recht; man könnte dann mit ihnen verhandeln, je nach Umständen Kartell schließen etc. Aber in einer Arbeiterpartei sind sie ein fälschendes Element. Sind Gründe da, sie vorderhand darin zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keinen Einfluß auf Parteileitung zu gestatten, sich bewußt zu bleiben, daß der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist. Diese Zeit scheint übrigens gekommen. Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich. Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in die Hand, so wird die Partei einfach entmannt, und mit der proletarischen Schneid ist's am End. Was uns betrifft, so steht uns nach unsrer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Geschichte und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir können also unmöglich mit Leuten zusammengehn, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen. Wir haben bei Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert: Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter« klasse selbst sein. Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, daß die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien, und erst von oben herab befreit werden müssen, durch philanthropische Groß- und Kleinbürger. Wird das neue Parteiorgan eine Haltung annehmen, die den Gesinnungen jener Herren entspricht, bürgerlich ist und
nicht proletarisch, so bleibt uns nichts übrig, so leid es uns tun würde, als uns öffentlich dagegen zu erklären und die Solidarität zu lösen, mit der wir bisher die deutsche Partei dem Ausland gegenüber vertreten haben. Doch dahin kommt's hoffentlich nicht. Dieser Brief ist bestimmt zur Mitteilung an alle 5 Mitglieder der Kommission in Deutschland sowie an Bracke... Der Mitteilung an die Züricher steht ebenfalls unsrerseits nichts im Wege.
Geschrieben am 17./18. September 1879, Nach der Handschrift.
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Friedrich Engels Der Sozialismus des Herrn Bismarck11081
[„L'Egalte" Nr.7 vom 3. März 1880]
I. Der Zolltarif
In der Debatte über das berüchtigte Gesetz, daß die deutschen Sozialisten außerhalb des Gesetzes stellte, erklärte Herr Bismarck, daß Unterdrückungsmaßnahmen allein nicht genügen, um den Sozialismus zu zermalmen; man müsse außerdem noch Maßnahmen treffen, um die unbestreitbaren sozialen Übelstände zu beseitigen, um eine regelmäßige Beschäftigung zu sichern und Industriekrisen vorzubeugen und was nicht noch alles. Diese „positiven" Maßnahmen für das soziale Wohl versprach er vorzuschlagen. Denn, so sagte er, wenn man so wie ich die Geschäfte seines Landes siebzehn Jahre lang geführt hat, dann ist man berechtigt, sich als Sachverständigen auf dem Gebiet der politischen Ökonomie zu betrachten; das ist so, als wenn jemand behauptete, es genüge, siebzehn Jahre lang Kartoffeln gegessen zu haben, um die Agronomie gründlich zu kennen. Auf jeden Fall hat Herr Bismarck diesmal Wort gehalten. Er hat Deutschland mit zwei großen „sozialen Maßnahmen" bedacht und ist noch nicht am Ende. Die erste war ein Zolltarif, der der deutschen Industrie die ausschließliche Exploitation des inneren Marktes sichern sollte. Bis 1848 hatte Deutschland keine eigentliche Großindustrie besessen. Die Handarbeit herrschte vor; Dampf und Maschinerie bildeten nur Aus
nahmen. Nachdem die deutsche Bourgeoisie dank ihrer Feigheit in den Jahren 1848 und 1849 eine schmähliche Niederlage auf politischem Gebiet erlitten hatte, tröstete sie sich, indem sie sich mit Feuereifer auf die Großindustrie warf. Das Bild des Landes verwandelte sich schnell. Wer Rheinpreußen, Westfalen» das Königreich Sachsen, Oberschlesien, Berlin und die Seestädte 1849 zum letztenmal gesehen hatte, erkannte sie im Jahre 1864 nicht wieder. Überall waren Maschinen und Dampfkraft eingedrungen. Große Fabriken waren größtenteils an die Stelle der kleinen Werkstätten getreten. Dampfschiffe ersetzten nach und nach die Segelschiffe, zunächst in der Küstenschiffahrt und dann im Überseehandel. Die Eisenbahnlinien vervielfachten sich, auf den Werften, in den Kohlen- und Eisenerzgruben herrschte eine Aktivität, zu der sich die schwerfälligen Deutschen bis dahin für völlig unfähig gehalten hatten. Gegenüber der Entwicklung der großen Industrie in England und auch in Frankreich war das alles noch herzlich wenig; aber es war immerhin ein Anfang. Und dann war dies alles ohne jegliche Unterstützung von Seiten der Regierungen, ohne Subventionen oder Exportprämien geschehen, und bei einem Zolltarif, der, im Vergleich zu den Tarifen anderer Länder des Kontinents, als stark freihändlerisch bezeichnet werden konnte. Nebenbei gesagt blieben die sozialen Folgen einer solchen industriellen Bewegung, wie überall, so auch hier nicht aus. Bis dahin hatten die deutschen Industriearbeiter in Verhältnissen vegetiert, die noch aus dem Mittelalter stammten. Im allgemeinen war ihnen gerade noch die Möglichkeit geblieben, nach und nach zu Kleinbürgern zu werden, zu Handwerksmeistern, zu Besitzern mehrerer Handwebstühle etc. Das verschwand jetzt alles. Die Arbeiter, die Lohnarbeiter der großen Kapitalisten wurden, begannen eine beständige Klasse, ein wirkliches Proletariat zu bilden. Aber wer Proletariat sagt, sagt Sozialismus. Außerdem waren noch Spuren jener Freiheiten vorhanden, die die Arbeiter im Jahre 1848 auf den Barrikaden erkämpft hatten. Dank diesen beiden Umständen konnte sich der Sozialismus in Deutschland jetzt am hellichten Tage entfalten und die Massen ergreifen, während der Sozialismus sich vor 1848 auf illegale Propaganda und eine geheime Organisation mit wenigen Mitgliedern hatte beschränken müssen. So datiert die Wiederaufnahme der sozialistischen Agitation durch Lassalle vom Jahre 1863. Es folgten der Krieg von 1870, der Frieden von 1871 und die Milliarden. Während sich Frankreich durch Zahlung der Milliarden keineswegs ruinierte, brachten sie Deutschland durch ihre Einnahme an den Rand des Verderbens. Von einer Regierung von Emporkömmlingen in einem empor
gekommenen Reich mit vollen Händen verschwendet, fielen die Milliarden der Hochfinanz in die Hände, die sich beeilte, sie gewinnbringend an der Börse anzulegen. In Berlin feierten die schönsten Tage des Credit mobilier[109] ihre Auferstehung. Um die Wette gründete man Aktien- und Kommanditgesellschaften, Banken, Effekten- und Bodenkreditanstalten, Gesellschaften zum Bau von Eisenbahnen, Fabriken aller Art, Werften, Gesellschaften zur Spekulation mit Immobilien.und andere Unternehmen, deren industrielles Außere nur den Vorwand für schamloseste Börsenspekulation abgab. Der angebliche öffentliche Bedarf des Handels, des Verkehrs, des Konsums etc. diente nur zur Bemäntelung des zügellosen Drangs der Börsenhyänen, die Milliarden arbeiten zu lassen, solange man sie in Händen hielt. Übrigens hat man dies alles in Paris in den glorreichen Tagen der Pereire und Fould erlebte; es waren die gleichen Börsenspekulanten, die in Berlin unter dem Namen Bleichröder und Hansemann wiedererstanden. Was 1867 in Paris geschehen war, was des öfteren in London und New York geschehen war, blieb 1873 auch in Berlin nicht aus: Die maßlose Spekulation endete mit einem allgemeinen Krach[105]. Die Gesellschaften machten zu Hunderten bankrott; die Aktien der Gesellschaften, die sich hielten, wurden unverkäuflich; es war ein vollständiger Zusammenbruch auf der ganzen Linie. Um aber spekulieren zu können, hatte man Produktions- und Verkehrsmittel, Fabriken, Eisenbahnen etc. schaffen müssen, deren Aktien zum Gegenstand der Spekulation wurden. Als die Katastrophe hereinbrach, stellte sich jedoch heraus, daß der öffentliche Bedarf, den man zum Vorwand genommen hatte, bei weitem überschritten worden war, daß im Laufe von vier Jahren mehr Eisenbahnen, Fabriken, Bergwerke etc. errichtet worden waren, als bei normaler Entwicklung der Industrie in einem Vierteljahr hundert geschaffen worden wären. Außer auf Eisenbahnen, von denen wir später sprechen werden, hatte . sich die Spekulation besonders auf die Eisenindustrie gestürzt. Große Fabriken schössen wie Pilze aus dem Boden, es waren sogar etliche Werke gegründet worden, die Creusot in den Schatten stellten. Leider stellte sich am Tage der Krise heraus, daß es für diese riesige Produktion keine Verbraucher gab. Große Industriegesellschaften standen vor dem Bankrott. Als gute deutsche Patrioten ersuchten ihre Direktoren die Regierung um Hilfe; um Einfuhrschutzzölle, die sie bei der Ausbeutung des inneren Marktes vor der Konkurrenz des englischen Eisens schützen sollten. Wenn man jedoch Schutzzölle für Eisen forderte, so konnte man sie den anderen Industrien und auch der Landwirtschaft nicht verweigern. So wurde also
in ganz Deutschland eine lärmende Agitation für den Schutzzoll organisiert, eine Agitation, die es Herrn Bismarck ermöglichte, einen Zolltarif einzuführen, der diesen Zweck erfüllen sollte. Dieser Tarif, der im Sommer 1879 zum Gesetz erhoben wurde, ist jetzt in Kraft. Aber die deutsche Industrie hatte immer in der frischen Luft der freien Konkurrenz gelebt. Da sie als letzte nach der Industrie Englands und Frankreichs entstanden war, mußte sie sich darauf beschränken, die kleinen Lükken auszufüllen, die ihr ihre Vorgängerinnen offengelassen hatten, und Artikel liefern, die den Engländern zu kleinlich, den Franzosen zu schäbig waren; es war eine auf niedriger Stufe stehende Fabrikation von ständig wechselnden Produkten, billige und schlechte Waren. Man glaube nicht, daß das unsere Worte sind; das sind wortwörtlich die Ausdrücke, die bei der Einschätzung der in Philadelphia (1876) ausgestellten deutschen Waren von dem offiziellen Kommissar der deutschen Regierung, Herrn Reuleaux, einem Wissenschaftler von europäischem Ruf, offiziell gebraucht wurden/-1103 Eine solche Industrie kann sich auf den neutralen Märkten nur halten, solange in ihrem Lande der Freihandel herrscht. Wenn man verlangt, daß die deutschen Stoffe, Metallwaren, Maschinen der Konkurrenz im Ausland standhalten, dann muß alles, Was zur Herstellung dieser Waren als Rohstoff dient, Baumwoll-, Leinen- oder Seidengarn, Roheisen und Draht, zu denselben niedrigen Preisen erhältlich sein, zu denen es die ausländischen Konkurrenten kaufen. Also eins von beiden: Entweder man will weiterhin Stoffe und Produkte der Metallindustrie ausführen, dann braucht man den Freihandel und läuft Gefahr, daß diese Industrien aus dem Ausland kommende Rohstoffe verarbeiten; oder man will die Spinnerei und die Rohmetallproduktion Deutschlands durch Zölle schützen, dann wird es bald mit der Möglichkeit zu Ende sein, Produkte auszuführen, deren Rohstoffgrundlage Garn und Rohmetalle sind. Durch seinen famosen Tarif, der die Spinnereien und die Metallindustrie schützt, vernichtet Herr Bismarck die letzte Chance, einen Markt im Ausland zu finden, wie er bisher noch für deutsche Stoffe, Metallwaren, Nadeln und Maschinen bestand. Aber Deutschland, dessen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des Jahrhunderts einen Exportüberschuß produzierte, kommt jetzt nicht mehr ohne einen Zuschuß landwirtschaftlicher Produkte aus dem Ausland aus. Wenn Herr Bismarck seiner Industrie verwehrt, für den Export zu produzieren, womit wird man dann diesen und viele andere Importe bezahlen, die trotz aller Tarife der Welt nun einmal nötig sind.
Um diese Frage zu lösen, bedurfte man keines Geringeren, als des Genies eines Herrn Bismarck, im Verein mit dem seiner Freunde und Börsenberater. Das wird folgendermaßen gemacht: Nehmen wir das Eisen. Die Periode der Spekulation und der fieberhaften Produktion hat Deutschland zwei Werke beschert (die Dortmunder Union und die Laura-Hütte), die jedes für sich allein soviel produzieren können, wie der gesamte Konsum des Landes durchschnittlich erfordert. Dann gibt es die riesigen Krupp-Werke in Essen, ein ähnliches Werk in Bochum und zahllose kleinere. Somit ist der Eisenverbrauch im Innern mindestens drei- oder vierfach gedeckt. Man sollte meinen, daß eine solche Lage gebieterisch den schrankenlosesten Freihandel erfordere, der allein imstande wäre, diesem riesigen Produktionsüberschuß einen Absatzmarkt zu sichern. Man sollte es meinen, aber das ist nicht die Ansicht der daran Interessierten. Da es höchstens ein Dutzend Unternehmen gibt, die wirklich ins Gewicht fallen und die anderen beherrschen, so bildet man das, was die Amerikaner einen Ring nennen: eine Gesellschaft zur Aufrechterhaltung der Preise im Innern und,zur Regelung des Exports. Sobald eine Ausschreibung für Schienen oder andere Produkte ihrer Fabriken angesetzt ist, bestimmt das Komitee reihum, welchem Mitglied der Auftrag zufallen soll und zu welchem Preise es ihn akzeptieren muß. Die anderen Beteiligten machen Angebote zu einem höheren Preis, der ebenfalls im voraus abgesprochen worden ist. Dadurch, daß jede Konkurrenz aufhört, besteht ein absolutes Monopol. Das gleiche gilt für den Export. Um die Durchführung dieses Planes zu sichern, deponiert jedes Mitglied des Ringes zu Händen des Komitees einen Blankowechsel über 125 000 Francs, der in Umlauf gebracht und präsentiert wird, sobald der Unterzeichnete seinen Vertrag bricht. Der aus den deutschen Verbrauchern auf diese Weise herausgepreßte Monopolpreis ermöglicht es den Fabriken, ihren Produktionsüberschuß im Ausland zu Preisen abzusetzen, zu denen sich sogar die Engländer weigern, zu verkaufen - und der deutsche Philister (der es nebenbei gesagt verdient) muß die Zeche bezahlen. So wird der deutsche Export wieder möglich, dank der gleichen Schutzzölle, die ihn nach Meinung des breiten Publikums scheinbar zugrunde richten. Wollen Sie Beispiele? Im vorigen Jahr brauchte eine italienische Eisenbahngesellschaft, deren Namen wir nennen könnten, 30 000 oder 40 000 Tonnen (zu 1000 Kilogramm) Schienen. Nach langen Verhandlungen übernimmt ein englisches Werk 10 000; das übrige wird von der Dortmunder Union zu einem Preis in Auftrag genommen, der in England abgelehnt worden ist. Ein englischer Konkurrent, den man fragte, warum er
das deutsche Unternehmen nicht ausstechen könne, antwortete: Wer in aller Welt kann die Konkurrenz mit einem Bankrotteur aushalten? In Schottland soll eine Eisenbahnbrücke über eine Meerenge in der Nähe von Edinburgh gebaut werden. Dazu werden 10 000 Tonnen Bessemerstahl benötigt. Wer akzeptiert den niedrigsten Preis, wer schlägt alle seine Konkurrenten, und das auf dem heimatlichen Boden der Eisengroßindustrie, in England? Ein Deutscher, ein Günstling Bismarcks in mehr als einer Beziehung, Herr Krupp aus Essen, der „Kanonenkönig". So steht es mit dem Eisen. Es versteht sich von selbst, daß dieses schöne System den unvermeidlichen Bankrott dieser miteinander verschworenen großen Unternehmen nur einige Jahre hinauszögern kann. Solange, bis die anderen Industrien es ebenso machen; und dann werden sie nicht die ausländische Konkurrenz, sondern ihr eigenes Land ruinieren. Man kommt sich vor, als lebe man in einem Narrenlande; und doch sind alle oben angeführten Tatsachen deutschen, bürgerlich-freihändlerischen Zeitungen entnommen. Die Zerstörung der deutschen Industrie organisieren unter dem Vorwand, sie zu schützen - sind die deutschen Sozialisten denn im Unrecht, wenn sie seit Jahren wiederholen, Herr Bismarck wirke für den Sozialismus, als werde er dafür bezahlt?
[„L'EgalitÄ" Nr. 10 vom 24. März 1880]
Q. Die Staatseisenbahnen Von 1869 bis 1873, wahrend der steigenden Hut der Berliner Spekulation, teilten sich zwei bald einander feindliche, bald verbündete Unternehmen die Herrschaft über die Börse; die Disconto-Gesellschaft und das Bankhaus Bleichröder. Das waren sozusagen die Berliner Pereire und Mir£s. Da die Spekulation sich in der Hauptsache auf die Eisenbahnen erstreckte, kamen diese beiden Banken auf den Gedanken, sich zu indirekten Herren der meisten großen, schon bestehenden oder noch zu bauenden Eisenbahnlinien zu machen. Durch den Ankauf und das Zurückhalten einer gewissen Anzahl Aktien einer jeden Linie könnte man ihre Vorstände beherrschen; die Aktien selbst würden als Garantie für Anleihen dienen, mit denen man neue Aktien kaufen könnte, und so weiter. Wie man sieht: eine bloße Wiederholung der findigen kleinen Operation, die den beiden Pereire zunächst den höchsten Erfolg brachte und dann mit der bekannten Krise des Credit mobilier endete. Die Berliner Pereire waren anfänglich von gleichem Erfolg gekrönt.
Im Jahre 1873 kam die Krise. Unsere beiden Banken gerieten arg in die Klemme mit ihrem Berg von Eisenbahnaktien, aus denen man die Millionen, die sie verschlungen hatten, nicht mehr herausholen konnte. Das Projekt, sich die Eisenbahngesellschaften zu unterwerfen, war gescheitert. Man wechselte also die Stellung und versuchte, die Aktien an den Staat zu verkaufen. Das Projekt, alle Eisenbahnen in den Händen der Reichsregierung zu konzentrieren, hat zum Ausgangspunkt nicht das soziale Wohl des Landes, sondern das individuelle Wohl zweier zahlungsunfähiger Banken. Die Ausführung des Projekts war nicht allzu schwer. Man halte an den neuen Gesellschaften eine beträchtliche Anzahl von Reichstagsabgeordneten „interessiert", so daß man die nationalliberale und die freikonservative Partei, das heißt die Mehrheit, beherrschte. Hohe Beamte des Reiches, preußische Minister hatten ihre Finger in dem Börsenschwindel gehabt, vermittels dessen diese. Gesellschaften gegründet worden waren. In letzter Instanz war Bleichröder der Bankier und das Finanzfaktotum des Herrn Bismarck. Daher fehlte es nicht an Mitteln. Vorerst mußte man jedoch, damit der Verkauf der Eisenbahnen an das Reich sich auch lohne, die Aktienpreise wieder hochtreiben. Deshalb schuf man 1873 das „Kaiserliche Eisenbahnamt"; sein Leiter, ein bekannter Börsenschwindler, erhöhte mit einem Schlag die Tarife aller deutschen Eisenbahnen um 20 Prozent; dadurch sollten die Reineinnahmen und demzufolge der Wert der Aktien um ungefähr 35 Prozent steigen. Das war die einzige Maßnahme, die dieser Herr durchführte; die einzige, derentwegen er das Amt übernommen hatte; kurz danach legte er es auch wieder nieder. Unterdessen war es gelungen, Bismarck das Projekt schmackhaft zu machen. Aber die kleinen Königreiche leisteten Widerstand; der Bundesrat lehnte es rundweg ab. Neuer Stellungswechsel - man beschloß, daß erst einmal Preußen alle preußischen Eisenbahnen aufkaufen sollte, um sie gegebenenfalls dem Reich abzutreten. Im übrigen gab es für die Reichsregierung noch ein verborgenes Motiv, das ihr den Ankauf der Eisenbahnen wünschenswert machte. Und das hängt mit den französischen Milliarden zusammen. Von diesen Milliarden hatte man beträchtliche Summen zurückbehalten zur Bildung dreier „Reichsfonds": den ersten zum Bau des Reichstagsgebäudes, den zweiten für Festungen, den dritten schließlich für die Invaliden der drei letzten Kriege. Die Gesamtsumme belief sich auf 926 Millionen Francs.
Von diesen drei Fonds war der bedeutendste und zugleich der sonderbarste der für die Invaliden. Er war dazu bestimmt, sich selbst zu verzehren, das heißt zu der Zeit, da der letzte Invalide gestorben wäre, würde auch der Fonds, sowohl das Kapital als auch die Einkünfte daraus, verschwunden sein. Einen Fonds, der sich selber verzehrt, sollte man wiederum meinen, könnten nur Narren erfinden. Aber keine Narren, sondern Börsenschwindler der Disconto-Gesellschaft hatten ihn erfunden, und aus gutem Grund. Daher war fast ein Jahr erforderlich, um die Regierung zur Übernahme dieser Idee zu bewegen. Es schien jedoch unseren Börsenspekulanten, daß dieser Fonds sich nicht schnell genug verzehren werde. Sie glaubten zudem, die beiden anderen Fonds mit der gleichen schönen Eigenschaft, sich selbst zu verzehren, versehen zu müssen. Das Mittel war einfach. Noch bevor das Gesetz die Art der Werte festgelegt hatte, worin diese Fonds angelegt werden sollten, beauftragte man ein kommerzielles Unternehmen der preußischen Regierung, geeignete Wertpapiere zu kaufen. Dieses Unternehmen wandte sich an die Disconto-Gesellschaft, die ihm für die drei Reichsfonds Eisenbahnaktien im Werte von 300 Millionen Francs verkaufte, die damals nicht absetzbar waren und die wir im einzelnen aufführen könnten. Unter diesen Aktien befanden sich Aktien der Eisenbahnlinie Magdeburg-Halberstadt und der mit ihr fusionierten Linien im Werte von 120 Millionen, einer Eisenbahn, die so gut wie bankrott war, die zwar den Börsenschwindlern große Gewinne verschafft hatte, jedoch kaum eine Aussicht bot, den Aktionären auch nur das Geringste einzubringen. Das wird verständlich, wenn man erfährt, daß der Vorstand Aktien im Werte von 16 Millionen ausgegeben hatte, um die Baukosten dreier Zweiglinien zu decken, und daß dieses Geld vollständig verschwunden war, bevor man mit dem Bau dieser Linien auch nur begonnen hatte. Und der Invalidenfonds ist stolz darauf, daß er eine beträchtliche Anzahl Aktien dieser nicht existierenden Eisenbahnen besitzt. Der Erwerb dieser Linien seitens des preußischen Staates würde mit einem Schlage den Ankauf ihrer Aktien durch das Reich legalisieren; er würde ihnen einen gewissen realen Wert geben. Daher rührt das Interesse, das die Reichsregierung an diesem Geschäft hatte. Daher war die Linie, um die es sich hier handelt, eine der ersten, deren Ankauf von der preußischen Regierung vorgeschlagen und von den Kammern bestätigt wurde. Die den Aktionären vom Staat zugestandenen Preise waren bedeutend höher als der reale Wert sogar guter Eisenbahnlinien. Das zeigt sich in dem ständigen Steigen der Aktienkurse, seit der Beschluß, sie anzukaufen, und
besonders seit die Ankaufsbedingungen bekanntgeworden waren. Zwei große Linien, deren Aktien im Dezember 1878 auf 103 respektive 108 standen, sind inzwischen vom Staat angekauft worden; heute werden sie mit 148 und 158 notiert. Deshalb hatten die Aktionäre die größte Mühe, ihre Freude während des Handels zu verbergen. Es braucht nicht betont zu werden, daß diese Kurssteigerung vor allem den großen Berliner Börsenspekulanten zugute kam, die in die Absichten der Regierung eingeweiht waren. Die Börse, die im Frühjahr 1879 noch ziemlich gedrückt war, erwachte zu neuem Leben. Bevor die Spekulanten sich endgültig von ihren teuren Aktien trennten, benutzten sie diese, um einen neuen Spekulationstaumel zu veranstalten. Man sieht: das deutsche Kaiserreich steht ebenso vollständig unter dem Einfluß der Börse wie seinerzeit das französische Kaiserreich. Die Börsianer bereiten die Projekte vor, welche - zugunsten ihrer Geldbeutel - von der Regierung ausgeführt werden müssen. Dabei haben sie in Deutschland noch einen Vorteil, der dem bonapartistischen Kaiserreich fehlte: Wenn die Reichsregierung auf Widerstand seitens der kleinen Fürsten stößt, verwandelt sie sich in die preußische Regierung, die bestimmt keinen Widerstand in ihren Kammern finden wird, die ja wahre Filialen der Börse sind. Na also! Hat der Generalrat der Internationale nicht bereits unmittelbar nach dem Kriege von 1870 gesagt[1U1: Sie, Herr Bismarck, haben das bonapartistische Regime in Frankreich nur gestürzt, um es bei sich wieder aufzurichten!
Geschrieben Ende Febraar 1880. Aus dem Französischen.

FRIEDRICH ENGELS
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"121
Geschrieben von Januar bis Mitte März 1880. Erschien zuerst in französischer Sprache in der Zeitschrift „La Revue socialiste", Nr. 3, 4 und 5 vom 20. März, 20. April und 5.Mai 1880, und im gleichen Jahr als Broschüre unter dem Titel „Socialisme utopique et socialisme scientifique". Die erste Ausgabe in deutscher Sprache erschien 1882 in Hottingen-Zürich. Nach der vierten, vervollständigten Ausgabe, Berlin 1891.
Sibliotfcfcqnxe de la REVUE SOCIALXSTTE X.
SOCIALISME UTOPIOÜE
ES SOCIALISME SdEHTlFIQVE
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FREDERIC ENGELS
Tradaetion fransaise par PAUL LAFARGUE
Prix: 50 Centimes
PARIS DERVEAUX I.IBRAIRE-ÄDITEUR 32, Hue d'A^gouleme, 32
1880
Titelblatt der ersten französischen Ausgabe von Friedrich Engels' Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"

Karl Marx [Vorbemerkung zur französischen Ausgabe (1880)[n3Ij
Die Seiten, die den Inhalt der vorliegenden Broschüre umfassen, wurden zuerst in drei Artikeln in der „Revue socialiste"11141 veröffentlicht als Übersetzung aus Friedrich Engels* neuester Arbeit „Die Umwälzung der Wissenschaft"111511 Friedrich Engels, einer der hervorragendsten Vertreter des modernen Sozialismus, wurde 1844 durch seine „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie"2 bekannt, die zuerst in den von Marx und Rüge in Paris herausgegebenen „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" erschienen. In den „Umrissen" sind bereits einige allgemeine Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus formuliert. In Manchester, wo Engels dann lebte, schrieb er (in deutscher Sprache) „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (1845)3, ein bedeutendes Werk, das Marx im „Kapital" gebührend würdigte. Während seines ersten Aufenthalts in England - wie auch später in Brüssel - war er Mitarbeiter an dem „Northern Star", dem offiziellen Organ der sozialistischen Bewegung, und an der „New Moral World"tU63 von Robert Owen. Während seines Aufenthalts in Brüssel gründeten er und Marx den kommunistischen Deutschen Arbeiterverein1451, der mit den flämischen und wallonischen Arbeiterklubs in Verbindung stand; und beide gaben gemeinsam mit Bornstedt die „Deutsche-Brüsseler-Zeitung" heraus. Auf Einladung des deutschen Komitees des Bundes der Gerechten (in London) wurden sie Mitglieder dieses Bundes, den Karl Schapper gegründet hatte, nachdem er als Teilnehmer an der Verschwörung Blanquis 1839 aus Frank
1 In der von Lafargue unterzeichneten Veröffentlichung folgt der Zusatz: „Sie sind vom Verfasser durchgesehen, der im dritten Teil verschiedene Zusätze gemacht hat, um dem französischen Leiser die dialektische Entwicklung der ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion verständlich zu machen." - 2 siehe Band 1 unserer Ausgabe, S.499-524 3 siehe Band 2 unserer Ausgabe, S.229- 506
reich geflohen war. Nachdem die in Geheimbünden üblichen Formen beseitigt worden waren, wurde der Bund in den internationalen Band der Kom~ munisten umgebildet. Nichtsdestoweniger mußte der Bund unter den gegebenen Umständen vor den Regierungen geheimgehalten werden. 1847 wurden Marx und Engels auf dem internationalen Kongreß des Bundes in London beauftragt, das „Manifest der Kommunistischen Partei"1 abzufassen, das unmittelbar vor der Februarrevolution veröffentlicht und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurde.2 Im gleichen Jahr wirkten sie mit an der Gründung der BrihsderDenukratischm Gesellschaft, einer öffentlichen und internationalen Vereinigung, in der Vertreter der bürgerlichen Radikalen und der sozialistischen Arbeiter zusammentrafen. Nach der Februarrevolution wurde Engels einer der Redakteure der „Neuen Rheinischen Zeitung", die 1848 von Marx in Köln gegründet und im Mai 1849 durch einen preußischen coup d'etat unterdrückt wurde. Nachdem Engels an dem Elberfelder Aufstand teilgenommen hatte, machte er die Badener Kampagne gegen die Preußen (Juni und Juli 1849) als Adjutant Willichs mit, der damals Oberst eines Bataillons Freischärler war.11171 In London war er 1850 Mitarbeiter der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue", die von Marx herausgegeben und in Hamburg gedruckt wurde. In ihr veröffentlichte Engels zum erstenmal die Arbeit „Der deutsche Bauernkrieg"3, die 19 Jahre später in Leipzig als Broschüre erschien und drei Ausgaben erlebte. Nach dem Wiederaufkommen der sozialistischen Bewegung in Deutschland schrieb Engels die bedeutendsten der im „Volksstaat" und im -Vorwärts" veröffentlichten Artikel, von denen die meisten als Flugschriften nachgedruckt worden sind, wie „Soziales aus Rußland"4, „Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag"5, »Zur Wohnungsfrage"6, „Die Bakunisten an der Arbeit"7 etc. Nachdem Engels 1870 von Manchester nach London gezogen war, wurde er Mitglied des Generalrats der Internationale, von dem er mit der Korrespondenz für Spanien, Portugal und Italien beauftragt war.
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.459- 493 - 3 in der von Lafargue unterzeichneten Veröffentlichung folgt der Zusatz: »,Das Kommunistische Manifest* ist eines der wertvollsten Dokumente des modernen Sozialismus. Es bleibt auch heute noch eine der stärksten und klarsten Darlegungen von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Herausbildung des Proletariats, das der kapitalistischen Gesellschaft ein Ende machen muß; hier, wie auch in ,Misere de la philosophie* von Marx, ein Jahr zuvor veröffentlicht, findet man zum erstenmal die Theorie des Klassenkampfs klar formuliert.'' - 3 siehe Band 7 unserer Ausgabe, S.327-453 - 4 siehe Band 18' unserer Ausgabe, S.556- 567 - 6 siehe vorl. Band, S.37-51 - 9 siehe Band 18 unserer Ausgabe. S.209-287 - 7 ebenda, S.476-493
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Letzte Seite von Karl Marx* Vorbemerkung zur französischen Ausgabe der Schrift „Die Entwicklung des Soziaiismus von der Utopie zur Wissenschaft* von Friedrich Engels

Die jüngste Artikelreihe, die er ironisch „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" betitelte (in Erwiderung auf die angeblich neuen Theorien von Herrn Eugen Dühring über die Wissenschaft im allgemeinen und den Sozialismus im besonderen), sandte er an den „Vorwärts". Diese Reihe wurde zu einem Band vereinigt und hatte bei den deutschen Sozialisten großen Erfolg. Wir bringen in der vorliegenden Broschüre die treffendsten Auszüge aus dem theoretischen Teil dieses Buchs, die gewissermaßen eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus bilden.
Geschrieben um den 4./5.Mai 1880. Nach der Handschrift. Aus dem Französischen.
Friedrich Engels Vorwort zur ersten Auflage [in deutscher Sprache (1882)]
Die nachfolgende Schrift ist entstanden aus drei Kapiteln meiner Arbeit: „Herrn E. Dührings Umwälzung der Wissenschaft", Leipzig 1878= Ich stellte sie für meinen Freund Paul Lafargue zusammen zur Übersetzung im Französische und fügte einige weitre Ausführungen hinzu. Die von mir durchgesehene französische Übersetzung erschien zuerst in der „Revue socialiste* und sodann selbständig unter dem Titel: „Socialisme utopique et socialisme sdentifique", Paris 9880. Eine nach der französischen Übersetzung ausgeführte Übertragung ins Polnische ist soeben in Genf erschienen und führt den Titel: „Socyjalizm utopijny a naukowy". Imprimerie de FAurore» Gen&ve 1882. Der überraschende Erfolg der Lafargueschen Übersetzung in den Ländern französischer Zunge und namentlich in Frankreich selbst mußte mir die Frage aufdrängen, ob nicht eine deutsche Separatausgabe dieser drei Kapitel ebenfalls von Nutzen sein werde. Da teilte mir die Redaktion des Züricher »Sozialdemokrat"11181 mit, daß innerhalb der deutschen sozialdemokratischen Partei allgemein das Verlangen nach Herausgabe neuer Propagandabroschüren erhoben werde, und frag mich, ob ich nicht jene drei Kapitel dazu bestimmen wolle. Ich war damit selbstredend einverstanden und stellte meine Arbeit zur Verfügung. Aber sie war ursprünglich gar nicht für die unmittelbare Volkspropaganda geschrieben. Wie sollte eine zunächst rein wissenschaftliche Arbeit sich dazu eignen? Welche Änderungen in Form und Inhalt waren nötig? Was die Form angeht, so konnten nur die vielen Fremdwörter Bedenken erregen. Aber schon Lassalle war in seinen Reden und Propagandaschriften durchaus nicht sparsam mit Fremdwörtern, und man hat sich meines Wissens nicht darüber beklagt. Seit jener Zeit haben unsre Arbeiter weit mehr und weit regelmäßiger Zeitungen gelesen und sind dadurch im selben Grad mehr mit Fremdwörtern vertraut worden. Ich habe mich darauf beschränkt,
alle unnötigen Fremdwörter zu entfernen. Bei den unvermeidlichen habe ich auf Beifügung sogenannter erklärender Übersetzungen verzichtet. Die unvermeidlichen Fremdwörter, meist allgemein angenommene wissenschaftlich-technische Ausdrücke, wären eben nicht unvermeidlich, wenn sie übersetzbar wären. Die Übersetzung verfälscht also den Sinn; statt zu erklären, verwirrt sie. Mündliche Auskunft hilft da weit mehr. Der Inhalt dagegen, glaube ich behaupten zu können, wird den deutschen Arbeitern wenig Schwierigkeiten machen. Schwierig ist überhaupt nur der dritte Abschnitt, aber den Arbeitern, deren allgemeine Lebensbedingungen er zusammenfaßt, weit weniger als den „gebildeten" Bourgeois. Bei den zahlreichen erläuternden Zusätzen, die ich hier gemacht, habe ich in der Tat weniger an die Arbeiter gedacht als an „gebildete" Leser; Leute etwa, wie der Herr Abgeordnete von Eynern, der Herr Geheimrat Heinrich von Sybel und andere Treitschkes, beherrscht von dem unwiderstehlichen Drang, ihre grauenhafte Unkenntnis und ihren daraus begreiflichen kolossalen Mißverstand des Sozialismus immer aufs neue schwarz auf weiß zum besten zu geben. Wenn Don Quijote seine Lanze gegen Windmühlen einlegt, so ist das seines Amtes und in seiner Rolle; dem Sancho Pansa aber können wir so etwas unmöglich erlaubep. Solche Leser werden sich auch wundern, in einer skizzierten Entwicklungsgeschichte des Sozialismus auf die Kant-Laplacesche Kosmogonie, auf die moderne Naturwissenschaft und Darwin, auf die klassische deutsche Philosophie und Hegel zu stoßen. Aber der wissenschaftliche Sozialismus ist nun einmal ein wesentlich deutsches Produkt und konnte nur bei der Nation entstehn, deren klassische Philosophie die Tradition der bewußten Dialektik lebendig erhalten hatte: in Deutschland*. Die materialistische
* „In Deutschland" ist ein Schreibfehler. Es muß heißen: „bei Deutschen". Denn so unumgänglich einerseits die deutsche Dialektik war bei der Genesis des wissenschaftlichen Sozialismus, ebenso unumgänglich dabei waren die entwickelten ökonomischen und politischen Verhältnisse Englands und Frankreichs. Die, anfangs der vierziger Jahre noch weit mehr als heute, zurückgebliebne ökonomische und politische Entwicklungsstufe Deutschlands konnte höchstens sozialistische Karikaturen erzeugen (vgl. „Kommun. Manifest", III, 1, c: „Der deutsche oder .wahre' Sozialismus"1). Erst indem die in England und Frankreich erzeugten ökonomischen und politischen Zustande der deutsch-dialektischen Kritik unterworfen wurden, erst da konnte ein wirkliches Resultat gewonnen werden. Nach dieser Seite hin ist also der wissenschaftliche Sozialismus kein ausschließlich deutsches, sondern ebensosehr ein internationales Produkt . /DieseFußnote wurde von Engels in der dritten deutschen Auflage von 1883eingefügt.]
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.485 -488
Geschichtsanschauung und ihre spezielle Artwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik. Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragne Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus» so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugin für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit - wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.
