segunda parte tomo 10

Friedrich Engels
Der gegenwärtige Stand der englischen Armee Taktik, Uniformen, Kommissariat usw.
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4102 vom 10. Juni 1854] London, Freitag, 26. Mai 1854. Wenn auch der Krieg im Osten zu nichts anderem taugt, so wird er doch ein gut Teil des militärischen Ruhms des verstorbenen Herzogs von Wellington zerstören. Wer England noch zu Lebzeiten dieses weit überschätzten Feldherrn kannte, wird sich erinnern, daß es als Beleidigung der britischen Nation galt, sogar Napoleon als einen dem unbesiegbaren Eisernen Herzog nur halbwegs ebenbürtigen Soldaten zu bezeichnen. Der glorreiche Herzog ist nun tot und begraben, nachdem er während der letzten vierzig Jahre das Kommando über die britische Armee - zumindest faktisch - geführt hat. Nie hat ein Mann sein Amt als Befehlshaber mit größerer Unabhängigkeit und Selbstherrlichkeit ausgeübt. Der „Herzog" war die Autorität der Autoritäten, weder König noch Königin wagten, ihm in seinem Fach zu widersprechen. Nachdem er so manches Jahr alle Ehren und Annehmlichkeiten genossen hatte, wie sie meist der glücklichen Mittelmäßigkeit beschieden sind und die einen so grellen Kontrast bilden zu den tragischen Erschütterungen, die gewöhnlich von der Laufbahn eines Genies unzertrennlich sind - siehe zum Beispiel Napoleon -, starb der Eiserne Herzog, und der Oberbefehl über die britische Armee kam in andere Hände. Etwa achtzehn Monate nach seinem Tod wird der britischen Armee die Aufgabe gestellt, einen Feldzug gegen die Russen zu führen, und noch ehe das erste Regiment zur Einschiffung bereit ist, stellt sich schon heraus, daß der Eiserne Herzog die Armee in einem zu jedem aktiven Einsatz untauglichen Zustand zurück» gelassen hat. Obwohl der „Herzog" im allgemeinen den für die Engländer charakteristischen gesunden Menschenverstand besaß, war er doch in vieler Hinsicht engstirnig und beschränkt. Wohlbekannt ist, wie unbillig er gewöhnlich von
dem Anteil sprach, den seine deutschen Verbündeten an der Entscheidung der Schlacht von Waterloo hatten, wobei er den ganzen Ruhm eines Sieges für sich in Anspruch nahm, der ohne das rechtzeitige Eintreffen Blüchers eine Niederlage geworden wäre[131J. Eigensinnig klammerte er sich an alle Mißstände und Widersinnigkeiten in der englischen Armee und entgegnete auf jede Kritik: „Diese Mißstände und Widersinnigkeiten haben uns in Spanien und Portugal zu Siegern gemacht", was völlig mit seiner konservativen Auffassung übereinstimmt, daß ein gewisser Grad von herkömmlichem Widersinn und von Korruption nötig sei, wenn die „erwiesenermaßen beste" aller Konstitutionen richtig funktionieren solle. Aber während er in der Politik bei wichtigen Punkten in kritischen Augenblicken nachzugeben verstand, so verbiß er sich in militärischen Dingen um so hartnäckiger in veraltete Ideen und hergebrachte Abgeschmacktheiten. Nicht eine einzige wichtige Verbesserung ist zeit seines Lebens in der britischen Armee eingeführt worden, es sei denn auf dem rein technischen Gebiet der Artillerie. Hier war es einfach unmöglich, den rapiden Fortschritt der Maschinenindustrie und der technischen Wissenschaften gänzlich unbeachtet zu lassen. Die Folge davon ist, daß, obwohl die britische Armee das beste Artilleriematerial hat, das es gibt, die Organisation ihrer Artillerie dennoch ebenso schwerfällig ist wie die der anderen Waffengattungen, und daß die britische Armee bei den Uniformen, der allgemeinen Ausrüstung und Organisation nicht einen einzigen Punkt aufweist, in dem sie nicht hinter allen übrigen zivilisierten Armeen Europas zurückstände. Ich muß die Aufmerksamkeit Ihrer Leser von neuem auf den Umstand lenken, daß die Leitung der militärischen Angelegenheiten nicht, wie in anderen Ländern, in der Hand einer einzigen Verwaltungsstelle liegt. Es gibt vier solcher Stellen, die unabhängig voneinander sind und alle einander entgegenarbeiten. Da ist der Kriegsminister, ein reiner Zahlmeister und Rechnungsführer. Da ist der Oberko mmandant, dem Infanterie und Kavallerie unterstehen. Da ist der Generalfeldzeugmeister, der die Artillerie und das Geniekorps befehligt und der das gesamte mat^riel1 verwalten soll. Dann ist noch der Kolonialminister, der die Truppen nach den verschiedenen auswärtigen Besitzungen beordert und die Zuteilung des Kriegsmaterials an jede einzelne regelt. Neben diesen ist noch das Kommissariat2 und schließlich für die TrupjÄn in Indien der Oberkommandant der dortigen Armee. Erst nach Wellingtons Tod ist die Sinnlosigkeit dieser Einrichtung öffentlich erörtert worden, denn 1837 war der Bericht des Parlamentsausschusses darüber auf
1 Kriegsmaterial - 2 siehe vorl. Band, S. 598
Veranlassung des Herzogs nicht beachtet worden. Jetzt, seit Beginn des Krieges, wird die Unzulänglichkeit der Armeeorganisation überall empfunden; aber man wehrt jede Änderung ab, weil dadurch erst recht jede Möglichkeit einer geordneten und geregelten Abwicklung der Angelegenheiten vereitelt würde. Als Beispiel für die Verwirrung, die dieses System schafft, erwähnte ich schon bei einer früheren Gelegenheit, es gäbe kaum zwei Artikel, um derentwillen sich ein Regiment nicht an verschiedene, voneinander unabhängige Ämter wenden müßte. Die Uniformen liefert der Oberst, die Überröcke jedoch der Feldzeugmeister, die Koppel und Tornister werden von den Horse Guards[42J, die Feuerwaffen wieder vom Feldzeugmeister geliefert. Die Militärämter, Feldzeugämter, Magazinverwalter und Kommissariatsoffiziere jeder auswärtigen Station sind alle mehr oder weniger voneinander unabhängig und verschiedenen, wieder voneinander unabhängigen Ämtern im Mutterland verantwortlich. Außerdem existiert noch der Unfug der „Bekleidungs-Obersten". Jedes Regiment hat einen Titularobersten, einen Offizier, dessen Pflicht darin besteht, eine bestimmte Summe von der Regierung einzustecken, um davon sein Regiment zu kleiden, wofür er jedoch nur einen Teil des Geldes auszugeben braucht. Der Rest gilt als Entlohnung für seine Mühe. Durch denVerkauf der Offizierspatente bleiben alle höherenPosten in der Armee fast ausschließlich der Aristokratie vorbehalten. Nach wenigen Dienstjahren als Leutnant, Hauptmann und Major ist ein Offizier berechtigt, bei der ersten eintretenden Vakanz die nächsthöhere, frei werdende Stelle zu kaufen, es sei denn, ein anderer Offizier von gleichem Rang, doch älter im Dienst, hätte Lust, ihm zuvorzukommen. Daraus folgt, daß ein Mann, der flüssiges Vermögen hat, sehr schnell avancieren kann, da viele mit mehr Dienstjahren als er nicht die Mittel haben, sich eine Vakanz zu kaufen, sobald sie frei wird. Es ist klar, daß solch ein System den Kreis fähiger Männer, aus dem sich das Offizierkorps rekrutiert, sehr beschränkt; und da das Avancement oder auch der aktive Einsatz der höheren Offiziere fast ausschließlich vom Dienstalter oder von aristokratischen Verbindungen abhängt, so werden durch die Beschränkung notwendigerweise sehr viele talentierte und kenntnisreiche Leute von den höheren Kommandostellen ausgeschlossen. Diesem System ist es zweifellos hauptsächlich zuzuschreiben, daß die Masse der britischen Offiziere so jammervoll unwissend in den allgemeinen und mehr theoretischen Fächern der Militärwissenschaft ist. Die Zahl der Offiziere ist im Vergleich zur Mannschaft unverhältnismäßig groß. Nirgends herrscht ein solcher Uberfluß an goldenen Schnüren und
18 Marx/Engels, Werke, Band 10
Epauletten wie in einem britischen Regiment. Infolgedessen haben die Offiziere nichts zu tun, und da es gegen ihren esprit de corps1 verstößt, etwa irgendwelche ernsthaften Studien zu betreiben, so verbringen sie ihre Zeit mit allen möglichen extravaganten Vergnügungen und sind überzeugt, daß, wenn es wirklich zum Krieg kommt, ihre angeborene Tapferkeit und „Ihrer Majestät Reglements" völlig ausreichen werden, sie alle Schwierigkeiten überwinden zu lassen. Als man jedoch das Lager in Chobham11321 formierte, da wurde die Hilflosigkeit sehr vieler Offiziere jedermann nur allzu deutlich, der ein Manöver etwas besser beurteilen konnte als die armen enthusiastischen Zeilenschinder, die als echte Londoner Kinder jede Einzelheit des fremdartigen Schauspiels bewunderten, das sie zum ersten Male in ihrem Leben sahen. Das Exerzierreglement und das Ausbildungssystem sind höchst veraltet. Das Manövrieren ist äußerst schwerfällig, da alle Bewegungen kompliziert, langsam und pedantisch sind. Das alte System der Bewegungen in Linie, das sich in der britischen Armee als die Hauptform aller taktischen Manöver länger behauptete als in der österreichischen, bietet bei günstiger Bodenbeschaffenheit einige wohlbekannte Vorteile; doch werden diese mannigfach aufgewogen, und vor allem ist es nur in besonderen Ausnahmefällen anwendbar. Das System der Entwicklung in Kolonnen, besonders in kleinen Kompaniekolonnen, wie es in den besten Reglements der Armeen des Kontinents eingeführt worden ist, sichert eine weit größere Beweglichkeit und, wenn nötig, eine ebenso schnelle Formierung der Linien. Die Ausrüstung des englischen Soldaten ist aus gutem Material und von ganz hervorragender Verarbeitung, jedoch in vielen Fällen durch altmodische Bestimmungen verunstaltet. Die alten Musketen mit glattem Lauf sind gut gemacht, großkalibrig, aber viel schwerer als notwendig. Die alte Braunschweiger Büchse war in ihrer Art gut, ist aber von besseren Waffen überholt worden. Das kürzlich eingeführte Pritchett-Gewehr, das als eine Verbesserung der französischen Mini6-Gewehre gilt, scheint eine ausgezeichnete Waffe zu sein, konnte aber den maßgebenden Persönlichkeiten nur nach hartem Kampfe aufgedrängt werden. Es wird augenblicklich nur vereinzelt und unsystematisch eingeführt; die eine Hälfte des Regiments trägt Musketen, die andere Hälfte gezogene Gewehre, und dadurch wird die ganze Bewaffnung in Unordnung gebracht. Die Kavalleriesäbel sind gut und für Hieb und Stich mit der scharfen Klinge besser geformt als die der Armeen auf dem Kontinent. Auch die Pferde sind erstklassig, doch Reiter und Aus
1 Korpsgeist
rüstung sind zu schwer. Das materiel der Feldartillerie ist das beste der Welt, in mancher Hinsicht bewundernswert vereinfacht, aber die Kaliber und das Gewicht der Geschütze sind derart unterschiedlich, daß dadurch auch verschiedene Pulverladungen notwendig werden. Der größte Mißstand aber ist die Uniform und die allgemeine Ausrüstung des britischen Soldaten. Ein hoher, enger, steifer Kragen um den Hals, eine dürftige, enganliegende Jacke mit Schwalbenschwänzen, schlechtgeschnitten und unbequem; enge Hosen, schändlich aussehende Überröcke, eine häßliche Mütze oder ein Tschako, ein Gewirr von Riemen und Gurten zum Tragen der Munition und des Tornisters, das selbst in der preußischen Armee nicht seinesgleichen hat; all das war vor kurzem das Thema so vieler Zeitungskommentare, daß eine einfache Andeutung darüber genügt. Dabei darf man nicht vergessen, daß neben dieser fast absichtlichen Unbequemlichkeit der Uniform der britische Soldat ein weit größeres Gewicht zu schleppen hat als irgendein anderer; und als wollte man die Unbeweglichkeit zum obersten Prinzip der Armee machen, muß sie einen viel ansehnlicheren Troß mitschleppen als andere Armeen. Die schwerfällige Arbeitsweise des Kommissariats trägt viel dazu bei, aber auch die Regimentstrains und besonders die große Menge von Offiziersgepäck übertreffen alles, was uns aus der Türkei und Indien bekannt ist. Sehen wir uns nun an, wie diese Armee funktionierte, als die Truppen die Türkei erreichten. Da in das französische Armeesystem ständig alle Maßnahmen einbezogen wurden, die sich in den algerischen Feldzügen von praktischem Nutzen erwiesen hatten, waren die französischen Soldaten kaum gelandet, als sie es sich auch schon bequem machten. Sie brachten alles mit, was sie brauchten, wenn es auch nicht viel war, und was ihnen fehlte, ergänzten sie bald durch die dem französischen Soldaten angeborene Erfindungsgabe. Sogar unter der korrupten Administration von Louis Bonaparte und Saint-Arnaud arbeitete das System ziemlich einwandfrei. Dagegen die Engländerl Sie kamen nach Gallipoli, ehe ihre Proviantvorräte da waren; die Anzahl der Truppen war viermal größer, als man im Lager unterbringen konnte; nichts war zur Ausschiffung vorbereitet, es gab keine fahrbaren Backöfen, keine wirklich verantwortliche Administration. Befehle und Gegenbefehle folgten und widersprachen sich in der schrecklichsten oder vielmehr lächerlichsten Weise. Da gab es manchen alten Feldwebel oder Korporal, der es sich im Kaffernbusch oder in den glühenden Niederungen des Indus bequem gemacht hatte, aber hier ganz hilflos war. Die verbesserten Einrichtungen, die jeder auswärtige Befehlshaber in einem Feldzug eingeführt haben mochte, galten immer nur für die Dauer des betreffenden Feldzugs;
waren die verschiedenen Regimenter dann wieder voneinander getrennt, so wurden Ihrer Majestät altmodische Reglements wieder zum einzigen Maßstab, und die administrative Erfahrung des Feldzugs war umsonst gemacht. Dies ist das glorreiche System, an dem der Eiserne Herzog mit eiserner Zähigkeit hing und das deshalb das beste war, weil er mit ihm Napoleons Generale auf der Pyrenäischen Halbinsel geschlagen hatte. Der in seinen Lederküraß geschnürte britische Soldat, der seine sechzig oder siebzig Pfund Gewicht über die Steppen Bulgariens schleppt, der mühselig unter gelegentlichen Fieberanfällen dahinkriecht, schlecht versorgt durch nachlässige und unfähige Kommissariatsoffiziere, kann wahrlich auf seinen glorreichen Eisernen Herzog stolz sein, der ihm alle diese Wohltaten bereitet hat. Die unheilvollen Resultate, die sich zwangsläufig aus des Herzogs traditioneller Routine ergeben, werden noch durch den oligarchischen Charakter der englischen Administration verschärft; die wichtigsten Ämter sind Männern anvertraut, auf deren parlamentarische Unterstützung vielleicht der Klüngel der gerade an der Macht befindlichen Stellenjäger angewiesen ist, die aber jeder, auch der elementarsten fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten bar sind, Nehmen wir zum Beispiel Herrn Monsell1, den Koalitionssekretär des Feldzeugamtes. Monsells Ernennung war eine Konzession an die Mayfair-Radikalen[133], die im Ministerium durch Sir W. Molesworth, den „ganz ergebenen" Herausgeber der Werke von Hobbes, vertreten sind. Für Herrn Monsell gilt das Wort:
Der gute Freund pickt Witz, wie Tauben Spelt, Und giebt ihn von sich, wie es Gott gefällt. Er ist ein Witzhausirer, kramt ihn aus Auf Kirmeß, Jahrmarkt, Erndtebier und Schmaus.11341
Obwohl Herr Monsell einen Kleinhandel mit faulen Witzen betreibt, ist er doch kaum imstande, eine ganz gewöhnliche Muskete von einem MinieGewehr zu unterscheiden und ist nichtsdestoweniger Ihrer Majestät Parlamentssekretär des Feldzeugamtes. Ihre Leser erinnern sich vielleicht, daß er sich vor einiger Zeit an das Parlament wandte, es solle Geld bewilligen, um dem Feldzeugamt zu ermöglichen, die für die Armee und Flotte erforderlichen Handfeuerv^affen herzustellen. Er behauptete, in den Vereinigten Staaten von Amerika lieferten die Regierungswerkstätten Waffen zu einem billigeren Preise, als es der Privatindustrie möglich sei, und in einigen Fällen seien ernstliche Schwierig
1 In der „New-York Daily Tribüne": Bemal Osborne
keiten daraus entstanden, daß die Waffen nicht zur vereinbarten Frist geliefert worden seien. Die Entscheidung des Hauses wurde indessen auf den Antrag von Herrn Müntz hin verschoben, erst einen Sonderausschuß mit der Aufgabe zu betrauen, „den billigsten, schnellsten und befriedigendsten Weg zur Versorgung der Armee Ihrer Majestät mit Feuerwaffen herauszufinden". Der Bericht dieses Ausschusses liegt jetzt der Öffentlichkeit vor, und zu welchen Schlußfolgerungen ist er gekommen? Daß die Privatunternehmer die Waffen nicht in der kontraktlich festgesetzten Zeit lieferten,
„weil die Art der Nachprüfung ihrer Arbeit, wie sie das Feldzeugamt vorschriebe, die reine Schikane wäre und weil es die Gewohnheit hätte, jeden einzelnen Teil der zahlreichen Stücke, aus denen ein Gewehr bestehe, an einen anderen Kontrahenten zu vergeben". Der Bericht stellt weiter fest,
„das Feldzeugamt habe kaum einen Begriff von dem Preis, zu dem Gewehre in Amerika angefertigt, noch in welchem Ausmaß Maschinen bei ihrer Herstellung angewendet würden; auch habe es nie Feuerwaffen gesehen, die in einer der Regierungswerkstätten dieses Landes angefertigt wurden." Schließlich erfahren wir aus dem Bericht, daß „die Werkstätte, die die Regierung zu errichten beabsichtige, vor achtzehn Monaten kein einziges Gewehr werde liefern können". Diese Auszüge aus dem Parlamentsbericht zeigen zur Genüge die fachliche Eignung des Herrn Monsell, der Koalition höchsteigenen Sekretärs des Feldzeugamtes. Ex ungue leonem1. Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 An den Klauen erkennt man den Löwen
Karl Marx
[Der Vertrag zwischen Osterreich und Preußen Die Parlamentsdebatte vom 29.Mai]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4103 vom 12. Juni 1854] London, Dienstag, 30. Mai 1854. Die „Times" ist sehr empört, daß der britische General einen Befehl erlassen hat, der ihren „eigenen Korrespondenten" verbietet, die britische Armee zu begleiten. Wäre der Krieg ein Krieg bona fide1, so wäre es absurd, gegen diese Maßregel etwas einzuwenden, denn schon der Herzog von Wellington beklagte wiederholt in seinen Depeschen, daß die Informationen über seine beabsichtigten Bewegungen und Aufstellungen, die Napoleon seinen Generalen in Spanien übermittelte, den Spalten der englischen Zeitungen entnommen waren. Wie die Dinge liegen, kann der Befehl nur den Zweck verfolgen, das englische Publikum über die verräterischen Absichten seiner Expeditionstruppen im dunkeln zu lassen. Ein würdiges Seitenstück hierzu ist der dem Sultan eben von den Helden des 2. Dezember aufgezwungene Befehl, in allen Moscheen ein Dekret zu verlesen, das den Türken jedes politische Gespräch verbietet. Aber warum sollen die Türken in dieser Hinsicht besser dran sein als selbst die englische Öffentlichkeit? In der gestrigen Sitzung des Unterhauses fragte Herr Blackett Lord J. Russell, ob Großbritannien im letzten Wiener Protokoll[135] dem ersten Artikel des Vertrags vom 20. April 1854 zwischen Österreich und Preußen irgendwelche Anerkennung oder Sanktion gewährt habe. Dieser Artikel besagt, daß die vertragschließenden Mächte „sich gegenseitig den Besitz ihrer deutschen und nichtdeutschen Territorien garantieren, in der Weise, daß jeder gegen das Territorium eines von beiden gerichtete Angriff, von welcher Seite er auch komme, als eine gegen das Territorium des andern gerichtete feindliche Unternehmung angesehen werden wird".
1 ein ernsthafter Krieg
Vertrag zwischen Österreich und Preußen - Parlamentsdebatte vom 29. Mai 255
Lord John Russell antwortete, „das Protokoll enthalte keine ausdrückliche Anerkennung oder Sanktion dieses ersten Artikels des Vertrags zwischen Österreich und Preußen". Ausdrücklich oder nicht ausdrücklich, im französischen „Moniteur" von gestern lesen wir, daß
„das letzte Wiener Protokoll das englisch-französische Abkommen für den gegenwärtigen Krieg mit dem österreichisch-preußischen Vertrag für den eventuellen Krieg verbindet", d.h. den gegenwärtigen englisch-französischen Krieg gegen Rußland mit dem eventuellen österreichisch-preußischen Krieg für Rußland verbindet und in jedem Falle eine Garantie ist, die die Westmächte Preußen und Österreich für den ungestörten Besitz Posens, Galiziens, Ungarns und Italiens geben. Lord John Russell bekennt ferner, daß dieses Protokoll „eine Tendenz hat, die Grundsätze, die von den Wiener Protokollen aufgestellt sind, zu befestigen und aufrechtzuerhalten - nämlich die Integrität des Türkischen Reiches und die Räumung der Fürstentümer von den russischen Streitkräften". Das ist tatsächlich eine neue Verpflichtung, den Status quo ante bellum1 zu erhalten. Die Westmächte können sich nicht rühmen, durch dieses Protokoll irgendeinen Vorteil über Rußland gewonnen zu haben; denn der österreichisch-preußische Vertrag legt ausdrücklich fest: „Ein offensives oder defensives Vorgehen seitens der beiden kontrahierenden Mächte würde bedingt erstens durch die Inkorporation der Fürstentümer und zweitens durch einen Angriff oder Übergang des Balkans von Seiten Rußlands." Diese beiden Bedingungen sind offensichtlich von Rußland selbst diktiert. Von allem Anfang an hat es erklärt, es sei nicht seine Absicht, sich die Fürstentümer einzuverleiben, es wolle sie nur als „materielle Garantie" für die Befriedigung seiner Forderungen behalten. Den Balkan angesichts von 80000 Mann französischer Truppen zu überqueren, lag nie in Rußlands Feldzugsplan, dessen einziger Zweck ist, sich einige Festungen am rechten Donauufer als Brückenköpfe für seine Armee zu sichern und so die ständige Möglichkeit zu haben, in Bulgarien einzufallen. En passant sei bemerkt, daß die „Times" bei der Erwähnung dieses neuen Protokolls schon zufrieden ist, hoffen zu dürfen, die Westmächte hätten Österreich für sich zu gewinnen vermocht, denn Preußen werde jetzt doch „notorisch" von „russischen Agenten" beherrscht; der „Morning Chronicle" hingegen zweifelt sogar an einer aufrichtigen Anhängerschaft Österreichs. Der große Napoleon hätte öster
reich und Preußen zu einer offenen Allianz mit Rußland gezwungen; der kleine Napoleon läßt sich von Rußland eine Allianz mit den deutschen Mächten aufzwingen, die seiner Armee die denkbar weiteste Entfernung von ihrer Operationsbasis zuweist. Lord John Russell antwortete auf eine Interpellation des Herrn Milnes,
„eine aus etwa 6000 Mann bestehende Streitmacht sei von Frankreich ausgeschickt worden mit der Instruktion, den Piräus zu besetzen. Ein englisches Infanterieregiment, das England vor etwa einer Woche verließ, soll ebenfalls zur Besetzung des Piräus eingesetzt werden."
Diese Maßnahme wurde verursacht durch die Verschwörung der griechischen Regierung mit Rußland. Die Truppen sollen Athen nur dann besetzen, wenn bestimmte Ereignisse eintreten. In den heutigen französischen Blättern lesen wir, daß
„König Otto das Ultimatum angenommen und die Rückkehr des Ministeriums Maurokordatos versprochen hat, wenn die Besetzung aufgeschoben wird. Wenn nicht, so sei er entschlossen, den Sitz seiner Regierung ins Innere des Landes zu verlegen und dort seine Truppen zusammenzuziehen."
Daß diese Alternative kein völlig leeres Anerbieten bleiben wird, folgt aus einer weiteren Erklärung Lord J.Russells:
„Wenn der König von Griechenland die Versuche seines Volkes mißbilligt, die Pflichten einer neutralen Macht zu verletzen, so wird er bei den entsandten Streitkräften Schutz und in ihnen die Mittel finden, sein Volk zur Beobachtung dieser Pflichten zu zwingen. Sollten sich andrerseits aber die Versicherungen, die uns die griechische Regierung gegeben hat, als nicht aufrichtig erweisen, so werden diese Truppen vielleicht in anderer Weise von Nutzen sein."
Die griechische Regierung kann folglich tun, was ihr beliebt, Griechenland wird besetzt werden. Die „Times" meldet mit einer gewissen Verdrossenheit, daß „französische Truppen in diesem Augenblick den größeren Teil der Garnisonen von Rom, Athen und Konstantinopel bilden, der drei großen Hauptstädte der antiken Welt". Der alte Napoleon pflegte die Hauptstädte der modernen Welt zu besetzen. Napoleon der Kleine, zufrieden mit dem theatralischen Schein von Größe, verstreut seine Armeen über unbedeutende Länder und schließt den besten Teil seiner Truppen in lauter Sackgassen ein. Die Zurückziehung der Bill zur Verhütung von Wahlbestechungen in der Parlamentssitzung von gestern abend gab den Anlaß zu einem höchst ergötz
liehen Geplänkel zwischen dem kleinen Johnny1, Disraeli und Bright. Herr Disraeli bemerkte, daß „die Regierung im Verlauf der Session sieben wichtige Bills eingebracht habe. Bei drei von den sieben Bills habe sie eine Niederlage erlitten; drei seien zurückgezogen worden, und bei der siebenten Bill habe sie eine zwar nur teilweise, jedoch erhebliche Niederlage erlitten. Sie sei auch unterlegen mit einer Bill zur völligen Änderung des Ansiedlungsgesetzes, einer Bill über den öffentlichen Unterricht in Schottland und mit einer Bill zur völligen Überprüfung des parlamentarischen Eides. Sie habe die jetzige Bill zur Verhütung von Wahlbestechungen zurückgezogen; sie habe den äußerst wichtigen Entwurf einer vollständigen Änderung des Staatsdienstes zurückgezogen sowie auch den Entwurf einer Parlamentsreform. Die Bill zur Reform der Universität Oxford werde das Haus in sehr verstümmelter Form verlassen." Wenn sie schon nicht habe hoffen können, diese Entwürfe durchzubringen, so hätte sie sie gar nicht erst im Parlament einbringen sollen... Es hieße, die Regierung habe keine Prinzipien, aber „alle Talente", und da jeder Minister seine eigene Meinung geopfert habe, hätte man erwarten können, daß zumindest ein gewisser Nutzen für die Öffentlichkeit aus solchem Heroismus erwachse. Lord Johns Antwort wurde durch seine große Empörung nicht weniger schwächlich. Er preist die Vorzüge der abgelehnten wie auch der zurückgezogenen Bills. Auf keinen Fall, so fügt er hinzu, stehe das Haus auf der Seite des Herrn Disraeli und seiner Freunde. Letzterer habe die Regierung der Leichtgläubigkeit oder Begünstigung bei der Führung der auswärtigen Politik bezichtigt, doch habe er es nie gewagt, die Meinung des Hauses darüber einzuholen. Er habe behauptet, die Regierung in ihren Vorkehrungen für den Krieg nicht stören zu wollen; trotzdem habe er einen Antrag eingebracht, der die Regierung der Mittel zur Kriegführung berauben sollte. Dieser Antrag sei durch eine Mehrheit von über 100 Stimmen abgelehnt worden. Was den Entwurf über die Juden anbelangt, deren Emanzipation zu vertreten er vorgebe, so habe er zu diesem seine Zustimmung gegeben oder sie versagt, ganz wie er es gerade für angemessen hielt. Mit dieser Antwort zog der arme Führer des Unterhauses einen neuen Angriff seines Gegners auf sich, der noch heftiger als der erste war. „Der edle Lord glaubt anscheinend", sagte Herr Disraeli, „ich sei überrascht, daß er sein Amt nicht niedergelegt hat; ich wäre im Gegenteil ungeheuer überrascht gewesen, wenn er es getan hätte." (Lautes Gelächter.) „Weit mehr Niederlagen, wenn möglich noch demütigendere und vollständigere, sind erforderlich, ehe es der edle Lord
1 John Russell
als notwendig empfinden wird, einen solchen Schritt zu tun." (Beifall.) „Ich kenne den edlen Lord zu gut; ich habe zu länge auf der Seite der Opposition gesessen; ich habe ihn zu oft in der gleichen Lage gesehen. Ich habe ihn manches Mal die bemerkenswertesten Niederlagen erleben und sich an sein Amt klammern sehen mit einem Patriotismus und einer Hartnäckigkeit, die man nicht genug bewundern kann." (Beifall und Gelächter.) „Hinsichtlich des Krieges hatte die Regierung dem Parlament mitgeteilt, sie werde alle Dokumente über diese Frage auf den Tisch des Hauses legen, während sie in Wirklichkeit den wichtigsten Teil zurückhielt, und wären die Enthüllungen im Journal de Saint-Petersbourg* nicht gewesen, so wäre das Land in völliger Unwissenheit über die ganzen Vorgänge geblieben. Nach diesen Enthüllungen habe er seine Meinung nur insofern ändern müssen, als nun auf jede Hypothese verzichtet und mit Bestimmtheit erklärt werden könnte, die Regierung habe sich der Begünstigung oder Leichtgläubigkeit schuldig gemacht. Er sei vollkommen davon überzeugt, dies werde bald das allgemeine Urteil des Landes sein."
Herr Disraeli ging dann dazu über, die Regierung Lord Derbys zu verteidigen und nachzuweisen, daß die Opposition Lord Johns gegen sie „aufrührerisch" gewesen sei. Lord John habe große Opfer gebracht:
„Er trennte sich von den Gefährten seines Lebens, die ihm die Treue gehalten hatten, um die uralten Feinde an sein Herz zu drücken, die ihr ganzes Leben lang seine Fähigkeiten herabgesetzt und seine Karriere verleumdet hatten. Er verzichtete auf das Vertrauen - ja, man könnte sagen, er gefährdete beinahe die Existenz jener historischen Partei, deren Vertrauen zu einem Manne wie dem edlen Lord nicht weniger wertvoll gewesen sein sollte als die Gunst seines Herrschers." (Beifall.) „Und warum tat er das? Weil er großen Prinzipien ergeben und entschlossen war, große Maßnahmen durchzuführen. Doch jetzt, da jede seiner Maßnahmen gescheitert sei, bleibe er trotzdem im Amt. Hinsichtlich seines Verhaltens in der jüdischen Frage trat Herr Disraeli der Behauptung des edlen Lords sehr eindeutig und bestimmt entgegen."
Er ließ Lord John Russell tatsächlich keinen anderen Ausweg, als sich mit seinem „Mißgeschick" zu verteidigen und das Fortbestehen der Koalition als unvermeidliches Übel hinzustellen. Herr Bright meinte, daß „der edle Lord die Diskussion nicht ohne etliche Schrammen überstanden habe. Es sei bei der Zusammensetzung der Regierung vom ersten Tage ihres Bestehen^ an nicht sehr wahrscheinlich gewesen, daß sie zum Wohle des Landes handeln werde. Er erinnere sich des Ausspruchs eines geistreichen Herrn im Unterhaus, eines großen Freundes des edien Lords und der Regierung, daß das Kabinett trefflich vorankommen würde, wenn es nur die Politik meiden könnte. Das scheine auch ungefähr der Kurs zu sein, den die Regierung verfolgt habe. Mit Ausnahme des Freihandels scheine die Regierung in allen anderen Fragen ganz und gar unfähig zu sein, dem Hause zu raten, es zu führen oder zu kontrollieren. Es sei ganz offensichtlich, daß der edle Lord, der
aus Höflichkeit der Führer des Hauses genannt werde, das Haus nicht führe, daß das Haus nicht dem edlen Lord folge und die Vorschläge der Regierung ohne viele Umstände über Bord geworfen worden seien. Sie haben uns in einen Krieg gezogen, und Sie müssen uns wieder aus ihm herausführen! Wir wollen die Verantwortung nicht auf uns nehmen. Dies ist die Lage, in die uns die Regierung nun gebracht hat. Indem sie die staatliche Ordnung der Türkei unterminiere und zerstöre, trage sie gleichzeitig dazu bei, das parlamentarische System Englands zu unterminieren und zu zerstören."
Man könnte fragen, welchen Zweck dieses System eigentlich hat. Die inneren Angelegenheiten dürfen nicht erörtert werden, weil das Land im Kriege steht. Weil das Land im Kriege steht, darf der Krieg nicht diskutiert werden. Wozu braucht man dann noch ein Parlament? Der alte Cobbett hat das Geheimnis enthüllt: Als Sicherheitsventil für die aufwallenden Leidenschaften des Landes. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Bildung eines besonderen Kriegsministeriums in England - Die Operationen an der Donau Die ökonomische Lage]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4105 vom 14. Juni 1854] London, Freitag, 2. Juni 1854. Nachdem die Bildung eines besonderen Kriegsministeriums beschlossen worden ist, ist im Augenblick die große Frage, wer wohl ausersehen wird, dieses Amt zu besetzen. Der Herzog von Newcastle, der bisher sowohl Kolonial- als auch Kriegsminister war, hat seit langem gezeigt, daß er nicht geneigt ist, einen der beiden Posten aufzugeben, und nach dem Ton des „Morning Chronicle" zu urteilen, scheint er auf jeden Fall entschlossen, an der Leitung des Kriegsdepartements festzuhalten. Die heutige „Times" empfiehlt zum dritten Mal die Ernennung Lord Palmerstons.
„Lord Palmerston würde gewiß besser am Platze sein, wenn er als Kriegsminister die Streitkräfte dieses Landes gegen seinen alten Feind anführt, wie wir wohl Rußland bezeichnen dürfen, als sich in eine Reihe von Streitigkeiten mit Gemeindevertretern und Kommissionen für Kanalisation einzulassen."
Die „Daily News" empfiehlt ebenfalls Lord Palmerston. Der gestrige „Morning Herald"11361 brachte eine Darstellung dieser Intrige aus der Feder von Herrn Urquhart. Auf alle Fälle sind diese Vorgänge in der Downing Street1221 von größerer Bedeutung für den „Krieg" als alle militärischen Demonstrationen bei Gallipoli oder Skutari. Vielleicht erinnern Sie sich, daß der Öffentlichkeit große Hoffnungen über unverzügliche und energische Maßnahmen gemacht wurden, sobald die Befehlshaber der Expeditionsstreitkräfte in Konstantinopel angelangt sein würden. Am 18. Mai begaben sich Marschall Saint-Arnaud, Lord Raglan und der türkische Seraskier1 nach Varna, wo am 20. mit Omer Pascha und den
Admiralen ein Kriegsrat stattfinden sollte. Gestern traf eine telegraphische Depesche in London ein, in der es heißt, „der Kriegsrat in Varna hat beschlossen, daß die alliierten Truppen von Gallipoli nach Adrianopel vorrücken sollen". Gleichzeitig veröffentlichte die „Times" einen Leitartikel, in dem der ganze Feldzugsplan, wie er beschlossen ist, und die Varnaer Konferenz enthüllt wurde.
„Diese Konferenz", heißt es in der „Times", „muß gerade zu der Zeit stattgefunden haben, als die Russen unter Fürst Paskewitsch ihre heftigsten Angriffe gegen die Festung Silistria richteten. Deshalb waren die führenden Offiziere der alliierten Armee am besten in der Lage, über die Maßnahmen zu entscheiden, die zum Entsatz dieser Festung ergriffen werden könnten."
Daher beorderten sie ihre Truppen von Gallipoli nach Adrianopel - zum Entsatz Silistrias -; daher gelangten sie auch zu folgendem heroischen Entschluß:
„Daß es weder angebracht sei, die türkische Armee dem Risiko einer allgemeinen Schlacht auszusetzen, um den Angriff der Russen auf die Festungen, die das rechte Donauufer decken, zurückzuschlagen,... noch einen beträchtlichen Teil der alliierten Armeen an die Küste zu werfen, um so unmittelbar mit den derzeitigen Vorposten der Russen zusammenzustoßen."
Mit anderen Worten, die alliierten Generale haben beschlossen, den auf die Einnahme der Festungen auf dem rechten Donauufer gerichteten Anstrengungen der Russen nichts entgegenzusetzen. Die „Times" gibt zu, daß dieser Operationsplan „die natürliche Ungeduld der Öffentlichkeit enttäuschen mag"; andrerseits aber entdeckt sie, daß „diese befestigten Plätze in Wirklichkeit die Außenwerke der türkischen Stellung sind und nicht ihre Hauptstärke darstellen". Früher erzählte man uns, die Moldau und die Walachei seien die Außenwerke der Türkei und daß die Türkei nicht viel verliere, wenn sie sie der russischen Besatzung überlasse. Nun hören wir, die Türkei möge mit der gleichen Gelassenheit Bulgarien den Russen preisgeben.
„Der Balkan ist das wirkliche Bollwerk des Ottomanischen Reiches, und es kann den Russen nichts nützen, unter schweren Verlusten die Außenlinie der Umwallung zu nehmen, wenn sich ihnen beim Vormarsch neue Hindernisse von unabsehbar größerem Umfang in den Weg stellen. Je weiter sie in diesem Gebiet nördlich des Balkan vorrücken, desto schwieriger wird ihre Lage ... Die eindringende Armee erschöpft ihre Kraft gegen die befestigten Plätze am Strom und die verstreuten Abteilungen des Feindes; indessen bleiben jedoch die Verteidigungskräfte der Hauptstellung relativ frisch und ungeschwächt,"
Solange die beef1-essenden Alliierten eine Begegnung mit dem Feind vermeiden können, bleiben ihre Streitkräfte ohne Zweifel sehr frisch. Was aber, wenn die Russen im Gebiet nördlich des Balkans nicht weiter vorrücken und sich mit dem Besitz der Festungen, den Schlüsseln zu Bulgarien, und mit den Fürstentümern begnügen? Wie wird deren Evakuierung bewirkt werden?
„Hinter den Linien des Balkans bereitet sich die europäische Armee zum Vormarsch vor - zur gegebenen Zeit, mit unwiderstehlicher Kraft - und die letzten Monate des Feldzugs sollten die Vernichtung des Feindes herbeiführen."
Dieser unaufhaltsame Vormarsch wird natürlich durch den russischen Besitz der Donaufestungen in hohem Grade erleichtert, und was die alliierten Armeen nicht erreichen, das wird die Jahreszeit ohne Schwierigkeiten vollenden. Es stimmt, daß der „Moniteur" bekanntgibt, daß Omer Pascha Vorbereitungen zum Entsatz Silistrias traf; der „Morning Chronicle" kritisiert den oben erwähnten Artikel der „Times" und bemerkt:
„Der Verfasser dieses Plans hofft wahrscheinlich, die österreichische Diplomatie werde inzwischen den Zaren veranlassen, seine Truppen zurückzuziehen, mit der Genugtuung, einen ununterbrochenen Erfolg ohne Widerstand erzielt zu haben; andrerseits glaubt man vielleicht, daß im Falle des Vorrückens der Russen auf dem Balkan die entfernte Möglichkeit, die im österreichisch-preußischen Vertrag vorgesehen ist, sofort in Kraft treten würde."
Die Nachricht des „Moniteurs" ist offenkundig darauf berechnet, die Pariser bei guter Laune zu halten, und die Art, wie der „Chronicle" den Plan der „Times" kommentiert, verstärkt nur die Wahrscheinlichkeit, daß es der Plan der Koalition ist. Andere Informationsquellen bestätigen noch diese Annahme. Der Konstantinopler Korrespondent des „Chronicle" bemerkt unter dem 18.Mai:
„Im Hochsommer wird wohl kaum ein Feldzug an der Donau unternommen werden, da man durch Fieber und Krankheiten mehr Soldaten verlöre als durch andere Ursachen." Außerdem veröffentlicht der ministerielle „Globe"[137 ] von gestern Abend einen Artikel, der völlig im gleichen Sinne abgefaßt ist wie der der „Times". Er erzählt uns erstens, daß augenblicklich in der Türkei nur 45000 alliierte Truppen stehen - 29000 Franzosen und 16000 Engländer. Der gleiche
1 Rindfleisch
„Globe" erklärt an anderer Stelle, daß die Russen vor und um Silistria nur 90000 Mann haben und das reguläre türkische Feldheer 104000 Mann zähle. Doch diese Zusammenballung von nahezu 150000 türkischen, französischen und englischen Truppen wird vom „Globe" nicht für ausreichend erachtet, 90000 Russen an der Eroberung der bulgarischen Festungen zu hindern, ganz zu schweigen von der Unterstützung, die drei mächtige Flotten geben könnten. Der „Globe" hält es für völlig überflüssig, daß die Türken oder die Alliierten gegen die Russen kämpfen, da „die Zeit gegen sie kämpft". Indem er den von den alliierten Befehlshabern ausgeheckten Feldzugsplan enthüllt, geht der „Globe" sogar noch einen Schritt weiter als die „Times", denn er sagt:
„Was auch aus den Festungen an der Donau werden mag, ausreichende Streitkräfte müssen herangebracht werden, um ein weiteres Vorrücken des Eindringlings zu vereiteln und seinen dreisten Vormarsch zu bestrafen."