London, 21 .September 1882
Friedrich Engels
Friedrich Engels Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft
I
Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie. Aber seiner theoretischen Form nach erscheint er anfänglich als eine weitergetriebne, angeblich konsequentere Fortführung der von den großen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze/Wie jede neue Theorie, mußte er zunächst anknüpfen an das vorgefundne Gedankenmaterial, so sehr auch seine Wurzel in den materiellen ökonomischen Tatsachen lag. Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Köpf gestellt wurde*, zuerst in dem Sinn,
* Folgendes ist die Stelle über die französische Revolution: „Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß
daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundnen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis unten umgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte. Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eines der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde - das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag11191 ins Leben trat und hur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte. Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und dem als Vertreterin der gesamten übrigen Gesellschaft auftretenden Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten» von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es doch gerade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter nicht einer besondern Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit hinzustellen. Noch mehr. Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehn ohne Lohnarbeiter, und im selben Verhältnis wie der mittelalterliche Zunftbürger sich
der Nüs, die Vernunft, die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch (kaugekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur Versöhnung des Gottlichen mit der Welt nun erst gekommen." (Hegel, „Philosophie der Geschichte", 1840, S.535.) - Sollte es nicht hohe Zeit sein, gegen solche gemeingefährliche Umsturzlehren des weiland Professor Hegel das Sozialistengesetz in Bewegung zu setzen?
zum modernen Bourgeois, im selben Verhältnis entwickelte sich auch der Zunftgeselle und nichtzünftige Taglöhner zum Proletarier. Und wenn auch im ganzen und großen das Bürgertum beanspruchen durfte, im Kampf mit dem Adel gleichzeitig die Interessen der verschiednen arbeitenden Klassen jener Zeit mit zu vertreten, so brachen doch, bei jeder großen bürgerlichen Bewegung, selbständige Regungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin des modernen Proletariats war. So in der deutschen Reformations- und der Bauernkriegszeit die Wiedertäufer und Thomas Münzer ; in der großen englischen Revolution die Levellers [12°3; in der großen französischen Revolution Babeuf. Neben diesen revolutionären Schilderhebungen einer noch unfertigen Klasse gingen entsprechende theoretische Kundgebungen; im 16. und 17. Jahrhundert utopische Schilderungen idealer Geseilschaftszustände11211; im 18. schon direkt kommunistische Theorien (Morelly und Mably). Die Forderung der Gleichheit wurde nicht mehr auf die politischen Rechte beschränkt, sie sollte sich auch auf die gesellschaftliche Lage der einzelnen erstrecken; nicht bloß die Klassenvorrechte sollten aufgehoben werden, sondern die Klassenunterschiede selbst. Ein asketischer, allen Lebensgenuß verpönender, an Sparta anknüpfender Kommunismus war so die erste Erscheinungsform der neuen Lehre. Dann folgten die drei großen Utopisten; Saint-Simon, bei dem die bürgerliche Richtung noch neben der proletarischen eine gewisse Geltung behielt; Fourier, und Owen, der, im Lande der entwickeltsten kapitalistischen Produktion und unter dem Eindruck der durch diese erzeugten Gegensätze, seine Vorschläge zur Beseitigung der Klassenunterschiede in direkter Anknüpfung an den französischen Materialismus systematisch entwickelte. Allen dreien ist gemeinsam» daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischen historisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer, wollen sie nicht zunächst eine bestimmte Klasse, sondern sogleich die ganze Menschheit befreien. Wie jene wollen sie das Reich der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit einführen; aber ihr Reich ist himmelweit verschieden von dem der Aufklärer. Auch die nach den Grundsätzen dieser Aufklärer eingerichtete bürgerliche Welt ist unvernünftig und ungerecht und wandert daher ebensogut in den Topf des Verwerflichen wie der Feudalismus und alle früheren Gesellschaftszustände. Daß die wirkliche Vernunft und Gerechtigkeit bisher nicht in der Welt geherrscht haben, kommt nur daher, daß man sie nicht richtig erkannt hatte. Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der jetzt aufgetreten und der die Wahrheit erkannt hat; daß er jetzt aufgetreten» daß die Wahrheit grade jetzt erkannt worden ist, ist nicht ein aus dem Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung mit
Notwendigkeit folgendes, unvermeidliches Ereignis, sondern ein reiner Glücksfall. Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart. Wir sahen, wie die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, die Vorbereiter der Revolution, an die Vernunft appellierten als einzige Richterin über alles, was bestand. Ein vernünftiger Staat, eine vernünftige Gesellschaft sollten hergestellt, alles, was der ewigen Vernunft widersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden. Wir sahen ebenfalls, daß diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts andres war als der idealisierte Verstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers. Als nun die französische Revolution diese Vernunftgesellschaft und diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellten sich daher die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüber den früheren Zuständen, keineswegs als absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat war vollständig in die Brüche gegangen. Der Rousseausche Gesellschaf tsvertrag hatte seine Verwirklichung gefunden in der Schreckenszeit, aus der das an seiner eignen politischen Befähigung irre gewordne Bürgertum sich geflüchtet hatte zuerst in die Korruption des Direktoriums -122] und schließlich unter den Schutz des napoleonischen Despotismus. Der verheißne ewige Friede war umgeschlagen in einen endlosen Eroberungskrieg. Die Vernunftgesellschaft war nicht besser gefahren. Der Gegensatz von reich und arm, statt sich aufzulösen im allgemeinen Wohlergehn, war verschärft worden durch die Beseitigung der ihn überbrückenden zünftigen und andren Privilegien und der ihn mildernden kirchlichen Wohltätigkeitsanstalten; die jetzt zur Wahrheit gewordne „Freiheit des Eigentums" von feudalen Fesseln stellte sich heraus für den Kleinbürger und Kleinbauern als die Freiheit, dies von der übermächtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes erdrückte kleine Eigentum an eben diese großen Herren zu verkaufen und so für den Kleinbürger und Kleinbauern sich zu verwandeln in die Freiheit vom Eigentum; der Aufschwung der Industrie auf kapitalistischer Grundlage erhob Armut und Elend der arbeitenden Massen zu einer Lebensbedingung der Gesellschaft. Die bare Zahlung wurde mehr und mehr, nach Carlyles Ausdruck, das einzige Bindeglied der Gesellschaft. Die Zahl der Verbrechen nahm zu von Jahr zu Jahr. Waren die früher am hellen Tage sich ungescheut ergehenden feudalen Laster zwar nicht vernichtet, so doch vorläufig in den Hintergrund gedrängt, so schössen dafür die, bisher nur in der Stille gehegten, bürgerlichen Laster um so üppiger in die Blüte. Der Handel entwickelte sich mehr und mehr
zur Prellerei. Die „Brüderlichkeit" der revolutionären Devise11235 verwirklichte sich in den Schikanen und dem Neid des Konkurrenzkampfs. An die Stelle der gewaltsamen Unterdrückung trat die Korruption, an die Stelle des Degens, als des ersten gesellschaftlichen Machthebels, das Geld. Das Recht der ersten Nacht ging über von den Feudalherren auf die bürgerlichen Fabrikanten. Die Prostitution breitete sich aus in bisher unerhörtem Maß. Die Ehe selbst blieb nach wie vor gesetzlich anerkannte Form, offizieller Deckmantel der Prostitution, und ergänzte sich zudem durch reichlichen Ehebruch. Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den „Sieg der Vernunft" hergestellten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder. Es fehlten nur noch die Leute, die diese Enttäuschung konstatierten, und diese kamen mit der Wende des Jahrhunderts. 1802 erschienen Saint-Simons Genfer Briefe; 1808 erschien Fouriers erstes Werk, obwohl die Grundlage seiner Theorie schon von 1799 datierte; am 1 .Januar 1800 übernahm Robert Owen die Leitung von New Lanark.11241 Um diese Zeit aber war die kapitalistische Produktionsweise, und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, noch sehr unentwickelt. Die große Industrie, in England eben erst entstanden, war in Frankreich noch unbekannt. Aber erst die große Industrie entwickelt einerseits die Konflikte, die eine Umwälzung der Produktionsweise, eine Beseitigung ihres kapitalistischen Charakters, zur zwingenden Notwendigkeit erheben Konflikte nicht nur der von ihr erzeugten Klassen, sondern auch der von ihr geschaffnen Produktivkräfte und Austauschformen selbst -; und sie entwickelt andrerseits in eben diesen riesigen Produktivkräften auch die Mittel, diese Konflikte zu lösen. Waren also um 1800 die der neuen Gesellschaftsordnung entspringenden Konflikte erst im Werden begriffen, so gilt dies noch weit mehr von den Mitteln ihrer Lösung. Hatten die besitzlosen Massen von Paris während der Schreckenszeit einen Augenblick die Herrschaft erobern und dadurch die bürgerliche Revolution, selbst gegen das Bürgertum, zum Siege führen können, so hatten sie damit nur bewiesen, wie unmöglich ihre Herrschaft unter den damaligen Verhältnissen auf die Dauer war. Das sich aus diesen besitzlosen Massen eben erst als Stamm einer neuen Klasse absondernde Proletariat, noch ganz unfähig zu selbständiger politischer Aktion, stellte sich dar als unterdrückter, leidender Stand, dem in seiner Unfähigkeit, sich selbst zu helfen, höchstens von außen her, von oben herab Hülfe zu bringen war. Diese geschichtliche Lage beherrschte auch die Stifter des Sozialismus. Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassen
läge, entsprachen unreife Theorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände; diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelnheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen. Dies einmal festgestellt, halten wir uns bei dieser, jetzt ganz der Vergangenheit angehörigen Seite keinen Augenblick länger auf. Wir können es literarischen Kleinkrämern überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuldauben und die Überlegenheit ihrer eignen nüchternen Denkungsart geltend zu machen gegenüber solchem „Wahnwitz*4. Wir freuen uns lieber der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen und für die jene Philister blind sind. Saint-Simon war ein Sohn der großen französischen Revolution, bei deren Ausbruch er noch nicht dreißig Jahre alt war. Die Revolution war der Sieg des dritten Standes, d.h. der großen, in der Produktion und im Handel tätigen Masse der Nation, über die bis dahin bevorrechteten mäßigen Stände, Adel und Geistlichkeit. Aber der Sieg des dritten Standes hatte sich bald enthüllt als der ausschließliche Sscg eines kleinen Teils dieses Standes, als die Eroberung der politischen Macht durch die gesellschaftlich bevorrechtete Schicht desselben, die besitzende Bourgeoisie. Und zwar hatte sich diese Bourgeoisie noch während der Revolution rasch entwickelt vermittelst der Spekulation in dem konfiszierten und dann verkauften Grundbesitz des Adels und der Kirche sowie vermittelst des Betrugs an der Nation durch die Armeelieferanten. Es war gerade die Herrschaft dieser Schwindler, die unter dem Direktorium Frankreich und die Revolution an den Rand des Untergangs brachte und damit Napoleon den Vorwand gab zu seinem Staatsstreich. So nahm im Kopf Saint-Simons der Gegensatz von drittem Stand und bevorrechteten Ständen die Form an des Gegensatzes von „Arbeitern" und „Müßigen". Die Müßigen, das waren nicht nur die alten Bevorrechteten, sondern auch alle, die ohne Beteiligung an Produktion und Handel von Renten lebten. Und die „Arbeiter", das waren nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch die Fabrikanten, die Kaufleute, die Bankiers. Daß die Müßigen die Fähigkeit zur geistigen Leitung und politischen Herr
schaft verloren, stand fest und war durch die Revolution endgültig besiegelt. Daß die Besitzlosen diese Fähigkeit nicht besaßen, das schien Saint-Simon bewiesen durch die Erfahrungen der Schreckenszeit. Wer aber sollte leiten und herrschen? Nach Saint-Simon die Wissenschaft und die Industrie, beide zusammengehalten durch ein neues religiöses Band, bestimmt, die seit der Reformation gesprengte Einheit der religiösen Anschauungen wiederherzustellen, ein notwendig mystisches und streng hierarchisches „neues Christentum". Aber die Wissenschaft, das waren die Schulgelehrten, und die Industrie, das waren in erster Linie die aktiven Bourgeois, Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers. Diese Bourgeois sollten sich zwar in eine Art öffentlicher Beamten, gesellschaftlicher Vertrauensleute, verwandeln, aber doch gegenüber den Arbeitern eine gebietende und auch ökonomisch bevorzugte Stellung behalten. Namentlich sollten die Bankiers durch Regulierung des Kredits die gesamte gesellschaftliche Produktion zu regeln berufen sein. Diese Auffassung entsprach ganz einer Zeit, wo in Frankreich die große Industrie und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat eben erst im Entstehn war. Aber was Saint-Simon besonders betont, ist die?: Es sei ihm überall und immer zuerst zu tun um das Geschick .„der zahlreichsten und ärmsten Klasse" (la classe la plus nombreuse et la plus pauvre). Saint-Simon stellt bereits in seinen Genfer Briefen den Satz auf, daß „alle Menschen arbeiten sollen". In derselben Schrift weiß er schon, daß die Schreckensherrschaft die Herrschaft der besitzlosen Massen war. „Seht an", ruft er ihnen zu, „was sich in Frankreich ereignet hat zu der Zeit, als eure Kameraden dort geherrscht, sie haben die Hungersnot erzeugt. Die französische Revolution aber als einen Klassenkampf, und zwar nicht bloß zwischen Adel und Bürgertum, sondern zwischen Adel, Bürgertum und Besitzlosen aufzufassen, war im Jahr 1802 eine höchst geniale Entdeckung. 1816 erklärt er die Politik für die Wissenschaft von der Produktion und sagt voraus das gänzliche Aufgehn der Politik in der Ökonomie.E1261 Wenn hierin die Erkenntnis, daß die ökonomische Lage die Basis der politischen Einrichtungen ist, nur erst im Keime sich zeigt, so ist doch die Überführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produktionsprozessen, also die neuerdings mit so viel Lärm breitgetretne „Abschaffung des Staates" hier schon klar ausgesprochen. Mit gleicher Überlegenheit über seine Zeitgenossen proklamiert er 1814, unmittelbar nach dem Einzug der Verbündeten in
Paris, und noch 1815, während des Kriegs der hundert Tage, die Allianz Frankreichs mit England und in zweiter Linie heider Länder mit Deutschland als einzige Gewähr für die gedeihliche Entwicklung und den Frieden Europas.11275 Allianz den Franzosen von 1815 predigen mit den Siegern von Waterloo dazu gehörte in der Tat ebensoviel IVIut wie geschichtlicher Fernblick. Wenn wir bei Saint-Simon eine geniale Weite des Blicks entdecken, vermöge deren fast alle nicht streng ökonomischen Gedanken der späteren Sozialisten bei ihm im Keime enthalten sind, so finden wir bei Fourier eine echt französisch-geistreiche, aber darum nicht minder tief eindringende Kritik der bestehenden Gesellschaftszustände. Fourier nimmt die Bourgeoisie, ihre begeisterten Propheten von vor und ihre interessierten Lobhudler von nach der Revolution beim Wort. Er deckt die materielle und moralische Misere der bürgerlichen Welt unbarmherzig auf; er hält daneben sowohl die gleißenden Versprechungen der frühern Aufklärer von der Gesellschaft, in der nur die Vernunft herrschen werde, von der alles beglückenden Zivilisation, von der grenzenlosen menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, wie auch die schönfärbenden Redensarten der gleichzeitigen Bourgeois-Ideologen; er weist nach, wie der hochtönendsten Phrase überall die erbärmlichste Wirklichkeit entspricht, und überschüttet dies rettungslose Fiasko der Phrase mit beißendem Spott. Fourier ist nicht nur Kritiker, seine ewig heitre Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größten Satiriker aller Zeiten. Die mit dem Niedergang der Revolution emporblühende Schwindelspekulation ebenso wie die allgemeine Krämerhaftigkeit des damaligen französischen Handels schildert er ebenso meisterhaft wie ergötzlich. Noch meisterhafter ist seine Kritik der bürgerlichen Gestaltung der Geschlechtsverhältnisse und der Stellung des Weibes in der bürgerlichen Gesellschaft. Er spricht es zuerst aus, daß in einer gegebnen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist.11295 Am großartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft. Er teilt ihren ganzen bisherigen Verlauf in vier Entwicklungsstufen: Wildheit, Patriarchat, Barbarei, Zivilisation, welch letztere mit der jetzt sogenannten bürgerlichen Gesellschaft, also mit der seit dem 16. Jahrhundert eingeführten Gesellschaftsordnung zusammenfällt, und weist nach, „daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt", daß die Zivilisation sich in einem „fehlerhaften Kreislauf" bewegt, in
Widersprüchen, die sie stets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, so daß sie stets das Gegenteil erreicht von dem, was sie erreichen will oder erlangen zu wollen vorgibt.11301 So daß z.B.
»in der Zivilisation die Armut aas dem Überfluß selbst entspringt" S131^ Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, daß jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat11321, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an. Wie Kant den künftigen Untergang der Erde in die Naturwissenschaft, führt Fourier den künftigen Untergang der Menschheit in die Geschichtsbetrachtung ein. Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der schläfrige Entwicklungsgang der Manufakturzeit verwandelte sich in eine wahre Sturm- und Drangperiode der Produktion. Mit stets wachsender Schnelligkeit vollzog sich die Scheidung der Gesellschaft in große Kapitalisten und besitzlose Proletarier, zwischen denen, statt des frühern stabilen Mittelstandes, jetzt eine unstete Masse von Handwerkern und Kleinhändlern eine schwankende Existenz führte, der fluktuierendste Teil der Bevölkerung. Noch war die neue Produktionsweise erst im Anfang ihres aufsteigenden Asts; noch war sie die normale, regelrechte, die unter den Umständen einzig mögliche Produktionsweise. Aber schon damals erzeugte sie schreiende soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosen Bevölkerung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte - Lösung aller hergebrachten Bande des Herkommens, der patriarchalischen Unterordnung, der FamilieÜberarbeit besonders der Weiber und Kinder in schreckenerregendem Maß - massenhafte Entsittlichung der plötzlich in ganz neue Verhältnisse, vom Land in die Stadt, vom Ackerbau in die Industrie, aus stabilen in täglich wechselnde unsichere Lebensbedingungen geworfnen arbeitenden Klasse. Da trat ein neunundzwanzigjähriger Fabrikant als Reformator auf, ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters und zugleich ein geborner Lenker von Menschen wie wenige. Robert Owen hatte sich die Lehre der materialistischen Aufklärer angeeignet, daß der Charakter des Menschen das Produkt sei einerseits der angebornen
Organisation und andrerseits der den Menschen während seiner Lebenszeit» besonders aber während der Entwicklungsperiode umgebenden Umstände. In der industriellen Revolution sahen die meisten seiner Standesgenossen nur Verwirrung und Chaos, gut im trüben zu fischen und sich rasch zu bereichern. Er sah in ihr die Gelegenheit, seinen Lieblingssatz in Anwendung und damit Ordnung in das Chaos zu bringen. Er hatte es schon in Manchester als Dirigent über fünfhundert Arbeiter einer Fabrik erfolgreich versucht, von 1800 bis 1829 leitete er die große Baumwollspinnerei von New Lanark in Schottland als dirigierender Associ6 in demselben Sinn, nur mit größrer Freiheit des Handelns und mit einem Erfolg, der ihm europäischen Ruf eintrug. Eine allmählich auf 2500 Köpfe anwachsende, ursprünglich aus den gemischtesten und größtenteils stark demoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung wandelte er um in eine vollständige Musterkolonie, in der Trunkenheit, Polizei, Strafrichter, Prozesse, Armenpflege, Wohltätigkeitsbedürfnis unbekannte Dinge waren. Und zwar einfach dadurch, daß er die Leute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachsende Generation sorgfältig erziehen ließ. Er war der Erfinder der Kleinkinderschulen und führte sie hier zuerst ein. Vom zweiten Lebensjahre an kamen die Kinder in die Schule, wo sie sich so gut unterhielten, daß sie kaum wieder heimzubringen waren. Während seine Konkurrenten 13-14 Stunden täglich arbeiten ließen, wurde in New Lanark nur 101/2 Stunden gearbeitet. Als eine Baumwollkrisis zu viermonatlichem Stillstand zwäng, wurde den feiernden Arbeitern der volle Lohn fortbezahlt. Und dabei hatte das Etablissement seinen Wert mehr als verdoppelt und bis zuletzt den Eigentümern reichlichen Gewinn abgeworfen. Mit alledem war Owen nicht zufrieden. Die Existenz, die er seinen Arbeitern geschaffen, war in seinen Augen noch lange keine menschenwürdige; „die Leute waren meine Sklaven"; die verhältnismäßig günstigen Umstände, in die er sie versetzt, waren noch weit entfernt davon, eine allseitige rationelle Entwicklung des Charakters und des Verstandes, geschweige eine freie Lebenstätigkeit zu gestatten, „Und doch produzierte der arbeitende Teil dieser 2500 Menschen ebensoviel wirklichen Reichtum für die Gesellschaft, wie kaum ein halbes Jahrhundert vorher eine Bevölkerung von 600 000 erzeugen konnte. Ich frug mich: Was wird aus der Differenz zwischen dem von 2500 Personen verzehrten Reichtum und demjenigen, den die 600 000 hätten verzehren müssen?" Die Antwort war klar. Er war verwandt worden, um den Besitzern des
Etablissements 5% Zinsen vom Anlagekapital und außerdem noch mehr als 300 000 Pfd. St. (6 000 000 M.) Gewinn abzuwerfen. Und was von New Lanark, galt in noch höherem Maß von allen Fabriken Englands. „Ohne diesen neuen, durch die Maschinen geschaffnen Reichtum hätten die Kriege zum Sturz Napoleons und zur Aufrechterhaltung der aristokratischen Gesellschaftsprinzipien nicht durchgeführt werden können. Und doch war diese neue Macht die Schöpfung der arbeitenden Klasse." * Ihr gehörten daher auch die Früchte. Die neuen gewaltigen Produktivkräfte, bisher nur der Bereicherung einzelner und der Knechtung der Massen dienend, boten für Owen die Grundlage zu einer gesellschaftlichen Neubildung und waren dazu bestimmt, als gemeinsames Eigentum aller nur für die gemeinsame Wohlfahrt aller zu arbeiten. Auf solche rein geschäftsmäßige Weise, als Frucht sozusagen der kaufmännischen Berechnung, entstand der Owensche Kommunismus. Denselben auf das Praktische gerichteten Charakter behält er durchweg. So schlug Owen 1823 Hebung des irischen Elends durch kommunistische Kolonien vor und legte vollständige Berechnungen über Anlagekosten, jährliche Auslagen und voraussichtliche Erträge bei.[1331 So ist in seinem definitiven Zukunftsplan11841 die technische Ausarbeitung der Einzelnheiten, einschließlich Grundriß, Aufriß und Ansicht aus der Vogelperspektive, mit solcher Sachkenntnis durchgeführt, daß, die Owensche Methode der Gesellschaftsreform einmal zugegeben, sich gegen die Detaileinrichtung selbst vom fachmännischen Standpunkt nur wenig sagen läßt. Der Fortschritt zum Kommunismus war der Wendepunkt in Owens Leben. Solange er als bloßer Philanthrop aufgetreten, hatte er nichts geerntet als Reichtum, Beifall, Ehre und Ruhm. Er war der populärste Mann in Europa. Nicht nur seine Standesgenossen, auch Staatsmänner und Fürsten hörten ihm beifällig zu. Als er aber mit seinen kommunistischenTheorien hervortrat, wendete sich das Blatt. Drei große Hindernisse waren es, die ihm vor allem den Weg zur gesellschaftlichen Reform zu versperren schienen: das Privateigentum, die Religion und die gegenwärtige Form der Ehe. Er wußte, was ihm bevorstand, wenn er sie angriff: die allgemeine Achtung durch die offizielle Gesellschaft, der Verlust seiner ganzen sozialen Stellung. Aber er ließ sich nicht abhalten, sie rücksichtslos anzugreifen,
* Aus: „The Revolution in Mind and Practice", einer an alle „roten Republikaner, Kommunisten und Sozialisten Europas" gerichteten und der französischen provisorischen Regierung 1848, aber auch „der Königin Viktoria und ihren verantwortlichen Ratgebern" zugesandten Denkschrift.
und es geschah, wie er vorhergesehn. Verbannt aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegen von der Presse, verarmt durch fehlgeschlagne kommunistische Versuche in Amerika, in denen er sein ganzes Vermögen geopfert, wandte er sich direkt an die Arbeiterklasse und blieb in ihrer Mitte noch dreißig Jahre tätig. Alle gesellschaftlichen Bewegungen, alle wirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen, knüpfen sich an den Namen Owen. So setzte er 1819, nach fünfjähriger Anstrengung, das erste Gesetz zur Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit in den Fabriken durch.11353 So präsidierte er dem ersten Kongreß, auf dem die Trades Unions von ganz England sich in eine einzige große Gewerksgenossenschaft vereinigten.11363 So führte er als Übergangsmaßregeln zur vollständig kommunistischen Einrichtung der Gesellschaft einerseits die Kooperativgesellschaften ein (Konsum- und Produktivgenossenschaften), die seitdem wenigstens den praktischen Beweis geliefert haben, daß sowohl der Kaufmann wie der Fabrikant sehr entbehrliche Personen sind; andrerseits die Arbeitsbasarsi1371, Anstalten zum Austausch von Arbeitsprodukten vermittelst eines Arbeitspapiergelds, dessen Einheit die Arbeitsstunde bildete; Anstalten, die notwendig scheitern mußten, die aber die weit spätere Proudhonsche Tauschbank[1381 vollständig antizipierten, sich indes grade dadureh von dieser unterschieden, daß sie nicht das Universalheilmittel aller gesellschaftlichen Übel, sondern nur einen ersten Schritt zu einer weit radikalern Umgestaltung der Gesellschaft darstellten» Die Anschauungsweise der Utopisten hat die sozialistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts lange beherrscht und beherrscht sie zum Teil noch. Ihr huldigten noch bis vor ganz kurzer Zeit alle französischen und englischen Sozialisten, ihr gehört auch der frühere deutsche Kommunismus mit Einschluß Weitlings an. Der Sozialismus ist ihnen allen der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigne Kraft die Welt zu erobern; da die absolute Wahrheit unabhängig ist von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung, so ist es bloßer Zufall, wann und wo sie entdeckt wird. Dabei ist dann die absolute Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bei jedem Schulstifter verschieden; und da bei jedem die besondre Art der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bedingt ist durch seinen subjektiven Verstand, seine Lebensbedingungen, sein Maß von Kenntnissen und Denkschulung, so ist in diesem Konflikt absoluter Wahrheiten keine andre Lösung möglich, als daß sie sich aneinander abschleißen. Dabei konnte dann nichts andres herauskommen als eine Art von eklektischem Durchschnitts-Sozialismus, wie er in der Tat bis heute in den Köpfen
der meisten sozialistischen Arbeiter in Frankreich und England herrscht, eine äußerst mannigfaltige Schattierungen zulassende Mischung aus den weniger Anstoß erregenden kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen der verschiednen Sektenstifter, eine Mischung, die sich um so leichter bewerkstelligt, je mehr den einzelnen Bestandteilen im Strom der Debatte die scharfen Ecken der Bestimmtheit abgeschliffen sind wie runden Kieseln im Bach. Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, mußte er erst auf einen realen Boden gestellt werden.
II
Inzwischen war neben und nach der französischen Philosophie des 18 Jahrhunderts die neuere deutsche Philosophie entstanden und hatte in Hegel ihren Abschluß gefunden. Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens. Die alten griechischen Philosophen waren alle geborne, naturwüchsige Dialektiker» und der universellste Kopf unter ihnen, Aristoteles, hat auch bereits die wesentlichsten Formen des dialektischen Denkens untersucht. Die neuere Philosophie dagegen, obwohl auch in ihr die Dialektik glänzende Vertreter hatte (z.B. Descartes und Spinoza), war besonders durch englischen Einfluß mehr und mehr in der sog. metaphysischen Denkweise festgefahren, von der auch die Franzosen des 18. Jahrhunderts, wenigstens in ihren speziell philosophischen Arbeiten, fast ausschließlich beherrscht wurden. Außerhalb der eigentlichen Philosophie waren sie ebenfalls imstande, Meisterwerke der Dialektik zu liefern; wir erinnern nur an „Rameaus Neffen" von Diderot11393 und die „Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen" vcfn Rousseau. - Wir geben hier kurz das Wesentliche beider Denkmethoden an. Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zunächst also das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten noch mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge, die Zusammenhänge, als auf das, was sich bewegt, übergeht und zusammenhängt. Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen von Heraklit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles
fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. Aber diese Anschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes der Erscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzelheiten zu erklären, aus denen sich dies Gesamtbild zusammensetzt; und solange wir diese nicht kennen, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar. Um diese Einzelheiten zu erkennen, müssen wir sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besondren Ursachen und Wirkungen etc. untersuchen. Dies ist zunächst die Aufgabe der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung; Untersuchungszweige, die aus sehr guten Gründen bei den Griechen der klassischen Zeit einen nur untergeordneten Rang einnahmen, weil diese vor allem erst das Material dafür zusammenschleppen mußten. Erst nachdem der natürliche und geschichtliche Stoff bis auf einen gewissen Grad angesammelt ist, kann die kritische Sichtung, die Vergleichung beziehungsweise die Einteilung in Klassen, Ordnungen und Arten in Angriff genommen werden. Die Anfänge der exakten Naturforschung werden daher erst bei den Griechen der alexandrinischen Periode[140] und später, im Mittelalter, von den Arabern weiterentwickelt; eine wirkliche Naturwissenschaft datiert indes erst von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und von da an hat sie mit stets wachsender Geschwindigkeit Fortschritte gemacht. Die Zerlegung der Natur in ihre einzelnen Teile, die Sonderung der verschiednen Naturvorgänge und Naturgegenstände in bestimmte Klassen, die Untersuchung des Innern der organischen Körper nach ihren mannigfachen anatomischen Gestaltungen war die Grundbedingung der Riesenfortschritte, die die letzten vierhundert Jahre uns in der Erkenntnis der Natur gebracht. Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand; nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände; nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod. Und indem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus der Naturwissenschaft sich in die Philosophie übertrug, schuf sie die spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte, die metaphysische Denkweise. Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen; seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding ent
weder, oder es existiert nicht: Ein Ding kann ebensowenig zugleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehn ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äußerst einleuchtend, weil sie diejenige des sogenannten gesunden Menschenverstands ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbacknen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstands ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stößt doch jedesmal früher oder später auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergißt, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Für alltägliche Fälle wissen wir z.B. und können mit Bestimmtheit sagen, ob ein Tier existiert oder nicht; bei genauerer Untersuchung finden wir aber, daß dies manchmal eine höchst verwickelte Sache ist, wie das die Juristen sehr gut wissen, die sich umsonst abgeplagt haben, eine rationelle Grenze zu entdecken, von der an die Tötung des Kindes im Mutterleibe Mord ist; und ebenso unmöglich ist es, den Moment des Todes festzustellen, indem die Physiologie nachweist, daß der Tod nicht ein einmaliges, augenblickliches Ereignis, sondern ein sehr langwieriger Vorgang ist. Ebenso ist jedes organische Wesen in jedem Augenblick dasselbe und nicht dasselbe; in jedem Augenblick verarbeitet es von außen zugeführte Stoffe und scheidet andre aus, in jedem Augenblick sterben Zellen seines Körpers ab und bilden sich neue; je nach einer längern oder kürzern Zeit ist der Stoff dieses Körpers vollständig erneuert, durch andre Stoffatome ersetzt worden, so daß jedes organisierte1 Wesen stets dasselbe und doch ein andres ist. Auch finden wir bei genaurer Betrachtung, daß die beiden Pole eines Gegensatzes, wie positiv und negativ, ebenso untrennbar voneinander wie entgegengesetzt sind, und daß sie trotz aller Gegensätzlichkeit sich gegenseitig durchdringen; ebenso, daß Ursache und Wirkung Vorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeit haben, daß sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang mit dem Weltganzen betrachten, zusammengehn, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen
1 In der französischen Ausgabe: organische
fortwährend ihre Stelle wechseln, das, was jetzt oder hier Wirkung, dort oder"dann Ursache wird und umgekehrt. Alle diese Vorgänge und Denkmethoden passen nicht in den Rahmen des metaphysischen Denkens hinein. Für die Dialektik dagegen, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auffaßt, sind Vorgänge wie die obigen ebensoviel Bestätigungen ihrer eignen Verfahrungsweise. Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches, sich täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht, daß sie sich nicht im ewigen Einerlei eines stets wiederholten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche Geschichte durchmacht. Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist. Da aber die Naturforscher bis jetzt zu zählen sind, die dialektisch zu denken gelernt haben, so erklärt sich aus diesem Konflikt der entdeckten Resultate mit der hergebrachten Denkweise die grenzenlose Verwirrung, die jetzt in der theoretischen Naturwissenschaft herrscht und die Lehrer wie Schüler, Schriftsteller wie Leser zur Verzweiflung bringt. Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen. Und in diesem Sinne trat die neuere deutsche Philosophie auch sofort auf. Kant eröffnete seine Laufbahn damit, daß er das stabile Newtonsche Sonnensystem und seine - nachdem der famose erste Anstoß einmal gegeben - ewige Dauer auflöste in einen geschichtlichen Vorgang: in die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse. Dabei zog er bereits die Folgerung, daß mit dieser Entstehung ebenfalls der künftige Untergang des Sonnensystems notwendig gegeben sei. Seine Ansicht wurde ein halbes Jahrhundert später durch Laplace mathematisch begründet und noch ein halbes Jahrhundert später wies das Spektroskop die Existenz solcher glühenden Gasmassen, in verschiednen Stufen der Verdichtung, im Weltraum nach.tW11
Ihren Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegeischen System, worin zum erstenmal ~ und das ist sein großes Verdienst - die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den innern Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen. Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählichen Stufengang durch alle Irrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbaren Zufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde. Daß das Hegeische System die Aufgabe nicht löste, die es sich gestellt, ist hier gleichgültig. Sein epochemachendes Verdienst war, sie gestellt zu haben. Es ist eben eine Aufgabe, die Icein einzelner je wird lösen können. Obwohl Hegel - neben Saint-Simon - der universellste Kopf seiner Zeit war, so war er doch beschränkt erstens durch den notwendig begrenzten Umfang seiner eignen Kenntnisse und zweitens durch die ebenfalls nach Umfang und Tiefe begrenzten Kenntnisse und Anschauungen seiner Epoche. Dazu aber kam noch ein Drittes. Hegel war Idealist, d.h. ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oder weniger abstrakten Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwie schon vor der Welt existierenden „Idee". Damit war alles auf den Kopf gestellt und der wirkliche Zusammenhang der Welt vollständig umgekehrt. Und so richtig und genial daher auch manche Einzelzusammenhänge von Hegel aufgefaßt wurden, so mußte doch aus den angegebnen Gründen auch im Detail vieles geflickt, gekünstelt, konstruiert, kurz, verkehrt ausfallen. Das Hegeische System als solches war eine kolossale Fehlgeburt - aber auch die letzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem innern unheilbaren Widerspruch: einerseits hatte es zur wesentlichen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach die menschliche Geschichte ein Entwicklungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch die Entdeckung einer sogenannten absoluten Wahrheit seinen intellektuellen Abschluß finden kann; andrerseits aber behauptet es, der Inbegriff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein. Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; was
indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematische Erkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenfortschritte machen kann. Die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendig zum Materialismus, aber wohlgemerkt, nicht zum bloß metaphysischen, ausschließlich mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Gegenüber der naiv-revolutionären, einfachen Verwerfung aller frühern Geschichte sieht der moderne Materialismus in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der sowohl bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts wie noch bei Hegel herrschenden Vorstellung von der Natur als eines sich in engen Kreisläufen, bewegenden, sich stets gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Weltkörpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten von organischen Wesen, wie sie Linn6 gelehrt hatte, faßt er die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen, von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt werden, entstehn und vergehn, und die Kreisläufe, soweit sie überhaupt zulässig bleiben, unendlich großartigere Dimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte. Während jedoch der Umschwung in der Naturanschauung nur in dem Maß sich vollziehn konnte, als die Forschung den entsprechenden positiven Erkenntnisstoff lieferte, hatten sich schon viel früher historische Tatsachen geltend gemacht, die für die Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeiführten. 1831 hatte in Lyon der erste Arbeiteraufstand stattgefunden; 1838 bis 1842 erreichte die erste nationale Arbeiterbewegung, die der englischen Chartisten, ihren Höhepunkt. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas, in demselben Maß, wie sich dort einerseits die große Industrie, andrerseits die neueroberte politische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomie
von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie und dem allgemeinen Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz wurden immer schlagender von den Tatsachen Lügen gestraft. Alle diese Dinge waren nicht mehr abzuweisen, ebensowenig wie der französische und englische Sozialismus, der ihr theoretischer, wenn auch höchst unvollkommner Ausdruck war. Aber die alte idealistische Geschichtsauffassung, die noch nicht verdrängt war, kannte keine auf materiellen Interessen beruhenden Klassenkämpfe, überhaupt keine materiellen Interessen; die Produktion wie alle ökonomischen Verhältnisse kamen in ihr nur so nebenbei, als untergeordnete Elemente der „Kulturgeschichte" vor. Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, daß alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme der Urzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, daß diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Wort, der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären sind. Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreit, er hatte sie dialektisch gemacht - aber seine Auffassung der Geschichte war wesentlich idealistisch, jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären. Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich eritstandnen Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie. Seine Aufgabe war nicht mehr, ein möglichst vollkommnes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen, dem diese Klassen und ihr Widerstreit mit Notwendigkeit entsprungen, und in der dadurch geschaffnen ökonomischen Lage die Mittel zur Lösung des Konflikts zu entdecken. Mit dieser materialistischen Auffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissenschaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktions
weise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Je heftiger er gegen die von ihr unzertrennliche Ausbeutung der Arbeiterklasse eiferte, desto weniger war er imstand, deutlich anzugeben, worin diese Ausbeutung bestehe und wie sie entstehe. Es handelte sich aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; daß der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und daß dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie der Produktion von Kapital war erklärt. Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelnheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.
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Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der ök onomie der betreffenden Epoche. Die erwachende Einsicht, daß die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, daß Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, daß in den Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt. Damit ist zugleich gesagt, daß die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Mißstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst - mehr oder minder entwickelt - vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken. Wie steht es nun hiernach mit dem modernen Sozialismus? Die bestehende Gesellschaftsordnung - das ist nun so ziemlich allgemein zugegeben - ist geschaffen worden von der jetzt herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Die der Bourgeoisie eigentümliche Produktionsweise, seit
Marx mit dem Namen kapitalistische Produktionsweise bezeichnet, war unverträglich mit den lokalen und ständischen Privilegien wie mit den gegenseitigen persönlichen Banden der feudalen Ordnung; die Bourgeoisie zerschlug die feudale Ordnung und stellte auf ihren Trümmern die bürgerliche Gesellschaftsverfassung her, das Reich der freien Konkurrenz, der Freizügigkeit, der Gleichberechtigung der Warenbesitzer und wie die bürgerlichen Herrlichkeiten alle heißen. Die kapitalistische Produktionsweise konnte sich jetzt frei entfalten. Die unter der Leitung der Bourgeoisie herausgearbeiteten Produktionsverhältnisse1 entwickelten sich, seit der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie die alte Manufaktur in die große Industrie umgewandelt, mit bisher unerhörter Schnelligkeit und in bisher unerhörtem Maße. Aber wie ihrerzeit die Manufaktur und das unter ihrer Einwirkung weiterentwickelte Handwerk mit den feudalen Fesseln der Zünfte in Konflikt kam, so kommt die große Industrie in ihrer volleren Ausbildung in Konflikt mit den Schranken, in denen die kapitalistische Produktionsweise sie eingeengt hält. Die neuen Produktionskräfte sind der bürgerlichen Form ihrer Ausnutzung bereits über den Kopf gewachsen; und dieser Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsweise ist nicht ein in den Köpfen der Menschen entstandner Konflikt, wie etwa der der menschlichen Erbsünde mit der göttlichen Gerechtigkeit, sondern er besteht in den Tatsachen, objektiv, außer uns, unabhängig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen Menschen, die ihn herbeigeführt. Der moderne Sozialismus ist weiter nichts als der Gedankenreflex dieses tatsächlichen Konflikts, seine ideelle Rückspiegelung in den Köpfen zunächst der Klasse, die direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse. Worin besteht nun dieser Konflikt? Vor der kapitalistischen Produktion, also im Mittelalter, bestand allgemeiner Kleinbetrieb auf Grundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln: der Ackerbau der kleinen, freien oder hörigen Bauern, das Handwerk der Städte. Die Arbeitsmittel - Land, Ackergerät, Werkstatt, Handwerkszeug - waren Arbeitsmittel des einzelnen, nur für den Einzelgebrauch berechnet, also notwendig kleinlich, zwerghaft, beschränkt. Aber sie gehörten eben deshalb auch in der Regel dem Produzenten selbst. Diese zersplitterten, engen Produktionsmittel zu konzentrieren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkenden Produktionshebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Trägerin, der Bourgeoisie. Wie sie dies seit dem 15.Jahr
1 Im „Anti-Dühring": Produktivkräfte
hundert auf den drei Stufen: der einfachen Kooperation, der Manufaktur und der großen Industrie, geschichtlich durchgeführt, hat Marx im vierten Abschnitt des „Kapital" ausführlich geschildert.1 Aber die Bourgeoisie, wie dort ebenfalls nachgewiesen, konnte jene beschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktionskräfte verwandeln, ohne sie aus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln. An die Stelle des Spinnrads, des Handwebestuhls, des Schmiedehammers trat die Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl, der Dampfhammer; an die Stelle der Einzelwerkstatt, die das Zusammenwirken von Hunderten und Tausenden gebietende Fabrik. Und wie die Produktionsmittel, so verwandelte sich die Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihe gesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaftliche Produkte. Das Garn, das Gewebe, die Metallwaren, die jetzt aus der Fabrik kamen, waren das gemeinsame Produkt vieler Arbeiter, durch deren Hände sie der Reihe nach gehn mußten, ehe sie fertig wurden. Kein einzelner konnte von ihnen sagen: Das habe ich gemacht, das ist mein Produkt. Wo aber die naturwüchsige, planlos allmählich entstandne Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft Grundform der Produktion ist, da drückt sie den Produkten die Form von Waren auf, deren gegenseitiger Austausch, Kauf und Verkauf, die einzelnen Produzenten in den Stand setzt, ihre mannigfachen Bedürfnisse zu befriedigen. Und dies war im Mittelalter der Fall. Der Bauer z. B. verkaufte Ackerbauprodukte an den Handwerker und kaufte dafür von diesem Handwerkserzeugnisse.. Iii diese Gesellschaft von Einzelproduzenten, Warenproduzenten, schob sich nun die neue Produktionsweise ein. Mitten in die naturwüchsige, planlose Teilung der Arbeit, wie sie in der ganzen Gesellschaft herrschte, stellte sie die planmäßige Teilung der Arbeit, wie sie in der einzelnen Fabrik organisiert war; neben die Einze/produktion trat die gesellschaftliche Produktion. Die Produkte beider wurden auf demselben Markt verkauft, also zu wenigstens annähernd gleichen Preisen. Aber die planmäßige Organisation war mächtiger als die naturwüchsige Arbeitsteilung; die gesellschaftlich arbeitenden Fabriken stellten ihre Erzeugnisse wohlfeiler her als die vereinzelten Kleinproduzenten. Die Einzelproduktion erlag auf einem Gebiet nach dem andern, die gesellschaftliche Produktion revolutionierte die ganze alte Produktionsweise. Aber dieser ihr revolutionärer Charakter wurde so wenig erkannt, daß sie im Gegenteil eingeführt wurde als Mittel zur Hebung und Förde
1 Siehe Band 23 unserer Ausgabe, S. 331-530
rung der Warenproduktion. Sie entstand in direkter Anknüpfung an bestimmte, bereits vorgefundne Hebel der Warenproduktion und des Warenaustausches: Kaufmannskapital, Handwerk, Lohnarbeit. Indem sie selbst auftrat als eine neue Form der Warenproduktion, blieben die Aneignungsformen der Warenproduktion auch für sie in voller Geltung. In der Warenproduktion, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatte, konnte die Frage gar nicht entstehn, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hatte es, in der Regel, aus ihm gehörendem, oft selbsterzeugtem Rohstoff, mit eignen Arbeitsmitteln und mit eigner Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte gar nicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum am Produkte beruhte also auf eigner Arbeit. Selbst wo fremde Hülfe gebraucht ward, blieb diese in der Regel Nebensache und erhielt häufig außer dem Lohn noch andre Vergütung: Der zünftige Lehrling und Geselle arbeiteten weniger wegen der Kost und des Lohns, als wegen ihrer eignen Ausbildung zur Meisterschaft. Da kam die Konzentration der Produktionsmittel in großen Werkstätten und Manufakturen, ihre Verwandlung in tatsächlich gesellschaftliche Produktionsmittel. Aber die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Produkte wurden behandelt, als wären sie nach wie vor die Produktionsmittel und Produkte einzelner. Hatte bisher der Besitzer der Arbeitsmittel sich das Produkt angeeignet, weil es in der Regel sein eignes Produkt und fremde Hülfsarbeit die Ausnahme war, so fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war, sondern ausschließlich Produkt fremder Arbeit. So wurden also die nunmehr gesellschaftlich erzeugten Produkte angeeignet nicht von denen, die die Produktionsmittel wirklich in Bewegung gesetzt und die Produkte wirklich erzeugt hatten, sondern vom Kapitalisten. Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber sie werden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat, wobei also jeder sein eignes Produkt besitzt und zu Markte bringt. Die Produktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie deren Voraussetzung aufhebt.* In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren
* Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, daß, wenn auch die Aneignungsform dieselbe bleibt, der Charakter der Aneignung durch den oben geschilderten Vorgang nicht minder revolutioniert wird als die Produktion. Ob ich mir mein eignes Produkt aneigne oder das Produkt andrer, das sind natürlich zwei sehr verschiedne Arten von Aneignung. Nebenbei: die Lohnarbeit, in der die ganze kapitalistische Produktionsweise bereits im Keime steckt, ist sehr alt; vereinzelt und zerstreut ging sie jähr
kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim. Je mehr die neue Produktionsweise auf allen entscheidenden Produktionsfeldern und in allen ökonomisch entscheidenden Ländern zur Herrschaft kam und damit die Einzelproduktion bis auf unbedeutende Reste verdrängte, desto greller mußte auch an den Tag treten die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung. Die ersten Kapitalisten fanden, wie gesagt, die Form der Lohnarbeit bereits vor. Aber Lohnarbeit als Ausnahme, als Nebenbeschäftigung, als Aushülfe, als Durchgangspunkt. Der Landarbeiter, der zeitweise taglöhnern ging, hatte seine paar Morgen eignes Land, von denen allein er zur Not leben konnte. Die Zunftordnungen sorgten dafür, daß der Geselle von heute m den M eister von morgen überging. Sobald aber die Produktionsmittel in gesellschaftliche verwandelt und in den Händen von Kapstalisten konzentriert wurden, änderte sich dies. Das Produktionsmittel wie das Produkt des kleinen Einzelproduzenten wurde mehr und mehr wertlos; es blieb ihm nichts übrig, als zum Kapitalisten auf Lohn zu gehn. Die Lohnarbeit, früher Ausnahme und Aushülfe, wurde Regel und Grundform der ganzen Produktion; früher Nebenbeschäftigung, wurde sie jetzt ausschließliche Tätigkeit des Arbeiters. Der zeitweilige Lohnarbeiter verwandelte sich in den lebenslänglichen. Die Menge der lebenslänglichen Lohnarbeiter wurde zudem kolossal vermehrt durch den gleichzeitigen Zusammenbruch der feudalen Ordnung, Auflösung der Gefolgschaften der Feudalherren, Vertreibung von Bauern aus ihren Hofstellen etc. Die Scheidung war vollzogen zwischen den m den Händen der Kapitalisten konzentrierten Produktionsmitteln hier und den auf den Besitz von nichts als ihrer Arbeitskraft reduzierten Produzenten dort. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung tritt an den Tag als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie. Wir sahen, daß die kapitalistische Produktionsweise sich einschob in eine Gesellschaft von Warenproduzenten, Einzelproduzenten, deren gesellschaftlicher Zusammenhang vermittelt wurde durch den Austausch ihrer Produkte. Aber jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, daß in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eignen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. Jeder produziert für sich mit seinen zufälligen Produktionsmitteln und für sein besondres Austauschbedürfnis. Keiner weiß, wieviel von seinem Artikel auf den Markt kommt,
hundertelang her neben der Sklaverei. Aber zur kapitalistischen Produktionsweise entfalten konnte sich der Keim erst, als die geschichtlichen Vorbedingungen hergestellt waren.