Hier haben wir den klaren Beweis, daß England und Frankreich im letzten Wiener Protokoll dem österreichisch-preußischen Vertrag beigetreten sind. Die Festungen an der Donau und in Bulgarien sind an Rußland auszuliefern; ein Kriegsfall würde nur durch seinen weiteren Vormarsch geschaffen werden. Als die 15 000 Russen, die zuerst in die Moldau einfielen, den Pruth überschritten, gab man der Türkei den Rat, sich nicht zu rühren, da sie eine so gewaltige Streitmacht von 15000 Mann nicht daran hindern könne, auch die Walachei zu besetzen. Darauf besetzten die Russen die Walachei. Als die Pforte den Krieg erklärt hatte, konnten wegen des Winters keine Operationen gegen die Russen unternommen werden. Als dann das Frühjahr kam, erhielt Omer Pascha Befehl, sich jeglicher Offensivbewegung zu enthalten, da die alliierten Streitkräfte noch nicht eingetroffen seien. Als sie eingetroffen waren» konnte nichts unternommen werden, da es nun Sommer war, und der Sommer eine ungesunde Jahreszeit ist. Laßt den Herbst herankommen, und es wird „zu spät sein, einen Feldzug zu eröffnen". Dieses Verfahren bezeichnet die „Times" als eine Kombination von Strategie und Taktik, das Wesen der Taktik ist nach ihrer Meinung, die Armee zu opfern, um die Reserven „frisch" zu erhalten. Beachten Sie ferner, daß die ganze Zeit, da diese Betrügereien direkt unter den Augen und Nasen der Oppositionszeitungen und der britischen Öffentlichkeit vor sich gehen, der „Morning Advertiser" und die „Times" einander zu übertreffen suchen in Ausdrücken drohender Anklage gegen Preußen, Dänemark und Schweden, weil diese sich nicht den Westmächten „anschließen". Daß die Beweggründe, die den Hang aller
kleineren Höfe bestimmen, Partei für Rußland zu ergreifen, nicht ohne guten Grund sind, kann man zum Beispiel dem Ton der dänischen Regierungszeitungen entnehmen. So schreibt der Kopenhagener Korrespondent des „Morning Chronicle": „England habe sich immer treulos gegenüber Dänemark verhalten, und schlösse sich letzteres nun den Westmächten an, so würden 100000 Preußen, möglicherweise mit einem Korps Österreicher, Jütland bis hinunter zur Eider verwüsten und das ganze dänische Festland besetzen - mit Hilfe dieser Drohung gelingt es der Regierungspartei, die Nationalpartei ruhig zu halten und abzuschrecken." Man sollte erwarten, und gewiß erwartete es die Koalition, daß die delikaten militärischen, diplomatischen und anderen Dienste, die sie der „guten Sache" Rußlands erwies, zumindest mit einer gewissen delikaten Dankbarkeit des Selbstherrschers belohnt würden. Weit davon entfernt, erhalten sie von ihm eine ganze Portion Beschimpfungen, die über das Verständnis hinausgehen und auch die Erfordernisse der Sache überschreiten. Um die tiefste Verachtung, die der russische Hof für seine Scheingegner ausdrückt, zu veranschaulichen, möchte ich Ihnen die Übersetzung einer Fabel eines anonymen Tyrtäus Rußlands wiedergeben, die kürzlich die „Nordische Biene"1 veröffentlichte. Ihre kindliche Einfachheit in Sprache und Aufbau muß man dem Bedürfnis der halbbarbarischen Intelligenz, an die sich der Dichter wendet, zuschreiben, ebenso wie die ironische Höflichkeit der Kritik, welcher der letzte Odessabericht Admiral Hamelins durch das „Journal de Saint-Petersbourg" unterworfen wurde, durch den Umstand zu erklären ist, daß sie sich an die Diplomaten Europas wendet. Die Fabel trägt die Überschrift: „Der Adler, die Bulldogge, der Hahn und der Hase." „Ein Königsadler, groß und stark, saß auf dem Gipfel eines Felsens, und von seinem erhabenen Platz überblickte er die ganze Welt, über die Ostsee hinaus (Weit hinterm Belt die ganze Welt)2; da saß er nun still und zufrieden, gesättigt durch sein bescheidenes Mahl und hielt es unter seiner Würde, vom Tal unter ihm Vorräte anzuhäufen, da er zu jeder Zeit über alles verfügt. Eine Bulldogge beäugte ihn mit neidischem Blick und sprach zu dem Hahn: ,Sei mein Verbündeter, wir wollen uns vereinigen, du aus Rache, ich aus Neid, und den Adler dort zu Fall bringen.' Gesagt, getan. Sie marschierten los und berieten sich auf dem Wege, wie sie den Adler wohl am besten bezwingen könnten. Der Hahn sagte: .Halt! Betrachte seine Krallen, seine Flügel - mag Gott dem beistehen, der sie auf die Probe stellt. Wie oft hörte ich die Flüche meiner Vorfahren, die ihr trauriges Schicksal beklagten, wenn sie von seinem
1 „Nordische Biene" in der „New-York Daily Tribüne" deutsch - 2 ebenso: (Weit hinterm Belt die ganze Welt)
Flügelschlag getroffen waren.' ,Das stimmt', sagte die Bulldogge, ,aber wir wollen einen Plan entwerfen, um den Adler zu fangen. Schicken wir einen Hasen in seine Nähe, er wird den Hasen greifen. Inzwischen lenkst du seine Aufmerksamkeit durch Krähen und Springen, was du ja meisterhaft verstehst, auf dich und tust so, als wolltest du mit ihm einen Kampf beginnen. Nachdem wir so seine Aufmerksamkeit und seine Krallen abgelenkt haben, werde ich ihn von hinten angreifen, so daß er sich nicht verteidigen kann, und bald werden ihn meine scharfen Zähne in Stücke reißen.' Der Plan gefiel dem Hahn, und er nahm einen Beobachtungsposten in der Nähe ein. Die Bulldogge läuft in den Wald und treibt bellend einen Hasen auf den Adler zu, der ruhig beobachtet. Der Hase, dumm und blind, gerät schnell in die Krallen des Adlers. Getreu seiner Verabredung verläßt der Hahn seinen Posten und springt nach dem Hasen. Aber sieh, welche Schmach! Der Adler verschmäht es, den Hasen zu greifen, und ohne sich von seinem Sitz zu rühren, hebt er nur seine Flügel und verscheucht den Hasen erst mit dem einen, dann mit dem anderen, berührt kaum den Hahn, der sich nicht mehr rührt und auch nicht mehr kräht. Man kennt doch die Neigung der Hasen, die Flucht zu ergreifen; so rennt er ohnmächtig und von Sinnen in den See und ertrinkt. Der Adler sah die fette Bulldogge aus einiger Entfernung die Verschwörung leiten - denn, was entgeht schon dem Adlerauge? Er hat den hinter einem Busch versteckten Helden entdeckt. Der Adler breitet seine großen und starken Flügel aus und erhebt sich majestätisch. Die Bulldogge bellt und flieht mit hastigen Sprüngen. Vergeblich, es ist zu spät. Der Adler stürzt auf sie nieder und schlägt seine Krallen der Verräterin in den Rücken, und da liegt sie nun, in Stücke gerissen."
Infolge der günstigen Ernteaussichten und des Fehlens von spekulativen Käufern sind die Kornpreise im Laufe der Woche ein wenig gefallen. Ein Rückschlag ist jedoch unvermeidlich, denn
„alle Anzeichen, die damit in Verbindung stehen, führen zu der Überzeugung, daß die Vorräte der Bauern viel geringer sind als gewöhnlich zur entsprechenden Jahreszeit". („Mark Lane Express".)
Die Meldungen aus Danzig, Stettin, Rostock etc. stimmen in der Feststellung überein, daß die verfügbaren Vorräte sehr gering sind, daß die Bauern aus der Umgebung wenig oder nichts mehr zu liefern hätten, und daß aus diesen Bezirken keine Hilfe erwartet werden könnte, es sei denn zu sehr hohen Preisen. Auch die Lieferungen der Bauern in Frankreich scheinen nicht zugenommen zu haben, und der auf den Binnenmärkten angebotene Weizen wird als kaum ausreichend bezeichnet, um die Nachfrage für den Verbrauch zu decken. Aus einer privaten Informationsquelle habe ich auch erfahren, daß die Berichte der „Times" über den Stand des Handels in den Industriebezirken um Manchester allgemein falsche Darstellungen bringen, und daß sich der
19 Marx/Engels, Werke, Band 10
Handel überall im Niedergang befindet, mit Ausnahme von Birmingham. Der „Manchester Guardian"[138) bestätigt das und fügt hinzu, daß man von der Wiederaufnahme der Arbeit durch eine so große Zahl streikender Fabrikarbeiter keine andere Wirkung erwarten konnte als ein Sinken der Preise. Die von Sir J.Graham vergangenen Montag im Unterhaus angekündigte Maßnahme, nämlich die Nicht-Blockade des Hafens von Archangelsk, erklärt der „Morning Herald" mit folgendem lakonischen Satz: „In Archangelsk gibt es ein Haus, das den Namen des Schatzkanzlers trägt." Karl Marx
Karl Marx
[Die Reorganisation der englischen Militäradministration - Die österreichische Sommation - Die ökonomische Lage Englands Saint-Arnaud]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4114 vom 24. Juni 1854] London, Freitag, 9. Juni 1854. Die Rede, die Kossuth in Sheffield hielt, ist die gehaltvollste, die wir während seines ganzen Aufenthalts in England von ihm hörten. Dennoch kann man nicht umhin, an ihr manches auszusetzen, denn die historischen Ausführungen sind teilweise ungenau. So gibt es zum Beispiel absolut keine Gründe dafür, den Niedergang der Türkei daraus herzuleiten, daß Sobieski seinerzeit der österreichischen Hauptstadt Hilfe leistete11391. Die Untersuchungen von Hammer beweisen unwiderleglich, daß die Organisation des Türkischen Reiches zu jener Zeit schon in der Auflösung begriffen war und daß die Epoche des rapiden Niedergangs der ottomanischen Größe und Macht schon vorher eingesetzt hatte. Ebenso unzutreffend war die Annahme, nicht die fehlende Flotte und weil ihn die britische Macht von der Beherrschung des Ozeans ausschloß, sondern andere Gründe hätten Napoleon veranlaßt, die Idee aufzugeben, Rußland zur See anzugreifen. Die Drohung, Ungarn werde sich mit Rußland verbünden, wenn England eine Allianz mit Österreich schließt, war sehr unbedacht. Erstens bot sie den ministeriellen Blättern eine willkommene Waffe, und die „Times" zögerte auch keinen Augenblick, davon reichlich Gebrauch zu machen, indem sie alle Revolutionäre als Agenten Rußlands „anprangerte". Zweitens klang sie sonderbar von den Lippen eines Mannes, dessen Ministerium bereits 1849 die ungarische Krone einem Zarewitsch angeboten hatte. Und schließlich, wie könnte er leugnen, daß die nationale Existenz der Magyaren der Vernichtung preisgegeben wäre, wenn je seine Drohung, sei es durch seine oder anderer Leute Initiative, sich verwirklichte, wo doch der größere Teil der Bevölkerung
Ungarns aus Slawen besteht? Ebenso war es ein Irrtum, den Krieg gegen Rußland als einen Kampf zwischen Freiheit und Despotismus zu bezeichnen. Abgesehen davon, daß in diesem Fall die Freiheit von einem Bonaparte vertreten würde, ist das erklärte Ziel des Krieges ausschließlich die Erhaltung des Gleichgewichts der Mächte und der Wiener Verträge - eben der Verträge, die die Freiheit und Unabhängigkeit der Nationen aufheben. Eindringlicher als sonst hat auch Herr Urquhart in Birmingham gesprochen, wo er erneut die Koalition des Verrats beschuldigte. Da aber Herr Urquhart in striktem Gegensatz zu der einzigen Partei steht, die imstande wäre, die morsche parlamentarische Grundlage, auf der dieses oligarchische Koalitionsministerium ruht, zu beseitigen, so erfüllen alle seine Reden ebensowenig ihren Zweck, als wenn er sie an die Wolken richtete. Im Unterhaus kündigte gestern abend Lord John Russell die Bildung eines besonderen Kriegsministeriums an, das aber nicht die verschiedenen Departements umfassen soll, die augenblicklich die Militäradministration bilden, es soll lediglich eine nominelle Oberaufsicht über alle haben. Der einzige Vorteil, den diese Veränderung mit sich bringt, ist die Schaffung eines neuen Ministerpostens. In diesem Zusammenhang teilte die „Morning Post" von gestern mit, die Fraktion der Peeliten11401 habe im Kabinett den Sieg davongetragen, der Herzog von Newcastle würde der neue Kriegsminister, während man das Kolonialministerium Lord John Russell anbieten würde. Der „Globe" von gestern abend bestätigte diese Mitteilung und fügte hinzu, da Lord John wahrscheinlich nicht annehmen wird, würde Sir George Grey zum Kolonialminister ernannt werden. Obwohl die Journale der Peeliten noch den Eindruck zu erwecken suchen, als wüßten sie nichts von einer endgültigen Entscheidung, verkündete das Journal Palmerstons von heute in sehr bestimmter Form, daß der Herzog von Newcastle und Sir George Grey ernannt worden sind. Die „Morning Post" hat zur österreichischen „endgültigen Sommation" folgendes zu sagen:
„Wir haben Grund zur Annahme, daß Rußland die österreichische Mitteilung weder mit Schweigen behandeln noch ihr mit einer Ablehnung begegnen wird, und wir werden nicht überrascht sein, wenn wir demnächst erfahren, daß Rußland bereit ist, den österreichischen Vorschlag einer vollständigen Räumung des türkischen Territoriums unter der Bedingung anzunehmen, daß Österreich einen Waffenstillstand mit der Aussicht auf Verhandlungen vereinbart."
Auch der heutige „Morning Chronicle" gesteht^ daß „die Mitteilung von größter Wichtigkeit sein könne". Dennoch fügt er hinzu, daß sie nicht
als ein Ultimatum anzusehen ist, daß sie in dem üblichen höflichen Tone abgefaßt sei und daß ein Bruch nur für den Fall zu erwarten sei, daß Rußland die Mitteilung völlig ignoriere. Wenn Rußland eine ausweichende Antwort geben oder ein teilweises Zugeständnis machen sollte, könnten neue Vorschläge und Verhandlungen folgen. Laßt uns für einen Augenblick annehmen, daß die Auffassung der „Post" berechtigt war und realisiert werden sollte; es wird sich zeigen, daß der von Österreich geleistete Dienst nur dazu führen würde, einen weiteren Waffenstillstand zugunsten Rußlands zustande zu bringen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man etwas Ähnliches beabsichtigt hat, begründet auf der Annahme, daß Silistria in der Zwischenzeit fallen würde und die „Würde und die Ehre des Zaren" gesichert wären. Der ganze Plan muß jedoch unter den Tisch fallen, wenn Silistria aushält und die Tapferkeit der Türken schließlich die alliierten Truppen zwingen sollte, in den Feldzug einzugreifen, sosehr dies auch ihren Befehlshabern und Regierungen widerstrebt. Wenn irgend etwas geeignet ist, die häufig auftretenden Lücken und Versäumnisse in diesem großen Kriege erträglicher zu machen, so ist es die amüsante Ungewißheit der englischen Presse und Öffentlichkeit über den Wert und die Realität der Allianz zwischen den westlichen und deutschen Mächten. Kaum ist die „endgültige Sommation" Österreichs zur Befriedigung der ganzen Welt ergangen, als auch schon die ganze Welt besorgt ist über die Nachrichten eines Treffens des österreichischen und des preußischen Monarchen, eines Treffens, das, mit den Worten der „Times", „nichts Gutes für die Westmächte ahnen läßt". ' Die Statistiken des Board of Trade1 für den vergangenen Monat wurden veröffentlicht. Die Resultate sind ungünstiger als die der vorangegangenen Monate. Der deklarierte Wert des Exports ist im Vergleich zum entsprechenden Monat von 1853 um 747527 Pfd. St. gesunken. Besonders solche Waren sind betroffen, die mit den Manchester-Märkten verbunden sind; aber Leinen-, Wollen- und Seidenmanufakturen zeigen ebenfalls ein Absinken. In dem üblichen monatlichen Rundschreiben der Herren Sturge aus Birmingham lesen wir, daß der Weizen sich nicht in gutem Zustand befindet, und diese Tatsache wird auf folgende Weise erklärt: „Die hohen Preise für Saatgut führten dazu, daß eine geringere Menge pro Acre genommen wurde als in normalen Jahren, und die Aussaat von minderwertigem Weizen aus der letzten Ernte mag nicht so gute Ergebnisse gezeitigt haben, als es bei Weizen aus besserer Ernte der Fall gewesen wäre."
1 Handels- und Verkehrsministeriums
Im Zusammenhang mit dieser Erklärung bemerkt der „Mark Lane Express": „Diese Schlußfolgerung erscheint uns außerordentlich einleuchtend und verdient Aufmerksamkeit, da man von schlechtem Samen schwerlich so gesunde Pflanzen erwarten kann wie von solchem, der unter weit günstigeren Umständen gewonnen wurde. Das Wachstum des Getreides wird mit mehr als üblichem Interesse verfolgt, da feststeht, daß auf Grund der außerordentlich schlechten Ernte von 1853 die Vorräte nicht nur in diesem Lande, sondern nahezu in allen Teilen der Welt auf einen sehr geringen Umfang reduziert worden sind. Die zukünftige Preisgestaltung wird hauptsächlich vom Wetter abhängen; der gegenwärtige Preis des Weizens ist zu hoch, um Spekulationen zu fördern, und obwohl es mehr als wahrscheinlich ist, daß die Lieferungen vom Ausland während der nächsten drei Monate weitaus geringer sein werden als bisher, so werden doch - wenn sich nichts ereignen sollte, was Anlaß zur Unsicherheit hinsichtlich ,des möglichen Ergebnisses der kommenden Ernte bieten könnte - diejenigen, die irgend etwas zu veräußern haben, sich natürlich bemühen, alte Vorräte abzustoßen, während die Müller und andere sehr wahrscheinlich nach dem System ,von der Hand in den Mund' verfahren werden ... Gleichzeitig muß man berücksichtigen, daß das Land allgemein keinen Weizen hat." Man kann jetzt nicht durch die Straßen Londons gehen, ohne durch Menschenmengen gehindert zu werden, die sich vor patriotischen Bildern stauen, die die interessante Gruppe „der drei Retter der Zivilisation" darstellen: den Sultan, Bonaparte und Victoria. Um ihnen die volle Würdigung der Charaktere dieser drei Persönlichkeiten zu ermöglichen, die jetzt angeblich die Zivilisation retten sollen, nachdem sie die „Gesellschaft gerettet" haben, nehme ich meine Skizze ihres Generalissimus, Marschall SaintArnaud, wieder auf.11411 Die berühmten Julitagetl42] befreiten Jacques Leroy (alten Stils) oder Jacques Achille Leroy de Saint-Arnaud (neuen Stils) aus den Klauen seiner Gläubiger. Nun entstand für ihn die schwierige Frage, die Verhältnisse der französischen Gesellschaft auszunutzen, die durch den plötzlichen Sturz des alten Regimes vollkommen verwirrt waren. Achille hat an der dreitägigen Schlacht nicht teilgenommen, er konnte auch nicht vorgeben, daran teilgenommen zu haben, da es zu sehr bekannt war, daß er sich zu jener denkwürdigen Zeit in sicherem Gewahrsam einer Zelle der Sainte-Pelagie befand. Eis war ihm daher versagt, sich, wie so viele andere Abenteurer, unter dem Vorwand, ein Julikämpfer zu sein, eine Belohnung zu erschwindeln. Andrerseits schien jedoch der Erfolg der Bourgeoisherrschaft keinesfalls günstig für diesen Ausgestoßenen der Pariser Boheme, der stets auf die Legitimität geschworen und nie zu der Gesellschaft der Aide-toi gehört hatte (diesen Mangel an Voraussicht hat er dadurch gutgemacht, daß er eines der ersten
Mitglieder der Gesellschaft des 10. Dezember wurde)(1433 und der auch in der großen „Komödie der fünfzehn Jahre" absolut keine Rolle gespielt hatte. Immerhin hatte Achille in der Kunst der Improvisation von seinem alten Meister, Herrn E. de P., etwas profitiert. Er präsentierte sich ganz keck beim Kriegsministerium und gab vor, ein Unteroffizier zu sein, der aus politischen Gründen während der Restauration seinen Abschied eingereicht habe. Seine Verjagung aus der garde du corps1, seine Ausstoßung aus der korsischen Legion, seine Abwesenheit vom 51. Regiment zur Zeit, als es nach den Kolonien ging, verstand er mit Leichtigkeit in ebenso viele Beweise seines unbändigen Patriotismus und der Verfolgung durch die Bourbonen umzudeuten. Die Konduitenliste strafte seine Behauptungen wohl Lügen, aber das Kriegsministerium gab vor, ihm zu glauben. Zahlreiche Offiziere hatten lieber quittiert, als daß sie unter Louis-Philippe den Eid leisteten, und dadurch war eine große Lücke entstanden, die ausgefüllt werden mußte, und die Regierung des Usurpators hieß daher jeden offenen Apostaten der Legitimität freudig willkommen, was auch immer der Grund zu diesem Übertritt gewesen sein mochte. Folglich wurde auch Achille in das 64.Linienregiment eingestellt, allerdings nicht ohne die Demütigung, bloß als Unteroffizier rehabilitiert zu werden, statt daß man ihn wie die anderen Offiziere, die während der Restauration den Dienst quittiert hatten, zu einem höheren Posten beförderte. Die Zeit und sein Offizierspatent verschafften ihm endlich den Leutnantsrang. Gleichzeitig bot sich ihm ei.ne Gelegenheit, seine besonderen Talente als unterwürfiger Apostat zu bestätigen. Sein Regiment war 1832 in Parthenay stationiert, mitten in der Vendee, dem Schauplatz des legitimistischen Aufstands. Seine frühere Verbindung mit einigen ehemaligen gardes du corps2, die sich um die Herzogin von Berry gesammelt hatten, ermöglichten ihm, gleichzeitig die Funktionen eines Soldaten und die eines Polizeispitzels auszuüben - diese Kombination entsprach seinem in den Spielhöllen Londons und den cafes borgne3 von Paris herangereiften Genie ganz außerordentlich. Die Herzogin von Berry, die von dem Juden Deutz an Herrn Thiers verkauft wurde, wurde in Nantes festgenommen, und Achille bekam den Auftrag, sie nach Blaye zu geleiten, wo er als einer ihrer Kerkermeister unter dem Kommando des Generals Bugeaud fungieren sollte. Überglücklich, eine Gelegenheit zu haben, den höchsten Eifer für die dynastischen Interessen recht offen an den Tag zu legen, schoß er übers Ziel hinaus, stieß sogar selbst Bugeaud durch die niedrigen Dienste ab, die er sich von der Polizei
1 Leibgarde - 2 Leibgardisten - 3 Spelunken übelster Sorte
zumuten ließ, und empörte ihn durch die brutale Behandlung, die er der Herzogin angedeihen ließ. Bugeaud hatte jedoch nicht die Macht, einen Adjutanten zu entlassen, den die Polizei speziell zur Bewachung der Herzogin ausersehen hatte, der außerdem unter der besonderen Aufsicht des Herrn Polizeikommissars Joly stand, und der schließlich eher zu dem Ressort des Ministeriums des Innern als zu dem des Krieges gehörte. Der künftige Generalissimus der englisch-französischen Truppen spielte die Rolle einer Hebamme, denn zu seiner besonderen Mission gehörte es, die Schwangerschaft der Herzogin durch Zeugen feststellen und beweisen zu lassen, deren Entdeckung den Anhängern des alten Regimes den Todesstoß versetzte. In dieser speziellen Eigenschaft wird denn auch der Name des Herrn de SaintArnaud erstmalig im „Moniteur" genannt. Im Mai 1833 lesen wir in dessen Spalten:
„Monsieur Achille de Saint-Arnaud, vierunddreißig Jahre alt, für gewöhnlich in Paris wohnhaft, Ordonnanzoffizier des Generals Bugeaud, wurde aufgefordert, gemäß seiner offiziellen Stellung den Geburtsakt des Kindes zu unterzeichnen, von dem die Herzogin im Gefängnis am 10. Mai 1833 entbunden wurde."
Der tapfere Saint-Arnaud blieb seiner Rolle als Kerkermeister noch weiterhin getreu und begleitete die Herzogin an Bord der Korvette, die sie nach Palermo bringen sollte. Nach Frankreich zurückgekehrt, wurde Achille zum Gespött und zum Sündenbock des ganzen Regiments. Bei den Offizieren unbeliebt, von ihren reunions1 ausgeschlossen, durch unverhohlene Beweise ihrer tiefsten Verachtung gequält, vom ganzen Regiment gleichsam in Acht und Bann getan, war er schließlich gezwungen, seine Zuflucht in der Fremdenlegion in Algier zu suchen, die gerade unter der Leitung des Oberst Bedeau in Paris gebildet wurde. Diese Fremdenlegion kann man ruhig als die Gesellschaft des Zehnten Dezember der europäischen Armeen bezeichnen. Berüchtigte Banditen, Abenteurer mit zerrütteten Vermögensverhältnissen, Deserteure aus allen Ländern, der allgemeine Abfall der europäischen Armeen bildeten die Kerntruppe dieses corps d'elite2, das man mit Recht refugium peccatorum3 nannte. Nirgends hätte sich Achilles Genius besser entfalten können als in der Gesellschaft eines solchen Korps, dessen offizielle Mission es vor den Fängen der Polizei bewahrte, während der Charakter seiner Mitglieder alle jene Schranken entfernte, die Offiziere regulärer Armeen sonst einzuengen pflegen. Obgleich verschwenderisch in allen Dingen, war Achille doch
1 Gesellschaften - 2 Elitekorps - 3 Verbrecherzuflucht
äußerst sparsam mit den Beweisen militärischer Tapferkeit und Fähigkeit und vegetierte infolgedessen noch weitere vier Jahre in der subalternen Stellung eines Leutnants im 1. Bataillon der Fremdenlegion, bis ihm endlich am 15.August 1837 der Rang eines Hauptmanns verliehen wurde. Zum Unglück für ihn steht in der französischen Armee die Kompaniekasse unter der Aufsicht des Hauptmanns, der für die Löhnung der Mannschaft und ihre Versorgung mit Lebensmitteln verantwortlich ist.-Kassen waren aber gerade die Stelle, an der unser moderner Achilles sehr verwundbar war, und so entdeckte man denn auch in der seinigen ein paar Monate nach seiner Beförderung ein fürchterliches Defizit. Der Generalinspektor, Herr de Rulhieres, der diese Veruntreuung aufdeckte, verlangte die Bestrafung des Hauptmanns. Der Bericht an das Ministerium war schon geschrieben und sollte eben zur Post befördert werden; das hätte den Ruin des Herrn de Saint-Arnaud bedeutet, wenn sich nicht Herr Bedeau, sein Oberstleutnant, gerührt durch die Verzweiflung seines Untergebenen, ins Mittel gelegt und den Zorn des Generals Rulhi&res beschwichtigt hätte. Saint-Arnaud hat nun eine ganz eigene Art, sich für erwiesene Wohltaten dankbar zu zeigen. Am Vorabend des coup d'etat wurde er zum Kriegsminister ernannt, ließ er General Bedeau festnehmen und strich den Namen des Generals Rulhieres von der Liste des Offizierskorps. Rulhi&res sandte ihm darauf folgenden Brief, den er unter seinen Freunden in Paris verbreitete und in belgischen Blättern veröffentlichte:
„ Im Jahre 1837 lehnte es General Rulhieres ab, den Degen des Hauptmanns Leroy de Saint-Arnaud zu zerbrechen, da er nicht gewillt war, ihn zu entehren. Im Jahre 1851 zerbrach der Kriegsminister Leroy de Saint-Arnaud den Degen des Generals Rulhieres und war doch nicht imstande, ihn zu entehren." Karl Marx
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Die Belagerung Silistrias
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4115 vom 26. Juni 1854, Leitartikel] Nach einer Zwischenperiode militärischer Bewegungen, die unter aller Kritik waren, weil sie nicht aus strategischen und taktischen, sondern aus diplomatischen und parlamentarischen Erwägungen unternommen wurden, bietet die Belagerung Silistrias und der Angriff auf diesen Ort endlich ein Ereignis von militärischem Interesse. Dieser Angriff zeigt, daß die Russen immer noch die Initiative haben und daß die Türken, die alliierten Armeen und alliierten Flotten bis zu diesem Augenblick einem Druck des Feindes folgen. Die russische Flotte in ihrer sicheren Zuflucht Sewastopol zieht unwillkürlich und unwiderstehlich die alliierten Flotten an, und da letztere nicht in der Lage sind, dieses Bollwerk ohne Landtruppen anzugreifen, werden sie daher von einer Flotte in Schach gehalten und gelähmt, die ihnen an Qualität und Anzahl der Schiffe bei weitem unterlegen ist. Selbst die Räumung der Forts an der kaukasischen Küste, die zur rechten Zeit und vor der Nase der britischen und französischen Dampfer ausgeführt wurde, zeigt die Entschlossenheit der Russen, solange wie möglich die Initiative zu behalten. Das spielt im Kriege eine große Rolle. Damit wird ein Beweis der Überlegenheit erbracht - sowohl in der Zahl und in der Qualität der Truppen als auch hinsichtlich der Führung. Damit wird die Moral des Soldaten trotz aller Schlappen und Rückzüge aufrechterhalten, außer bei einer Niederlage in einer entscheidenden Schlacht. Diese Initiative war es, die Wellingtons kleine Armee mitten unter Hunderttausenden französischen Soldaten in Spanien zusammenhielt und die sie zum Mittelpunkt machte, um den sich alle Ereignisse jenes fünfjährigen Krieges gruppierten. Man mag zum Rückzug gezwungen werden, man kann


einen Rückschlag erleiden, aber solange man in der Lage ist, einen Druck auf den Feind auszuüben, anstatt dem Druck des Feindes ausgesetzt zu sein, ist man ihm noch bis zu einem gewissen Grade überlegen, und was noch mehr bedeutet, die Soldaten selbst werden sich einzeln und alle zusammen dem Gegner überlegen fühlen. Der Angriff auf Silistria ist überdies die erste wirkliche Vorwärtsbewegung der Russen, seitdem sie die Besetzung des Donaugebietes abgeschlossen haben. Der Einmarsch in die Dobrudscha war in höchstem Grade defensiv; er bedeutete eine Verkürzung der russischen Frontlinie und einen Schritt zur Sicherung der Donaumündung. Doch der Angriff auf Silistria ist nicht nur ein kühnes, sondern auch ein außerordentlich gut geplantes Unternehmen. In den Jahren 1828 und 1829 haben die Russen, damals Beherrscher des Schwarzen Meeres, Silistria eigentlich sehr vernachlässigt, um sich zuerst Varna zu sichern, da Varna eine neue Kommunikationslinie zur See mit ihrem eigenen Lande eröffnete. Dennoch war Silistria wichtig genug, um die Russen zu veranlassen, es zu nehmen, bevor sie den Balkan überschritten. Gegenwärtig verliert Varna zum größten Teil seine Bedeutung für die Russen, da die alliierten Flotten das Schwarze Meer beherrschen, und Silistria und Schumla sind die Hauptangriffspunkte. Für sie kann Varna jetzt nur negativen Wert haben; wenn sie es einnehmen, gewinnen sie keine bessere Operationsbasis, sondern nehmen dem Feind lediglich einen sogenannten maritimen Brückenkopf, in dessen Schutz er mit seinen Schiffen schnell eine Anzahl Truppen für eine besondere Operation konzentrieren kann. So setzten die Dänen 1849, nachdem sie die preußische Armee nach Jütland gelockt hatten, plötzlich einen starken Truppenverband nach ihrem maritimen Brückenkopf Fredericia über und vernichteten in einem Ausfall das ausgezeichnete, aber weit schwächere schleswig-holsteinische Korps, das zur Belagerung dort belassen worden war. Wenn daher die aus dem Schwarzen Meer vertriebenen Russen unter keinen Umständen den Balkan passieren können, bevor sie sich Varna gesichert haben, so können sie nicht gegen Varna vorrücken, bevor sie nicht zumindest die Herren Silistrias geworden sind. Doch das sind im Augenblick Betrachtungen von untergeordneter Bedeutung. Ohne Unterstützung Österreichs kann Rußland nicht daran denken, vor den Augen seiner jetzigen Feinde den Balkan zu überschreiten. Als Verteidigungsstellung hat Silistria für die Russen im Augenblick überragende Bedeutung; sie ist so groß, daß die Russen ihren Feldzug für dieses Jahr als verloren betrachten können, wenn sie es nicht erobern. Silistria liegt genau vor dem Zentrum der russischen Stellung, die sich von Giurgewo über
Kalarasch und Cernavoda nach Kustendje erstreckt. Das starke Befestigungssystem vor dieser Stellung, Omer Pascha in Schumla, der wie eine Spinne mitten in ihrem Netz jede Bewegung seines ausersehenen Opfers beobachtet, die am Kamtschyk und am Devna-See zu erwartenden alliierten Truppen lassen nur sehr wenig Aussicht, daß die Streitkräfte allein, die Rußland für den Donaukrieg erübrigen kann, jemals einen Blick auf jene thrakischen Täler werfen werden, deren Grün die ermüdeten Soldaten Diebitschs von den Höhen des Balkans erfreute. Rußland kann zumindest für dieses Jahr nur mit einer Verteidigung seiner bisherigen Eroberungen rechnen, bis sich entweder Österreich ihm anschließt oder irgendwelche Umstände seinen am meisten zu fürchtenden Gegner, die englisch-französische Armee, kampfunfähig machen oder ihn abziehen lassen. Ein Defensivkrieg setzt ein System von Feld- oder, wenn möglich, ständigen Befestigungen voraus. Nachdem jetzt Silistria in den Händen des Feindes ist, haben die Russen keine ständigen Befestigungen zur Verfügung außer den kleinen Forts der Dobrudscha, die völlig nutzlos werden, sobald die Walachei verlorengeht. Sie können einige der Befestigungen von Braila und Rustschuk wiederaufgebaut und bei Bukarest ein verschanztes Lager gebildet haben; doch solange sie Silistria nicht besetzen, liegt ihre erste ernsthafte Verteidigungslinie weit hinten, am Sereth, bei Fokschani, Galatz und Ismail. Aber vorausgesetzt, daß Silistria in den Händen der Russen ist, dann ändert sich die Aussicht des Krieges sofort. Silistria ist ein ausgezeichneter Punkt für einen russischen Brückenkopf an der Donau. Es liegt in einem einspringenden Winkel, der von einer Biegung der Donau gebildet wird, in einer gerade für diesen Zweck am besten geeigneten Lage. Im Norden und Westen befindet sich eine große Insel, die von einem Damm nach Kalarasch durchquert wird und die Ebene im Westen der Festung auf eine Entfernung von 1000 Yards beherrscht - durchaus nahe genug, um die Laufgräben zu enfilieren oder Kolonnen zu bombardieren. Im Osten liegen außerdem zwei kleine Inseln, in deren Feuerbereich der östliche Zugang liegt; und zeitweilige Batterien, die dort bei niedrigem Wasserstand errichtet werden, würden einen Belagerer ganz empfindlich stören. Damit würde der Teil des Geländes, das die vom Norden angegriffenen Türken nicht für die Verteidigung ausnutzen können und deshalb dem Feind überlassen müssen, den Russen ausgezeichnete Stellungen für ihre Batterien geben, die einen vom Süden geführten Angriff flankieren. Dadurch würde sich die für einen Angriff offene Front auf die Basis des Dreiecks beschränken, an dessen Spitze, oder mit anderen Worten, an dessen Süd- oder Landfront Silistria liegt; und eine türkische oder alliierte Armee könnte nicht daran denken, Silistria
ernsthaft anzugreifen, bevor nicht wenigstens die Walachei den Russen weggenommen ist. Die Hauptvorteile würden jedoch nicht so sehr taktischer wie strategischer Natur sein. Mit der Dobrudscha und mit Silistria beherrscht Rußland die Donau und kann je nach den Umständen für zeitweilige offensive Kämpfe entweder vom Trajanswall oder von Silistria aus hervorbrechen. Der Feind wäre ohne die Entblößung Schumlas nicht in der Lage, an irgendeinem flußaufwärts gelegenen Punkt überzusetzen, außer wenn er doppelt so stark wäre wie die Russen. Das Übersetzen an einem weiter flußabwärts gelegenen Punkt als Silistria kommt gar nicht in Frage; es gibt keinen Übergang, der näher als Hirsowa liegt, und um den zu erreichen, muß man erst die Stellung bei Karasu und dann Hirsowa selbst einnehmen, das gegenüber einem Angriff von der Landseite aus ebenso stark wie es gegenüber einem Angriff vom Fluß her schwach ist. So bekommen durch den Besitz Silistrias die Forts der Dobrudscha für die Russen große Bedeutung. Ihre Armee erlangt einen doppelten Pivot, um den herum sie frei manövrieren kann, ohne ihre Kommunikationslinien zu gefährden; und selbst wenn eine zweifache Übermacht dem Feind ermöglichen sollte, bei Oltenitza oder Giurgewo überzusetzen, um Bukarest einzunehmen und die Russen hinter die Jalomitza zurückzudrängen, wäre die Belagerung Silistrias unumgänglich,bevor irgendein entscheidender Vormarsch nach Bessarabien gesichert wäre. Bevor Silistria nicht tatsächlich gefallen ist, können sich die Russen deshalb als Besitzer der Walachei betrachten, selbst wenn sie keinen einzigen Soldaten in dieser Provinz hätten. Kurz gesagt, Silistria würde für die Russen einen sechsmonatigen Besitz der Walachei bedeuten, und sechs Monate, die uns in den Winter führen, in dem in diesem Lande überhaupt keine Belagerung möglich ist, hieße weitere vier Monate gewinnen. Die Einnahme Silistrias wäre gleichbedeutend mit dem Sieg und ein Mißerfolg bei Silistria beinahe mit der Niederlage in diesem Feldzug. Trotz Diplomatie, Bestechung, Feigheit und Unentschlossenheit sind wir hier also einmal durch die dem Kriege innewohnenden Notwendigkeiten zu einem entscheidenden Wendepunkt gekommen. Entweder wird Silistria seinem Schicksal überlassen, und dann steht sein Fall mit mehr als mathematischer Sicherheit fest, oder die Alliierten rücken zu seinem Entsatz vor, und dann wird dort eine entscheidende Schlacht stattfinden; denn ohne ihre Armee zu demoralisieren und ihr ganzes Prestige zu verlieren, können sich die Russen nicht aus dem Gebiet vor Silistria ohne Kampf zurückziehen, sie scheinen dazu auch nicht gewillt zu sein. Silistria war wechselyolleren Schicksalen unterworfen als irgendeine
andere Festung. 1810 nahmen es die Russen nach einer neuntägigen Belagerung und fünf Tagen schweren Angriffs ein. 1828, die Festung war in genau demselben Zustand wie vorher, schlössen die Russen sie am 2I.Juni mit ihren Landstreitkräften ein, und am 10. August kamen noch sechsunddreißig Kanonenboote dazu. Doch ihre Belagerungsartillerie traf nicht vor September ein und führte dann keine Munition mit, so daß ein förmlicher Angriff unmöglich war. Am 10. November mußten die Russen die Belagerung aufgeben, da der Winter eingesetzt hatte und die Donau Treibeis zu führen begann. Die desorganisierten und entmutigten Russen wurden auf ihrem Rückzug von der Besatzung sehr energisch verfolgt; ein Teil der russischen Belagerungsartillerie wurde in den Stellungen zurückgelassen, und den Rest erbeuteten die Türken während der Verfolgung in Richtung Rassova. Im nächsten Jahr erneuerte Diebitsch den Angriff, schloß die Festung am 7. Mai ein, wobei er die Türken aus den Linien und Redouten trieb, die die Russen im vorangegangenen Jahr errichtet hatten, und eröffnete das Feuer aus einunddreißig schweren Geschützen, die, anscheinend ohne jede Vorbereitung, auf einer Anhöhe ungefähr 900 Yards von der Stadt entfernt aufgestellt worden waren. Am 26. wurden ungefähr 600 Yards vom Wall entfernt Demontierbatterien errichtet. Zur selben Zeit wurde die zweite Parallele eröffnet, am 4. Juni die dritte, und am 12. begann man zur Krone des Glacis vorzudringen. Das Glacis wurde am 17. an einer Stelle gekrönt, doch wurde diese Operation erst am 26. beendet, als fünf Batterien direkt am Rande des Grabens aufgestellt wurden, dreißig Yards vom Hauptwall entfernt. Gleichzeitig hatte General Schilder, derselbe, der jetzt bei der Belagerung das Geniewesen leitet, die von ihm bevorzugten ausgedehnten Minieroperationen fortgeführt. Große Minen, die man unter die Kontereskarpe und unter den Festungswall gelegt hatte, wurden am 21. (dadurch entstand sofort eine sturmreife Bresche), am 25., 27., 28. und am 29. gesprengt, worauf sich die Festung schließlich ergab. Sogar dann hat wahrscheinlich noch keine zwingende Notwendigkeit zur Übergabe der Festung bestanden, abgesehen von dem Schrecken, den die unterirdischen Explosionen unter den abergläubischen irregulären Soldaten hervorgerufen haben. Hinter der gesamten angegriffenen Front und dem zweiten Wall war eine coupure oder neue Verschanzung errichtet worden, die natürlich erneute Minier- oder Artillerieoperationen erfordert hätte, bevor sie hätte genommen werden können. So hat diese ungewöhnliche Festung, die seit 1810 in keiner Weise verstärkt worden war, doch fünfunddreißig Tage nach der Eröffnung der Trancheen ausgehalten, und neun Tage, nachdem eine sturmreife Bresche im Hauptwall erzielt worden war; sie hat die Russen gezwungen, 30000 Kugeln und
Granaten bei dem Artillerieangriff und 336 Zentner Pulver bei dem Minierangriff zu verbrauchen. Finanzielle Schwierigkeiten und die ägyptischen Kriege haben die Türken gezwungen, diesen bedeutenden Punkt nach dem Frieden von Adrianopel in solchem Maße zu vernachlässigen, daß selbst im Jahre 1836 nicht nur die Breschen von 1829 überhaupt nicht repariert und die Gräben nicht gereinigt, sondern daß sogar die Spuren des Angriffs von 1810 noch zu sehen waren. Der Sultan beabsichtigte zwar, detachierte Forts zu errichten, doch aus dieser Absicht wurde eine Zeitlang nichts. Heute ist Silistria in einem ganz anderen Zustand, größtenteils durch die Bemühungen eines preußischen Offiziers in türkischen Diensten, Oberst Grach. Die ursprünglich fehlerhafte Bauweise der Festung erlaubt möglicherweise kaum wesentliche Verbesserungen, doch die detachierten Forts, die auf den Höhen errichtet wurden, haben sich bereits bewährt. Die Festung bildet einen Halbkreis, dessen Durchmesser, ungefähr 1800Yards, am Donauufer verläuft. Sie hat zehn bastionierte Fronten mit einer durchschnittlichen Länge von 500 Yards. Der Bau strotzt, wie alle türkischen Festungen des 16. und 17. Jahrhunderts, von all den Unzulänglichkeiten der alten italienischen Festungen: lange Kurtinen, kleine und enge Bastionen, kurze Flanken, die kaum einen Schutz für den Graben bieten, der Graben selbst flach (nicht über acht Fuß tief), kein gedeckter Weg, sondern lediglich ein Glacis, dessen Krete oder höchster Teil kaum vier Fuß höher war als die Spitze der Kontereskarpe. Der Wall war acht Fuß hoch bei einer Stärke von zwanzig Fuß und war aus Erde errichtet; Eskarpe und Kontereskarpe waren bis zur Höhe des Grabens befestigt, das heißt acht Fuß. Der Graben selbst ist durch die Höhe des Grundwasserstandes zwangsläufig trocken. Es gab nicht einmal Lünetten vor den Kurtinen. Das war Silistria bis 1836; und diese schwachen Stellen in seiner Verteidigung fanden darin ihre Krönung, daß die Festung innerhalb von 600^ Yards vom Wall aus gerechnet von einer Höhenkette beherrscht wird, die sich südlich von ihr erstreckt. Diese Höhen sind die Ausläufer des bulgarischen Plateaus, das, vollkommen eben, bis auf 1500 Yards an die Stadt heranreicht und dann zum Fluß zu abfällt; hier bietet sich ein ausgezeichnetes Gelände für Terrassenbatterien, für frontales und Enfilierfeuer, mit dem schmalen Flußarm an der einen und den Höhen an der anderen Seite. Major Moltke, der den Ort 1836 besichtigte und dessen Werk über den Feldzug von 1829 wir die obigen Einzelheiten verdanken, vertritt die Meinung,
„daß Silistria nicht ohne vier detachierte Forts auf den Höhen und einen Brückenkopf auf der großen gegenüberliegenden Insel zu einer ernsthaften Verteidigung ausgebaut werden kann".
20 Marx/Engels, Werke, Band 10
Den Brückenkopf zu schaffen war unmöglich, da die Insel zur Walachei gehört, die den Türken vertraglich verschlossen war; doch die Forts sind vorhanden und, wenn wir richtig unterrichtet sind, beinahe an denselben Stellen, auf die Major Moltke hingewiesen hat. Was Oberst Grach mit dem unvollkommenen Hauptwall erreichen konnte, können wir nicht sagen. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel darüber, daß er zumindest einen gedeckten Weg gebaut und zum Enfilieren des Grabens in der Mitte der Kurtine Schießscharten an jedem der gefährdetsten und am wenigsten geschützten Frontabschnitte angebracht hat. Was die vier detachierten Forts betrifft, so wissen wir über ihre Anlage noch gar nichts, aber da Oberst Grach ein Preuße ist und geringe Kosten bei der Pforte eine große Rolle spielen, können wir annehmen, daß sie höchstwahrscheinlich nach dem System erbaut sind, das jetzt beinahe überall auf dem Kontinent und besonders in Preußen eingeführt worden ist, das heißt einfache quadratische oder achteckige Redouten mit Schießscharten an jeder zweiten Ecke. Die Forts liegen auf den vier Höhenausläufern, die das Plateau zur Stadt hin abgrenzen und die durch drei Schluchten voneinander getrennt sind. Ihre Entfernung vom Festungswall muß im Durchschnitt 1500 Yards betragen, so daß sie durch das Feuer der Festung nicht sehr wirkungsvoll geschützt werden können. Doch das ist nicht unbedingt notwendig; es scheint näher zur Stadt auf dem Abhang keinen Punkt zu geben, von dem ein Fort gut gegen ein vom beherrschenden Rand des Plateaus geführtes Enfilierfeuer geschützt werden könnte. Außer diesen ständigen Werken hat Oberst Grach direkt auf dem Plateau ein zeitweiliges Erdwerk errichtet, das Arab-Tabia (Fort Arabia) genannt wird und in einer Entfernung von ungefähr 1000Yards vor den zwei zentralen Forts gelegen ist. Einige Berichte könnten zu dem Schluß führen, daß weitere Feldredouten errichtet wurden, um eine äußere Linie von Forts zu bilden, wodurch eine drei Linien tiefe Verteidigung entsteht. Arab-Tabia jedoch bleibt der Schlüssel dieser Stellung und muß genommen werden, bevor man sich der inneren Linie der Forts nähern kann. Diese Anordnung der Befestigungswerke verleiht Silistria eine große defensive und offensive Stärke. Da nur an ihrer Südfront der förmliche Angriff zu entscheidenden Ergebnissen führt, kann bei einer 15000 bis 18000 Mann starken Besatzung ein großer Teil davon für Ausfälle verwendet werden. Die ausfallenden Truppen finden auf dem Abhang hinter den detachierten Forts eine ausgezeichnet gedeckte Stellung, aus der sie ungesehen die Bergschluchten hinauf bis dicht an den Feind vorgehen können. In einem Sturm auf Arab-Tabia würden deshalb weniger die Besatzung dieses Forts, als vielmehr die aus
fallenden Truppen von Silistria die Schlacht entscheiden. Nun zu der Belagerung selbst. Seit Ende April haben die Russen Silistria über die Donau hinweg gelegentlich beschossen. Im Mai begannen sie reguläre Approchen auf der großen Insel gegenüber der Stadt auszuheben, nahe dem Damm, der nach Kalarasch führt, und am 10. hatten sie längs des Flußufers ihre Batterien komplettiert. Am 11. wurde die Stadt heftig bombardiert und die Nordfront direkt beschossen. Das wurde am 12. wiederholt; der eben eingetroffene Leutnant Nasmyth von der bengalischen Artillerie bestätigt das und berichtet darüber in der „London Times". Das Hauptziel war die nordöstliche oder Tschengel-Bastion, aus der die Türken mit größter Heftigkeit und mit großer Zielsicherheit das Feuer erwiderten. Das Schießen der Russen wird im Gegensatz dazu als sehr mittelmäßig bezeichnet. In der Stadt wurde eine große Anzahl Granaten gefunden, die man abgefeuert hatte, ohne die Kappe des Zünders abzunehmen, so daß sie sich nicht entzünden und nicht explodieren konnten. Solch ein Versehen kommt wohl bei der Feldartillerie in der Eile zu Beginn eines Kampfes vor, bei Belagerungen aber, wo immer verhältnismäßig langsam gefeuert wird, ist es bisher unbekannt. Es beweist, wie sich die Russen beeilt haben müssen, ihre Munition loszuwerden. Die Russen hatten außerdem während der Nacht auf der Insel Schiblak östlich von Silistria Batterien errichtet. (Sie hatten 1829 an demselben Ort zwei Batterien.) Die vier Geschütze dieser Batterie müssen zum Enfilieren der ganzen Nordfront vorgesehen gewesen sein. Vom 13. bis zum 16. scheint nicht viel getan worden zu sein; zumindest schweigen sich die Berichte darüber völlig aus. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die russischen Generale, nachdem sie gemerkt hatten, daß die Bombardierung einer türkischen Festung nutzlos ist, wie sie wohl hätten vermuten können, einen Angriff auf dem rechten Flußufer vorbereiteten. Dementsprechend wurde am 16. unterhalb Silistrias eine Brücke geschlagen; 20000 Mann, denen sich kurz danach weitere 20000 Mann aus der Dobrudscha angeschlossen haben sollen, setzten hier über. Die Russen bewegten sich allgemein zur Konzentrierung auf Silistria und Turtukai zu, denn sobald der Angriff auf dem rechten Ufer stattfinden sollte, waren Kräfte notwendig, um den Schutz gegen Omer Pascha bei Schumla und gegen englisch-französische Truppen zu übernehmen, die bei Varna gelandet werden könnten. Am 19. wurde die erste Rekognoszierung gegen Arab-Tabia unternommen; große Truppenmassen wurden knapp außerhalb der Reichweite der Geschütze konzentriert, während eine Schützenlinie vorrückte. Nach einer kurzen Kanonade schickte Mussa Pascha einige Baschi-Bosuks auf das
Plateau, welche die Schützen zurücktrieben. Am 20. unternahmen die Russen einen erneuten Vorstoß; für eine einfache Rekognoszierung sah das zu ernsthaft aus—für einen wirklichen Angriff nicht ernsthaft genug. Am 21. fand der erste Angriff auf Arab-Tabia statt; Einzelheiten darüber fehlen noch, aber die Russen wurden mit großen Verlusten zurückgeschlagen. Zwei russische Offiziere liefen zu den Türken über und berichteten, daß der Feind 90000 Mann stark und aus drei Armeekorps zusammengesetzt sei (das ist richtig, dem 3., 4. und 5.) und von Großfürst Konstantin befehligt werde. Diese letzte Behauptung ist offensichtlich ein Irrtum, da Konstantin bekanntlich die Flotte, die Truppen und die Küstenverteidigungen in Finnland befehligt. Die Mitteilung von einer beabsichtigten Wiederholung des Angriffs am folgenden Tage hat sich durch die Ereignisse nicht bestätigt. Die Russen standen unter Waffen, aber sie näherten sich dem Fort nicht. Wir haben also wieder keine Nachricht darüber, was bis zum 26. geschah; doch mit Tagesanbruch des 27. griffen die Russen erneut mit sehr beträchtlichen Kräften Arab-Tabia an. Dreimal wurde der Angriff wiederholt, und dreimal wurden die Angreifer mit gewaltigen Verlusten zurückgeschlagen. Die türkischen Berichte sprechen von 1500 toten und 3000 verwundeten Russen, was etwas übertrieben sein mag, aber der Wahrheit doch ziemlich nahekommt. Entschlossen, das Fort a la1 Suworow zu nehmen, hatte Paskewitsch am nächsten Morgen seine Kolonnen wieder für einen Angriff formiert. Das Massaker muß fürchterlich gewesen sein. General Silvan wurde getötet. Oberst Graf Orlow junior erhielt einen Schuß ins Auge und starb später. Ein anderer Oberst wurde schwer verwundet. Die Russen selbst geben einen Verlust von 186 Toten und 379 Verwundeten zu; aber das ist offensichtlich nicht einmal ein Drittel ihrer wirklichen Verluste; bei den Massen, die sie zum Angriff vorgeschickt haben, müssen sie mindestens 2000 Mann verloren haben. In der folgenden Nacht unternahmen die Türken einen Massenausfall, fielen plötzlich in die russischen Linien ein und trieben die Russen mit großen Verlusten zurück (1500 bis 1800, wie es in den Berichten heißt). Dieser erfolgreiche Ausfall und der Umstand, daß bei dem letzten Angriff die russischen Truppen nicht ins Handgemenge gebracht werden konnten, obwohl die Kavallerie eingesetzt wurde, um sie anzutreiben und ihnen den Rückzug abzuschneiden, veranlaßten Fürst Paskewitsch, den Versuch aufzugeben, das Fort mit dem Bajonett zu nehmen. Zweifellos ist die Verteidigung dieser Redoute eine der glorreichsten Waffentaten nicht nur dieses Kampfes, sondern sogar aller russisch-türkischen Feldzüge. Das Gelände erlaubte einen
1 nach Art von
Angriff sehr großer Truppenmassen, und die Russen sind nicht diejenigen, die es unterlassen, soviel Truppen wie nur irgend möglich für einen Sturm einzusetzen. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit muß demnach sehr groß gewesen sein, und es erforderte nicht nur sehr große Tapferkeit, sondern auch gut geplante und koordiniert ausgeführte Ausfalloperationen der Türken, um sie zurückzuschlagen. Es besteht kaum ein Zweifel, daß die Russen gegen die Türken von 1829 die Festung genommen hätten. Ihre jetzigen wiederholten Niederlagen beweisen, daß die Türken, zumindest ein Teil von ihnen, an taktischer Fähigkeit und militärischen Kenntnissen gewonnen, ohne etwas von ihrer Tapferkeit verloren zu haben. In dieser Beziehung sind die Verteidigung von Arab-Tabia und das Treffen von Cetate die bemerkenswertesten Ereignisse des Feldzugs. Über den russischen Angriff können wir nicht viel Gutes sagen. Paskewitsch scheint es so eilig zu haben, Silistria zu nehmen, daß er nicht einmal Zeit hat, die notwendigsten Maßnahmen zu treffen, um sein Ziel zu erreichen. Seine Unentschlossenheit ist ganz offensichtlich. Zuerst versuchte er ein Bombardement, obwohl er hätte wissen müssen, wie nutzlos das gegenüber einer türkischen Stadt ist. Ein Bombardement kann zu nichts anderem als zu einem großen Munitionsverbrauch für die Russen führen, eventuell noch zu einer Bresche im Wall an der Flußseite, wo die Nähe der Donau, ein natürlicher Graben von 1000 Yards Breite, jeden Gedanken an einen Sturm ausschließt. Dann ist die Landfront angegriffen worden, aber das Feuer von Arab-Tabia wurde wahrscheinlich niemals zum Schweigen gebracht, und es wurde auch nicht ernsthaft versucht, ihre Befestigungsanlagen zu zerstören. All das ist für einen Nachfolger Suworows zu umständlich. Dieser erzrussische General sagte einst: „Die Kugel ist eine Närrin, das Bajonett ein ganzer Mann", und wenn dies auf das russische Bajonett zutrifft, welches gemäß einem Ausspruch derselben tapferen Autorität die Alpen durchdringt, so gilt es sicherlich weit mehr für die russischen Kugeln, die eine beständige und unwiderstehliche Neigung zur Abweichung haben. So wurde der Sturm befohlen, ausgeführt, wiederholt und abermals wiederholt, aber vergeblich. Es scheint, daß die Erdparapetts eines kleinen, aber stark gebauten türkischen Forts härter sind als der alpine Granit, gegen den Suworow kämpfte, und daß die Geschosse und Kugeln der Türken nicht so töricht sind wie die der Russen. Schließlich wird Paskewitsch zu der alten Maxime zurückkehren müssen: Stürme niemals ein Werk, bevor du nicht sein Feuer zum Schweigen gebracht und seine Befestigungsanlagen zerstört hast. So beginnt die förmliche Belagerung ungefähr am 30. oder 31 .Mai, und Paskewitsch nimmt schließlich Zuflucht zu der „törichten Kugel".
Aber nein! Selbst das ist lediglich Schein. Hier ist es General Schilder, wohlbekannt aus dem Jahre 1829, der verspricht, die Festung durch seine ach so geliebten Minen zu bezwingen und das sogar in ein paar Tagen. Minen gegen ein Feldwerk sind der letzte Ausdruck militärischer Verzweiflung, einfältiger Wut in einer ausweglosen Lage. Wenn Minen angewandt werden sollen, so ist die erste Bedingung, um sie wirkungsvoll auszunutzen, daß das Glacis gekrönt wird. Bevor das Glacis gekrönt werden kann, muß das Feuer des Feindes zum Schweigen gebracht worden sein, das heißt, ein, zwei oder drei Parallelen müssen errichtet werden mit den dazugehörigen Batterien. Tatsächlich können Minen nur der Abschluß einer Belagerung, nicht ihr Anfang sein. Wenn Schilder nicht vorschlägt, einige zwanzig Quadratmeilen Boden zu unterminieren oder einen Tunnel unter die Donau zu graben, kann er der Notwendigkeit einer förmlichen Belagerung nicht ausweichen. Trotz Suworow sind die Kugeln unentbehrlich. Nun könnte eine förmliche Belagerung Arab-Tabias sicherlich in wenigen Tagen beendet sein, da das Werk seine Aufgabe beinahe vollständig erfüllt hat und eine längere Verteidigung die Besatzung zu sehr schwächen würde. Aber das hieße eine förmliche Belagerung von wenigstens zwei Forts und dann noch eine der Stadt. Fünf Wochen ist sicherlich die allerkürzeste Zeit, in der die Russen durch die nachlässige Art ihrer Belagerungen das vollbringen können. Wenn dann die Türken genügend Lebensmittel und Munition haben und keine unvorhergesehenen Zwischenfälle eintreten sollten, kann die Festung bis Anfang Juli als gesichert betrachtet werden. Wir setzen natürlich voraus, daß die Forts von durchschnittlicher Stärke sind und die Wälle nicht zu reparaturbedürftig. Aber wenn Silistria 1829 offenen Verschanzungen 35 Tage standgehalten hat, wird es sicherlich 1854 mit den neuen Werken, mit einem tapferen und klugen Kommandanten, einem erfahrenen Chef der Artillerie und einer erstklassigen Besatzung in der Lage sein, wenigstens ebensolange standzuhalten. Wenn man sich auf die Alliierten verlassen könnte, dann könnten wir auch mit Sicherheit sagen, daß der Feldzug zu einem vollständigen Fehlschlag für die Russen werden muß, wenn nicht gar noch schlimmer.
Geschrieben am 10. Juni 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Der Stand des russischen Krieges[1441
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4125 vom 8. Juli 1854, Leitartikel] Nicht nur das merkwürdige Zusammentreffen der Räumung der Walachei durch die Russen und ihrer Besetzung durch die Österreicher, sondern auch die Art und Weise, in der die Belagerung Silistrias unternommen, weitergeführt und schließlich abgebrochen wurde, weisen darauf hin, daß hier treibende Kräfte am Werk waren, die völlig außerhalb des Bereichs rein militärischer Erwägungen liegen. Aus dem offiziellen russischen Bericht, der bis zum Abend des 28. Mai reicht und von den türkischen Bulletins nur in den Angaben über die Toten und Verwundeten abweicht, geht hervor, daß die Kampfhandlungen einen merkwürdig überstürzten Charakter trugen, daß die intensivsten Bemühungen, die Außen werke zu zerstören, nicht eher gemacht wurden, bis es sich als unmöglich erwiesen hatte, die Festung im Sturm zu nehmen, und daß der Angriff planloser und unwissenschaftlicher war, als bisher selbst aus den Annalen der russischen Belagerungen bekannt ist. Über die Operationen vom 28. Mai bis 15. Juni liegen zu spärliche Berichte vor, als daß wir uns eine genaue Schilderung erlauben dürften; die Tatsache jedoch, daß während der wiederholten verzweifelten Angriffe fast alle kommandierenden Offiziere verwundet und kampfunfähig wurden - Paskewitsch, Schilder, dessen Bein danach amputiert wurde, Gortschakow, Lüders und Orlow, der einen Schuß ins Auge bekam -, beweist eindeutig, daß die Russen Order hatten, die Festung nicht nur um jeden Preis, sondern auch innerhalb einer bestimmten Zeit zu nehmen. Sie gingen tatsächlich bei der ganzen Sache in einer Weise vor, die uns mehr an die barbarische Art der Städteeroberung in Kurdistan durch Timur Tamerlan erinnert als an eine reguläre moderne Kriegführung. Andrerseits ist es offensichtlich, daß die helden
mütige und geschickte Verteidigung Silistrias bei den alliierten Mächten wie beim ottomanischen Diwan die gleiche Überraschung hervorrief. Unsere Leser mögen sich erinnern, daß vor etwa sechs Wochen die verbündeten Heerführer1 in Varna zusammentrafen, daß sie entdeckten, die Balkanlinie bilde die natürliche Verteidigung der Türkei, und daß jetzt viele britische Zeitungen nicht nur gestehen, sondern sogar bei dem Eingeständnis frohlocken, es habe keines einzigen englischen oder französischen Soldaten bedurft, Silistria zu entsetzen. Schließlich kann nicht geleugnet werden, daß Silistria ein Punkt von großer militärischer Bedeutung ist, daß das Schicksal dieser Festung das Schicksal des Feldzugs entscheidet und daß die Russen, indem sie die Belagerung aufgaben und sich plötzlich bis zum Sereth zurückzogen, das gesamte Gebiet verloren haben, das sie in diesem und im vergangenen Jahr erobert hatten. Dennoch muß gesagt werden, daß viele unserer englischen' Blätter das Ausmaß des jetzigen moskowitischen Mißgeschicks bei weitem übertreiben. Es erfordert sicher sehr viel Leichtgläubigkeit, anzunehmen, daß der Ausfall der Besatzung Silistrias am 13. Juni und die Verstärkung von 2000 Mann, die sie von Omer Pascha erhalten haben soll, zu der völligen Niederlage der Russen führte und 90000 bis 100000 Mann zur Flucht vor 15000 zwang. Soweit wir es beurteilen können, ist der plötzliche Rückzug der Russen ebenso rätselhaft wie ihr plötzlicher Angriff. Das ist nur durch ein vorheriges Einvernehmen mit Österreich über die Besetzung der Walachei durch österreichische Truppen erklärlich. Unter diesen Verhältnissen erscheint folgende Stelle besonders interessant, die wir dem Brief des Konstantinopler Korrespondenten des „Morning Chronicle" entnehmen, der diesen Plan am 10. Juni, also schon vier Tage vor Abschluß des österreichisch-türkischen Vertrages enthüllt:
„Die Türken glauben, die Diplomatie spiele mit ihnen und es sei ihre Absicht, Silistria den Russen zu überlassen. Dieser Argwohn wird durch die hier eingetroffene Nachricht bestätigt, in Wien werde ein neues Protokoll vorbereitet, in dem, wie ich höre, vom Fall Silistrias wie von einer bereits vollendeten Tatsache gesprochen wird; wenn der militärische Ehrgeiz Rußlands befriedigt wäre, so würde Österreich die Zeit zu seiner bewaffneten Intervention für gekommen halten, um durch seine Mitwirkung einen Vergleich zuwege zu bringen - es würde die Donaufürstentümer besetzen, die von den russischen Armeen geräumt werden müßten
Hätten die Russen Silistria rechtzeitig genommen, wäre demnach alles in Ordnung gewesen. So aber mußten sie sich laut Übereinkommen mit öster
1 Saint-Arnaud und Raglan; siehe vorl. Band, S. 260/261
reich in einer etwas unrühmlichen Weise zurückziehen, obwohl es ihnen nicht gelungen war, den militärischen Ehrgeiz des Zaren zu befriedigen. Während die Russen hinter den Sereth zurückweichen, rücken die Österreicher auf den Sereth und die Donau vor und stellen sich so zwischen die Moskowiter und die Türken mit ihren Alliierten. In dieser Stellung sind sie Schiedsrichter in dem Streit und hindern beide Parteien am Vorrücken. Die Russen bleiben in der Moldau, während sich die Wiener Konferenz mehr denn je mit der Abfassung von Protokollen beschäftigen wird, und so wird der Winter gewonnen sein. Wenn die Konferenz ergebnislos endet - ein Resultat, das gewiß ist, seitdem der Kaiser von Rußland das Geld für deine neue Anleihe über 37000000 Dollar von Hope & Co. in Amsterdam bekommen hat1 -, wird die Stellung der russischen Armee hinter der Donau und dem Sereth doppelt so stark sein wie ihre ehemalige Stellung zwischen Bukarest und Kustendje. Betrachten wir außerdem die relative Stärke der Russen vor Silistria und in Bulgarien, jetzt auf dem Rückzug hinter den Sereth, und die der alliierten Armeen, soweit sie dank ihren genialen Dispositionen überhaupt in die Waagschale zu werfen sind, so ist deutlich zu sehen, daß selbst bei den besten Absichten die Alliierten nicht imstande wären, die österreichisch-russische Kombination zu vereiteln. Die an der europäischen Küste des Schwarzen Meeres gegen die Türkei und die Alliierten eingesetzten russischen Streitkräfte betragen dreizehn Divisionen Infanterie, und zwar drei des dritten, drei des vierten, eine des fünften, drei des sechsten Armeekorps sowie drei Reservedivisi'onen. Hinzu kommen die dritte, vierte, fünfte und sechste Division der leichten Kavallerie und die dritte, vierte und fünfte Artilleriedivision. Diese Truppen, die fast die Hälfte der großen aktiven Armee ausmachen, sollten nach offiziellen Feststellungen 16000 Mann für jede Infanteriedivision, 5000 für jede Kavalleriedivision und 160 Geschütze für jede Artilleriedivision betragen; im ganzen etwa 250000 bis 260000 Mann inklusive Train und Marketender. Wenn wir aber die Stärke der russischen Armee danach beurteilen, wie stark sie im ungarischen Krieg[145J war, so können wir eine russische Infanteriedivision auf nicht mehr als 13000 bis 14000 Mann und ebenfalls die Kavallerie und Artillerie entsprechend niedriger schätzen. Die wirkliche Anzahl der Truppen, die die Russen nach und nach in die Fürstentümer einmarschieren ließen, bliebe daher auf etwa 210000 Mann beschränkt, und selbst davon müssen noch mindestens 20000 bis 25 000 Mann abgezogen werden für Verluste in der Schlacht und Ausfälle durch Krankheit. Wenn wir uns der Verheerungen
erinnern, die das Sumpffieber 1828/29 in den Reihen der russischen Armee anrichtete, und die Briefe eines russischen Wundarztes in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift"11461 zum Vergleich heranziehen, so können wir ohne Übertreibung einen Ausfall von acht bis zehn Prozent von der Gesamtstärke der russischen Armee annehmen. Somit bleiben den Russen etwa 180000 Mann als disponible Armee. Es ist interessant zu erfahren, was davon bei den Operationen gegen Silistria eingesetzt werden konnte. Ein großer Teil der Truppen wurde benötigt, um die Kommunikationen und Magazine im Rücken der Kampflinie zu sichern. Bukarest und die Dobrudschalinie mußten besetzt werden. Verschiedene Detachements waren notwendig, um die Flanken und zum Teil die Front der Armee zu sichern. Ziehen wir nun 60000 Mann für diese verschiedenen Aufgaben ab, so ergibt sich, daß 130000 Mann für die Belagerung Silistrias und zur Deckung dieser Operation übrigbleiben. Das ist eher zu hoch als zu niedrig geschätzt. Die Lage Silistrias an einem großen Fluß machte es nun aber unvermeidlich, daß sich die belagernde Armee teilen mußte, um die Festung von allen Seiten einzuschließen. Weiterhin mußten am Nordufer starke Reserven errichtet werden, um die Truppen zu unterstützen, die im Falle einer Niederlage vom Südufer verdrängt werden. Schließlich mußten sich die Truppen, die das südliche oder rechte Ufer besetzten, nochmals in zwei Armeen teilen; die eine sollte die Belagerung durchführen und die Ausfälle der Belagerten zurückschlagen, die andere sollte die Belagerung decken und jede zum Entsatz der Festung heranrückende Armee zurückschlagen. Etwa 35000 bis 40000 Mann wurden gebraucht, um das linke1 Ufer zu besetzen und die Belagerung auf dem rechten2 durchzuführen. So wäre eine Armee von 80000 Russen zu aktiven Feldoperationen gegen ein Entsatzheer verfügbar geblieben, und das war das Äußerste, was die Russen auf bulgarischem Gebiet zehn bis zwanzig Meilen um Silistria ins Treffen führen konnten. Sehen wir uns nun an, welche Kräfte die Alliierten den 180000 Russen gegenwärtig entgegenzustellen haben. Von der türkischen Armee bei Schumla hieß es vor einiger Zeit, sie sei 80000 Mann stark, es fehle ihr aber alles, was für den Kampf in freiem Feld notwendig sei, und sie wird den letzten Berichten Lord Raglans und der französischen Stabsoffiziere zufolge schlecht geführt, alles in allem sei sie in einem Zustand, der Offensivhandlungen unbedingt verbietet. Es ist weder unsere Absicht, noch sind wir augenblicklich
1 In der „New-York Daily Tribüne": rechte - 2 in der „New-York Daily Tribüne": linken
in der Lage, die Richtigkeit dieser Angaben festzustellen. Es genügt zu konstatieren, daß dies die offizielle Meinung der Alliierten über den Zustand der türkischen Hauptarmee ist. Seitdem sind die Truppen von Kalafat nach Rustschuk dirigiert worden, wo angeblich ein Lager von 40000 Mann errichtet wird. Wenn man nicht wüßte, daß die Führung des Krieges vollkommen in den Händen der Diplomatie liegt, wäre es schwer, eine Politik zu begreifen, die ein Korps von solcher Stärke lahmlegt, das die Russen zur sofortigen Aufgabe der Belagerung Silistrias hätte zwingen können, wenn es statt nach Rustschuk nach Bukarest marschiert wäre. Sieht man von der jetzigen Besatzung in Rustschuk und von der Besatzung und Reserve in Schumla ab, so ist es sehr zweifelhaft, ob die Türken 50000 Mann im freien Feld einsetzen können, die in der Lage sind, die ihnen bevorstehende Aufgabe zu lösen. Nach Meinung berufener westlicher Militärs wiegt zwar ein englisch-französischer Soldat mindestens zwei russische auf, immerhin aber wäre eine Streitkraft von 65 000 Alliierten nötig, um der russischen Okkupationsarmee die Waage zu halten. Ehe die Alliierten daher nicht bei Varna eine solche Heeresmacht aufbieten können, werden sie wohl kaum ins Treffen gehen, es sei denn, im Falle äußerster Not. Sie sind indes schon so vorsichtig gewesen und nicht gleich in solcher Stärke auf dem Kampfplatz erschienen, die ihnen später keinerlei Vorwand ließe, aktiven Operationen fernzubleiben. Die gesamte jetzt in der Türkei befindliche englisch-französische Truppenmacht beträgt nicht mehr als 80000 Mann, abgesehen von weiteren 15000 bis 20000, einschließlich beinahe der gesamten Kavallerie und Artillerie, die jetzt auf dem Wege dorthin sind. Die im Bosporus bereitliegenden Transportschiffe sind, mit oder ohne Absicht, zahlenmäßig sehr beschränkt, so daß es vieler Hin- und Herfahrten bedürfte, sollten die Truppen nur auf dem Seeweg nach Varna gebracht werden. Aber „nach den letzten und genauesten Berichten", sagt der bereits von uns erwähnte Korrespondent, „sind bis jetzt erst 12000 Mann britischer und französischer Truppen auf dem Seeweg befördert worden, während das Gros der französischen Armee langsam von Gallipoli auf Konstantinopel und Adrianopel vorrückt". Da die Wege notorisch schlecht und die Verpflegungsschwierigkeiten äußerst groß sind, so ist dies ein Umstand, der ihrem famosen General Saint-Arnaud gestattet, dauernd zwischen Varna und Konstantinopel hin- und herzugondeln; wir können sicher sein, daß er keine Gelegenheit versäumen wird, jeder Intrige im Diwan eine solche Wendung zu geben, daß dabei ein solider Vorteil für seinen unergründlichen Geldbeutel herausspringt. Über die beiden britischen Divisionen, die noch in Skutari sind, erfahren wir von demselben Korrespondenten, daß
„sie anscheinend noch nicht zur Abfahrt bereit sind, obwohl eine ganze Flotte von Transportschiffen und Dampfern vor Anker liegt, die darauf wartet, sie an Bord zu nehmen". Aus all diesen Tatsachen geht für jedermann klar genug hervor, daß die alliierten Mächte sorgfältig darauf bedacht waren, nicht in der Lage zu sein, das jetzige Übereinkommen zwischen Rußland und Österreich direkt zu vereiteln. Denn hätte man einen derartigen Zweck verfolgt, so läge eine sehr einfache Alternative hierfür auf der Hand, und zwar ein englisch-schwedisches Bündnis in der Ostsee, das eine Operationsbasis für Hilfstruppen schüfe und damit einen Einfall in Finnland und ein Umgehen der Festungen Sweaborg und Kronstadt von der Landseite erleichterte, oder ein kombinierter Angriff zur See und auf dem Festland, auf die Krim und Sewastopol. In bezug auf die erste Annahme ist es belustigend zu sehen, wie die „London Times", die vor noch nicht drei Wochen laut die Notwendigkeit verkündete, das Schwarzmeergeschwader in die Ostsee zu schicken, jetzt eine einfache Blokkierung der Ostseehäfen und die augenblickliche Rückkehr des größeren Teils der Ostseeflotte ins Schwarze Meer empfiehlt und plötzlich die Besetzung der Krim befürwortet. Das ist dasselbe Blatt, das vorgab zu bedauern, Napier könne nichts unternehmen, ehe sich nicht die französische Flotte mit ihm vereinigt habe. Jetzt, da dies geschehen ist, ist anzunehmen, daß man am Ende doch nichts tun will und daß sowohl die englische wie die französische Flotte lieber wieder einen Abstecher durch das Kattegat, den Kanal und die Meerenge von Gibraltar bis zum Schwarzen Meer machen soll. Bedenkt man, wieviel Zeit die Vereinigung dieser Flotten schon erfordert hat und wieviel Zeit wiederum ihre Vereinigung mit den Kräften des Admirals Dundas erfordern würde, so wird klar, daß es das wichtigste Ziel dieser Vorschläge ist, weder in der Ostsee noch im Schwarzen Meer etwas zu tun. Der einzige Punkt, wo die Russen, abgesehen von ihrer unvorhergesehenen und unerwarteten Niederlage bei Silistria, namhafte Verluste erlitten haben und von Gefahren umgeben sind, ist der Kaukasus, wenngleich noch nichts Bestimmtes darüber bekannt ist. Sie hatten fast alle ihre Festungen an der Ostküste des Schwarzen Meeres aufgegeben, nicht etwa aus Furcht vor den alliierten Flotten, sondern um ihre Armee in Georgien zu verstärken. Es wird berichtet, daß die russischen Truppen auf ihrem Rückzug über den Darielpaß plötzlich von starken, aus Bergbewohnern bestehenden Kräften von vorn und im Rücken angegriffen worden sind, wobei die Vorhut vernichtet worden ist und das Zentrum sowie die Nachhut gezwungen wurden, sich mit schweren Verlusten zurückzuziehen. Gleichzeitig rückte die Armee Selim Paschas von St. Nikolaja nach Osurgety vor, von wo aus die Russen die
Türken häufig beunruhigt und bedroht hatten, und zwang jetzt die Russen, diese Festung zu räumen; durch diesen Erfolg sind die Verbindungen zwischen Selim Pascha und der türkischen Hauptarmee bei Kars gesichert worden. Erinnert man sich, daß sich selbst diese Armee während des Winters und Frühjahrs in einem höchst erbärmlichen Zustand befand, so deutet das Manöver der Russen zumindest darauf hin, daß sie ihre Position in Georgien als nicht weniger unsicher empfanden und daß sie die Verstärkungen von der Küste bitter benötigten. Wenn sich nun die gemeldete Niederlage am Darielpaß als ganz oder auch nur teilweise wahr herausstellt, dann hat sie zur Folge, daß die Armee Woronzow abgeschnitten ist und versuchen muß, sich eine sichere Basis in Tiflis zu verschaffen, um - keine leichte Aufgabe - bis zum nächsten Winter auszuhalten, oder versuchen muß, sich um jeden Preis durch den Paß durchzuschlagen. Dieses Vorgehen wäre unter allen Umständen einem Rückzug nach dem Kaspischen Meer vorzuziehen, da der Paß dorthin noch ungleich gefahrvoller ist als der von Dariel. Über diesen Punkt werden wir uns jedoch erst genauer äußern können, wenn wir umfassendere und authentischere Nachrichten aus jener Gegend haben. Bisher können wir nur feststellen, daß Rußland durch die jüngsten Operationen unbestreitbar zwei Siege errungen hat - einen durch die Anleihe bei Hope & Co. und einen durch den Vertrag Österreichs mit der Pforte, und daß es eine Niederlage erlitten hat - die von Silistria. Ob die Vorteile dieser Siege dauerhaft genug sein werden, um für die Schmach der Niederlage zu entschädigen, kann nur die Zukunft entscheiden.
Geschrieben zwischen dem 14. und 16. Juni 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Der russische Rückzug
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4126 vom 10. Juli 1854, Leitartikel] Die Rückzugsbewegung der Russen in der Türkei ist weit vollständiger, als wir es erwartet hatten, und vollständiger, als es selbst im schlimmsten Falle jetzt vom militärischen Standpunkt aus notwendig erscheint. Offenbar beinhalten die Zusicherung des Zaren an den Kaiser von Österreich und die Befehle an seine Generale auch die völlige Räumung der Moldau und der Walachei, wobei keine russischen Soldaten auf türkischem Boden verbleiben, hingegen eine starke österreichische Streitmacht deren Stelle sofort einnehmen und die vor kurzem noch einander bekämpfenden Gegner trennen wird. Es wäre jedoch ein Irrtum, anzunehmen, daß sich die Russen wegen ihrer Niederlage vor Silistria zurückziehen, oder die prahlerischen Behauptungen der englischen Zeitungen für bare Münze zu nehmen, die diese Niederlage als Flucht hinstellen und die Welt gern glauben machen möchten, daß 15 000 oder höchstens 17000 aus einer Festung ausfallende Soldaten 100000 oder wenigstens 90000 Soldaten in die Flucht jagen könnten. Zweifellos wurden die Russen wieder und wieder blutig und entscheidend zurückgeschlagen, wie sie es auch verdienten durch ihre überstürzten, schlecht durchdachten, aller Kriegs Wissenschaft widersprechenden, verworrenen Angriffe, so tapfer sie auch durchgeführt wurden; die Türken kämpften mit heroischem, unübertroffenem Mut und bewiesen ein solches Maß an militärischem Können, daß diese Belagerung für immer in die Geschichte eingehen wird; doch wir sehen in alledem noch keinen Grund zu glauben, daß sie den Feind gezwungen hätten, die Belagerung aufzuheben. Tatsächlich wurden, wie unsere glaubwürdigste Information lautet, die russischen Batterien am linken Ufer immer noch gehalten und gegen die Festung eingesetzt, auch nach jenem letzten mörderischen Ausfall, bei dem einigen übertriebenen Meldungen zufolge diese Batterien von der Besatzung
angeblich erobert wurden. Die Wahrheit ist offensichtlich, daß die Russen sich vor Silistria letztlich einfach deshalb zurückzogen, weil der Zar mit Österreich übereingekommen war, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sämtliche Truppen aus den Fürstentümern abzuziehen. Er hatte seinen Truppen befohlen, zuvor Silistria zu nehmen, um die Türkei mit dem Prestige wenigstens eines Sieges zu verlassen; das gelang ihnen nicht, und sie mußten abziehen, beladen mit der Schande eines Mißerfolges; doch ihr Marsch war keine Flucht vor einem ihnen auf den Fersen folgenden Feind. Sie konnten Silistria nicht einnehmen und hätten dies vermutlich auch mit einer förmlichen Belagerung nicht vermocht; wahrscheinlich hätten sie in diesem Feldzug nichts gewinnen können und sich in diesem Falle nach dem Sereth zurückziehen müssen; dennoch waren sie stärker als die Alliierten - die Türken und die anderen -, zumindest aber waren sie in der Verteidigung weit stärker. Außerdem waren sie noch nicht auf die Alliierten getroffen, und noch hatte keine entscheidende Schlacht stattgefunden. Es steht deshalb außer Zweifel, daß dieser Rückzug zum Pruth von diplomatischen Erwägungen und nicht von einer militärischen Notwendigkeit diktiert wird, als Folge der Übermacht oder überlegenen Strategie Omer Paschas und seiner Alliierten in der Türkei. Wenn es auch falsch wäre anzunehmen, daß die Russen vor Silistria tatsächlich vertrieben wurden, so wäre es doch ebenso falsch, nicht zu begreifen, daß die Umstände des Krieges überhaupt gegen sie sind und daß ihnen die österreichische Intervention die beste Möglichkeit bietet, ihr Los zu verbessern. Wir sprechen hier nicht von ihren aufeinanderfolgenden Rückschlägen bei Oltenitza, Cetate, Karakal oder Silistria, verhältnismäßig kleine Treffen, wo die Türken sie schlugen und denen sie nirgends ähnlich glanzvolle Erfolge entgegensetzen konnten. Insgesamt brachten all diese Kämpfe keine entscheidenden oder umwälzenden Ergebnisse; doch in Asien haben sie ihr Spiel stets verloren, und jetzt droht der endgültige Verlust. Von ihren zahlreichen Festungen am Schwarzen Meer verbleiben nur zwei; im Innern des Landes aber haben Schamyl und seine Bergvölker nicht nur die nächstliegenden Berge und Täler von dem verhaßten Moskowiter befreit, sondern auch Fürst Woronzow von Rußland abgeschnitten, und marschieren, wobei sie im Süden mit den Türken zusammenwirken, in einer solchen Stärke auf Tiflis zu, die Fürst Woronzow möglicherweise zwingen könnte, sich zu ergeben mit den so schwer eroberten und mühevoll gehaltenen transkaukasischen Besitzungen Rußlands. Diese Provinzen, die so viel Blut und Geld gekostet haben, zu verlieren, wäre für den Zaren wohl eine größere Schande als die Niederlage in einer entscheidenden Schlacht in der Türkei;
und es unterliegt keinem Zweifel, daß er, sobald seine Armeen über den Pruth zurück sind, sofort alle Kräfte, die er von der Verteidigung der Krim und Sewastopols abziehen kann, einsetzen wird, um die Pässe des Kaukasus zurückzuerobern und Woronzow zu unterstützen. Der Erfolg Schamyls hat aller Wahrscheinlichkeit nach viel dazu beigetragen, daß die Russen der österreichischen Sommation, die Fürstentümer zu räumen, nachgekommen sind. In diesem wichtigen Übereinkommen, das die Aussichten des Krieges so verändert und kompliziert, nimmt Österreich eine sehr wichtige und vorteilhafte Stellung ein. Das ist ein großer Sieg seiner Diplomatie und zeugt von dem Respekt, den alle kämpfenden Parteien vor seinen militärischen Ressourcen hegen. Es mischt sich als Freund beider Seiten ein; die Russen ziehen ruhig ab, um ihm Platz zu machen; die Pforte aber folgt nur dem Rat Frankreichs und Englands, wenn sie den Vertrag unterzeichnet, der Österreich die Besetzung der Fürstentümer gestattet. Es ist folglich bewaffneter Vermittler zwischen den Kämpfenden mit deren beiderseitigem Einverständnis, weil jeder die Einmischung als vorteilhaft für sich selber betrachtet. Die Westmächte erklären offen, daß damit Österreich zu ihren Gunsten handelt doch die Übereinkunft, die, wie die Tatsachen beweisen, zwischen St.Petersburg und Wien in dieser Hinsicht bestanden hat, noch ehe der Welt bekannt war, daß eine solche Einmischung überhaupt stattfinden wird, und noch ehe die Armee unter Paskewitsch bei Silistria zurückgeschlagen worden war, läßt uns nicht daran zweifeln, daß auch Rußland der Auffassung ist, Österreich handle zu seinen Gunsten. Wer also ist dann der Betrogene, und welche Seite wird von Österreich verraten werden? Natürlich verfolgt Österreich wie jede andere Macht ausschließlich seine eigenen Interessen. Diese Interessen erfordern einerseits, daß Rußland die Fürstentümer nicht besetzt halte und die Zugänge zur Donau und zum Schwarzen Meer nicht kontrolliere, da ein großer und zunehmender Teil des österreichischen Handels in diese Richtung geht. Außerdem könnte eine Annexion der Türkei oder eines Teiles von ihr durch Rußland zu Unruhen unter den slawischen Stämmen des österreichischen Reiches führen, unter denen der Panslawismus oder die Idee einer Vereinigung mit Rußland bereits zahlreiche Anhänger besitzt. Es ist deshalb klar, daß Österreich niemals der Einverleibung der Türkei durch Rußland zustimmen kann, wenn es nicht gleichzeitig an anderer Stelle einen gleichwertigen Land- und Machtzuwachs erhält, was unmöglich ist. Doch andrerseits bekundet die österreichische Politik dem Zaren ihre ganze Sympathie, während sie Frankreich und England ablehnend gegenübersteht; es wird in Wahrheit immer gegen die West
mächte eingestellt sein. Daß Rußland zur Strafe für den Beginn eines nutzlosen Krieges gedemütigt worden ist, kann in Wien kein Grund zur Trauer sein; doch Österreich wird es niemals dulden, daß Rußland ernsthaft geschwächt wird, da die Habsburger in diesem Falle ohne einen Freund wären, der ihnen aus dem nächsten revolutionären Strudel heraushelfen könnte. Diese kurze Darlegung scheint uns die Motive zu enthalten, von denen sich das Wiener Kabinett während der gesamten weiteren Entwicklung des Krieges leiten lassen muß. Es wird eine oder beide der kriegführenden Seiten verraten, und dies gerade so weit, wie es die Interessen Österreichs und der kaiserlichen Dynastie erheischen, nicht mehr. Die Tatsache, daß Rußland sich zurückzieht und seine Übergriffe einstellt und die geräumten Provinzen an Österreich übergeben werden, verpflichtet letzteres gleichzeitig, jede weitere Schädigung Rußlands zu verhindern. Österreich mag dem Namen nach weiterhin Freundschaft mit den Alliierten halten, doch es liegt in seinem Interesse, daß diesen jeder weitere Angriff auf den Zaren mißlinge, und wir dürfen sicher sein, daß es, bis auf eine tatsächliche Kriegserklärung, auf die es in keinem Fall zurückzugreifen wagt, alles zum Mißlingen solcher Angriffe tun wird. Es muß also die Westmächte verraten; sie sind in dem Vertrag, der einer österreichischen Armee die Besetzung der türkischen Provinzen gestattet, die Betrogenen; und das wird ihnen im Verlauf des Krieges zur gegebenen Zeit offenbar werden. Offensichtlich sollte nach dem Plan des englischen Premierministers Lord Aberdeen der Krieg nicht fortgeführt werden, sondern der Streit nun dem Wunsche Österreichs entsprechend auf der Grundlage des Status quo beigelegt werden, wobei das Protektorat über die Fürstentümer möglichst von Rußland auf das Haus Habsburg übertragen werden soll. Diesen Plan können wir jedoch wegen der eigenen Bloßstellung Lord Aberdeens in seiner berüchtigten Rede und der darauffolgenden Parlamentsdebatte, von der wir in dieser Zeitung einen vollständigen Bericht geben1, als gescheitert betrachten. Das britische Volk, durch diese Enthüllungen erregt, wird zumindest gegenwärtig nicht damit einverstanden sein, Frieden zu schließen, ohne daß für die enormen Summen, die ihm der Krieg kostet, bestimmte Ergebnisse erzielt wurden, die mehr als nur die Wiederherstellung der früheren Lage bedeuten. Das britische Volk hält es für unerläßlich, Rußland kampfunfähig zu machen, damit es so bald nicht wieder die Welt derart beunruhigen kann; es erwartet ungeduldig einige glänzende Waffentaten, wie etwa die Eroberung Kronstadts oder Sewastopols. Ohne solch einen greifbaren Lohn für seine Teil
1 Siehe vorl. Band, S. 299-307
21 Marx/Engels, Werke, Band 10
nähme am Krieg wird es jetzt nicht damit einverstanden sein, Frieden zu schließen. Diese Stimmung des Volkes wird wahrscheinlich sehr bald zu einem Wechsel im Ministerium und zu einer Verlängerung des Krieges führen. Doch das bedeutet keineswegs, daß Rußland durch die Verlängerung des Krieges härtere Schläge erhalten wird, als es bereits erlitten hat - es sei denn, daß die Türken und Tscherkessen seine transkaukasischen Provinzen ohne jede westliche Hilfe erobern. Und wenn wir die Männer, die, nachdem sich Lord Aberdeen ins Privatleben zurückgezogen hat, wahrscheinlich in London an der Macht bleiben, nach ihren Taten seit Beginn des Krieges beurteilen, so bestünde kein Grund zur Überraschung, wenn wir eines schönen Tages erlebten, daß sie einen Friedensvertrag auf der gleichen Grundlage unterzeichnen, für deren Unterstützung Lord Aberdeen jetzt aus dem Amt getrieben wird. Bis jetzt ist die österreichische Diplomatie erfolgreich gewesen; es ist sehr wahrscheinlich, daß sie auch den endgültigen Sieg davontragen wird.
Geschrieben zwischen dem 19. und 23. Juni 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Der Krieg - Parlamentsdebatte
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4126 vom 1 O.Juli 1854] London, Dienstag, 27. Juni 1854. Der russische „Moniteur" von Bukarest erklärt offiziell, daß entsprechend den Ordern aus St. Petersburg die Belagerung von Silistria aufgehoben, Giurgewo geräumt und die gesamte russische Armee im Begriff ist, über den Pruth zurückzugehen. Die „Times" veröffentlichte gestern in einer dritten Auflage eine ähnlich lautende telegraphische Depesche ihres Wiener Korrespondenten, daß „der Kaiser von Rußland Österreichs Sommation aus Hochachtung vor seinem alten Bundesgenossen akzeptiere und seine Truppen beordert habe, über den Pruth zurückzugehen". Lord John Russell bestätigte gestern abend im Unterhaus die Mitteilung über die Aufhebung der Belagerung von Silistria, hatte aber noch keine offizielle Benachrichtigung über die Antwort Rußlands auf die österreichische Sommation erhalten. Im Ergebnis der österreichischen Intervention wird zwischen den Türken und den Russen eine Barriere errichtet, um den ungehinderten Rückzug der letzteren zu gewährleisten, ihnen zu ermöglichen, die Besatzung von Sewastopol und der Krim zu verstärken und eventuell ihre Kommunikationen zur Armee Woronzows wiederherzustellen. Außerdem kann man die Wiederherstellung der Heiligen Allianz zwischen Rußland, Österreich und Preußen in dem Augenblick als sicher annehmen, wo die verbündeten Mächte sich weigern, sich mit der einfachen Wiederherstellung des Status quo ante bellum1, möglicherweise mit einigen kleinen Konzessionen des Zaren zugunsten Österreichs, abzufinden.
Das ganze, wie es heißt, von Metternich entworfene Gefüge für diese vortreffliche „Lösung" ist jetzt jedoch durch die Schwatzhaftigkeit des alten Aberdeen und die Intrigen Palmerstons zusammengestürzt. Man wird sich erinnern, daß bei der letzten Umbildung des Ministeriums die Bemühungen fehlschlugen, Lord Palmerston in das Kriegsministerium zu bringen, nach dessen Errichtung insbesondere diePalmerston-Presse schrie, und daß der Peelit Herzog von Newcastle den edlen Lord in dem ihm zugedachten neuen Amt ausstach. Dieser Fehlschlag scheint Lord Palmerston daran gemahnt zu haben, daß es höchste Zeit sei, das ganze Kabinett aufzulösen, und deshalb entfesselte er einen wahren Sturm gegen dessen Oberhaupt, wozu sich ihm Gelegenheit bot, als Lord Aberdeen in einer unüberlegten Rede Lord Lyndhurst entgegentrat[147]. Die ganze englische Presse bemächtigte sich augenblicklich dieser Rede. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, daß der „Morning Herald" über das Vorhandensein einer Verschwörung gegen Lord Aberdeen berichtete, noch ehe die Rede gehalten war. Herr Layard trat vergangenen Freitag im Unterhaus auf und meldete für nächsten Donnerstag einen Antrag an, daß
„die Äußerungen des ersten Ministers der Krone geeignet seien, in der Öffentlichkeit ernste Zweifel hinsichtlich der Aufgaben und Ziele des Krieges hervorzurufen und die Aussichten auf einen ehrenhaften und dauerhaften Frieden zu verringern".