wieviel davon überhaupt gebraucht wird, keiner weiß, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kosten herausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion. Aber die Warenproduktion, wie jede andere Produktionsform, hat ihre eigentümlichen, inhärenten, von ihr untrennbaren Gesetze; und diese Gesetze setzen sich durch, trotz der Anarchie, in ihr, durch sie. Sie kommen zum Vorschein in der einzigen, fortbestehenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs, im Austausch, und machen sich geltend gegenüber den einzelnen Produzenten als Zwangsgesetze der Konkurrenz. Sie sind diesen Produzenten also anfangs selbst unbekannt und müssen erst durch lange Erfahrung nach und nach von ihnen entdeckt werden. Sie setzen sich also durch, ohne die Produzenten und gegen die Produzenten, als blindwirkende Naturgesetze ihrer Produktionsform. Das Produkt beherrscht die Produzenten. In der mittelalterlichen Gesellschaft, namentlich in den ersten Jahrhunderten, war die Produktion wesentlich auf den Selbstgebrauch gerichtet. Sie befriedigte vorwiegend nur die Bedürfnisse des Produzenten und seiner Familie. Wo, wie auf dem Lande, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse bestanden, trug sie auch bei zur Befriedigung der Bedürfnisse des Feudalherrn. Hierbei fand also kein Austausch statt, die Produkte nahmen daher auch nicht den Charakter von Waren an. Die Familie des Bauern produzierte fast alles, was sie brauchte, Geräte und Kleider nicht minder als Lebensmittel. Erst als sie dahin kam, einen Überschuß über ihren eignen Bedarf und über die dem Feudalherrn geschuldeten Naturalabgaben zu produzieren, erst da produzierte sie auch Waren; dieser Überschuß, in den gesellschaftlichen Austausch geworfen, zum Verkauf ausgeboten, wurde Ware. Die städtischen Handwerker mußten allerdings schon gleich anfangs für den Austausch produzieren. Aber auch sie erarbeiteten den größten Teil ihres Eigenbedarfs selbst; sie hatten Gärten*und kleine Felder; sie schickten ihr Vieh in den Gemeindewald, der ihnen zudem Nutzholz und Feuerung lieferte, die Frauen spannen Flachs, Wolle usw. Die Produktion zum Zweck des Austausches, die Warenproduktion, war erst im Entstehn. Daher beschränkter Austausch, beschränkter Markt, stabile Produktionsweise, lokaler Abschluß nach außen, lokale Vereinigung nach innen; die Mark* auf dem Lande, die Zunft in der Stadt. Mit der Erweiterung der Warenproduktion aber, und namentlich mit
* Siehe Anhang am Schluß.1
1 Siehe vorl. Band, S. 315-330
dem Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, traten auch die bisher schlummernden Gesetze der Warenproduktion offner und mächtiger in Wirksamkeit. Die alten Verbände wurden gelockert,die alten Abschließungsschranken durchbrochen, die Produzenten mehr und mehr in unabhängige, vereinzelte Warenproduzenten verwandelt. Die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion trat an den Tag und wurde mehr und mehr auf die Spitze getrieben. Das Hauptwerkzeug aber, womit die kapitalistische Produktionsweise diese Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion steigerte, war das gerade Gegenteil der Anarchie: die steigende Organisation der Produktion, als gesellschaftlicher, in jedem einzelnen Produktionsetablissement. Mit diesem Hebel machte sie der alten friedlichen Stabilität ein Ende. Wo sie in einem Industriezweig eingeführt wurde, litt sie keine ältre Methode des Betriebs neben sich. Wo sie sich des Handwerks bemächtigte, vernichtete sie das alte Handwerk. Das Arbeitsfeld wurde ein Kampfplatz. Die großen geographischen Entdeckungen und die ihnen folgenden Kolonisierungen vervielfältigten das Absatzgebiet und beschleunigten die Verwandlung des Handwerks in die Manufaktur. Nicht nur brach der Kampf aus zwischen den einzelnen Lokalproduzenten; die lokalen Kämpfe wuchsen ihrerseits an zu nationalen, den Handelskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts.[1421 Die große Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarkts haben den Kampf universell gemacht und gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffnen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tiers erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich nun dar als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft. In diesen beiden Erscheinungsformen des ihr durch ihren Ursprung immanenten Widerspruchs bewegt sich die kapitalistische Produktionsweise, beschreibt sie auswegslos jenen „fehlerhaften Kreislauf", den schon Fourier an ihr entdeckte. Was Fourier allerdings zu seiner Zeit noch nicht sehn konnte, ist, daß sich dieser Kreislauf allmählich verengert, daß die Bewegung vielmehr eine Spirale darstellt und ihr Ende erreichen muß, wie die der Planeten, durch Zusammenstoß mit dem Zentrum. Es ist die treibende Kraft der gesellschaftlichen Anarchie der Produktion, die die große Mehr
zahl der Menschen mehr und mehr in Proletarier verwandelt, und es sind wieder die Proletariermassen, die schließlich der Produktionsanarchie ein Ende machen werden. Es ist die treibende Kraft der sozialen Produktionsanarchie, die die unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Maschinen der großen Industrie in ein Zwangsgebot verwandelt für jeden einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie mehr und mehr zu vervollkommnen, bei Strafe des Untergangs. Aber Vervollkommnung der Maschinerie, das heißt Überflüssigmachung von Menschenarbeit. Wenn die Einführung und Vermehrung der Maschinerie Verdrängung von Millionen von Handarbeitern durch wenige Maschinenarbeiter bedeutet, so bedeutet Verbesserung der Maschinerie Verdrängung von mehr und mehr Maschinenarbeitern selbst und in letzter Instanz Erzeugung einer das durchschnittliche Beschäftigungsbedürfnis des Kapitals überschreitenden Anzahl disponibler Lohnarbeiter, einer vollständigen industriellen Reservearmee, wie ich sie schon 1845* nannte, disponibel für die Zeiten, wo die Industrie mit Hochdruck arbeitet, aufs Pflaster geworfen durch den notwendig folgenden Krach, zu allen Zeiten ein Bleigewicht an den Füßen der Arbeiterklasse in ihrem Existenzkampf mit dem Kapital, ein Regulator zur Niederhaltung des Arbeitslohns auf dem dem* kapitalistischen Bedürfnis angemeßnen niedrigen Niveau. So geht es zu, daß die Maschinerie, um mit Marx zu reden, das machtvollste Kriegsmittel des Kapitals gegen die Arbeiterklasse wird, daß das Arbeitsmittel dem Arbeiter fortwährend das Lebensmittel aus der Hand schlägt, daß das eigne Produkt des Arbeiters sich verwandelt in ein Werkzeug zur Knechtung des Arbeiters.2 So kommt es, daß die Ökonomisierung der Arbeitsmittel von vornherein zugleich rücksichtsloseste Verschwendung der Arbeitskraft und Raub an den normalen Voraussetzungen der Arbeitsfunktion wird3; daß die Maschinerie, das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit, umschlägt in das unfehlbarste Mittel, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln; so kommt es, daß die Überarbeitung der einen die Voraussetzung wird für die'Beschäftigungslosigkeit der andern und daß die große Industrie, die den ganzen Erdkreis nach neuen Konsumenten abjagt, zu Hause die Konsumtion der Massen auf ein Hungerminimum beschränkt und sich damit den eignen innern Markt untergräbt. „Das Gesetz, welches die relative Surpluspopu
* „Lage der arbeitenden Klasse in England", S. 1091
1 Siehe Band 2 unserer Ausgabe, S.314 - 2 siehe Band 23 unserer Ausgabe, S.459 und 511 - 3 ebenda, S.486
lation oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Kapitalakkumulation im Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Bestialisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert(Marx, „Kapital", S.671.1) Und von der kapitalistischen Produktionsweise eine andre Verteilung der Produkte erwarten, hieße verlangen, die Elektroden einer Batterie sollten das Wasser unzersetzt lassen, solange sie mit der Batterie in Verbindung stehn, und nicht am positiven Pol Sauerstoff entwickeln und am negativen Wasserstoff. Wir sahen, wie die aufs höchste gesteigerte Verbesserungsfähigkeit der modernen Maschinerie, vermittelst der Anarchie der Produktion in der Gesellschaft, sich verwandelt in ein Zwangsgebot für den einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie stets zu verbessern, ihre Produktionskraft stets zu erhöhn. In ein ebensolches Zwangsgebot verwandelt sich für ihn die bloße faktische Möglichkeit, seinen Produktionsbereich zu erweitern. Die enorme Ausdehnungskraft der großen Industrie, gegen die diejenige der Gase ein wahres Kinderspiel ist, tritt uns jetzt vor die Augen als ein qualitatives und quantitatives Ausdehnungs&edür/nis, das jedes Gegendrucks spottet. Der Gegendruck wird gebildet durch die Konsumtion, den Absatz, die Märkte für die Produkte der großen Industrie. Aber die Ausdehnungsfähigkeit der Märkte, extensive wie intensive, wird beherrscht zunächst durch ganz andre, weit weniger energisch wirkende Gesetze. Die Ausdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. Die Kollision wird unvermeidlich, und da sie keine Lösung erzeugen kann, solange sie nicht die kapitalistische Produktionsweise selbst sprengt, wird sie periodisch. Die kapitalistische Produktion erzeugt einen neuen „fehlerhaften Kreislauf"4. In der Tat, seit 1825, wo die erste allgemeine Krisis ausbrach, geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierten Völker und ihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel, so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen. Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das bare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet,
1 Siehe Band 23 unserer Ausgabe, S.675
die Fabriken stehn still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zuviel Lebensmittel produziert haben, Bankerott folgt auf Bankerott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stokkung, Produktivkräfte wie Produkte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größrer oder geringrer Entwertung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen. Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielle Trab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zur zügellosen Karriere einer vollständigen industriellen, kommerziellen, kreditlichen und spekulativen Steeple-chase, um endlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen — im Graben des Krachs. Und so immer von neuem. Das haben wir nun seit 1825 volle fünfmal erlebt und erleben es in diesem Augenblick (1877) zum sechsten Mal. Und der Charakter dieser Krisen ist so scharf ausgeprägt, daß Fourier sie alle traf, als er die erste bezeichnete als: crise plethorique, Krisis aus Überfluß11431. In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch. Der Warenumlauf ist momentan vernichtet: das Zirkulationsmittel, das Geld, wird Zirkulationshindernis; alle Gesetze der Warenproduktion und Warenzirkulation werden auf den Kopf gestellt. Die ökonomische Kollision hat ihren Höhepunkt erreicht: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise. Die Tatsache, daß die gesellschaftliche Organisation der Produktion innerhalb der Fabrik sich zu dem Punkt entwickelt hat, wo sie unverträglich geworden ist mit der neben und über ihr bestehenden Anarchie der Produktion in der Gesellschaft - diese Tatsache wird den Kapitalisten selbst handgreiflich gemacht durch die gewaltsame Konzentration der Kapitale, die sich während der Krisen vollzieht vermittelst des Ruins vieler großen und noch mehr kleiner Kapitalisten. Der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise versagt unter dem Druck der von ihr selbst erzeugten Produktivkräfte. Sie kann diese Masse von Produktionsmitteln nicht mehr alle in Kapital verwandeln; sie liegen brach, und eben deshalb muß auch die industrielle Reservearmee brachliegen. Produktionsmittel, Lebensmittel, disponible Arbeiter, alle Elemente der Produktion und des allgemeinen Reichtums sind im Überfluß vorhanden. Aber „der Überfluß wird Quelle der Not und des Mangels" (Fourier), weil er es gerade ist, der die Verwandlung der Produktions- und Lebensmittel in Kapital verhindert. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft können die Produktionsmittel
nicht in Tätigkeit treten, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital, in Mittel zur Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft verwandelt. Wie ein Gespenst steht die Notwendigkeit der Kapitaleigenschaft der Produktionsund Lebensmittel zwischen ihnen und den Arbeitern. Sie allein verhindert das Zusammentreten der sachlichen und der persönlichen Hebel der Produktion; sie allein verbietet den Produktionsmitteln, zu fungieren, den Arbeitern, zu arbeiten und zu leben. Einesteils also wird die kapitalistische Produktionsweise ihrer eignen Unfähigkeit zur ferneren Verwaltung dieser Produktivkräfte überführt. Andrerseits drängen diese Produktivkräfte selbst mit steigender Macht nach Aufhebung des Widerspruchs, nach ihrer Erlösung von ihrer Eigenschaft als Kapital, nach tatsächlicher Anerkennung ihres Charakters als gesellschaftlicher Produktivkräfte. Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihre Kapitaleigenschaft, dieser steigende Zwang zur Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Natur, der die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zu behandeln. Sowohl die industrielle Hochdruckperiode mit ihrer schrankenlosen Kreditaufblähung, wie der Krach selbst durch den Zusammenbruch großer kapitalistischer Etablissements, treiben zu derjenigen Form der Vergesellschaftung größrer Massen von Produktionsmitteln, die uns in den verschiednen Arten von Aktiengesellschaften gegenübertritt. Manche dieser Produktions- und Verkehrsmittel sind von vornherein so kolossal, daß sie, wie die Eisenbahnen, jede andere Form kapitalistischer Ausbeutung ausschließen. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr; die inländischen Großproduzenten eines und desselben Industriezweigs vereinigen sich zu einem „Trust", einer Vereinigung zum Zweck der Regulierung der Produktion; sie bestimmen das zu produzierende Gesamtq uantum, verteilen es unter sich und erzwingen so den im voraus festgesetzten Verkaufspreis. Da solche Trusts aber bei der ersten schlechten Geschäftszeit meist aus dem Leim gehn, treiben sie eben dadurch zu einer noch konzentnerteren Vergesellschaftung: Der ganze Industriezweig verwandelt sich in eine einzige große Aktiengesellschaft, die inländische Konkurrenz macht dem inländischen Monopol dieser einen Gesellschaft Platz; wie dies noch 1890 mit der englischen Alkaliproduktion geschehen, die jetzt, nach Verschmelzung sämtlicher 48 großen Fabriken, in der Hand einer einzigen, einheitlich geleiteten Gesellschaft mit einem Kapital von 120 Millionen Mark betrieben wird. In den Trusts schlägt die freie Konkurrenz um ins Monopol, kapituliert
die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft. Allerdings zunächst noch zu Nutz und Frommen der Kapitalisten. Hier aber wird die Ausbeutung so handgreiflich, daß sie zusammenbrechen muß. Kein Volk würde eine durch Trusts geleitete Produktion, eine so unverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit durch eine kleine Bande von Kuponabschneidern sich gefallen lassen. So oder so, mit oder ohne Trusts, muß schließlich der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen.* Diese Notwendigkeit der Verwandlung in Staatseigentum tritt zuerst hervor bei den großen Verkehrsanstalten: Post, Telegraphen, Eisenbahnen. Wenn die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur fernem Verwaltung der modernen Produktivkräfte aufdeckten, so zeigt die Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften, Trusts und Staatseigentum die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie für jenen Zweck. Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehn. Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Revenueneinstreichen, Kuponabschneiden und
* Ich sage, muß. Denn nur in dem Falle, daß die Produktions- oder Verkehrsmittel der Leitung durch Aktiengesellschaften wirklich entwachsen sind, daß also die Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar geworden, nur in diesem Falle bedeutet sie, auch wenn der heutige Staat sie vollzieht, einen ökonomischen Fortschritt, die Erreichung einer neuen Vorstufe zur Besitzergreifung aller Produktivkräfte durch die Gesellschaft selbst. Es ist aber neuerdings, seit Bismarck sich aufs Verstaatlichen geworfen, ein gewisser falscher Sozialismus aufgetreten und hie und da sogar in einige Wohldienerei ausgeartet, der jede Verstaatlichung, selbst die Bismarcksche, ohne weiteres für sozialistisch erklärt. Allerdings, wäre die Verstaatlichung des Tabaks sozialistisch, so zählten Napoleon und Metternich mit unter den Gründern des Soziaiismus. Wenn der belgische Staat aus ganz alltäglichen politischen und finanziellen Gründen seine Haupteisenbahnen selbst baute, wenn Bismarck ohne jede ökonomische Notwendigkeit die Hauptbahnlinien Preußens verstaatlichte, einfach, um sie für den Kriegsfall besser einrichten und ausnützen zu können, um die Eisenbahnbeamten zu Regierungsstimmvieh zu erziehn und hauptsächlich, um sich eine neue, von Parlamentsbeschlüssen unabhängige Einkommenquelle zu verschaffen - so waren das keineswegs sozialistische Schritte, direkt oder indirekt, bewußt oder unbewußt. Sonst wären auch die königliche Seehandlungt144], die königliche Porzellanmanufaktur und sogar der Kompanieschneider beim Militär sozialistische Einrichtungen oder gar die unter Friedrich Wilhelm III. in den dreißiger Jahren alles Ernstes von einem Schlaumeier vorgeschlagene Verstaatlichung der - Bordelle.
Spielen an der Börse, wo die verschiednen Kapitalisten untereinander sich ihr Kapital abnehmen. Hat die kapitalistische Produktionsweise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten und verweist sie» ganz wie die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung, wenn auch zunächst noch nicht in die industrielle Reservearmee, Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trusts liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten» der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. Diese Lösung kann nur darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, daß also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehn, daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den jeder andren Leitung außer der ihrigen entwachsenen Produktivkräften» Damit wird der gesellschaftliche Charakter der Produktionsmittel und Produkte, der sich heute gegen die Produzenten selbst kehrt, der die Produktions- und Austauschweise periodisch durchbricht und sich nur als blind wirkendes Naturgesetz gewalttätig und zerstörend durchsetzt, von den Produzenten mit vollem Bewußtsein zur Geltung gebracht und verwandelt sich aus einer Ursache der Störung und des periodischen Zusammenbruchs in den mächtigsten Hebel der Produktion selbst. Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen,, Und ganz besonders gilt dies von den heutigen gewaltigen
Produktivkräften. Solange wir uns hartnäckig weigern, ihre Natur und ihren Charakter-zu verstehn - und gegen dies Verständnis sträubt sich die kapitalistische Produktionsweise und ihre Verteidiger solange wirken diese Kräfte sich aus, trotz uns, gegen uns, solange beherrschen sie uns, wie wir das ausführlich dargestellt haben. Aber einmal in ihrer Natur begriffen, können sie in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden. Es ist der Unterschied zwischen der zerstörenden Gewalt der Elektrizität im Blitze des Gewitters und der gebändigten Elektrizität des Telegraphen und des Lichtbogens; der Unterschied der Feuersbrunst und des im Dienst des Menschen wirkenden Feuers. Mit dieser Behandlung der heutigen Produktivkräfte nach ihrer endlich erkannten Natur tritt an die Stelle der gesellschaftlichen Produktionsanarchie eine gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen der Gesamtheit wie jedes einzelnen. Damit wird die kapitalistische Aneignungsweise, in der das Produkt zuerst den Produzenten, dann aber auch den Aneigner knechtet, ersetzt durch die in der Natur der modernen Produktionsmittel selbst begründete Aneignungsweise der Produkte: einerseits direkt gesellschaftliche Aneignung als Mittel zur Erhaltung und Erweiterung der Produktion, andrerseits direkt individuelle Aneignung als Lebens- und Genußmittel. Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung, bei Strafe des Untergangs, zu vollziehn genötigt ist. Indem sie mehr und mehr auf Verwandlung der großen vergesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum drängt, zeigt sie selbst den Weg an zur Vollziehung der Umwälzung. Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, d.h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter
des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich seihst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft", er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom „freien Volksstaat"11453 zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden. Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit dem geschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzen Sekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnte erst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die tatsächlichen Bedingungen ihrer Durchführung vorhanden waren. Sie, wie jeder andre gesellschaftliche Fortschritt, wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassen abzuschaffen, sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen. Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der früheren geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich diese Gesellschaft notwendig in Klassen. Neben der ausschließlich der Arbeit frönenden großen Mehrheit bildet sich eine von direkt-produktiver Arbeit befreite Klasse, die die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künste usw.
Es ist also das Gesetz der Arbeitsteilung, das der Klassenteilung zugrunde liegt. Aber das bindert nicht, daß diese Einteilung in Klassen nicht durch Gewalt und Raub, List und Betrug durchgesetzt worden und daß die herrschende Klasse, einmal im Sattel, nie verfehlt hat, ihre Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klasse zu befestigen und die gesellschaftliche Leitung umzuwandeln in gesteigerte Ausbeutung der Massen. Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte. Und in der Tat hat die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen zur Voraussetzung einen geschichtlichen Entwicklungsgrad, auf dem das Bestehn nicht bloß dieser oder jener bestimmten herrschenden Klasse, sondern einer herrschenden Klasse überhaupt, also des Klassenunterschieds selbst, ein Anachronismus geworden, veraltet ist. Sie hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist jetzt erreicht. Ist der politische und intellektuelle Bankerott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihr ökonomischer Bankerott regelmäßig alle zehn Jahre. In jeder Krise erstickt die Gesellschaft unter der Wucht ihrer eignen, für sie unverwendbaren Produktivkräfte und Produkte, und steht hülflos vor dem absurden Widerspruch, daß die Produzenten nichts zu konsumieren haben, weil es an Konsumenten fehlt. Die Expansionskraft der Produktionsmittel sprengt die Bande, die die kapitalistische Produktionsweise ihr angelegt. Ihre Befreiung aus diesen Banden ist die einzige Vorbedingung einer ununterbrochen, stets rascher fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung der Produktion selbst. Damit nicht genug. Die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel beseitigt nicht nur die jetzt bestehende künstliche Hemmung der Produktion, sondern auch die positive Vergeudung und Verheerung von Produktivkräften und Produkten, die gegenwärtig die unvermeidliche Begleiterin der Produktion ist und ihren Höhepunkt in den Krisen erreicht. Sie setzt ferner eine Masse von Produktionsmitteln und Produkten für die Gesamtheit frei durch Beseitigung der blödsinnigen Luxusverschwendung der jetzt herrschenden Klassen und ihrer politischen
Repräsentanten. Die Möglichkeit, vermittelst der gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten Male da, aber sie ist da* Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eignen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte aufgenötigt gegenüberstand, wird jetzt ihre freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an v/erden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.
* Ein paar Zahlen mögen eine annähernde Vorstellung geben von der enormen Expansionskraft der modernen Produktionsmittel,, selbst unter dem kapitalistischen Druck. Nach der Berechnung von Giffen^146' betrug der Gesamtreichtum von Großbritannien und Irland in runder Zahl: 1814 2200 Millionen Pfd.St. = 44 Milliarden Mark 1865 6100 „ „ „ = 122 1875 8500 „ „ = 170 Was die Verheerung von Produktionsmitteln und Produkten in den Krisen betrifft» so wurde auf dem 2. Kongreß deutscher Industrieller, Berlin, 21. Februar 1878, der Gesamtverlust allein der deutschen Eisenindustrie im letzten Krach auf 455 Millionen Mark berechnet.
Fassen wir zum Schluß unsern Entwicklungsgang kurz zusammen: I. Mittelalterliche Gesellschaft: Kleine Einzelproduktion. Produktionsmittel für den Einzelgebrauch zugeschnitten, daher urwüchsig-unbehülflich, kleinlich, von zwerghafter Wirkung. Produktion für den unmittelbaren Verbrauch, sei es des Produzenten selbst, sei es seines Feudalherrn. Nur da, wo ein Überschuß der Produktion über diesen Verbrauch stattfindet, wird dieser Überschuß zum Verkauf ausgeboten und verfällt dem Austausch: Warenproduktion also erst im Entstehn; aber schon jetzt enthält sie in sich, im Keim, die Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion. II. Kapitalistische Revolution: Umwandlung der Industrie zuerst vermittelst der einfachen Kooperation und der Manufaktur. Konzentration der bisher zerstreuten Produktionsmittel in großen Werkstätten, damit ihre Verwandlung aus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche eine Verwandlung, die die Form des Austausches im ganzen und großen nicht berührt. Die alten Aneignungsformen bleiben in Kraft. Der Kapitalist tritt auf: In seiner Eigenschaft als Eigentümer der Produktionsmittel eignet er sich auch die Produkte an und macht sie zu Waren. Die Produktion ist ein gesellschaftlicher Akt geworden; der Austausch und mit ihm die Aneignung bleiben individuelle Akte, Akte des einzelnen: Das gesellschaftliche Produkt wird angeeignet vom Einzelkapitalisten. Grundwiderspruch, aus dem alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt, und die die große Industrie offen an den Tag bringt. A. Scheidung des Produzenten von den Produktionsmitteln. Verurteilung des Arbeiters zu lebenslänglicher Lohnarbeit. Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie. B. Wachsendes Hervortreten und steigende Wirksamkeit der Gesetze, die die Warenproduktion beherrschen. Zügelloser Konkurrenzkampf. Widerspruch der gesellschaftlichen Organisation in der einzelnen Fabrik und der gesellschaftlichen Anarchie in der Gesamtproduktion. C. Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zum Zwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mit stets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee. Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz der Konkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung der Produktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion, Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, von Produktionsmitteln und Produkten - Überfluß dort, von
Arbeitern ohne Beschäftigung und ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistische Form der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zu zirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihr eigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten. D. Teilweise Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte, den Kapitalisten selbst aufgenötigt. Aneignung der großen Produktions- und Verkehrsorganismen, erst durch Aktiengesell-' schaffen, später durch Trusts, sodann durch den Staat. Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse; alle ihre gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt erfüllt durch besoldete Angestellte. III. Proletarische Revolution, Auflösung der Widersprüche: Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt kraft dieser Gewalt die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach vorherbestimmtem Plan wird nunmehr möglich. Die Entwicklung der Produktion macht die fernere Existenz verschiedner Gesellschaftsklassen zu einem Anachronismus. In dem Maß wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staats ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eignen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst - frei. Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.
Karl Marx [Über „Misere de la philosophie"11471]
„Misere de la philosophie"1 von Karl Marx erschien 1847 kurz nach den „Contradictions economiques" von Proudhon, die den Untertitel „Philosophie de la misere" trugen. Was uns bestimmt hat, dieses Buch wieder abzudrucken, dessen Originalausgabe vergriffen, ist die Tatsache, daß es die Keime der nach zwanzigjähriger Arbeit im „Kapital" entwickelten Theorie enthält. Folglich kann die Lektüre der „Misere de la philosophie" und des 1848 von Marx und Engels veröffentlichten „Manifests der Kommunistischen Partei" zur Einführung dienen in das Studium des „Kapitals" und der Werke anderer zeitgenössischer Sozialisten, die, wie Lassalle, daraus ihre Ideen geschöpft haben. Mit der Zustimmung zu dieser Wieder Veröffentlichung in unserem Organ wollte Marx uns einen Beweis seiner Sympathie geben. Man muß noch einiges zum heftigen Charakter jener Polemik gegen Proudhon sagen. Einerseits verstand es Proudhon bei seinen Angriffen gegen die offiziellen Ökonomen, wie Dunoyer, das Akademiemitglied Blanqui und die ganze Clique um das „Journal des Economistes"11481 ihrer Eigenliebe zu schmeicheln, während er gleichzeitig die utopischen Sozialisten und Kommunisten, die Marx als Vorläufer des modernen Sozialismus achtete, grob beschimpfte. Andererseits war es notwendig, um den Weg zum kritischen und materialistischen Sozialismus zu bahnen, der die reale, historische Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion verständlich machen will, mit jener Ideologie in der Ökonomie brüsk zu brechen, deren letzte Verkörperung unwissentlich Proudhon war. Übrigens hat Marx nach dem Tode Proudhons in einem im Berliner „Social-Demokrat" veröffentlichten Artikel11491 die großen Qualitäten dieses Kämpfers, seine männliche Haltung nach den Junitagen 1848 und sein Talent als politischer Schriftsteller gebührend gewürdigt.
Geschrieben Ende März 1880. Nach der Handschrift. Aus dem Französischen.
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S. 63 -182
Karl Marx Fragebogen für Arbeiter11501
I
1. In welchem Gewerbe arbeiten Sie? 2. Gehört das Unternehmen, in dem Sie arbeiten, Privatkapitalisten oder einer Aktiengesellschaft? Nennen Sie die Namen des privaten Unternehmers oder des Direktors der Gesellschaft. 3. Nennen Sie die Anzahl der Beschäftigten. 4. Nennen Sie deren Geschlecht und Alter. 5. Was ist das Mindestalter, zu dem Kinder — männlich oder weiblich — eingestellt werden? 6. Nennen Sie die Anzahl der Aufsichtspersonen und anderen Angestellt ten, die keine einfachen Lohnarbeiter sind. 7. Sind Lehrlinge beschäftigt? - Wieviele? 8. Gibt es außer den häufig und regelmäßig beschäftigten Arbeitern auch solche, die zu einer bestimmten Saison von außerhalb herbeigeholt werden? 9. Arbeitet der Betrieb Ihres Lohnherrn ausschließlich oder hauptsächlich für ortsansässige Kunden, für den allgemeinen Binnenmarkt oder für den Export in andere Länder? 10. Liegt die Arbeitsstätte auf dem Lande oder in der Stadt? 11. Falls Ihr Gewerbe auf dem Lande betrieben wird: bildet es Ihre hauptsächliche Erwerbsquelle oder betreiben Sie es zusätzlich zu oder gemeinsam mit der Landwirtschaft? 12. Beruht die Arbeit gänzlich oder in der Hauptsache auf Hand- oder Maschinenarbeit? 13. Berichten Sie über die Arbeitsteilung in dem Gewerbe, in dem Sie arbeiten. 14. Wird Dampf als Antriebskraft verwandt?
15. Berichten Sie über die Anzahl der Arbeitsräume, die den verschiedenen Zweigen des Gewerbes dienen, und beschreiben Sie jenen Teil des Arbeitsprozesses, an dem Sie mitwirken, nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch in bezug auf die Muskel- und Nervenanspannung, die die Arbeit erfordert, und die allgemeinen Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter. 16. Beschreiben Sie die hygienischen Bedingungen der Arbeitsstätte in bezug auf Größe (des jedem Arbeiter zur Verfügung stehenden Platzes), Lüftung, Temperatur, ob die Wände geweißt sind, über Abortverhältnisse, allgemeine Reinlichkeit, Maschinenlärm, Staub, Feuchtigkeit etc. 17. Werden seitens der Regierung oder der Stadt die hygienischen Bedingungen der Arbeitsstätte überwacht? 18. Gibt es in Ihrem Gewerbe irgendwelche besondere schädliche Einwirkungen, die unter den Arbeitern bestimmte Krankheiten hervorrufen? 19. Ist die Arbeitsstätte mit Maschinen überfüllt? 20. Sind die Antriebskraft, die Transmissionsvorrichtungen und die laufenden Maschinen mit ausreichenden Schutzvorrichtungen gegen Unfälle versehen? 21. Berichten Sie aus eigener Erfahrung von Unfällen, die Verletzungen bzw. den Tod von Arbeitern verursachten. 22. Falls Sie in einem Bergwerk arbeiten, berichten Sie über Schutzmaßnahmen, die Ihr Unternehmer ergriffen hat, um für Lüftung zu sorgen und Explosionen sowie andere gefährliche Unfälle zu verhindern. 23. Falls Sie in einer Metallwaren- oder chemischen Fabrik, bei der Eisenbahn oder in einem anderen mit besonderen Gefahren verbundenem Gewerbe arbeiten, berichten Sie über die von Ihrem Unternehmer ergriffenen Schutzmaßnahmen. 24. Womit wird Ihr Arbeitsplatz beleuchtet, mit Gas, Petroleum etc.? 25. Sind im Falle eines Brandes genügend Fluchtmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Arbeitsgebäude vorhanden? 26. Ist der Unternehmer bei Unfällen gesetzlich verpflichtet, den Betroffenen oder seine Familie zu entschädigen? 27. Wenn das nicht der Fall ist, entschädigt er in irgendeiner Weise diejenigen, die Unfälle dabei erlitten, als sie durch ihre Arbeit zu seiner Bereicherung beitrugen? 28. Ist an Ihrer Arbeitsstätte für ärztliche Hilfe gesorgt? 29. Falls Sie Heimarbeit leisten, beschreiben Sie den Zustand Ihres Arbeitsraums; berichten Sie, ob Sie nur Werkzeuge oder auch kleine Maschinen benutzen; ob Sie sich von Ihrer Frau und den Kindern oder anderen
Gehilfen, Erwachsenen oder Kindern, männlich oder weiblich, bei Ihrer Arbeit helfen lassen; ob Sie für Privatkunden oder für einen „entrepreneur"1 arbeiten; ob Sie mit ihm direkt oder durch eine Zwischenperson verhandeln.
II
1. Wieviel Stunden arbeiten Sie täglich und wieviel Tage in der Woche? 2. Wieviel Feiertage haben Sie während des Jahres? 3. Welche Pausen treten während des Arbeitstages ein? 4. Sind für Mahlzeiten bestimmte regelmäßige Pausen festgesetzt oder werden sie unregelmäßig eingenommen?2 5. Wird während der Mahlzeiten weitergearbeitet? 6. Falls Dampfkraft benutzt wird, nennen Sie die genauen Zeiten, wann sie an- und abgestellt wird. 7. Gibt es Nachtarbeit? 8. Wieviel Stunden arbeiten Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren? 9. Lösen sich Kinder und Jugendliche schichtweise während des Arbeitstages ab? 10. Sorgt die Regierung für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen über Kinderarbeit, soweit es solche gibt, und werden sie von den Unternehmern genau befolgt? 11. Bestehen irgendwelche Schulen für Kinder und Jugendliche, die in Ihrem Gewerbe arbeiten? Wenn ja, zu welcher Tageszeit sind die Kinder in der Schule? Was lehrt man sie? 12. Falls Tag und Nacht gearbeitet wird, wie ist der Schichtwechsel geregelt? Erfolgt die Ablösung einer Gruppe Arbeiter durch eine andere Gruppe? 13. Wieviel Arbeitsstunden werden in Zeiten besonders starker Geschäftstätigkeit zusätzlich zu den üblichen geleistet? 14. Werden die Maschinen von einer besonderen Gruppe Arbeiter gereinigt, die für diese Arbeit angestellt sind, oder besorgen die an den Maschinen beschäftigten Arbeiter die Reinigung unentgeltlich während ihres gewöhnlichen Arbeitstages? 15. Welche Bestimmungen und Strafen gibt es, um pünktliches Erscheinen der Arbeiter bei Beginn des Tagewerks oder nach den Mahlzeiten zu sichern?
1 „Unternehmer" - 2 in der Handschrift von Charles Longuet zugefügt: „Werden sie innerhalb oder außerhalb des Betriebes eingenommen?"
16. Wieviel Zeit verlieren Sie täglich für den Weg zur Arbeitsstätte und für den Rückweg zu Ihrer Wohnung?
III
1. Welcher Art ist das Arbeitsverhältnis mit Ihrem Lohnherrn? Sind Sie für den Tag, für die Woche oder für den Monat etc. eingestellt? 2. Welche Fristen sind für die Kündigung seitens des Unternehmers oder Ihrerseits festgesetzt? 3. Welche Strafen sieht Kontraktbruch vor, wenn der Lohnherr der schuldige Teil ist? 4. Welche Strafen erwarten den Arbeiter, wenn er der schuldige Teil ist? 5. Falls Lehrlinge beschäftigt sind, nennen Sie ihre Vertragsbedingungen. 6. Stehen Sie dauernd in Arbeit oder mit Unterbrechungen? 7. Wird in Ihrem Gewerbe hauptsächlich während einer bestimmten Saison gearbeitet, oder ist die Arbeit mehr oder weniger gleichmäßig über das ganze Jahr verteilt? Falls Ihre Arbeit an eine bestimmte Saison gebunden ist, wie leben Sie dann in der Zwischenzeit? 8. Erhalten Sie Zeit- oder Stücklohn? 9. Wenn Zeitlohn, wird er nach der Stunde oder nach dem ganzen Arbeitstag berechnet? 10. Erfolgt eine besondere Entlohnung - und welche - im Falle von Überstunden? 11. Wenn Sie Lohn nach der Stückzahlerhalten, berichten Sie, wie dieser festgesetzt wird. Falls Sie in Industriezweigen beschäftigt sind, wo die geleistete Arbeit nach Quantität oder Gewicht berechnet wird (wie z.B. in Kohlengruben), so berichten Sie, ob der Lohnherr und seine Kreaturen zu Prellereien greifen, um Sie um einen Teil des Verdienstes zu betrügen. 12. Falls Sie im Stücklohn bezahlt werden: wird die Qualität des Produkts zum Vorwand genommen, um Ihren Lohn auf betrügerische Weise zu kürzen? 13. Ob Sie nun im Zeit- oder im Stücklohn beschäftigt sind, nach welcher Frist erhalten Sie Ihren Lohn? Mit anderen Worten, wie lange müssen Sie warten, bis Ihr Lohnherr Ihnen den Lohn für bereits ausgeführte Arbeit auszahlt? Wird Ihr Lohn nach einer Woche, einem Monat etc. bezahlt? 14. Werden Sie durch solche Verzögerungen bei der Lohnzahlung gezwungen, häufig das Pfandhaus in Anspruch zu nehmen, dort hohe Zinsen
zu zahlen und obendrein Gegenstände zu entbehren, die sie nötig gebrauchen, oder müssen Sie bei den Kaufleuten Schulden machen und werden dadurch als Schuldner deren Opfer? 15. Werden die Löhne direkt vom „patron"1 oder durch eine Zwischenperson, einen „marchandeur"2 etc. bezahlt? 16. Wie sind die Bedingungen Ihres Kontrakts, falls die Löhne durch „marchandeurs" oder andere Zwischenpersonen ausgezahlt werden? 17. Wie hoch ist Ihr Geldlohn pro Tag oder pro Woche? 18. Wie hoch sind die entsprechenden Löhne der Frauen und Kinder, die mit Ihnen in der gleichen Werkstatt arbeiten? 19. Nennen Sie den höchsten und den niedrigsten Tagelohn im vergangenen Monat. 20. Nennen Sie den höchsten und den niedrigsten Stücklohn im vefgangenen Monat. 21. Nennen Sie Ihr tatsächliches Einkommen während dieser Zeit, und, falls Sie Familie haben, auch das Ihrer Frau und der Kinder. 22. Werden die Löhne in Geld oder zum Teil auf andere Weise gezahlt? 23. Falls der Unternehmer Ihnen die Wohnung vermietet, unter welchen Bedingungen geschieht das? Zieht er die Miete von Ihrem Lohn ab? 24. Nennen Sie die Preise der notwendigen Dinge, wie zum Beispiel:3 a) Ihre Wohnungsmiete und dazu die Mietbedingungen; Zahl der Zimmer und der Personen, die darin wohnen; Reparaturen und Versicherung; Kauf und Unterhalt des Mobiliars; Schlafstelle; Feuerung; Beleuchtung; Wasser etc. i \ xt i r> . . n • i r1 ...« .. ,tx v. .. _ v R/m t _ D) i\anrung: orot, r leisen, uemuse ^xvartoneiri etc./, ivmcnpiOUUMC, Eier, Fisch; Butter, Öl, Fett; Zucker, Salz, Gewürze; Kaffee, Tee, Zichorie; Bier, Apfelwein, Wein etc., Tabak. c) Kleidung (für Eltern und Kinder); Wäsche; Körperpflege, Bäder, Seife etc. d) verschiedene Ausgaben, wie Briefporto, Darlehen, Aufbewahrungskosten in den Pfandhäusern, Schulgeld für die Kinder, Lehrgeld, Erwerb von Zeitungen, Büchern etc.; Mitgliedsbeiträge, Beiträge für Gesellschaften zur gegenseitigen Hilfe, für Streikkassen, für verschiedene Vereinigungen, Gewerkschaften etc. e) Kosten, sofern es solche gibt, die durch die Ausübung Ihres Berufs entstehen. f) Steuern.
1 „Herrn" - 2 „Zwischenmeister" — 3 die Unterfragen a) bis f) sind in französischer Sprache verfaßt
25. Versuchen Sie, Ihre wöchentlichen und jährlichen Einnahmen (und die Ihrer Familie, falls Sie eine haben) und die wöchentlichen und jährlichen Ausgaben in Form eines Budgets aufzuschreiben. 26. Haben Sie aus eigener Erfahrung ein stärkeres Ansteigen der Preise für die lebensnotwendigen Dinge (wie Wohnungsmiete, Nahrung etc.) als das der Löhne festgestellt? 27. Berichten Sie über die Lohnschwankungen, so weit Sie sich zurückerinnern können. 28; Berichten Sie über das Absinken der Löhne in Zeiten der Stagnation oder Krise. 29. Berichten Sie über das Steigen der Löhne in sogenannten Zeiten der Prosperität. 30. Berichten Sie über Arbeitsunterbrechungen infolge Veränderungen in der Mode und infolge von Teil- oder allumfassenden Krisen. 31. Berichten Sie über Veränderungen im Preis der Waren, die Sie produzieren, bzw. der Dienste, die Sie leisten, und berichten Sie zum Vergleich, ob Ihr Lohn sich gleichzeitig verändert hat oder ob er der alte geblieben ist. 32. Kennen Sie Fälle, daß Arbeiter infolge Einführung von Maschinen oder anderen Vervollkommnungen ihren Arbeitsplatz verloren haben? 33. Haben mit der Entwicklung der Maschinen und der Erhöhung der Arbeitsproduktivität die Intensität und die Dauer der Arbeit zu- oder abgenommen? 34. Sind Ihnen Lohnerhöhungen als Folge von erhöhter Produktion bekannt? 35. Sind Ihnen jemals Fälle bekannt geworden, daß ein einfacher Arbeiter mit dem Geld, das er als Lohnarbeiter verdient hatte, sich im Alter von 50 Jahren zur Ruhe setzen konnte? 36. Wieviel Jahre kann in Ihrem Gewerbe ein Arbeiter von durchschnittlicher Gesundheit seine Arbeit ausführen?
IV
1. Gibt es in Ihrem Gewerbe Gewerkschaften und wie werden sie geleitet? 2. Wieviel Streiks fanden nach Ihren persönlichen Erfahrungen statt? 3. Wie lange haben diese Streiks gedauert? 4. Waren es Teilstreiks oder allgemeine Streiks? 5. War das Ziel der Streiks eine Lohnerhöhung, oder wurde gestreikt,
um gegen eine Lohnherabsetzung zu kämpfen; oder ging es bei den Streiks um die Lange des Arbeitstags; oder hatten sie andere Ursachen? 6. Welches waren ihre Ergebnisse? 7. Unterstützt man in Ihrem Gewerbe die Streiks von Arbeitern aus anderen Gewerben? 8. Nennen Sie die von Ihrem Lohnherrn zur Beherrschung seiner Arbeiter erlassenen Bestimmungen und die Strafen, wenn sie verletzt werden.1 9. Bestehen Vereinigungen der Lohhherren, um Lohnkürzungen, Verlängerung des Arbeitstags zu erzwingen, um Streiks zu zerschlagen und um im allgemeinen der Arbeiterklasse ihren Willen aufzuzwingen? 10. Kennen Sie Fälle, wo die Regierung die bewaffnete Macht mißbrauchte und sie den Lohnherren gegen ihre Arbeiter zur Verfügung gestellt hat? 11. Haben Sie erlebt, daß die gleiche Regierung sich jemals im Interesse der Arbeiter eingeschaltet hat, wenn die Lohnherren Übergriffe begingen und sich ungesetzlich zusammenschlössen? 12. Verschafft die gleiche Regierung den Fabrikgesetzen, soweit welche bestehen, gegenüber den Lohnherren Geltung? Nehmen ihre Inspektoren soweit es welche gibt - ihre Pflichten ernst? 13. Gibt es in Ihrem Betrieb oder in Ihrem Gewerbe Gesellschaften zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung bei Unfällen, Krankheiten, Todesfällen, vorübergehender Arbeitsunfähigkeit und im hohen Alter etc.? 14. Ist die Mitgliedschaft in solchen Gesellschaften freiwillig oder obligatorisch? Stehen ihre Mittel ausschließlich unter Kontrolle der Arbeiter? 15. Falls die Beiträge obligatorisch sind und unter der Kontrolle des Lohnherrn stehen: zieht er die Beiträge vom Lohn ab; zahlt er Zinsen dafür? Werden die Beiträge den Arbeitern zurückerstattet, wenn sie kündigen oder entlassen werden? 16. Gibt es in Ihrem Industriezweig Arbeitergenossenschaften? Wie werden sie geleitet? Sind in ihnen auch andere Lohnarbeiter in derselben Weise wie bei den Kapitalisten beschäftigt? 17. Gibt es in Ihrem Gewerbe Betriebe, in denen ein Teil der Bezahlung der Arbeiter unter dem Namen Lohn, ein anderer Teil in Form angeblicher Gewinnbeteiligung am Profit Ihres Lohnherrn erfolgt? Vergleichen Sie das gesamte Einkommen dieser Arbeiter mit demjenigen, das andere Arbeiter erhalten, bei denen keine angebliche Gewinnbeteiligung besteht. Berichten
1 In der Handschrift gestrichen: „in seinem Betrieb, wo er selbstredend die höchste legislative, juristische und exekutive Macht in seiner Hand vereinigt".
Sie über die Verpflichtungen der Arbeiter, die unter diesen Bedingungen arbeiten. Können sie sich an Streiks beteiligen etc. oder dürfen sie nur die ergebenen „Diener" ihres Lohnherrn sein? 18. Wie ist der allgemeine körperliche, geistige und moralische Zustand der in Ihrem Beruf beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen?
Geschrieben in der ersten Aprilhälfte 1880. Nach der Handschrift. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei"511]
[X'Egalitd" Nr.24 vom 30. Juni 1880]
In Erwägung, daß die Emanzipation der Klasse der Produzenten alle Menschen, ohne Unterschied von Geschlecht und Rasse, umfaßt; daß die Produzenten nur dann frei sein können, wenn sie im Besitz der Produktionsmittel sind; daß es nur zwei Formen gibt, in denen ihnen die Produktionsmittel gehören können: 1. die individuelle Form, die niemals allgemeine Erscheinung war und durch den industriellen Fortschritt mehr und mehr überwunden wird; 2. die kollektive Form, deren materielle und geistige Elemente durch die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst geschaffen werden; in Erwägung, daß die kollektive Aneignung nur von einer revolutionären Aktion der Klasse der Produzenten - dem Proletariat-,in einer selbständigen politischen Partei organisiert, ausgehen kann; daß eine solche Organisation mit allen Mitteln, über die das Proletariat verfügt, angestrebt werden muß, einschließlich des allgemeinen Wahlrechts, das so aus einem Instrument des Betrugs, das es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt wird; haben die französischen sozialistischen Arbeiter, die sich auf wirtschaftlichem Gebiet die Rückkehr aller Produktionsmittel in Kollektiveigentum zum Ziel ihrer Anstrengungen gesetzt haben, als Mittel der Organisation und des Kampfes beschlossen, mit folgendem Minimalprogramm in die Wahlen zu gehen:
Geschrieben Anfang Mai 1880. Aus dem Französischen.
Karl Marx/Friedrich Engels An das Meeting in Genf, einberufen zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830t,52]
Bürger! Nach der ersten Teilung des Landes überquerten Polen, die ihr Vaterland verlassen hatten, den Atlantik, um die gerade entstandene große amerikanische Republik zu Verteidigern Kosciuszko kämpft Seite an Seite mit Washington. Als 1794 die Französische Revolution unter Schwierigkeiten den Koalitionskräften Widerstand leistet, wendet der ruhmvolle polnische Aufstand die Gefahr von ihr ab. Polen verliert seine Unabhängigkeit, dafür bleibt die Revolution erhalten. Die besiegten Polen treten in die Armee der „Sansculotten" ein und helfen mit, das feudale Europa zu zerschlagen. Im Jahre 1830 schließlich, als Zar Nikolaus und der preußische König1 ihre Pläne verwirklichen wollten, um mit einem neuen Überfall auf Frankreich die Iegitimistische Monarchie zu restaurieren, versperrte ihnen die polnische Revolution, deren Andenken Sie heute feiern, den Weg. „Ordnung herrscht in Warschau." Der Ruf: „Es lebe Polen", der damals durch ganz Westeuropa hallte, war nicht nur ein Ausdruck der Sympathie und der Bewunderung für die patriotischen Helden, die mit brutaler Macht niedergekämpft wurden - mit diesem Ruf grüßte man das Volk, dessen sämtliche Aufstände so unglücklich für es selbst verliefen, jedoch stets das Vordringen der Konterrevolution aufhielten -, das Volk, dessen beste Söhne nie aufhörten, den Widerstandskampf zu führen, indem sie überall unter dem Banner der Volksrevolutionen ins Feld zogen. Andererseits wiederum festigte die Teilung Polens die Heilige Allianz, die als Tarnung der Hegemonie des Zaren über alle Regierungen Europas dient. Somit hat der Ruf „Es lebe Polen!" eigentlich bedeutet:
Tod der Heiligen Allianz, Tod dem militärischen Despotismus Rußlands, Preußens und Österreichs, Tod der mongolischen Herrschaft über die moderne Gesellschaft. Seit 1830, als die Bourgeoisie in Frankreich und England mehr oder weniger die Macht in ihre Hände nahm, begann sich die proletarische Bewegung zu bilden. Bereits 1840 waren die besitzenden Klassen in England gezwungen, zur Waffengewalt Zuflucht zu nehmen, um der Chartistenpartei, dieser ersten Kampf Organisation der Arbeiterklasse, zu widerstehen. Dann brach im letzten Winkel des unabhängigen Polens, in Krakau, im Jahre 1846 die erste politische Revolution aus, die sozialistische Forderungen verkündete.11631 Von da an verliert Polen alle angeblichen Sympathien des besitzenden Europas. Im Jahre 1847 versammelt sich in London insgeheim der erste internationale Kongreß des Proletariats11541, der das „Kommunistische Manifest" verfassen läßt, welches mit der neuen revolutionären Losung endet: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch"1. Polen hatte auf diesem Kongreß seine Vertreter, und auf einem öffentlichen Meeting in Brüssel bekannten sich der berühmte Lelewel und seine Gesinnungsgenossen zur Resolution des Kongresses. 1848 und 1849 waren in den revolutionären deutschen, rumänischen, ungarischen und italienischen Armeen zahlreiche Polen, die sich als Soldaten und als Heerführer auszeichneten. Obwohl die sozialistischen Strömungen dieser Epoche im Blutbad der Junitage ertränkt wurden, hat die Revolution von 1848 dennoch für einen Augenblick Europa - dies darf man nicht vergessen - zu einer Gemeinde gemacht, indem sie es mit ihrer Hamme fast ganz erfaßte und auf diese Weise den Boden für die Internationale Arbeiterassoziation vorbereitete. Der polnische Aufstand von 1863 bildete, indem er den Anlaß für einen gemeinsamen Protest der englischen und französischen Arbeiter gegen die internationalen Machenschaften ihrer Regierungen gab, den Ausgangspunkt für die Internationale, die unter der Teilnahme polnischer Verbannter gegründet wurde. Schließlich fand die Pariser Kommune unter den polnischen Flüchtlingen ihre aufrichtigen Verteidiger, und nach ihrem Fall genügte es, Pole zu sein, um von den Kriegsgerichten in Versailles erschossen zu werden. So haben die Polen außerhalb der Grenzen ihres Landes eine große Rolle im Kampf um die Befreiung des Proletariats gespielt-in diesem Kampf bildeten sie vorwiegend seine internationale Kampftruppe.
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.493
An das Meeting zum 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830 241
Heute, da sich dieser Kampf unter dem polnischen Volk selbst entfaltet, möge ihn die Propaganda, die revolutionäre Presse unterstützen, und möge er sich mit den Bestrebungen unserer russischen Brüder vereinigen; dies wird ein Grund mehr sein, um den alten Ruf zu wiederholen: „Es lebe Polen!" Gruß und Bruderschaft! London, den 27.November 1880
(gezeichnet) Karl Marx, Friedrich Engels, Paul Lajargue, F. Leßner Ehemalige Mitglieder des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation
Nach der Broschüre „Sprawozdanie z mi^dzynarodowego zebrania zwolanego w 50-letni^ rocznic? listopadowego powstanif", Genf 1881. Aus dem Polnischen.
Karl Marx [Brief an V.l. Sassulitsch[,55]]
S.März 1881 41, Maitland Park Road, London N.W.
Liebe Bürgerin, Eine Nervenkrankheit, die mich seit zehn Jahren periodisch befällt, hat mich gehindert, früher auf Ihren Brief vom 16. Februar zu antworten. Ich bedaure, Ihnen keine bündige, für die Öffentlichkeit bestimmte Auskunft über die Frage geben zu können, die Sie an mich zu stellen mir die Ehre erwiesen haben. Es sind bereits Monate vergangen, seitdem ich dem St. Petersburger Komitee11561 eine Arbeit über den Gegenstand versprochen habe. Dennoch hoffe ich, daß einige Zeilen genügen werden, um Sie von jedem Zweifel über das Mißverständnis hinsichtlich meiner sogenannten Theorie zu befreien. Bei der Analyse der Entstehung der kapitalistischen Produktion sage ich: „Dem kapitalistischen System liegt also die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde... Die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt.., Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung." („Le Capital", edit. frangaise, P.315.) Die „historische Unvermeidlichkeit" dieser Bewegung ist also ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt. Der Grund dieser Beschränkung wird in folgendem Passus des Kapitels XXXII angeführt: „Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist..., wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, auf Lohnarbeit gegründet ist." (l.c.p.341.)£1571
Bei dieser Bewegung im Westen handelt es sich um die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Bei den russischen Bauern würde man im Gegenteil ihr Gemeineigentum in Privateigentum umwandeln. Die im „Kapital" gegebene Analyse enthält also keinerlei Beweise weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde, aber das Spezialstudium, das ich darüber getrieben und wofür ich mir Material aus Originalquellen beschafft habe, hat mich davon überzeugt, daß diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands ist; damit sie aber in diesem Sinne wirken kann, müßte man zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen und ihr sodann die normalen Bedingungen einer natürlichen Entwicklung sichern.
Ich habe die Ehre, liebe Bürgerin, Ihr sehr ergebener Karl Marx
Nach der Handschrift. Aus dem Französischen.
Karl Marx/Friedrich Engels An den Vorsitzenden des Slawischen Meetings» einberufen am 21. März 1881 zum Jahrestag der Pariser Kommune
Bürger' Mit großem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, daß wir nicht in der Lage sind, auf Ihrem Meeting11581 anwesend zu sein. Als die Pariser Kommune dem furchtbaren Massaker unterlag, das die Verteidiger der „Ordnung" organisiert hatten, vermuteten die Sieger schwerlich, daß keine zehn Jahre vergehen würden, bis sich im fernen Petersburg ein Ereignis abspielen würde11591, das, wenn auch vielleicht nach langen und heftigen Kämpfen, schließlich und mit Sicherheit zur Errichtung einer russischen Kommune führen muß. Sie vermuteten auch schwerlich, daß der König von Preußen, der die Kommune dadurch vorbereitet hatte, daß er Paris belagerte und so die herrschende Bourgeoisie zwang, das Volk zu bewaffnen, daß dieser selbe König von Preußen zehn Jahre später, in seiner eigenen Hauptstadt von Sozialisten belagert, nur durch die Erklärung des Belagerungszustandes in seiner Hauptstadt Berlin imstande sein würde, seinen Thron zu behauptend1601 Die Regierungen des Kontinents, die nach dem Fall der Kommune die Internationale Arbeiterassoziation durch ihre Verfolgungen zwangen, ihre formelley  ctvißere Orgsmsätion äufzu^sBcn diese Rc^icruii^cu ^ die die große internationale Arbeiterbewegung durch Dekrete und Sondergesetze vernichten zu können glaubten, vermuteten andererseits wohl kaum, daß diese selbe internationale Arbeiterbewegung zehn Jahre später mächtiger denn je sein und die Arbeiterklasse nicht nur Europas, sondern auch Amerikas umfassen würde, und daß der gemeinsame Kampf für gemeinsame Interessen gegen einen gemeinsamen Feind sie zu einer neuen und größeren spontanen Internationale zusammenschließen würde, die mehr und mehr allen äußeren Formen der Vereinigung entwächst.
An das Slawische Meeting zum Jahrestag der Pariser Kommune 245
So führt die Kommune, die die Mächte der alten Welt glaubten, ausgerottet zu haben, ein kraftvolleres Leben denn je, und so können wir mit Ihnen in den Ruf einstimmen: „Vive la Commune!"
Geschrieben am 21. März 1881. Nach der Handschrift. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels An den Redakteur der „Daily News"11611
Sir, die heutige „Daily News" konstatiert in einem Artikel mit der Überschrift „Verfolgung der Zeitschrift .Freiheit'", daß die Ausgabe dieses Blatts, die einen Artikel über den Tod des Kaisers von Rußland11591 enthielt, „auch eine gewisse Anspielung auf den Täter in der geheimnisvollen MansionHouse-Angelegenheit" enthielt. Da diese Feststellung eine Interpretation zuläßt, die sich völlig in Widerspiuch mit dem Inhalt des betreffenden Artikels befindet, da jener Artikel in gar keinem Zusammenhang steht mit dem über die Petersburger Affäre, und da der Redakteur, Herr Most, gegenwärtig nicht in der Lage ist, sich selbst in der Presse zu verteidigen, bitten wir Sie, folgende wörtliche Übersetzung einzurücken von allem, was in der Ausgabe der „Freiheit" bezüglich der „geheimnisvollen MansionHouse-Angelegenheit" gesagt worden ist. „Freiheit", 19= März 1881 „ „Am Mittwoch abend wurde vor das Stadthaus der Londoner City ein Paket voll Pulver - ca. 15 Pfd. - von »unbekannter* Hand gelegt. Am einen Ende war dieselbe angebrannt, allein .zufällig* bemerkte das sofort ein Polizist, welcher couragiert genug war, zu löschen. Wir wüßten nun nicht,welcher Zweck mit dieser Pulverexplosion eigentlich hätte erreicht werden können. Die internationale Polizei scheint eher gewußt zu haben, wie sich die Sache allenfalls verwerten ließe. Denn am nächsten Abend sollte ja im Parlament die Regierung dahin interpelliert werden, was sie gegen die Sozialistenbrut aus allen Ländern Europas, welche sich in London eingenistet haben, zu tun gedenke. Der Minister des Innern fand sich jedoch nicht veranlaßt, etwas anderes zu tun, als mit den Achseln zu zucken. Damit waren die Polizisten edler Länder mit einer langen Nase abgefertigt."
Geschrieben am 3I.März 1881. Nach dem handschriftl. Entwurf. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk"621
[„The Labour Standard" Nr. 1 vom 7. Mai 1881, Leitartikel] Das ist nun während der letzten fünfzig Jahre der Wahlspruch der englischen Arbeiterbewegung gewesen. Er leistete gute Dienste zur Zeit des Aufstiegs der Trade-Unions nach Aufhebung der schändlichen Antikoalitionsgesetze im Jahre 1824-11631; noch bessere Dienste leistete er zur Zeit der ruhmreichen Chartistenbewegung, als die englischen Arbeiter an der Spitze der europäischen Arbeiterklasse marschierten. Aber die Zeit bleibt nicht stehen, und gar viele Dinge, die vor fünfzig und selbst noch vor dreißig Jahren wünschenswert und notwendig waren, sind nun veraltet und würden völlig fehl am Platze sein. Gehört das altehrwürdige Losungswort auch zu diesen Dingen? Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk? Aber was ist ein gerechter Tagelohn, und was ist ein gerechtes Tagewerk? Wie werden sie bestimmt durch die Gesetze, unter denen die moderne Gesellschaft existiert und sich entwickelt? Um hierauf eine Antwort zu finden, dürfen wir uns weder auf die Wissenschaft von der Moral oder von Recht und Billigkeit berufen, noch auf irgendwelche sentimentalen Gefühle von Humanität, Gerechtigkeit oder gar Barmherzigkeit. Was moralisch gerecht ist, ja selbst was dem Gesetz nach gerecht ist, kann weit davon entfernt sein, sozial gerecht zu sein. Über soziale Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit wird durch eine einzige Wissenschaft entschieden - durch die Wissenschaft, die sich mit den materiellen Tatsachen von Produktion und Austausch befaßt, die Wissenschaft von der politischen Ökonomie. Was wird nun nach der politischen Ökonomie ein gerechter Tagelohn und ein gerechtes Tagewerk genannt? Einfach die Lohnhöhe und die Dauer und Intensität einer Tagesarbeit, die durch die Konkurrenz des Unter
nehmers und des Arbeiters auf dem freien Markt bestimmt werden. Und was sind sie, wenn sie derart bestimmt werden? Ein gerechter Tagelohn ist unter normalen Bedingungen die Summe, die erforderlich ist, dem Arbeiter die Existenzmittel zu verschaffen, die er entsprechend dem Lebensstandard seiner Stellung und seines Landes benötigt, um sich arbeitsfähig zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen. Die wirkliche Lohnhöhe mag, je nach den Schwankungen des Geschäftsganges, manchmal über, manchmal unter diesem Satze liegen; unter normalen Bedingungen sollte dieser Satz jedoch den Durchschnitt aller Lohnschwankungen bilden. Ein gerechtes Tagewerk ist diejenige Dauer des Arbeitstages und diejenige Intensität der tatsächlichen Arbeit, bei denen ein Arbeiter die volle Arbeitskraft eines Tages verausgabt, ohne seine Fähigkeit zu beeinträchtigen, am nächsten Tag und an den folgenden Tagen dieselbe Arbeitsmenge zu leisten. Der Vorgang kann demnach folgendermaßen beschrieben werden: Der Arbeiter gibt dem Kapitalisten die volle Arbeitskraft eines Tages, das heißt, so viel er geben kann, ohne die ununterbrochene Wiederholung des Vorgangs unmöglich zu machen. Im Austausch erhält er gerade so viel und nicht mehr an Existenzmitteln, wie nötig sind, um die Wiederholung desselben Geschäfts jeden Tag zu ermöglichen. Der Arbeiter gibt so viel, und der Kapitalist so wenig, wie es die Natur der Übereinkunft zuläßt. Das ist eine sehr sonderbare Sorte von Gerechtigkeit. Wir wollen aber etwas tiefer in die Sache eindringen. Da nach den politischen Ökonomen Lohn und Arbeitszeit durch die Konkurrenz bestimmt werden, scheint es die Gerechtigkeit zu verlangen, daß beide Seiten zu den gleichen Bedingungen denselben gerechten Ausgangspunkt haben. Aber das ist nicht der Fall. Wenn der Kapitalist mit dem Arbeiter nicht einig werden kann, kann er es sich leisten, zu warten, und von seinem Kapital leben. Der Arbeiter kann das nicht. Er hat nur seinen Lohn zum Leben und muß daher Arbeit annehmen, wann, wo und zu welchen Bedingungen er sie bekommen kann. Der Arbeiter hat keinen gerechten Ausgangspunkt. Durch den Hunger ist er außerordentlich benachteiligt. Und dennoch ist das nach der politischen Ökonomie der Kapitalistenklasse der Gipfel der Gerechtigkeit. Aber das ist noch das wenigste. Die Anwendung von mechanischer Kraft und Maschinerie in neuen Gewerben und die Ausbreitung und Vervollkommnung der Maschinerie in Gewerben, in denen sie sich bereits durchgesetzt hat, verdrängen immer mehr „Hände" von ihrem Arbeits
Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk 249
platz; und das geschieht in weit schnellerem Tempo, als die überflüssig gewordenen „Hände" von den Fabriken des Landes aufgesogen und beschäftigt werden können. Diese überflüssigen „Hände" stellen dem Kapital eine richtige industrielle Reservearmee zur Verfügung. Bei schlechtem Geschäftsgang mögen sie hungern, betteln, stehlen oder ins Arbeitshaus gehen; bei gutem Geschäftsgang sind sie zur Hand für die Ausdehnung der Produktion; und solange nicht auch der allerletzte Mann, die letzte Frau und das letzte Kind Arbeit gefunden haben sollten - was nur in Zeiten stürmischer Überproduktion der Fall ist solange wird die Konkurrenz dieser Reservearmee die Löhne niedrig halten und durch ihre bloße Existenz die Macht des Kapitals in seinem Kampf gegen die Arbeiter verstärken. In dem Wettlauf mit dem Kapital sind die Arbeiter nicht nur benachteiligt, sie haben eine ans Bein geschmiedete Kanonenkugel mitzuschleppen. Aber das ist nach der kapitalistischen politischen Ökonomie Gerechtigkeit. Nun wollen wir untersuchen, aus welchem Fonds das Kapital diese so überaus gerechten Löhne zahlt. Aus dem Kapital natürlich. Aber Kapital produziert keine Werte. Arbeit ist, abgesehen vom Grund und Boden, die einzige Quelle des Reichtums; Kapital selbst ist nichts weiter als aufgehäuftes Arbeitsprodukt. Hieraus folgt, daß der Arbeitslohn aus der Arbeit gezahlt wird und daß der Arbeiter aus seinem eigenen Arbeitsprodukt entlohnt wird. Entsprechend dem, was man gewöhnlich Gerechtigkeit nennt, müßte der Lohn des Arbeiters aus dem Produkt seiner Arbeit bestehen. Aber das würde nach der politischen Ökonomie nicht gerecht sein. Im Gegenteil, das Arbeitsprodukt des Arbeiters geht an den Kapitalisten, und der Arbeiter erhält davon nicht mehr als die bloßen Existenzmittel. Und das Ende dieses ungewöhnlich „gerechten" Wettlaufs der Konkurrenz ist somit, daß das Arbeitsprodukt derer, die arbeiten, unvermeidlich in den Händen derer angehäuft wird, die nicht arbeiten, und in ihren Händen zu dem mächtigsten Mittel wird, eben die Menschen zu versklaven, die es hervorgebracht haben. Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk! Mancherlei wäre auch über das gerechte Tagewerk zu sagen, dessen Gerechtigkeit auf genau der gleichen Höhe steht wie die der Löhne. Aber das müssen wir uns für eine andere Gelegenheit aufsparen. Aus dem Dargelegten geht ganz klar hervor, daß sich das alte Losungswort überlebt hat und heutzutage kaum noch Stich hält. Die Gerechtigkeit der politischen Ökonomie, wie sie in Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die bestehende Gesellschaft beherrschen, diese Gerechtigkeit ist ganz auf der einen Seite - auf der des
Kapitals. Begrabt darum den alten Wahlspruch für immer, und ersetzt ihn durch einen.anderen: Besitzer der Arbeitsmittel — der Rohstoffe, Fabriken und Maschinen — soll das arbeitende Volk selbst sein.
Geschrieben am l./2.Mai 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Das Lohnsystem
[„The Labour Standard" Nr.3 vom 21.Mai 1881, Leitartikel] In einem früheren Artikel1 untersuchten wir den altehrwürdigen Wahlspruch „Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!" mit dem Ergebnis, daß der gerechteste Tagelohn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen unvermeidlich gleichbedeutend ist mit der allerungerechtesten Teilung des vom Arbeiter geschaffenen Produkts, da der größere Teil dieses Produkts in die Tasche des Kapitalisten fließt, während der Arbeiter gerade mit soviel vorliebnehmen muß, wie er benötigt, sich arbeitsfähig zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen. Das ist ein Gesetz der politischen Ökonomie oder, mit anderen Worten, ein Gesetz der gegenwärtigen ökonomischen Organisation der Gesellschaft, das mächtiger ist als alle ungeschriebenen und geschriebenen Gesetze Englands zusammen, das Kanzleigericht11641 eingeschlossen. Solange die Gesellschaft in zwei feindliche Klassen geteilt ist: auf der einen Seite die Kapitalisten, die die Gesamtheit der Produktionsmittel - Grund und Boden, Rohstoffe, Maschinen - monopolisieren; auf der anderen Seite die Arbeiter, die arbeitende Bevölkerung, die jeglichen Eigentums an den Produktionsmitteln beraubt sind und nichts besitzen als die eigene Arbeitskraft - solange diese gesellschaftliche Organisation besteht, wird das Lohngesetz allmächtig bleiben und jeden Tag aufs neue die Ketten schmieden, die den Arbeiter zum Sklaven seines eigenen vom Kapitalisten monopolisierten Produkts machen. Die englischen Trade-Unions haben jetzt seit fast sechzig Jahren gegen dieses Gesetz angekämpft - mit welchem Ergebnis? Ist es ihnen gelungen, die Arbeiterklasse aus der Knechtschaft zu befreien, in der das Kapital
das Produkt ihrer eigenen Hände - sie hält? Haben sie auch nur eine einzige Gruppe der Arbeiterklasse in den Stand gesetzt, sich über die Lage von Lohnsklaven zu erheben, Eigentümer ihrer eigenen Produktionsmittel, der in ihrem Gewerbe benötigten Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen und damit auch Eigentümer des Produkts ihrer eigenen Arbeit zu werden? Es ist allgemein bekannt, daß sie das nicht nur nicht getan, sondern niemals auch nur versucht haben. Wir wollen keineswegs behaupten, die Trade-Unions seien nutzlos, weil sie das nicht getan haben. Im Gegenteil, die Trade-Unions sind in England wie in jedem anderen Industrieland für die Arbeiterklasse eine Notwendigkeit in ihrem Kampf gegen das Kapital. Die durchschnittliche Lohnhöhe entspricht der Summe der notwendigen Bedarfsgegenstände, die zur Erhaltung und Fortpflanzung der arbeitenden Bevölkerung eines Landes entsprechend dem in diesem Lande üblichen Lebensstandard ausreichen. Dieser Lebensstandard kann für verschiedene Schichten der Arbeiter sehr verschieden sein. Das große Verdienst der Trade-Unions in ihrem Kampf um Erhöhung der Löhne und Verringerung der Arbeitszeit besteht darin, daß sie danach streben,.den Lebensstandard zu erhalten und zu heben. Es gibt im Londoner Eastend viele Erwerbszweige, deren Arbeit nicht weniger qualifiziert und genauso schwer ist wie die der Maurer und ihrer Handlanger, und dennoch erhalten sie kaum die Hälfte von deren Löhnen. Warum? Einfach, weil eine machtvolle Organisation die eine Gruppe in den Stand setzt, als Norm, nach der sich ihre Löhne richten, einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard zu behaupten, während die andere Gruppe, unorganisiert und ohnmächtig, sich nicht nur den unvermeidlichen, sondern auch den willkürlichen Übergriffen der Unternehmer fügen muß: ihr Lebensstandard wird schrittweise gesenkt, sie lernt von immer geringeren Löhnen zu leben, und ihre Löhne fallen naturgemäß bis auf jenes Niveau, mit dem sie sich selbst als ausreichend abgefunden hat. Das Lohngesetz ist also nicht derart, daß es eine unbeweglich starre Linie zöge. Innerhalb gewisser Grenzen ist es keineswegs unerbittlich, jederzeit (große Depressionen ausgenommen) gibt es in jedem Erwerbszweig einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen die Lohnhöhe durch die Ergebnisse des Kampfes zwischen den beiden miteinander kämpfenden Parteien verändert werden kann. Die Löhne werden in jedem Fall durch Feilschen festgesetzt, und beim Feilschen hat der, welcher am längsten und wirksamsten Widerstand leistet, die größte Aussicht, mehr zu erhalten, als ihm zusteht. Wenn der einzelne Arbeiter mit dem Kapitalisten handelseins zu werden versucht, wird er leicht geschlagen und muß sich ihm auf Gnade
und Ungnade ergeben; wenn aber die Arbeiter eines ganzen Gewerbes eine mächtige Organisation bilden, unter sich einen Fonds sammeln, um imstande zu sein, den Unternehmern nötigenfalls die Stirn zu bieten, und sich dadurch in die Lage versetzen, als eine Macht mit den Unternehmern zu verhandeln, dann, und nur dann, haben die Arbeiter Aussicht, wenigstens das bißchen zu erhalten, das bei der ökonomischen Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft als ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk bezeichnet werden kann. Das Lohngesetz wird durch den gewerkschaftlichen Kampf nicht verletzt; im Gegenteil, er bringt es voll zur Geltung. Ohne den Widerstand durch die Trade-Unions erhält der Arbeiter nicht einmal das, was ihm nach den Regeln des Lohnsystems zusteht. Nur die Furcht vor den TradeUnions kann den Kapitalisten zwingen, dem Arbeiter den vollen Marktwert seiner Arbeitskraft zu zahlen. Wollt ihr Beweise haben? Seht euch die Löhne an, die den Mitgliedern der großen Trade-Unions gezahlt werden, und vergleicht sie mit den Löhnen in den zahllosen kleinen Gewerben im Londoner Elastend, jenem stagnierenden Pfuhl des Elends. Die Trade-Unions greifen demnach nicht das Lohnsystem an. Aber nicht hoher oder niedriger Lohn bestimmt die wirtschaftliche Erniedrigung der Arbeiterklasse: dieser Erniedrigung liegt die Tatsache zugrunde, daß die Arbeiterklasse, statt für ihre Arbeit das volle Arbeitsprodukt zu erhalten, sich mit einem Teil ihres eigenen Produkts begnügen muß, den man Lohn nennt. Der Kapitalist eignet sich das ganze Produkt an (und bezahlt daraus den Arbeiter), weil er der Eigentümer der Arbeitsmittel ist. Und darum gibt es keine wirkliche Befreiung der Arbeiterklasse, solange sie nicht Eigentümerin aller Arbeitsmittel geworden ist - des Grund und Bodens, der Rohstoffe, der Maschinen etc. - und damit auch Eigentümerin des vollen Produkts ihrer eigenen Arbeit.
Geschrieben am 15./16. Mai 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Trade-Unions
I
[„The Labour Standard" Nr. 4 vom 28. Mai 1881, Leitartikel!
In unserer letzten Ausgabe1 betrachteten wir die Tätigkeit der TradeUnions, insoweit sie das ökonomische Lohngesetz gegen die Unternehmer durchsetzen. Wir kehren zu diesem Thema zurück; denn es ist von höchster Wichtigkeit, daß die Arbeiterklasse es in ihrer Gesamtheit von Grund aus verstehe. Wir nehmen an, kein englischer Arbeiter unserer Tage muß darüber belehrt werden, daß es ebenso im Interesse des einzelnen Kapitalisten wie der gesamten Kapitalistenklasse liegt, die Löhne so weit wie möglich zu senken. Das Arbeitsprodukt wird, wie David Ricardo unwiderleglich nachgewiesen hat, nach Abzug aller Unkosten in zwei Teile geteilt: Der eine bildet den Lohn des Arbeiters, der andere den Profit des Kapitalisten. Da nun das Nettoprodukt der Arbeit in jedem einzelnen Fall eine gegebene Größe darstellt, ist es klar, daß der eine Teil, Profit genannt, nicht zunehmen kann, ohne daß der andere Teil, Lohn genannt, sich verringert. Zu bestreiten, daß es im Interesse des Kapitalisten liegt, die Löhne zu senken, wäre gleichbedeutend mit der Behauptung, daß es nicht in seinem Interesse liege, seinen Profit zu steigern. Wir wissen sehr gut, daß es andere Mittel gibt, den Profit vorübergehend zu steigern; sie ändern aber das allgemeine Gesetz nicht und brauchen daher hier von uns nicht beachtet zu werden. Wie können nun aber die Kapitalisten die Löhne senken, wenn die Lohnhöhe durch ein klares, genau bestimmtes ökonomisches Gesetz geregelt wird? Das ökonomische Lohngesetz existiert und ist unwiderleglich.
Aber es ist, wie wir gesehen haben, elastisch, und zwar in doppelter Hinsicht. Der Lohn kann in einem einzelnen Gewerbezweig gesenkt werden entweder direkt, durch schrittweise Gewöhnung der Arbeiter dieses Gewerbes an einen niedrigeren Lebensstandard, oder indirekt, durch Verlängerung des Arbeitstages (oder Steigerung der Arbeitsintensität während derselben Arbeitszeit) ohne Lohnerhöhung. Das Interesse jedes einzelnen Kapitalisten, seinen Profit durch Senkung des Lohns seiner Arbeiter zu steigern, erhält einen neuen Antrieb durch die Konkurrenz der Kapitalisten ein und desselben Produktionszweigs untereinander. Jeder von ihnen ist bestrebt, seine Konkurrenten zu unterbieten, und wenn er seinen Profit nicht opfern will, muß er versuchen, den Lohn zu senken. Auf diese Weise wird der Druck auf den Lohn, hervorgerufen durch das Interesse jedes einzelnen Kapitalisten, infolge ihrer gegenseitigen Konkurrenz verzehnfacht. Was vorher eine Frage größeren oder geringeren Profits war, wird jetzt zu einer Frage der Notwendigkeit. Gegenüber diesem ständigen, unaufhörlichen Druck- hat die unorganisierte Arbeiterschaft keine wirksamen Mittel des Widerstands. Darum zeigt der Lohn in Produktionszweigen, in denen die Arbeiter nicht organisiert sind, eine ständig sinkende Tendenz und die Arbeitszeit eine ständig steigende Tendenz. Langsam aber sicher schreitet dieser Prozeß fort. Zeiten der Prosperität mögen ihn hier und da unterbrechen, Zeiten schlechten Geschäftsgangs jedoch beschleunigen ihn nachher wieder um so mehr. Die Arbeiter gewöhnen sich nach und nach an einen immer niedrigeren Lebensstandard. Während die Arbeitszeit eine Tendenz zur Verlängerung zeigt, nähern die Löhne sich immer mehr ihrem absoluten Minimum - jener Summe, unterhalb derer es für den Arbeiter völlig unmöglich wird, zu leben und sein Geschlecht fortzupflanzen. Eine vorübergehende Ausnahme hiervon gab es um den Beginn dieses Jahrhunderts. Die sich rasch ausdehnende Anwendung von Dampfkraft und Maschinen reichte für die noch schneller wachsende Nachfrage nach ihren Produkten nicht aus. In diesen Produktionszweigen war der Lohn in der Regel hoch, mit Ausnahme des Lohns von Kindern, die vom Arbeitshaus an den Fabrikanten verkauft wurden; der Lohn für qualifizierte Handarbeit, ohne die man nicht auskommen konnte, war sehr hoch; was ein Färber, ein Mechaniker, ein Samtscherer, ein Spinner an der Hand-Mule damals erhielt, klingt heute märchenhaft. Zur selben Zeit waren die Gewerbe, welche durch Maschinen verdrängt wurden, zum langsamen Absterben verurteilt. Neuerfundene Maschinen verdrängten aber allmählich diese gutbezahlten Arbeiter; es wurden Maschinen erfunden, mit denen Maschinen
hergestellt wurden, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß das Angebot maschinell hergestellter Waren die Nachfrage nicht nur deckte, sondern sogar überstieg. Als durch den allgemeinen Frieden im Jahre 1815 der regelmäßige Handelsverkehr wiederhergestellt wurde, nahmen die Zehnjahreszyklen von Prosperität, Überproduktion und Krise ihren Anfang. Alle Vorteile, welche die Arbeiter aus früheren Prosperitätsperioden gerettet und vielleicht während der Periode stürmischer Überproduktion sogar noch vergrößert hatten, wurden ihnen jetzt, in der Zeit des schlechten Geschäftsgangs und der Krise, wieder entrissen; und bald war die in den Fabriken arbeitende Bevölkerung Englands dem allgemeinen Gesetz unterworfen, nach dem der Lohn der unorganisierten Arbeiter ständig dem absoluten Minimum zustrebt. Inzwischen jedoch waren auch die 1824 legalisierten Trade-Unions auf den Plan getreten, und das war die höchste Zeit. Die Kapitalisten sind immer organisiert. In den meisten Fällen brauchen sie keinen formellen Verband, keine Statuten, keine Funktionäre etc. Ihre im Vergleich zu den Arbeitern geringe Zahl, der Umstand, daß sie eine besondere Klasse bilden, ihr ständiger gesellschaftlicher und geschäftlicher Verkehr untereinander machen das alles überflüssig; erst später, wenn ein Industriezweig in einem Gebiet vorherrschend geworden ist, wie zum Beispiel die Baumwollindustrie in Lancashire, wird eine formelle Trade-Union der Kapitalisten notwendig. Die Arbeiter dagegen können von allem Anfang an nicht ohne starke Organisation mit genau festgelegten Statuten auskommen, die ihren Einfluß durch Funktionäre und Komitees ausübt. Durch das Gesetz von 1824 wurden diese Organisationen legal. Seit jenem Tage ist die Arbeiterschaft in England eine Macht geworden. Die Masse war jetzt nicht länger hilflos und in sich selbst gespalten wie früher. Zu der Stärke, die ihr Koalition und gemeinsames Handeln verliehen, kam bald die Kraft einer wohlgefüllten Kasse - des „Widerstandsgeldes", wie der bezeichnende Ausdruck unserer französischen Brüder lautet. Die ganze Sachlage änderte sich jetzt. Für den Kapitalisten wurde es eine riskante Sache, den Lohn zu senken oder die Arbeitszeit zu verlängern. Daher die Wutausbrüche der Kapitalistenklasse jener Zeit gegen die Trade-Unions. Diese Klasse hatte ihre langgeübte Praxis, die Arbeiterklasse zu schinden, stets als gesetzlich verbrieftes Vorrecht betrachtet. Dem sollte nun Einhalt geboten werden. Kein Wunder, daß die Kapitalisten in heftiges Geschrei ausbrachen und sich in ihren Rechten und in ihrem Besitz mindestens ebensosehr beeinträchtigt fühlten wie die irischen Landlords unserer Tage[165].
Sechzig Jahre Kampferfahrung haben sie etwas einsichtiger gemacht. Die Trade-Unions sind jetzt eine anerkannte Einrichtung geworden, und ihre Funktion als mitbestimmender Faktor bei Lohnregelungen ist in demselben Maße anerkannt wie die Funktion der Fabrikgesetze11663 als bestimmende Faktoren bei der Regelung der Arbeitszeit. Ja, die Baumwollfabrikanten in Lancashire sind neuerdings sogar bei den Arbeitern in die Schule gegangen und verstehen es jetzt, einen Streik zu organisieren, wenn das in ihrem Interesse liegt, und zwar ebensogut oder besser als jede TradeUnion. So ist es also eine Folge des Wirkens der Trade-Unions, daß gegen den Widerstand der Unternehmer das Lohngesetz durchgesetzt wird, daß die Arbeiter jedes gut organisierten Gewerbezweigs in der Lage sind, wenigstens annähernd, den vollen Wert ihrer Arbeitskraft zu erhalten, die sie dem Unternehmer vermieten, und daß mit Hilfe von Staatsgesetzen die Arbeitszeit wenigstens nicht allzusehr jene Höchstdauer überschreitet, über die hinaus die Arbeitskraft vorzeitig erschöpft wird. Das ist aber auch das Höchstmaß dessen, was für die Trade-Unions, wie sie gegenwärtig organisiert sind, überhaupt erreichbar ist, und auch das nur unter ständigen Kämpfen, mit ungeheurem Verschleiß an Kraft und Geld; und dann machen die Konjunkturschwankungen, alle zehn Jahre mindestens einmal, das Errungene im Handumdrehen wieder zunichte, und der Kampf muß von neuem durchgefochten werden. Das ist ein verhängnisvoller Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Arbeiterklasse bleibt, was sie war und als was unsere chartistischen Vorväter sie rundheraus bezeichneten - eine Klasse von Lohnsklaven. Soll dies das Endergebnis von soviel Arbeit, Selbstaufopferung und Leiden sein? Soll dies für immer das höchste Ziel der englischen Arbeiter bleiben? Oder soll die Arbeiterklasse hierzulande nicht endlich versuchen, diesen verhängnisvollen Kreis zu durchbrechen und einen Ausweg aus ihm zu finden in einer Bewegung für die Abschaffung des Lohnsystems überhaupt? Nächste Woche werden wir die Rolle untersuchen, die die TradeUnions als Organisatoren der Arbeiterklasse spielen.
II
{»The Labour Standard" Nr. 5 vom 4. Juni 1881, Leitartikel] Wir haben bisher die Funktionen der Trade-Unions nur insoweit betrachtet, als sie zur Regelung der Lohnhöhe beitragen und dem Arbeiter in
seinem Kampf gegen das Kapital wenigstens einige Mittel sichern, mit denen er sich zur Wehr setzen kann. Mit diesem Gesichtspunkt jedoch ist unser Thema nicht erschöpft. Wir sprachen vom Kampf des Arbeiters gegen das Kapital. Dieser Kampf existiert, was immer die Apologeten des Kapitals auch dagegen sagen mögen. Er wird existieren, solange eine Lohnsenkung das sicherste und bequemste Mittel zur Steigerung des Profits bleibt, ja darüber hinaus, solange das Lohnsystem überhaupt existieren wird. Das bloße Vorhandensein von Trade-Unions beweist diese Tatsache zur Genüge; wenn sie nicht zum Kampf gegen die Übergriffe des Kapitals geschaffen worden sind, wozu sind sie dann geschaffen? Es hat keinen Zweck, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Durch keine noch so schönen Worte kann die häßliche Tatsache verdeckt werden, daß die gegenwärtige Gesellschaft im wesentlichen in zwei große, antagonistische Klassen gespalten ist - auf der einen Seite die Kapitalisten, denen alle Produktionsmittel gehören, auf der anderen Seite die Arbeiter, die nichts besitzen als die eigene Arbeitskraft. Das Arbeitsprodukt der letztgenannten Klasse muß zwischen beiden Klassen geteilt werden, und gerade um diese Teilung tobt ununterbrochen der Kampf. Jede Klasse versucht einen möglichst großen Anteil zu erlangen; und das seltsamste an diesem Kampfe ist, daß die Arbeiterklasse, obwohl sie nur um einen Anteil an ihrem eigenen Produkt kämpft, oft genug beschuldigt wird, sie beraube eigentlich den Kapitalisten! Ein Kampf zwischen zwei großen Gesellschaftsklassen wird jedoch unvermeidlich zu einem politischen Kampf. So war es mit dem langen Kampf zwischen der Mittel- oder Kapitalistenklasse und der Grundbesitzeraristokratie; so ist es auch mit dem Kampf zwischen der Arbeiterklasse und eben diesen Kapitalisten. In jedem Kampf von Klasse gegen Klasse ist das unmittelbare Ziel, um das gekämpft wird, die politische Macht; die herrschende Klasse verteidigt ihre politische Vorherrschaft, das heißt ihre sichere Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften; die untere Klasse kämpft zuerst um einen Anteil an dieser Macht, später um die ganze Macht, um in die Lage zu kommen, die bestehenden Gesetze entsprechend ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen zu ändern. So kämpfte die Arbeiterklasse Großbritanniens jahrelang leidenschaftlich und sogar unter Anwendung von Gewalt für die Volks-Charte1167 J, die ihr diese politische Macht geben sollte; sie erlitt eine Niederlage, aber der Kampf hatte auf die siegreiche Mittelklasse einen solchen Eindruck gemacht, daß diese seitdem schon froh war, um den Preis immer neuer Zugeständnisse an das werktätige Volk, einen längeren Waffenstillstand zu erkaufen.