Dieser Antrag hat zwei wunde Punkte: erstens ist er verfassungswidrig und kann daher leicht zurückgewiesen werden, da er der parlamentarischen Regel widerspricht, die verbietet, daß ein Mitglied des Unterhauses eine im Oberhaus gehaltene Rede kritisiert; und zweitens gibt er vor, zwischen der gelegentlichen Äußerung des Premiers und der ganzen Tätigkeit des Koalitionskabinetts einen Unterschied zu machen. Nichtsdestoweniger rief er bei Lord Aberdeen so ernste Befürchtungen hervor, daß der Lord zwei Stunden nach Ankündigung des erwähnten Antrages sich erhob und in ungewöhnlich erregtem Ton mitteilte,
„er werde nächsten Montag" (somit Herrn Layard um drei Teige zuvorkommend) „dem Haus eine Kopie seiner Depesche vorlegen, die er nach dem Vertrag von Adrianopel an Rußland geschickt hat, und die Gelegenheit wahrnehmen, auf die Entstellungen seiner Bemerkungen über den Krieg einzugehen, die er kürzlich im Oberhaus machte".
So stark war der Glaube, daß der Antrag des Herrn Layard die Entfernung Lord Aberdeens aus dem Kabinett verursachen werde, daß zum Beispiel der „Morning Advertiser" bereits die Liste des Ministeriums
veröffentlichte, das ihm folgen sollte; eine Liste, die die Namen Lord John Russell als Premier und Lord Palmerston als Kriegsminister aufweist. Man kann sich daher vorstellen, daß die Sitzung des Oberhauses gestern abend eine ungewöhnlich große Zahl neugieriger und erregter Intriganten aus den Reihen der Aristokratie herbeilockte, die erpicht waren mitanzusehen, wie Lord Aberdeen sich aus seiner schwierigen und heiklen Lage ziehen würde. Ehe ich ein Resümee von der Rede Lord Aberdeens und vom Angriff des Marquis von Clanricarde auf jenen gebe, muß ich auf die Zeit und die Umstände zurückkommen, auf die beide Sprecher besonders Bezug nahmen, nämlich auf das Jahr 1829, da Lord Aberdeen an der Spitze des britischen Ministeriums des Auswärtigen stand. Zu dieser Zeit blockierte eine russische Flotte unter dem Kommando von Admiral Heyden die Dardanellen, die Meerbusen von Laros und Enos und auch die von Adramiti und Smyrna, ungeachtet eines zwischen den Kabinetten von St. Petersburg und London 1815 getroffenen Übereinkommens, dem zufolge Rußland im Mittelländischen Meer keinerlei militärische Aktionen unternehmen sollte. Diese Blockaden, die den britischen Handel in der Levante bedrohten, erregten die sonst träge Meinung des damaligen Englands, und es kam zu stürmischen Erklärungen gegen Rußland und gegen das Ministerium. Deshalb fanden Zusammenkünfte zwischen den russischen Gesandten Fürst Lieven und Graf Matuschewitsch einerseits und Wellington und Aberdeen andrerseits statt. In einer Depesche aus London vom 1. (13.) Juni 1829 berichtet Fürst Lieven über den Charakter dieser Zusammenkünfte wie folgt:
„Die Unterredung mit Lord Aberdeen, die etwa eine Stunde später stattfand" (als jene mit dem Herzog von Wellington, die für den russischen Diplomaten durchaus nicht sehr befriedigend verlaufen war), „war nicht weniger bemerkenswert. Da er nur unvollkommen über unsere Unterredung mit dem ersten Minister unterrichtet war, bemühte er sich, als er deren Einzelheiten erfuhr, den unangenehmen Eindruck, der zu Beginn der Unterredung vielleicht durch seine Worte bei uns zurückgeblieben war, durch die wiederholte Versicherung abzuschwächen, daß es zu keiner Zeit die Absicht Englands gewesen sei, Streit mit Rußland zu suchen; daß, wenn das Ministerium versucht hat, uns zu veranlassen, nicht auf der Blockade von Enos zu bestehen, dies in dem aufrichtigen Wunsche geschah, lästige Beschwerden zu verhindern und das gute Einvernehmen zwischen den beiden Kabinetten zu festigen, daß wir uns mehr, als wir uns dessen vielleicht bewußt seien, zu den Vorteilen gratulieren sollten, die wir durch diese glückliche und beständige Übereinstimmung erzielt haben. Er schmeichelte sich, daß er die Erhaltung dieser Harmonie höher stellen könne als die momentanen Vorteile, die uns die Blockade des Meerbusens von Enos geboten hätte; doch er fürchte, daß die Haltung des englischen Ministeriums in St. Petersburg nicht richtig verstanden würde. Die Einwände, die er manchmal, wie in der eben beigelegten Sache, erhoben habe,
schrieben sie seinen böswilligen Absichten und feindlichen Ansichten zu, während diese Absichten und arriere-pensees1 seinem Wesen und seiner Politik sehr fern lägen. Andrerseits jedoch befinde er sich in einer heiklen Situation. Die öffentliche Meinung sei immer bereit, sich gegen Rußland zu entladen. Die britische Regierung könnte sie nicht ständig herausfordern, und es wäre gefährlich, sie in Fragen" (des Seerechts) „zu reizen, die so unmittelbar die nationalen Vorurteile berühren. Andrerseits könnten wir mit der wohlmeinenden und freundlichen Gesinnung des englischen Ministeriums rechnen, das gegen sieu (die nationalen Vorurteile) „ankämpfe. ,Ich kenne', erwiderte ich, ,das Gewicht der öffentlichen Meinung in England, und ich habe gesehen, wie sie sich in wenigen Tagen ändert. Sie ist in diesem Kriege gegen uns, weil sie uns für Aggressoren hält, während wir angegriffen worden sind; weil sie uns beschuldigt, das Ottomanische Reich vernichten zu wollen, während wir erklären, daß das nicht unser Ziel ist; letztlich, weil sie glaubt, daß wir eine ehrgeizige Politik betrieben, wogegen wir jedoch protestieren. Die öffentliche Meinung in dieser Hinsicht aufzuklären wäre der sicherste Weg, sie zu ändern.' Lord Aberdeen antwortete mir, die Sache verhielte sich nicht ganz so, wie ich sie dargestellt habe; die öffentliche Meinung sei gegen uns, weil sie im allgemeinen in England voll Eifer die Partei der Wighs ergriffe - doch au reste2 sei das britische Kabinett weit davon entfernt, uns keinen Erfolg zu wünschen; im Gegenteil, es wünsche uns schnellen und entscheidenden Erfolg, weil es wisse, daß dies das einzige Mittel zur Beendigung des Krieges sei, den man nicht anders denn als ein großes Unglück ansehen könne, da es unmöglich sei, seine Folgen vorauszusehen! Zum Abschluß erging sich der englische Minister in langen Schlußfolgerungen, um zu beweisen, daß wir ihm Absichten zuschrieben, die er nicht haben könne, und schloß mit der Feststellung, daß das Londoner Kabinett wünsche, daß der Krieg zur Ehre und zum Vorteil Rußlands beendet würdet148!." Es ist seltsam, daß keiner der Gegner Lord Aberdeens es für angebracht hielt, auf diese Depesche zurückzukommen, die so überzeugend gegen sein Benehmen in der Zeit vor dem Vertrag von Adrianopel spricht, daß man dem Inhalt einer geheimen Depesche Seiner Lordschaft, die nach dem Abschluß dieses Vertrages geschrieben war, unmöglich noch irgendwelche Bedeutung beimessen konnte. Die Vorlage der oben zitierten Depesche hätte mit einem Schlag das einzige Argument zerschlagen, das Lord Aberdeen in seiner gestrigen Rede zu seiner Verteidigung vorbringen konnte. Seine wahre Verteidigung wäre eine offene Gegenklage gegen Lord Palmerston gewesen, denn der ganze „Auftritt" spielte sich ausschließlich zwischen diesen beiden alten, miteinander rivalisierenden Knechten Rußlands ab. Lord Aberdeen begann damit, daß er sagte, er habe weder etwas zurückzunehmen, noch etwas zu widerlegen, sondern nur etwas zu „erklären". Er sei fälschlicherweise beschuldigt worden, die Ehre beansprucht zu haben, den
1 Hintergedanken - 2 im übrigen
Vertrag von Adrianopel entworfen zu haben. Statt ihn aber entworfen zu haben, habe er gegen ihn protestiert, wie Ihre Lordschaften aus der Depesche entnehmen würden, deren Vorlage er jetzt beantragt habe. So groß sei die Bestürzung gewesen, die dieser Vertrag bei ihm und seinen Kollegen hervorgerufen, daß durch sein Vorhandensein die ganze Politik der Regierung in einem höchst wichtigenPunkt geändert wurde. Worin bestand diese Änderung der Politik? Vor der Unterzeichnung des Vertrags von Adrianopel hätten er, Lord Aberdeen, und der Herzog von Wellington, darin der Politik Cannings folgend, nie die Absicht gehabt, Griechenland zu einem unabhängigen Königreich zu machen, sondern nur zu einem Vasallenstaat unter der Suzeränität der Pforte, ähnlich etwa wie die Moldau und die Walachei. Nach der Unterzeichnung des Vertrags von Adrianopel erschien ihnen die Lage des Türkischen Reiches so gefährlich und seine Existenz so unsicher, daß sie vorschlugen, Griechenland aus einem Vasallenstaat in ein unabhängiges Königreich umzuwandeln. Mit anderen Worten, es wurde, da der Vertrag von Adrianopel so sehr zur Schwächung der Türkei beitrug, beschlossen, seinen gefährlichen Folgen durch die Abtrennung ganzer Provinzen von ihr entgegenzuwirken. Das war die „Änderung". Obgleich ihre Besorgnis vor den Folgen dieses Vertrags übertrieben gewesen sei, so sei Lord Aberdeen doch weit entfernt davon, ihn nicht als im höchsten Grade unheilvoll und schädlich anzusehen. Er habe gesagt, „Rußland habe durch diesen Vertrag keine großen Gebiete erworben", und auch jetzt bestreite er, daß das Russische Reich sich in Europa im Laufe der letzten fünfzig Jahre stark vergrößert habe, wie Lord Lyndhurst behauptet habe. (Bessarabien, Finnland und das Königreich Polen scheinen nach Ansicht des edlen Lords keine bedeutenden Erwerbungen zu sein.) Aber, wie er in seiner Depesche vom Dezember 1829 gesagt hatte, wenn die Gebietserwerbungen Rußlands auch klein seien, so seien sie doch von großer Bedeutung - die eine verschaffe Rußland „ausschließliche Herrschaft über die Donauschiffahrt, und die anderen verschafften ihm Häfen in Asien, die, obwohl klein, doch von großer politischer Bedeutung seien". (Das gewaltige, im Kaukasus erworbene Gebiet ist wiederum dem Gedächtnis Lord Aberdeens entschwunden.) Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, behauptet er, daß der Vertrag von Adrianopel der Beginn einer Änderung der Politik Rußlands gewesen sei, das seit diesem Vertrag mehr auf die Erweiterung seines politischen Einflusses als auf Gebietserwerbungen bedacht gewesen sei. Diese Änderung der Politik war keine Änderung der Absichten. „Satan war nur weiser geworden als in früheren Tagen." Die Tatsache, daß Rußland mit Karl X. einen Plan zur Eroberung der Türkei verabredet hatte - nicht auf
dem Wege gewaltsamer Eroberungen, sondern durch eine Reihe von Verträgen wird mit Stillschweigen übergangen. Auch hielt es Lord Aberdeen nicht für angemessen zu erwähnen, daß Rußland sich sogar vor dem Vertrag von Adrianopel und dem Vertrag von Hunkiar Iskelessi, die er zum Beweis für die Änderung der russischen Politik anführt, bereits 1827 gegenüber Frankreich und England verpflichtet hatte, nicht danach zu trachten, durch den Krieg gegen die Türkei noch weiteres Gebiet zu erobern, und daß es ohne die Erlaubnis Englands niemals in der Lage gewesen wäre, 1833 eine Armee gegen Konstantinopel zu schicken. Lord Aberdeen erklärte weiter, daß sein Ausdruck, „wenn wir einen Frieden erzielen konnten, der fünfundzwanzig Jahre dauert, wie dies mit dem Vertrag von Adrianopel der Fall war, so wäre das nicht schlecht", fälschlicherweise in dem Sinne ausgelegt worden sei, daß er zu einem Vertrag, gleich dem von Adrianopel, zurückkehren wolle. Er hätte nur sagen wollen, daß „sie in Anbetracht der Unbeständigkeit der menschlichen Angelegenheiten nicht schlecht gehandelt hätten, wenn sie durch irgendeinen Vertrag, dessen Abschluß ihnen das Kriegsglück ermöglichen würde, einen Frieden für fünfundzwanzig Jahre gewährleisten könnten. Er hätte nie eine Rückkehr zum Status quo empfohlen, es auch nicht an Einwänden gegen den Status quo fehlen lassen. Vor der Kriegserklärung sei der Status quo alles gewesen, was sie erhofft oder gewünscht hätten, und alles, was sie zu erreichen versuchten, und es war das, was die türkische Regierung zu geben bereit war, und es war viel mehr, als die Russen zu erwarten berechtigt waren. Doch vom Moment der Kriegserklärung an hat sich die ganze Frage von Grund auf geändert, und alles hing vom Krieg ab... Wie weit sie schließlich vom Status quo abgehen werden, könne niemand sagen, da das von Ereignissen abhänge, deren absolute Kontrolle nicht in ihrem Machtbereich liege. Er könne nur sagen, daß die Unabhängigkeit und Integrität des Ottomanischen Reiches gesichert werden müssen, wirksam gesichert werden müssen."
Wie sie zu sichern seien, könne er, Lord Aberdeen, nicht sagen, da das wiederum von den Ereignissen des Krieges abhänge. Er sei so verstanden worden, als' ob er einigen Zweifel oder Unglauben hinsichtlich der Gefahr eines russischen Angriffs zum Ausdruck gebracht habe, tatsächlich aber hege er die größte Besorgnis vor einem russischen Angriff auf die Türkei, obgleich er hinsichtlich der Gefahr eines russischen Angriffs auf Europa keine große Besorgnis empfinde und „dazu neige, sie von Tag zu Tag weniger zu empfinden". Er betrachte Frankreich als mächtiger denn Rußland und Österreich zusammengenommen. Der edle Lord beklagte sich dann „über die außerordentliche Abgeschmacktheit und Bösartigkeit der persönlichen Bezichtigungen, denen er ausgesetzt worden sei".
Wahr sei, daß es keinen größeren Friedensstifter im Lande gäbe als ihn, aber gerade seine Friedensliebe mache ihn besonders geeignet, den Krieg in der energischsten Weise weiterzuführen.
„Seine Kollegen würden zugeben, daß er persönlich dringender vielleicht als jeder andere ein schnelles Vorrücken und die Konzentration der verbündeten Mächte auf dem Balkan gefordert hätte, um die tapfere Armee Omer Paschas zu unterstützen und Österreich die Hand zu reichen, um ihm zu ermöglichen, aktiver an den Kriegsoperationen teilzunehmen." Dies sei der Kurs, auf dem er unveränderlich bestehe. Auf die Anfrage Lord Beaumonts erklärte er, daß, „so vertraut er auch früher mit Fürst Metternich gewesen sei, so habe er doch während der vergangenen 18 Monate, seit er im Amt sei, weder direkt noch indirekt mit ihm in Verbindung gestanden, bis ihm vor ein paar Tagen eine Bekannte erzählte, sie wolle an Metternich schreiben, und ihn fragte, ob er dem Fürsten etwas mitzuteilen habe, worauf er sagte: .Bitte, empfehlen Sie mich ihm bestens!"'
Im ganzen wurde Aberdeens Rede vom Hause günstig aufgenommen; merkwürdig aber ist, daß auf die bissige Antwort, die ihm der Marquis von Clanricarde gab - ein enttäuschter Stellenjäger und Lord Palmerstons früherer Gesandter in St. Petersburg -, kein Mitglied des Kabinetts erwiderte und daß keines von ihnen auftrat, um Aberdeen zu bezeugen, daß er der erste gewesen sei, einen energischen Krieg zu fordern. Der Marquis von Clanricarde beschäftigte sich hauptsächlich mit Aberdeens Teilnahme am Vertrag von Adrianopel, der allgemeinen Einschätzung seiner politischen Vergangenheit und den Mängeln in seiner jetzigen Administration. Er sagte, Lord Aberdeen habe jetzt zu seiner eigenen Rechtfertigung und aus einem rein persönlichen Motiv eine Depesche vorgelegt, welche er vor einigen Monaten anderen Mitgliedern beider Häuser verweigert habe. Es sei übrigens ganz gleichgültig, was der edle Lord im Dezember 1829 nach St. Petersburg geschrieben habe, nachdem der Vertrag von Adrianopel im September unterzeichnet worden sei. Das Wesen der Frage sei, was für Instruktionen er dem englischen Gesandten zu jener Zeit gegeben hätte und welche Schritte er unternommen habe, um die Unterzeichnung des Vertrags zu verhindern. Der in Adrianopel kommandierende russische General hätte über nicht mehr als 15000 Mann verfügt, und davon seien etwa 5000 bis 6000 abzurechnen gewesen, die wegen Krankheit oder Verwundung buchstäblich hors de combat1 gewesen seien. Der türkische General befand sich
1 kampfunfähig
andrerseits mit 25000 Albaniern ganz in der Nähe. Der russische General gab der Türkei eine ganz kurze Frist für die Entscheidung - zu unterzeichnen oder nicht zu unterzeichnen, da er wußte, daß seine wirkliche Lage entdeckt werden könnte, wenn er eine lange Frist gewährte. Folglich gewährte er nicht mehr als fünf bis acht Tage. Der türkische Minister in Konstantinopel berief den österreichischen und den englischen sowie den preußischen Gesandten in seinen Rat und fragte sie um ihre Meinung. Der englische Gesandte, von Lord Aberdeen instruiert, riet, jenen Vertrag, von dem der edle Lord jetzt erklärt, er sei so verhängnisvoll gewesen, so schnell wie möglich zu unterzeichnen. Der edle Marquis vermied es, auf den Umstand hinzuweisen, daß es gerade die heftige Anklage war, die sein Freund Palmerston, damals in der Opposition, gegen Lord Aberdeen wegen dessen noch zu russenfeindlicher Gesinnung richtete, die den letzteren bewog, Anweisung zur Unterzeichnung des Vertrags zu geben. Der Marquis fuhr fort, dem Premier vorzuwerfen, er sei immer der eifrigste, beständigste und mächtigste Anhänger der despotischen Regierungen Europas gewesen, wofür er als Beweis die Geschichte Portugals, Belgiens und Spaniens einführte und auf Aberdeens Opposition gegen die berühmte Quadrupelallianz von 1834 anspielte18'1. Es bedurfte gewiß der ganzen kühlen Unverschämtheit eines alten Whig-Lords, in diesem Augenblick über die Herrlichkeit Belgiens, den Konstitutionalismus in Portugal und Spanien und die allgemeinen Segnungen zu frohlocken, die Europa der Quadrupelallianz verdanke, die, wie Palmerston fälschlicherweise zu seiner Verteidigung angab, von Talleyrand und nicht von ihm ausgedacht worden sei. Zu den Operationen des jetzigen Krieges sagte Clanricarde, der Feldzugsplan sei von den höchsten Militärbehörden Rußlands im Dezember vergangenen Jahres entworfen worden, und die britische Regierung sei von diesem Plan verständigt worden, der nicht auf die bloße Besetzung der Fürstentümer, sondern auf die Überschreitung der Donau, die Eroberung Silistrias, die Umgehung Schumlas und den Marsch auf den Balkan abziele. Der edle Lord, der im Besitz dieser Information war, sei hier im Haus erschienen, um vom Frieden zu reden, wobei er verabsäumt habe, von den Anweisungen zu berichten, die das Kabinett in jener Zeit bis Ende Februar oder Anfang März dem Kriegsministeriüm gab. Hätte es Lord Clanricarde vorgezogen, sich der Antworten zu erinnern, die Lord Palmerston Herrn Disraeli im Unterhaus und Lord Clarendon ihm selbst im Oberhaus gab, so hätte er nicht die Lächerlichkeit begangen, nur Lord Aberdeen dieser Pflichtverletzungen anzuklagen und seine Whig
Freunde von einem Tadel auszunehmen, den gleichermaßen das ganze Kabinett verdiente. „Wenn", so rief der Marquis aus, „wenn die Regierung vor fünfzehn Monaten einen geeigneten, er möchte fast sagen, einen ehrlichen Weg eingeschlagen hätte, hätte es nie einen Krieg gegeben." Nun, das sind genau dieselben Worte, die Herr Disraeli an Lord John Russell richtete. Zum Schluß besaß der Marquis noch die Abgeschmacktheit, Lord Aberdeen persönlich und ausschließlich alle Fehlschläge der Koalition und ihre fortgesetzten Niederlagen im Parlament in allen wichtigen Fragen zur Last zu legen. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß bereits bei der Bildung des ^Kabinetts jeder vernünftige Mensch erklärte, es werde sich keine sechs Wochen halten können, es sei denn, es lasse alle Fragen der Gesetzgebung offen und enthalte sich aller Politik. Nach einer albernen Rede Lord Broughams, der seine Zufriedenheit über Aberdeens erste Rede, aber noch mehr über seine zweite, zum Ausdruck brachte, wurde das Thema fallengelassen. Die ernste Folge dieses ganzen Zwischenfalls ist die Vereitlung der Festlegungen des in Wien verfaßten geheimen Protokolls und folglich die Fortsetzung der Feindseligkeiten und eines Krieges, dessen schneller Beendigung man so vertrauensvoll entgegensah, daß die Consols trotz bedeutender Anleihen auf dem Markt um 3 Prozent stiegen und in den militärischen Klubs Wetten abgeschlossen wurden, daß der Krieg keine vier Wochen mehr dauern würde. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Der Aufstand in Madrid - Die russische Anleihe Der österreichisch-türkische Vertrag Die Moldau und die Walachei]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4134 vom 19. Juli 1854] London, Dienstag, 4. Juli 1854. Der lang erwartete Militäraufstand zu Madrid ist endlich unter der Führung der Generale O'Donnell und Dulce durchgeführt worden.11491 Die französischen Regierungsjournale beeilen sich, uns mitzuteilen, daß nach ihren Informationen die spanische Regierung bereits die Gefahr überwunden hat und der Aufstand unterdrückt ist. Aber der Madrider Korrespondent des „Morning Chronicle", der einen ausführlichen Bericht von der Erhebung gibt und die Proklamation der Insurgenten bringt, meint, daß sich diese nur aus der Hauptstadt zurückgezogen haben, um sich mit der Garnison von Alcala zu vereinigen, und daß, falls Madrid passiv bleiben sollte, sie keine Schwierigkeiten haben würden, Saragossa zu erreichen. Sollte diese Bewegung erfolgreicher sein als die letzte Rebellion in jener Stadt11501, so würde dies eine Ablenkung der militärischen Aktion Frankreichs verursachen, einen Anlaß für Meinungsverschiedenheiten zwischen Frankreich und England bieten und wahrscheinlich auch die schwebende Verwicklung zwischen Spanien und der Regierung der Vereinigten Staaten beeinflussen. Es stellt sich jetzt heraus, daß die neue russische Anleihe noch nicht endgültig von den Herren Hope aus Amsterdam kontrahiert worden ist, wie ich nach den Bekanntmachungen der Londoner und Manchester Börse angenommen hatte1, und daß diese Bankiers der russischen Schatzkammer auch keinen Teilbetrag vorgeschossen haben. Sie übernahmen es lediglich, sie an den verschiedenen europäischen Börsen herauszubringen, ohne aber selbst ein Risiko zu übernehmen. Der Erfolg der Anleihe wird als sehr zweifelhaft
Die russische Anleihe - Der österreichisch-türkische Vertrag 309
dargestellt, und wir haben gehört, daß sie in Berlin und Frankfurt sehr ungünstig aufgenommen wurde. Der Hamburger Senat hat ihre offizielle Notierung verboten, und die englischen diplomatischen Vertreter und Konsuln haben, nach dem „Morning Chronicle", Warnungen an die britischen Untertanen erlassen, eine Anleihe zu zeichnen, „die dazu bestimmt ist, den Krieg gegen die Königin fortzusetzen". Die Nachrichten über die Bewegungen der russischen Truppen seit der Aufhebung der Belagerung von Silistria sind widerspruchsvoll. Nachdem der „Moniteur" den Rückzug der Russen hinter den Pruth gemeldet hatte, erklärt die Wiener „Presse", daß nicht der geringste Grund vorhanden war, an die Tatsache einer solchen Bewegung zu glauben. Es zeigt sich im Gegenteil, daß nicht einmal die Evakuierung der Walachei beabsichtigt ist; General Liprandi hat eine Stellung bei Plojeschti und Kimpina bezogen und seine Vorposten am Eingang des Rotenturm-Passes stationiert, während von der Hauptarmee, zurückgezogen über Slobodzia und entlang dem linken Donauufer, gemeldet wird, daß sie bei Braila haltgemacht hat. Andrerseits hat das Korps von Lüders, das die Dobrudscha besetzt hält, noch nicht die Linie von Trajanswall aufgegeben, und es ist nicht wahrscheinlich, selbst im Falle eines weiteren Rückzuges, daß sie Matschin und Isaktscha aufgeben werden. Es heißt, daß frische Truppen in die Moldau strömen, wo man, wie es der Plan der Russen zu sein scheint, eine starke Streitkraft konzentrieren will. Das Korps des Generals Panjutin ist von Podolien aus eingedrungen, und zusätzliche Hilfskräfte werden aus Bessarabien herangezogen. Die gesamte Streitmacht der Russen in der oberen Moldau zwischen Jassy, Roman und Botosani soll 60000 Mann betragen, und eine Division von 20000 Mann lagert in der Nähe von Kamenez. „Paskewitsch", so schreibt die „OstDeutsche Post"I151], „hat erklärt, daß er in keinem Fall die Mündung der Donau aufgeben wird." Der Rückzug wird von den Russen nur als eine Auswirkung der Pest erklärt, die an der oberen Donau ausgebrochen ist. Vorläufig ist es noch ganz unbestimmt, was die Österreicher unternehmen. Man sagt, das Coroninische Korps habe Order, in Orsova auf Dampfern eingeschifft zu werden, um den Fluß abwärts nach Giurgewo zu gelangen; von da soll es nach Bukarest marschieren. Der „Corriere Italiano", ein österreichisches Regierungsorgan, verkündet, der Zweck dieser Maßregel sei bloß der, eine neutrale Position in der Walachei einzunehmen; gleichzeitig aber hören wir, Rußland habe das österreichische „Ultimatum" abgelehnt. Eine im „Morning Chronicle" veröffentlichte Depesche sagt: „ In seiner Antwort auf die österreichische Sommation erklärt der russische Kaiser seine Bereitwilligkeit, mit den vier Mächten über alle Punkte zu verhandeln, außer
über die Privilegien der christlichen Untertanen des Sultans. Über diesen Gegenstand will er bloß mit der Pforte direkt verhandeln und lehnt es ab, die vier Mächte als Zwischenhändler zuzulassen. Ebenso lehnt er es ab, Garantien für die Räumung der Fürstentümer zu geben."
Nun kann es infolge dieser Ablehnung sehr leicht zu einem Scheinkrieg zwischen Österreich und Rußland kommen, der dann möglicherweise in ein ebenso bemerkenswertes rencontre1 ausläuft wie jene berühmte Affäre von Bronzell, die den Scheinkrieg zwischen Preußen und Österreich11521 im Jahre 1850 schon zu einer Zeit beendete, als sich die Zeitungen noch in Vermutungen über den schrecklichen Ausgang der großen „mitteleuropäischen Krise" verloren. Statt daher ähnliche Spekulationen über die mögliche Bedeutung der jetzigen Politik Österreichs anzustellen, wenden wir uns lieber dem österreichisch-türkischen Vertrag vom i 4. Juni zu, der nun vollständig und offiziell bekanntgegeben wurde. Zwei Punkte sind hier zu beachten - die Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei und die Beziehungen der Bevölkerung der Moldau und der Walachei zur Türkei und zu Österreich oder zu anderen fremden Mächten; dieser letzte Punkt wird merkwürdigerweise von der durch die Diplomatie beherrschten öffentlichen Meinung Europas total vernachlässigt. Durch den ersten Artikel des Vertrages verpflichtet sich der Kaiser von Österreich, „alle Mittel der Unterhandlung und auch sonst zu erschöpfen, um die Räumung der Donaufürstentümer von der sie besetzenden fremden Armee zu bewirken und nötigenfalls die zur Erreichung dieses Zwecks erforderliche Truppenzahl zu verwenden".
Der Kaiser von Österreich wird hierdurch ermächtigt, eine beliebige Anzahl Truppen in die Walachei einmarschieren zu lassen, ohne vorherige Kriegserklärung von seiner Seite an Rußland. So wird ein türkischer Vasallenstaat einer Operation unterworfen, die ihn zu einem neutralen Besitz unter Österreich und gegen die Türkei verwandelt. Der zweite Artikel besagt:
„für diesen Fall wird dem kaiserlichen Oberkommandanten die ausschließliche Leitung der Operationen seiner Armee zustehen. Derselbe wird jedoch Sorge tragen, den Oberkommandanten der ottomanischen Armee rechtzeitig von seinen Operationen zu verständigen."
Durch diese Vereinbarung entgehen die Österreicher nicht nur jeglicher Kontrolle seitens der Türkei über eine von ihnen für gut befundene Aktion,
1 Treffen
Der österreichisch-türkische Vertrag - Die Moldau und die Walachei 311
sondern bekommen auch vollständig die Oberhand bei allen Operationen, die der türkische Kommandant möglicherweise auf walachischem Boden beabsichtigt, indem sie ihn nur zu verständigen brauchen, daß sie diesen oder jenen Punkt besetzen wollen, um die Türken daran zu hindern, dorthin zu marschieren. Bedenkt man nun, daß außer dem schmalen Gebiet der Dobrudscha die Fürstentümer das einzig mögliche Schlachtfeld zwischen Türken und Russen bieten, so ergibt sich, daß die österreichische Intervention es der Türkei einfach unmöglich macht, ihre Siege weiterzuverfolgen und den Eindringling zu strafen.
Durch Artikel 3 „übernimmt der Kaiser von Österreich die Verpflichtung, im Einvernehmen mit der ottomanischen Regierung in den Donaufürstentümern so schnell wie möglich den gesetzlichen Zustand herzustellen, wie aus den von der Hohen Pforte in bezug auf die Verwaltung dieser Länder zugesicherten Privilegien selbst hervorgeht. Die auf diese Weise wiedereingesetzten Lokalbehörden werden jedoch ihre Wirksamkeit nicht so weit ausdehnen können, um über die kaiserliche Armee irgendeine Kontrolle auszuüben."
Der österreichische Kaiser behält sich also volle Freiheit vor, den gesetzlichen Stand der Dinge wiederherzustellen, sobald ihm dies möglich scheint; und selbst dann steht es bei ihm, die Lokalbehörden nur in der Absicht wiedereinzusetzen, sie dem österreichischen Militärgesetz zu unterstellen, ganz nach der Manier des russischen Generals Budberg. Nach Artikel 4 „verpflichtet sich der kaiserlich österreichische Hof außerdem, sich mit dem kaiserlich russischen Hof in keinen Vergleich einzulassen, der nicht die souveränen Rechte des Sultans und die Integrität seines Reiches zum Ausgangspunkt hätte". Artikel 5 fügt hinzu: „Sobald der Zweck der gegenwärtigen Konvention durch den Abschluß eines Friedensvertrages zwischen der Hohen Pforte und dem russischen Hof erreicht ist, wird der Kaiser von Österreich sogleich Vorkehrungen treffen, um seine Streitkräfte so bald als möglich zurückzuziehen. Die Einzelheiten in betreff des Rückzugs der österreichischen Truppen werden den Gegenstand eines besonderen Einvernehmens mit der Hohen Pforte bilden." Im ersten dieser beiden Artikel behält Österreich sich das Recht eines Ubereinkommens mit Rußland vor, das bloß auf dem Status quo beruhen soll, wie er in der Wiener Note[69] festgelegt ist. In letzterem Artikel verspricht Österreich, seine Truppen nicht zurückzuziehen, nachdem es selbst ein Ubereinkommen mit Rußland getroffen hat, sondern erst, wenn ein
Vertrag zwischen Rußland und der Türkei geschlossen ist. Die „materielle Garantie", direkt in Rußlands Händen nicht mehr sicher aufgehoben, wird an Österreich übertragen, und Österreich wird ermächtigt, sie - mit Einwilligung der Pforte - so lange statt seiner zu behalten, bis die Türkei dem „Abkommen zwischen den beiden kaiserlichen Höfen" beigetreten ist. Artikel 6 ermächtigt die Österreicher, ohne auch nur einen Anschein von Bezahlung, sich alles an Lebensmitteln anzueignen, was die Russen in den Fürstentümern noch übrigließen. Die Vorteile dieser Übereinkunft wird man besonders in Deutschland voll zu würdigen wissen, wo man gewohnt ist, für revolutionäre Sünden mit österreichischen Garnisonen bestraft zu werden, und wo die Österreicher in den Jahren 1849 und 1850 ganze Gebiete abgegrast haben. Der Vertrag bedeutet dem Wesen nach die Auslieferung der Fürstentümer an Österreich und das Aufgeben der türkischen Suzeränität über sie. Die Türken haben sich hierbei eine ebenso flagrante Vergewaltigung der Rechte des moldau-walachischen Volkes zuschulden kommen lassen wie nur je vorher die Russen. Die Türken haben ebensowenig das Recht, die Fürstentümer der österreichischen Okkupation preiszugeben, wie sie das Recht haben, sie zu russischen Provinzen zu erklären. Die Ansprüche der Pforte auf die Suzeränität über die Moldau und Walachei sind auf die Verträge von 1393,1460 und 1513 gegründet. Der Vertrag von 1393 zwischen der Walachei und der Türkei enthält folgende Artikel: „Art. I. Wir, Bajezid, usw. bestimmen aus unserer außerordentlichen Huld gegenüber der Walachei, die sich mit ihrem regierenden Fürsten unserm unbesiegbaren Reiche unterworfen hat, daß jenes Land sich weiterhin durch seine eigenen Gesetze selbst regieren wird und daß der Fürst der Walachei völlige Freiheit haben soll, seinen Nachbarn Krieg zu erklären oder mit ihnen Frieden zu machen, wie und wann es ihm gefällt. Art. III. Die Fürsten (Christen) werden durch die Metropoliten und die Bojaren gewählt. Art. IV. Der Fürst der Walachei hat jährlich 500 Piaster unseres Geldes an unsere kaiserliche Schatzkammer zu zahlen." Der Vertrag, den Vlad V., Fürst der Walachei, 1460 mit Mechmed II. schloß, bestimmt: „Art. I. Der Sultan willigt ein und verspricht für sich und seine Nachfolger, die Walachei zu schützen und sie gegen jeden Feind zu verteidigen, ohne etwas zu fordern, außer der Suzeränität über dieses souveräne Fürstentum, von deren Wojewoden erwartet wird, daß sie an die Hohe Pforte einen Tribut von 10000 Dukaten zahlen.
Art. II. Die Hohe Pforte wird auf keine Weise in die Lokalverwaltung des besagten Fürstentums eingreifen, und keinem Türken wird es ohne ersichtlichen Grund gestattet sein, die Walachei zu betreten. Art. III. Die Wojewoden werden wie bisher von dem Metropoliten, den Bischöfen und den Bojaren gewählt, und die Wahl wird von der Pforte anerkannt. Art. IV. Die walachische Nation wird weiterhin die freie Ausübung ihrer eigenen Gesetze genießen, und die Wojewoden werden das Recht über Leben und Tod ihrer Untertanen haben wie auch das Recht, Frieden zu schließen oder Krieg zu erklären, ohne für irgendwelche ihrer Handlungen irgendeiner Art von Verantwortlichkeit gegenüber der Hohen Pforte unterworfen zu sein." Der dritte Vertrag ist der von 1513, in dem die Moldau die Suzeränität der Pforte anerkannte und darin noch bessere Bedingungen erlangte, als sie die Walachei bekommen hatte. Die zwischen Rußland und der Türkei abgeschlossenen Verträge konnten selbstverständlich nicht die Verträge entkräften, die die Moldau-Walachen selbst mit der Pforte abgeschlossen hatten, denn diese Völker hatten ja niemals selbst mit den Russen unterhandelt, noch der Pforte das Recht gegeben, für sie zu unterhandeln. Übrigens mag hier festgestellt werden, daß Rußland selbst die obenerwähnten Kapitulationen im Vertrag von Adrianopel anerkannt hat, dessen Art. V folgendes sagt: „Nachdem sich die Fürstentümer Walachei und Moldau durch Kapitulation unter die Suzeränität der Hohen Pforte gestellt und Rußland deren Wohlfahrt (!) zugesichert hat, versteht es sich, daß sie weiterhin all jene Privilegien und Freiheiten genießen, die ihnen auf Grund ihrer Kapitulation zugesichert wurden." Aus den oben zitierten Kapitulationen, die noch in Kraft bleiben, da sie durch keinen späteren Vertrag überholt sind, folgt nun, daß die Fürstentümer zwei souveräne Staaten unter der Suzeränität der Pforte bilden, an die sie einen Tribut zahlen unter der Bedingung, daß die Pforte sie gegen jedweden äußeren Feind verteidigt und sich durchaus nicht in ihre inneren Angelegenheiten mischt. Nicht nur sind die Türken nicht berechtigt, die Walachei einer fremden Okkupation auszuliefern, sondern ihnen selbst ist auch verboten, die Walachei ohne plausible Ursache zu betreten. Ja, noch mehr: Da die Türken in dieser Weise ihre Kapitulationen mit den Walachen verletzt und sich den Anspruch auf Suzeränität verscherzt haben, so könnten die Russen sogar, wenn die Walachen sich an sie wendeten, ihre Berechtigung, die Österreicher aus den Fürstentümern zu vertreiben, auf die gebrochenen Verträge gründen. Und das wäre keineswegs überraschend, denn es ist die ständige Politik Rußlands gewesen, die Türkei in ihren Übergriffen gegen die Rechte der Walachen zu ermutigen und sie sogar zu solchen zu veranlassen,
22 Marx Engels. Werke, Band 10
um Feindseligkeiten zwischen ihnen zu säen und so für sich einen Vorwand zur Intervention zu schaffen. Was geschah, zum Beispiel 1848? Im Frühling jenes Jahres hatten einige Bojaren dem Moldaufürsten eine Petition überreicht, in der sie bestimmte Reformen forderten; durch den Einfluß des russischen Konsuls wurden diese Forderungen nicht nur abgelehnt, sondern auch ihre Urheber ins Gefängnis geworfen. Die durch diesen Schritt hervorgerufene Bewegung lieferte nachher den Russen den Vorwand, am 25. Juni die Grenze zu überschreiten und auf Jassy zu marschieren. Gleichzeitig gewährte der Hospodar der Walachei gleich den übrigen kontinentalen Regierungen eine Reihe von Reformen, die die liberale Partei der walachischen Bojaren gefordert hatte. Das war am 23. Juni. Daß diese Reformen in keiner Weise die Suzeränität der Pforte verletzten, braucht gar nicht erst erwähnt zu werden. Zufälligerweise aber zerstörten sie den ganzen Einfluß, den Rußland durch das Grundgesetz erlangt hatte, das es zur Zeit der Okkupation von 1829[153] erließ und das durch diese Reformen abgeschafft wurde. Die an seiner Statt errichtete Konstitution schaffte die Leibeigenschaft ab, und ein Teil des Landes, das die Bauern bewohnten, wurde ihnen nun als Eigentum abgetreten, während der Gutsherr durch den Staat für das abgetretene Land und für den Ausfall der Arbeit seiner Bauern schadlos gehalten wurde. Daraufhin wurde der herrsthende Fürst von den Russen zur Abdankung veranlaßt und eine provisorische Regierung zur Leitung der öffentlichen Angelegenheiten eingesetzt. Die Pforte, die, wie wir schon zeigten, kein Recht hatte, sich in die inneren Angelegenheiten der Fürstentümer einzumischen, und die es verabsäumt hatte, gegen den Einmarsch der Russen in die Moldau zu protestieren, entsandte Suleiman Pascha mit einer türkischen Armee in die Walachei und veröffentlichte eine sehr drohende Adresse des Sultans an deren Bevölkerung; diese Maßnahmen traf der Diwan natürlich unter russischem Einfluß. Die Walachen zogen dem Pascha und den Türken entgegen und fraternisierten mit ihnen. Man einigte sich dahin, daß die provisorische Regierung durch eine Lieutenance Principe1 ersetzt werde, die zuerst aus sechs, nachher aus drei Mitgliedern bestehen sollte. Diese Regierung wurde dann vom Pascha und auf Verlangen des Paschas auch von den fremden Konsuln anerkannt. Nachdem die neue Konstitution noch einer Abänderung unterworfen worden war, wurde sie auch vom Sultan bestätigt. Mittlerweile tobte die russische Regierung in Manifesten, die sie an Europa richtete, gegen das walachische Volk und beschuldigte es, die Repu
1 fürstliche Statthalterschaft
blik eingeführt und den Kommunismus proklamiert zu haben. Am 1 .August 1848 überschritt eine große russische Streitmacht den Pruth auf dem Marsch nach Bukarest. Plötzlich wurde Suleiman Pascha durch die Pforte zurückgerufen; der Sultan weigerte sich, die walachischen Abgesandten zu empfangen, die auf seine eigene Einladung hin nach Konstantinopel gekommen waren; und am 25. September erschien Fuad Efendi an der Spitze einer türkischen Armee vor Bukarest und erklärte, er sei nur gekommen, um Rußland jeden Vorwand zu nehmen, das Fürstentum zu betreten. Den Worten der Türken vertrauend, kamen mehr als 100000 Bewohner aus Bukarest und seiner Umgebung, unbewaffnet, in festlichen Gewändern, an ihrer Spitze die Geistlichkeit, um die Türken willkommen zu heißen. Fuad Efendi lud sie ein, eine Deputation in sein Lager zu entsenden, der er seine Instruktionen mitteilen könne. Herr Bratiano erzählt in seinem Bericht über diese Ereignisse:
„Kaum war die Deputation vor Fuad Efendi erschienen, als sie gefangengenommen wurde; zur gleichen Zeit stürzte sich die türkische Armee in einem Eilmarsch auf Bukarest, trampelte unter den Hufen ihrer Kavallerie die friedlichen Einwohner nieder, die entgegengekommen waren, um die Türken als Freunde zu empfangen, riß deren Banner nieder, zerstörte ihre Kreuze, bombardierte ihre Militärkaserne, die sie an ihrem Wege fand, wie auch ein ganzes Viertel der Stadt, feuerte Traubenschüsse auf die walachischen Soldaten, die sich in jener Kaserne aufhielten, veranlaßte diese, zu kapitulieren und ihre Waffen niederzulegen, tötete die Kranken und gab sich, nachdem sie die Stadt erreicht hatte, hemmungslos dem Plündern, dem Massaker und anderen schrecklichen Taten hin!"
Hier war es, wo der russische Kommissar, General Duhamel, die türkische Armee begleitete und sie tatsächlich befehligte. Die russische Armee folgte ihm nach, und das Ergebnis war der Vertrag von Balta-Liman[154), durch den nebst anderen Dingen auch das russische Grundgesetz oder statuto wiederhergestellt wurde. Dieses ist tatsächlich der Status quo, auf den die Walachei zurückzuführen Österreich sich verpflichtet. Es ist klar, wenn Omer Pascha jetzt die Walachei mit seiner siegreichen Armee beträte, daß die Türken, die durch ihre jüngsten Erfahrungen gewitzigt und im Krieg mit Rußland sind, die Konstitution von 1848 wiederherstellen würden, durch die „Republik, Kommunismus" und alle Schöpfungen des Jahres 1848 neues Leben gewännen. Niemand wird glauben, daß Österreich über eine solche Wendung weniger erzürnt wäre als Rußland. Ebenso klar ist es andrerseits, daß auf die Pforte ein ganz außerordentlicher Druck ausgeübt werden mußte, ehe sie sich zu einer solchen Verletzung ihrer Verträge mit den Walachen drängen ließ, deren Konsequenzen ihr doch aus Erfahrung bekannt sein mußten. Dieser Druck kann von niemand anderem
als vom englischen Gesandten ausgegangen sein. Es ist daher interessant, daran zu erinnern, wie derselbe Lord Redcliffe und seine Vorgesetzten in Downing Street[223 sich 1848 und 1849 zu den Vergewaltigungen verhielten, die sich Russen und Türken gegen die Rechte der Moldau und Walachei zuschulden kommen ließen. Als die russische Armee im Juni 1848 zuerst die Moldaugrenze überschritt, erklärte Lord Palmerston im Unterhaus auf eine Anfrage des unvermeidlichen Dudley Stuart: „Die russischen Truppen sind in die Moldau ohne Befehle des St. Petersburger Kabinetts einmarschiert. Sie bezwecken lediglich die Aufrechterhaltung oder Herstellung der Ordnung und werden wieder zurückgezogen werden, wenn keine Notwendigkeit mehr vorliegt. Der Einmarsch erfolgte im Auftrag des Hospodars, und es besteht nicht die Absicht, Gebietserwerbungen zu machen."