Nun ist in einem politischen Kampf von Klasse gegen Klasse die Organisation die wichtigste Waffe. Und in demselben Maße, wie die bloß politische, die chartistische Organisation zerfiel, in demselben Maße wurde die Organisation der Trade-Unions immer stärker, bis sie jetzt eine solche Stärke erreicht hat, daß sich mit ihr keine ausländische Arbeiterorganisation vergleichen kann. Einige wenige große Trade-Unions, ein bis zwei Millionen Arbeiter umfassend und von den kleineren oder lokalen Verbänden unterstützt, stellen eine Macht dar, mit der jede Regierung der herrschenden Klasse, gleichviel ob Whig oder Tory, rechnen muß. Entsprechend den Traditionen ihrer Entstehung und Entwicklung hierzulande haben sich diese mächtigen Organisationen bisher fast ausschließlich auf die Funktion beschränkt, bei der Lohn- und Arbeitszeitregelung mitzuwirken und die Abschaffung offen arbeiterfeindlicher Gesetze zu erzwingen. Wie bereits gesagt, taten sie dies mit geradesoviel Erfolg, wie sie mit Recht erwarten durften. Sie erreichten aber noch mehr: Die herrschende Klasse, die die Stärke der Trade-Unions besser kennt als diese selbst, machte ihnen aus freien Stücken Zugeständnisse, die noch darüber hinausgingen. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Haushaltungsvorstände [168J durch Disraeli gab mindestens dem größeren Teil der organisierten Arbeiterklasse das Stimmrecht. Hätte er das vorgeschlagen, wenn er nicht angenommen hätte, daß diese neuen Wähler einen eigenen Willen äußern - daß sie künftig nicht mehr liberalen Politikern der Mittelklasse ihre Führung überlassen würden? Wäre er imstande gewesen, das durchzusetzen, wenn das werktätige Volk bei der Leitung seiner riesigen Gewerkschaftsverbände nicht die Fähigkeit zu administrativer und politischer Arbeit bewiesen hätte? Gerade diese Maßnahme eröffnete neue Perspektiven für die Arbeiterklasse. Sie verschaffte ihr in London und in allen Industriestädten die Mehrheit und setzte sie damit in den Stand, den Kampf gegen das Kapital mit neuen Waffen zu führen, indem sie Männer ihrer eigenen Klasse ins Parlament entsandte. Aber wir müssen leider sagen, daß die Trade-Unions hier ihre Pflicht als Vorhut der Arbeiterklasse vergessen haben. Die neue Waffe befindet sich jetzt seit mehr als zehn Jahren in ihren Händen, aber sie haben sie kaum jemals aus der Scheide gezogen. Sie sollten nicht vergessen, daß sie die Stellung, die sie heute innehaben, nicht auf die Dauer halten können, wenn sie nicht wirklich an der Spitze der Arbeiterklasse marschieren. Es ist geradezu widernatürlich, daß die englische Arbeiterklasse, obwohl sie die Kraft besitzt, vierzig oder fünfzig Arbeiter ins Parlament zu schikken, sich für ewig damit zufriedengeben sollte, sich von Kapitalisten oder
ihren Handlangern, wie Rechtsanwälten, Redakteuren etc. vertreten zu lassen. Überdies sind eine Menge Anzeichen dafür vorhanden, daß die englische Arbeiterklasse zu dem Bewußtsein erwacht, geraume Zeit einen falschen Weg gegangen zu sein; daß die gegenwärtigen Bewegungen, ausschließlich für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit, sie in einen verhängnisvollen Kreis bannen, aus dem es kein Entrinnen gibt; daß das Gründübel nicht in den niedrigen Löhnen liegt, sondern im Lohnsystem selbst. Diese Erkenntnis, einmal in der Arbeiterklasse allgemein verbreitet, muß die Stellung der Trade-Unions weseritlirh ändern. Sie werden nicht länger das Vorrecht genießen, die einzigen Organisationen der Arbeiterklasse zu sein. Neben den Verbänden in den einzelnen Industriezweigen oder über ihnen muß ein Gesamt verband, eine politische Organisation der Arbeiterklasse als Ganzes entstehen. Demnach täten die Trade-Unions gut daran, zweierlei zu berücksichtigen: Erstens, daß die Zeit rasch herannaht, da die Arbeiterklasse hierzulande mit nicht mißzuverstehender Stimme ihren vollen Anteil an der Vertretung im Parlament fordern wird; zweitens, daß ebenso rasch die Zeit herannaht, da die Arbeiterklasse begreifen wird, daß der Kampf für hohe Löhne und kurze Arbeitszeit und die ganze Tätigkeit der Trade-Unions in ihrer jetzigen Form nicht Selbstzweck, sondern Mittel ist, ein sehr notwendiges und wirksames Mittel, aber doch nur eines von verschiedenen Mitteln zu einem höheren Ziel: der Abschaffung des Lohnsystems überhaupt. Für die vollgültige Vertretung der Arbeiterschaft im Parlament sowie für die Vorbereitung zur Abschaffung des Lohnsystems werden Organisationen, nicht einzelner Industriezweige, sondern der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit notwendig sein. Und je eher sie auf den Plan treten, desto besser. Es gibt keine Macht in der Welt, die der englischen Arbeiterklasse auch nur einen einzigen Tag widerstehen könnte, wenn sie sich in ihrer Gesamtheit organisiert.
Geschrieben um den 20. Mai 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der Handelsvertrag mit Frankreich
[„The Labour Standard" . Nr. 7 vom 18. Juni 1881, Leitartikel] Am Donnerstag, dem 9. Juni, brachte Herr Monk (Gloucester) im Unterhaus eine Resolution ein, die darauf hinauslief, daß „kein Handelsvertrag mit Frankreich zufriedenstellend sein werde, der nicht auf die Entwicklung der Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern durch weitere Zollherabsetzung abziele". Es folgte eine ziemlich lange Debatte. Sir C. Dilke leistete im Namen der Regierung den durch die diplomatische Etikette gebotenen sanften Widerstand. Herr J.A. Balfour (Hertford) wollte fremde Nationen durch Retorsionszölle zwingen, niedrigere Tarife festzusetzen. Herr Slagg (Manchester) wollte es den Franzosen überlassen, ganz ohne jeden Vertrag herauszufinden, welchen Wert unser Handel für sie und ihr Handel für uns habe. Herr Illingworth (Bradford) erklärte, er habe die Hoffnung aufgegeben, durch Handelsverträge zum Freihandel zu gelangen. Herr Mac Iver (Birkenhead) bezeichnete das gegenwärtige Freihandelssystem als bloße Täuschung, da es in freier Einfuhr und beschränkter Ausfuhr bestehe. Die Resolution wurde mit 77 gegen 49 Stimmen angenommen - eine Niederlage, die weder Herrn Gladstones Gefühlen noch seiner Stellung wehe tun wird. Diese Debatte ist ein Musterbeispiel für eine lange Reihe immer wiederkehrender Klagen über die Halsstarrigkeit, mit der sich der stupide Ausländer und sogar der ebenso stupide Kolonialuntertan weigert, die allumfassenden Segnungen des Freihandels und seine Eignung als Heilmittel aller ökonomischen Übel anzuerkennen. Niemals ist eine Prophezeiung so völlig zusammengebrochen wie die der Manchesterschule11691: Der Freihandel, einmal in England eingeführt, werde eine solche Segensfülle über
das Land ausschütten, daß alle anderen Nationen dem Beispiel folgen und ihre Häfen den englischen Waren weit öffnen müßten. Die lockende Stimme der Freihandelsapostel blieb die Stimme des Predigers in der Wüste. Nicht nur der Kontinent und Amerika erhöhten alles in allem ihre Schutzzölle; auch die britischen Kolonien folgten nach, sobald sie die Selbstverwaltung erhalten hatten; und kaum war Indien der Krone unterstellt[170], als auch dort zur Ermutigung der einheimischen Industrie ein fünfprozentiger Einfuhrzoll auf Baumwollwaren eingeführt wurde. Warum dem so sein muß, ist für die Manchesterschule ein unergründliches Geheimnis. Und doch ist die Sache ganz einfach. Ungefähr um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war England der Hauptsitz der Baumwollmanufaktur, und deshalb war es natürlich, daß bei der wachsenden Nachfrage nach Baumwollwaren gerade hier die Maschinen erfunden wurden, die mit Hilfe der Dampf kraft erst die Baumwollverarbeitung und nach und nach die ganze übrige Textilindustrie revolutionierten. Die umfangreichen, leicht zugänglichen Kohlenvorkommen Großbritanniens wurden jetzt, dank «der Dampfkraft, zur Grundlage des Wohlstands des Landes. Die ausgedehnten Eisenerzlager in enger Nachbarschaft der Kohlenvorkommen förderten die Entwicklung der Eisenindustrie, die durch die Nachfrage nach Dampfmaschinen und sonstigen Maschinen einen neuen Auftrieb erhalten hatte. Dann, mitten in dieser Revolution des ganzen Fabrikationssystems, kamen die Antijakobiner- und die napoleonischen Kriege, welche die Schiffe fast aller konkurrierenden Nationen für etwa fünfundzwanzig Jahre vom Meer vertrieben und so den englischen Industriewaren praktisch ein Monopol auf allen überseeischen und einigen europäischen Märkten gaben. Als 1815 der Friede wiederhergestellt war, stand England mit seinen mit Dampfkraft betriebenen Fabriken bereit, die Welt zu versorgen, während in anderen Ländern Dampfmaschinen noch kaum bekannt waren. In der industriellen Produktion hatte England ihnen gegenüber einen gewaltigen Vorsprung. Die Wiederherstellung des Friedens veranlaßte jedoch bald andere Nationen, in Englands Fußtapfen zu treten. Durch die chinesische Mauer seiner Prohibitivzölle geschützt, führte Frankreich die Dampfkraft in die Produktion ein. Ebenso verfuhr Deutschland, wenngleich der deutsche Zolltarif damals liberaler war als alle übrigen, der englische nicht ausgenommen. Andere Länder taten desgleichen. Zur selben Zeit führte die englische Grundbesitzeraristokratie, um ihre Renten zu erhöhen, die Korngesetze[ml ein, was eine Erhöhung des Brotpreises und damit der Geldlöhne zur Folge hatte. Dennoch ging die Entwicklung der englischen Industrie in erstaun
lichem Tempo vorwärts. Um 1830 hatte sich England darauf eingerichtet, „die Werkstatt der Welt" zu werden. Es wirklich zur Werkstatt der Welt zu machen, war die Aufgabe, die sich die Anti-Korngesetz-Liga[1721 gestellt hatte. Damals wurde kein Geheimnis daraus gemacht, welches Ziel mit der Aufhebung der Korngesetze verfolgt wurde. Die Senkung des Brotpreises und damit der Geldlöhne sollte die englischen Fabrikanten in den Stand setzen, jeglicher Konkurrenz Trotz zu bieten, mit der böse oder unwissende Ausländer sie bedrohten. Was konnte natürlicher sein, als daß England, mit seinem großen Vorsprung in bezug auf Maschinerie, mit seiner riesigen Handelsflotte, seiner Kohle und seinem Eisen, die ganze Welt mit Industrieartikeln versorgen sollte, und als Gegenleistung die übrige Welt es mit Agrarprodukten, Korn, Wein, Flachs, Baumwolle, Kaffee, Tee etc., versorge? So sollte es nach dem Ratschluß der Vorsehung sein, und sich dem zu widersetzen, bedeutete offene Auflehnung gegen Gottes Fügung. Im äußersten Fall mochte es Frankreich gestattet sein, England und die übrige Welt mit solchen Artikeln des guten Geschmacks und der Mode zu versorgen, die maschinell nicht herstellbar und der Beachtung eines aufgeklärten Fabrikbesitzers ganz und gar unwürdig waren. Dann, und nur dann, konnte Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen sein; dann wären alle Nationen durch die zarten Bande von Handel und wechselseitigem Profit miteinander verbunden; dann wäre für immer das Reich des Friedens und Überflusses errichtet; und der Arbeiterklasse, den „Händen", sagte man: „Kinder, jetzt kommt eine gute Zeit - wartet noch ein wenig." Es versteht sich von selbst, daß die „Hände" noch immer warten. Aber während die „Hände" warteten, warteten die bösen und unwissenden Ausländer nicht. Sie hatten kein Verständnis für die Schönheit eines Systems, das Englands zeitweilige industrielle Überlegenheit in ein Mittel verwandeln sollte, ihm das Industriemonopol in der ganzen Welt und auf ewige Zeiten zu sichern und alle anderen Nationen zu rein agrarischen An" hängsein Englands herabzuwürdigen - mit anderen Worten, sie in die überaus beneidenswerte Lage Irlands zu bringen. Sie wußten, daß keine Nation mit den anderen kulturell Schritt halten kann, wenn sie ihrer Industrie beraubt und damit auf das Niveau eines Haufens von Bauerntölpeln herabgedrückt wird. Und deshalb ordneten sie den privaten Handelsprofit den nationalen Bedürfnissen unter und schützten ihre entstehenden Industrien durch hohe Zölle, was ihnen als das einzige Mittel erschien, sich vor dem Herabsinken auf das wirtschaftliche Niveau zu schützen, dessen sich Irland erfreut.
Wir wollen nicht behaupten, daß ein solches Verfahren in jedem Falle das richtige war. Im Gegenteil, Frankreich würde aus einer weitgehenden Annäherung an den Freihandel ungeheure Vorteile ziehen. Die deutsche Industrie hat ihre heutige Entwicklungsstufe unter dem Freihandel erreicht, und Bismarcks neuer Schutzzolltarif wird niemandem schaden als den deutschen Fabrikanten selbst. Aber es gibt ein Land, wo eine kurze Periode des Schutzzolls nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar absolut notwendig ist Amerika. Amerika befindet sich auf dem Punkt seiner Entwicklung, wo die Einführung fabrikmäßiger Produktion eine nationale Notwendigkeit geworden ist. Das beweist am besten die Tatsache, daß auf dem Gebiet der Erfindung arbeitsersparender Maschinen nicht mehr England die Führung hat, sondern Amerika. Amerikanische Erfindungen verdrängen Tag für Tag englische Patente und englische Maschinen. Amerikanische Maschinen werden nach England herübergebracht, und zwar für fast alle Industriezweige. Dazu besitzt Amerika die tatkräftigste Bevölkerung der Welt, Kohlenvorkommen, welche die Englands weit hinter sich lassen, Eisen und alle anderen Metalle in Hülle und Fülle. Und soll man annehmen, daß ein solches Land seine aufsteigende junge Industrie einem langwierigen Konkurrenzkampf mit der alteingesessenen Industrie Englands aussetzen werde, wenn sie durch eine kurze Schutzzollperiode von etwa zwanzig Jahren unmittelbar auf die gleiche Höhe mit jedem beliebigen Konkurrenten gebracht werden kann? Aber, sagt die Manchesterschule, Amerika beraubt durch sein Schutzzollsystem nur sich selbst. Genauso beraubt ein Mann sich selbst, der für einen Expreßzug Zuschlag zahlt, anstatt den Bummelzug zu benutzen - fünfzig Meilen in der Stunde statt zwölf. Zweifelsohne wird es die heutige Generation noch erleben, daß amerikanische Baumwollwaren in Indien und China mit englischen konkurrieren und auf diesen beiden führenden Märkten allmählich Boden gewinnen und daß amerikanische Maschinen und Metallwaren mit den englischen Fabrikaten in allen Teilen der Welt, England einbegriffen, konkurrieren; dieselbe unerbittliche Notwendigkeit, die die flämischen Manufakturen nach Holland und die holländischen nach England brachte, wird binnen kurzem das Zentrum der Weltindustrie von England nach den Vereinigten Staaten verlegen. Und auf dem eingeschränkten Betätigungsfeld, das England dann noch verbleibt, wird es in mehreren Staaten Europas bedrohliche Konkurrenten finden. Man kann die Augen nicht länger vor der Tatsache verschließen, daß Englands Industriemonopol rasch dahinschwindet. Wenn die „aufgeklärte"
Mittelklasse glaubt, es liege in ihrem Interesse, diese Tatsache zu verschweigen, so soll ihr doch die Arbeiterklasse kühn ins Auge blicken; denn sie ist daran noch mehr interessiert als selbst die „oberen" Klassen. Diese können noch auf lange Zeit hinaus die Bankiers und Geldverleiher der Welt bleiben, wie es vor ihnen die Venetianer und Holländer zur Zeit ihres Verfalls gewesen sind. Was aber soll aus den „Händen" werden, wenn Englands riesiger Ausfuhrhandel einmal anfängt, mit jedem Jahr mehr zusammenzuschrumpfen, anstatt sich auszudehnen? Wenn die Verlagerung des Eisenschiffbaus von der Themse an den Clyde genügte, das ganze Londoner Eastend zu chronischer Verelendung zu verurteilen, was wird dann erst die tatsächliche Verlagerung seines gesamten Stapelhandels auf die andere Seite des Atlantischen Ozeans für England bedeuten? Sie wird eine große Sache zuwege bringen: Sie wird das letzte Band zerreißen, das die englische Arbeiterklasse noch mit der englischen Mittelklasse verbindet. Dieses Band war ihr gemeinsames Wirken für ein nationales Monopol. Ist dieses Monopol einmal zerstört, so wird die britische Arbeiterklasse gezwungen sein, ihre Interessen, ihre eigene Befreiung, selbst in die Hand zu nehmen und mit dem Lohnsystem Schluß zu machen. Wir wollen hoffen, daß sie so lange nicht wartet.
Geschrieben Mitte Juni 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Zwei vorbildliche Stadträte
[„The Labour Standard" Nr. 8 vom 25. Juni 1881, Leitartikel] Wir haben unseren Lesern versprochen, sie über die Arbeiterbewegung sowohl im Ausland als auch zu Hause unterrichtet zu halten. Wir konnten hier und da einige Nachrichten aus Ahlerika bringen, und heute sind wir in der Lage, einige Tatsachen aus Frankreich zu berichten - Tatsachen von solcher Wichtigkeit, daß sie wohl verdienen, in unserem Leitartikel erwähnt zu werden. In Frankreich sind die zahlreichen Systeme öffentlicher Abstimmung, wie sie hierzulande noch in Gebrauch sind, unbekannt. Statt einer Form des Stimmrechts und des Wahlmodus für die Parlaments wählen, einer anderen für städtische Kommunalwahlen, einer dritten für Gemeindewahlen und so fort, ist überall das gewöhnliche allgemeine Stimmrecht und die geheime Wahl mit Stimmzettel die Regel. Bei der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei in Frankreich wurde beschlossen, Arbeiterkandidaten nicht nur für die Kammer, sondern auch für alle Kommunalwahlen aufzustellen; und tatsächlich siegte bei der letzten Neuwahl der Stadträte in Frankreich, die am 9. Januar dieses Jahres stattfand, die junge Partei in einer großen Zahl von Industriestädten und ländlichen, besonders Bergarbeitergemeinden. Es gelang ihr nicht nur, einzelne Kandidaten durchzubringen, sondern in einigen Orten erlangte sie sogar die Majorität im Rat, und mindestens ein Stadtrat wurde, wie wir sehen werden, nur aus Arbeitern gebildet. Kurz vor der Gründung des „Labour Standard" fand ein Streik der Fabrikarbeiter in Roubaix, dicht an der belgischen Grenze, statt. Die Regierung schickte sofort Truppen hin, um die Stadt zu besetzen und unter dem Vorwand, die Ordnung aufrechterhalten zu wollen (die niemals bedroht war), zu versuchen, die Streikenden zu Handlungen zu provozieren,
die als Vor wand für das Eingreifen der Truppen dienen konnten. Aber die Bevölkerung verhielt sich ruhig, und eine der Hauptursachen, die sie allen Provokationen widerstehen ließ, war das Vorgehen des Stadtrats. Dieser bestand in seiner Mehrheit aus Arbeitern. Die Gründe für den Streik wurden ihm vorgetragen und ausführlich erörtert. Das Ergebnis war, daß der Rat nicht nur erklärte, die Streikenden seien im Recht, sondern daß er auch einen Betrag von 50 000frs. oder 2000 Pfd.St. zur Unterstützung der Streikenden votierte. Diese Hilfsgelder konnten nicht ausgezahlt werden, da nach französischem Recht der Präfekt des Departements befugt ist, jeden Beschluß der Stadträte zu annullieren, den er als eine Überschreitung ihrer Befugnisse ansieht. Nichtsdestoweniger war aber die starke moralische Unterstützung, die dem Streik so durch die offizielle Vertretung der Stadt zuteil wurde, für die Arbeiter von größtem Wert. Am 8. Juni entließ die Bergwerksgesellschaft von Commentry im Zentrum Frankreichs (Departement Allier) 152 Leute, die es ablehnten, sich neuen und ungünstigeren Bedingungen zu unterwerfen. Da dies Teil eines bereits seit längerem angewandten Systems war, um allmählich schlechtere Arbeitsbedingungen einzuführen, streikte die Gesamtheit der etwa 1600 Bergarbeiter; Die Regierung schickte sofort die üblichen Truppen, um die Streikenden einzuschüchtern bzw. zu provozieren. Aber auch hier setzte sich der Stadtrat sofort für die Arbeiter ein. In seiner Versammlung vom 12. Juni (überdies einem Sonntag) faßte er folgende Beschlüsse:
1. Nachdem es Pflicht der Gesellschaft ist, die Existenz derjenigen zu sichern, die durch ihre Arbeit die Existenz aller ermöglichen, und da die Gemeinden gehalten sind, dies zu tun, wenn der Staat es ablehnt, diese Pflicht zu erfüllen, beschließt dieser Rat, mit Einwilligung der höchstbesteuerten Bürger, eine Anleihe von 25 000 frs. (1 OOOPfd. St.) aufzunehmen, zum Nutzen der Bergleute, welche die ungerechtfertigte Entlassung von 152 Mann aus ihrer Mitte gezwungen hat, in den Streik zu treten. Einmütig gegen das alleinige Veto des Bürgermeisters angenommen.
2. Nachdem der Staat durch den Verkauf des wertvollen Nationaleigentums, der Bergwerke von Commentry, an eine Aktiengesellschaft die dort beschäftigten Arbeiter der Gnade besagter Gesellschaft ausgeliefert hat; und da der Staat infolgedessen verpflichtet ist, darauf zu achten, daß der durch die Gesellschaft auf die Bergarbeiter ausgeübte Druck nicht einen Grad erreicht, der geradezu ihre Existenz bedroht; nachdem der Staat, indem er der Gesellschaft während des gegenwärtigen Streiks Truppen zur Verfügung stellt, jedoch nicht einmal Neutralität bewahrt, sondern für die Bergwerksgesellschaft Partei ergriffen hat, fordert dieser Rat im Namen der Interessen der Arbeiterklasse, die zu schützen seine Pflicht ist, den Unterpräfekten des Bezirks auf:
1) sofort die Truppen zurückzurufen, deren völlig unangebrachte Anwesenheit nichts als eine Provokation darstellt, und 2) bei dem Verwalter der Bergwerksgesellschaft vorstellig zu werden und dahin zu wirken, daß die Maßnahme rückgängig gemacht wird, die den Streik hervorgerufen hat. Einstimmig angenommen. In einem dritten Beschluß, der ebenfalls einstimmig angenommen wurde, eröffnet der Rat - der befürchtet, daß durch die Armut der Gemeinde diese bewilligte Anleihe nicht realisierbar sei - eine öffentliche Subskription zur Unterstützung der Streikenden und forderte alle anderen Gemeinderäte in Frankreich auf, für den gleichen Zweck Hilfsgelder zu schicken. Hier haben wir also einen schlagenden Beweis dafür, was die Anwesenheit von Arbeitern nicht nur im Parlament, sondern auch in kommunalen und allen anderen Körperschaften bedeutet. Wie anders würde manch ein Streik in England enden, wenn die Männer den Stadtrat des Ortes hinter sich hätten! Die englischen Stadträte und die örtlichen Ausschüsse, die zum großen Teil von Arbeitern gewählt werden, bestehen zur Zeit fast ausschließlich aus Unternehmern, ihren direkten und indirekten Agenten (Advokaten etc.) und im besten Falle aus Ladeninhabern. Sobald ein Streik oder eine Aussperrung erfolgt, wird die ganze moralische und materielle Macht der Ortsbehörden zugunsten der Herren und gegen die Arbeiter angewandt; selbst die Polizei, mit dem Geld der Arbeiter bezahlt, wird genau so eingesetzt wie in Frankreich die Truppen, um die Arbeiter zu illegalen Handlungen zu provozieren und sie dann zur Strecke zu bringen. Die Armenbehörden verweigern in den meisten Fällen Unterstützung für die Männer, die ihrer Meinung nach arbeiten könnten, wenn sie wollten. Und das ist ganz natürlich, in den Augen dieser Art Leute, die mit Einwilligung der Arbeiter die Ortsbehörden bilden, ist der Streik eine offene Rebellion gegen die Gesellschaftsordnung, eine Empörung gegen die geheiligten Rechte des Eigentums. Daher wird auch bei jedem Streik und bei jeder Aussperrung das ganze ungeheure moralische und physische Gewicht der Ortsbehörden in die Waagschale der Herren geworfen, solange die Arbeiterklasse damit einverstanden ist, daß die Herren und die Vertreter der Herren in lokale Wahlkörperschaften entsandt werden. Wir hoffen, daß die Handlungsweise der beiden französischen Stadträte vielen die Augen öffnen wird. Es sei ein für allemal auch den englischen Arbeitern gesagt, daß „sie in Frankreich diese Dinge besser besorgen". Die englische Arbeiterklasse, mit ihrer alten und mächtigen Organisation, ihren uralten politischen Freiheiten, ihrer langen Erfahrung in politischer Betätigung, hat gegenüber jedem Lande auf dem Kontinent gewaltige Vorteile.
Dennoch konnten die Deutschen zwölf Vertreter der Arbeiterklasse in den Reichstag entsenden, und sowohl in Deutschland als auch in Frankreich besitzen Vertreter der Arbeiterklasse in zahlreichen Stadträten die Mehrheit. Gewiß, in England ist das Wahlrecht eingeschränkt; aber selbst jetzt bildet die Arbeiterklasse in allen großen Städten und in den Industriebezirken die Mehrheit. Sie braucht es nur zu wollen, und diese potentielle Majorität wird sofort eine wirkliche, eine Macht im Staate, eine Macht in allen Orten, wo die arbeitende Bevölkerung konzentriert ist. Und wenn erst einmal Arbeiter im Parlament, in den Stadträten und lokalen Fürsorgeämtern etc. sind, wie lange wird es dann dauern, bis ihr auch in den Behörden Vertreter der Arbeiterklasse habt, die fähig sind, einen Knüppel zwischen die Beine jener Dogberries[173] zu werfen, die jetzt so häufig rücksichtslos auf dem Volk herumtrampeln?
Geschrieben in der zweiten Junihälfte 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Amerikanische Lebensmittel und die Bodenfrage
[„The Labour Standard" Nr. 9 vom 2. Juli 1881, Leitartikel] Seit Herbst 1837 haben wir uns an den Import von Geldpaniken und Handelskrisen aus New York nach England gewöhnt. Mindestens die Hälfte der alle zehn Jahre wiederkehrenden industriellen Krisen brachen in Amerika aus. Aber daß Amerika auch die altehrwürdigen Verhältnisse in der englischen Landwirtschaft auf den Kopf stellen, die seit unvordenklichen Zeiten bestehenden feudalen Beziehungen zwischen Grundherrn und Pächter revolutionieren, die Rente in England zugrunde richten und den Ruin der Farmen in England herbeiführen sollte - dieses Schauspiel blieb dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vorbehalten. Und doch ist dem so. Der jungfräuliche Boden der Prärien des amerikanischen Westens - der jetzt unter den Pflug kommt, und zwar nicht in vereinzelten kleinen Parzellen, sondern in Tausenden von Quadratmeilen beginnt jetzt den Weizenpreis und folglich auch den Pachtpreis für Weizenland zu bestimmen. Und kein alter Boden kann mit ihm konkurrieren. Es ist vortreffliches Land, eben oder leicht gewellt, durch keine jähen Bodenerhebungen unterbrochen, noch genau in dem gleichen Zustand, in dem es sich auf dem Grunde eines tertiären Ozeans allmählich ablagerte, frei von Steinen, Felsen, Bäumen, ohne vorbereitende Arbeit zu sofortigem Anbau geeignet. Weder Rodung noch Entwässerung ist erforderlich; man bearbeitet es mit dem Pflug, und schon ist es zur Aufnahme der Saat bereit und wird zwanzig bis dreißig Weizenernten nacheinander ohne Düngung bringen. Es ist ein Boden, der sich für Ackerbau im größten Maßstab eignet, und tatsächlich wird er im größten Maßstab betrieben. Die englischen Landwirte pflegten stolz zu sein auf die Größe ihrer Güter, im Gegensatz zu den kleinen Höfen der selbständigen Bauern auf dem Kontinent; aber was sind die
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größten Güter des Vereinigten Königreichs im Vergleich mit den Farmen der amerikanischen Prärie, die 40 000 Acres und mehr umfassen und durch regelrechte Armeen von Männern, Pferden und Geräten bearbeitet werden, von Männern, die wie Soldaten gedrillt, kommandiert und organisiert werden? Diese amerikanische Revolution des Ackerbaus ermöglicht es, zusammen mit der Revolutionierung der Transportmittel, wie sie die Amerikaner erfunden haben, den Weizen zu so niedrigen Preisen nach Europa zu bringen, daß kein europäischer Landwirt konkurrieren kann - zumindest, solange man von ihm erwartet, daß er Pacht zahle. Man erinnere sich des Jahres 1879, als sich das zum erstenmal fühlbar machte. Die Ernte war in ganz Westeuropa schlecht; in England gab es eine Mißernte. Dennoch blieben dank dem amerikanischen Getreide die Preise fast unverändert. Zum erstenmal hatte der englische Pächter gleichzeitig eine schlechte Ernte und niedrige Weizenpreise. Damals begannen sich die Pächter zu rühren und die Grundbesitzer gerieten in Unruhe. Im nächsten Jahre, als die Ernte besser war, fielen die Preise noch mehr. Den Getreidepreis bestimmen jetzt die Produktionskosten in Amerika zuzüglich der Transportkosten. Und das wird von Jahr zu Jahr mehr der Fall sein, in dem Maße, in dem neues Prärieland unter den Pflug genommen wird. Die dafür erforderlichen Armeen von Landarbeitern liefern wir selbst aus Europa, indem wir Auswanderer hinüberschicken. Früher konnten Pächter und Grundbesitzer sich damit trösten, wenn schon Getreide nichts einbrachte, daß wenigstens Fleisch sich bezahlt machte. Das Ackerland wurde in Weideland verwandelt, und alles war wieder in schönster Ordnung. Heute ist aber auch dieser Ausweg abgeschnitten. In ständig wachsenden Mengen werden amerikanisches Fleisch und amerikanisches Vieh herübergeschickt. Und das ist noch nicht alles. Es gibt zum mindesten zwei große Länder mit Viehzucht, die eifrig nach Mitteln und Wegen suchen, wie sie ihren riesigen Überschuß an Fleisch, der jetzt unausgenutzt bleibt, nach Europa und besonders nach England ausführen können. Bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft und dem raschen Fortschritt in ihrer praktischen Anwendung können wir sicher sein, daß spätestens in ein paar Jahren australisches und südamerikanisches Rind- und Hammelfleisch in tadelloser Frische und in riesigen Mengen herübergeschickt werden wird. Was soll dann aus dem Wohlstand des britischen Pächters werden, was aus den hohen Einkünften des britischen Grundbesitzers? Es ist zwar recht gut, Stachelbeeren, Erdbeeren etc. zu ziehen - der Markt ist aber schon jetzt zur Genüge damit versorgt. Kein
Zweifel, daß der britische Arbeiter ein gut Teil mehr von diesen Leckerbissen konsumieren könnte - aber dann erhöhe man erst seinen Lohn. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die Auswirkungen dieser neuen amerikanischen landwirtschaftlichen Konkurrenz auch auf dem Kontinent fühlbar sind. Der meist bis über die Ohren in Hypothekenschulden stekkende kleine, selbständige Bauer, der an Stelle der Pacht, die der englische und irische Bauer entrichtet, Zinsen und Prozeßkosten zu zahlen hat, fühlt sie genauso. Es ist eine eigentümliche Wirkung dieser amerikanischen Konkurrenz, daß durch sie nicht nur das große Grundeigentum nutzlos wird, sondern auch das kleine, indem sie beides unrentabel macht. Man könnte einwenden, daß das System des Raubbaus am Boden, wie es jetzt im Fernen Westen gehandhabt wird, nicht ewig weitergehen kann, und daß die Dinge sich schließlich wieder einrenken müssen. Natürlich kann es nicht ewig dauern; aber es gibt genug jungfräulichen Boden, um diesen Prozeß noch ein Jahrhundert fortzusetzen. Außerdem gibt es andere Länder, die ähnliche Vorteile bieten. Da ist die ganze südrussische Steppe, wo ja Geschäftsleute Boden aufgekauft haben und dieselben Methoden anwenden. Es gibt die riesigen Pampas der Argentinischen Republik und noch andere Gebiete; sämtlich Land, das sich gleichfalls für das moderne System der landwirtschaftlichen Riesenbetriebe und der billigen Produktion eignet. Deshalb wird dieses System, bis es abgewirtschaftet hat, lange genug bestanden haben, um sämtliche Grundbesitzer Europas, große und kleine, wenigstens zweimal zu erledigen. Nun, und das Ende von alledem? Das Ende wird und muß sein, daß wir zur Nationalisierung des Grund und Bodens und zu seiner genossenschaftlichen Bearbeitung unter der Kontrolle des Volkes gezwungen sein werden. Dann, und nur dann, wird sich die Bearbeitung wieder lohnen, sowohl für die Bebauer wie für die ganze Nation, gleichgültig, was auch der Preis des amerikanischen oder irgendwelchen anderen Getreides und Fleisches sein mag. Und sollten die Grundbesitzer inzwischen, wozu sie mehr oder weniger geneigt zu sein scheinen, wirklich nach Amerika gehen, so wünschen wir ihnen glückliche Reise.
Geschrieben Ende Juni 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Lohntheorie der Anti-Korngesetz-Liga
[„The Labour Standard" Nr. 10 vom 9. Juli 188!, Leitartikel] An anderer Stelle veröffentlichen wir einen Brief von Herrn j. Noble, der mit einigen unserer Bemerkungen in einem Leitartikel des „Labour Standard" vom 1 S.Juni1 nicht einverstanden ist. Obwohl wir natürlich die Spalten unserer Leitartikel nicht mit Polemiken über geschichtliche Tatsachen oder ökonomische Theorien füllen können, wollen wir für diesmal doch einem Manne erwidern, der es, obwohl in offizieller Parteistellung, offenbar ehrlich meint. Gegen unsere Behauptung, daß mit der Aufhebung der Korngesetze der Zweck verfolgt worden sei, eine „Senkung des Brotpreises und damit der Geldlöhne" herbeizuführen, wendet Herr Noble ein, dies sei eine „protektionistische Irrlehre" gewesen, die die Liga unermüdlich bekämpft habe, und zum Beweis dafür zitiert er einige Stellen aus Richard Cobdens Reden ünd eine Denkschrift des Rates der Liga. Der Verfasser des Artikels, um den es sich hier handelt, lebte damals in Manchester - als Fabrikant unter Fabrikanten. Er weiß natürlich recht gut, was die offizielle Doktrin der Liga war. Auf ihren kürzesten, ganz allgemein anerkannten Ausdruck gebracht (denn es gibt viele Varianten), lautete sie wie folgt: Die Aufhebung der Kornzölle wird den Umfang unseres Handels mit dem Ausland vergrößern,'sie wird unmittelbar unsere Einfuhr steigern, wofür im Austausch ausländische Kunden unsere Fabrikate kaufen und so die Nachfrage nach unsern Industrieartikeln steigern werden; auf diese Weise wird die Nachfrage nach der Arbeit unserer Industriearbeiter wachsen, und infolgedessen müssen die Löhne steigen. Dank der Tag für Tag und
Jahr für Jahr fortgesetzten Wiederholung dieser Theorie konnten die offiziellen Vertreter der Liga, oberflächliche Ökonomen, die sie waren, schließlich mit der erstaunlichen Behauptung herauskommen, daß die Löhne im umgekehrten Verhältnis nicht zum Profit, sondern zum Lebensmittelpreis steigen und fallen, daß teures Brot niedrige Löhne bedeute und billiges Brot hohe Löhne. Damit wurden die alle zehn Jahre wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, die es sowohl vor wie nach der Aufhebung der Kornzölle gab, von den Wortführern der Liga als bloße Auswirkungen der Korngesetze hingestellt, die bestimmt verschwinden würden, sobald diese abscheulichen Gesetze aufgehoben seien; die Korngesetze seien das einzige große Hindernis, das zwischen dem britischen Fabrikanten und den armen Ausländern stehe, die sich, mangels britischer Stoffe, unbekleidet und vor Kälte zitternd, nach den Erzeugnissen dieses Fabrikanten sehnten. Und so konnte Cobden in der Tat an der von Herrn Noble zitierten Stelle geltend machen, daß die geschäftliche Depression und das Sinken der Löhne von 1839 bis 1842 die Folge des sehr hohen Kornpreises dieser Jahre gewesen sei, während es sich doch nur um eine der regulären Phasen geschäftlicher Depression handelte, die sich bis auf den heutigen Tag alle zehn Jahre mit der größten Regelmäßigkeit wiederholen; eine Phase, die allerdings durch schlechte Ernten und die törichte Einmischung der Gesetzgebung zugunsten der habgierigen Grundbesitzer verlängert und verschlimmert wurde. Das war die offizielle Theorie Cobdens, der bei all seiner Geschicklichkeit als Agitator ein schlechter Geschäftsmann und oberflächlicher Ökonom war; ohne Zweifel glaubte er an sie ebenso aufrichtig, wie Herr Noble noch heute an sie glaubt. Die Mehrheit der Liga bestand jedoch aus praktischen Geschäftsleuten, die geschäftstüchtiger und im allgemeinen auch erfolgreicher waren als Cobden. Und bei ihnen verhielt sich die Sache ganz anders. Natürlich, vor Fremden und in öffentlichen Versammlungen, besonders ihren „Händen" gegenüber, wurde die offizielle Theorie allgemein als „die Sache" bewertet. Aber wenn Geschäftsleute auf Geschäfte aus sind, dann tragen sie in der Regel ihren Kunden gegenüber nicht das Herz auf der Zunge, und falls Herr Noble anderer Meinung sein sollte, so täte er besser, der Börse von Manchester fernzubleiben. Wenn man sich etwas näher danach erkundigte, was man darunter verstehe, der Freihandel mit Getreide führe zu einem Ansteigen der Löhne, so wurde offenbar, daß damit eine Steigerung der Kaufkraft der Löhne gemeint war, wobei als durchaus möglich angenommen wurde, daß der Geldbetrag der Löhne überhaupt nicht steige - aber sei das im Grunde genommen nicht auch eine Lohnsteigerung? Forschte man weiter nach, so kam gewöhnlich heraus, daß der Geldbetrag
der Löhne sogar sinken könne, während die Annehmlichkeiten, die der Arbeiter für diesen verringerten Geldbetrag erhalte, noch immer bedeutender seien als die, deren er sich gegenwärtig erfreue. Und wenn man noch nachdrücklicher die Frage stellte, auf welchem Wege die erwartete riesige Ausdehnung des Handels zustande kommen solle, dann bekam man rasch zu hören, daß in der Hauptsache mit der zuletzt erwähnten Möglichkeit gerechnet wurde: eine Senkung des Geldbetrags der Löhne, verbunden mit einem diese Senkung mehr als ausgleichenden Sinken des Brotpreises etc. Überdies gab es viele, die sich gar keine Mühe gaben, ihre Meinung zu verhehlen, daß billiges Brot einfach nötig sei, um den Geldbetrag der Löhne herabzusetzen und so die ausländische Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Und daß das wirklich das Ziel und Streben der Mehrheit der Fabrikanten und Kaufleute war, aus denen sich die Liga vorwiegend zusammensetzte, war nicht allzuschwer ausfindig zu machen für jemand, der gewohnt war, mit Kaufleuten umzugehen, und daher auch gewohnt, nicht jedes ihrer Worte als Evangelium hinzunehmen. Das haben wir gesagt, und wir sagen es nochmals. Über die offizielle Doktrin der Liga haben wir kein Wort verloren. Sie war ökonomisch eine „Irrlehre" und praktisch ein bloßer Deckmantel für eigennützige Zwecke, wenn auch manche ihrer Führer sie so oft wiederholten, bis sie schließlich selbst daran glaubten. Sehr amüsant ist Herrn Nobles Bezugnahme auf Cobdens Worte über die Arbeiterklasse, die sich bei der Aussicht auf einen Kornpreis von 25 Shilling je Quarter „befriedigt die Hände reibt". Die Arbeiterklasse von damals verschmähte billiges Brot durchaus nicht; aber ihre „Befriedigung" über die Machenschaften von Cobden und Co. war so groß, daß sie es der Liga mehrere Jahre hindurch unmöglich machte, im ganzen Norden auch nur eine einzige wirklich öffentliche Versammlung abzuhalten. Der Verfasser dieses Artikels hatte die „Befriedigung", 1843 in der Stadthalle von Salford anwesend zu sein, als die Liga ihren letzten Versuch machte, eine solche Versammlung zustande zu bringen, und zu erleben, wie sie durch die bloße Einbringung eines Zusatzantrags zugunsten der Volks-Charte beinahe gesprengt wurde. Seitdem war für alle Versammlungen der Liga die Regel: „Einlaß nur mit Eintrittskarte", die durchaus nicht jedermann erhalten konnte. Von diesem Augenblick an hörte die „chartistische Obstruktion" auf. Die arbeitenden Massen hatten ihr Ziel erreicht — den Nachweis zu führen, daß die Liga keineswegs, wie sie behauptete, die Interessen der Massen vertrat. Abschließend ein paar Worte über die Lohntheorie der Liga. Der Durchschnittspreis einer Ware ist gleich ihren Produktionskosten; die Wirkung
von Angebot und Nachfrage besteht darin, ihn auf diese Norm zurückzuführen, um die er schwankt. Wenn das für alle Waren zutrifft, trifft es auch für die Ware Arbeit (oder genauer gesagt, Arbeitskraft) zu. Dann ist die Lohnhöhe durch den Preis jener Waren bestimmt, die in den herkömmlichen und notwendigen Konsum des Arbeiters eingehen. Mit andern Worten, bei sonst unveränderten Umständen steigen und fallen die Löhne mit dem Preis der lebensnotwendigen Waren. Das ist ein Gesetz der politischen Ökonomie, gegen das alle Perronet Thompsons, Cobdens und Brights ewig ohnmächtig bleiben werden. Alle sonstigen Umstände bleiben jedoch keineswegs immer unverändert, und deshalb wird die Wirkung dieses Gesetzes in der Praxis durch die gleichzeitige Wirkung anderer ökonomischer Gesetze modifiziert; es erscheint unklar, und zwar manchmal in so hohem Grade, daß es einige Mühe kostet, ihm auf die Spur zu kommen. Dieser Umstand diente den vulgarisierenden und den Vulgärökonomen seit den Zeiten der Anti-Korngesetz-Liga als Vorwand für die Behauptung, daß erstens die Arbeit und dann alle anderen Waren keinen wirklich bestimmbaren Wert hätten, sondern nur einen schwankenden Preis, der, unabhängig von den Produktionskosten, mehr oder weniger durch Angebot und Nachfrage reguliert werde, und daß man, um die Preise und damit die Löhne zu erhöhen, weiter nichts zu tun brauche, als die Nachfrage zu vergrößern. Auf diese Weise kam man um den unangenehmen Zusammenhang der Lohnhöhe mit den Lebensmittelpreisen herum und konnte kühn die hanebüchene, lächerliche Lehre hinausposaunen, teures Brot bedeute niedrige Löhne und billiges Brot hohe Löhne. Vielleicht wird Herr Noble fragen, ob die Löhne bei dem heutigen billigen Brot im allgemeinen nicht ebenso hoch oder sogar höher seien als bei dem durch Zölle verteuerten Brot vor 1847. Zur Beantwortung dieser Frage wäre eine eingehende Untersuchung nötig. Soviel ist jedoch sicher: Wo ein Industriezweig florierte und die Arbeiter gleichzeitig eine starke Organisation zur Verteidigung ihrer Interessen hatten, sind ihre Löhne im allgemeinen nicht gefallen und manchmal vielleicht sogar gestiegen. Das beweist aber lediglich, daß die Leute vorher unterbezahlt waren. Wo ein Industriezweig in Verfall geriet oder wo die Arbeiter nicht in starken TradeUnions organisiert waren, sind die Löhne ausnahmslos gefallen, oft auf ein Hungerniveau. Geht ins Londoner Eastend und überzeugt euch mit eigenen Augen!
Geschrieben Anfang Juli 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Eine Arbeiterpartei
[„The Labour Standard" Nr. 12 vom 23. Juli 1881, Leitartikel] Wie oft sind wir nicht schon von Freunden und Sympathisierenden gewarnt worden: „Haltet euch die Parteipolitik vom Leihe 1" Und sie hatten vollkommen recht, soweit es sich dabei um die gegenwärtige englische Parteipolitik handelt. Ein Arbeiterorgan darf weder für die Whigs noch für die Tories sein, weder für die Konservativen noch für die Liberalen, es darf nicht einmal radikal im heutigen Parteisinn des Wortes sein. Konservative, Liberale, Radikale - sie alle vertreten nur die Interessen der herrschenden Klassen und die verschiedenen Schattierungen der Ansichten, die unter den Grundbesitzern, Kapitalisten und Kleinhändlern vorherrschen. Wenn sie die Arbeiterklasse vertreten, vertreten sie sie ganz bestimmt falsch und schlecht. Die Arbeiterklasse hat, politisch wie sozial, ihre eigenen Interessen. Wie sie für das eintritt, was sie als ihre sozialen Interessen betrachtet, das zeigt die Geschichte der Trade-Unions und der Bewegung für die Verkürzung der Arbeitszeit. Ihre politischen Interessen aber überläßt sie fast völlig den Tories, Whigs und Radikalen, Angehörigen der oberen Klasse; und seit nahezu einem Vierteljahrhundert hat sich die Arbeiterklasse Englands damit begnügt, sozusagen das Anhängsel der „Großen Liberalen Partei" zu bilden. Eine solche politische Haltung ist der am besten organisierten Arbeiterklasse Europas nicht würdig. In anderen Ländern waren die Arbeiter weit aktiver. Deutschland hat seit über zehn Jahren eine Arbeiterpartei (die Sozialdemokraten), die über zehn Sitze im Reichstag verfügt und Bismarck durch ihr Wachstum derart in Schrecken versetzt hat, daß er zu jenen berüchtigten Unterdrückungsmaßnahmen griff, von denen wir an anderer Stelle berichten1. Aber trotz Bismarck macht die Arbeiterpartei ständige Fortschritte; so eroberte sie erst vorige Woche sechzehn Sitze im Mannheimer Stadtrat
und einen im sächsischen Landtag. In Belgien, Holland und Italien ist man dem deutschen Beispiel gefolgt; in jedem dieser Länder gibt es eine Arbeiterpartei, wenngleich der Wahlzensus dort zu hoch ist, als daß sie derzeit Aussicht auf die Entsendung von Abgeordneten in die gesetzgebenden Körperschaften hätten» In Frankreich ist der Aufbau der Arbeiterpartei gerade jetzt in vollem Gange; sie hat bei den letzten Wahlen in mehreren Munizipalräten die Mehrheit errungen und wird bei den allgemeinen Kammerwahlen im nächsten Oktober zweifellos eine Anzahl Sitze erobern. Selbst in Amerika, v/o der Übergang aus der Arbeiterklasse in die der Farmer, Kaufleute oder Kapitalisten noch immer verhältnismäßig leicht ist, halten die Arbeiter es für notwendig, sich zu einer unabhängigen Partei zusammenzuschließen. Überall kämpft der Arbeiter um die politische Macht, um die direkte Vertretung seiner Klasse in den gesetzgebenden Körperschaften - überall, nur in Großbritannien nicht. Und dennoch war in England noch nie so weit wie heute das Bewußtsein verbreitet, daß die alten Parteien dem Untergang geweiht, die alten Schibboleths sinnlos geworden sind, daß die alten Losungen sich überlebt, die alten Universalmittel ihre Wirkung verloren haben. Vernünftige Männer aus allen Klassen beginnen einzusehen, daß ein neuer Weg beschritten werden muß, und daß dieser Weg nur in der Richtung der Demokratie liegen kann. In England jedoch, wo die industrielle und landwirtschaftliche Arbeiterklasse die überwältigende Mehrheit des Volkes bildet, bedeutet Demokratie nicht mehr und nicht weniger als die Herrschaft der Arbeiterklasse. Laßt die Arbeiterklasse sich vorbereiten für die Aufgabe, die ihrer harrt - auf die Herrschaft über das große Britische Reich; laßt sie die Verantwortung erkennen, die ihr unvermeidlich zufallen wird. Und der beste Weg hierzu ist, die Macht, über die sie bereits verfügt, die faktische Mehrheit, die sie in jeder großen Stadt des Königreichs besitzt, dazu auszunutzen, Leute aus ihren eigenen Reihen ins Parlament zu entsenden. Bei dem gegenwärtigen Wahlrecht der Haushaltungsvorstände könnten bequem vierzig oder fünfzig r-irbeiter ms Unterhaus ^cscKickt wcfuGitj wo cmc sOicHe gründliche Blutauffrischung in der Tat höchst notwendig ist. Schon allein mit dieser Zahl von Arbeitern im Parlament wäre es unmöglich, die irische Landbill[165] mehr und mehr, wie es gegenwärtig der Fall ist, zu einer irischen Landbull[174], nämlich einem irischen Grundbesitzer-Entschädigungsgesetz werden zu lassen; wäre es unmöglich, sich dem Verlangen zu widersetzen nach Neuverteilung der Sitze, nach wirksamer Bestrafung der Wahlbestechung, nach Übernahme der Wahlausgaben durch den Staat, wie das überall außerhalb Englands der Fall ist, etc.
Darüber hinaus kann es in England keine wirklich demokratische Partei geben, die keine Arbeiterpartei ist. Aufgeklärte Männer anderer Klassen (wo sie übrigens gar nicht so übermäßig zahlreich sind, wie man uns glauben machen möchte) könnten sich dieser Partei anschließen und sie, nachdem sie Beweise ihrer Aufrichtigkeit geliefert, sogar im Parlament vertreten. Das ist überall der Fall. In Deutschland zum Beispiel sind die Arbeiter Vertreter nicht in jedem Falle wirkliche Arbeiter. Aber keine demokratische Partei wird in England oder anderswo wirksamen Erfolg haben, wenn sie nicht eine Arbeiterpartei mit entschiedenem Klassencharakter' ist. Geht man davon ab, so bleibt nichts als Sektierertum und Schwindel. Das trifft für England sogar noch mehr zu als für das Ausland. Leider hat es seitens der Radikalen genug Schwindel gegeben seit dem Zerfall der ersten Arbeiterpartei in der Geschichte - der Chartistenpartei. Ja, aber die Chartisten sind doch gescheitert und haben nichts erreicht. Ist dem wirklich so? Von den sechs Punkten der Volks-Charte sind jetzt zwei - geheime Stimmabgabe und kein Vermögenszensus - Gesetz im Lande. Ein dritter, das allgemeine Wahlrecht, ist in Gestalt des Stimmrechts der Haushaltungsvorstände wenigstens annähernd erreicht; ein vierter, die Gleichheit der Wahlbezirke, ist deutlich in Sicht als eine von der gegenwärtigen Regierung versprochene Reform. Somit hat der Zusammenbruch der Chartistenbewegung dazu geführt, daß reichlich die Hälfte ihres Programms verwirklicht worden ist. Wenn schon die bloße Erinnerung an eine frühere politische Organisation der Arbeiterklasse zu diesen politischen und außerdem noch zu einer Reihe sozialer Reformen führen konnte, welche Wirkung wird dann erst das tatsächliche Bestehen einer politischen Arbeiterpartei ausüben, die sich auf vierzig oder fünfzig Vertreter im Parlament stützt? Wir leben in einer Welt, in der jeder für sich selbst zu sorgen hat. Die englische Arbeiterklasse jedoch gestattet es den Klassen der Grundbesitzer, Kapitalisten und Kleinhändler mit ihrem Anhängsel von Advokaten, Zeitungsschreibern etc., ihre Interessen wahrzunehmen. Kein Wunder, daß Reformen im Interesse der Arbeiter nur so langsam und nur so erbärmlich tropfenweise zustande kommen. Die Arbeiter Englands brauchen nur zu wollen, und sie haben die Macht, jede soziale und politische Reform durchzusetzen, die ihre Lage erfordert. Warum dann diese Anstrengung nicht machen?
Geschrieben Mitte Juli 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Bismarck und die deutsche Arbeiterpartei
[„The Labour Standard" Nr. 12 vom 23. Juli 1881, Leitartikel] Die englische bürgerliche Presse ist in der letzten Zeit sehr schweigsam gewesen über die von Bismarck und seinen Kreaturen an den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Deutschland verübten Brutalitäten. Die einzige Ausnahme machte bis zu einem gewissen Grade die „Daily News". Früher war die Entrüstung in den englischen Tageszeitungen und Wochenblättern wahrhaft gewaltig, wenn sich im Ausland despotische Regierungen auf Kosten ihrer Untertanen solche Übergriffe erlaubten. Aber hier sind von der Unterdrückung Arbeiter betroffen, die stolz auf diesen Namen sind; deshalb verheimlichen die Pressevertreter der „guten Gesellschaft", der „oberen Zehntausend", die Tatsachen, und der Hartnäckigkeit ihres Schweigens nach zu schließen, hat es fast den Anschein, daß sie sie gutheißen. In der Tat, was haben Arbeiter mit Politik zu schaffen? Sollen sie das den „besseren" Ständen überlassen! Und dann gibt es für das Schweigen der englischen Presse noch einen anderen Grund: Es ist recht schwer, Bismarcks Gewaltgesetz und die Art, wie er es durchführt, anzugreifen und in dem gleichen Atemzug Herrn Forsters Gewaltmaßnahmen in Irlandtl75] zu verteidigen. Das ist ein besonders wunder Punkt, an den nicht gerührt werden darf. Man kann von der bürgerlichen Presse schwerlich erwarten, daß sie selbst darauf hinweist, wie sehr das moralische Ansehen Englands in Europa und Amerika durch das Vorgehen der gegenwärtigen Regierung in Irland gelitten hat. Aus jeder allgemeinen Wahl ist die deutsche Arbeiterpartei mit einer rasch wachsenden Stimmenzahl hervorgegangen; bei der vorletzten Wahl entfielen auf ihre Kandidaten über 500 000, bei der letzten mehr als 600 000 Stimmen. Berlin wählte zwei, Elberfeld-Barmen einen, Breslau und
Dresden je einen Sozialdemokraten; zehn Sitze wurden erobert, und das angesichts der Koalition der Regierung mit der Gesamtheit der liberalen, konservativen und katholischen Parteien, angesichts des Geschreis wegen der zwei Attentats versuche gegen den Kaiser1, für die alle anderen Parteien einhellig die Arbeiterpartei verantwortlich machten. Da gelang es Bismarck, eine Gesetzes vorläge durchzubringen, durch die die Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes gestellt wurde. Die Zeitungen der Arbeiter, mehr als fünfzig an der Zahl, wurden unterdrückt, ihre Vereine verboten, ihre Klubs geschlossen, ihre Gelder beschlagnahmt, ihre Versammlungen von der Polizei aufgelöst, und als Krönung des Ganzen wurde verfügt, daß über ganze Städte und Bezirke der „Belagerungszustand" verhängt werden kann, genau wie in Irland. Aber was selbst englische Ausnahmegesetze in Irland[176] niemals gewagt hatten, das tat Bismarck in Deutschland. In allen Bezirken, über die der „Belagerungszustand" verhängt war, erhielt die Polizei das Recht, jedermann auszuweisen, der ihr sozialistischer Propaganda „hinreichend verdächtig" erscheinen mochte. Über Berlin wurde natürlich sofort der Belagerungszustand verhängt, und Hunderte (mit ihren Familien Tausende) wurden ausgewiesen. Denn die preußische Polizei weist immer Familienväter aus; die jungen, unverheirateten Leute läßt sie im allgemeinen ungeschoren; für sie wäre die Ausweisung keine große Strafe, für die Familienväter aber bedeutet sie in den meisten Fällen eine lange Elfendszeit, wenn nicht den völligen Ruin. Dann wählte Hamburg einen Arbeiter in den Reichstag, und sofort wurde dort der Belagerungszustand erklärt. Der erste Schub aus Hamburg Ausgewiesener umfaßte gegen hundert, dazu kamen mehr als dreihundert Familienangehörige. Die Arbeiterpartei brachte binnen zwei Tagen die Kosten für die Reise und andere unmittelbare Bedürfnisse auf. Jetzt ist auch über Leipzig der Belagerungszustand verhängt worden, und zwar mit keiner anderen Begründung, als daß die Regierung anders die Parteiorganisation nicht zerschlagen könne. Gleich am ersten Tag wurden 33 Männer ausgewiesen, vorwiegend Verheiratete mit Familie. An der Spitze der Liste stehen drei Abgeordnete des deutschen Reichstags; vielleicht schickt ihnen Herr Dillon ein Glückwunschschreiben in Anbetracht der Tatsache, daß sie doch nicht ganz so schlecht daran sind wie er selbst.[177] Aber das ist noch nicht alles. Nachdem die Arbeiterpartei erst einmal in aller Form außerhalb des Gesetzes gestellt und all der politischen Rechte beraubt ist, deren sich die übrigen Deutschen angeblich erfreuen, kann die
Polizei mit den einzelnen Mitgliedern dieser Partei nach Willkür verfahren. Unter dem Vorwand der Haussuchung nach verbotenen Schriften unterwirft sie deren Ehefrauen und Töchter der unanständigsten und brutalsten Behandlung. Sie selbst werden ganz nach Belieben von der Polizei verhaftet, wochenlang in Untersuchungshaft gehalten und erst freigelassen, nachdem sie monatelang im Gefängnis gesessen. Neue, dem Strafgesetzbuch unbekannte Vergehen werden von der Polizei erfunden und die Bestimmungen dieses Gesetzbuches selbst über die Grenzen des Möglichen hinaus gedehnt. Und oft genug findet die Polizei Justizbeamte und Richter, die korrumpiert oder fanatisch genug sind, ihr zu helfen und Vorschub zu leisten; hängt doch davon die Karriere ab! Was dabei herauskommt, zeigen die nachfolgenden erstaunlichen Zahlen. In dem einen Jahre von Oktober 1879 bis Oktober 1880 waren wegen Hochverrats, Landesverrats, Majestätsbeleidigung etc. allein in Preußen nicht weniger als 1108 Personen eingekerkert und wegen politischer Verleumdung, Beleidigung Bismarcks, Verunglimp-, fung der Regierung etc. nicht weniger als 10 094. Elftausendzweihundertundzwei politische Gefangene - das übertrifft selbst Herrn Forsters irische Heldentaten! Und was hat Bismarck mit all diesen Gewaltmaßnahmen erreicht? Ebensoviel wie Herr Forster in Irland. Die Sozialdemokratische Partei floriert genauso und besitzt eine ebenso feste Organisation wie die Irische Landliga[178J. Vor einigen Tagen haben Wahlen zum Mannheimer Stadtrat stattgefunden. Die Arbeiterpartei stellte sechzehn Kandidaten auf und brachte sie alle mit einer Mehrheit von fast drei zu eins durch. Dann kandidierte Bebel - Reichstagsabgeordneter für Dresden - im Leipziger Wahlkreis für den sächsischen Landtag. Bebel ist selbst Arbeiter (Drechsler) und einer der besten, wenn nicht der beste Redner in Deutschland. Um seine Wahl zu vereiteln, wies die Regierung sein ganzes Wahlkomitee aus. Mit welchem Ergebnis? Daß Bebel, trotz der Beeinträchtigung des Stimmrechts, mit großer Mehrheit gewählt wurde. So nützen Bismarcks Zwangsmaßnahmen gar nichts; im Gegenteil, sie erbittern das Volk. Diejenigen, denen alle legalen Möglichkeiten, sich geltend zu machen, genommen sind, werden eines schönen Tages zu illegalen Mitteln greifen, und niemand kann ihnen daraus einen Vorwurf machen. Wie oft haben Herr Gladstone und Herr Forster diese Doktrin verkündet? Und wie handeln sie jetzt in Irland?
Geschrieben Mitte Juli 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Baumwolle und Eisen
[„The Labour Standard" Nr. 13 vom 30. Juli 1881, Leitartikel] Baumwolle und Eisen sind die beiden wichtigsten Rohstoffe unserer Zeit. Die Nation, die in der Fabrikation von Baumwoll- und Eisenwaren führend ist, marschiert an der Spitze der Industrienationen überhaupt. Und weil und solange das für England zutrifft, deshalb und solange wird England die erste Industrienation der Welt sein. Demnach könnte man erwarten, daß es in England den Arbeitern in der Baumwoll- und Eisenindustrie besonders gut gehe, daß das Geschäft in diesen Artikeln bei der marktbeherrschenden Stellung Englands immer in Blüte stehe, und daß das zur Zeit der Freihandelsagitation verheißene Tausendjährige Reich des Überflusses mindestens in diesen beiden Industriezweigen verwirklicht sei. Aber ach! bekanntlich ist das keineswegs der Fall, und wenn sich die Lage des werktätigen Volkes nicht verschlechtert, sondern in manchen Fällen sogar verbessert hat, so hat es das hier wie in anderen Gewerben ausschließlich seinen eigenen Anstrengungen zu danken starker Organisation und harten Streikkämpfen. Wir wissen, daß die Baumwoll- und Eisenindustrie nach ein paar kurzen Jahren der Prosperität um und nach 1874 völlig zusammengebrochen ist; Fabriken wurden geschlossen, Hochöfen ausgeblasen, und wo die Produktion fortgesetzt wurde, war Kurzarbeit die Regel. Derartige Perioden der Wirtschaftskrise kannte man auch schon früher; sie kehren im Durchschnitt alle zehn Jahre wieder und dauern ihre Zeit, um durch eine neue Periode der Prosperität abgelöst zu werden und so fort. Die gegenwärtige Depressionsperiode, besonders in der Baumwoll- und Eisenindustrie, wird aber dadurch gekennzeichnet, daß sie jetzt schon einige Jahre länger dauert als gewöhnlich. Es gab mehrere Versuche, mehrere Anläufe zu einer Wiederbelebung; aber vergebens. Wenngleich die Zeit der
eigentlichen Krise vorüber ist, dauert die Flaute im Geschäftsleben noch an, und die Märkte sind nach wie vor außerstande, die gesamte Produktion aufzunehmen. Der Grund hierfür liegt darin, daß bei unserem gegenwärtigen System der Verwendung von Maschinerie zur Produktion, nicht nur von Industriewaren , sondern von Maschinen selbst, sich die Produktion mit unglaublicher Schnelligkeit steigern läßt. Wenn den Fabrikanten der Sinn danach stünde, könnten sie ohne Schwierigkeiten in einer einzigen Prosperitätsperiode die Anlagen zum Spinnen und Weben, zum Bleichen und Bedrucken von Baumwollstoffen derart erweitern, daß sie imstande wären, fünfzig Prozent mehr Waren zu erzeugen, und sie könnten die gesamte Produktion von Roheisen und Eisenwaren jeder Art auf das Doppelte erhöhen. In Wirklichkeit hat die Steigerung keine derartigen Ausmaße angenommen. Immerhin war sie aber außerordentlich hoch im Verhältnis zu der Steigerung in früheren Perioden des Aufschwungs, und die Folge davon ist - chronische Überproduktion, chronische Depression im Geschäftsleben. Die Fabrikanten können es sich leisten, abzuwarten, zumindest eine geraume Zeit, während die Arbeiter darunter leiden müssen; denn für sie bedeutet dies chronisches Elend und die ständige Gefahr, ins Arbeitshaus zu kommen. Das also ist das Ergebnis des glorreichen Systems der schrankenlosen Konkurrenz, das ist die Verwirklichung des von den Cobden, Bright und Co. versprochenen Tausendjährigen Reichs! Das ist es, was der arbeitenden Bevölkerung bevorsteht, wenn sie, wie im Verlauf der letzten fünfundzwanzig Jahre, die Leitung der ökonomischen Politik des Empire seinen „natürlichen Führern" überläßt, jenen „Industriekapitänen", die nach Thomas Carlyle[179] berufen sind, die industrielle Armee des Landes zu kommandieren. Schöne Industriekapitäne! Im Vergleich mit ihnen waren 1870 die Generale Louis-Napoleons Genies. Jeder einzelne dieser angeblichen Industriekapitäne bekämpft alle übrigen, handelt ausschließlich im eigenen Interesse, vergrößert seinen Betrieb, ohne zu berücksichtigen, was seine Nachbarn tun und schließlich entdecken sie alle zu ihrer großen Überraschung, daß Überproduktion das Ergebnis ist. Sie können sich nicht vereinigen, um die Produktion zu regeln; sie können sich nur zu einem Zweck vereinigen: die Löhne ihrer Arbeiter niederzuhalten. Und so, durch unüberlegte Ausdehnung der Produktivkraft des Landes weit über die Aufnahmefähigkeit der Märkte hinaus, berauben sie ihre Arbeiter der relativen Erleichterung, die ihnen eine Periode mäßiger Prosperität brächte und auf die sie nach der langen Periode der Krise Anspruch hätten, um ihr Einkommen wieder auf das Durchschnittsniveau zu bringen. Kann man immer noch
nicht verstehen, daß die Fabrikanten als Klasse die Fähigkeit verloren haben, die großen ökonomischen Interessen des Landes, ja den Produktionsprozeß selbst noch länger zu leiten? Und ist es nicht absurd - wenn auch Tatsache daß der schlimmste Feind der Arbeiter Englands die unaufhörlich wachsende Produktivität ihrer eigenen Hände ist? Noch ein anderer Umstand muß in Betracht gezogen werden. Die englischen Fabrikanten sind nicht die einzigen, die ihre Produktivkräfte vergrößern. Dasselbe geschieht auch in anderen Ländern. Die Statistik gibt uns keine Möglichkeit, die Baumwoll- und Eisenindustrie in den verschiedenen führenden Ländern gesondert zu vergleichen. Wenn wir jedoch den Bergbau, die Textil- und die Metallindustrie zusammennehmen, können wir auf Grund des Materials, das der Leiter des preußischen Statistischen Amtes, Dr. Engel, in seinem Buche „Das Zeitalter des Dampfs" (Berlin 1881) geliefert hat, eine vergleichende Tabelle aufstellen. Nach seiner Schätzung werden in den genannten Industrien der unten angeführten Länder Dampfmaschinen mit der folgenden Gesamtleistung in Pferdestärken verwendet (eine Pferdestärke ist gleich der Energie, die 75 Kilogramm in der Sekunde einen Meter hebt):
Wir sehen also, daß die gesamte Dampfkraft, die von den drei Nationen angewendet wird, die Englands Hauptkonkurrenten sind, in der Textilindustrie fast drei Fünftel der englischen ausmacht, während sie ihr im Bergbau und in der Metallindustrie beinahe gleichkommt. Und da sich die Industrie dieser Länder weit schneller entwickelt als die Englands, kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß ihre Gesamtproduktion die englische bald überflügeln wird. Man betrachte ferner die folgende Tabelle, aus der die in der Produktion angewandte Dampfkraft, mit Ausnahme jener der Lokomotiven und Schiffsmaschinen, in Pferdestärken ersichtlich ist:
Textil- Bergbau und Industrie Metallindustrie
England, 1871 ... Deutschland, 1875 Frankreich Vereinigte Staaten
rund 100 000 185 000 rund 93 000 370000
515 800 1 077000 128 125 456 436
Pferdestärken
Großbritannien... Vereinigte Staaten Deutschland Frankreich
rund 2 000 000 rund 1987 000 rund 1 321 000 rund 492 000
Diese Tabelle zeigt noch deutlicher, wie wenig von dem Monopol Englands in den mit Dampf kraft betriebenen Industrien übriggeblieben und wie wenig es dem Freihandel gelungen ist, Englands industrielle Überlegenheit sicherzustellen. Und man sage nicht, daß dieser Fortschritt der ausländischen Industrie künstlich, daß er auf das Schutzzollsystem zurückzuführen sei. Die ganze gewaltige Expansion der deutschen Industrie vollzog sich unter einem höchst liberalen Freihandelsregime; und wenn Amerika, hauptsächlich infolge eines absurden Systems innerer Verbrauchssteuern, gezwungen ist, zu Zöllen seine Zuflucht zu nehmen, die mehr scheinbar als wirklich Schutz gewähren, so würde die Aufhebung dieser Verbrauchssteuergesetze genügen, ihm die Konkurrenz auf dem freien Markt zu gestatten. Das also ist die Lage, in der sich England nach fast fünfundzwanzig Jahren unbestrittener Herrschaft der Lehren der Manchesterschule befindet. Unserer Meinung nach sind diese Ergebnisse derart, daß die schleunigste Abdankung der Herren von Manchester und Birmingham geboten ist, um für die nächsten fünfundzwanzig Jahre die Arbeiterklasse ans Ruder zu lassen. Schlechter könnte sie die Sache bestimmt nicht machen.
Geschrieben Ende Juli 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Notwendige und überflüssige Gesellschaftsklassen
[„The Labour Standard" Nr. 14 vom 6. August 1881, Leitartikel] Häufig ist die Frage aufgeworfen worden: Inwieweit sind die verschiedenen Gesellschaftsklassen nützlich oder gar notwendig? Und naturgemäß war die Antwort für jede geschichtliche Epoche verschieden. Zweifellos gab es eine Zeit, da die Grundbesitzeraristokratie ein unvermeidliches und notwendiges Element der Gesellschaft war. Das ist indes schon sehr, sehr lange her. Dann kam eine Zeit, da mit der gleichen unvermeidlichen Notwendigkeit eine kapitalistische Mittelklasse entstand, eine Bourgeoisie, wie die Franzosen sie nennen, die gegen die Grundbesitzeraristokratie kämpfte, ihre politische Macht brach und ihrerseits die ökonomische und politische Vorherrschaft erlangte. Seit der Entstehung von Klassen gab es jedoch niemals eine Zeit, da die Gesellschaft ohne eine arbeitende Klasse auskommen konnte. Der Name und die soziale Stellung dieser Klasse änderten sich; an die Stelle des Sklaven trat der Leibeigene, um seinerseits von dem freien Arbeiter abgelöst zu werden - frei von der Leibeigenschaft, aber auch frei von jedem irdischen Besitz, außer seiner eigenen Arbeitskraft. Eines aber ist klar: Welche Veränderungen auch in den nichtproduzierenden Oberschichten der Gesellschaft vor sich gehen mochten, so konnte die Gesellschaft doch niemals ohne eine Klasse von Produzenten leben. Diese Klasse ist also unter allen Umständen nötwendig - wenn auch die Zeit kommen muß, in der sie nicht länger eine Klasse sein, sondern die ganze Gesellschaft umfassen wird. Welche Notwendigkeit besteht nun gegenwärtig für die Existenz einer jeden dieser drei Klassen? Die Grundbesitzeraristokratie ist in England zumindest ökonomisch überflüssig, während sie in Irland und Schottland durch ihre Tendenz, das
Land zu entvölkern, zur ausgesprochenen Plage geworden ist. Daß sie Menschen über den Ozean oder in den Hungertod treiben und durch Schafe oder Wild ersetzen - das ist das ganze Verdienst, das die irischen und schottischen Grundbesitzer für sich in Anspruch nehmen können. Die Konkurrenz der amerikanischen pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittel entwickle sich nur noch etwas weiter, und die englische Grundbesitzeraristokratie wird dasselbe tun, zum mindesten der Teil, der es sich leisten kann, weil er großes städtisches Grundeigentum als Rückhalt hat. Von dem Rest wird uns die amerikanische Lebensmittelkonkurrenz bald befreien. Und wir werden ihnen keine Träne nachweinen - denn ihr politisches Wirken ist sowohl im Oberhaus wie im Unterhaus eine wahre nationale Plage. Wie steht es aber mit der kapitalistischen Mittelklasse, jener aufgeklärten und liberalen Klasse, die das britische Kolonialreich begründet und die britische Freiheit geschaffen hat? jener Klasse, die das Parlament 1831 reformiert {180], die Korngesetze aufgehoben und einen Zoll nach dem anderen herabgesetzt hat? jener Klasse, die die riesigen Fabriken, die gewaltige Handelsflotte, das sich immer weiter ausdehnende Eisenbahnnetz Englands ins Leben rief und noch immer leitet? Diese Klasse muß doch sicherlich mindestens ebenso notwendig sein wie die Arbeiterklasse, die von ihr gelenkt und von Fortschritt zu Fortschritt geführt wird. Die ökonomische Funktion der kapitalistischen Mittelklasse bestand in der Tat darin, das moderne System der mit Dampfkraft betriebenen Fabriken und Verkehrsmittel zu schaffen und alle ökonomischen und politischen Hindernisse, die die Entwicklung dieses Systems verzögerten oder hemmten, aus dem Weg zu räumen. Solange die kapitalistische Mittelklasse diese Funktion erfüllte, war sie unter den gegebenen Umständen zweifelsohne eine notwendige Klasse. Aber ist sie es jetzt noch? Erfüllt sie auch weiterhin ihre eigentliche Funktion, die gesellschaftliche Produktion zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu leiten und zu erweitern? Wir wollen einmal sehen. Beginnen wir mit den Verkehrsmitteln, so finden wir, daß der Telegraph in den Händen der Regierung ist. Die Eisenbahnen und ein großer Teil der Hochseedampfer sind nicht Eigentum einzelner Kapitalisten, die ihr Geschäft selbst leiten, sondern von Aktiengesellschaften, deren Betrieb von bezahlten Angestellten geleitet wird, von Dienern, die in jeder Hinsicht die Position höhergestellter, besser bezahlter Arbeiter einnehmen. Was die Direktoren und Aktionäre anbetrifft, so wissen beide, daß es für das Geschäft um so besser ist, je weniger sich die ersteren in die Leitung und die
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letzteren in die Kontrolle einmischen. Eine lockere und meist oberflächliche Kontrolle ist in der Tat die einzige Funktion, die den Eigentümern des Unternehmens verblieben ist. Wir sehen also, daß den kapitalistischen Eigentümern dieser riesigen Unternehmen in Wirklichkeit keine andere Funktion geblieben ist, als halbjährlich ihre Dividenden einzustreichen. Die gesellschaftliche Funktion des Kapitalisten ist hier auf besoldete Diener übergegangen; aber der Kapitalist streicht nach wie vor in Gestalt seiner Dividenden die Bezahlung für jene Funktionen ein, obwohl er sie nicht mehr ausübt. Dem Kapitalisten, den die Ausdehnung der betreffenden großen Unternehmen gezwungen hat, sich von ihrer Leitung „zurückzuziehen", ist aber doch noch eine Funktion geblieben. Und diese Funktion besteht darin, mit seinen Aktien an der Börse zu spekulieren. Weil sie nichts Besseres zu tun haben, spekulieren unsere Kapitalisten, die sich „zurückgezogen" haben, in Wirklichkeit aber überflüssig geworden sind, nach Herzenslust in diesem Mammonstempel. Sie gehen mit der wohlüberlegten Absicht hin, Geld einzusacken, das sie angeblich verdient haben; trotzdem sagen sie, die Quelle jeglichen Eigentums sei Arbeit und Sparsamkeit - die Quelle vielleicht, aber sicherlich nicht das Ende. Welche Heuchelei, kleine Spielhöllen zwangsweise zu schließen, wenn unsere kapitalistische Gesellschaft nicht ohne eine riesige Spielhölle auskommen kann, in der Millionen und aber Millionen verloren und gewonnen werden und die ihr wichtigster Lebensnerv ist! Hier allerdings wird die Existenz des „zurückgezogenen", aktienbesitzenden Kapitalisten nicht nur überflüssig, sondern eine ausgesprochene Plage. Was für die Eisenbahnen und die Dampfschiffahrt zutrifft, wird mit jedem Tag für alle großen Industrie- und Handelsunternehmen in steigendem Maße zutreffender. Das „Gründertum" - die Umwandlung großer Privatunternehmen in Aktiengesellschaften - stand während der letzten zehn Jahre und länger auf der Tagesordnung. Von den großen Lagerhäusern der City in Manchester bis zu den Eisenwerken und Kohlengruben von Wales und Nordengland und den Fabriken von Lancashire unterlag oder unterliegt alles dieser Gründerei. In ganz Oldham ist „kaum eine Baumwollfabrik in privaten Händen geblieben; ja selbst der Einzelhändler wird mehr und mehr durch „Genossenschaftsläden" verdrängt, die in ihrer großen Mehrzahl nur dem Namen nach genossenschaftlich sind doch darüber ein andermal. So sehen wir, daß gerade die Entwicklung des kapitalistischen Produktionssystems den Kapitalisten ebenso überflüssig macht wie den Handweber. Nur mit dem Unterschied, daß der Handweber
zum langsamen Hungertod verurteilt ist und der überflüssig gewordene Kapitalist zum langsamen Tod wegen überrütterung. Nur in einer Hinsicht sind sich die beiden im allgemeinen gleich: weder der eine noch der andere weiß, was er mit sich anfangen soll. Das also ist das Ergebnis: Die ökonomische Entwicklung unserer modernen Gesellschaft hat mehr und mehr die Tendenz zur Konzentration, zur Vergesellschaftung der Produktion in Riesenunternehmen, die nicht mehr von einzelnen Kapitalisten geleitet werden können. Das ganze Geschwätz vom „Auge des Herrn" und den Wundern, die es verrichtet, wird zu barem Unsinn, sobald ein Unternehmen eine gewisse Größe erreicht. Man stelle sich das „Auge des Herrn" der London- und Nordwest-Eisenbahn vor! Was aber der Herr nicht zu tun vermag - die Arbeiter, die im Lohnverhältnis stehenden Angestellten der Gesellschaft, können es tun und tun es mit Erfolg. Der Kapitalist kann also seinen Profit nicht länger als „Lohn für Aufsicht" beanspruchen, denn er beaufsichtigt nichts. Rufen wir uns das ins Gedächtnis, wenn uns die Verteidiger des Kapitals diese hohle Phrase in die Ohren schreien! In unserer Ausgabe von vergangener Woche1 haben wir schon versucht zu zeigen, daß die Kapitalistenklasse auch unfähig geworden ist, das riesige Produktionssystem unseres Landes zu leiten; einerseits hat sie die Produktion derart ausgedehnt, daß sie periodisch alle Märkte mit Waren überflutet, andererseits ist sie immer unfähiger geworden, sich gegen die ausländische Konkurrenz zu behaupten. So finden wir nicht nur, daß wir ohne die Einmischung der Kapitalistenklasse in die großen Industrien des Landes sehr gut fertig werden können, sondern wir finden auch, daß ihre Einmischung sich mehr und mehr zu einer Plage auswächst. Wir sagen ihnen nochmals: „Tretet ab! Gebt der Arbeiterklasse Gelegenheit zu zeigen, was sie vermag!"
Geschrieben am 1./2. August 1881. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Jenny Marx, geb. v. Westphalen
[„Der Sozialdemokrat" Nr.50 vom 8.Dezember 1881] Wiederum hat der Tod sich ein Opfer geholt aus den Reihen der alten Garde des proletarischen, revolutionären Sozialismus. Am 2. Dezember d.J. starb in London, nach langer schmerzhafter Krankheit, die Gattin von Karl Marx. Sie war geboren in Salzwedel. Ihr Vater, bald darauf als Regierungsrat nach Trier versetzt, wurde dort eng befreundet mit der Familie Marx. Die Kinder wuchsen zusammen heran. Die beiden hochbegabten Naturen fanden sich. Als Marx die Universität bezog, war die Gemeinsamkeit ihrer künftigen Geschicke schon entschieden. 1843, nach der Unterdrückung der ersten, eine Zeitlang von Marx redigierten „Rheinischen Zeitung", war die Hochzeit. Von da an hat Jenny Marx die Schicksale, die Arbeiten, die Kämpfe ihres Mannes nicht bloß geteilt, sie hat daran mit dem höchsten Verständnis, mit der glühendsten Leidenschaft Anteil genommen. Das junge Paar ging nach Paris, in ein freiwilliges Exil, das nur zu bald ein wirkliches wurde. Die preußische Regierung verfolgte Marx auch da. Alexander v. Humboldt gab sich dazu her, bei der Erwirkung eines Ausweisungsbefehls gegen Marx mit tätig zu sein. Die Familie wurde nach Brüssel getrieben. Es kam die Februarrevolution. Während der in ihrem Gefolge auch in Brüssel ausbrechenden Unruhen wurde nicht bloß Marx Verhaftet. Die belgische Polizei ließ es sich nicht nehmen, auch seine Frau ohne allen Anlaß ins Gefängnis zu werfen. Der revolutionäre Aufschwung von 1848 brach schon im nächsten Jahre zusammen. Neues Exil, zuerst in Paris, dann, infolge erneuerter Einmischung der französischen Regierung, in London. Und diesmal war es in
der Tat für Jenny Marx ein Exil mit allen seinen Schrecken. Den materiellen Druck, unter dem sie ihre beiden Knaben und ein Töchterchen ins Grab sinken sah, hätte sie trotzdem verwunden. Aber daß Regierung und bürgerliche Opposition, von der vulgär-liberalen bis zur demokratischen, sich zusammentaten zu einer großen Verschwörung gegen ihren Mann; daß sie ihn mit den elendesten, niederträchtigsten Verleumdungen überschütteten; daß die gesamte Presse sich ihm verschloß, ihm jede Verteidigung abschnitt, so daß er momentan wehrlos dastand vor Gegnern, die er und sie verachten mußten - das hat sie tief getroffen. Und das dauerte sehr lange. Aber nicht für immer. Das europäische Proletariat kam wieder in Existenzbedingungen, in denen es sich einigermaßen selbständig bewegen konnte. Die Internationale wurde gestiftet. Von Land zu Land drang der Klassenkampf des Proletariats, und unter den Vordersten kämpfte ihr Mann, der Vorderste. Da begann für sie eine Zeit, die manche harte Leiden aufwog. Sie erlebte es, daß die Verleumdungen, die hageldicht auf Marx herabgeregnet, wie Spreu vor dem Winde zerstoben, daß seine Lehren, die zu unterdrücken alle reaktionären Parteien, Feudale wie Demokraten, so ungeheure Mühe aufgewendet, nun von der* Dächern gepredigt wurden in allen zivilisierten Ländern und in allen gebildeten Sprachen. Sie erlebte es, daß die proletarische Bewegung, mit der ihr ganzes Sein verwachsen war, die alte Welt von Rußland bis Amerika in ihren Fugen erschütterte und allem Widerstand zum Trotz immer siegesgewisser vorwärts drang. Und eine ihrer letzten Freuden war noch der schlagende Beweis unverwüstlicher Lebenskraft, den unsere deutschen Arbeiter in den letzten Reichstagswahlen gegeben.[181] Was eine solche Frau, mit so scharfem, kritischem Verstände, mit solch politischem Takt, mit solcher Energie und Leidenschaft des Charakters, mit solcher Hingabe für ihre Kampfgenossen, in der Bewegung während fast vierzig Jahren geleistet, das hat sich nicht an die Öffentlichkeit vorgedrängt, das steht nicht in den Annalen der zeitgenössischen Presse verzeichnet. Das muß man selbst miterlebt haben. Aber das weiß ich: wenn die Frauen der Kommuneflüchtlinge ihrer noch oft gedenken werden, so werden wir andern noch oft genug ihren kühnen und klugen Rat vermissen - kühn ohne Prahlerei, klug, ohne der Ehre je etwas zu vergeben.
London, den 4. Dezember 1881
Friedrich Engels
Friedrich Engels Rede am Grabe von Jenny Marx
LL'fcgalte" Nr. 1 vom 11. Dezember 1881]
Freunde! Die Frau mit dem edlen Herzen, die wir heute beisetzen, wurde 1814 in Salzwedel geboren. Ihr Vater, Baron von Westphalen, war in Trier eng mit der Familie Marx befreundet; die Kinder der beiden Familien wuchsen zusammen heran. Als Marx die Universität bezog, hatten er und seine künftige Frau sich bereits entschieden, ihre Geschicke für immer zu verbinden. Im Jahre 1843 fand die Hochzeit statt, nachdem Marx als Chefredakteur der ersten „Rheinischen Zeitung" bekannt geworden und die Zeitung von der preußischen Regierung unterdrückt worden war. Von da an hat Jenny die Schicksale, die Arbeiten, die Kämpfe ihres Mannes nicht bloß geteilt, sie hat daran mit dem höchsten Verständnis und mit der glühendsten Leidenschaft größten Anteil genommen. Das junge Paar ging nach Paris; das freiwillige Exil wurde bald zum erzwungenen. Die preußische Regierung verfolgte Marx sogar in Paris. Mit Bedauern muß ich erwähnen, daß ein Mann wie A.v. Humboldt sich bereit fand, gemeinsam mit der preußischen Regierung zu erwirken, daß die Regierung Louis-Philippe Marx aus Frankreich auswies. Er begab sich nach Brüssel. Die Februarrevolution brach aus. Inmitten der Unruhen, die dieses Ereignis in Brüssel verursachte, verhaftete die belgische Polizei nicht nur Marx, sondern warf auch seine Frau ohne allen Anlaß ins Gefängnis. Der revolutionäre Aufschwung von 1848 brach schon im nächsten Jahre zusammen. Von neuem begann das Exil, zuerst in Paris, dann, infolge Einmischung der französischen Regierung, in London. Diesmal war es ein Exil mit all seinem Elend. Alle üblichen Leiden der Verbannten hätte Jenny noch verwinden können, obgleich diese die Ursache waren für den Verlust von drei Kindern, darunter zwei Knaben; daß aber alle Parteien, die der
Regierung wie die der Opposition (Feudale» Liberale, sogenannte Demokraten) sieb gegen ihren Gatten verschworen, ihn mit den elendesten und niederträchtigsten Verleumdungen überschütteten, daß die gesamte Presse sich ihm ausnahmslos verschloß, daß er hilf- und wehrlos dastand vor Gegnern, die er und sie verachteten - das hat sie tief getroffen. Und das dauerte jahrelang. Aber es nahm ein Ende. Nach und nach kam die europäische Arbeiterklasse in politische Bedingungen, die ihr einige Aktionsmöglichkeiten gaben. Die Internationale Arbeiterassoziation wurde gestiftet. Sie zog eine zivilisierte Nation nach der anderen in den Kampf, und in diesem Kampf kämpfte ihr Mann als erster unter den ersten. Endlich kam die Zeit, die ihre vergangenen Leiden zu lindern begann. Sie erlebte es, daß die niederträchtigen Verleumdungen, die hageldicht auf ihren Mann herabgeregnet, wie Spreu zerstoben; sie erlebte es, die Lehren ihres Mannes, die die Reaktionäre aller Länder versucht hatten zu ersticken, frei und siegreich in allen zivilisierten Ländern, in allen zivilisierten Sprachen verkündet zu hören. Sie erlebte es, daß die revolutionäre Bewegung des Proletariats, ihres Sieges bewußt, ein Land nach dem anderen, von Rußland bis Amerika, erfaßte. Eine ihrer letzten Freuden war noch, als sie auf ihrem Sterbebett den schlagenden Beweis der unverwüstlichen Lebenskraft erhielt, den die deutsche Arbeiterklasse trotz aller Ausnahmegesetze bei den letzten Wahlen erbracht hat. Was eine solche Frau, mit so scharfem und so kritischem Verstände, mit einem politisch so sicheren Takt, mit solch einer leidenschaftlichen Energie, solch großer Kraft der Hingabe, in der revolutionären Bewegung geleistet, das hat sich nicht an die Öffentlichkeit vorgedrängt, ist niemals in den Spalten der Presse erwähnt worden. Was sie getan hat, wissen nur die, die mit ihr gelebt haben. Aber ich weiß, daß wir oft ihre kühnen und klugen Ratschläge vermissen werden - kühn ohne Prahlerei, klug, ohne der Ehre je etwas zu vergeben. Von ihren persönlichen Eigenschaften brauche ich nichts zu sagen. Ihre Freunde kennen diese Eigenschaften und werden sie niemals vergessen. Wenn es jemals eine Frau gab, die ihr größtes Glück darin gesehen hat, andere glücklich zu machen, so war es diese Frau.
Gehalten am 5.Dezember 1881. Aus dem Französischen.