Als im August 1848 die russische Armee auf ihrem Zuge nach Bukarest wieder den Pruth überschritt und die Moldau-Walachen eine Deputation nach Konsteintinopel schickten, wandte sich der Diwan an die Gesandten von England und Frankreich um Rat und bekam von Lord Redcliffe die Anweisung, dieselbe Politik zu verfolgen, die Rußland verfolge. Als im Oktober die Türken und die Russen gemeinsam die Walachei besetzten, wurde ein walachischer Offizier von den Russen bis in die Wohnung des Kommandanten der türkischen Truppen in Bukarest, Omer Paschas, verfolgt, der zusammen mit Fuad Efendi dagegen protestierte. Als die Pforte von diesem Schimpf erfuhr, erklärte sie, sie wolle nichts mehr mit den Russen zu tun haben Und wolle ihre Truppen über die Donau zurückberufen, um nicht länger Mitschuldiger der Russen in den Fürstentümern zu sein. Auch wolle sie an die Großmächte einen feierlichen Protest richten, dem ein ausführliches Memorandum über alle Vorkommnisse in den Fürstentümern beigelegt werden solle. Wieder mischte sich derselbe Gesandte ein und durchkreuzte diese Absichten der Pforte. Als endlich die gemeinsame russisch-türkische Okkupation 1849 den Charakter einer Schreckensherrschaft angenommen hatte und allein Maghiero, der Kommandant der walachischen Irregulären, noch Widerstand leistete, wurde dieser zum Rückzug hinter die Karpaten veranlaßt
„durch die Überredung des britischen Generalkonsuls, der ihm vorstellte, daß die Anwesenheit seiner Armee die Aktion der Diplomatie lähme, daß aber seinem Lande bald wieder zu seinem Recht verholfen werde". Karl Marx
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Der Krieg an der Donau
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4139 vom 25. Juli 1854, Leitartikel] Vor etwa achtzig Jahren, als die siegreichen Armeen Katharinas II. eine Provinz nach der andern von der Türkei losrissen, die dann in das umgewandelt wurden, was heute Südrußland genannt wird, findet sich in einem der Ausbrüche von lyrischem Enthusiasmus, in denen der Dichter Dershawin den Ruhm, wenn nicht gar die Tugenden dieser Kaiserin und die gottgewollte Größe ihres Reiches zu preisen pflegte, ein denkwürdiger Vers, der auch heute noch die trotzige Kühnheit und das Selbstbewußtsein der zaristischen Politik zusammenfaßt: Und wozu brauchst du, o Rußland, irgendeinen Bundesgenossen? Geh vorwärts, und die ganze Welt ist dein! Das würde sogar heute noch zutreffen, wenn Rußland nur vorwärts könnte; dieser Bewegung ist aber ein ziemlich starker Riegel vorgeschoben. Daher ist es wenigstens zur Zeit gezwungen, die Besitzergreifung der ganzen Welt noch etwas aufzuschieben. Was aber seinen Stolz besonders verletzt, ist, daß es auf seinem Rückzug nicht nur kein Unterpfand der Weltherrschaft mit sich nehmen kann, sondern sogar die Schlüssel der einfachen Festung Silistria an der Donau zurücklassen muß, die zu besitzen es geschworen hatte. Und was noch schmerzlicher ist, es läßt auch die Überreste von etwa 50000 seiner Brüder zurück, die allein in diesem Feldzug durch Krankheit oder im Kampf umgekommen sind. Zweifellos ist die Belagerung Silistrias in militärischer Hinsicht das bedeutendste Ereignis seit Beginn des Krieges. Da die Einnahme dieser Festung gescheitert ist, wird der Feldzug zu einem Fehlschlag für die Russen, und zu dem jetzt vor sich gehenden Rückzug hinter den Sereth gesellen sich Schimpf
und Ungnade des Zaren. Die früheren Stadien der Belagerung haben wir unsern Lesern schon genau und, wie wir hoffen, verständlich auseinandergesetzt; nachdem jetzt endlich mit der „Pacific" die offiziellen russischen Berichte eingetroffen sind, können wir die ganze Angelegenheit bis zu ihrem Abschluß verfolgen, ohne einer der beiden Parteien unrecht zu tun. Außer den russischen Berichten, die das, was sie wiedergeben, klar, deutlich und nüchtern bringen, aber eine Menge Unterlassungen aufweisen, steht uns noch der Bericht des Leutnants Nasmyth (von der bengalischen Artillerie) an die „London Times" zur Verfügung. Es ist dies ein vollständiges Tagebuch der Belagerung mit interessanten Einzelheiten, aber etwas nachlässig abgefaßt, und manchmal mit ungenauen Daten. Unsere früher geäußerten Ansichten und Schlüsse über die Belagerung werden, das dürfen wir ruhig behaupten, durch diese späteren und ausführlicheren Berichte vollauf bestätigt, bis auf die Einzelheit, daß die Türken die Verteidigung des Forts Arab-Tabia nicht aufgeben mußten, wie wir im Verlauf der Belagerung annahmen. Auch sind die Russen bei ihren Operationen wahrscheinlich noch unbesonnener verfahren, als wir voraussetzten. Zuerst griffen sie die Festung förmlich von der Ostseite in den Niederungen der Donau an und hofften, die detachierten Forts insgesamt umgehen und sofort in den Hauptwall der Festung eine Bresche schlagen zu können. Dieser Versuch hatte sicherlich keinen andren Vorzug als den der Originalität. Er bietet vielleicht das erste Beispiel dafür, daß man Schanzen und Approchen zur Belagerung einer Festung in einem Gelände aufwirft, das von Höhen, die vom Feind befestigt waren, nicht nur flankiert, sondern unmittelbar im Rücken beherrscht wurde. Dann aber wurde ein zweiter, nicht förmlicher Angriff auf eben diese Höhen unternommen, und zwar so geschickt, daß nach vierzehn Tagen fruchtloser Sturmversuche und Rekognoszierungen, bei denen Tausende von Russen getötet oder kampfunfähig wurden, auch gegen die Höhen eine förmliche Belagerung eingeleitet werden mußte. Soviel über die Geschicklichkeit der Russen. Und nun wollen wir zu den Einzelheiten während der Belagerung übergehen. Am 1. Juni setzte ein neuer Train Belagerungsartillerie vom linken Donauufer über, und die Russen stellten sie als Batterie gegen Arab-Tabia auf. Die Türken gruben Schächte und trieben Minen unter die Kontereskarpe und das Glacis dieses Forts. Am 2. Juni wurde Mussa Pascha, der Kommandant von Silistria, durch eine Granate getötet. Gegen Abend brachten die Russen unter einer der Bastionen von Arab-Tabia eine Mine zur Explosion. Da sie um diese Zeit die Krone des Glacis noch nicht erreicht haben konnten, war die Mine sicher nicht sehr genau gelegt. Die Entfernungen wie auch die Linie
des kürzesten Widerstandes müssen falsch berechnet gewesen sein, und so geschah es, daß die Mine, statt die türkischen Verteidigungswerke zu beschädigen; nach rückwärts explodierte und die russischen Gräben mit einem Hagel von Steinen und Erde überschüttete. Hier aber standen die Sturmkolonnen zum Angriff bereit, und man kann sich die Wirkung dieses Steinhagels auf sie leicht vorstellen. Inwieweit es übrigens den Russen gelang, die Festung wirksam einzuschließen, geht aus der Tatsache hervor, daß sich an diesem Tage 5000 türkische Irreguläre aus Rasgrad, westlich von Silistria, in die belagerte Stadt durchschlugen. Vom 4. bis 8. Juni wurde die Arbeit an den Laufgräben gegen Arab-Tabia fortgesetzt. Die Russen erreichten das Glacis und trieben mutig eine Sappe bis zu seiner Krone vor, wobei sie jedoch von dem Feuer ihrer Artillerie nur sehr schwach unterstützt wurden. Sie begannen eine Mine unterhalb des Grabens zu legen und stießen damit bis unter die Eskarpe der Bastion vor. Zur gleichen Zeit veranstaltete Marschall Paskewitsch am 9. Juni wieder eine seiner unbegreiflichen bewaffneten Schaustellungen durch eine großartige gewaltsame Rekognoszierung der Festung mit 31 Bataillonen, 40 Eskadronen und 144 Feldgeschützen. Was er durch diese Schaustellung zu gewinnen hoffte, läßt sich nicht sagen. Es sieht so aus, als wäre sie nur in der Hoffnung unternommen, daß sich irgendeine Gelegenheit bieten werde, ernsthaft vorzugehen, oder um wenigstens beim Feind doch den Eindruck der Unwiderstehlichkeit zu erwecken. Auf die Türken hatte sie jedoch keine derartige Wirkung. Sie schickten im Gegenteil 4000 Mann Kavallerie vor, die nach dem russischen Bulletin schrecklich geschlagen wurden. Nasmyth hingegen versichert, daß sie 60 russische Pferde bei dem Handgemenge erbeuteten. Und anstatt etwas zu seinem eigenen Vorteil zu rekognoszieren, wurde Paskewitsch selbst, dem Bericht zufolge, durch eine türkische Kanonenkugel rekognosziert, die ihn hors de combat1 machte, so daß er nach Jassy gebracht werden mußte. Am 10. Juni erreichte die Belagerung ihren Höhepunkt. Die große Mine, die letzte Hoffnung Schilders, war zur Explosion gebracht worden. Sie schlug auch tatsächlich eine sturmreife Bresche in die Frontbastion von Arab-Tabia. Die russischen Kolonnen rückten zum Sturm vor; wie sie sich jedoch hätten denken können, hatten die Türken längst kurz hinter dem Hauptwall eine coupure oder zweite Brustwehr mit einem Graben errichtet, und als die Russen herangekommen waren, fanden sie sich aufgehalten und einem mörderischen Feuer ausgesetzt. Ist aber eine Sturmkolonne erst einmal zum Stehen gebracht
1 kampfunfähig
worden, so ist sie auch schon geschlagen, denn der Gegner, gedeckt durch die Brustwehr und unterstützt durch Artillerie, feuert aus einer Entfernung, wo jeder Schuß trifft, und zwingt die Kolonne, sich in wenigen Minuten zurückzuziehen. Die Russen mußten deshalb so schnell wie möglich den Rückzug durch die Bresche antreten; dabei wurden sie noch bis zu den russischen Laufgräben von den Türken verfolgt, die einen Teil der Belagerungswerke zerstörten. Dieser Angriff war das letzte ernsthafte Unternehmen der Russen gegen Silistria. Wenn die Belagerung zum Schein und der Form nach fortgesetzt wurde, bis die Order kam, sie aufzuheben, so geschah dies nur, um das Ansehen zu wahren. Am 12. Juni war von der Einschließung so wenig geblieben, daß europäische Offiziere von Schumla aus ohne Schwierigkeit in die Festung gelangen konnten. Die Russen hatten am 19. Mai in der Niederung ihre Laufgräben eröffnet. Am 22. eröffneten ihre Batterien, sieben an der Zahl, das Feuer auf ArabTabia. Weitere fünfzehn Geschütze wurden am folgenden Tag gegen dieses Fort eingesetzt. Dennoch fand nach dem russischen Bericht der förmliche Angriff gegen Arab-Tabia erst am 31 .Mai statt. Dies scheint darauf hinzudeuten, daß die am 21. und 22. errichteten Batterien nur die Aufgabe einer ersten Parallele hatten und nur aus schweren Feldgeschützen bestanden, die das Fort enfilieren sollten. Vom 3I.Mai bis 10.Juni näherten sich die russischen Batterien dem Fort bis auf hundert Yards, das heißt von der ersten bis zur dritten Parallele am Fuße des Glacis. Aber weder wurde das Glacis gekrönt, noch wurden Trancheenbatterien errichtet, sondern es wurde, wie schon erwähnt, eine Sappe die Böschung des Glacis hinaufgetrieben, um dort den Minenschacht zu graben. Da aus allen Berichten hervorgeht, daß ArabTabia kaum mehr als eine Feldbefestigung war, zwar groß im Umfang, aber von geringer Stärke, so verdient das Verhalten seiner Verteidiger, die nur aus 4 Bataillonen und 500 Irregulären unter Hussein Pascha bestanden, sicherlich das höchste Lob. Eine neuntägige Kanonade, elf Tage lang offene Verschanzungen, zwei Minen und vier oder fünf Angriffe, und dies alles mit der Niederlage des Feindes endend - wahrlich, wir erinnern uns keines zweiten Beispiels aus der Kriegsgeschichte, wo ein einfaches Außenwerk von der Art Arab-Tabias so gut standgehalten hätte. Am ehesten kann man damit die Verteidigung von Kolberg durch die Preußen 1807 und die von Danzig durch die Franzosen 1813 vergleichen. Man ist wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, daß Omer Pascha während der ganzen Belagerung nichts getan hat, um eine so wichtige Festung zu unterstützen oder zu entsetzen. Aus seinem an Sami Pascha, den Gouverneur von Widdin, gerichteten Brief geht jedoch hervor, daß er tatsächlich bereits
Vorbereitungen traf, Silistria zu Hilfe zu kommen, als sich die Russen auf das linke Donauufer zurückzogen.
„Sie wissen", heißt es in diesem Brief, „daß ich alle unsere Truppen vor Schumla gesammelt hatte und daß ich den Marsch zum Entsatz der Festung vorbereitete. Sechs Kavallerieregimenter und drei Batterien hatten Schumla bereits mit diesem Ziel verlassen. Da die Russen von dieser Bewegung Kenntnis erhalten hatten, haben sie sich mit ihrer gesamten Artillerie in großer Eile auf das linke Ufer zurückgezogen. Während der vierzigtägigen Belagerung der Festung hatten sie einen Verlust von 25000 Toten."
Was die Russen jetzt tun werden, ist unmöglich zu entscheiden. Einige Wiener Blätter melden, sie wollten hinter dem Buseo Stellung beziehen, doch dieselben Blätter behaupten, es sei angeblich die Furcht vor Österreich, die sie zurücktriebe, und der Buseo sei schon von den Österreichern überflügelt. Versuchten die Russen die Moldau zu halten, so würden sie von den Österreichern von Galizien und der Bukowina aus überflügelt. Aber eine rechtzeitige Vereinigung der russischen Truppen in Polen mit der ehemaligen Donauarmee in Podolien und Wolhynien würde wiederum die Österreicher überflügeln und den nordöstlichen Teil Galiziens bis zum San und Dnestr gefährden. Wenn wir einen Augenblick von politischen Erwägungen absehen und annehmen, Österreich sei bereit, sich mit den alliierten Streitkräften zum Angriff gegen Rußland zu vereinigen, dann würden die Dinge so stehen: Österreich könnte 200000 bis 250000 Mann ins Feld schicken, um sich mit den Alliierten zu vereinigen, die ihrerseits über etwa 160000 Mann verfügen 100000 bis 120000 Türken und etwa 60000 englisch-französische Truppen. Diesen Kräften könnte Rußland die vier Korps der Donauarmee mit ihren Reserven entgegenstellen, die sich, wenn man eine angemessene Zahl für Verluste abrechnet, auf etwa 200000 Mann belaufen. Das zweite Korps, das von Panjutin befehligt wird, und die drei Reservekorps der Kavallerie mit einigen weiteren Infanteriereserven und Verstärkungen durch frische Aushebungen dürften insgesamt etwa 180000 Mann ausmachen, so daß die gesamte Militärmacht Rußlands 350000 Mann betrüge, von denen die Besatzungen zum Schutz der Krim und eines Teiles von Südrußland abzuziehen wären. Darüber hinaus blieben noch die Gardetruppen, die Grenadiere und das erste Armeekorps zur Verteidigung Polens und der baltischen Provinzen disponibel - nicht gerechnet das Finnländische Korps mit etwa 15000 Mann. Wenn man alles in Betracht zieht, dann wäre der Unterschied zwischen den beiden kriegführenden Mächten nicht so groß, daß Rußland nicht mit einem
mäßigen Erfolg rechnen könnte, wenn es sich auf eine geschickte Verteidigung beschränkte. Wenn Österreich, wie die jüngsten diplomatischen Nachrichten und seine völlige Untätigkeit an der Grenze der Moldau andeuten, keine andere Absicht hat, als zwischen den kriegführenden Mächten zu vermitteln, so können wir mit Sicherheit annehmen, daß im Laufe dieses Jahres weder in der Moldau noch in Bessarabien irgend etwas passieren wird.
Geschrieben am 6. Juli 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Einzelheiten des Madrider Aufstands Die österreichisch-preußischen Forderungen Die neue Anleihe in Osterreich - Die Walachei]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4136 vom 21. Juli 1854] London, Freitag, 7. Juli 1854. Die bei uns eingegangenen Nachrichten über den Militäraufstand in Madrid tragen nach wie vor einen sehr widerspruchsvollen und fragmentarischen Charakter. Alle Madrider telegraphischen Depeschen sind natürlich Darlegungen der Regierung und von der gleichen Fragwürdigkeit wie die in der „Gaceta"C155J veröffentlichten Bulletins. Eine Übersicht über das spärlich zur Verfügung stehende Material ist daher alles, was ich Ihnen geben kann. Man wird sich erinnern, daß O'Donnell einer der Generale war, die im Februar von der Königin verbannt wurden, daß er es abgelehnt hatte zu gehorchen, sich in Madrid verborgen hielt und mit der Garnison von Madrid und besonders mit General Dulce, dem Generalinspekteur der Kavallerie, auch weiterhin in geheimem Briefwechsel stand. Die Regierung wußte von seinem Aufenthalt in Madrid, und in der Nacht des 27. Juni erhielten General Blaser, der Kriegsminister, und General Lara, der Generalkapitän von Neukastilien, Warnungen von einer beabsichtigten Revolte unter Führung des Generals Dulce. Es wurde jedoch nichts getan, um den Aufstand zu verhindern oder im Keim zu ersticken. Daher war es für General Dulce nicht schwierig, am 28. Juni unter dem Vorwand einer Truppenschau etwa 2000 Mann Kavallerie zu sammeln und, begleitet von O'Donnell, mit ihnen aus der Stadt zu marschieren, in der Absicht, die Königin zu entführen, die sich zu der Zeit im Escorial aufhielt. Der Anschlag ging jedoch fehl, und die Königin traf am 29. in Begleitung des Grafen San Luis, des Konseilpräsidenten, in Madrid ein und hielt eine Heerschau ab, während die Insurgenten in der Umgebung der Hauptstadt Quartier bezogen. Zu ihnen stießen Oberst Echagüe und
400 Mann des Regiments Prinz, die die Regimentskasse mit 1 000000 Francs mitbrachten. Eine aus sieben Bataillonen Infanterie, einem Regiment Kavallerie, einem Detachement berittener Gendarmerie und zwei Batterien Artillerie bestehende Kolonne verließ am Abend des 29. Juni unter Kommando von General Lara Madrid, um den Rebellen zu begegnen, die in der Venta del Espiritu Santo und in dem Dorf Vicalvaro Quartier bezogen hatten. Am 30. kam es zwischen beiden Armeen zur Schlacht, von der wir drei Berichte erhielten - der offizielle wurde von General Lara an den Kriegsminister gerichtet und in der „Gaceta" veröffentlicht, den zweiten veröffentlichte der „Messager de Bayonne", und der dritte ist eine Schilderung des Madrider Korrespondenten der „Independance Beige", eines Augenzeugen des Treffens. Der erstgenannte Bericht, den man in allen Londoner Blättern finden kann, ist leicht abzutun, weil General Lara einmal erklärt, daß er die Insurgenten angriff, und ein andermal, daß sie ihn angriffen; weil er an einer Stelle Gefangene macht und sie an einer anderen verliert; weil er den Sieg für sich beansprucht und nach Madrid zurückkehrt - enfin1, weil er den Insurgenten das Schlachtfeld überläßt, es jedoch mit den Toten des „Feindes" bedeckt und gleichzeitig behauptet, daß er nur dreißig Verwundete habe. Nachfolgend die Version des „Messager de Bayonne":
„Am 30. Juni, um 4 Uhr morgens, verließ General Quesada an der Spitze zweier Brigaden Madrid, um die Rebellentruppen anzugreifen. Die Angelegenheit dauerte nur wenige Minuten, wobei General Quesada energisch zurückgeschlagen wurde. General Blaser, der Kriegsminister, unternahm seinerseits, nachdem er die ganze Garnison von Madrid" - die nebenbei bemerkt, aus ungefähr 7000 oder 8000 Mann besteht - „zusammengezogen hatte, um 7 Uhr abends einen Ausfall. Unmittelbar darauf entwickelte sich ein Gefecht, das sich nahezu ohne Pause bis zum Abend hinzog. Die von der zahlreichen Kavallerie der Insurgenten bedrohte Infanterie formierte sich in Karrees. Oberst Garrigö griff an der Spitze einiger Eskadronen so kraftvoll eines dieser Karrees an, als wollte er es durchbrechen, wurde jedoch von dem Feuer einer maskierten Batterie mit fünf Geschützen empfangen, deren Traubengeschosse seine Eskadronen zerstreute. Oberst Garrigö fiel in die Hände der Truppen der Königin, doch General O'Donnell verlor keinen Augenblick, seine Schwadronen zu ralliieren und warf sich so heftig auf die Infanterie, daß er ihre Reihen ins Wanken brachte, befreite Oberst Garrigö und eroberte die fünf Artilleriegeschütze. Die Truppen der Königin zogen sich, nachdem sie diesen Rückschlag erlitten hatten, nach Madrid zurück, wo sie um 8 Uhr abends eintrafen. Einer ihrer Generale, Mensina, war leicht verwundet. In den mörderischen Gefechten gab es eine große Anzahl von Toten und Verwundeten auf beiden Seiten."
1 kurz
Wir kommen nun zum Bericht der „Independance", datiert Madrid, den I.Juli, welcher der glaubwürdigste zu sein scheint:
„Die Venta del Espiritu Santo und Vicalvaro waren der Schauplatz eines mörderischen Kampfes, in dem die Truppen der Königin diesseits der Fonda de la alegria zurückgeworfen wurden. Drei nacheinander an verschiedenen Punkten gebildete Karrees lösten sich auf Befehl des Kriegsministers selbst auf. Ein viertes wurde jenseits des Retiro gebildet. Zehn von den Generalen O'Donnell und Dulce persönlich geführte Schwadronen von Insurgenten griffen es im Zentrum (?) an, während Guerillas es in der Flanke (?) nahmen." (Es ist schwer zu begreifen, was dieser Korrespondent unter Zentrum- und Flankenangriffen auf ein Karree versteht.) „Zweimal kamen die Insurgenten zum Kampf mit der Artillerie, wurden aber zurückgeschlagen durch die Traubengeschosse, mit denen sie überschüttet wurden. Offenbar beabsichtigten die Insurgenten, einige der in jeder der Ecken des Karrees aufgestellten Artilleriegeschütze zu erobern. Da es in der Zwischenzeit Nacht geworden war, zogen sich die Regierungskräfte staffeiförmig auf das Tor von Alcara zurück, wo eine Schwadron der Kavallerie, die regierungstreu geblieben war, plötzlich von einem Detachement aufständischer Ulanen überrascht wurde, die sich hinter dem Plaza del Toro verborgen hatten. Inmitten dieser durch den unerwarteten Angriff hervorgerufenen Verwirrung nahmen die Insurgenten vier Artilleriegeschütze, die zurückgeblieben waren. Die Verluste waren auf beiden Seiten fast gleich. Die Kavallerie der Insurgenten erlitt starke Verluste von den Traubenschüssen, aber ihre Ulanen vernichteten nahezu das Regiment Reina Gobernadora und die berittene Gendarmerie. Aus den letzten Berichten erfahren wir, daß die Aufständischen Verstärkungen aus Toledo und Valladolid erhielten. Es geht sogar das Gerücht, daß General Narväez heute in Vallecas erwartet wird, wo er von den Generalen Dulce, O'Donnell, Ros de Olano und Armero empfangen werden soll. Am Tor von Atocha sind Schützengräben aufgeworfen worden. Ansammlungen Neugieriger füllen den Bahnhof, von wo die vorgeschobenen Posten General O'Donnells gesichtet werden können. Alle Tore Madrids werden jedoch streng bewacht..." „Drei Uhr nachmittags des gleichen Tages. - Die Insurgenten besetzen mit erheblichen Kräften den Ort Vallecas, drei englische Meilen von Madrid entfernt. Die Regierung erwartete heute die Truppen aus den Provinzen, besonders das Bataillon del Rey. Wenn wir den jüngsten Informationen Glauben schenken wollen, so ist diese Einheit zu den Aufständischen übergegangen." „Vier Uhr nachmittags. - Zu diesem Zeitpunkt verläßt beinahe die ganze Garnison Madrid in Richtung auf Vallecas, um den Insurgenten zu begegnen, die die größte Zuversicht zeigen. Die Geschäfte sind geschlossen. Die Garde des Retiro und generell alle Regierungsbeamte sind in Eile bewaffnet worden. Soeben erfahre ich, daß sich einige Kompanien der Garnison gestern den Insurgenten angeschlossen haben. Die Madrider Garnison wird von General Campuzano befehligt, von dem fälschlicherweise behauptet wurde, daß er zu den Insurgenten übergegangen sei, und von General Vistahermosa und Blaser, dem Kriegsminister. Bis jetzt sind noch keine Verstärkungen zur Unterstützung der Regierung eingetroffen; aber vom 4. Linienregiment und vom
1. Kavallerieregiment wird behauptet, daß sie Valladolid verlassen haben und in aller Eile auf Madrid marschieren. Dasselbe versichert man hinsichtlich der von General Turon befehligten Garnison von Burgos. Schließlich sei erwähnt, daß General Rivero mit bedeutenden Kräften Saragossa verlassen hat. Weitere blutige Zusammenstöße müssen daher erwartet werden." Bis zum 6. d.M. sind keine Zeitungen oder Briefe von Madrid eingetroffen. Nur der „Moniteur" bringt die folgende lakonische Depesche, datiert Madrid, den 4. Juli: „Ruhe herrscht nach wie vor in Madrid und in den Provinzen." Eine private Mitteilung besagt, daß sich die Insurgenten bei Aranjuez aufhalten. Wenn die vom Korrespondenten der „Independance" für den 1. d.M. erwartete Schlacht mit einem Sieg der Regierung geendet hätte, hätte es keinen Mangel an Briefen, Zeitungen oder Bulletins gegeben. Ungeachtet der Tatsache, daß in Madrid der Belagerungszustand verkündet worden war, waren die Zeitungen „Clamor Püblico", „Naciön", „Diario", „Espana" und „£poca" ohne vorherige Benachrichtigung der Regierung wiedererschierien, deren Fiskal sie yon dieser betrüblichen Tatsache in Kenntnis setzte. Unter den in Madrid verhafteten Personen werden die Herren Antonio Guillermo Moreno und Jose Manuel Collado genannt, beide Bankiers. Ein Haftbefehl wurde gegen Sijora Sevillano, den Marques de Fuentes de Duero, einen speziellen Freund des Marschalls Narväez, erlassen. Die Herren Mon und Pidal wurden unter Aufsicht gestellt. Es wäre verfrüht, sich über den allgemeinen Charakter des Aufstandes eine Meinung zu bilden. Ich darf jedoch sagen, daß er nicht von der Progressisten-Partei[156J auszugehen scheint, da General San Miguel, ihr Vertreter in militärischen Kreisen, sich in Madrid ruhig verhält. Aus allen Berichten scheint im Gegenteil hervorzugehen, daß Narväez dahintersteckt und daß dies der Königin Christina, deren Einfluß in jüngster Zeit durch den Günstling der Königin [Isabella IL], Graf San Luis, erheblich zurückgegangen ist, nicht ganz unbekannt ist. Mit Ausnahme der Türkei gibt es wahrscheinlich kein Land, das so wenig bekannt ist und von Europa so fabch beurteilt wird wie Spanien. Die zahllosen lokalen Pronunziamientos und Militärrebellionen haben Europa daran gewöhnt, es auf einer Stufe mit dem Römischen Reich zur Zeit der Prätorianer zu sehen. Dies ist genauso oberflächlich wie die Ansicht derer, die im Fall der Türkei das Leben der Nation erloschen glaubten, weil seine offizielle Geschichte während des letzten Jahrhunderts nur aus Palastrevolutionen und Janitscharenemeuten bestand. Das Geheimnis dieses Trugschlusses liegt in der simplen Tatsache, daß die Historiker, anstatt die Ressourcen und die
Einzelheiten des Madrider Aufstands - Die österreichisch-preußischen Forderungen 327
Stärke dieser Völker in ihrer provinziellen und lokalen Organisation zu erblicken, aus der Quelle ihrer Hofalmanache schöpften. Die Bewegungen dessen, was wir den Staat zu nennen pflegen, haben das spanische Volk in einem so geringen Maße berührt, daß dieses vollständig damit einverstanden war, diese beschränkte Domäne den wechselnden Leidenschaften und kleinlichen Intrigen von Hofgünstlingen, Militärs, Abenteurern und einigen wenigen sogenannten Staatsmännern zu überlassen, und sie hatten wenig Grund, ihre Gleichgültigkeit zu bereuen. Da die moderne spanische Geschichte eine völlig andere Würdigung verdient, als sie sie bis jetzt erfahren hat, werde ich eine Gelegenheit benutzen und diesen Gegenstand in einem meiner nächsten Artikel behandeln. So viel darf ich bereits an dieser Stelle bemerken, daß man nicht sehr überrascht zu sein braucht, wenn jetzt auf der Pyrenäischen Halbinsel aus einer reinen Militärrebellion eine allgemeine Bewegung entstehen sollte, da die jüngsten Finanzdekrete[157J der Regierung den Steuereinnehmer in den wirksamsten revolutionären Propagandisten verwandelt haben. Österreich bildet für den Krieg im Augenblick das Zünglein an der Waage. Wenn es seine Truppen noch nicht in die Walachei einmarschieren ließ, so nur deshalb, weil es die Antwort des Zaren von Rußland abwartete. Der elektrische Telegraph meldet, daß Gortschakow als Überbringer einer unangenehmen Antwort jetzt in Wien eingetroffen ist. Zum erstenmal sind die österreichisch-preußischen Sommationen, abgeschickt am 3. Juni, in der „Kölnischen Zeitung4411581 veröffentlicht worden. Die wichtigsten Stellen in der österreichischen Sommation sind folgende:
„Der Kaiser von Rußland wird, wenn er in seiner Weisheit alle diese Rücksichten erwägt, den Wert zu würdigen wissen, welchen der Kaiser von Österreich darauf legen muß, daß die russischen Armeen ihre Operationen in den Ländern jenseits der Donau nicht weiter ausdehnen und daß er seinerseits bestimmte Angaben Uber den genauen und, wie wir hoffen, nicht zu fernen Zeitpunkt, wann der Besetzung der Fürstentümer ein Ziel gesetzt sein wird, erhalte. Der Kaiser Nikolaus, daran zweifeln wir nicht, will den Frieden; er wird daher auf die Mittel bedacht sein, einen solchen Zustand der Dinge aufhören zu lassen, welcher täglich mehr dazu angetan ist, eine unerschöpfliche Quelle von Unheil für Österreich und Deutschland zu werden. Er wird nicht durch eine unbestimmte Dauer dieser Besetzung, oder indem er die Räumung etwa an Bedingungen knüpft, deren Erfüllung nicht von unserem Willen abhängt, dem Kaiser Franz Joseph die gebieterische Pflicht auferlegen wollen, selbst die Mittel zum Schutze der von der gegenwartigen Lage der Dinge so bedeutend gefährdeten Interessen in Betracht zu ziehen.44
Die preußische Note, die die österreichische „Sommation4* unterstützen soll, schließt folgendermaßen:
„Der Konig hofft, daß der Kaiser seine Zustimmung gehen wird, um die streitigen Fragen auf ein Gebiet zu bringen, welches praktische Ausgangspunkte darböte, um durch Verkürzung und Einschränkung der beiderseitigen Kriegführung eine befriedigende Lösung anzubahnen. Unser erhabener Herr hofft daher, daß der gegenwärtige Schritt beim Kaiser von Rußland eine den Gesinnungen, welche ihn veranlaßten, entsprechende Aufnahme finden, und daß die Antwort, welcher wir, ebenso wie das Kabinett von Wien, mit dem hohen Interesse entgegensehen, das ihre Bedeutung einflößt, dazu geeignet sein werde, den König der schmerzlichen Notwendigkeiten zu überheben, welche ihm seine königlichen Pflichten und seine Verbindlichkeiten auflegen würden."!150] Heß, der Generalissimus der Orientarmee, wird sein Hauptquartier in Czernowitz aufschlagen. Der „Soldatenfreund" in Wien bringt folgende Biographie von General Heß: „Feldzeugmeister von Heß wurde im Jahre 1788 in Wien geboren; 1805 trat er in das Regiment Giulay als Fähnrich ein, wurde Leutnant beim Stab gegen Ende 1815 und 1822 Oberstleutnant und Militärkommissar in Turin. Oberst seit 1829, wurde er 1831 Quartiermeister des beweglichen Korps von Oberitalien. Im Jahre 1842 erhielt er den Rang eines Generalleutnants und wurde 1848 Chef des Stabes der Armee Radetzkys. Ihm müssen der Plan für den Marsch auf Mantua, Curtatone und Vicenza von 1848 und der für die Kampagne von 1849, die mit der Schlacht von Novara endete, zugeschrieben werden." über die eingestandenen Absichten Österreichs bei der Okkupation der Walachei will ich die österreichischen Blätter selbst zitieren. Die „Frankfurter Postzeitung"1 [160J, das Organ der österreichischen Gesandtschaft beim Bundestag, bemerkt: „Österreich ist durch seine geographische Lage gezwungen, auf die wirksamste Weise für die Wiederherstellung des Friedens einzutreten, indem es durch die Okkupation der Fürstentümer die kriegführenden Parteien faktisch trennt und an der wichtigsten Stelle zwischen beide tritt. Wenn sich die Russen hinter den Pruth zurückziehen, können die Türken und deren Alliierte dann nicht die Donau überqueren. Wenn wir weiter in Rechnung stellen, daß beide Parteien eine Erfahrung gewonnen und eine Illusion verloren haben - die Russen haben die Illusion hinsichtlich ihres militärischen Übergewichts verloren und die Seemächte die bezüglich der Allmacht ihrer Flotten so ist es klar, daß die tatsächliche Situation die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen fast unvermeidlich macht." Der „Lloyd"[161J seinerseits schreibt: „Das umstrittene Territorium, nämlich die Fürstentümer, würde unter den Schutz einer neutralen Macht gestellt werden. Eine türkische Armee könnte nicht an
1 In der „New-York Daily Tribüne": „Oberpostamtszeitung"
den Ufern des Pruth Stellung beziehen. Ein bewaffneter Vermittler stünde zwischen den Streitkräften der Westmächte und denen Rußlands und verhinderte einen Zusammenstoß in den Donaufürstentümern. Daraus ergäbe sich in der Tat ein Waffenstillstand auf dem wichtigsten Kriegsschauplatz. Wenn wirklich noch die Möglichkeit eines Friedens besteht, könnte diese Maßnahme ihm dienlich sein. Weder in St. Petersburg noch anderswo kann es darüber einen Zweifel geben, daß die Entschlossenheit Österreichs, die Fürstentümer zu besetzen, in Voraussetzung des Friedens erfolgt und daß es sich gleichzeitig um den letzten Schritt handelt, der zur Verhinderung eines allgemeinen Krieges unternommen werden kann."
Der letzte und merkwürdigste Artikel dieser Art findet sich in der „Spenerschen Zeitung"[162], die in Berlin erscheint:
„Wir hören wiederholt bestätigen, daß die Vertreter der vier Großmächte in Wien zu einer abermaligen Konferenz zusammentreten werden, mit dem Zweck, erstens die türkisch-österreichische Konvention zur Kenntnis zu nehmen und zu erklären, daß sie mit den früheren Protokollen der Konferenz übereinstimmt, und zweitens sich näher darüber zu verständigen, wie die nur im allgemeinen aufgestellten Prinzipien des Wiener Protokolls vom 9. April im Detail so präzisiert werden sollten, um als greifbare Basis der eventuellen Friedenspräliminarien dienen zu können."
Osterreich hat mittlerweile diese Zwischenfälle benutzt, um eine neue Anleihe zu lancieren, deren offiziell bekanntgegebene Bedingungen folgende sind:
„ 1. Der Betrag der Anleihe ist provisorisch auf 350 bis 500 Millionen Gulden festgesetzt worden. Wenn die Subskriptionen diese Summe erreichen, müssen die Zahlungen in drei, vier oder fünf Jahren, entsprechend dem Betrage der Subskription, erfolgen. 2. Die Emissionsrate ist auf 95 in Bankpapieren festgesetzt worden. 3. Die Zinsen betragen 5 Prozent, zahlbar in Bargeld. 4. Die Subskription ist keine erzwungene. Die Kaiserliche Regierung ist im Begriff, durch die eingesetzten Behörden aller Provinzen an den Patriotismus der Staatsuntertanen zu appellieren. 5. Die Anleihe wird dazu verwandt, die Staatsschuld in Höhe von 80 Millionen an die Bank zu zahlen, in der Absicht, auf diese Weise den Wert der Bankpapiere wiederherzustellen. Der Überschuß" (es ist sehr witzig, vier Fünftel des Ganzen einen Überschuß zu nennen) „wird als Reserve für die Budgets der kommenden Jahre verwandt werden."
Der „Lloyd" versichert natürlich, daß diese große Finanzoperation, wie man sie jetzt (und beinahe zum erstenmal) plant, die bestehende Entwertung der österreichischen Währung ein für allemal beseitigen muß und wird. Ihre Leser werden nicht vergessen haben, daß mit diesem Vorwand fast jede
23 Marx Engels, Werke, Band 10
österreichische Anleihe dieses Jahrhunderts eingeführt wurde. Es gibt aber einige Punkte in dieser großen Operation, die ihnen entgehen könnten, denn sie sind aus der obigen Bekanntmachung sorgfältig weggelassen. Hierzu bemerkt der „Globe" von gestern abend:
»Diese Anleihe wird eine nationale sein, d. h., jeder Steuerzahler wird dazu aufgerufen werden, im Verhältnis zu dem von ihm bezahlten Steuerbetrag zu subskribieren. Zunächst wird ein moralischer Zwang angewandt, dem dann ein wirklicher Zwang folgen wird. Tatsächlich läuft daher die Maßnahme auf die sofortige Aufbringung einer zusätzlichen Steuersumme hinaus, mit dem Versprechen, daß diese spezielle Summe zurückgezahlt wird."
Es ist eigentümlich, wie sehr diese große Operation in ihrer Motivierung wie auch in ihrer Ausführung den jüngsten spanischen Dekreten ähnelt, die jetzt die Einleitung zu einer Revolution bilden. In meinem letzten Brief1 lenkte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Rechte und die Verhältnisse des walachischen Volkes und wies auf die diplomatischen Streitigkeiten hin, die angeblich wegen der Verletzung dieser Rechte entstanden sind. Jetzt eben ist im Pariser „Siöcle"1163] ein Bericht des Herrn Barbu Bibescu, Präfekt von Mehedintz in der Kleinen Walachei, erschienen, der an den Minister des Auswärtigen der Pforte gerichtet ist und in dem wir endlich eine Stimme vernehmen, die sich für das Volk der Fürstentümer erhebt, das von den „Verteidigern der Zivilisation" mit so schmachvoller Gleichgültigkeit behandelt wird. Es beginnt mit der Feststellung:
„Die Russen ließen sich bei ihrem Rückzug aus der Kleinen Walachei zu den verabscheuungswürdigsten Grausamkeiten und Zerstörungen hinreißen, um sich wegen des passiven Widerstands eines völlig entwaffneten Volkes zu rächen. Sie nahmen die öffentlichen Gelder, die Siegel und die Archive der Verwaltung sowie die heiligen Kirchengeräte mit sich fort. Als sie sich zurückzogen, schlachteten sie das Vieh, das von den zahllosen Requirierungen übriggeblieben war, und dieses Vieh nahmen sie nicht mit, sondern ließen es liegen und verderben, nur um das Volk ihre Grausamkeit und ihren Haß fühlen zu lassen."
Zu den Gerüchten vom Einmarsch der Österreicher in die Walachei bemerkt Bibescu, daß „selbst eine wohlgesinnte fremde Armee stets eine Last für das Land ist, das sie besetzt hat". Er sagt, die Walachei brauche die Österreicher nicht; sie sei selbst imstande, ein Kontingent von 50000 in Waffen geübten, disziplinierten Männern zu stellen. In jedem der siebzehn Departements der Walachei befinden sich gegenwärtig 3000 Mann Gendar
merie, Wald- und WildKüter und alte Soldaten, denen man nur Waffen in die Hand zu geben braucht, damit sie sich beim ersten Trommelschlag auf die Russen stürzen. Er schließt mit folgenden Worten: „Es fehlen uns nur Waffen; wenn nicht genug in euren Arsenalen sind - die vielen Fabriken in Frankreich, England und Belgien brauchen sie nicht, und wir sind bereit, für sie zu zahlen. Waffen und abermals Waffen, Exzellenzen, und ehe drei Monate vergangen sind, wird nicht ein einziger Russe in den Fürstentümern verbleiben, und die Hohe Pforte wird eine Streitmacht von 100000 Rumänen bereitünden, ebenso begierig wie die Osmanen, ihren gemeinsamen und unversöhnlichen Feind zu verjagen und zu bestrafen." Der arme Präfekt von Mehedintz begreift nicht, daß Österreich gerade nur deshalb den Walachen seine Okkupation aufzwingt, um eben ihre Bewaffnung zu verhüten und zu verhindern, daß die Walachen zusammen mit den Osmanen die Russen verjagen und bestrafen. Sir Charles Napier versucht, wie die Cockney-Presse sagt, die Admirale des Zaren aus Kronstadt herauszulocken, hinter dessen schützenden Granitwällen sie vor der englisch-französischen Flotte „zittern". Warum aber verlassen die englischen Seeleute nicht ihre hölzernen Wälle, um die Russen auf deren bevorzugtem Element, zu Lande, zu bekämpfen? Man darf doch nicht übersehen, daß die Russen trotz aller englischen Prahlereien aus Sewastopol ausfuhren und die „Fury" „beschädigten". Baraguay d'Hilliers ist zum Befehlshaber einer Truppendivision ernannt worden, die nach der Ostsee eingeschifft werden soll und deren Abreise auf den 14. d.M. festgesetzt ist. England soll den Transport von 6000 Mann übernehmen. Die gleiche Zahl und eine Feldbatterie wird auf französischen Fahrzeugen eingeschifft. Fügen wir noch dieser Zahl die von Oberst Fi£ron befehligten Seesoldaten hinzu, so wird sich die Effektivstärke der gesamten baltischen Division auf 13000 bis 14000 Mann belaufen, während gleichzeitig die Einschiffung von Truppen nach dem Schwarzen Meer in Marseille noch nicht aufgehört hat; offenbar hat der Prozeß der Entwaffnung Frankreichs den gewünschten Grad von „Sicherheit" noch nicht erreicht.
Karl Marx
Arn dem Englischen.