Karl Marx/Friedrich Engels [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei"11821]
Die erste russische Ausgabe des „Manifestes der Kommunistischen Partei", übersetzt von Bakunin, erschien anfangs der sechziger Jahre[183] in der Druckerei des „Kolokol"[184]. Der Westen konnte damals in ihr (der russischen Ausgabe des „Manifests") nur ein literarisches Kuriosum sehn. Solche Auffassung wäre heute unmöglich. Welch beschränktes Gebiet damals (Dezember 1847)* die proletarische Bewegung noch einnahm, zeigt am klarsten das Schlußkapitel des „Manifests": Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen Oppositionsparteien in den verschiedenen Ländern.1 Hier fehlen nämlich grad — Rußland und die Vereinigten Staaten. Es war die Zeit, wo Rußland die letzte große Reserve der europäischen Gesamtreaktion bildete; wo die Vereinigten Staaten die proletarische Überkraft Europas durch Einwanderung absorbierten. Beide Länder versorgten Europa mit Rohprodukten und waren zugleich Absatzmärkte seiner Industrieerzeugnisse. Beide Länder waren damals also, in dieser oder jener Weise, Säulen der bestehenden europäischen Ordnung. Wie ganz anders heute! Grade die europäische Einwanderung befähigte Nordamerika zu einer riesigen Ackerbauproduktion, deren Konkurrenz das europäische Grundeigentum - großes wie kleines - in seinen Grundfesten erschüttert. Sie erlaubte zudem den Vereinigten Staaten, ihre ungeheuren industriellen Hülfsquellen mit einer Energie und auf einer Stufenleiter auszubeuten, die das bisherige industrielle Monopol Westeuropas und namentlich Englands binnen kurzem brechen muß. Beide Umstände wirken revolutionär auf Amerika selbst zurück. Das kleinere und mittlere Grundeigentum der Farmers, die Basis der ganzen politischen Verfassung, erliegt nach und nach der Konkurrenz der Riesenfarms; in den Industriebezirken
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.492/493
entwickelt sich gleichzeitig zum ersten Mal ein massenhaftes Proletariat und eine fabelhafte Konzentration der Kapitalien. Und nun Rußland! Während der Revolution von 1848/49 fanden nicht nur die europäischen Fürsten, auch die europäischen Bourgeois in der russischen Einmischung die einzige Rettung vor dem eben erst erwachenden Proletariat. Der Zar wurde als Chef der europäischen Reaktion proklamiert. Heute ist er Kriegsgefangner der Revolution in Gatschina[185], und Rußland bildet die Vorhut der revolutionären Aktion in Europa. Das „Kommunistische Manifest" hatte zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu proklamieren. In Rußland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigentum, die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht? Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen. Karl Marx F. Engels London, 21. Januar 1882
Nach der Handschrift.
Friedrich Engels Bruno Bauer und das Urchristentum11861
In Berlin starb am 1 B.April ein Mann, der früher einmal als Philosoph und Theolog eine Rolle gespielt, seit Jahren aber, halb verschollen, nur von Zeit zu Zeit als „literarischer Sonderling" die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich gezogen hatte. Die offiziellen Theologen, unter ihnen auch Renan, schrieben ihn ab und schwiegen ihn deshalb einstimmig tot. Und doch war er mehr wert als sie alle und hat mehr geleistet als sie alle in einer Frage, die auch uns Sozialisten interessiert: in der Frage nach dem geschichtlichen Ursprung des Christentums. Nehmen wir von seinem Tode Anlaß, den jetzigen Stand dieser Frage und Bauers Beiträge zu ihrer Lösung kurz zu schildern. Die seit den Freigeistern des Mittelalters bis auf die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, diese eingeschlossen, herrschende Ansicht, daß alle Religionen, und somit auch das Christentum, das Werk von Betrügern seien, war nicht mehr genügend, seitdem Hegel der Philosophie die Aufgabe gestellt hatte, eine rationelle Entwicklung in der Weltgeschichte nachzuweisen. Es ist nun einleuchtend, daß, wenn naturwüchsige Religionen, wie der Fetischdienst der Neger oder die gemeinsame Urreligion der Arier[187], entstehen, ohne daß Betrug dabei eine Rolle spielt, doch in ihrer weiteren Ausbildung priesterliche Täuschung sehr bald unvermeidlich wird. Kunstreligionen aber können, neben aller aufrichtigen Schwärmerei, schon bei ihrer Stiftung des Betrugs und der Geschichtsfälschung nicht entbehren, und auch das Christentum hat schon gleich im Anfang hierin ganz hübsche Leistungen aufzuweisen, wie Bauer in der Kritik des Neuen Testaments gezeigttl88]. Aber damit ist nur eine allgemeine Erscheinung festgestellt, nicht aber der einzelne Fall erklärt, um den es sich grade handelt. Mit einer Religion, die das römische Weltreich sich unterworfen und den weitaus größten Teil der zivilisierten Menschheit 1800 Jahre lang beherrscht hat, wird man nicht fertig, indem man sie einfach für von Betrügern
zusammengestoppelten Unsinn erklärt. Man wird erst fertig mit ihr, sobald man ihren Ursprung und ihre Entwicklung aus den historischen Bedingungen zu erklären versteht, unter denen sie entstanden und zur Herrschaft gekommen ist. Und namentlich beim Christentum. Es gilt eben die Frage zu lösen, wie es kam, daß die Volksmassen des römischen Reiches diesen noch dazu von Sklaven und Unterdrückten gepredigten Unsinn allen andern Religionen vorzogen, so daß endlich der ehrgeizige Konstantin in der Annahme dieser Unsinnsreligion das beste Mittel sah, sich zum Alleinherrscher der römischen Welt emporzuschwingen. Zur Beantwortung dieser Frage hat Bruno Bauer bei weitem mehr beigetragen als irgendein anderer. Die von Wilke rein sprachlich nachgewiesene zeitliche Reihenfolge und gegenseitige Abhängigkeit der Evangelien voneinander wies er auch aus dem Inhalt derselben unwiderleglich nach, wie sehr auch die halbgläubigen Theologen der Reaktionszeit seit 1849 sich dagegen sperren mögen. Die verschwommene Mythentheorie von Strauß, bei der jeder in den evangelischen Erzählungen grade so viel für historisch halten kann wie ihm beliebt, stellte er in ihrer ganzen Unwissenschaftlichkeit bloß. Und wenn dabei von dem ganzen Inhalt der Evangelien sich fast absolut nichts als geschichtlich erweisbar darstellte - so daß man selbst die geschichtliche Existenz eines Jesus Christus für fraglich erklären kann so hatte Bauer hiermit erst den Boden gereinigt, auf dem die Frage gelöst werden kann: Woher stammen die Vorstellungen und Gedanken, die im Christentum zu einer Art System verknüpft worden sind, und wie kamen sie zur Weltherrschaft? Hiermit beschäftigte sich Bauer bis zuletzt. Seine Forschungen gipfeln in dem Resultat, daß der alexandrinische Jude Philo, der noch im Jahre 40 unsrer Zeitrechnung, aber in hohem Alter, lebte, der eigentliche Vater des Christentums sei und der römische Stoiker Seneca sozusagen dessen Onkel. Die uns unter dem Namen Philos überlieferten zahlreichen Schriften sind in der Tat entstanden aus einer Verschmelzung allegorisch-rationalistisch aufgefaßter jüdischer Traditionen mit griechischer, namentlich stoischer Philosophie. Diese Versöhnung okzidentalischer und orientalischer Anschauungen enthält schon alle wesentlich christlichen Vorstellungen: Die angeborne Sündhaftigkeit des Menschen, den Logos, das Wort, das bei Gott und Gott selbst ist, das den Mittler macht zwischen Gott und Mensch; die Buße nicht durch Tieropfer, sondern durch das Darbringen des eignen Herzens an Gott; endlich den wesentlichen Zug, daß die neue Religionsphilosophie die bisherige Weltordnung umkehrt, ihre Jünger unter den Armen, Elenden, Sklaven und Verworfenen sucht und die Reichen,
Mächtigen, Privilegierten verachtet, und daß damit die Verachtung aller weltlichen Genüsse und die Abtötung des Fleisches vorgeschrieben sind. Andrerseits hatte schon Augustus dafür gesorgt, daß nicht nur der Gottmensch, sondern auch die sog. unbefleckte Empfängnis von Reichs wegen vorgeschriebne Formeln wurden. Nicht nur ließ er Cäsar und sich selbst göttlich verehren, er ließ auch verbreiten, er, Augustus Cäsar Divus, der Göttliche, sei nicht der Sohn seines menschlichen Vaters, sondern seine Mutter habe ihn vom Apollogott empfangen. Wenn dieser Apollogott nur kein Verwandter des von Heine Besungenen war![189] Man sieht, es fehlt nur noch der Schlußstein, und das ganze Christentum ist in seinen Grundzügen fertig: Die Verkörperung des menschgewordnen Logos in einer bestimmten Person und sein Sühnopfer am Kreuz zur Erlösung der sündigen Menschheit. Wie dieser Schlußstein geschichtlich in die stoisch-philonischen Lehren eingefügt, darüber lassen uns die wirklich zuverlässigen Quellen im Stich. Soviel aber ist sicher, von Philosophen, Schülern Philos oder der Stoa, ist er nicht eingefügt worden. Religionen werden gestiftet von Leuten, die selbst ein religiöses Bedürfnis empfinden und Sinn haben für das religiöse Bedürfnis der Massen, und das ist in der Regel nicht der Fall bei Schul- ~ philosophen. Dagegen finden wir in Zeiten allgemeiner Auflösung - wie z.B. auch jetzt - Philosophie und religiöse Dogmatik in vulgarisierter Form verflacht und allgemein verbreitet. Führte die klassische griechische Philosophie in ihren letzten Formen - besonders bei der epikureischen Schulezum atheistischen Materialismus, so die griechische Vulgärphilosophie zur Lehre vom einigen Gott und von der unsterblichen Menschenseele. Ebenso war das in der Mischung und dem Umgang mit Fremden und Halbjuden rationalistisch-vulgarisierte Judentum angekommen bei der Vernachlässigung der Gesetzeszeremonien, bei der Verwandlung des ehemaligen ausschließlich jüdischen Nationalgottes Jahveh* in den einzig wahren Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, und bei der Annahme der dem Judentum ursprünglich fremden Unsterblichkeit der Seele; So begegnete sich die monotheistische Vulgärphilosophie mit der Vulgär
* Wie schon Ewald bewiesen, schrieben die Juden in punktierten (mit Vokalen und Lesezeichen versehenen) Handschriften unter die Konsonanten des Namens Jahveh, den auszusprechen verboten war, die Vokale des an seiner Stelle gelesenen Wortes Adonai. Dies lasen die späteren dann Jehovah. Dieses Wort ist also nicht der Name eines Gottes, sondern einfach ein grober grammatischer Schnitzer: es ist im Hebräischen einfach unmöglich.
religion, die ihr den einigen Gott fix und fertig präsentierte. Und somit war der Boden präpariert» auf dem bei den Juden die Verarbeitung ebenfalls vulgarisierter, philonischer Vorstellungen das Christentum erzeugen und das einmal erzeugte bei den Griechen und Römern Annahme finden konnte. Daß es popularisierte philonische Vorstellungen waren und nicht Philos Schriften unmittelbar, aus denen das Christentum hervorging, ist bewiesen dadurch, daß das Neue Testament den Hauptteil dieser Schriften fast vollständig vernachlässigt, nämlich die allegorische philosophische Deutung alttestamentlicher Erzählungen. Es ist dies eine Seite, die Bauer nicht hinreichend beachtet hat. Wie das Christentum in seiner ersten Gestalt ausgesehen hat, davon kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man die sog. Offenbarung Johannis liest. Wüster, verworrener Fanatismus, von Dogmen erst die Anfänge, von der sog. christlichen Moral nur die Fleischesabtötung, dagegen Visionen und Prophezeiungen die Menge. Die Ausbildung der Dogmen und der Sittenlehre gehört einer späteren Zeit an, in der die Evangelien und sog. apostolischen Episteln geschrieben wurden. Und da wurde - für die Moral wenigstens - die stoische Philosophie und namentlich Seneca ungeniert benutzt. Daß die Episteln ihn oft wörtlich abschreiben, hat Bauer nachgewiesen; in der Tat, die Sache war schon den Rechtgläubigen aufgefallen; aber sie behaupteten, Seneka habe das - damals noch gar nicht verfaßte - Neue Testament abgeschrieben. Die Dogmatik entwickelte sich einerseits in Verbindung mit der sich bildenden evangelischen Legende von Jesus, andrerseits im Kampfe zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Uber die Ursachen, die dem Christentum zum Sieg und zur Weltherrschaft verhalfen, gibt Bauer auch sehr wertvolle Daten. Aber hier tritt der Idealismus des deutschen Philosophen ihm in den Weg, verhindert ihn, klar zu sehen und scharf zu formulieren. Die Phrase muß oft am entscheidenden Punkt statt der Sache Dienst tun. Statt also auf die Ansichten Bauers im einzelnen einzugehn, geben wir lieber unsre eigne, außer auf Bauers Schriften auch auf selbständigen Studien beruhende Auffassung dieses Punktes. Die römische Eroberung löste in allen unterworfnen Ländern zunächst direkt die früheren politischen Zustände und sodann indirekt auch die alten gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf. Erstens, indem sie an die Stelle der früheren ständischen Gliederung (abgesehn von der Sklaverei) den einfachen Unterschied zwischen römischen Bürgern und Nichtbürgern oder Staatsuntertanen setzte. Zweitens, und hauptsächlich, durch die Erpressungen im Namen des römischen Staates, Wurde der Bereicherungswut
der Statthalter unter dem Kaiserreich im Staatsinteresse möglichst ein Ziel gesetzt, so trat an deren Stelle die stets und mit wachsender Kraft wirkende, immer mehr angezogene Steuerschraube für den Staatssäckel - eine Aussaugung, die furchtbar auflösend wirkte. Drittens endlich wurde überall nach römischem Recht von römischen Richtern geurteilt, die einheimischen gesellschaftlichen Ordnungen damit für ungültig erklärt, soweit sie nicht mit römischer Rechtsordnung stimmten. Diese drei Hebel mußten mit ungeheurer nivellierender Kraft wirken, namentlich, wenn sie ein paar Jahrhunderte lang angesetzt wurden an Bevölkerungen, deren kräftigster Teil schon in den der Eroberung vorhergehenden, sie begleitenden und oft noch ihr folgenden Kämpfen niedergemacht oder in die Sklaverei abgeführt war. Die sozialen Verhältnisse der Provinzen näherten sich immer mehr denen der Hauptstadt Italiens. Die Bevölkerung teilte sich mehr und mehr in drei aus den verschiedensten Elementen und Nationalitäten zusammengewürfelte Klassen: Reiche, darunter nicht wenig freigelassene Sklaven (s.Petronius[190])s Großgrundbesitzer, Zinswucherer oder beides, wie der Onkel des Christentums, Seneca; besitzlose Freie, in Rom vom Staate ernährt und belustigt - in den Provinzen konnten sie sehn, wie sie fortkamen; endlich die große Masse - Sklaven. Gegenüber dem Staat, d.h. dem Kaiser, waren die beiden ersten Klassen fast ebenso rechtlos wie die Sklaven gegenüber ihren Herren. Namentlich von Tiberius bis Nero war es Regel, reiche Römer zum Tode zu verurteilen, um ihr Vermögen einzuziehen. Stütze der Regierung war materiell das Heer, das einer Landsknechtsarmee schon weit ähnlicher sah als dem alten römischen Bauernheer, und moralisch die allgemeine Einsicht, daß aus dieser Lage nicht herauszukommen, daß zwar nicht dieser oder jener Kaiser, aber das auf Militärherrschaft gegründete Kaisertum eine unabwendliche Notwendigkeit sei. Auf welchen sehr materiellen Tatsachen diese Einsicht beruhte, darauf einzugehn, ist hier nicht der Ort. Der allgemeinen Rechtlosigkeit und Verzweiflung an der Möglichkeit besserer Zustände entsprach die allgemeine Erschlaffung und Demoralisation. Die wenigen noch übrigen Altrömer patrizischer Art und Gesinnung wurden beseitigt oder starben aus; ihr letzter ist Tacitus. Die übrigen waren froh, wenn sie sich vom öffentlichen Leben ganz fernhalten konnten; Reichtumserwerb und Reichtumsgenuß füllten ihr Dasein aus, Privatklatsch und Privatkabale. Die besitzlosen Freien, in Rom Staatspensionäre, hatten dagegen in den Provinzen einen harten Stand. Arbeiten mußten sie und das obendrein gegen die Konkurrenz der Sklavenarbeit. Doch waren sie auf die Städte beschränkt. Neben ihnen gab es in den Provinzen noch Bauern, freie
Grundbesitzer (hie und da wohl auch noch in Gemeineigentum) oder, wie in Gallien, Schuldhörige großer Grundherren. Diese Klasse wurde von der gesellschaftlichen Umwälzung am wenigsten berührt; sie stellte auch der religiösen den längsten Widerstand entgegen*. Endlich die Sklaven, rechtund willenlos, in der Unmöglichkeit, sich zu befreien, wie schon die Niederlage des Spartakus bewiesen; aber dabei großenteils selbst ehemalige Freie oder Söhne Freigelassener. Unter ihnen mußte also noch am meisten lebendiger, wenn auch nach außen ohnmächtiger Haß gegen ihre Lebenslage vorhanden sein. Dementsprechend werden wir auch die Ideologen jener Zeit geartet finden. Die Philosophen waren entweder bloße gelderwerbende Schulmeister oder bezahlte Possenreißer reicher Prasser. Manche waren sogar Sklaven. Was aus ihnen wurde, wenn es ihnen gut ging, zeigt Herr Seneca. Dieser Tugend und Enthaltung predigende Stoiker war erster Hofintrigant Neros, was ohne Kriecherei nicht abging, ließ sich von ihm Geld, Güter, Gärten, Paläste schenken, und während er den armen Lazarus des Evangeliums predigte, war er in Wirklichkeit der reiche Mann desselben Gleichnisses. Erst als Nero ihm an den Kragen wollte, bat er den Kaiser, alle Geschenke zurückzunehmen, seine Philosophie genüge ihm. Nur ganz vereinzelte Philosophen, wie Persius, schwangen wenigstens die Geißel der Satire über ihre entarteten Zeitgenossen. Was aber die zweite Art Ideologen angeht, die Juristen, so schwärmten diese für die neuen Zustände, weil die Verwischung aller Standesunterschiede ihnen erlaubte, ihr geliebtes Privatrecht in aller Breite auszuarbeiten, wofür sie dann den Kaisern das hündischste Staatsrecht verfertigten, das je existiert hat. Mit den politischen und sozialen Besonderheiten der Völker hatte das Römerreich auch seine besonderen Religionen dem Untergang geweiht. Alle Religionen des Altertums waren naturwüchsige Stammes- und später Nationalreligionen, hervorgesproßt aus und verwachsen mit den gesellschaftlichen und politischen Zuständen des jedesmaligen Volks. Einmal diese ihre Grundlagen zerstört, die überlieferten Gesellschaftsformen, die hergebrachte politische Einrichtung und die nationale Unabhängigkeit gebrochen, brach die dazugehörige Religion selbstredend zusammen. Die Nationalgötter konnten andre Nationalgötter, bei anderen Völkern, neben sich dulden, und das war die allgemeine Regel im Altertum: aber nicht über sich. Die Verpflanzung orientalischer Götterkulte nach Rom schadete nur
* Nach Failmerayer wurde noch im 9. Jahrhundert in der Maina (Peloponnes) von den Bauern dem Zeus geopfert.
der römischen Religion, konnte aber den Verfall der orientalischen Religionen nicht hemmen. Sobald die Nationalgötter die Unabhängigkeit und Selbständigkeit ihrer Nation nicht mehr schirmen können, brechen sie sich selbst den Hals. So geschah es überall (abgesehn von den Bauern, besonders im Gebirg). Was in Rom und Griechenland die vulgärphilosophische Auf-, Idärung, ich hätte beinahe gesagt der Voltairianismus, das tat in den Provinzen die römische Unterjochung und die Ersetzung freiheitsstolzer Männer durch verzweifelnde Untertanen und selbstsüchtige Lumpe. Das war die materielle und moralische Lage. Die Gegenwart unerträglich, die Zukunft womöglich noch drohender. Kein Ausweg. Verzweiflung oder Rettung in den allerordinärsten sinnlichen Genuß - bei denen wenigstens, die sich das erlauben konnten, und das war eine kleine Minderzahl. Sonst blieb nur noch die schlaffe Ergebung in das Unvermeidliche. Aber in allen Klassen mußte es eine Anzahl Leute geben, die, an der materiellen Erlösung verzweifelnd, eine geistige Erlösung als Ersatz suchten - einen Trost im Bewußtsein, der sie vor der gänzlichen Verzweiflung bewahrte. Diesen Trost konnte die Stoa nicht bieten, ebensowenig wie die Schule Epikurs, eben weil sie Philosophien, also nicht für das gemeine Bewußtsein berechnet sind, und dann zweitens, weil der Lebenswandel ihrer Jünger die Lehren der Schule in Mißkredit brachte. Der Trost sollte nicht die verlorne Philosophie, sondern die verlorne Religion ersetzen, er mußte eben in religiöser Form auftreten, wie damals, und noch bis ins 1 J.Jahrhundert, alles, was die Massen packen sollte. Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß von diesen sich nach einem solchen Bewußtseinstrost, nach dieser Flucht aus der äußern Welt in die innere sehnenden Leuten die Mehrzahl sich finden mußte - unter den Sklaven. In diese allgemeine ökonomische, politische, intellektuelle und moralische Auflösung trat nun das Christentum. Zu allen bisherigen Religionen trat es in entschiednen Gegensatz. Bei allen bisherigen Religionen waren die Zeremonien die Hauptsache. Nur durch die Teilnahme an Opfern und Umzügen, im Orient noch dazu durch die Beobachtung der umständlichsten Diät- und ReinheitsvorSchriften, konnte man seine Angehörigkeit bekunden. Während Rom und Griechenland in letzterer Beziehung tolerant waren, herrschte im Orient eine religiöse Verbotswut, die zum schließlichen Verfall nicht wenig beigetragen hat. Leute zweier verschiedner Religionen, Ägypter, Perser, Juden, Chaldäer etc., können nicht zusammen essen oder trinken; keinen alltäglichen Akt gemeinsam begehn, kaum zusammen sprechen. An dieser Scheidung
des Menschen vom Menschen ist der alte Orient großenteils mit untergegangen. Das Christentum kennt keine scheidenden Zeremonien, nicht einmal die Opfer und Umzüge der klassischen Welt. Indem es so alle Nationalreligionen und das ihnen gemeinsame Zeremoniell verwirft und an alle Völker ohne Unterschied sich wendet, wird es selbst die erste mögliche Weltreligion. Auch das Judentum hatte mit seinem neuen Universalgott einen Anlauf zur Weltreligion genommen; aber die Kinder Israels blieben immer eine Aristokratie unter den Gläubigen und Beschnittenen, und selbst das Christentum mußte die Vorstellung von dem Vorzug der Judenchristen (die noch in der sog. Offenbarung Johannis herrschte) erst loswerden, ehe es wirkliche Weltreligion werden konnte. Andrerseits hat der Islam, durch Beibehaltung seines spezifisch orientalischen Zeremoniells, selbst sein Ausbreitungsgebiet auf den Orient und das eroberte und von arabischen Beduinen neu bevölkerte Nordafrika beschränkt: hier konnte er herrschende Religion werden, im Westen nicht. Zweitens schlug das Christentum eine Saite an, die in zahllosen Herzen widerklingen mußte. Auf alle Klagen über die Schlechtigkeit der Zeiten und das allgemeine materielle und moralische Elend antwortete das christliche Sündenbewußtsein: So ist es, und so kann es nicht anders sein, an der Verderbtheit der Welt bist Du schuld, Ihr alle, Deine und Euere eigne innere Verderbtheit! Und wo war der Mann, der nein sagen konnte? Mea culpa!1 Die Erkenntnis des eignen Schuldanteils jedes einzelnen am allgemeinen Unglück war unabweisbar und wurde nun auch Vorbedingung der geistigen Erlösung, die das Christentum gleichzeitig verkündete. Und diese geistige Erlösung war so eingerichtet, daß sie von den Genossen jeder alten Religionsgemeinschaft leicht verstanden werden konnte. Allen diesen alten Religionen war die Vorstellung des Sühnopfers geläufig, durch das die beleidigte Gottheit versöhnt wurde; wie sollte die Vorstellung von dem ein für allemal die Sünden der Menschheit tilgenden Selbstopfer des Mittlers da nicht leicht Boden finden? Indem also das Christentum das allgemein verbreitete Gefühl, daß die Menschen am allgemeinen Verderben selbst schuld seien, als Sündenbewußtsein jedes einzelnen zum klaren Ausdruck brachte und gleichzeitig mit dem Opfertod seines Stifters eine überall leicht erfaßliche Form der allgemein ersehnten inneren Erlösung von der verderbten Welt, des Bewußtseinstrosts, lieferte, bewährte es wieder seine Fähigkeit, Weltreligion zu werden - und zwar eine für die grade vorliegende Welt passende Religion.
1 Meine Schuld!
So ist es gekommen, daß unter den Tausenden von Propheten und Predigern in der Wüste, die jene Zeit mit ihren zahllosen Religionserneuerungen erfüllten, allein die Stifter des Christentums Erfolg gehabt haben. Nicht nur in Palästina, im ganzen Orient wimmelte es von solchen Religionsstiftern, unter denen ein - man kann sagen - darwinistischer Kampf um die ideelle Existenz herrschte. Dank vornehmlich den oben entwickelten Elementen siegte das Christentum. Und wie es allmählich im Kampf der Sekten untereinander und mit der heidnischen Welt durch natürliche Zuchtwahl seinen Charakter als Weltreligion immer weiter ausbildete, das lehrt im einzelnen die Kirchengeschichte der ersten drei Jahrhunderte. F. Engels
Geschrieben in der zweiten Aprilhälfte 1882. Nach der Handschrift.
Friedrich Engels [Uber die Konzentration des Kapitals in den Vereinigten Staaten]
[„Der Sozialdemokrat" Nr. 21 vom 18. Mai 1882] Mit welcher fabelhaften Geschwindigkeit die Konzentration des Kapitals in den Vereinigten Staaten von Amerika vor sich geht, zeigt eine vor kurzem in englischen Blättern veröffentlichte Statistik. Nach derselben ist der Reichste unter den Reichen Herr Vajiderbilt in New York• Dieser Eisenbahn», Land-, Schlot- etc. Baron wird auf gegen 300 Millionen Dollars (1 Dollar — 4 Mark 25 Pfennige) Vermögen - „Wert", sagt der Amerikanergeschätzt. Er besitzt 65 Millionen Dollars in Vereinigten-Staaten-Anleihen (Bonds), 50 Millionen Aktien der New-York-Central- und Hudson-RiverEisenbahn sowie 50 Millionen Aktien anderer Eisenbahngesellschaften, ferner einen kolossalen Grundbesitz, sowohl in New York als auch im Innern des Landes. Herr Vanderbilt, fügen die Blätter bewundernd hinzu, kann verschiedene Rothschilds aufkaufen und bleibt doch immer noch der reichste Mann der Welt. Und dieses kolossale Vermögen hat die Familie Vanderbilt in zirka 30 Jahren zusammenge-spart! Der Fall, schreibt die „Whitehall Review"[191 \ steht ohnegleichen da in der Geschichte. Wir glauben's auch. Nach Vanderbilt folgen in der Liste der Geldprotzen: 7— r u „l • ur-ii,. c;—k„u inn iv/r:n: juy Ui/uiu, giciCiliaiis uci u^nugici usciiuaiuigauiicj iw iTiuiiuncii Dollars; Mackay, der Silberminenbesitzer, Macher der Agitation für die „vertragsmäßige Doppelwährung" - 50 Millionen; Crocker - 50 Millionen; John Rockefeiler, Petroleumritter - aber kein Petroleur[192] - 40 Millionen; C.P.Huntington - 20 Millionen; D.O.Mills - 20 Millionen; Senator Fair 30 Millionen; Ex-Gouverneur Stanford - 40 Millionen; Rüssel Sage 15 Millionen; J.R.Keene - 15 Millionen; S.J.Tilden - 15 Millionen; E.D.Morgan - 10 Millionen; Samuel Sloan - 10 Millionen; Garrison 10 Millionen; Cyrus W. Field- 10 Millionen; Hugh J.Jewett - 5 Millionen;
Sidney Dillon - 5 Millionen; David Dows - 5 Millionen; J.D. Navarro 5 Millionen; John W. Garrett - 5 Millionen; W.B.Astor - 5 Millionen. Soweit die Liste, die indes durchaus nicht erschöpfend ist. Die Zahl der amerikanischen Geldfürsten ist noch weit größer. Und diese fabelhafte Reichtumsakkumulation wird durch die enorme Einwanderung in Amerika noch von Tag zu Tag gesteigert. Denn direkt und indirekt kommt dieselbe in erster Linie den Kapitalmagnaten zugute. Direkt, indem sie die Ursache einer rapiden Steigerung der Bodenpreise ist, indirekt, indem die Mehrzahl der Einwanderer den Lebensstand der amerikanischen Arbeiter herabdrückt. Schon jetzt finden wir in den zahllosen Streikberichten, welche unsere amerikanischen Bruderorgane melden, einen immer größeren Prozentsatz von Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen, und die meisten auf Lohnerhöhung abzielenden Streiks sind im Gr-unde auch nichts anderes, denn sie sind entweder hervorgerufen durch die enorme Steigerung der Preise oder durch das Ausbleiben der sonst im Frühjahr üblichen Lohnerhöhungen. Auf diese Weise trägt der Auswandererstrom, den Europa jetzt jährlich nach Amerika entsendet, nur dazu bei, die kapitalistische Wirtschaft mit all ihren Folgen auf die Spitze zu treiben, so daß über kurz oder lang ein kolossaler Krach drüben unvermeidlich wird. Dann wird der Auswandererstrom stocken oder vielleicht gar seinen Lauf zurücknehmen, d.h. der Moment gekommen sein, wo der europäische, speziell der deutsche Arbeiter vor der Alternative steht: Hungertod oder Revolution! Steht aber die Alternative einmal so, dann ade - ihr Glückspilze des heiligen preußisch-deutschen Kaiserreichs! Und der Moment ist näher, als es die meisten sich träumen lassen. Schon hält es für die Einwanderer drüben schwer, Arbeit zu finden, immer deutlicher zeigen sich die Vorboten der nahenden Geschäftskrisis, ein noch so geringfügiger Anlaß im entscheidenden Moment genügt, und - der Krach ist da! Darum, so sehr wir auch mit der „New Yorker Volkszeitung"I193] die Auswanderung aus Deutschland bedauern, so sehr wir überzeugt sind, daß dieselbe zunächst eine wesentliche Verschlechterung der Lage der amerikanischen Arbeiter im Gefolge haben wird, und so sehr wir ferner mit ihr wünschten, daß die deutschen Arbeiter ihr ganzes Augenmerk ausschließlich auf die Verbesserung ihrer Lage in Deutschland richteten, so können wir ihren Pessimismus doch nicht teilen. Wir müssen eben mit den Verhältnissen rechnen, und - da dieselben, dank der Kurzsichtigkeit und Habgier unserer Gegner, eine Entwicklung im wirklich reformatorischen Sinne
immer mehr ausschließen - unsere Aufgabe darin suchen, die Geister, allen Angstmeiern zum Trotz, vorzubereiten auf den revolutionären Gang der Ereignisse. Für den Konflikt: Riesenhafte Konzentration des Kapitals einerseits und wachsendes Massenelend andererseits, gibt es nur eine Lösung: Die soziale Revolution!
Geschrieben am 3. Mai 1882.
Friedrich Engels Der Vikar von Bray Aus dem Englischen von Friedrich Engels
[„Der Sozialdemokrat" Nr. 37 vom 7. September 1882] Zu König Karls Zeit, da noch war Loyalität zu finden, Dient' ich der Hochkirch ganz und gar, Und so erwarb ich Pfründen. Der König ist von Gott gesetzt So lehrt' ich meine Schafe Und wer ihm trotzt, ihn gar verletzt, Den trifft die Höllenstrafe. Denn dieses gilt, und hat Bestand, Bis an mein End' soll's wahr sein: Daß wer auch König sei im Land, In Bray will ich Vikar sein.
Jakob nahm auf dem Throne Platz, Das Papsttum kam zu Ehren: Da galt's, die Katholikenhatz Ins Gegenteil zu kehren. Für mich auch, fand ich, paßten schon Roms Kirch' und Priesterorden; Kam nicht die Revolution, War'ich Jesuit geworden. Denn dieses gilt und hat Bestand, Bis an mein End' soll's wahr sein: Daß wer auch König sei im Land, In Bray will ich Vikar sein.
Als König Wilhelm kam, der Held, Und rettete die Freiheit, Hab' ich mein Segel umgestellt Nach dieses Windes Neuheit. Der Knechtsgehorsam vor'ger Zeit, Der war jetzt bald erledigt: Der Tyrannei gebt Widerstreit! So wurde nun gepredigt. Denn dieses gilt und hat Bestand, Bis an mein End' soll's wahr sein: Daß wer auch König sei im Land, In Bray will ich Vikar sein.
Als Anna wurde Königin, Der Landeskirche Glorie, Das hatte einen andern Sinn, Und da ward ich ein Tory. Für unsrer Kirch' Integrität, Da galt es jetzt zu eifern, Und Mäßigung und Laxität Als sündhaft zu begeifern. Denn dieses gilt und hat Bestand, Bis an mein End' soll's wahr sein: Daß, wer auch König sei im Land, In Bray will ich Vikar sein.
Als König Georg bracht' ins Land Gemäßigte Politik, mein Herr, Hab' nochmals ich den Rock gewandt, Und so ward ich ein Whig, mein Herr. Das war es, was mir Pfründen gab Und Gunst bei dem Regenten; Auch schwor ich fast alltäglich ab, So Papst wie Prätendenten. Denn dieses gilt und hat Bestand, Bis an mein End' soll's wahr sein: Daß wer auch König sei im Land, In Bray will ich Vikar sein.
Feuilleton.
gex 2Hfiat mm ^Sra^. Sl u 3 bem @ n g l ti* $ e n oon g r t e b r t dj @ n g e 18. 3u Äönig ÄarlS $eitr. ba no($ roar Sotyilitat ju ftnben, 2)ient' td) bcr #odjftrdj ganj unb gar Unb fo erwarb id) ^frünben. 35er Äönig ift oon ©Ott gefegt — (So lefjtt' td) meine @d)afe — Unb wer tljm tro^t, iljn gar »erlebt, ®en trifft bie §ölleitflrafe. £>enn btefeS gilt, uub bat SBejiaub, SöiS an mein ©nb1 fofl'a wabr fein: 2)afj wer audj $önig fei tm Sanb, ^n ©rat} will t d) $ifar fein.
3a!ob naljm auf bem Sljrone ^lats, 2)a8 $apfltf)um !am ju @bren; Sa galt's, bte $atboltfenlja§ 3nS ©egentljetl 51s febren. $iir mtd} audj, fäitb td), paßten fdjon SRomS Äirdj' unb *J3rtefierorben; Äam nidjt bie SReüolution, Sar' idj $efuit geworben. ®enn biefe« gilt unb fjat Skßanb, an mein ©nb1 fott'8 waljr fein: ®afj wer audj Äöntg fei im £anb, 3fn 33tat} roitt t <fj 33t!ar fein.
Uf« Äönig SBilljelm !amf ber §elb, Unb rettete bie greUjeit, $ab' tdj mein ®egel untgefteüt Sftadj btefes SBhtbeS fteufoeit. 2>er 3htcd)tggeI)orfam öor'ger 2)er war jejjt balb erlebigt: 2)er jCtjrattnei gebt SBiberfireit! ©o würbe nun geprebigt. 2)emt btefe« gilt unb Ijat Seflanb, an mein @nb' foß'8 watyr fein: 3>a§ wer aud^ $önig fei im Sanb, Srat) will i d) SJtfar fein.
Engels' Ubersetzung des Gedichtes ,Der Vikar von Bray" in „Der Sozialdemokrat"
211« Sttna nmrbe Königin, 2)er $!aitbe8firdje ©forie, 3)a« ^atte einen anbern (ginn, Unb bot ttiarb tcf) ein Stört), giir unfrer Äinf)' Integrität, galt e8 je§t ju eifern, llnb SDZäfjigung unb Sanität •2U8 yiiitbEjaft 3U begeifern. ®enn biefe« gilt unb Ijat SSejlanb, S8is an mein @nb' fofl'8 ma&r fein: 3)afj »er aud) Äöntg fei int Sanb, £n Sral) mitt i $ Sifar fein.
9II8 Sönig (Seorg bracht' in's Sanb ©entß^Ste $oüti?, mein ^err. £ab' normal« idj ben Slod geroanbt, Unb fo warb tdj ein Bfitg, mein §err. 2)a8 tt>ar e8, toa8 mir ^friinben gab llnb ®unfi bei bem Regenten; Eud) fdjttor idj faft afltäglid) ab, @o $apfi toie ^rfitenbenten. 2)enn btefe« gilt unb Ijat SBefianb, 33i# an mein @nb' foH'S maljr fein: SDafj wer aud) Äönig fei im Sanb, 3n SBrat? toiK i d) üßitar fein.
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Hannovers hoher Dynastie Mit Ausschluß von Papisten Der schwör' ich Treu, so lange sie Sich an dem Thron kann fristen. Denn meine Treu wankt nimmermehr Veränd'rung ausgenommen Und Georg sei mein Fürst und Herr, Bis andre Zeiten kommen. Denn dieses gilt und hat Bestand, Bis an mein End' soll's wahr sein: Daß wer auch König sei im Land, In Bray will ich Vikar sein.
Das obige Lied ist wohl das einzige politische Volkslied, das sich in England seit mehr als hundertsechzig Jahren in Gunst erhalten hat. Es verdankt dies großenteils auch seiner prächtigen Melodie, die noch heute allgemein gesungen wird. Im übrigen ist das Lied, auch gegenüber unsern heutigen deutschen Verhältnissen, keineswegs veraltet. Nur, daß wir, wie sich gebührt, inzwischen Fortschritte gemacht haben. Der brave Originalvikar brauchte doch bloß bei jedem Thronwechsel seinen Rock zu wenden. Aber wir Deutsche haben über unsern vielen politischen Vikaren von Bray einen richtigen Papst von Bray1, der seine Unfehlbarkeit damit bewährt, daß er nach immer kürzer werdenden Zeilräumen die ganze politische Glaubenslehre selbst gründlich umwälzt. Gestern Freihandel, heute Schutzzoll; gestern Gewerbefreiheit, heute Zwangsinnungen; gestern Kulturkampf, heute mit fliegenden Fahnen nach Kanossa - und warum nicht? Omnia in majorem Dei gloriam (Alles zur größeren Ehre Gottes), was auf deutsch heißt: Alles, um mehr Steuern und mehr Soldaten herauszuschlagen. Und die armen kleinen Vikare müssen mit, müssen immer von neuem, wie sie selbst es nennen, „über den Stock springen", und das noch oft genug ohne Entgelt. Mit welcher Verachtung würde unser alter strammer Vikar auf diese seine winzigen Nachtreter herabsehen - er, der noch ordentlich stolz ist auf den Mut, mit dem er seine Position durch alle Stürme behauptet!
Fr. Engels
Geschrieben Anfang September 1882.
1 Anspielung auf Bismarck
Friedrich Engels Wie der Pindter flunkert11941
[„Der Sozialdemokrat" Nr. 45 vom 2. November 1882] Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", das Leiborgan des Fürsten Bismarck, ist vermöge ihrer Stellung nicht bloß über alle Regeln des Anstandes, sondern auch der Logik und des gesunden Menschenverstandes erhaben. Sie hat das Privileg, zu schimpfen, zu verleumden, zu lügen und staatsmännischen wie unstaatsmännischen Unsinn zu schreiben. Mit Ausnahme einiger Lakaien mit und ohne Uniform, welche die Expektorationen und Exkremente des Dalai Lama als Ausflüsse der Gottheit zu verehren und, wenn es sein muß, auch aufzuspeisen pflegen, weiß jedermann, daß dieses Blatt das Asyl aller Niederträchtigkeit und Dummheit ist. Wenn es gilt, einen Gegner zu beschmutzen, eine recht dicke Lüge, eine recht saftige Verleumdung in die Welt zu schicken und recht tief in den Straßenkot zu greifen - dann ist es die „Norddeutsche Allgemeine", die für dieses Ehrenamt ausersehen wird. Und sie verrichtet es mit sichtbarem Wohlgefallen. In jüngster Zeit hat das saubere Blatt, da es wegen seiner Ungeschicklichkeit und allzu großen Verrufenheit im Landtagswahlkampf nicht verwandt werden konnte, sich mit besonderer Vorliebe darauf verlegt, die Sozialdemokratie zu beschmutzen und die tollsten Lügen über sie zu verbreiten. Gewisse Vorgänge in Frankreichtl95] werden in der groteskesten Weise entstellt und aus den grellsten Farben haarsträubende Schauergemälde zusammengekleckst, Welche der schaudernden Menschheit zeigen sollen, daß die Sozialdemokraten Räuber, Mörder, Brandstifter und der Himmel weiß was sonst noch sind, und daß die französische Republik notwendig zugrunde gehen muß, weil sie außerstande ist, sich solcher Scheusale zu erwehren wozu natürlich nur eine Monarchie mit einem Majordomus (Hausmeier) ä la Bismarck fähig ist.
Bei dem Wiener „Raubmordattentat" war es die „Norddeutsche", welche am unverfrorensten dasselbe der Sozialdemokratie in die Schuhe schob und die schuftigsten Denunziationen anknüpfte.[196] Als vor 14 Tagen eine österreichische Staatsanwaltschaft die kretinhafte Unverschämtheit beging, die ungarischen Judenkrawalle L auf geheime Machinationen der Sozialdemokratie zurückzuführen, war die „Norddeutsche Allgemeine" das einzige Blatt, welches diesem ebenso dummen als gemeinen Streich zujubelte und dem Idioten von Staatsanwalt sekundierte, obgleich sie ganz genau weiß - aus ihrer nächsten Nähe und durch ihre eigene persönliche Erfahrung weiß -, daß die sogenannte „antisemitische Bewegung" in den Sozialdemokraten ihre entschiedensten Gegner hat und in Deutschland, speziell in Berlin, trotz eifrigster Unterstützung seitens des Patrons1 der „Norddeutschen Allgemeinen", an der Haltung der Sozialdemokraten gescheitert ist. Die neueste Lügenleistung der „Norddeutschen"[197] besteht in einer längeren Notiz, dahingehend, daß, die Frage der Verlängerung des Sozialistengesetzes einen „heftigen Streit" unter der deutschen Sozialdemokratie hervorgerufen habe. Die „Liebknechtsche Gruppe" sei der Ansicht, daß die Fortdauer des Sozialistengesetzes im Interesse der Partei liege, von anderen (Gruppen?) würde diese Anschauung als Politik der „Phrase" bekämpft, „und daß der so entstandene Streit innerhalb der sozialdemokratischen Partei mit den gröbsten Waffen geführt werde, verstehe sich von selbst". Die Leser des „Sozialdemokrat" wissen, was es mit dieser Flunkerei auf sich hat. Sowenig es innerhalb der sozialdemokratischen Partei' „Gruppen" im Sinne der „Norddeutschen" gibt, gibt's einen „Streit" über irgendeine Frage, und nun gar über die der Verlängerung oder NichtVerlängerung des Sozialistengesetzes. Wir sind zu gute „Realpolitiker", um uns um ungelegte Eier zu bekümmern, und stehen dieser Frage mit dem Gefühle absolutester „Wurstigkeit" gegenüber. Wird das Sozialistengesetz abgeschafft, so wissen wir, daß es nicht aus Liebe zu uns abgeschafft wird, und wir bleiben, was wir sind; und wird es nicht abgeschafft, so bleiben wir erst recht, was wir sind. Daß das Sozialistengesetz für die Schulung und Festigung unserer Partei unbezahlbar gewesen ist und überhaupt eine treffliche erzieherische Wirkung gehabt hat, darin stimmen übrigens alle Sozialdemokraten ohne Ausnahme überein.