Karl Marx
[Die Erregung in Italien - Die Ereignisse in Spanien - Die Haltung der deutschen Staaten - Englische Richter]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4142 vom 28. Juli 1854] London, Freitag, 14. Juli 1854. Sir Charley1 ist ganz still von Kronstadt zurückgekehrt und hat weiter keinen Verlust an Toten und Verwundeten zu beklagen als die wenigen tapferen Teerjacken, die die Cholera hinwegraffte. Um die Öffentlichkeit bei guter Laune zu erhalten, soll sich dieselbe Farce nun vor Sewastopol wiederholen, und bei Odessa sind schon fünfzig Schiffe der vereinigten Flotten gesehen worden mit „direktem Kurs" auf diesen Ort. Die Einschiffung der französischen Truppen in Calais, die für heute festgesetzt war, ist auf den 20. d.M. verschoben worden, um, wie es heißt, die Entwicklung der Ereignisse in Spanien abzuwarten. General Budberg hat von den Bewohnern der Fürstentümer eine Adresse erpreßt, in der sie dem Kaiser Nikolaus ihren Dank für die Okkupation ihres Landes und dessen Verteidigung gegen den „grausamen und barbarischen Türken" aussprechen. Die „Euphrates", die Konstantinopel am 5. d.M. verließ und in Marseille am 13. ankam, bringt die wichtigen Meldungen, daß die Dobrudscha von den Russen noch immer nicht geräumt ist und daß der „glorreiche" Reschid (wretched2) Pascha wieder das Amt des Ministers des Auswärtigen angenommen hat. Aus Krakau wird vom 8. Juli gemeldet, Fürst Paskewitsch sei in Schloß Gomel auf seinen Besitzungen in Litauen angekommen und werde an dem gegenwärtigen Feldzug nicht mehr teilnehmen. Hinzugefügt wird noch, nicht nur er selbst, sondern auch sein Feldzugsplan sei aufgegeben, und dies klingt um so glaubwürdiger, als die russischen Truppen, die sich bereits nach der Moldau zurückzogen, von Fürst Gortschakow wieder vorwärts beordert
1 Admiral Charles Napier - 2 abscheuliche (Wortspiel)
wurden, der, wie es heißt, eine starke Streitmacht vor Bukarest konzentrieren will. Die Situation der russischen Truppen ist also jetzt folgende: ihr rechter Flügel an der oberen Jalomitza erstreckt sich bis an die Transsylvanischen Alpen, wo sie mit 24 schweren Geschützen den Temeser Paß besetzt halten, während das Zentrum sich von Fokschani nach Bukarest ausdehnt; ihr linker Flügel steht unter Lüders bei Braila und ihr äußerster linker Flügel unter Uschakow in der Dobrudscha. Der letzte Bericht vom Kriegsschauplatz meldet, daß die Türken mit starken Kräften (40000, inklusive 12000 Verbündete) die Donau überschritten und Giurgewo besetzt haben. Französische Zeitungen berichten, daß die russische Niederlassung an der Mündung der Sulina von abkommandierten Dampfern der vereinigten Flotte bombardiert und zerstört wurde; aber möglicherweise verhält es sich mit dieser Nachricht ebenso wie mit dem Märchen vom zweiten Bombardement und der Zerstörung von Bomarsund in der Ostsee. Die Operationen des Marschalls Saint-Arnaud im Orient scheinen ob ihrer Großartigkeit den Tuilerien einen gelinden Schrecken in die Glieder gejagt zu haben. Wenigstens heißt es, die französische Regierung habe einen besonderen Oberaufseher abgeschickt - natürlich einen finanziellen Sachverständigen -, um sein Übermaß an Eifer zu zügeln (son exchs de z&le). In Italien hat sich eine seltsame Erregung sowohl der Regierungen wie auch des Volkes bemächtigt. General LaMarmora, der piemontesische Kriegsminister, hat die Bildung von Heerlagern in Savoyen, in St.Maurice, in Alessandria und sogar auf der Insel Sardinien befohlen. Eine große Anzahl Soldaten auf unbegrenztem Urlaub sind zu den Waffen zurückberufen worden. Gleichzeitig werden die Festungen Alessandria und Gasale verproviantiert. Andrerseits hat Marschall Radetzky ebenfalls die Bildung eines Lagers zwischen Verona und Volta befohlen, wo mehr als 20000 Mann täglich in den Operationen des Kleinkriegs (petite guerre) ausgebildet werden. Wegen der Teuerung für Lebensmittel brachen Unruhen aus in Codogno, Casale, Pusterlengo und in einigen lombardischen Städten. Ungefähr zweihundert Personen sind verhaftet und nach Mantua gebracht worden. Nach Briefen aus Neapel sind dort ebenfalls zahlreiche Verhaftungen vorgenommen worden, wie auch in Sizilien, wo der Sohn des Grafen Caraffa eingekerkert worden ist. König Bomba1 führt außerordentliche Maßnahmen zur Bewaffnung zu Lande und zur See durch. Er hat befohlen, die Festung Gaeta für alle Eventualitäten in Bereitschaft zu setzen. Ganz Europa ist von ihm als verpestet erklärt und eine strenge Quarantäne für alle eintreffenden Schiffe
1 Ferdinand II.
eingerichtet worden. Der ganze Schiffsverkehr aus Portugal, Glasgow und den sardinischen Staaten ist einer Quarantäne von zehn Tagen, der von Toskana und den römischen Staaten von sieben Tagen unterworfen. Da nahezu jedes andere Land bereits ähnlichen Beschränkungen unterworfen ist, ist das freie Eintreffen von Schiffen überhaupt eine seltene Ausnahme. Die Auslandskorrespondenz zu Lande ist all den Vorsichtsmaßnahmen ausgesetzt, die gegenüber ankommenden Schiffen aus verpesteten Ländern beobachtet werden. Verbindung mit den Papststaaten wird noch über Monte Cassino und Sora und über die Abruzzen aufrechterhalten, aber gerade ist man dabei, einen Sicherheitsgürtel entlang der ganzen Grenze zu errichten. Die letzte von Madrid über Bördeaux fällige Post war bis gestern abend nicht in Paris eingetroffen. Von den königlichen Truppen wird behauptet, daß sie noch in der Verfolgung der Rebellen begriffen sind, daß sie diese erreicht haben und gerade dabei sind, sie in Stücke zu hauen. Zuerst wurde uns erzählt, daß sich die Rebellen, auf der Flucht in die Estremadura befänden, um die portugiesische Grenze zu erreichen. Jetzt hören wir, daß sie sich auf dem Weg nach Andalusien befinden, ein Umstand, welcher keine sehr große Entschlossenheit auf ihrer Seite zeigt, schnellstens das Land zu verlassen. Nach Privatbriefen ist General Serrano mit 300 Mann Kavallerie zu ihnen gestoßen, während die „Gaceta44 behauptet, daß er sich ihnen allein angeschlossen habe. In Madrid ging das Gerücht um, daß das Königsregiment (del Rey) zu den Insurgenten übergegangen ist. Der Korrespondent des „Morning Chronicle" fügt hinzu, daß außerdem 200 Offiziere aller Waffengattungen, einige Kompanien der in Toledo stationierten Regimenter und zwei Bataillone Freiwilliger aus Madrid zu ihnen übergelaufen sind. Die „Gaceta" teilt mit, daß die Division, die dazu beordert war, die Rebellen zu verfolgen, Madrid am Abend des 5. verlassen hat. Sie war aus drei Brigaden Infanterie, einer Brigade Kavallerie, zwei Batterien Artillerie, einer Kompanie Geniesoldaten und einem Detachement Arbeiter der Militäradministration zusammengesetzt. Sie brach auf unter dem Kommando von General Vistahermosa, der jedoch am folgenden Tage durch General Blaser, den Kriegsminister, abgelöst wurde. Ein königliches Dekret vom 7. Juli hat das Kriegsministerium während der Abwesenheit Blasers General San Roman anvertraut. Die „Gaceta" meldet, daß die oben erwähnte Division sich in Tembleque aufhält und sich durch das Tal des Guadiana in Richtung auf Ciudad Real bewegt. Am gleichen Teige veröffentlichte Blaser eine Proklamation an die Soldaten und Unteroffiziere in der Rebellenarmee, worin er sie auffordert, zu ihren Fahnen zurückzukehren, und ihnen Generalpardon im Namen der Königin verspricht.
Die Ereignisse in Spanien - Die Haltung der deutschen Staaten 335
Im „Messager de Bayonne" lesen wir folgendes:
„Nach den letzten bei uns eingegangenen Nachrichten hat General O'Donnell sich in Richtung auf Valdepenas bewegt. Die Vorhut der königlichen Armee war bei Tembleque konzentriert. General O'Donnell nutzt die Zeit, um seine kleine Armee, bestehend aus 2000 Reitern, sechs Artilleriegeschützen und 800 Infanteristen, auszubilden."
Die Proklamationen von O'Donnell und Dulce tragen verschiedenartigen Charakter; die eine appelliert an die Verfassung von 1837[164}, die andere an das alte kastilische Recht der Auflehnung gegen Monarchen, die sich des Bruchs des Krönungseides schuldig gemacht haben. Eine neue Erscheinung ist die Bildung von republikanischen Guerillas in Valencia. Mit dem Datum des 6. d. M. ist eine Mitteilung eingegangen, die besagt, daß einige Städte und Dörfer sich gegen die Regierung erhoben haben, unter andern Alcira, Jativa und Carlet. Orozco, ein Oberst im Ruhestand, ist an der Spitze eines bewaffneten Trupps in die letztgenannte Stadt eingedrungen; er beschlagnahmte Feuerwaffen und lud durchProklamation die Bewohner ein, sich der Bewegung anzuschließen. Die Regierung hat Detachements von Kavallerie, Infanterie und Zivilgarde abgesandt, um die Aufstände in Valencia zu unterdrücken. Die „Independance Beige" gibt der Note Rußlands an Österreich und Preußen[165] eine ganz neue Auslegung. Dieses Blatt, das als der Privatmoniteur der russischen Exdiplomaten in Brüssel angesehen werden kann, meint, die russische Note sei nicht direkt an das österreichische Kabinett, sondern an den Fürsten Gortschakow gerichtet gewesen, der dem Grafen von Buol eine Abschrift überließ und die Ansicht vertrat, Österreich hätte, als es die Räumung der Fürstentümer durch die Russen verlangte, damit eigentlich nur einen Waffenstillstand vorschlagen wollen; denn es könne doch nicht sein Wunsch sein, die abziehenden russischen Truppen einem Angriff der alliierten Streitkräfte preiszugeben. Österreich könne also nur einen Waffenstillstand beabsichtigt haben. Türken, Engländer und Franzosen hätten sich daher jeder Offensivbewegung und jedes Aktes neuerlicher Feindseligkeit gegen Rußland zu enthalten. In bezug auf die Räumung der Fürstentümer von russischen Truppen betont die Note, Rußland müsse sich in diesen Provinzen unbedingt gewisse strategische Punkte vorbehalten, solange der Friedensschluß auf sich warten ließe, denn sonst befinde es sich gegenüber den Armeen der Alliierten in einer zu unvorteilhaften Position. Andrerseits protestiert die Note gegen jegliche Unterstellung der Absicht, Österreich durch die erwähnte strategische Okkupation bedrohen zu wollen. Von diesen Prämissen ausgehend, schlägt die russische Note neue Friedensverhandlungen
auf folgender Basis vor: Integrität des Ottomanischen Reiches, die die russische Regierung niemals anzutasten beabsichtigt hat; Gleichheit zwischen den christlichen und muselmanischen Untertanen der Pforte, wie sie im Protokoll vom 9. April aufgefaßt wird; schließlich Revision der Konventionen, die sich auf die Meerengen beziehen. Die Note läßt ein gemeinsames Protektorat der Mächte über die Christen in der Türkei zu; aber der Artikel in der „Ind^pendance" gesteht, daß in bezug auf das russische Protektorat über die griechischen Christen einige unbestimmte Phrasen angehängt sind, die genügend Raum auch für abweichende Deutungen bieten. Fürst Gortschakow schlägt, wie es heißt, noch gedämpftere Töne an als die Note selbst. Seine Depesche enthält nicht das letzte Wort Rußlands; er dürfte ermächtigt sein, weiter zu gehen, um Österreich den Eintritt in neue Verhandlungen zu ermöglichen. Am 9.d.M. war das Wiener Kabinett jedoch noch zu keiner Entscheidung gekommen.
„Jetzt", sagt die „Independance" oder vielmehr Baron Brunnow, „dürfen wir es uns nicht verhehlen, daß, was immer auch die Absichten St. Petersburgs sein mögen, ein einziger Zwischenfall, eine tatsächliche Kriegshandlung, ein Angriff auf Kronstadt oder, was noch wahrscheinlicher ist, auf Sewastopol oder gar die Okkupation der Alandsinseln durch die englisch-französischen Truppen diese Absichten notwendigerweise ändern und diejenige Partei stärken muß, die jeder Konzession abgeneigt ist."
Auf alle Fälle ist Preußen von dieser russischen Note befriedigt und betrachtet sie als eine Art Mittel zu neuen Verhandlungen und zur Hinderung der Österreicher am Einmarsch in die Walachei. Selbst der „Moniteur" gibt zu, daß die Einwände, die Preußen gegen diesen österreichischen Einmarsch erhob, die Ursache der neuen Unschlüssigkeit des Wiener Hofes bilden. Andrerseits erzählt uns der scheinheilige „Morning Chronicle", „in Berlin behaupte man, der preußische Hof habe die ihm zukommende Verpflichtung übernommen, das österreichische Gebiet vor Invasion zu schützen, und das ermächtige ihn, gegen jede neue Provokation Rußlands zu protestieren".
Außerdem ist bekannt, daß der Vertrag zwischen Österreich und Preußen11661 just in einer Weise abgefaßt ist, daß er jeder der beiden Mächte erlaubt, ihre militärischen Operationen so lange zu unterbrechen, bis sie von der Notwendigkeit der kriegerischen Schritte überzeugt wäre, die die andere beabsichtige. So mag Österreich anscheinend darauf erpicht sein, gemeinsam mit den Westmächten vorzugehen, und könnte sich durch den Einspruch Preußens daran gehindert sehen. Ich meinesteils bin sicher, daß alle diese Eventualitäten von den drei nördlichen Mächten gemeinsam von langer Hand vorbereitet waren, und daß selbst die neuen Schwierigkeiten gegenüber
Österreich lediglich bezwecken, seiner Okkupation der Walachei den Anstrich eines heroischen Widerstandes gegen Rußland zu geben. Ein kleiner Scheinkrieg wie der österreichisch-preußische von 1850 ist vielleicht bei diesem Übereinkommen nicht ausgeschlossen, denn er würde nur dazu beitragen, Österreich beim Friedensschluß eine entscheidendere Stimme zu geben. Es sei bemerkt, daß die „Oesterreichische Correspondenz"11671 ausdrücklich ankündigt, Österreich stimme in jedem Punkt der Politik der Westmächte zu, außer einer eventuellen Verletzung der bestehenden russischen Grenzen. Zur Beurteilung der Stellung Österreichs ist es wichtig, den „Protest der serbischen Regierung gegen die österreichische Okkupation"11681 zu beachten, der vom 22. Juni datiert ist und jetzt dem Unterhaus vorgelegt wurde. Die serbische Regierung richtete diesen Protest an die Hohe Pforte. Er beginnt mit der Feststellung:
„Je nachdem Österreich vermutete, daß die serbische Regierung mehr oder weniger günstig für Rußland oder die Türkei gestimmt sei, führte es eine Sprache, die zu jenen mutmaßlichen Gesinnungen paßte, und versprach ihm beständig seinen Beistand zum Schutz der Grenzen des Fürstentums gegen jeden feindlichen Angriff."
Nun fand eine sehr bedeutende Truppenkonzentration an den serbischen Grenzen statt. Die serbische Regierung hat „direkt beim Wiener Kabinett und indirekt bei der Hohen Pforte dem Zweck und der Bedeutung dieser militärischen Vorbereitungen Österreichs nachgefragt". Österreich gab ausweichende Erklärungen, während die Pfqrte und die Vertreter der Westmächte in Konstantinopel vorgaben, den Zweck der österreichischen Demonstrationen nicht zu kennen, und sogar die Besorgnisse und Zweifel der serbischen Regierung zu teilen schienen.
„Der Pascha von Belgrad blieb ohne Instruktionen oder, genauer zu reden, er behielt seine alten, die ihm früher erteilt worden und laut welchen er jede militärische Intervention Österreichs in Serbien als feindlichen Angriff gegen das Ottomanische Reich ansehen und als solchen mit allen Kräften zurückweisen sollte." Als es schien, daß Österreich sich mehr und mehr den Westmächten zuneige, begannen deren Vertreter in Belgrad, beruhigende Zusicherungen über die Absichten Österreichs zu geben. Gleichzeitig versicherte das Wiener Kabinett der serbischen Regierung, daß die fraglichen militärischen Maßregeln keine Feindseligkeiten gegen Serbien bedeuteten; daß Österreich nur seine eigenen Grenzen schützen und in Serbien nur dann einschreiten wolle, wenn russische Truppen einrückten oder Revolten gegen die legitime Regierung dort ausbrächen; daß es folglich auch im letztern Fall nur als Freund und zur Unterstützung der Regierung und der legitimen Obrigkeit erscheinen
würde. Die serbische Regierung wurde durch diese Versicherungen Österreichs nicht beruhigt. Sie sah, wie Österreich sich auf der einen Seite schiedsrichterliche Gewalt anmaßte und auf der anderen Seite unter dem Vorwand, dem Ottomanischen Reich gemeinsam mit den Westmächten zu Hilfe zu kommen, isoliert vorging. Schließlich argwöhnte Serbien Österreichs Absicht, gerade die Verwirrung zu schüren, die zu bekämpfen es sich angeblich so sehr angelegen sein ließ. Da die militärischen Vorbereitungen Österreichs von Tag zu Tag einen drohenderen Anschein gewannen, unternahm die serbische Regierung im Einverständnis mit Izzet Pascha energische Schritte in Wien und Konstantinopel, um jeden Plan zu hindern, der Österreich zum Gebieter über die Schicksale Serbiens machen könnte. Das war der Zweck, warum Aziz Pascha zuerst nach Wien gesandt wurde und er jetzt in Konstantinopel ist. Gleichzeitig wurden alle Maßregeln zur Verteidigung des Landes im Einverständnis mit dem türkischen Vertreter getroffen. Österreich gibt zwei Gründe an, die sein Einschreiten in Serbien veranlassen könnten: 1. den Einmarsch der Russen und 2. den Ausbruch eines Aufstandes in Serbien. Der erste ist absurd, denn der Kriegsschauplatz ist zu weit von Serbien entfernt; sollten die Russen versuchen, in Serbien einzudringen, so genügten die serbischen und türkischen Truppen vollständig, sie zurückzuwerfen. Wären Hilfstruppen nötig, so wären andere den Österreichern vorzuziehen.
„Die serbische Nation hegt ein so ausgesprochenes Mißtrauen, wo nicht Haß gegen Österreich, daß jedermann das Einrücken der Österreicher in Serbien augenblicklich als eine so drohende Gefahr, als ein so großes Unglück betrachtete, daß sich die ganze Tätigkeit der Serben gegen die österreichischen Truppen kehren, die ganze Tatkraft der Nation sich auf Bekämpfung dieser Feinde richten würde, in denen man stets die Personifikation jener Gelüste sähe, welche Österreich antreiben, in Serbien - gleichviel unter welchem Rechtstitel - nach Ausübung eines egoistischen Einflusses zu streben."
Was innere Aufstände betrifft, so befürchtet man sie nur als Folgeerscheinungen einer österreichischen Intervention. Serbien wird immer loyal gegen die Pforte sein.
„Alles, was die serbische Regierung verlangt, ist, daß sie von nun an mit dem Vertrauen beehrt wird, welches ihr die Hohe Pforte bis diesen Augenblick bezeugt, und daß man ihr Vaterland nicht einer österreichischen Besetzung überliefere, welche das Zeichen und der Anfang unberechenbarer Katastrophen wäre. Unter dieser Bedingung bürgt die serbische Regierung vollkommen für die Aufrechthaltung der Ruhe und der öffentlichen Ordnung in Serbien."
Die Haltung der deutschen Staaten - Englische Richter 339
Dieser Protest der Serben zeigt gleichzeitig auch deutlich, mit welchem Enthusiasmus das walachische Volk dem Einmarsch Österreichs in die Walachei entgegensieht. Die neutrale oder besser feindselige Haltung der kleineren Mächte gegen England kann niemanden überraschen, der seine jetzigen Kriegstaten gegen Rußland verfolgte, die Plünderungsexpeditionen der englischen Flotte in der Ostsee und die Maßnahmen beobachtete, die getroffen wurden, um die Truppen bei Varna zu jeder Leistung im Felde unfähig zu machen. Haben doch sogar die Krankenwagen für die britischen Truppen in der Türkei erst jetzt mit der „Himalaya" Southampton verlassen. Schweden hat demgemäß definitiv seinen Entschluß kundgetan, neutral zu bleiben und von allen gemeinsamen Schritten mit den Westmächten abzusehen, während Dänemark und Holland als Mitglieder des Deutschen Bundes[169] dem österreichischen Kommunique vom 24. Mai nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt zugestimmt haben, daß es nichts anderes bedeutet als unbedingte Neutralität und das Bestreben, den Frieden wiederherzustellen. Vor dem Polizeirichter von Bow Street, Herrn Jardine, hat sich ein Fall zugetragen, der eine erheblich größere Aufregung in London hervorgerufen hat als Bonapartes Rede in Boulogne oder Charleys glorreicher Rückzug von Kronstadt. Ein Deutscher, namens Dr.Peithmann, der vier Tage eingesperrt worden war, wurde mittels Haftbefehls vorgeführt und beschuldigt, eine Person von nicht klarem Verstand zu sein und untauglich, frei umherzulaufen. Herr Reynolds, der Anwalt der Schatzkammer, wünschte den Ausschluß der Öffentlichkeit und der Presse, und die Verhandlungen wurden dementsprechend mit der größten Geheimhaltung im Privatraum des Polizeirichters durchgeführt. Herr Otway, Mitglied des Parlaments, ein Freund des Beklagten, protestierte aufgebracht gegen den Versuch, ihn von der Untersuchung auszuschließen und wurde daraufhin zugelassen; Herr Lewis, ein Rechtsanwalt, forderte und erhielt ebenfalls die Zulassung als Anwalt des Beklagten. Herr Lewis fragte, warum Dr.Peithmann vier volle Tage in eine Angeklagtenzelle gesperrt worden sei, ohne ihn einem Polizeirichter vorzuführen. Herr Jardine antwortete, daß zwei Arzte Atteste unterzeichnet hätten, welche die Geistesgestörtheit des Beklagten bescheinigen; auf Grund derer müsse er dessen Überführung in eine Anstalt für Geisteskranke anordnen. Herr Lewis erbot sich, gegenteilige Atteste vorzulegen, doch Herr Jardine lehnte es ab, irgendeinen Vorschlag auf Vertagung des Falles zu hören, da er entsprechend den vor ihm liegenden Attesten handeln müsse. Herr Lewis erklärte darauf, er werde die Angelegenheit vor einen höheren Gerichtshof bringen, wo der Fall vorurteilsfrei behandelt und beide Parteien gehört würden. Er werde für
jetzt seinem Klienten den Rat geben, auf die Beschuldigung nicht zu antworten, obwohl er dazu vom Polizeirichter aufgefordert wurde. Herr Otway protestierte gegen den ex parte1 Charakter des ganzen Verfahrens und erklärte, er werde die ganze Angelegenheit vor das Unterhaus bringen, indem er die Bekanntgabe der Einzelheiten der voraufgegangenen Verhaftung und der Überführung in eine Anstalt für Geisteskranke beantragen werde. Der Beklagte wurde nach Colney Hatch2 überführt. Ich füge nun unten die im heutigen „Morning Advertiser" veröffentlichte Erklärung von Herrn Percival hinzu, des Arztes, der kürzlich Dr.Peithmann von Bedlam2 entließ:
„Dr. Peithmann, ein deutscher Professor, der zu Bonn, Berlin und Halle studiert hat, ist der Sohn eines hannoverschen Offiziers, der für Georg III. kämpfte und in seinem Dienst starb, und der Stiefsohn Baron Rippertas, eines russischen Landrats. Er kam nach England vor ungefähr dreißig Jahren; da er bald mit dem schmachvoll mangelhaften Erziehungssystem in unseren höheren und Hochschulen bekannt wurde, ging er nach Oxford und Cambridge, um dort Vorlesungen über dieses Thema zu halten. 1835 wurde er dem Marquis von Normanby empfohlen, unter dessen Protektion er nach Irland ging. Lady Normanby, die bereits einen Hauslehrer für Lord Mulgrave hatte, empfahl Dr. P. an einen irischen Edelmann, für dessen beide Söhne er Hauslehrer wurde. Nach sieben Monaten entdeckte man, daß der älteste Sohn ein tiefgehendes Liebesverhältnis mit einem sächsischen Dienstmädchen der Familie unterhielt, die von ihm schwanger war. Seine Mutter wandte sich an Dr. Peithmann, er möge ihr helfen, das Mädchen zurück nach Deutschland zu schaffen, aber der Doktor lehnte es ab, sich einzumischen. Er verließ die Familie und begann in Dublin öffentliche Vorlesungen zu halten, als ungefähr im März 1836 das sächsische Mädchen, nachdem es auf dem Wohnsitz des Edelmannes ein Kind zu Welt gebracht hatte, in einem Zustand großer Not dort hinkam und ihm bald darauf mitteilte, daß sie einen Anwalt in Anspruch nehmen werde, um einen Prozeß wegen Verführung gegen den Sohn des Edelmannes in die Wege zu leiten, und daß er als Zeuge vorgeladen werde. Dr. Peithmann entschloß sich dann, bei Oberst Phipps vorzusprechen, der Kammerherr des Marquis von Normanby und sehr vertraut mit der Familie jenes Edelmannes war. Er sprach wiederholt vergeblich bei diesem Phipps, dem Bruder Normanbys und gegenwärtigen Sekretär Prinz Alberts, vor, erhielt aber weder Antwort noch Zutritt, und wurde endlich Herrn Studdert, einem Polizeirichter in Dublin, übergeben, der ihn auf Grund der Beweismittel des gleichen Phipps, ohne irgendein Zeugnis der Ruhestörung, im Mai 1836 in eine Anstalt für Geisteskranke sandte. Unter Lord Normanbys Vizekönigtum wurde er auf Grund des Attestes eines Dr. Lytton, das nach dessen Meinung keine Grundlage für Peithmanns Geistesstörung enthielt, in Dean Swift's Hospital überführt. Er wurde neun Monate später durch das Eingreifen Dr. Dawsons,
1 einseitigen - 2 Irrenanstalt
des Dekans von St. Patrick's freigelassen, auf dessen Empfehlung hin er einige Vorlesungen vor der Royal Society of Dublin1 hielt und von Lord Fortescues Familie engagiert wurde. Beim Eintreffen Prinz Alberts in England bewarb er sich beim Prinzen um den Posten eines Bibliothekars und bat um die Erlaubnis, seine Schulreformen durchzuführen. Nach einer langen Unterredung gab der Herzog von Sussex seinem Bibliothekar die Anweisung, ihm freien Zutritt zu seiner Bibliothek zu geben. Danach sandte er seine Bewerbung an Prinz Albert, zusammen mit seinen Zeugnissen und elf von ihm veröffentlichten Bänden. Der Prinz beantwortete seine Bewerbung nicht; schließlich sprach Dr. Peithmann dort vor, um eine Unterredung zu erbitten oder um seine Zeugnisse zurückzuerhalten. Ungefähr zu dieser Zeit feuerte der junge Oxford auf die Königin, und eine Frauensperson kam aus Deutschland, mit der der Prinz enge Beziehungen in Bonn unterhalten hatte, wo er mit Peithmann unter dem gleichen Professor studiert hatte. Der Hof wurde nervös, und Dr. Peithmanns Hartnäckigkeit erregte Mißtrauen. Ein Bericht wurde an den Innenminister, den Marquis von Normanby, gesandt, über den Peithmann sich beschwerte, daß der ihn unberechtigt in einer Dubliner Anstalt für Geisteskranke eingesperrt gehalten habe; und eines Morgens im Juni 1840 wurde ein Polizist in Zivil geschickt, um den Doktor von seiner Wohnung inWhitehall zu holen. Lord Normanby ließ seinen Bruder, Oberst Phipps, kommen, auf dessen Zeugnis hin der anwesende Polizeirichter die Überführung des Doktors nach Bedlam anordnete, wo er vierzehn Jahre lang eingesperrt blieb. Seine Führung war dort immer beispielhaft; er war dort niemals Einschränkungen oder einer medizinischen Behandlung unterworfen, und er beschäftigte sich damit, eine Verbesserung der Behandlung der Patienten zu erreichen, indem er Klassen mit denen von ihnen bildete, die fähig waren, seinem Unterricht zu folgen. Als er entlassen worden war, petitionierte er auf Anraten seiner Freunde an die Königin, und vergangenen Sonnabend begab er sich, da er voraussetzte, daß er nun überall hingehen könne, ohne Argwohn zu erregen, zur königlichen Kapelle im Buckingham Palace, wo er dem Gottesdienst beiwohnte, um von der Königin bemerkt zu werden. Hier geschah es, daß er erneut verhaftet wurde."
Ihre Leser mögen aus diesem Beispiel ersehen, wie gefährlich es in diesem freien Lande ist, die Nervosität des Hofes zu erregen und in die Familienskandale der moralischen englischen Aristokratie eingeweiht zu werden.
Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 Akademie der Wissenschaften von Dublin
Karl Marx
[Die Wiener Konferenz - Die österreichische Anleihe - Die Proklamationen Dulces und 0'Donneils - Die Ministerkrise in England]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4147 vom 3. August 1854] London, Dienstag, 18. Juli 1854. Am 13. Juli fand in Wien eine Konferenz statt, die sich in ihrer Zusammensetzung erheblich von den letzten berühmten Konferenzen unterschied. Graf Buol, der österreichische Ministerpräsident, gab an diesem Tage ein Essen zu Ehren des Fürsten Gortschakow, des russischen Gesandten, dessen Aufgabe es ist, die Stellung des Fürsten Gortschakow, des Oberkommandanten in den Fürstentümern, zu decken. Außer dem personnel1 der russischen Gesandtschaft waren anwesend: Graf Flemming, der Vertreter Preußens während der Abwesenheit des Grafen Arnim, General Mansbach, der Gesandte Schwedens, Graf Bille-Brahe, Gesandter Dänemarks, de Heeckeren, Gesandter Hollands, de Wendland, der vertriebene Sekretär des Königs von Griechenland, und schließlich Graf O'Sullivan de Grass, Minister von Belgien und Doyen des corps diplomatique2. Das ist eine vollständige Liste der Personen, die sich offen zu Rußland bekennen. Bamberg[170] war natürlich auch stark vertreten, aber die Namen seiner großen Männer wurden nicht genannt. Die offizielle englische Presse kann ein Gefühl des Mißbehagens nicht unterdrücken über den österreichischen Befehl zum Aufschub von Graf Coroninis Einmarsch in die Walachei und über die an Paris und London geschickten Depeschen^in denen Rußland vorschlägt, den Bedingungen des Protokolls vom 9. April als Grundlage von Friedensverhandlungen unter Vorbehalt zuzustimmen. Die halbamtliche „Oesterreichische Correspondenz" vertritt die Meinung, daß die russischen Vorschläge, obwohl sie durchaus nicht befriedigend sind, tatsächlich einiges enthalten, das von den westlichen
1 Personal - 2 Rang- oder Dienstältester des Diplomatischen Korps
Mächten beachtet zu werden verdient. Die „Times", der „Morning Chronicle" und der „Observer"11711 versuchen, uns damit zu trösten, daß sie Preußen allein die Schuld geben. Wenn noch etwas fehlte, um den Eindruck, den dieses Essen hervorgerufen hat, zu verstärken, so wäre die veränderte Stellung der russischen Truppen Beweis genug, wie sehr sich Rußland auf die Absichten Österreichs verläßt. So lesen wir in der „Neuen Preußischen Zeitung", dem russischen „Moniteur" in Berlin, hinsichtlich der letzten russischen Truppenbewegungen in den Fürstentümern: „Heute hat sich durch einen vom Fürsten Gortschakow eingetroffenen Befehl alles geändert, was gestern noch bestimmt war. Der Rückzug der Besatzung (von Bukarest), die Räumung der Spitäler Bukarests war anbefohlen, und General Dannenberg sollte in wenigen Tagen mit der Gensd'armerie die Stadt verlassen und mit der Arrieregarde sein Hauptquartier in Fokschani nehmen. Jetzt soll nach der neuen Ordre die Linie Oltenitza, Bukarest, Buseo und Fokschani besetzt werden." Aus anderen Quellen erfahren wir, daß die russische Kavallerie wieder auf Slatina auf dem linken Ufer der Aluta vorstößt. Wie ernst die Absicht war, Bukarest zu räumen, geht aus den strengen Maßnahmen hervor, die getroffen wurden, um die Archive aus der Stadt abzutransportieren, die für den Hof von Peterhof äußerst kompromittierende Dokumente enthalten sollen. Alle diese augenscheinlich seltsamen und sich widersprechenden Bewegungen der Russen erklären sich aus dem ungelegen kommenden Eingreifen der türkischen Armee in die diplomatischen Abmachungen. Wie die aufeinanderfolgenden Abkommen der Diplomaten in Wien durch die türkischen Erfolge bei Oltenitza, Cetate und Silistria über den Haufen geworfen wurden, so wurden auch ihre letzten Täuschungsmanöver durch den allgemeinen Vormarsch der Armee Omer Paschas zunichte gemacht. „Die Staatsweisheit dieser ränkevollen, hochbeteuernden Schurken - des alten abgestandenen, mauszerfreßnen, dürren Käse Nestor und des Schelmenfuchses Ulysses ist nun, wie sich's ausweist, keine Heidelbeere wert; worauf die Griechen anfangen, es mit der Barbarei zu halten, und die Staatsweisheit in Verruf kommt".!172! Wenn man am Sonnabend durch die Straßen von London gegangen wäre, hätte man überall die Zeitungsverkäufer ausrufen hören können: „Großer englisch-türkisch-französischer Sieg über die Russen bei Giurgewo und Einnahme Bukarests durch die alliierten Truppen." Die Ursache für diese prahlerischen Ankündigungen werden Sie nach und nach kennenlernen, wenn ich auf die neue Ministerkrise zu sprechen komme. Über die Mitwirkung der englisch-französischen Truppen in der Schlacht von Giurgewo wissen wir durch die reguläre Post aus Varna bis zum 4. d.M., daß in den Lagern „keine Bewegung" stattgefunden hat. Nach den neuesten Wiener Meldungen vom
13. Juli waren die Hilfstruppen in flottem Marsch auf Rustschuk über Schumla, am 8. war eine Division französischer Truppen in Rustschuk eingetroffen, und am 9. traf dort nur eine Division der englischen Truppen ein. Die Schlacht von Giurgewo endete jedoch am 8. um 4 Uhr morgens, nachdem sie am 7. früh begonnen hatte und nach einer Unterbrechung von einigen Stunden mittags wieder aufgenommen und bis zum Morgen des 8. fortgesetzt wurde. Es ist deshalb unmöglich, daß französische oder englische Truppen daran teilgenommen haben. Die Türken fanden acht vernagelte russische Kanonen vor und warfen sogleich Verschanzungen um Giurgewo auf. Die Stadt litt keinen Schaden trotz einiger Granaten, die die Türken von Rustschuk und den Inseln aus abgefeuert haben. Nach dem Rückzug der Russen erließ Omer Pascha eine Proklamation, die die Einwohner aufforderte, sich ruhig zu verhalten, da ihrer Stadt keine weitere Gefahr drohe. Giurgewo wurde nur durch ein kleines Detachement regulärer Truppen besetzt, während die Hauptkräfte der Türken in der Umgebung der Stadt und auf den drei Donauinseln untergebracht wurden. Omer Pascha blieb in Giurgewo, Said Pascha in Rustschuk. Die Türken beherrschten die Straße, die Giurgewo und Oltenitza auf dem linken Donauufer verbindet. Eine zweite Schlacht, die die Einnahme Bukarests zur Folge gehabt haben soll, bezeichnet selbst der französische „Moniteur" nur als eine kleine Niederlage, die die Türken der russischen Nachhut bei Frateschti auf der Straße von Giurgewo nach Bukarest bereiteten. Der „Moniteur" fügt hinzu, daß ein englisch-französisches Korps von 25000 Mann zu den Türken gestoßen ist, daß sich die zusammengezogenen Kräfte der Alliierten auf etwa 60000 Mann belaufen, daß Fürst Gortschakow eine etwa gleichgroße Streitmacht befehligt und man eine große Schlacht erwarten könne, die über das Schicksal von Bukarest entscheiden würde. Frateschti ist ein kleiner befestigter Ort, ungefähr zwölf Meilen von Giurgewo und dreißig Meilen von Bukarest entfernt. Dem „Moniteur" zufolge wurde die Schlacht dort am 11. geschlagen, nach dem „Journal des Debats"[173] hingegen am 14. d.M. Die Russen sollen dabei 700 Verwundete gehabt haben, darunter zwei Generale. Der letzte Marseiller Dampfer aus Konstantinopel berichtet von der Einnahme der Sulinamündung der Donau durch den englischen Dampfer „Terrible". Er soll in die Reede eingefahren sein, die russischen Festungen zerstört, die Garnison in die Flucht geschlagen und ihren Kommandanten gefangengenommen haben. Diese Nachricht scheint mir jedoch eine positivere Bestätigung zu erfordern. Ein Gerücht, das von englischen Zeitungen verbreitet, aber von keinem französischen Blatt aufgenommen wird, behauptet, daß Admiral Lyons vor
Die österreichische Anleihe - Die Proklamationen Dulces und O'Donnells 345
Anapa kreuzt, um eine Operation Admiral Bruats zu unterstützen, der 7000 Mann für eine Landung an Bord haben soll. Briefe aus Konstantinopel besagen, daß die Pforte auf Grund der Vorstellungen des englischen und des französischen Gesandten geneigt sei, sofort mit Griechenland Handelsbeziehungen unter folgenden Bedingungen aufzunehmen: 1. daß Griechenland sich verpflichtet, zu angemessenen Bedingungen die Kriegsausgaben und einen Schadenersatz für die von den Aufständischen in der letzten Zeit organisierte Plünderung zu bezahlen, und 2. daß es innerhalb von zwei Monaten den bis dahin abgelehnten Handelsvertrag unterzeichnet. Dieser Vertrag erkennt die gegenwärtigen Grenzen der türkischen und griechischen Territorien an. Von der Ostsee nichts Neues. Der „Hamburger Correspondent" schreibt über das Ergebnis der englischen Raubexpedition an der finnischen Küste und deren Wirkung auf die Finnen folgendes: „Es steht fest, daß die russische Regierung, die sich seit den Bränden von Brahestad und Uleaborg über die Gefühle der finnischen Bevölkerung längs der zwei Golfe im klaren ist, befohlen hat, unter den tauglichen Männern Waffen zu verteilen, um sie zum Widerstand gegen jeden neuen Landungsversuch der englischen Geschwader zu befähigen. Man hat die sofortige Aufstellung von zwei Bataillonen finnischer Schützen zu je 1000 Mann genehmigt; die Rekrutierung soll in den Bezirken von Abo, Vasa und Uleaborg erfolgen. Eine größere Anzahl dieser Bataillone soll nach und nach in den anderen Provinzen gebildet werden." Die österreichische Anleihe entwickelt sich zu einer Zwangskontribution, wie ich es vorausgesagt habe.1 Das Ganze soll nun auf die verschiedenen Kronländer des Kaiserreichs verteilt werden; so muß zum Beispiel Oberösterreich 115000000 Gulden auf sich nehmen, Niederösterreich 15000000, Wien 2500000, Ungarn 70000000 usw. Wenn der Kaiser von Rußland auch nichts für sich selbst erreicht hat, so hat er doch wenigstens dafür gesorgt, daß die anderen Regierungen wegen der Finanzfragen mit ihren Untertanen in ernste Auseinandersetzungen geraten werden. Die Preußen werden am I.August eine erhöhte Einkommensteuer zahlen müssen. Auch Bonaparte soll eine weitere Anleihe von 500000000 frs. planen, deren Wirkung auf Frankreich durch die gegenwärtigen Aussichten der Wein- und Getreideernte und die Stagnation des Handels, besonders in Lyon seit dem Aufruhr in Spanien, keineswegs gemildert wird. Ein Appell an die englischen Taschen wird auch vom Koalitionsministerium erwogen und für nächste Woche erwartet. Der spanische Aufstand scheint in eine neue Phase einzutreten, wie aus den Proklamationen von Dulce und O'Donnell hervorgeht. Der erstere ist
1 Siehe vorl. Band, S. 329-330
24 Marx Engels, Werke, Band 10
ein Parteigänger Esparteros, der letztere war ein treuer Anhänger Narväez' und insgeheim wahrscheinlich Königin Christinas. O'Donnell, der sich überzeugt hat, daß die spanischen Städte diesmal nicht von einer bloßen Palastrevolution in Bewegung gesetzt werden können, trägt ganz plötzlich liberale Prinzipien zur Schau. Seine Proklamation ist aus Manzanares datiert, einem Flecken der Mancha, nicht weit von Ciudad Real. Sie besagt, daß sein Ziel ist, den Thron zu erhalten, aber die Kamarilla zu beseitigen; die strenge Befolgung der Grundgesetze; die Verbesserung der Wahl- und Preßgesetze; die Herabsetzung der Steuern; die Beförderung im Zivildienst nach Verdienst; die Dezentralisierung und Aufstellung einer Nationalmiliz auf breiter Basis. Sie schlägt Provinzialjuntas und eine Generalversammlung der Cortes in Madrid vor, die nach der Revision der Gesetze abgelöst werden soll. Die Proklamation General Dulces ist noch energischer. Er sagt:
„Es gibt keine Progressisten und Moderados mehr; wir sind alle Spanier und Nachfolger der Männer vom 7. Juli 1822. Rückkehr zur Verfassung von 1837, Unterstützung Isabellas II., ständiges Exil der Königinmutter, Entlassung des gegenwärtigen Ministeriums, Wiederherstellung des Friedens in unserem Lande, das ist das Ziel, das wir mit allen Mitteln anstreben, wie wir es auf dem Felde der Ehre den Verrätern zeigen werden, die wir für ihren verbrecherischen Wahnsinn strafen werden."
Wie das „Journal des D6bats" berichtet, sind in Madrid Papiere und Korrespondenzen abgefangen worden, die angeblich einwandfrei beweisen, daß es das geheime Ziel der Aufständischen sei, den Thron für vakant zu erklären, die Iberische Halbinsel zu einem Staat zu vereinigen und die Krone Dom Pedro V., Prinz von Sachsen-Coburg-Gotha, anzubieten. Das besorgte Interesse, das die „Times" dem spanischen Aufstand widmet, und die gleichzeitige Gegenwart des besagten Dom Pedro in England scheinen tatsächlich zu zeigen, daß die Coburger neue Ränke schmieden. Der Hof fühlt sich offensichtlich nicht ganz wohl dabei, da alle nur möglichen Kombinationen der Minister versucht worden sind; man wandte sich vergebens an Isturiz und Martinez de la Rosa. Der „Messager de Bayonne" bestätigt, daß der Graf von Montemolin Neapel verließ, sobald er Nachricht von dem Aufstand erhielt. O'Donnell ist in Andalusien eingedrungen, nachdem er die Sierra Morena in drei Marschsäulen, eine bei Carolina, eine bei Pozoblanco und die dritte bei Despenaperros überquert hatte. Die „Gaceta" gibt zu, daß es Oberst Buceta gelang, Cuenca überraschend zu nehmen, durch dessen Besitz die Aufständischen ihre Verbindung mit Valencia gesichert haben. In der letztgenannten Provinz umfaßt der Aufstand jetzt ungefähr vier oder fünf Städte,
Die Proklamation Dulces und O'Donnells - Die Ministerkrise in England 347
abgesehen von Alcira, wo die Regierungstruppen eine ernste Schlappe erlitten. Es wird gleichfalls berichtet, daß in Reus in Katalonien eine Bewegung ausgebrochen ist, und der „Messager de Bayonne" fügt hinzu, daß in Aragon Unruhen stattgefunden haben.
Aimes-tu le front severe, Du sa(i)ge Napoleon? Aimes-tu que l'Angleterre, T'oppose Lord Palmerston?1
Mit diesem apostrophischen Gesang erfolgte die Einschiffung der französischen Truppen in Calais. Um aber Lord Palmerston wirklich dem Zaren entgegenzustellen, erschütterten machtvolle Bewegungen von Sonnabend bis Montag die Stadt mit dem Ziel, ihn an die Stelle des Herzogs von Newcastle zu setzen. Große Aufregung gab es noch einmal im ministeriellen Lager wie auch im Lager der Opposition. Es wurde bekannt, daß das Budget für das neue Kriegsministerium am Montag abend dem Haus vorgelegt werden sollte, und diese Gelegenheit ergriff man beim Schöpfe, um einen mörderischen Angriff auf die Koalition zu machen und den unverwüstlichen Palmerston in das Kriegsministerium zu befördern. „Am Sonnabend wurde für zwei Uhr der Kabinettsrat einberufen. Die Minister waren erst um drei Uhr versammelt. Sie waren dann alle mit Ausnahme des Ministers des Auswärtigen zugegen, der durch eine Audienz bei der Königin abgehalten wurde. Um vier Uhr traf Lord Clarendon ein. Ihre Beratungen dauerten dann bis einhalb sieben Uhr, und unmittelbar nach dem Abbruch der Sitzung begab sich Lord Aberdeen zum Palast Ihrer Majestät." Aus dieser erregten Darstellung des „Morning Herald" kann man ersehen, wie sehr die Hoffnungen der Tories durch diese „wichtigen" Ereignisse Auftrieb erhielten. Lord John Russell beorderte seine Anhänger für Montag nach Whitehall[174], und Disraeli versammelte seinerseits die Mitglieder der Opposition. Einhundertneunundsiebzig Herren kamen in Whitehall in fast hysterischer Erwartung der Enthüllungen zusammen, die Russell für sie bereithielt. Sie wurden von dem „Squeers" des Parlaments ganz erbärmlich getäuscht, der ihnen trocken mitteilte, daß die Verabschiedung der Kriegsausgaben so gut wie sicher sei und daß er von ihnen Ruhe und Fassung erwarte:
1 Gefällt dir die strenge Stirn des weisen Napoleon? Gefällt dir, daß England dir Lord Palmerston entgegenstellt?
„Das Kabinett brauche bald noch mehr Geld für die Weiterführung des Krieges, und deshalb werde die Frage, ob Vertrauen oder kein Vertrauen zur Koalition in der nächsten Woche akut, wenn eine derartige Geldbewilligung dem Hause präsentiert werde." Da er nicht in die Geheimnisse Lord Ciarendons eingeweiht war, konnte er ihnen keinerlei Mitteilung über den Stand der Außenpolitik machen. Nun, das Ergebnis bestand darin, daß Russell die ganze Koalition für diese Session gerettet hat; denn, wenn das Vertrauensvotum in Zusammenhang mit dem Budget des Kriegsministeriums gestellt worden wäre, hätte eine Niederlage einen Sieg Palmerstons über Newcastle bedeutet, während ein Votum gegen die Regierung wegen des allgemeinen Kriegsbudgets einem Sieg der Tories über die vereinigten Whigs und Peeliten gleichgekommen wäre ~ eine Möglichkeit allerdings, die nicht in Frage kommt. So wurden also die Geldbewilligungen für das Kriegsministerium gestern abend in einem sehr ruhigen Hause abgestimmt, und nichts ereignete sich als ein Vortrag von Russell und Pakington mit all den abgestandenen Gemeinplätzen über die gegenwärtige Militäradministration. Man muß es bedauern, daß der hartnäckige Widerstand der Königin Lord Palmerston den Weg ins Kriegsministerium versperrt, denn durch dessen Beförderung in dieses Ministerium würde der letzte Vorwand, mit dem die Radikalen noch die Außenpolitik Englands verteidigen, hinfällig werden. Auf die Ankündigung von Herrn Otway in der letzten Freitagsitzung des Unterhauses, daß er den Fall Dr. Peithmann vorbringen würde, erhob sich Lord Palmerston und erklärte, daß er bereit wäre, jegliche Erklärung abzugeben, und daß alles „in Ordnung" befunden werden würde. Inzwischen hat Dr. Peithmann einen Brief im „Morning Advertiser" veröffentlicht, der beweist, daß er, wenn auch nie in anderer Hinsicht geistesgestört, doch weiterhin an die Hochherzigkeit Königin Victorias und Prinz Alberts glaubt, die er flehentlich bittet, ihn doch nach Deutschland zurückkehren zu lassen gerade das, was sie wollen. Die klägliche Servilität der sogenannten radikalen Presse kommt in dem vollkommenen Schweigen über diesen beispiellosen Fall zum Ausdruck, wo ein lettre de cachet1 einen Mann achtzehn Jahre lang lebendig begraben hat, nur weil er das Unglück hatte, etwas über die königlichen und aristokratischen Beziehungen zum deutschen weiblichen Dienstpersonal zu wissen. Karl Marx Aus dem Englischen.
1 geheimer Haftbefehl
Karl Marx
Die spanische Revolution Griechenland und die Türkei
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4148 vom 4. August 1854] London, Freitag,2I.Juli 1854. „Ne touchez pas h la Reine" (Rührt die Königin nicht an) - so lautet ein alter kastilischer Grundsatz, aber die abenteuerlustige Madame Munoz und ihre Tochter Isabella haben bereits zu lange die Grenzen selbst dessen überschritten, was kastilischen Königinnen erlaubt ist, und haben die treue Anhänglichkeit des spanischen Volkes auf eine zu harte Probe gestellt. Die Pronunziamientos von 184311751 dauerten drei Monate; die von 1854 kaum ebenso viele Wochen. Das Ministerium ist aufgelöst, Graf San Luis geflohen, Königin Christina versucht, die französische Grenze zu erreichen, und in Madrid haben sich sowohl die Truppen als auch die Bürger gegen die Regierung erklärt. Die revolutionären Bewegungen in Spanien seit Beginn des Jahrhunderts bieten ein bemerkenswert einheitliches Bild; abgesehen von den Bewegungen zum Schutze provinzieller und örtlicher Belange, die in regelmäßigen Zeitabständen die nördlichen Provinzen in Unruhe versetzen, ist jede Palastverschwörung von Militäraufständen begleitet, und diese ziehen jedesmal Pronunziamientos der Städte nach sich. Für diese Erscheinung gibt es zwei Ursachen. Erstens sehen wir, daß der Staat im modernen Sinne, bedingt durch das ausschließlich provinzielle Leben des Volkes, gegenüber dem Hof keine nationale Verkörperung besitzt außer in der Armee. Zweitens haben die besondere Lage Spaniens und der Spanische Befreiungskrieg Bedingungen geschaffen, unter denen sich nur in der Armee die vitalen Kräfte der spanischen Nation zusammenfinden konnten. So gingen die einzigen nationalen Demonstrationen (die von 1812 und 182211761) von der Armee aus, und so
hat sich der aufgeschlossenere Teil der Nation daran gewöhnt, die Armee als das natürliche Instrument jeder nationalen Erhebung zu betrachten. Während der unruhevollen Jahre von 1830 bis 1854 mußten die spanischen Städte jedoch die Erfahrung machen, daß die Armee, anstatt sich weiterhin für die Sache der Nation einzusetzen, zu einem Instrument wurde, mit dem die ehrgeizigen Bewerber um die militärische Bevormundung des Hofes ihre Rivalitäten austrugen. Folglich sieht die Bewegung von 1854 ganz anders aus als selbst die vom Jahre 1843. Das Volk hielt die erneute1 des Generals O'Donnell für nichts anderes als eine Verschwörung gegen die am Hofe herrschende Richtung, zumal sie von dem früheren Favoriten Serrano unterstützt wurde. Stadt und Land zögerten demzufolge, auf den Appell der Kavallerie von Madrid zu reagieren. Deshalb war General O'Donnell gezwungen, die Art seines Vorgehens völlig zu ändern, um nicht isoliert zu bleiben und einen Mißerfolg zu riskieren. Er sah sich gezwungen, in seine Proklamation drei Punkte aufzunehmen, die gleichermaßen gegen die Oberherrschaft der Armee gerichtet waren: die Einberufung der Cortes, eine sparsame Regierung und die Bildung einer Nationalmiliz - die letzte Forderung ging von dem Wunsch der Städte aus, ihre Unabhängigkeit von der Armee wiederzuerlangen. Es steht daher fest, daß der Militäraufstand nur deshalb von einem Volksaufstand unterstützt wurde, weil er sich dessen Forderungen anpaßte. Es bleibt abzuwarten, ob er genötigt sein wird, sich daran zu halten und seine Versprechungen einzulösen. Mit Ausnahme der Karlisten[177j haben alle Parteien ihre Stimme erhoben - Progressisten, Anhänger der Verfassung von 1837tl64J, Anhänger der Konstitution von 1812[178j, Unionisten (die die Annexion Portugals fordern) und Republikaner. Den Nachrichten über letztgenannte Partei ist mit Vorsicht zu begegnen, da sie erst durch die Zensur der Pariser Polizei müssen. Außer diesen Parteikämpfen befinden sich die miteinander rivalisierenden Machtansprüche der Militärs in voller Entfaltung. Kaum hatte Espartero von dem Erfolg O'Donnells gehört, als er auch schon seinen Zufluchtsort Leganes verließ und sich zum Haupt der Bewegung erklärte. Aber sobald Cäsar Narväez von dem Erscheinen seines alten Pompejus auf dem Schlachtfeld Kenntnis erhielt, bot er seine Dienste der Königin an, die auch angenommen wurden, und er ist dabei, ein neues Ministerium zu bilden. Aus den Einzelheiten, die ich darlegen v/erde, wird man ersehen, daß das Militär keineswegs überall die Initiative ergriffen hat, sondern daß es mitunter dem überwältigenden Druck der Bevölkerung nachgeben mußte.
1 Meuterei
Außer den Pronunziamientos in Valencia, von denen ich voriges Mal berichtete, gab es eins in Alicante. In Andalusien haben Pronunziamientos in Granada, Sevilla und Jaen stattgefunden. In Altkastilien hat es ein Pronunziamiento zu Burgos gegeben; in Leon zu Valladolid; in Biskaya zu San Sebastian und Vittoria; in Navarra zu Tolosa, Pamplona und Guipuzcoa; in Aragonien zu Saragossa; in Katalonien zu Barcelona, Tarragona, Lerida und Gerona; es heißt, daß auch auf den Balearen ein Pronunziamiento stattgefunden hat. In einem Brief aus Cartagena vom 12. Juli, nach dem man auch in Murcia mit Pronunziamientos rechnet, heißt es:
„Durch ein vom Militärgouverneur des Ortes veröffentlichtes Bando1 sind alle Einwohner Cartagenas, die im Besitz von Musketen und anderen Waffen sind, aufgefordert worden, diese bei den Zivilbehörden binnen 24 Stunden abzuliefern. Auf Verlangen des Konsuls von Frankreich hat der Gouverneur den Franzosen gestattet, ihre Waffen, wie im Jahre 1848, beim Konsulat abzuliefern.''^179! Von all diesen Pronunziamientos verdienen nur vier besondere Erwähnung, nämlich die von San Sebastian in Biskaya, von Barcelona, der Hauptstadt Kataloniens, von Saragossa, der Hauptstadt Aragoniens, und von Madrid. In Biskaya gingen die Pronunziamientos von den Stadtgemeinden aus, in Aragonien vom Militär. Der Stadtrat von San Sebastian sprach sich für den Aufstand aus, als die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes laut wurde. Die Stadt war im Handumdrehen mit Waffen übersät. Erst am 17. konnten die beiden Bataillone, aus denen die Garnison der Stadt bestand, dazu gebracht werden, sich anzuschließen. Als die Vereinigung zwischen den Bürgern und dem Militär dann vollzogen war, machten sich 1000 bewaffnete und von einigen Truppen begleitete Bürger auf den Weg nach Pamplona und organisierten den Aufstand in Navarra. Das bloße Erscheinen der bewaffneten Bürger aus San Sebastian erleichterte die Erhebung der Hauptstadt Navarras. General Zabala schloß sich danach der Bewegung an und ging nach Bayonne, wo er die Soldaten und Offiziere des CordobaRegiments, die nach ihrer letzten Niederlage von Saragossa dorthin geflohen waren, aufforderte, sofort in ihr Land zurückzukehren und mit ihm in San Sebastian zusammenzutreffen. Einigen Berichten zufolge setzte er sich hierauf nach Madrid in Marsch, um sich unter den Befehl Esparteros zu stellen, während andere Berichte besagen, daß er auf dem Wege nach Saragossa war, um sich den aragonischen Aufständischen anzuschließen. General Mazarredo, der Befehlshaber der Baskischen Provinzen, der es ablehnte,
1 Bekanntmachung
sich an dem Pronunziamiento in Vittoria zu beteiligen, wurde gezwungen, sich nach Frankreich zurückzuziehen. Die unter dem Befehl des Generals Zabala stehenden Truppen bestehen aus 2 Bataillonen des Regiments Bourbon, einem Bataillon Karabiniers und einer Abteilung Kavallerie. Bevor ich das Thema der Baskischen Provinzen verlasse, möchte ich noch auf den charakteristischen Umstand hinweisen, daß der Brigadekommandeur Barastequi, der zum Gouverneurvon Guipuzcoa ernannt wurde,einer der früheren Adjutanten Esparteros ist. In Barcelona hatte offensichtlich das Militär die Initiative ergriffen, aber den weiteren Nachrichten zufolge, die wir erhalten haben, erscheint die Spontaneität seines Vorgehens sehr zweifelhaft. Am 13. Juli, um 7 Uhr abends, schlössen sich die Soldaten, die in den Kasernen von San Pueblo und Buen Suceso stationiert waren, den Demonstrationen des Volkes an und erklärten ihr Pronunziamiento unter dem Ruf: Vive la Reine! Vive la Constitution!1 Tod den Ministern! Fort mit Christina! Nachdem sie sich mit den Massen verbrüdert hatten und mit ihnen die Rambla entlanggezogen waren, machten sie am Platz der Verfassung halt. Die in Barceloneta liegende Kavallerie, die während der letzten sechs Tage Ausgehverbot hatte, weil sie dem Generalkapitän Mißtrauen einflößte, veranstaltete ihrerseits ein Pronunziamiento. Von diesem Moment an ging die ganze Garnison auf die Seite des Volkes über, und jeder Widerstand seitens der Behörden wurde unmöglich. Um 10 Uhr trat General Marchesi, der Militärgouverneur, unter dem allgemeinen Druck zurück, und um Mitternacht verkündete der Generalkapitän von Katalonien seinen Entschluß, für die Bewegung Partei zu ergreifen. Er ging zum Sitz des Ayuntamientos, wo er sich mit einer feierlichen Ansprache an das Volk wandte, das den Platz füllte. Am 18. wurde eine Junta gebildet, welcher der Generalkapitän und andere führende Persönlichkeiten angehörten; ihre Losung war: Verfassung, Königin und Sittlichkeit. Weitere Nachrichten aus Barcelona besagen, daß auf Befehl der neuen Behörden einige Arbeiter erschossen worden sind, weil sie Maschinen zerstört und Eigentum beschädigt hätten; auch soll ein republikanisches Komitee, das sich in einer benachbarten Stadt versammelt hatte, verhaftet worden sein; aber man sollte nicht vergessen, daß diese Nachrichten durch die Hände der Leute des 2.Dezember gehen, deren besonderer Beruf es ist, Republikaner und Arbeiter zu verleumdend1801 Es heißt, in Saragossa sei die Initiative vom Militär ausgegangen - eine Behauptung, die jedoch durch die hinzugefügte Bemerkung eingeschränkt
1 Es lebe die Königin! [Isabella II.]! Es lebe die Verfassung!
wird, daß sofort die Bildung eines Milizkorps beschlossen wurde. So viel steht fest und wird selbst durch die Madrider „Gaceta" bestätigt, daß vor dem Pronunziamiento von Saragossa 150 Soldaten aus dem MontesaRegiment (Kavallerie), die sich auf dem Marsch nach Madrid befanden und in Torrejon (fünf Leagues1 von Madrid entfernt) einquartiert waren, revoltierten und sich von ihren Vorgesetzten lossagten, welche am Abend des 13. mit der Regimentskasse in Madrid ankamen. Die Soldaten unter dem Kommando des Hauptmanns Baraiban saßen auf und ritten in Richtung Huete, vermutlich mit der Absicht, sich in Cuenca mit den Truppen unter Oberst Buceta zu vereinigen. Was Madrid anbelangt, gegen das angeblich Espartero mit der „Armee des Zentrums" und General Zabala mit der Nordarmee marschiert, so war es nur natürlich, daß eine Stadt, die vom Hofe lebt, sich als letzte der aufständischen Bewegung anschließen würde. Die „Gaceta" vom 15. d.M. veröffentlichte noch ein Bulletin des Kriegsministers, das behauptet, die Meuterer seien auf der Flucht und die enthusiastische Loyalität der Truppen nehme zu. Graf San Luis, der die Situation in Madrid anscheinend sehr richtig eingeschätzt hat, erklärte den Arbeitern, daß sie unter General O'Donnell und den Anarchisten alle ihre Arbeit verlören, während die Regierung im Falle ihres Sieges alle Arbeiter für 6 Realen (75 Cent) pro Tag mit öffentlichen Arbeiten beschäftigen würde. Durch diesen Schachzug hoffte San Luis, den erregbarsten Teil der Einwohner Madrids um seine Fahne zu scharen. Sein Erfolg jedoch glich dem der Partei des „National" 1848 in Paristl81]. Die Verbündeten, die er auf diese Weise gewonnen hatte, wurden bald seine gefährlichsten Feinde - die Geldmittel zu ihrer Unterhaltung waren schon am sechsten Tage erschöpft. Wie sehr die Regierung ein Pronunziamiento in der Hauptstadt fürchtete, wird durch die Proklamation General Laras (des Gouverneurs) offensichtlich, worin er jegliche Verbreitung von Nachrichten über das Fortschreiten des Aufstands untersagt. Es scheint ferner, daß sich die Taktik General Blasers nur darauf beschränkte, jeden Kontakt mit den Aufständischen zu vermeiden, um seine Truppen vor einer Infektion zu bewahren. Man sagt, daß General O'Donnell ursprünglich beabsichtigt habe, den Regierungstruppen in den Ebenen der Mancha zu begegnen, die für Kavallerieoperationen sehr geeignet sind. Dieses Vorhaben wurde jedoch infolge der Ankunft des früheren Favoriten Serrano fallengelassen, der mit einigen der wichtigeren Städte Andalusiens in Verbindung stand. Die konstitutionelle Armee beschloß daraufhin, nicht in der Mancha zu bleiben, sondern nach Jaen und Sevilla zu marschieren.
1 League — 4,83 km
En passant sei darauf hingewiesen, daß die boletinos1 des Generals Blaser eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Tagesbefehlen der spanischen Generale des sechzehnten Jahrhunderts haben, die Franz I. Anlaß zur Heiterkeit gaben, und mit denen des achtzehnten Jahrhunderts, die Friedrich der Große ins Lächerliche zog. Es ist klar, daß dieser spanische Aufstand eine Quelle der Zwietracht zwischen den Regierungen Frankreichs und Englands werden muß, und der von einer französischen Zeitung gegebene Bericht, daß General O'Donnell vor dem Ausbruch im Palast des britischen Gesandten verborgen war, ist nicht dazu angetan, die diesbezüglichen Befürchtungen Bonapartes zu mindern. Gewisse Anfänge eines Zerwürfnisses zwischen Bonaparte und Victoria zeichnen sich bereits ab; Bonaparte hoffte, der Königin bei der Einschiffung seiner Truppen in Calais zu begegnen, aber ohne seinen Wunsch zu beachten, besuchte Ihre Majestät am gleichen Tage die Ex-Königin Amelie. Hinzu kommt, daß die englischen Minister, als man sie wegen der Nicht-Blockierung des Weißen Meeres, des Schwarzen Meeres und des Asowschen Meeres interpellierte, zu ihrer Entschuldigung das Bündnis mit Frankreich anführten. Bonaparte antwortete darauf im „Moniteur" mit der Verkündung eben jener Blockade, ohne das förmliche Einverständnis Englands abzuwarten. Schließlich veröffentlichte Bonaparte, da sich die Einschiffung von französischen Truppen pur auf britischen Schiffen in Frankreich negativ auswirkte, noch eine Liste französischer Schiffe, die zu demselben Zweck bestimmt waren, und hielt sich daran. Die Pforte übermittelte den Vertretern der vier alliierten Mächte eine Note über die Erlaubnis für griechische Handelsschiffe, wieder in türkische Häfen einzulaufen. Diese Erlaubnis soll zwei Monate in Kraft bleiben, unter der Bedingung, daß die griechische Regierung sich keinerlei Handlung schuldig macht, die eine Aufhebung rechtfertigt. Falls mit Ablauf dieser Frist die griechische Regierung es versäumt haben sollte, der Pforte angemessene Reparationen zu zahlen, behält sich die letztere das Recht vor, den gegenwärtigen Status quo wiederherzustellen. Die in türkischen Häfen liegenden griechischen Schiffe werden den örtlichen Behörden unterstehen und nicht berechtigt sein, sich an andere Mächte um Schutz zu wenden. Innerhalb der beiden Monate wird man sich über die Grundsätze einer Übereinkunft und eines Handelsvertrages geeinigt haben. Die Entschädigung, die die Pforte für den durch den griechischen Aufstand erlittenen ungeheuren Verlust beansprucht, soll durch eine schiedsrichterliche Entscheidung festgesetzt
1 Tagesberichte
werden, auf Grund des Berichts eines Untersuchungskomitees, das an die betreffenden Orte geschickt werden soll und dem Franzosen, Engländer, Türken und Griechen angehören. Schamyl ist von der Pforte offiziell der Titel Generalissimus der Armee von Tscherkessien und Georgien verliehen worden. In Varna sind drei im Dienste der französischen Armee stehende Dragomane erschossen worden, die alle für schuldig befunden wurden, mit den Russen in Verbindung zu stehen. Zwei von ihnen waren Griechen, der dritte ein Armenier. Als die Hinrichtung vollzogen wurde, verschluckte einer von ihnen ein Stück Papier kompromittierenden Inhalts. Aus Hermannstadt haben wir vom 16. d.M. erfahren, daß bisher in der Nähe von Frateschti kein Gefecht stattgefunden hat. Es ist natürlich nicht wahr, daß die alliierten Truppen Rustschuk erreicht haben; ihr ganzes Ziel besteht gegenwärtig darin, die - wie es die „Times" nennt - barbarische Raserei der siegreichen Türken im Zaum zu halten.
Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
Die Kriegsdebatten im Parlament
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4150 vom 7. August 1854] London, Dienstag, 25. Juli 1854. In der Sitzung des Unterhauses am vergangenen Freitag abend teilte Lord John Russell als Antwort auf eine Anfrage von Herrn Disraeli mit, daß Ihre Majestät geruht habe, die Absendung einer Botschaft an das Haus zu verfügen, derzufolge er vorschlage, am Montag eine Kreditvorlage über 3000000 Pfd.St. einzubringen. Es bestünde keine Notwendigkeit für eine Budgetkommission. Auf Herrn Disraelis Frage, ob es in diesem Jahre eine Herbstsession geben würde, gab Lord John keine Antwort. Folglich wurde die Kreditvorlage in der gestrigen Sitzung beider Häuser ohne Abstimmung angenommen. Beim Einbringen der Vorlage im Oberhaus hielt Lord Aberdeen die kürzeste, trockenste und alltäglichste Rede, mit der er uns je seit Antritt seiner Ministerpräsidentschaft beehrt hat. Er müsse um drei Millionen bitten, und er sei sicher, daß Ihre Lordschaften keinen Einwand erheben würden. Sie könnten verschiedene Meinungen haben, doch alle müßten einig sein über „die Notwendigkeit, alle Maßnahmen zu ergreifen, die am besten geeignet wären, eine baldige und erfolgreiche Beendigung des Krieges herbeizuführen". Dieses Ziel sei in erster Linie „durch die wirksamen und energischen Anstrengungen Englands und Frankreichs, unter Mitwirkung der anderen Mächte, zu erreichen". Er sagte nicht, ob er die durch den Krieg zu machenden Anstrengungen oder die in Verhandlungen zu unternehmenden meinte, er nahm nicht einmal Rußland von den „anderen Mächten" aus, mit denen England und Frankreich zusammenarbeiten müssen. Angesichts der bevorstehenden Vertagung des Parlaments sei um so mehr Grund vorhanden, die Regierung mit Geld zu versehen. Möglicherweise würden es
einige der edlen Lords vorziehen, das Geld anderen Händen als den seinen anzuvertrauen, doch solche seltsamen Wünsche dürften sich nicht störend auf die Angelegenheit auswirken. Diese Angelegenheit, die jetzt die vordringliche ist, sei es, drei Millionen Pfund zu bewilligen. Earl of Ellenborough, der die besondere Gabe besitzt, niemals zur Sache zu sprechen, „hielt dies für die beste Gelegenheit, der Regierung zu empfehlen, in all jenen Departements, die keine Beziehung zum Kriege haben, strengste Sparsamkeit zu üben". Earl of Hardwicke war der Meinung, daß eine sehr große Seestreitmacht in der Ostsee für jede Eventualität bereitstehe, eine ähnliche Streitmacht im Schwarzen Meer sowie die größte Armee, die dieses Land je verlassen hat. Er wisse nicht, was die Regierung mit ihnen vorhabe, und daher appelliere er an jeden edlen Lord, den von ihnen geforderten Kredit zu bewilligen. Earl Fitzwilliam, ein Whig außer Dienst, protestierte dagegen, daß „dieses Land als das höchstbesteuerte in Europa bezeichnet werde; es müßte als das Land bezeichnet werden, in dem die Steuern leichter vom Volke getragen werden als in irgendeinem andern Teil der europäischen Völkerfamilie". Wenn der edle Lord von den Lords statt vom Volk gesprochen hätte, dann hätte er recht gehabt. „Was die Rede seines edlen Freundes, der an der Spitze der Regierung steht, betreffe", so wäre niemals bei einer solchen Gelegenheit eine gehalten worden, „von der mit größerer Berechtigung gesagt werden könne, daß sie dem Haus kaum einen neuen Gedanken vermittelt habe"; der edle Lord müßte am besten die Bedürfnisse des Hauses in bezug auf Gedanken kennen. Earl Fitzwilliam wünschte von Lord Aberdeen zu erfahren, wer „die anderen Mächte" seien, auf deren Mitwirkung er so großen Wert lege. Vielleicht Österreich? Er fürchte, sie könnten von jener Macht dazu veranlaßt werden, bestimmte unbedeutende Fragen, wie die Räumung der Fürstentümer und die freie Schiffahrt auf der Donau, als Rechtfertigung für einen Friedensabschluß zu betrachten. (Lächerliche Furcht, da Lord Aberdeen sicher von niemand dazu überredet werden wird, soviel zu fordern.) Er wünschte auch zu wissen, was unter der Integrität der Türkei zu verstehen sei - ob es das sei, was der Vertrag von Adrianopel darunter verstehe oder etwas anderes? Abschließend bemerkte er, daß sie sich in einer sehr seltsamen Lage befänden, da das Parlament auch nicht die geringste Kenntnis von den Absichten der Regierung habe. Dementsprechend würde er für den Kredit stimmen. Marquis von Clanricarde, dessen Laune mit jedem Tag, der ihn weiter vom Amt entfernt, schlechter wird, verlangte als Anerkennung für seine beispiellose Großmut, mit der er dem Ministerium bisher begegnet sei,
wenigstens eine Erklärung - eine Erklärung über die Fortschritte, die erzielt wurden, und den Kurs, der eingeschlagen wurde, seit die letzten Gelder gefordert wurden. Er wünschte etwas über den Stand und die Aussichten des Krieges und über den Standpunkt des Landes im Hinblick auf seine Alliierten zu wissen. Es hätte Erfolge seitens der Türken, doch nicht seitens der britischen Regierung oder der britischen Waffen gegeben, was ihn jedoch nicht daran hindern könnte, die Matrosen der Ostsee und des Schwarzen Meeres wegen ihrer Tapferkeit zu loben. Hinsichtlich der Beziehungen zu ihren Alliierten würde er einen Tag festlegen, an dem er beantragen würde, den jüngst zwischen der Türkei und Österreich abgeschlossenen Vertrag sowie andere Dokumente vorzulegen, die über die gegenwärtige Stellung Aufschluß geben könnten.
»Aus allgemein verbreiteten Gerüchten geht hervor, daß durch den Druck und die Überredung der britischen Regierung der Diwan und die türkischen Minister, die dem sehr abgeneigt waren, kürzlich ein Abkommen mit Österreich abgeschlossen haben, nach dem die österreichischen Truppen in die Donauprövinzen einziehen und einen Teil des Türkischen Reiches besetzen sollten."
Wie kam es, daß Österreich in der Stunde der Gefahr, statt auf den Plan zu treten, sich zurückhielt und neue Verhandlungen begonnen hat? Er wünschte auch zu wissen, ob die Wiener Konferenz fortgesetzt würde und worüber sie beriete? Insgesamt gesehen verließen sie sich zu sehr auf die deutschen Mächte. Um zu beweisen, daß Österreich der bestmögliche Verbündete sein „müßte", zeigte Lord Clarendon, wie es von Rußland eingekreist ist und seine Gebiete von allen Seiten bedroht werden. Der österreichisch-türkische Vertrag hätte dem Haus nicht vorgelegt werden können, da man bisher noch kein ratifiziertes Exemplar erhalten habe. Er glaube ihnen versichern zu können, daß die Zeit nicht mehr fern sei, da Österreich mit England zusammenarbeiten würde; er „stehe jedoch für nichts ein". Ihre Lordschaften könnten jedoch aus dem allgemeinen Charakter Österreichs und aus seiner eigenen Verwaltung des Ministeriums des Auswärtigen die erfreulichsten Schlußfolgerungen ziehen. Lord Clarendon, der bereits zweimal der schamlosesten Lügen überführt worden war, erwartet jetzt natürlich unbedingten Glauben an seine Versicherung,
„daß nicht beabsichtigt ist, zum Status quo zurückzukehren, und daß keine Absicht besteht, sich mit einem zusammengeflickten Frieden zu begnügen, der nur ein wertloser Waffenstillstand sein könnte und eine Rückkehr zum Kriege unvermeidlich machen würde".
Nach dieser glänzenden Schaustellung ihrer eigenen hohen Bildung wandten sich die Lords natürlich dem Problem der nationalen Erziehung zu, und wir trennen uns nun von ihnen. Während der Diskussion im Oberhaus beschäftigte sich das Unterhaus mit einigen unbedeutenden Fragen, bis ihnen die Rede Lord Aberdeens übermittelt wurde, die „einen unangenehmen Eindruck" hervorrief. Lord John Russell spürte sofort, daß es notwendig war, einen gegenteiligen Eindruck hervorzurufen. Als die erste außerordentliche Summe gefordert werden sollte, schickte die Regierung die „herrliche" Ostseeflotte auf den Weg; bei der zweiten mußte das berühmte Bombardement von Odessa herhalten; jetzt lautete das gewählte Losungswort Sewastopol. Lord John begann damit, daß er dem ^patriotischen" Geist des Hauses bescheinigte, seine Unterstützung so großzügig für die ersten Bewilligungen gegeben zu haben, und er dankte dem Hause, daß es bisher so verständnisvoll davon abgesehen habe, unangenehme Fragen an die Regierung zu richten. Dadurch seien große, sehr große Dinge erzielt worden, d. h. eine sehr große Zahl von Schiffen und Mannschaften wäre beschafft worden. Von Dampfschiffen ersten, zweiten und dritten Ranges hätten sie jetzt 17 im Vergleich zu nur einem am I.Januar 1853; von segelnden Linienschiffen 17 gegenüber 11 und eine Seestreitmacht von 57200 Mann gegenüber 33910. An der türkischen Küste hätten sie ebenfalls eine Streitmacht von über 30000 Soldaten aufgestellt, „von der sich ein großer Teil kürzlich in Varna befand". Soviel über das Kriegsmaterial. Über die Kriegsoperationen könne gesagt werden, daß sie „gerade erst begonnen hätten, und alles, was er sagen könne, sei, daß die türkische Armee Heldentaten vollbracht habe. Niemand würde jetzt sagen, daß es nur eines Nasenstübers des Zaren von Rußland bedürfe, um das gesamte Ottomanische Reich zu stürzen. Neben den tapferen Taten der Türken bestände der Ruhm dieses Krieges in der vollkommenen Einigkeit und Harmonie zwischen den franzosischen und englischen Armeen." Im Hinblick auf die von ihm geforderte Summe konnte er ihnen jedoch nicht sagen, wofür das Geld im einzelnen benötigt werde. Etwa zwei Millionen könnten Kommissariat, Feldzeugamt und Transport verschlingen; außerdem könnte eine größere türkische Truppeneinheit der britischen Armee angegliedert werden und den Sold von der britischen Regierung erhalten. Insgesamt gesehen, erbitte er das Geld nicht auf der Grundlage detaillierter Schätzungen, sondern zur Verwendung der Regierung, „wie sie es für nötig erachtet".
Der edle Lord sagte, daß Österreich sogar ein größeres Interesse als Frankreich und England daran habe, die Türkei zu schützen. Sobald der Zar über die Fürstentümer herrsche und einen vorherrschenden Einfluß in der Türkei ausübe, würde er die österreichische Regierung völlig in der Gewalt haben. Um Österreich jedoch gerecht zu beurteilen, sollte man berücksichtigen, von welchen Schwierigkeiten es bedrängt sei. Von mehr als einer Seite könnten sich die russischen Armeen bis auf eine geringe Entfernung der österreichischen Hauptstadt nähern, und andrerseits herrsche in einigen der Österreich unterworfenen Königreiche eine solche Unruhe, daß es für Österreich gefährlich wäre, sich in Feindseligkeiten einzulassen. Deshalb habe seine Politik darin bestanden, so lange wie möglich zu versuchen, die Lösung dieser Fragen durch Verhandlungen zu erreichen. Doch kürzlich habe es dem Kaiser von Rußland eine Botschaft übersandt, deren Beantwortung nicht als ausweichend bezeichnet werden könne. „Erstens zeigt sich Rußland nicht bereit, eine Frist für die Räumung der Fürstentümer festzusetzen. Es versichert, daß jetzt, da der Krieg erklärt worden ist und England und Frankreich in diesen Krieg verwickelt und Rußland im Schwarzen Meer und in der Ostsee überlegen sind, während seine Flotte die Häfen nicht verläßt, nur der Kriegsschauplatz in den Fürstentümern und die Schiffahrt auf der Donau übrigbleiben, wo Rußland hoffen kann, das Gleichgewicht wiederherzustellen und durch die Erfolge seiner Waffen einen Sieg für sich zu erringen. Es lehnt daher unter diesen Bedingungen die Räumung der Fürstentümer ab." Rußland sei bereit, die in dem Protokoll vom 9. April enthaltenen Prinzipien zu akzeptieren, ausgenommen den Punkt über die Aufnahme der Türkei in das europäische Staatensystem. Im Hinblick auf die künftige Haltung Österreichs ist Lord John einerseits der Meinung, daß es sich in seiner gegenwärtigen Politik irrt, doch andrerseits könne er nicht glauben, daß Österreich die übernommenen Verpflichtungen nicht einhält. Durch jene Verpflichtungen gegenüber den Westmächten und der Türkei sei Österreich gebunden, an den Bemühungen teilzunehmen, Rußland zurückzutreiben. Es sei möglich, daß es erneut versuche, von St.Petersburg bessere Zusicherungen zu erhalten. Sie besäßen natürlich keine Kontrolle über die Regierungsorgane Österreichs, und Österreich hätte seinerseits keine Kontrolle über den König von Preußen. Dementsprechend seien alle Mächte in der günstigsten Lage, um Rußland gemeinsam entgegenzutreten. Lord John ging dann zu einer ausführlichen und begeisterten Darlegung über, was sie - England und Frankreich - zu tun vorschlagen. Die Integrität der Türkei sei mit einer Rückkehr zum Status quo in den Fürstentümern nicht zu vereinbaren.
Er sagte: „Doch noch in anderer Weise bedroht die Stellung Rußlands die Unabhängigkeit und Integrität der Türkei. Ich meine die Errichtung einer großen Festung, die nach allen Regeln der Kunst ausgerüstet ist, so uneinnehmbar, wie das mit Hilfe der Befestigungskunst möglich ist, mit einer sehr großen Flotte von Linienschiffen in ihrem Hafen, die jederzeit bereit ist, bei günstigem Wind in den Bosporus einzufahren. Ich denke, daß das für die Türkei eine so bedrohliche Stellung ist, daß kein Friedensvertrag als vernünftig betrachtet werden kann, der den Kaiser von Rußland in dieser bedrohlichen Stellung beläßt." (Starker Beifall.) „Wir sind bereit, wie wir bisher bereit gewesen sind, uns in dieser Frage mit der Regierung Frankreichs in Verbindung zu setzen, und ich habe allen Grund anzunehmen, daß die Ansichten der Regierung des Kaisers der Franzosen in dieser Hinsicht mit unseren eigenen übereinstimmen." (Beifall.) Zu Herrn Disraelis Vorschlag für eine Herbstsession erklärte Lord John, er „lehne es ab, von Mitgliedern dieses Hauses Einschränkungen der Freiheit der Minister zu akzeptieren". Es wäre ebenso ermüdend wie überflüssig, die Meinungen der Hume, Bankes, Knight, Alcock und tutti quanti1 zu dieser Frage wiederzugeben. Herr Cobden, der den Worten von Lord John Glauben schenkte und der Meinung war, daß er das Haus in einen Kriegsrat verwandelt hat, bemühte sich sehr eifrig zu beweisen, warum Sewastopol und die Krim auf keinen Fall genommen werden dürften. Ein interessanterer Punkt wurde von ihm mit der Frage angeschnitten, ob England sich im Bündnis mit den Regierungen gegen die Nationalitäten befände. Ein großer Irrtum herrsche im Volke, das wähne, der Krieg werde im Interesse unterdrückter Nationalitäten unternommen. Er werde im Gegenteil mit dem Ziel geführt, die Ketten, die Ungarn und Italien an die Macht Österreichs schmieden, noch enger zu ziehen. Im Hause gäbe es ehrenwerte und genasführte Heriren, die „sich darüber beklagten, daß die Regierung den Krieg nicht so führe, wie sie müßte, daß sie einen anderen Mann an der Spitze des Kriegsdepartements haben müßte; manchmal hätten sie sogar gesagt, an der Spitze der Regierung. Sie hätten Lord Palmerston verlangt. Das alles sei im Interesse Ungarns und der Italiener geschehen. Er hätte es aus dem Munde von zwei der größten Führer Ungarns und Italiens gehört, daß sie weit davon entfernt seien, ihre Erwartungen und Hoffnungen auf jenen edlen Lord zu setzen; sie wüßten, wenn der edle Lord eine Möglichkeit hätte, ihnen moralische Unterstützung zu geben, würde er nicht einen Finger für sie rühren. Wenn es im Moment in der gegenwärtigen Regierung ein Mitglied gäbe, dem diese Führer weniger bereit wären zu vertrauen als einem anderen, so wäre es jener edle Lord. Er
1 ihresgleichen
25 Marx/Engels, Werke, Band 10
glaube nicht, daß sich der edle Lord des großen Betruges, der in seinem Namen praktiziert würde, bewußt sei, doch die Täuschung sei glücklicherweise geplatzt." Herr Layard und Lord Dudley Stuart beschränkten sich auf die Wiederholung ihrer alten Reden mit dem Unterschied, daß Lord Dudleys Überzeugung von der Zauberkraft des Namens „Palmerston" „stärker als je" sei. Es blieb Herrn Disraeli vorbehalten, mit einem einzigen Atemzug die ganze Seifenblasenrede Lord Johns zumPlatzen zu bringen. Nachdem er kurz seinen Vorschlag für eine Herbstsession mit einem Hinweis auf Sinope und andere Heldentaten, die sich während der letzten Herbstferien zugetragen hatten, begründet hatte, bekannte er, überrascht, verwirrt und beunruhigt zu sein über die Ankündigung der bevorstehenden Zerstörung von Sewastopol und der Eroberung der Krim. Lord John widersprach hier, erhob sich jedoch nicht. Herr Disraeli jedoch, der sich seinerseits setzte, zwang Lord John zu einer Erklärung. Mit demütiger und verwirrter Stimme trat er endlich nach vorn:
„ Ich kann ebensogut sagen, daß das, was ich sagte, bedeutet, daß ich der Meinung war, Rußland dürfte nicht gestattet werden, die bedrohliche Stellung weiterhin aufrechtzuerhalten, die es durch die Stationierung einer so großen Flotte in Sewastopol eingenommen hat." Nachdem Herr Disraeli dieses Geständnis aus Lord John herausgelockt hatte, hielt er eine seiner schärfsten und sarkastischsten Reden, die je protokolliert wurden, die wohl ein Durchlesen in extenso1 lohnen würde <sie wird ausführlich weiter unten unter der Rubrik Meldungen aus Großbritannien gebracht) und die mit folgenden Worten schließt: „Wahrlich, nach dem, was wir gehört haben, scheint es sehr ungerecht zu sein, einen so peinlichen Unterschied zwischen der Politik von Lord Aberdeen und der Politik einiger seiner Kollegen zu machen, wie das manchmal der Fall ist. Ich bin kein Bewunderer oder Anhänger von Lord Aberdeen, doch ich bin ebensowenig ein Bewunderer der Parlamentspolitik, die Mitglieder eines Kabinetts auf Kosten ihrer Kollegen freispricht. Nach der Erklärung, die der mir gegenübersitzende edle Lord darüber abgegeben hat, was er, wie er glaubt, gesagt habe, scheint es mir nicht so, daß seine Politik gegenüber Rußland sich wesentlich von der Lord Aberdeens unterscheidet, und das ist übrigens eine gewisse Genugtuung für das englische Volk. Wir haben folglich kein gespaltenes Kabinett, und die Session endet schließlich mit der Einmütigkeit der Minister zu dieser Frage. In der Frage der Durchführung des Krieges um kleine Ziele und darin, daß die großen Ziele der Politik erbärmliche und unbedeutende Ergebnisse zeitigen, scheint in der Koalitionsregierung Einmütigkeit zu herrschen."
1 vollständig
Lord Palmerstons Scherze verfehlten ihren Zweck. Nach der Rede von Herrn Disraeli und nachdem eine Anzahl anderer Mitglieder aufgetreten waren, um zu protestieren, daß sie durch Lord Johns erste Rede völlig irregeführt worden waren, wurden die beantragten Geldmittel zwar bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung, daß die Debatte heute abend wieder aufgenommen wird, wobei Lord Dudley Stuart gleichzeitig seine Absicht bekanntgab, eine Adresse an die Königin einzubringen,
„um sie zu bitten, daß sie gnadigst geruhen möge, das Parlament nicht eher zu vertagen, bis sie in der Lage sei, dem Haus genauere Informationen über die zu auswärtigen Mächten bestehenden Beziehungen zu geben und über ihre Ansichten und Perspektiven in dem Kampf, in den Ihre Majestät verwickelt ist". Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Politik Österreichs Die Kriegsdebatte im Unterhaus]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4152 vom 9. August 1854] London, Freitag, 28. Juli 1854. In einem meiner früheren Briefe1 gab ich Ihnen eine Analyse des österreichisch-türkischen Vertrags vom 14. Juni und erklärte als das Ziel dieser merkwürdigen diplomatischen Abmachung: erstens, den alliierten Armeen einen Vorwand zu geben, die Donau nicht zu überschreiten und den Russen nicht gegenüberzutreten; zweitens, die Türken an der Wiederbesetzung der ganzen Walachei zu hindern und sie aus dem schon von ihnen eroberten Teil wieder herauszudrängen; drittens, in den Fürstentümern das alte reaktionäre Regime wiederherzustellen, das Rußland den Rumänen 1848 aufgezwungen hatte. Wir erfahren nun tatsächlich aus Konstantinopel, daß Österreich gegen die Anmaßung Omer Paschas, die Donau zu überschreiten, protestiert habe; daß es eine ausschließliche Besetzung der Fürstentümer für sich beansprucht und das Recht, sie nicht nur den englisch-französischen Truppen, sondern gleichermaßen den Türken zu verschließen. Auf diese Vorstellungen hin soll die Pforte Omer Pascha Order gegeben haben, die Donau gegenwärtig nicht zu überschreiten, soll sich aber geweigert haben, im Prinzip der ausschließlichen Besetzung der Fürstentümer durch Österreich zuzustimmen. Der jämmerliche Reschid Pascha, der von seinem Lehrer und Gönner Lord Palmerston schon einiges gelernt hat, hat natürlich wenig dagegen einzuwenden, das, was er im Prinzip ablehnt, tatsächlich zuzulassen. Man wird vielleicht denken, Österreich hätte den Vertrag vom 14. Juni bereits verletzt oder faktisch ungültig gemacht, als es nicht in dem Augenblick in die Walachei einmarschierte, wo sich die russische Armee ungeordnet in drei
verschiedenen Richtungen zurückzog und in der Flanke und im Rücken einem österreichischen Angriff ausgesetzt war, wenn es ihr nicht gelungen wäre, sich sogleich hinter den Sereth zurückzuziehen. Man erinnere sich jedoch, daß Österreich gerade durch den Wortlaut dieses berühmten Vertrags weder verpflichtet ist, sogleich in die Fürstentümer einzuziehen, noch sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verlassen, noch selbst die Russen zu zwingen, sie in einer festgesetzten Frist zu räumen. Es wird jetzt berichtet, daß die Österreicher wirklich in die Kleine Walachei einmarschieren und die Russen ihre Truppen von den Karpatenpässen zurückberufen und sie in Fokschani konzentrieren. Das bedeutet jedoch nichts anderes, als daß die Österreicher, anstatt die Russen aus der Großen Walachei hinauszuwerfen, beschlossen haben, die Türken aus der Kleinen Walachei zu vertreiben und dadurch ihre Operationen an den Ufern der Aluta zu verhindern. Kein besserer Plan hätte ersonnen werden können, um einen Militäraufstand in der Türkei hervorzurufen, als die Entfernung der Türken aus dem Gebiet, das die türkische Armee erobert hat, und die Besetzung Bulgariens durch englisch-französische Truppen, die den Russen sorgfältig aus dem Wege gehen und die Türken in einer Art Belagerungszustand halten, wie aus der gemeinsamen Proklamation der englischen und französischen Befehlshaber an die Einwohner Bulgariens hervorgeht - einer Proklamation, die übrigens fast wörtlich von einem Budberg, einem Gortschakow und tutti quanti1 abgeschrieben ist. Ich habe Ihnen bereits vor langem vorausgesagt, daß die Westmächte dem Fortschritt einen Dienst erweisen würden - den Dienst, die Türkei, diesen Grundpfeiler des überlebten europäischen Systems, zu revolutionieren. Österreich protestiert nicht nur gegen die Anmaßung der Türkei, türkisches Gebiet zu besetzen, es fordert außerdem die Wiedereinsetzung der zwei Hospodare, die sich jetzt in Wien aufhalten; ihre Rückkehr nach der Walachei und Moldau zusammen mit den ersten österreichischen Truppen hat Herr von Bruck der Pforte angekündigt. Reschid Pascha erwidert, die Pforte wolle in Erwägung ziehen, ob ihre Wiedereinsetzung am Platze sei Herr von Bruck seinerseits besteht jedoch auf Erfüllung des Artikels 3 des Vertrages, der die Wiederherstellung der alten Regierung festlegt. Man wird sich erinnern, daß ich die Aufmerksamkeit auf die zweideutige Fassung lenkte, die man diesem Artikel geben könne.2 Reschid Pascha wendet dagegen ein, die Wiedereinsetzung könne nicht stattfinden, ehe die Pforte sich nicht vergewissert habe, daß die Hospodare gegen ihre Pflicht als loyale Untertanen nicht verstoßen hätten. Gegen den Moldaufürsten Ghika hätte
1 ihresgleichen - 2 siehe vorl. Band, S. 311
die Pforte keine ernstlichen Einwände, aber das Verhalten Stirbeis, des walachischen Hospodars,sei ein sehr herausforderndes gewesen; er habe sich in skandalösester Weise als Parteigänger Rußlands entpuppt, so daß seine Absetzung der Pforte zur Pflicht gemacht wurde. Herr von Bruck appellierte nun an den Sultan, der eine außerordentliche Sitzung des Staatsrats einberief, in der der Kompromiß zustande kam, daß beide Hospodare provisorisch auf ihre Posten zurückberufen werden sollten, während die Pforte einen Hohen Kommissar ernennen würde, der ihr Verhalten genau untersuchen sollte, worauf ein endgültiger Beschluß gefaßt werden würde. Es ist natürlich selbstverständlich, daß Fürst Ghika, gegen den Reschid angeblich keine ernstlichen Einwände hat, nur nominell zurückberufen wird, da die Moldau in den Händen der Russen verbleibt. Hingegen ist die Zurückberufung von Fürst Stirbei, den die Pforte selbst wegjagte und als russischen Agenten brandmarkte, eine wirkliche Wiedereinsetzung, da ein Teil der Walachei schon von den Russen geräumt ist und der andere wohl auch binnen kurzem geräumt wird. Die Tätigkeit der österreichischen Diplomatie bleibt jedoch nicht hier stehen. In der gestrigen „Morning Post" lesen wir in einer aus Belgrad vom 19.Juli datierten Depesche:
„Aus Konstantinopel traf gestern ein Befehl ein, alle Rüstungen und militärischen Übungen einzustellen. Vertraulich wird mitgeteilt, daß ein weiterer Befehl zur Abrüstung vorliegen soll. Die Nachricht wurde sofort Fürst Alexander übermittelt."