1 Bismarck
Die Frage, ob die Verlängerung oder Nicbtverlängerung des Sozialistengesetzes wahrscheinlich sei, ist allerdings im Parteiorgan - und nur hier - bebandelt worden, jedoch, wie das in der Natur des Themas liegt, ganz akademisch. Und wo ist, so fragen wir, der „Streit", der „mit so groben Waffen geführt" worden sein soll? Auch nicht ein Wort, das die Behauptung der „Norddeutschen" rechtfertigte. Das Bismarcksche Leibblatt kennt offenbar noch nicht die für Lügner von Profession so unentbehrliche Regel, daß man wahr lügen muß, d.h., daß die Lüge einer Beimischung von Wahrheit bedarf, um flügge zu werden. Beiläufig hat sich die „Norddeutsche" von der „Liberalen Correspondenz" sagen lassen müssen, daß sie mit dieser ihrer Notiz eine kolossale Dummheit gemacht. Denn ein besseres Argument für die Aufhebung des Sozialistengesetzes könne es doch nicht geben, als daß dessen Fortdauer von den Sozialdemokraten gewünscht werde. So weit hatten die Verstandeskräfte des Bismarckschen Leibblattes allerdings nicht gereicht. >
Geschrieben Ende Oktober 1882.
FRIEDRICH ENGELS
Die Mark1"31
Geschrieben von Mitte September bis Mitte Dezember 1882. Erstmalig veröffentlicht als Anhang zur Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft";, Hottingen-Zürich 1882. Nach der vierten, vervollständigten Ausgabe, Berlin 1891.
In einem Lande wie Deutschland, wo noch gut die Hälfte der Bevölkerung vom Landbau lebt, ist es notwendig, daß die sozialistischen Arbeiter und durch sie die Bauern erfahren, wie das heutige Grundeigentum, großes wie kleines, entstanden ist; notwendig, daß dem heutigen Elend der Taglöhner und der heutigen Verschuldungsknechtschaft der Kleinbauern entgegengehalten werde das alte Gemeineigentum aller freien Männer an dem, was damals für sie in Wahrheit ein „Vaterland", ein ererbter freier Gemeinbesitz war. Ich gebe daher eine kurze geschichtliche Darstellung jener uralten deutschen Boden Verfassung, die sich in kümmerlichen Resten bis auf unsre Tage erhalten, die aber im ganzen Mittelalter als Grundlage und Vorbild aller öffentlichen Verfassung gedient und das ganze öffentliche Leben, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Nordfrankreich, England und Skandinavien durchdrungen hat. Und dennoch konnte sie so in Vergessenheit geraten, daß erst in der letzten Zeit G.L.Maurer ihre wirkliche Bedeutung von neuem entdecken mußtet199' Zwei naturwüchsig entstandne Tatsachen beherrschen die Urgeschichte aller oder doch fast aller Völker: Gliederung des Volks nach Verwandtschaft und Gemeineigentum am Boden. So war es auch bei den Deutschen. Wie sie die Gliederung nach Stämmen, Sippschaften, Geschlechtern aus Asien mitgebracht hatten, wie sie noch zur Römerzeit ihre Schlachthaufen so bildeten, daß immer Nächstverwandte Schulter an Schulter standen, so beherrschte diese Gliederung auch die Besitznahme des neuen Gebiets östlich vom Rhein und nördlich von der Donau. Auf dem neuen Sitz ließ sich jeder Stamm nieder, nicht nach Laune oder Zufall, sondern, wie Cäsar ausdrücklich angibt, nach der Geschlechtsverwandtschaft der Stammesglieder12001. Den näher verwandten größern Gruppen fiel ein bestimmter Bezirk zu, worin wieder die einzelnen, eine Anzahl Familien umfassenden Geschlechter sich dorfweise niederließen. Mehrere verwandte Dörfer bildeten
eine Hundertschaft (althochdeutsch huntari, altnordisch heradh), mehrere Hundertschaften einen Gau; die Gesamtheit der Gaue war das Volk selbst. Der Boden, den die Ortschaft nicht in Beschlag nahm, blieb zur Verfügung der Hundertschaft; was dieser nicht zugeteilt war, verblieb dem Gau; was dann noch verfügbar war - meist ein sehr großer Landstrich - blieb im unmittelbaren Besitz des ganzen Volks. So finden wir in Schweden alle diese verschiednen Stufen von Gemeinbesitz nebeneinander. Jedes Dorf hatte Dorfgemeinland (hys almänningar), und daneben gab es Hundertschafts- (härads), Gau- oder Landschafts- (lands) und endlich das vom König als Vertreter des ganzen Volks in Anspruch genommne VolksGemeinland, hier also konungs almänningar genannt. Aber sie alle, auch das königliche, hießen ohne Unterschied almänningar, Allmenden, Gemeinländereien. Wenn die altschwedische, in ihrer genauen Unterabteilung jedenfalls einer spätem Entwicklungsstufe angehörige Ordnung des Gemeinlands in dieser Form je in Deutschland bestanden hat, so ist sie bald verschwunden. Die rasche Vermehrung der Bevölkerung erzeugte auf dem jedem einzelnen Dorf zugewiesenen sehr ausgedehnten Landstrich, der Mark, eine Anzahl von Tochterdörfern, die nun mit dem Mutterdorf als Gleichberechtigte oder Minderberechtigte eine einzige Markgenossenschaft bildeten, so daß wir in Deutschland, soweit die Quellen zurückreichen, überall eine größere oder geringere Anzahl von Dörfern zu einer Markgenossenschaft vereinigt finden. Über diesen Verbänden aber standen, wenigstens in der ersten Zeit, t. RA—!,.. Ä > > Ä C I uuu i UlL giuuviu iviaiAYCiuauuc uci iiunutiiduiau uuci ucs vjaursf uaiul endlich bildete das ganze Volk ursprünglich eine einzige große Markgenossenschaft zur Verwaltung des in unmittelbarem Volksbesitz gebliebnen Bodens und zur Oberaufsicht über die zu seinem Gebiet gehörigen Untermarken. Noch bis in die Zeit, da das fränkische Reich sich das ostrheinische Deutschland unterwarf, scheint der Schwerpunkt der Markgenossenschaft im Gau gelegen, der (Jau die eigentliche Markgenossenschaft umfaßt zu haben. Denn nur daraus erklärt sich, daß so viele alte große Marken bei der amtlichen Einteilung des Reichs als Gerichtsgaue wieder erscheinen. Aber schon bald darauf begann die Zerschlagung der alten großen Marken. Doch gilt noch im „Kaiserrecht"t2011 des 13. oder 14. Jahrhunderts als Regel, daß eine Mark 6 bis 12 Dörfer umfaßt. Zu Cäsars Zeit bebaute wenigstens ein großer Teil der Deutschen, nämlich das Suevenvolk, das noch nicht zu festen Sitzen gekommen war, den Acker gemeinsam; dies geschah, wie wir nach Analogie andrer Völker an
nehmen dürfen, in der Art, daß die einzelnen, eine Anzahl nahverwandter Familien umfassenden Geschlechter das ihnen zugewiesene Land, das von Jahr zu Jahr gewechselt wurde, gemeinschaftlich bebauten und die Produkte unter die Familien verteilten. Als aber auch die Sueven gegen Anfang-unsrer Zeitrechnung in den neuen Sitzen zur Ruhe gekommen waren, hörte dies bald auf. Wenigstens kennt Tacitus (150 Jahre nach Cäsar) nur noch Bebauung des Bodens durch die einzelnen Familien. Aber auch diesen war das anzubauende Land nur auf ein Jahr zugewiesen; nach jedem Jahr wurde es neu umgeteilt und gewechselt. Wie es dabei herging, das können wir noch heute an der Mosel und im Hochwald an den sogenannten Gehöferschaften sehn. Dort wird zwar nicht mehr jährlich, aber doch noch alle 3, 6, 9 oder 12 Jahre das gesamte angebaute Land, Äcker und Wiesen, zusammengeworfen und nach Lage und Bodenqualität in eine Anzahl „Gewanne" geteilt. Jedes Gewann teilt man wieder in so viel gleiche Teile, lange, schmale Streifen, als Berechtigungen in der Genossenschaft bestehn, und diese werden durchs Los unter die Berechtigten verteilt, so daß jeder Genosse in jedem Gewann, also von jeder Lage und Bodenqualität, ursprünglich ein gleich großes Stück erhielt. Gegenwärtig sind die Anteile durch Erbteilung, Verkauf usw. ungleich geworden, aber der alte Vollanteil bildet noch immer die Einheit, wonach die halben, Viertels-, Achtels- etc. Anteile sich bestimmen. Das unbebaute Land, Wald und Weide, bleibt Gemeinbesitz zur gemeinsamen Nutzung. Dieselbe uralte Einrichtung hatte sich bis in den Anfang unsres Jahrhunderts in den sogenannten Losgütern der bayrischen Rheinpfalz erhalten, deren Ackerland seitdem in Privateigentum der einzelnen Genossen übergegangen ist. Auch die Gehöferschaften finden es mehr und mehr in ihrem Interesse, die Umteilungen zu unterlassen und den wechselnden Besitz in Privateigentum zu verwandeln. So sind die meisten, wo nicht gar alle, in den letzten vierzig Jahren abgestorben und in gewöhnliche Dörfer von Parzellenbauern mit gemeinsamer Wald- und Weidenutzung übergegangen. Das erste Grundstück, das in Privateigentum des einzelnen überging, war der Hausplatz. Die Unverletzlichkeit der Wohnung, diese Grundlage aller persönlichen Freiheit, ging vom Zeltwagen des Wanderzugs über auf das Blockhaus des angesiedelten Bauern und verwandelte sich allmählich in ein volles Eigentumsrecht an Haus und Hof. Dies war schon zu Tacitus' Zeiten geschehn. Die Heimstätte des freien Deutschen muß schon damals aus der Mark ausgeschlossen und damit den Markbeamten unzugänglich, ein sichrer Zufluchtsort für Flüchtlinge gewesen sein, wie wir sie in den spätem Markordnungen und zum Teil schon in den Volksrechten des 5. bis 8. Jahr
hunderts[202] beschrieben finden. Denn die Heiligkeit der Wohnung war nicht Wirkung, sondern Ursache ihrer Verwandlung in Privateigentum. Vier- bis fünfhundert Jahre nach Tacitus finden wir in den Volksrechten auch das angebaute Land als erblichen, wenn auch nicht unbedingt freien Besitz der einzelnen Bauern, die das Recht hatten, darüber durch Verkauf oder sonstige Abtretung zu verfügen. Für die Ursachen dieser Umwandlung haben wir zwei Anhaltspunkte. Erstens gab es von Anfang an in Deutschland selbst, neben den bereits geschilderten geschloßnen Dörfern mit vollständiger Feldgemeinschaft, auch Dörfer, wo außer den Heimstätten auch die Felder aus der Gemeinschaft, der Mark, ausgeschlossen und den einzelnen Bauern erblich zugeteilt waren. Aber nur, wo die Bodengestaltung dies sozusagen aufnötigte: in engen Tälern, wie im Bergischen, auf schmalen, flachen Höhenrücken zwischen Sümpfen, wie in Westfalen. Später auch im Odenwald und in fast allen Alpentälern. Hier bestand das Dorf, wie noch jetzt, aus zerstreuten Einzelhöfen, deren jeder von den zugehörigen Feldern umgeben wird; ein Wechsel war hier nicht gut möglich, und so verblieb der Mark nur das umliegende unbebaute Land. Als nun später das Recht, über Haus und Hof durch Abtretung an Dritte zu verfügen, von Wichtigkeit wurde, befanden sich solche Hofbesitzer im Vorteil. Der Wunsch, diesen Vorteil ebenfalls zu erlangen, mag in manchen Dörfern mit Feldgemeinschaft dahin geführt haben, die gewohnten Umteilungen einschlafen und damit die einzelnen Anteile der Genossen ebenfalls erblich und übertragbar werden zu lassen. 7ymitgtig aber führte die Eroberung die Deutschen auf römisches Gebiet, wo seit Jahrhunderten der Boden Privateigentum (und zwar römisches, unbeschränktes) gewesen war und wo die geringe Zahl der Eroberer unmöglich eine so eingewurzelte Besitzform gänzlich beseitigen konnte. Für den Zusammenhang des erblichen Privatbesitzes an Äckern und Wiesen mit römischem Recht, wenigstens auf ehemals römischem Gebiet, spricht auch der Umstand, daß die bis auf unsre Zeit erhaltnen Reste des Gemeineigentums am urbaren Boden sich gerade auf dem linken Rheinufer, also auf ebenfalls erobertem, aber gänzlich germanisiertem Gebiet finden. Als die Franken sich hier im fünften Jahrhundert niederließen, muß noch Ackergemeinschaft bei ihnen bestanden haben, sonst könnten wir jetzt dort keine Gehöferschaften und Losgüter finden. Aber auch hier drang der Privatbesitz bald übermächtig ein, denn nur diesen finden wir, soweit urbares Land in Betracht kommt, im ripuarischen Volksrechtt203] des sechsten Jahrhunderts erwähnt. Und im innern Deutschland wurde das angebaute Land, wie gesagt, ebenfalls bald Privatbesitz.
Wenn aber die deutschen Eroberer den Privatbesitz an Äckern und Wiesen annahmen, d.h. bei der ersten Landteilung, oder bald nachher, auf erneuerte Umteilungen verzichteten (denn weiter war es nichts), so führten sie dagegen überall ihre deutsche Markverfassung mit Gemeinbesitz an Wald und Weide ein und mit Oberherrschaft der Mark auch über das verteilte Land. Dies geschah nicht nur von den Franken in Nordfrankreich und den Angelsachsen in England, sondern auch von den Burgundern in Ostfrankreich, den Westgoten in Südfrankreich und Spanien und den Ostgoten und Langobarden in Italien. In diesen letztgenannten Ländern haben sich jedoch, soviel bekannt, fast nur im Hochgebirg Spuren der Markeinrichtungen bis heute erhalten. Die Gestalt, die die Markverfassung angenommen hat durch Verzicht auf erneuerte Verteilung des angebauten Landes, ist nun diejenige, die uns entgegentritt nicht nur in den alten Volksrechten des 5. bis 8. Jahrhunderts, sondern auch in den englischen und skandinavischen Rechtsbüchern des Mittelalters, in den zahlreichen deutschen Markordnungen (sogenannten Weistümern) aus dem 13. bis 17. Jahrhundert und in den Gewohnheitsrechten (coutumes) von Nordfrankreich. Indem die Markgenossenschaft auf das Recht verzichtete, von Zeit zu Zeit Äcker und Wiesen unter die einzelnen Genossen neu zu verteilen, gab sie von ihren übrigen Rechten an diese Ländereien kein einziges auf. Und diese Rechte waren sehr bedeutend. Die Genossenschaft hatte den einzelnen ihre Felder übergeben nur zum Zweck der Nutzung als Acker und Wiese und zu keinem andern Zweck. Was darüber hinausging, daran hatte der Einzelbesitzer kein Recht. In der Erde gefundne Schätze, wenn sie tiefer lagen, als die Pflugschar geht, gehörten also nicht ihm, sondern ursprünglich der Gemeinschaft; ebenso das Recht, Erz zu graben usw. Alle diese Rechte wurden später von den Grund- und Landesherren zu eignem Nutzen unterschlagen. Aber auch die Nutzung von Acker und Wiese war gebunden an die Oberaufsicht und Reglung durch die Genossenschaft, und zwar in folgender Gestalt. Da, wo Dreifelderwirtschaft herrschte - und das war fast überall -, wurde die ganze Feldflur des Dorfs in drei gleich große Felder geteilt, von denen jedes abwechselnd ein Jahr zur Wintersaat, das zweite Jahr zur Sommersaat, das dritte zur Brache bestimmt wurde. Das Dorf hatte also jedes Jahr sein Winterfeld, Sommerfeld und Brachfeld. Bei der Landverteilung war dafür gesorgt, daß der Anteil jedes Genossen sich gleichmäßig auf alle drei Felder verteilte, so daß jeder sich ohne Nachteil dem Flurzwang der Genossenschaft fügen konnte, wonach er Wintersaat nur in sein Stück Winterfeld säen durfte usw.
Das jedesmalige Brachfeld fiel nun für die Dauer der Brache wieder in Gemeinbesitz und diente der gesamten Genossenschaft zur Weide. Und sobald die beiden andern Felder abgeerntet waren, fielen sie bis zur Saatzeit ebenfalls wieder in den Gemeinbesitz zurück und wurden als Gemeinweide benutzt. Desgleichen die Wiesen nach der Grummetmahd. Auf allen Feldern, wo geweidet wurde, mußte der Besitzer die Zäune entfernen. Dieser sogenannte Hutzwang bedingte natürlich, daß die Zeit der Aussaat wie der Ernte nicht dem einzelnen überlassen, sondern für alle gemeinsam und von der Genossenschaft oder durch Herkommen festgesetzt war. Alles übrige Land, d.h. alles, was nicht Haus und Hof oder verteilte Dorfflur war, blieb, wie zur Urzeit, Gemeineigentum zur gemeinsamen Nutzung: Wald, Weideland, Heiden, Moore, Flüsse, Teiche, Seen, Weg und Steg, Jagd und Fischerei. Wie der Anteil jedes Genossen an der verteilten Feldmark ursprünglich gleich groß gewesen, so auch sein Anteil an der Nutzung der „gemeinen Mark". Die Art dieser Nutzung wurde durch die Gesamtheit der Genossen bestimmt; ebenso die Art der Aufteilung, wenn der bisher bebaute Boden nicht mehr reichte und ein Stück der gemeinen Mark in Anbau genommen wurde. Hauptnutzung in der gemeinen Mark war Viehweide und Eichelmast, daneben lieferte der Wald Bau- und Brennholz, Laubstreu, Beeren und Pilze, das Moor, wenn vorhanden, Torf. Die Bestimmungen über Weide, Holznutzung usw. bilden den Hauptinhalt der vielen, aus den verschiedensten Jahrhunderten erhaltnen Markweistümer, aufgeschrieben zur Zeit, als das alte ungeschriebne, herkömmliche Recht anfing, streitig zu werden. Die noch vorhandnen Gemeindewaldungen sind der kümmerliche Rest dieser alten ungeteilten Marken. Ein andrer Rest, wenigstens in West- und Süddeutschland, ist die im Volksbewußtsein tief wurzelnde Vorstellung, daß der Wald Gemeingut sei, in dem jeder Blumen, Beeren, Pilze, Bucheckern usw. sammeln und überhaupt, solange er nicht Schaden anrichtet, tun und treiben kann, was er will. Aber auch hier schafft Bismarck Rat und richtet mit seiner berühmten Beerengesetzgebung1204 ] die westlichen Provinzen auf den altpreußischen Junkerfuß ein. Wie die Genossen gleiche Bodenanteile und gleiche Nutzungsrechte, so hatten sie ursprünglich auch gleichen Anteil an Gesetzgebung, Verwaltung und Gericht innerhalb der Mark. Zu bestimmten Zeiten und öfter, wenn nötig, versammelten sie sich unter freiem Himmel, um über die Markangelegenheiten zu beschließen und über Markfrevel und Streitigkeiten zu richten. Es war, nur im Kleinen, die uralte deutsche Volksversammlung, die ursprünglich auch nur eine große Markversammlung gewesen war. Gesetze wurden gemacht, wenn auch nur in seltnen Notfällen; Beamte gewählt,
deren Amtsführung kontrolliert, vor allem aber Recht gesprochen. Der Vorsitzende hatte nur die Fragen zu f ormulieren, das Urteil wurde gefunden von der Gesamtheit der anwesenden Genossen. Die Markverfassung war in der Urzeit so ziemlich die einzige Verfassung derjenigen deutschen Stämme, die keine Könige hatten; der alte Stammesadel, der in der Völkerwanderung oder bald nachher unterging, fügte sich, wie alles mit dieser Verfassung zusammen naturwüchsig Entstandne, leicht in sie ein, wie der keltische Clanadel noch im 17. Jahrhundert in die irische Bodengemeinschaft. Und sie hat im ganzen Leben der Deutschen so tiefe Wurzeln geschlagen, daß wir ihre Spur in der Entwicklungsgeschichte unsres Volks auf Schritt und Tritt wiederfinden. In der Urzeit war die ganze öffentliche Gewalt in Friedenszeiten ausschließlich eine richterliche, und diese ruhte bei der Versammlung des Volks in der Hundertschaft, im Gau, im ganzen Volksstamm. Das Volksgericht aber war nur das Volks-Markgericht, angewandt auf Fälle, die nicht bloße Markangelegenheiten waren, sondern in den Bereich der öffentlichen Gewalt fielen. Auch als mit Ausbildung der Gauverfassung die staatlichen Gaugerichte von den gemeinen Markgerichten getrennt wurden, blieb in beiden die richterliche Gewalt beim Volke. Erst als die alte Volksfreiheit schon in starkem Verfall war, und der Gerichtsdienst neben dem Heeresdienst eine drückende Last für die verarmten Freien wurde, erst da konnte Karl der Große bei den Gaugerichten in den meisten Gegenden das Volksgericht durch Schöffengerichte* ersetzen. Aber dies berührte die Markgerichte durchaus nicht. Diese blieben im Gegenteil selbst noch Muster für die Lehnsgerichtshöfe des Mittelalters; auch in diesen war der Lehnsherr nur Fragesteller, Urteilsfinder aber die Lehnsträger selbst. Die Dorfverfassung ist nur die Markverfassung einer selbständigen Dorfmark und geht in eine Stadtverfassung über, sobald das Dorf sich in eine Stadt verwandelt, d.h. sich mit Graben und Mauern befestigt. Aus dieser ursprünglichen Stadtmarkverfassung sind alle spätem Städteverfassungen herausgewachsen. Und endlich sind der Markverfassung nachgebildet die Ordnungen der zahllosen, nicht auf gemeinsamem Grundbesitz beruhenden freien Genossenschaften des Mittelalters, besonders aber der freien Zünfte. Das der Zunft erteilte Recht zum ausschließlichen Betrieb eines bestimmten Geschäfts wird behandelt ganz wie eine gemeine Mark.
* Nicht zu verwechseln mit den Bismarck-Leonhardtschen Schöffengerichten t205^, wo Schöffen und Juristen zusammen Urteil finden. Beim alten Schöffengericht waren gar keine Juristen, der Präsident oder Richter hatte gar keine Stimme und die Schöffen fanden das Urteil selbständig.
Mit derselben Eifersucht wie dort, oft mit ganz denselben Mitteln, wird auch bei den Zünften dafür gesorgt, daß der Anteil eines jeden Genossen an der gemeinsamen Nutzungsquelle ein ganz oder doch möglichst gleicher sei. Dieselbe fast wunderbare Anpassungsfähigkeit, die die Markverfassung hier auf den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens und gegenüber den mannigfachsten Anforderungen entwickelt hat, beweist sie auch im Fortgang der Entwicklung des Ackerbaus und im Kampf mit dem aufkommenden großen Grundeigentum. Sie war entstanden mit der Niederlassung der Deutschen in Germanien, also in einer Zeit, wo Viehzucht Hauptnahrungsquelle war, und der aus Asien mitgebrachte, halbvergeßne Ackerbau erst eben wieder aufkam. Sie hat sich erhalten durch das ganze Mittelalter in schweren, unaufhörlichen Kämpfen mit dem grundbesitzenden Adel. Aber sie war noch immer so notwendig, daß überall da, wo der Adel sich das Bauernland angeeignet hatte, die Verfassung der hörigen Dörfer eine, wenn auch durch grundherrliche Eingriffe stark beschnittne Markverfassung blieb; ein Beispiel davon werden wir weiter unten erwähnen. Sie paßte sich den wechselndsten Besitzverhältnissen des urbaren Landes an, solange nur noch eine gemeine Mark blieb, und ebenso den verschiedensten Eigentumsrechten an der gemeinen Mark, sobald diese aufgehört hatte, frei zu sein. Sie ist untergegangen an dem Raub fast des gesamten Bauernlandes, des verteilten wie des ungeteilten, durch Adel und Geistlichkeit unter williger Beihülfe der Landesherrschaft. Aber ökonomisch veraltet, nicht mehr lebensfähig als Betriebsform des Ackerbaus wurde sie in Wirklichkeit erst, seit die gewaltigen Fortschritte der Landwirtschaft in den letzten hundert Jahren den Landbau zu einer Wissenschaft gemacht und ganz neue Betriebsweisen eingeführt haben. Die Untergrabung der Markverfassung begann schon bald nach der Völkerwandrung. Als Vertreter des Volks nahmen die fränkischen Könige die ungeheuren, dem Gesamtvolk gehörenden Ländereien, namentlich Wälder, in Besitz, um sie durch Schenkungen an ihr Hofgesinde, an ihre Feldherren sn B ischöfe un d Abte zu verschleudern. Sie bilden dadurch den Stamm des späteren Großgrundbesitzes von Adel und Kirche. Die letztere besaß schon lange vor Karl dem Großen ein volles Drittel alles Bodens in Frankreich; es ist sicher, daß dieses Verhältnis während des Mittelalters so ziemlich für das ganze katholische Westeuropa gegolten hat. Die fortwährenden innern und äußern Kriege, deren regelmäßige Folge Konfiskationen von Grund und Boden waren, ruinierten große Mengen von Bauern, so daß schon zur Merowingerzeit es sehr viele freie Leute ohne Grundbesitz gab. Die unaufhörlichen Kriege Karls des Großen brachen die
Hauptkraft des freien Bauernstandes. Ursprünglich war jeder freie Grundbesitzer dienstpflichtig und mußte nicht nur sich selbst ausrüsten, sondern auch sich selbst sechs Monate lang im Kriegsdienst verpflegen. Kein Wunder, daß schon zu Karls Zeiten kaum der fünfte Mann wirklich eingestellt werden konnte. Unter der wüsten Wirtschaft seiner Nachfolger ging es mit der Bauernfreiheit noch rascher bergab. Einerseits zwang die Not der Normannenzüge, die ewigen Kriege der Könige und Fehden der Großen einen freien Bauern nach dem andern, sich einen Schutzherrn zu suchen. Andrerseits beschleunigte die Habgier derselben Großen und der Kirche diesen Prozeß; mit List, Versprechungen, Drohungen, Gewalt brachten sie noch mehr Bauern und Bauernland unter ihre Gewalt. Im einen wie im andern Fall war das Bauernland in Herrenland verwandelt und wurde höchstens den Bauern zur Nutzung gegen Zins und Fron zurückgegeben. Der Bauer aber war aus einem freien Grundbesitzer in einen zinszahlenden und fronenden Hörigen oder gar Leibeignen verwandelt. Im westfränkischen Reich12063, überhaupt westlich vom Rhein, war dies die Regel. Östlich vom Rhein erhielt sich dagegen noch eine größre Anzahl freier Bauern, meist zerstreut, seltner in ganzen freien Dörfern vereinigt. Doch auch hier drückte im 10. bis 12. Jahrhundert die Übermacht des Adels und der Kirche immer mehr Bauern in die Knechtschaft hinab. Wenn ein Gutsherr - geistlich oder weltlich - ein Bauerngut erwarb, so erwarb er damit auch die zum Gut gehörige Gerechtigkeit in der Mark. Die neuen Grundherren wurden so Markgenossen, den übrigen freien und hörigen Genossen, selbst ihren eignen Leibeignen, innerhalb der Mark ursprünglich nur gleichberechtigt. Aber bald erwarben sie, trotz des zähen Widerstands der Bauern, an vielen Orten Vorrechte in der Mark und konnten diese letztere oft sogar ihrer Grundherrschaft unterwerfen. Und dennoch dauerte die alte Markgenossenschaft fort, wenn auch unter herrschaftlicher Obervormundschaft. Wie unumgänglich nötig damals noch die Markverfassung für den Ackerbau, selbst für den Großgrundbesitz war, beweist am schlagendsten die Kolonisierung von Brandenburg und Schlesien durch friesische, niederländische, sächsische und rheinfränkische Ansiedler. Die Leute wurden, vom 12. Jahrhundert an, auf Herrenland dorfweise angesiedelt, und zwar nach deutschem Recht, d.h. nach dem alten Markrecht, soweit es sich auf herrschaftlichen Höfen erhalten hatte. Jeder bekam Haus und Hof, einen für alle gleich großen, nach alter Art durchs Los bestimmten Anteil in der Dorfflur und die Nutzungsgerechtigkeit an Wald und Weide, meist im grundherrlichen Wald, seltner in besondrer Mark. Alles dies erblich; das
Grundeigentum verblieb dem Herrn, dem die Kolonisten bestimmte Zinse und Dienste erblich schuldeten. Aber diese Leistungen waren so mäßig, daß die Bauern hier sich besser standen als irgendwo in Deutschland. Sie blieben daher auch ruhig, als der Bauernkrieg ausbrach. Für diesen Abfall von ihrer eignen Sache wurden sie denn auch hart gezüchtigt. Überhaupt trat um die Mitte des 13.Jahrhunderts eine entschiedne Wendung zugunsten der Bauern ein; vorgearbeitet hatten die Kreuzzüge. Viele der ausziehenden Grundherren ließen ihre Bauern ausdrücklich frei. Andere sind gestorben, verdorben, Hunderte von Adelsgeschlechtern verschwunden, deren Bauern ebenfalls häufig die Freiheit erlangten. Nun kam dazu, daß mit den steigenden Bedürfnissen der Grundherren das Kommando über die Leistungen der Bauern weit wichtiger wurde als das über ihre Personen. Die Leibeigenschaft des frühern Mittelalters, die noch viel von der alten Sklaverei an sich hatte, gab den Herren Rechte, die mehr und mehr ihren Wert verloren; sie schlief allmählich ein, die Stellung der Leibeignen näherte sich der der bloßen Hörigen. Da der Betrieb des Landbaus ganz der alte blieb, so war Vermehrung der gutsherrlichen Einkünfte nur zu erlangen durch Umbruch von Neuland, Anlage neuer Dörfer. Das war aber nur erreichbar durch gütliche Übereinkunft mit den Kolonisten, gleichviel ob sie Gutshörige oder Fremde waren. Daher finden wir um diese Zeit überall scharfe Festsetzung der bäuerlichen, meist mäßigen Leistungen und gute Behandlung der Bauern, namentlich auf den Herrschaften der Geistlichkeit. Und endlich wirkte die günstige Stellung der neu herbeigezognen Kolonisten wieder zurück auf die Lage der benachbarten Hörigen, so daß auch diese in ganz Norddeutschland bei Fortdauer ihrer Leistungen an den Gutsherrn ihre persönliche Freiheit erhielten. Nur die slawischen und litauisch-preußischen Bauern blieben unfrei. Allein, das alles sollte nicht lange dauern. Im 14. und 15. Jahrhundert waren die Städte rasch emporgekommen und reich geworden. Ihr Kunstgewerbe und Luxus blühte namentlich in ijuuucuiSLiuanu unuaui uiiciii. upplgKcu ucx siauusulcui auiuci sicu den grobgenährten, grobgekleideten, plumpmöblierten Landjunker nicht ruhig schlafen. Aber woher die schönen Sachen erhalten? Das Wegelagern wurde immer gefährlicher und erfolgloser. Zum Kaufen aber gehörte Geld. Und das konnte nur der Bauer schaffen. Daher erneuerter Druck auf die Bauern, gesteigerte Zinsen und Fronden, erneuerter, stets beschleunigter Eifer, die freien Bauern zu Hörigen, die Hörigen zu Leibeignen herabzudrücken und das gemeine Markland in Herrenland umzuwandeln. Dazu halfen den Landesherren und Adligen die römischen Juristen, die mit ihrer
Anwendung römischer Rechtssätze auf deutsche, meist unverstandne Verhältnisse eine grenzenlose Verwirrung anzurichten, aber doch so anzurichten verstanden, daß der Herr stets dadurch gewann und der Bauer stets verlor. Die geistlichen Herren halfen sich einfacher: Sie fälschten Urkunden,ä worin die Rechte der Bauern verkürzt und ihre Pflichten gesteigert wurden. Gegen diese Räubereien von Landesherren, Adel und Pfaffen erhoben sich seit Ende des 15. Jahrhunderts die Bauern in häufigen Einzelauf ständen,bis 1525 der große Bauernkrieg Schwaben, Bayern, Franken bis ins Elsaß, die Pfalz, den Rheingau und Thüringen hinein überflutete. Die Bauern erlagen nach harten Kämpfen. Von da an datiert das erneuerte allgemeine Vorherrschen der Leibeigenschaft unter den deutschen Bauern. In den Gegenden, wo der Kampf gewütet hatte, wurden nun alle noch gebliebnen Rechte der Bauern schamlos zertreten, ihre Gemeinland in Herrenland verwandelt, sie selbst in Leibeigne. Und zum Dank dafür, daß die bessergestellten norddeutschen Bauern ruhig geblieben, verfielen sie, nur langsamer, derselben Unterdrückung. Die Leibeigenschaft deutscher Bauern wird in Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien seit Mitte, in Schleswig-Holstein seit Ende des 16. Jahrhunderts eingeführt und immer allgemeiner den Bauern aufgenötigt. Diese neue Vergewaltigung hatte dazu noch einen ökonomischen Grund. Aus den Kämpfen der Reformationszeit hatten allein die deutschen Landesfürsten vermehrte Macht gewonnen. Mit dem edlen Räuberhandwerk des Adels war es nun aus. Wollte er nicht untergehn, so mußte er aus seinem Grundbesitz mehr Einkünfte herausschlagen. Der einzige Weg aber war der, nach dem Vorbild der größern Landesherren und namentlich der Klöster, wenigstens einen Teil dieses Besitzes für eigne Rechnung zu bewirtschaften. Was bisher nur Ausnahme, wurde jetzt Bedürfnis. Aber dieser neuen Betriebsweise stand im Wege, daß der Boden fast überall an die Zinsbauern ausgegeben war. Indem die freien oder hörigen Zinsbauern in volle Leibeigne verwandelt wurden, bekam der gnädige Herr freie Hand. Ein Teil der Bauern wurde, wie der Kunstausdruck lautet, „gelegt", d.h. entweder weggejagt oder zu Kotsassen mit bloßer Hütte und etwas Gartenland degradiert, ihre Hofgüter zu einem großen Herrenhofgut zusammengeschlagen und von den neuen Kotsassen und noch übriggebliebnen Bauern im Frondienst bebaut. Nicht nur wurden so eine Menge Bauern einfach verdrängt, sondern die Frondienste der noch übrigen bedeutend, und zwar immer mehr, gesteigert. Die kapitalistische Periode kündete sich an auf dem Lande als Periode des landwirtschaftlichen Großbetriebs auf Grundlage der leibeignen Fronarbeit.
Diese Umwandlung vollzog sich indes anfangs noch ziemlich langsam. Da kam der Dreißigjährige Krieg.[207] Während eines ganzen Menschenalters wurde Deutschland die Kreuz und Quer durchzogen von der zuchtlosesten Soldateska, die die Geschichte kennt. Überall wurde gebrandschatzt, geplündert, gesengt, genotzüchtigt, gemordet. Am meisten litt der Bauer da, wo abseits der großen Heere die kleinern Freischaren oder vielmehr Freibeuter auf eigne Faust und für eigne Rechnung hantierten. Die Verwüstung und Entvölkerung war grenzenlos. Als der Friede kam, lag Deutschland hülflos, zertreten, zerfetzt, blutend am Boden; am elendesten aber war wieder der Bauer. Der grundbesitzende Adel wurde nun alleiniger Herr auf dem Lande. Die Fürsten, die seine politischen Rechte in den Stände Versammlungen gerade damals vernichteten, ließen ihm dafür freie Hand gegen die Bauern. Die letzte Widerstandskraft der Bauern aber war durch den Krieg gebrochen. So konnte der Adel alle ländlichen Verhältnisse so einrichten, wie es zur Wiederherstellung seiner ruinierten Finanzen am passendsten war. Nicht nur wurden die verlaßnen Bauernhöfe kurzerhand mit dem Herrenhofgut vereinigt; das Bauernlegen wurde erst» jetzt im großen und systematisch betrieben. Je größer das herrschaftliche Hofgut, desto größer natürlich die Frondienste der Bauern. Die Zeit der „ungemeßnen Dienste" brach wieder an; der gnädige Herr konnte den Bauern, seine Familie, sein Vieh zur Arbeit kommandieren, so oft und so lange es ihm gefiel. Die Leibeigenschaft wurde jetzt allgemein; ein freier Bauer war nun so selten wie ein weißer Rabe. Und damit der gnädige Herr imstande sei, jeden, auch den geringsten Widerstand der Bauern im Keim zu ersticken, erhielt er vom Landesfürsten die Patrimonialgerichtsbarkeit, d.h. er wurde zum alleinigen Richter ernannt für alle kleinern Vergehen und Streitigkeiten der Bauern, selbst wenn ein Bauer mit ihm, dem Herrn, im Streit, der Herr also Richter in eigner Sache war! Von da an herrschten auf dem Lande Stock undPeitsche. Wie das ganze Deutschland, so war der deutsche Bauer bei seiner tiefsten Erniedrigung angekommen. Wie ganz Deutschland, so war auch der Bauer so kraftlos geworden, daß alle Selbsthülfe versagte, daß Rettung nur von außen kommen konnte. Und sie kam. Mit der französischen Revolution brach auch für Deutschland und den deutschen Bauer die Morgenröte einer bessern Zeit an. Kaum hatten die Revolutionsarmeen das linke Rheinufer erobert, so verschwand dort der ganze alte Plunder von Frondiensten, Zins, Abgaben aller Art an den gnädigen Herrn, mitsamt diesem selbst, wie durch einen Zauberschlag. Der linksrheinische Bauer war nun Herr auf seinem Besitz und erhielt obendrein in dem zur Revolutionszeit entworfnen, von Napoleon nur verhunzten
Code civil[2081 ein Gesetzbuch, das seiner neuen Lage angepaßt war und das er nicht nur verstehn, sondern auch bequem in der Tasche tragen konnte. Aber der rechtsrheinische Bauer mußte noch lange warten. Zwar wurden in Preußen, nach der wohlverdienten Niederlage von Jenat2091, einige der allerschmählichsten Adelsrechte abgeschafft und die sogenannte Ablösung der übrigen bäuerlichen Lasten gesetzlich ermöglicht. Aber das stand größtenteils und lange Zeit bloß auf dem Papier. In den übrigen Staaten geschah noch weniger. Es bedurfte einer zweiten französischen Revolution 1830, um wenigstens in Baden und einigen andern Frankreich benachbarten Kleinstaaten die Ablösung in Gang zu bringen. Und als die dritte französische Revolution 1848 endlich auch Deutschland mit sich fortriß, da war die Ablösung in Preußen noch lange nicht fertig und in Bayern noch gar nicht angefangen! Jetzt ging,es freilich rascher; die Fronarbeit der diesmal selbst rebellisch gewordnen Bauern hatte eben allen Wert verloren. Und worin bestand diese Ablösung? Dafür, daß der gnädige Herr eine bestimmte Summe in Geld oder ein Stück Land sich vom Bauern abtreten ließ, dafür sollte er nunmehr den noch übrigen Boden des Bauern als dessen freies, unbelastetes Eigentum anerkennen - wo doch die sämtlichen, dem gnädigen Herrn schon früher gehörigen Ländereien nichts waren als gestohlnes Bauernland! Damit nicht genug. Bei der Auseinandersetzung hielten natürlich die damit beauftragten Beamten fast regelmäßig mit dem gnädigen Herrn, bei dem sie wohnten und kneipten, so daß die Bauern selbst gegen den Wortlaut des Gesetzes noch ganz kolossal übervorteilt wurden. Und so sind wir denn endlich, dank drei französischen Revolutionen und einer deutschen, dahin gekommen, daß wir wieder freie Bauern haben. Aber wie sehr steht unser heutiger freier Bauer zurück gegen den freien Markgenossen der alten Zeit! Sein Hof gut ist meist weit kleiner, und die ungeteilte Mark ist bis auf wenige, sehr verkleinerte und verkommne Gemeindewaldungen dahin. Ohne Marknutzung aber kein Vieh für den Kleinbauern, ohne Vieh kein Dünger, ohne Dünger kein rationeller Ackerbau. Der Steuereinnehmer und der hinter ihm drohende Gerichtsvollzieher, die der heutige Bauer nur zu gut kennt, waren dem alten Markgenossen unbekannte Leute, ebenso wie der Hypothekarwucherer, dessen Krallen ein Bauerngut nach dem andern verfällt. Und was das beste ist: Diese neuen freien Bauern, deren Güter und deren Flügel so sehr beschnitten sind, wurden in Deutschland, wo alles zu spät geschieht, geschaffen zu einer Zeit, wo nicht nur die wissenschaftliche Landwirtschaft, sondern auch schon die neuerfundnen landwirtschaftlichen Maschinen den Kleinbetrieb mehr und mehr zu einer veralteten, nicht mehr lebensfähigen Betriebsweise machen.
Wie die mechanische Spinnerei und Weberei das Spinnrad und den Handwebstuhl, so müssen diese neuen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden die ländliche Parzellenwirtschaft rettungslos vernichten und durch das große Grundeigentum ersetzen, falls - ihnen dazu die nötige Zeit vergönnt wird. Denn schon droht dem ganzen europäischen Ackerbau, wie er heute betrieben wird, ein übermächtiger Nebenbuhler in der amerikanischen Massenproduktion von Getreide. Gegen diesen von der Natur selbst urbar gemachten und auf eine lange Reihe von Jahren gedüngten Boden, der um ein Spottgeld zu haben ist, können weder unsere verschuldeten Kleinbauern noch unsre ebenso tief in Schulden steckenden Großgrundbesitzer ankämpfen. Die ganze europäische landwirtschaftliche Betriebsweise erliegt vor der amerikanischen Konkurrenz. Ackerbau in Europa bleibt möglich nur, wenn er gesellschaftlich betrieben wird und für Rechnung der Gesellschaft. Das sind die Aussichten für unsre Bauern. Und das Gute hat die Herstellung einer, wenn auch verkümmerten, freien Bauernklasse gehabt, daß sie den Bauer in eine Lage versetzt hat, in der er - mit dem Beistand seiner natürlichen Bundesgenossen, der Arbeiter - sich selbst helfen kann, sobald er nur begreifen will, wie.1
Aber wie? - Durch eine Wiedergeburt der Mark, aber nicht in ihrer alten, überlebten, sondern in einer verjüngten Gestalt; durch eine solche Erneuerung der Bodengemeinschaft, daß diese den kleinbäuerlichen Genossen nicht nur alle Vorteile des Großbetriebs und der Anwendung der landwirtschaftlichen Maschinerie zuwendet, sondern ihnen auch die Mittel bietet, neben dem Ackerbau Großindustrie mit Dampf- oder Wasserkraft zu betreiben, und zwar für Rechnung nicht von Kapitalisten, sondern für Rechnung der Genossenschaft. Ackerbau im großen und Benutzung der landwirtschaftlichen Maschinerie - das heißt mit anderen Worten: Überflüssigmachung der landwirtschaftlichen Arbeit des größten Teils der Kleinbauern, die jetzt ihre Felder CA Ibst bestell pn n 9mit" i^ipcp T7r\rn verdrängten Leute nicht arbeits— los bleiben oder in die Städte gedrängt werden, dazu gehört industrielle Beschäftigung auf dem Lande selbst, und diese kann nur vorteilhaft für sie betrieben werden im großen, mit Dampf- oder Wasserkraft. Wie das einrichten? Darüber denkt einmal nach, deutsche Bauern. Wer euch dabei allein beistehen kann, das sind - die Sozialdemokraten.
1 Den folgenden Teil fügte Engels 1883 in dem Bauernflugblatt hinzu

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