Das also ist die Antwort der Pforte auf den serbischen Protest gegen eine österreichische Besetzung. So wird die jämmerliche türkische Regierung daran gehindert, ihrem erklärten Feind Trotz zu bieten, und gleichzeitig wird sie zu feindseligen und widerrechtlichen Handlungen gegen ihre eigenen loyalen Gebiete aufgestachelt. Durch den Vertrag vom 14. Juni brach die Türkei ihr Abkommen mit den Fürstentümern, und durch die Abrüstungsorder bricht sie nun die Grundgesetze Serbiens. Derselbe politische Vorstoß treibt die türkische Armee in einen Zustand des Aufruhrs und Serbien sowie die Fürstentümer in die Arme Rußlands. Die österreichische Sommation zur Räumung der Fürstentümer erweist sich als ein Verbot für die Türken, daselbst einzumarschieren, und die viel gerühmten Rüstungen Österreichs entpuppen sich als die Abrüstung Serbiens. Das bornierte Österreich, dieses bloße Werkzeug in den Händen des Zaren und seiner englischen Bundesgenossen, bereitet mit alledem nur die Grundlagen für eine allgemeine Revolution vor, deren erstes Opfer es selbst sein wird, und deren Ausbruch nur utopistische Reaktionäre wie David
Urquhart beklagen können. Sie sind bereits über die ersten Bewegungen in Italien informiert. Die öffentlichen Blätter sprechen von Unruhen in Genua, Modena, Parma etc.; aber meiner Meinung nach erinnern uns die Szenen, die sich in Ferrara abspielten, mehr an den allgemeinen Aufstand von 1848 als alle übrigen. Daß ich die patriotische freiwillige Anleihe der arroganten und bankrotten österreichischen Regierung von vornherein richtig eingeschätzt habe, werden Sie aus der Bekanntmachung ersehen, die Chevalier Burger kürzlich an die loyalen Untertanen der Lombardei richtete. Er informiert sie, daß die Quote, die das lombardische Gebiet für die freiwillige Anleihe zu zahlen hat, 40000000 Gülden betragen wird, ein Betrag, der 104400000 Francs entspricht, die, aufgeteilt auf die Bevölkerung, 40 Francs pro Kopf ausmachen.
„Diese freiwillige Anleihe", sagt „L'Unione", „stellt sich als eine gigantische Konfiskation heraus - jeder Provinz, jeder Gemeinde und jeder Einzelperson ist eine Quote zugewiesen, welche sie freiwillig zahlen müssen."
Um keinen Zweifel an der wahren Bedeutung dieser freiwilligen Anleihe zu lassen, endet die Bekanntmachung von Chevalier Burger mit den folgenden Worten:
„Es muß mehr als offenkundig sein, daß, falls die freiwillige Anleihe nicht erfolgreich sein sollte, den verschiedenen Arten der Einkünfte von Land, Kapital, Handel und Industrie eine außerordentliche und zwangsweise Kontribution in den passendsten Proportionen auferlegt werden müßte."
In der Montagsitzung des Unterhauses erhob sich - ein in den Annalen des Parlaments noch nie dagewesener Fall - der Präsident des Geheimen Rats und Führer des Hauses1 unter dem Vorwand, eine ausführliche Darlegung der Absichten des Kabinetts zu geben, die er sechs Stunden später an derselben Stelle völlig widerrief. Um 7 Uhr abends war nach seinen Worten Sewastopol bombardiert, niedergerissen, zerstört und von Rußland losgetrennt. Um 1 Uhr 15 Minuten nach Mitternacht war die russische Flotte bei Sewastopol um ein oder zwei Linienschiffe verringert und „Rußland in keiner Weise in seinem jetzigen Rang und seiner Stellung beeinträchtigt worden". Sechs Stundenlang lärmte, prahlte, bramarbasierte, polterte, schwadronierte, jauchzte, beglückwünschte und übertrieb der kleine Johnny1 vor seinen Unterhäuslern; sechs Stunden lang ließ er sein Parlament in einem
1 John Russell
„Schlaraffenland" schwelgen, dann genügte ein Wörtchen von Herrn Disraelis spitzer Zunge, die Seifenblase zum Platzen zu bringen, und der falsche Löwe mußte sich wieder den gewohnten Schafpelz um die Schultern legen. Das war ein „Bußtag" für das Ministerium» aber seine drei Millionen Pfund setzte es durch. In der Dienstagsitzung fand die Debatte über den Antrag Lord Dudley Stuarts über die NichtVertagung des Parlaments statt. Sie hatten das Geld des Landes votiert; nun blieb ihnen nichts weiter übrig, als dem Ministerium ihr Vertrauen zu votieren. Das war für die ehrenwerten Mitglieder selbstverständlich, und deshalb war das Haus nur schwach besucht, die Debatte schläfrig, das Ministerium herausfordernder denn je, und der Antrag Dudleys wurde ohne Abstimmung verworfen. Das Ministerium brachte es zuwege, seine eigene Schande in einen Sieg über die Mitglieder des Unterhauses zu verwandeln. Dies war der „Bußtag" für das Parlament. Dennoch gestaltete sich die Sitzung bemerkenswert durch die Verteidigung der Kriegführung, die Herr Herbert, der britische Kriegsminister und Schwager Woronzows, gab, durch die Indiskretionen Berkeleys, des Lords der Admiralität, und durch die hochmütigen Erklärungen des kleinen Johnny über den inneren Zustand des englischen Ministeriums. Herr Herbert, ein kleinköpfiger früherer Jung-Tory, beantwortete die Klagen über die mangelhafte Organisation des Kommissariats mit einer weitschweifigen Lobeshymne auf den Generalkommissar Filder, der sicherlich der geeignetste Mann für diesen Posten sei, habe er sich doch vor etwa fünfzig Jahren des Vertrauens des eisernen Herzogs1 erfreut und hohe Stellen unter ihm bekleidet. Den unangenehmen Briefen der Zeitungskorrespondenten stellte er die schöngefärbten Berichte „der besten Zahlmeister der Armee" sowie die verbindlichen Komplimente einiger französischer Offiziere gegenüber. Er äußerte kein Wort über das gänzliche Fehlen aller Transportmittel in der Armee, die weder über Maultiere noch Pferde verfügt zur Beförderung des Gepäcks und des Wassers sowie der sonstigen Erfordernisse einer Armee, die von Varna und Devna nach der Donau marschiert. Er äußerte sich mit keinem Wort darüber, daß der Armee die Mittel fehlten, sich zu verproviantieren. Er bestritt nicht die Tatsache, daß ein Kommissariat erst ernannt worden war, nachdem bereits mehrere Divisionen ausgesandt und die Flotten in Konstantinopel waren. Er wagte der Behauptung nicht zu widersprechen, daß Lord Raglan selbst gesagt habe, seine Truppen seien wegen der Unzulänglichkeit des Kommissariats fast zwei Monate an einer
1 Wellington
Stelle stationiert gewesen, ohne vorrücken zu können, obwohl sie sich beinahe in Hörweite eines Kanonenschusses vom halbverhungerten Feind befanden. Auf ähnliche Art tat der findige Schwager des Fürsten Woronzow die Klagen wegen der Artillerie ab. Langatmig beantwortete er einen Vorwurf, den niemand anders als er selbst vorgebracht hatte, daß nämlich die Armee in der Türkei nur Sechspfünder bei sich habe; dafür überging er mit hartnäckigem Stillschweigen die Tatsache, daß die Armee keine Belagerungsgeschütze mit sich führte, daß die Infanterie fast ohne Unterstützung durch die Kavallerie war, die wirksamste Waffengattung für Operationen in den Ebenen der Walachei, und daß die 40000 Mann in Varna keine 40 Geschütze hatten, um sie den Russen entgegenzustellen, bei denen jedes Korps von 40000 Mann über 120 Geschütze verfügt. Auf die Angriffe gegen die Nachlässigkeit der Regierung bei der Versorgung der Armee mit den nötigen Hilfsmitteln antwortete der Schwager Woronzows mit einer entrüsteten Verteidigung der militärischen Befehlshaber, die durchaus nicht zu tadeln seien. Zu den verhängnisvollen Unglücksfällen und dem britischen Monopol auf verhängnisvolle Unglücksfälle, wie sie der französischen Expedition niemals zustießen, erklärte der ehrenwerte Herr Herbert, erstens sei es wahr, daß ein Schiff, das einen Teil des 6. Dragonerregiments an Bord hatte, durch Feuer vernichtet wurde, daß aber der Kommandant, „ein edler alter Mann, dem schrecklichsten Tod ins Auge sah, den der Mensch erleiden kann, und sich weigerte, auf Anraten seiner Leute das Schiff zu verlassen, bis es, ach, zu spät war und er auf seinem Posten starb". Die einfältigen Mitglieder des Unterhauses bejubelten diese alberne Antwort. Was den Verlust des „Tiger"[182] betreffe, so gehöre er zu dem Kapitel Unglücksfälle. „Und der traurige Vorfall in der Ostsee - nun, der beweise nur die Tollkühnheit unserer Seeleute." Der kleinköpfige Herr ging dann zur Beantwortung der Frage über, „ob unsere Flotten und Armeen irgendwelche praktischen Ergebnisse erzielt hätten", und er prahlte mit „der völligen, erfolgreichen und unwiderstehlichen Blockade der russischen Häfen". Diese Blockade war so erfolgreich, daß z. B. acht russische Kriegsdampfer Odessa von Sewastopol aus erreichten, ungeachtet aller Bombardierungen, Gefechte und Hindernisse. Sie war so erfolgreich, daß der Ostseehandel von Rußland in solchem Umfang weitergeführt wird, daß russische Waren in London zu einem Preise verkauft werden, der kaum höher als der Vorkriegspreis ist; daß der Handel in Odessa genauso wie im Vorjahr betrieben wird, und daß sogar die nur nominelle
Blockade des Schwarzen und des Weißen Meeres den Engländern erst vor wenigen Tagen durch Bonaparte aufgezwungen werden mußte. Aber, so erklärt der edle junge Mann namens Herbert, die englische Regierung hat noch mehr getan. Hat sie nicht Rußland die Möglichkeit genommen, den Nachschub auf dem Schwarzen Meer zu transportieren und es von jedem Zugang zum Meer abgeschnitten? Er vergaß, daß sie den Russen vier Monate lang die Herrschaft über die Donau überließ; daß sie ihnen gestattete, mit nur 15000 Mann die europäischen Kornkammern der Moldau und Walachei in Besitz zu nehmen, daß sie Rußland fast vor ihren Augen die reichen Herden der Dobrudscha überließ und daß sie die türkische Flotte hinderte, das russische Geschwader bei Sinope zu vernichten. Zu den militärischen Erfolgen der Türken hätten die Engländer reichlich beigetragen, denn indem sie deren Reserve bildeten, ermöglichten sie ihnen, jeden Mann und jedes Geschütz gegen die eindringende Armee einzusetzen. Muß ich Ihren Lesern wiederholen, daß, solange die Russen nicht vermochten, eine überlegene Streitmacht in den Fürstentümern zu konzentrieren, die britische Regierung Omer Pascha verbot, sein eigenes zahlenmäßiges Übergewicht und die Früchte seiner ersten Siege auszunutzen? Was haben die englischen Truppen sonst noch geleistet?
„Wieviel Pfund Sterling hat Rußland zur Errichtung einer Linie von Forts entlang der tscherkessischen Küste ausgegeben? In einem kurzen Feldzug waren all diese befestigten Plätze, die die Kette bildeten, mit der die Tscherkessen gebunden waren, mit einer Ausnahme in unsere Hände oder in die Hände unserer Alliierten gefallen."
Woronzow! Woronzow! Hast du vergessen, als man dir zu Beginn der Session riet, diese Forts zu nehmen, daß du dich weigertest und dadurch den Russen ermöglichtest, ihre Garnisonen nach Sewastopol zurückzuziehen? Du hast bloß jene Forts genommen, die die Russen vorzogen aufzugeben, und die einzige „Ausnahme", die von dir weder zerstört noch genommen, noch angegriffen wurde, ist das einzige Fort, das wert war, genommen zu werden, das einzige, das die Russen für wert hielten, zu halten, und das einzige, das eine Verbindung mit den Tscherkessen ermöglicht - Anapa. Den Gipfel seines abgeschmackten Geredes erreichte Herr Herbert jedoch, als er behauptete, England hätte einen Anteil an der glorreichen Verteidigung von Silistria - die es weder selbst unterstützt noch Omer Pascha erlaubt hatte, zu unterstützen - wegen eines toten jungen Mannes, eines Hauptmanns, namens Butler. Leutnant Nasmyth, der noch lebt, wird natürlich nicht erwähnt. Hauptmann Butler, muß ich erwähnen, ging nach Silistria erst, nachdem die Regierung es abgelehnt hatte, ihn hinzuschicken, um
so mehr Ursache hat Marschall Herbert, seinem Verhalten Anerkennung zu zollen. Was Leutnant Nasmyth betrifft, so gehört er zu jener Sorte von Leuten, die binnen kurzem aus dem britischen Lager ausgeschlossen werden sollten. Er ging daher als Zeitungskorrespondent nach Silistria. Als Lord Dudley Stuart die Regierung angriff, weil sie keine Dampfer angeschafft habe, die nur drei Fuß Tiefgang hätten und mit ein oder zwei schweren Geschützen bestückt seien, ersuchte Admiral Berkeley, der nach General Herbert sprach, den edlen Lord, „den Schiffsbauinspektor lehren zu wollen, wie man solche Schiffe baue". Das war die Antwort des tapferen Whig-Admirals auf die Frage, wie die Admiralität eine Ostseeflotte ausrüsten könne, ohne eine große Anzahl Kanonenboote zu beschaffen. Der wackere Berkeley und sein wissenschaftlicher Schiffsbauinspektor täten besser daran, sich wegen Instruktionen an die schwedische und russische Admiralität zu wenden als an den armen und gefoppten Dudley Stuart. Halten wir uns nicht länger bei der Verteidigung der britischen Kriegführung durch den eleganten Herbert und den tapferen Berkeley auf, und kommen wir nun zu den indiskreten Eröffnungen des gleichen Berkeley. Gestern abend ließ der kleine Johnny die Seifenblase von Sewastopol platzen; heute war es Berkeley, der die Seifenblase von Kronstadt zum Platzen brachte. Da die Österreicher die Sache in den Fürstentümern allein ausfechten werden, so bleibt „den gewaltigsten Armeen und Flotten mit ihren Schraubendampfern, Paixhans und anderen riesigen Zerstörungskräften, die nur je ein Land ausgerüstet und ausgeschickt hat", kein Betätigungsfeld. Aus einem Brief des tapferen Kommandanten der Ostseeflotte1 zitierte der tapfere Berkeley folgendes: „Es stand nicht in meiner Macht, mit dieser gewaltigen Flotte etwas anzufangen; denn jeder Angriff auf Kronstadt oder Sweaborg hatte sicheren Untergang bedeutet." Doch damit nicht genug. Der kühne Berkeley, frohlockend darüber, was die mächtigste Flotte nicht leisten konnte, schwatzte munter weiter: „Admiral Chads, ein Mann mit dem größten Wissen seiner Zeit, schrieb ebenfalls: ,Nach zweitägiger Inspektion vom Leuchtturm aus und vollkommener Rekognoszierung der Forts und Schiffe, erweisen sich die ersteren als zu massiv für die Schiffsgeschütze. Sie stellen große Massen von Granit dar. Ein Angriff auf die Schiffe an ihrem jetzigen Standort kommt nicht in Frage.4 " Hinsichtlich Napier schloß der wackere Berkeley mit den Worten: „Es gab niemals einen britischen Offizier, mit vollständigerer Carte blanche2, nach eigenem Gutdünken zu handeln. Weit davon entfernt, ihm die Hände zu binden,
1 Admiral Charles Napier - 2 unbeschränkter Vollmacht
ermutigte ihn im Gegenteil die Regierung in jeder Hinsicht vorwärtszugehen" - von Bomarsund nach Kronstadt und von Kronstadt nach Bomarsund. Als Herr Hildyard, ein Tory, bemerkte, „er habe noch nie in seinem Leben solche Indiskretionen gehört", Berkeley habe als offensichtlicher Agent Rußlands gesprochen, und all die Rodomontaden über Kronstadt hätten dennoch seine stillschweigende Zustimmung gefunden, nahm der wackere Berkeley seine Indiskretionen so weit zurück, daß er erklärte, Napier hätte nur von seiner jetzigen Position gesprochen, in der er bloß über Schiffe verfüge und sich auf keine Landmacht stützen könne. Daß man in der Ostsee ohne Landtruppen und ohne eine Allianz mit Schweden nichts ausrichten könnte, habe ich Ihnen die ganze Zeit über wiederholt, seit Napier die englische Küste verließ, und meine Meinung wurde von allen Militärwissenschaftlern geteilt. Ich komme nun zum letzten Punkt dieser denkwürdigen Debatte, zu den hochmütigen Erklärungen Lord John Russells. Nachdem er seine Anweisung auf drei Millionen Pfund erhalten hatte, wurde er ebenso unverschämt, wie er zwanzig Stunden früher kleinlaut war, als er sich unter den Sarkasmen Disraelis wand. „Er halte es keinesfalls für notwendig, seine gestrigen Erklärungen näher zu erläutern." Was die „peinlichen Unterschiede anlange", die einige Parteien zwischen Aberdeen und seinen Kollegen zu schaffen versuchten, so wolle er nur sagen, daß „hinsichtlich der allgemeinen Kriegsmaßnahmen diese Schritt für Schritt von jenen Ratgebern Ihrer Majestät, die man gewöhnlich das Kabinett nennt, beschlossen wurden, und für die getroffenen Entscheidungen seien alle Kollegen von Lord Aberdeen dem Parlament und dem Land gegenüber ebenso verantwortlich wie dieser edle Lord". Er wagte tatsächlich - allerdings ohne jegliche Gefahr - dem Haus zu sagen: „Wenn wir die geeigneten Minister der Krone sind, liegt es in unserem Ermessen, das Parlament einzuberufen oder nicht; bestreitet man uns diese Entscheidung, so sind wir andrerseits nicht länger geeignet, Minister der Krone zu sein." Nachdem ich diesen Sitzungen des englischen Parlaments am Montag und Dienstag beigewohnt, gestehe ich ein, daß es von mir ein Irrtum war, 1848 in der „Neuen Rheinischen Zeitung"[183] die Berliner und Frankfurter Versammlung als den Tiefstand parlamentarischen Lebens gebrandmarkt zu haben.1 Es wird Ihre Leser amüsieren, wenn sie den Deklarationen von Woronzows britischem Schwager, den faden Prahlereien eines Russell und den
hochtrabenden Leitartikeln der „Times" folgende Auszüge aus den letzten Briefen des „Times "-Korrespondenten im britischen Lager bei Varna vom 13. Juli gegenübergestellt sehen: „Gestern Abend herrschte die allgemeine Überzeugung, daß der Friede bald erklärt würde, weil berichtet worden war, ein österreichischer Gesandter habe mit General Brown diniert; dieser österreichische Gesandte befand sich auf dem Weg von Schumla, wo er lange Unterredungen mit Omer Pascha geführt habe, nach Varna, wo er Beratungen mit Lord Raglan und Marschall Saint-Arnaud führen sollte. Eis wurde berichtet, der Herzog von Cambridge habe gesagt, die Kavallerie würde gegen November und die Infanterie gegen Mai zu Hause sein. Freilich kann nicht bestätigt werden, daß wir uns im Kriege befinden, noch daß die alliierten Armeen die Stellung einer kriegführenden Partei bezogen, noch seit ihrer Landung in der Türkei Kriegshandlungen aufzuweisen haben. Unsere Paraden, Revuen, Exerzierübungen und Inspektionen sind so harmlos, so unschuldig, als wenn sie in Satory oder in Chobham stattfänden, und unsere ganzen Landoperationen sind beschränkt worden: erstens, auf eine Rekognoszierungsexkursion von Lord Cardigan; zweitens, auf die Entsendung einiger Genieoffiziere und Sappeure nach Silistria und Rustschuk; drittens, auf den Marsch einiger weniger französischer Pontoniere in gleicher Richtung, und viertens, auf die Entsendung einer weiteren Kompanie Sappeure und 150 Matrosen nach Rustschuk, um eine Brücke vom Ufer zu den Inseln und von dort hinüber auf die andere Seite zu schlagen."
Es gibt keine Bastille in England, doch es sind Irrenhäuser vorhanden, in welche eine jede dem Hof unbeliebte oder der Regelung bestimmter Familienangelegenheiten im Wege stehende Person ganz einfach durch einen lettre de cachet1 gesperrt werden kann. In der Mittwochdebatte wurde dies im Falle von Dr. Peithmann2 ausreichend bewiesen von Herrn Otway, der von Herrn Henley unterstützt wurde. Es bedurfte nur einiger Worte von Lord Palmerston, dem civis Romanus[184] und bekannten Advokaten der „Rechte und Privilegien des britischen Untertanen" - und die Angelegenheit wurde fallengelassen. Palmerston behauptete nicht einmal, Peithmann sei wirklich wahnsinnig, sondern nur, „er scheine sich einzubilden, irgendeine Forderung an die Regierung zu haben", und beabsichtige, diese Forderung auf eine sehr lästige Weise der Königin vorzutragen oder vielmehr jener anonymen Persönlichkeit namens Prinz Albert. Die Coburger sind überall; gerade in diesem Augenblick beabsichtigen sie, sich Spaniens zu bemächtigen.
„Es ist", sagt der ministerielle „Globe", „eine Frage der Rechte des Doktors und der Rechte der Königin, und wir glauben, daß es niemand innerhalb oder außerhalb des Parlaments gibt, der zögern kann, diese Rechte abzuwägen."
1 geheimer Haftbefehl - 2 siehe vorl. Band, S. 339-341
Kein Wunder also, daß Thomas Paines „Rights of Man" in diesem freien und gesegneten Lande öffentlich verbrannt wurden. Noch eine kleine parlamentarische Komödie spielte sich an jenem Mittwochabend ab. In der Sitzung vom vergangenen Freitag hatte Herr Butt die Resolution eingebracht, britischen Untertanen sollte unter gewissen Strafen verboten werden, mit russischen Staatspapieren zu handeln; diese Bill bezog sich nur auf Anleihen der russischen Regierung während des jetzigen Krieges. Die britische Regierung hatte die Bill nicht eingebracht, durfte aber kaum wagen, dagegen aufzutreten, da Bonaparte im „Moniteur" bereits fälschlicherweise mitgeteilt hatte, die britische Regierung halte gleich ihm Subskriptionen der russischen Anleihe für ungesetzlich. Palmerston unterstützte daher den Antrag Butts, fand jedoch einen recht unliebenswürdigen Widerstand bei Herrn Wilson, dem klugen Herausgeber des „Economist" und Sekretär des Schatzamtes. Derselbe Palmerston, der am Montag das Koalitionskabinett verteidigt hatte, der sich am Dienstag des Redens enthielt und dadurch den Erfolg der Koalition sicherte, konnte sich doch am Mittwoch die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sich erneut als die „verfolgte Unschuld" des Kabinetts aufzuspielen. Er sprach ganz im Tone und mit den Gebärden einer männlichen Sibylle, als wäre er übermannt von dem spontanen Ausbruch seiner patriotischen Gefühle, die er, der Ärmste, an den zwei vorhergehenden Abenden hatte unterdrücken müssen, gefesselt wie er war durch den eisernen Zwang einer offiziellen Stellung. Er löste unvermeidlichen Jubel unter den ehrenwerten und betörten Zuhörern aus, als er erklärte:
„Die Bill bestätige nur den Grundsatz, daß britische Untertanen Rußland nicht die Mittel zur Verfügung stellen dürften, den Krieg fortzusetzen. Die vom Sekretär des Schatzamtes vorgebrachten Argumente sollten beweisen, daß wir unsere Gesetze über Hochverrat abschaffen müßten. Diese Argumente seien reiner Unsinn."
Man beachte, daß dies derselbe Mann ist, der 24 Jahre lang England die russisch-niederländische Anleihe [1261 auferlegte und in diesem Augenblick das einflußreichste Mitglied eines Kabinetts ist, das immer noch Kapital und Zinsen dieser Anleihe zahlt und dadurch Rußland „Mittel zur Fortsetzung des Krieges" gibt. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Der langweilige Krieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4159 vom 17. August 1854] Fast zwölf Monate sind nun verstrichen, seit ein kleines türkisches Korps, zwei Bataillone, bei Turtukai gegenüber von Oltenitza erfolgreich die Donau überschritt, dort Verschanzungen errichtete, und als es von den Russen angegriffen wurde, diese in einem lebhaften kurzen Treffen zurückschlug; das war der erste Zusammenstoß in diesem Kriege, und er erhielt den stolzen Namen Schlacht von Oltenitza. Hier standen die Türken den Russen allein gegenüber; sie hatten keine britischen oder französischen Truppen als Reserve hinter sich und konnten keine Unterstützung von den alliierten Flotten erwarten. Dennoch behaupteten sie sich auf der walachischen Seite des Flusses bei Oltenitza vierzehn Tage lang und bei Kalafat den ganzen Winter. Seitdem haben England und Frankreich Rußland den Krieg erklärt; allerlei Heldentaten, wenn auch etwas zweifelhafter Natur, sind vollbracht worden. Schwarzmeerflotten, Ostseeflotten und eine Armee von fast 100000 englischen und französischen Soldaten sind den Türken zu Hilfe geeilt oder suchen den Feind von ihnen abzulenken. Und das Ergebnis davon ist nichts als eine Wiederholung des Unternehmens von Oltenitza in größerem Stil, aber eigentlich weniger erfolgreich als im vorigen Jahr. Die Russen belagerten Silistria. Sie gingen sinnlos, aber tapfer dabei vor. Tag für Tag, Nacht für Nacht wurden sie geschlagen; nicht etwa infolge überlegener Kenntnisse, nicht durch Kapitän Butler oder Leutnant Nasmyth, die beiden dort anwesenden britischen Offiziere, die nach Aussage der „Times" Silistria retteten. Sie wurden geschlagen durch die Unwissenheit der Türken, eine Unwissenheit, die so weit ging, daß sie nicht erkannten, wann ein Fort oder ein Wall nicht mehr gehalten werden kann, und sich hartnäckig an jeden Zoll Erde, an jeden Maulwurfshügel klammerten, den
der Feind zu erobern trachtete. Die Russen wurden außerdem durch die Dummheit ihrer eigenen Generale geschlagen, durch Fieber und Cholera und endlich durch den moralischen Eindruck einer Armee der Alliierten, die ihren linken Flügel, und einer österreichischen Armee, die ihren rechten Flügel bedrohte. Als der Krieg begann, stellten wir fest, daß die Russen niemals imstande gewesen waren, eine förmliche Belagerung durchzuführen, und die schlecht geleiteten Operationen vor Silistria beweisen, daß sie seither nichts gelernt haben. Sie wurden also geschlagen, mußten in der denkbar schimpflichsten Weise abziehen, mußten die Belagerung einer unvollkommenen Festung inmitten der schönen Jahreszeit abbrechen, ohne daß der Besatzung irgendwelche Truppen zu Hilfe gekommen wären. So etwas kommt nur alle hundert Jahre einmal vor. Und was die Russen im Herbst auch unternehmen mögen, der Feldzug ist und bleibt für sie schmachvoll verloren. Nun aber zur Kehrseite der Medaille. Silistria ist frei. Die Russen ziehen sich auf das linke Ufer der Donau zurück. Sie bereiten sich sogar auf die Räumung der Dobrudscha vor und führen sie nach und nach durch. Hirsowa und Matschin sind geräumt. Der Sereth scheint die Linie zu sein, die die Russen zur Verteidigung nicht ihrer Eroberungen, sondern ihres eigenen Gebietes ausersehen haben. Der alte schlaue Kroate Omer Pascha, der so gut wie nur irgendeiner „in Erfüllung seiner Pflicht" schweigen oder lügen kann, sendet gleichzeitig ein Korps in die Dobrudscha und ein anderes nach Rustschuk und bindet damit beide Flügel der Russen. Freilich wären zu dieser Zeit viel bessere Operationen möglich gewesen, aber der gute alte Omer kennt wahrscheinlich seine Türken und die Alliierten besser als wir. Militärisch richtig wäre es gewesen, durch die Dobrudscha oder über Kalarasch auf die Kommunikationen des Feindes zu marschieren; aber nach allem, was wir gesehen haben, dürfen wir Omer nicht anklagen, eine gute Gelegenheit verpaßt zu haben. Wir wissen, daß sein Heer sehr schlecht versorgt ist es mangelt an fast allem - und daher keine raschen Bewegungen ausführen kann, die es zu weit von seiner Basis entfernen oder die neue Operationslinien eröffnen würden. So entscheidend solche Bewegungen wirken, wenn sie von ausreichenden Kräften unternommen werden, so liegen sie für eine Armee, die von der Hand in den Mund lebt und durch ein unfruchtbares Land zieht, außerhalb der Möglichkeiten. Wir wissen, daß Omer Pascha nach Varna ging und die alliierten Generale um Hilfe anflehte, die damals mit 75000 vorzüglichen Soldaten nur vier Tagemärsche weit von der Donau standen. Aber weder Saint-Arnaud noch Raglan dachten daran, dorthin zu gehen, wo sie dem Feind begegnen konnten. So konnte Omer nicht mehr
tun, als er getan hat. Er sandte 25000 Mann in die Dobrudscha und marschierte mit dem Rest seiner Armee nach Rustschuk. Hier gingen seine Truppen von Insel zu Insel, bis die Donau überschritten war; dann faßten sie durch einen plötzlichen Marsch nach links Giurgewo im Rücken und zwangen die Russen, den Ort zu räumen. Am nächsten Tag zogen sich diese auf einige Höhen im Norden Giurgewos zurück, wo sie von den Türken angegriffen wurden. Es kam zu einer blutigen Schlacht, bemerkenswert durch die Zahl der englischen Offiziere, die sich mit ungewöhnlichem Erfolg darum bewarben, zuerst totgeschossen zu werden. Jeder bekam seine Kugel, aber es hatte niemand etwas davon; denn es wäre albern, anzunehmen, daß sich ein türkischer Soldat bis zur Unbesiegbarkeit begeistert fühlen sollte, wenn er sieht, wie britische Offiziere totgeschossen werden. Wie dem auch sei, die Russen, die nur eine Vorhut - eine Brigade, und zwar das Kolywaner und das Tomsker Regiment - an Ort und Stelle hatten, wurden geschlagen, und die Türken faßten auf dem walachischen Ufer der Donau festen Fuß. Sie machten sich gleich daran, den Platz zu befestigen, und da sie englische Sappeure hatten und wie bei Kalafat auch selbst famos arbeiteten, so hätten sie ohne Zweifel eine furchteinflößende Position daraus gemacht. Jetzt aber hieß es: bis hierher und nicht weiter. Derselbe Kaiser von Österreich, der sich acht Monate lang so sehr bemüht hat, den Unparteiischen zu spielen, mischt sich nun plötzlich ein. Wurden ihm doch die Fürstentümer als Ritterplätze für seine Truppen versprochen, und er besteht darauf. Was haben die Türken dort zu suchen? Sie sollen zurück nach Bulgarien gehen. Darum kommt von Konstantinopel der Befehl, die türkischen Truppen vom linken Ufer zurückzuziehen, und „dieses ganze Fleckchen Erde" den österreichischen Soldaten auf Gnade und Ungnade zu überlassen. Die Diplomatie steht über der Strategie. Was auch daraus entstehen mag, die Österreicher wollen ihre Grenzen schützen, indem sie noch einige Yards Grund und Boden darüber hinaus okkupieren; und diesem wichtigen Zweck opfern sie sogar die Notwendigkeiten des Krieges. Ist Omer Pascha außerdem nicht ein österreichischer Deserteur? Österreich vergißt das niemals. In Montenegro stellte es sich seiner siegreichen Laufbahn in den Weg, und nun wiederholt es das Spiel, um den Renegaten fühlen zu lassen, daß er gegen seinen gesetzlichen Herrscher noch Untertanenpflichten hat. Es lohnt überhaupt nicht, auf die militärischen Details im jetzigen Stadium des Feldzugs einzugehen. Die Treffen haben geringe taktische Bedeutung, da sie einfache, direkte Frontalangriffe sind; die Truppenbewegungen werden auf beiden Seiten mehr von diplomatischen als von strategischen Motiven geleitet. Wahrscheinlich wird der Feldzug ohne jedes größere Unter
26 Marx/Engels, Werke, Band 10
nehmen abschließen, denn an der Donau ist nichts für eine größere Offensive vorbereitet, und was die Einnahme von Sewastopol betrifft, von der wir so viel hören, so wird sich ihr Beginn vermutlich hinauszögern, bis sie wegen der vorgerückten Jahreszeit bis zum nächsten Jahr verschoben werden muß. Wer immer in Europa irgendwelche konservativen Gesinnungen hatte, dem müßten sie, sollte man meinen, vergehen, wenn er auf diese ewige orientalische Frage blickt. Da ist ganz Europa, unfähig, seit den letzten 60 Jahren erwiesenermaßen unfähig, diesen winzig kleinen Streit zu schlichten. Da sind Frankreich, England, Rußland, die wirklich in den Krieg ziehen. Seit sechs Monaten führen sie bereits Krieg; aber es ist noch nicht einmal zum Kampf gekommen, es sei denn versehentlich oder in kaum nennenswertem Umfang. Da sind in Varna 80000 bis 90000 englische und französische Soldaten unter dem Befehl des ehemaligen Kriegssekretärs des alten Wellington1 und eines Marschalls von Frankreich2 (dessen größte Heldentaten allerdings in Londoner Leihhäusern vollbracht wurden) - da sind die Franzosen, die nichts tun, und die Briten, die ihnen dabei soviel wie möglich helfen. Da ihnen diese Art der Beschäftigung vielleicht doch nicht gerade ehrenvoll erscheint, so sind die Flotten nach der Reede von Baltschik gekommen, um nach ihnen zu sehen und sich zu überzeugen, welche der beiden Armeen sich des dolce far niente3 mit größerem Anstand zu erfreuen vermag. Und obgleich die Alliierten bisher nichts getan haben, als die Vorräte, auf die das türkische Heer gerechnet hatte, zu verzehren und während der letzten zwei Monate einen Tag nach dem anderen vor Varna zu vertrödeln, sind sie noch nicht einsatzbereit. Sie hätten Silistria, wenn nötig, ungefähr Mitte Mai nächsten Jahres entsetzt. Diese Truppen, die Algerien erobert und die Theorie und Praxis des Kriegs auf einem der schwierigsten vorhandenen Kriegsschauplätze kennengelernt habentl8:>1, diese Soldaten, die gegen die Sikhs an den Ufern des Indus und gegen die Kaffern im dornigen Busch Südafrikas kämpften[1861, in Ländern, weit wilder als Bulgarien - sie sind in einem Lande, das sogar Getreide exportiert, hilflos und nutzlos, zu nichts zu gebrauchen! Die Russen aber stehen den Alliierten an Untauglichkeit nicht nach. Sie hatten reichlich Zeit, sich vorzubereiten. Sie taten auch, was sie konnten, denn sie wußten von Anfang an, welchen Widerstand sie finden würden. Und trotzdem, was haben sie geleistet? Nichts. Nicht einen Fußbreit des umstrittenen Bodens haben sie den Türken weggenommen; sie konnten Kalafat nicht nehmen und die Türken in keinem einzigen Treffen schlagen. Dennoch sind es dieselben Russen, die unter Münnich und Suworow die
1 Raglan - 2 Saint-Arnaud - 3 süßen Nichtstuns
Schwarzmeerküste vom Don bis zum Dnestr eroberten. Aber Schilder ist kein Münnich, Paskewitsch kein Suworow, und wenn der russische Soldat auch mehr Stockprügel als jeder andere verträgt, so verliert er doch so gut wie jeder andere seine Beharrlichkeit, wenn er ständig zurückweichen muß. Tatsache ist, daß das konservative Europa - das Europa „der Ordnung, des Besitzes, der Familie, der Religion" - das Europa der Monarchen, der Feudalherren, der Geldleute, wie unterschiedlich ihr Verhältnis zueinander in den einzelnen Ländern auch sein mag, wieder einmal seine äußerste Impotenz zeigt. Mag Europa verfault sein, ein Krieg hätte jedoch die gesunden Elemente aufrütteln müssen; ein Krieg hätte manche verborgenen Kräfte wecken müssen, und sicherlich wäre unter 250 Millionen Menschen so viel Energie vorhanden gewesen, daß wenigstens ein ordentlicher Kampf zustande gekommen wäre, in dem beide Parteien etwas Ehre geerntet hätten, soviel wie Mut und Tatkraft eben auf dem Schlachtfeld zu erringen vermögen. Aber nein. Nicht nur das England der Bourgeoisie und das Frankreich der Bonaparte ist zu einem ordentlichen, frischen, kräftig ausgefochtenen Krieg untauglich geworden, sondern auch Rußland, dasjenige Land Europas, das von der entnervenden, Treue und Glauben verachtenden Zivilisation am wenigsten angekränkelt ist, bringt derartiges nicht zuwege. Die Türken eignen sich zu plötzlichen Aktionen in der Offensive und zu hartnäckigem Widerstand in der Defensive, aber für große kombinierte Manöver mit gewaltigen Armeen sind sie anscheinend nicht geschaffen. Alles bleibt daher auf ein gewisses Unvermögen, auf ein gegenseitiges Eingeständnis von Schwäche beschränkt, und alle Parteien scheinen voneinander nichts anderes zu erwarten. Unter Regierungen, wie wir sie gegenwärtig haben, kann dieser orientalische Krieg noch dreißig Jahre fortgeführt werden und doch zu keinem Ende kommen. Während sich so die offizielle Unfähigkeit in ganz Europa offenbart, bricht im südwestlichen Teil dieses Kontinents eine Bewegung aus, die uns auf einmal zeigt, daß es noch andere Kräfte gibt, die aktiver sind als die offiziellen. Wie der wahre Charakter und das Ende der spanischen Erhebung auch aussehen mögen, soviel läßt sich zumindest behaupten, daß sie zu einer künftigen Revolution in derselben Beziehung stehen wird wie die Schweizer und italienischen Bewegungen von 1847 zu der Revolution von 1848. Zwei wichtige Tatsachen treten in Spanien hervor: Erstens, das Militär, das seit 1849 den Kontinent tatsächlich beherrschte, hat sich innerlich gespalten und seinen Beruf, die Ordnung aufrechtzuerhalten, aufgegeben zu dem Zweck, seine eigene Meinung in Opposition zur Regierung durchzusetzen. Seine Disziplin lehrte das Militär seine Macht, und diese Macht hat seine Disziplin gelockert.
Zweitens erlebten wir das Schauspiel einer erfolgreichen Barrikadenschlacht. Wo seit dem Juni 1848tl87] auch Barrikaden errichtet worden waren, hatten sie sich bisher als unwirksam erwiesen. Barrikaden, die Form des Widerstandes der Bevölkerung einer großen Stadt gegen das Militär, schienen ganz ohne Wirkung zu sein. Dieses Vorurteil ist beseitigt. Wir haben wieder siegreiche, unangreifbare Barrikaden gesehen. Der Bann ist gebrochen. Eine neue revolutionäre Ära ist wieder möglich geworden, und es ist bezeichnend, daß die Truppen des offiziellen Europas, während sie sich im wirklichen Krieg als unbrauchbar erweisen, zur gleichen Zeit von der aufständischen Bevölkerung einer Stadt geschlagen werden.
Geschrieben 29.Juli - I.August 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Espartero
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4161 vom 19.August 1854, Leitartikel] Es ist eine der Eigentümlichkeiten der Revolutionen, daß gerade dann, wenn das Volk einen großen Sprung nach vorwärts machen und eine neue Ära beginnen will, es sich stets von den Illusionen der Vergangenheit beherrschen läßt und all die Macht und den Einfluß, den es so teuer erkauft hat, in die Hände von Männern ausliefert, die als Träger der Volksbewegung einer früheren Zeit gelten oder zu gelten scheinen. Zu diesen Männern der Tradition gehört Espartero, den das Volk in Zeiten sozialer Krisen auf seine Schultern hebt und den es dann ebenso schwer wieder los wird wie Sindbad der Seefahrer den bösartigen alten Starrkopf, der sich hartnäckig mit den Beinen um seinen Hals klammerte. Man frage einen Spanier der sogenannten progressistischen Schule, worauf die politische Bedeutung Esparteros beruht, und er wird ohne Zögern antworten: „Espartero repräsentiert die Einigkeit der großen liberalen Partei; Espartero ist volkstümlich, weil er aus dem Volke kommt; und seine Volkstümlichkeit dient ausschließlich der Sache der Progressisten." Wahr ist, daß er, der Sohn eines Handwerkers, sich zum Regenten von Spanien aufgeschwungen hat und daß er, der in die Armee als gemeiner Soldat eintrat, diese als Feldmarschall verließ. Ist er aber das Symbol der Einigkeit der großen liberalen Partei, so kann es nur jene unterschiedslose Stufe der Einigkeit sein, auf der alle Extreme neutralisiert werden. Und was die Popularität der Progressisten betrifft, so ist es kaum eine Übertreibung, wenn wir behaupten, daß sie von dem Moment an verloren war, wo sie von der Gesamtheit jener Partei auf dieses einzelne Individuum überging. Esparteros Größe ist eine ganz zweideutige und eigenartige. Beweis dafür ist, daß sie eigentlich bis jetzt niemand so recht zu erklären wußte. Während
seine Freunde ihre Zuflucht zu allegorischen Gemeinplätzen nehmen, behaupten seine Feinde, wobei sie auf eine sonderbare Eigentümlichkeit seines Privatlebens anspielen, er sei nichts als ein glücklicher Spieler. Freunde und Feinde sind also gleicherweise in Verlegenheit, einen logischen Zusammenhang zwischen dem Mann selbst und dem Ruhm und dem großen Namen des Mannes herauszufinden. Esparteros militärische Verdienste werden ebenso bestritten, wie seine politischen Mängel unbestreitbar sind. In einer umfangreichen Biographie, herausgegeben von Senor de Florez, wird viel Wesens von seiner militärischen Tapferkeit und Feldherrnkunst gemacht, die er in den Provinzen Charcas, La Paz, Arequipa, Potosi und Cochabamba an den Tag legte, wo er unter dem Befehl des Generals Morillo focht, der die südamerikanischen Staaten unter die Gewalt der spanischen Krone zurückführen sollte. Der allgemeine Eindruck, den seine südamerikanischen Waffentaten auf das erregbare Gemüt seines Vaterlandes ausübten, wird jedoch genügend durch den Spottnamen charakterisiert, den ihm die unglückliche Schlacht von Ayacuchotl88j eintrug, in der Spanien für immer Peru und Südamerika verlor. Er hieß von da an der Führer des Ayacuchismo, und seine Anhänger hießen die Ayacuchos. Jedenfalls ist es sehr merkwürdig, daß dieser Held seine historische Taufe bei einer Niederlage und nicht bei einem Erfolg erhielt. In dem siebenjährigen Krieg gegen die Karlisten tat er sich niemals durch einen jener kühnen Handstreiche hervor, die seinem Rivalen Narvaez bald den Ruhm eines eisennervigen Soldaten eintrugen. Er hatte sicherlich die Gabe, kleine Erfolge tüchtig aufzubauschen, und es war reiner Zufall, daß Maroto die letzten Streitkräfte des Prätendenten an ihn verriet, denn Cabreras Erhebung 1840 war nur mehr ein nachträglicher Versuch, die dürren Knochen des Karlismus zu galvanisieren.11891 Sogar Senor de Marliani, einer der Bewunderer Esparteros und der Geschichtschreiber des modernen Spaniens, muß zugestehen, daß dieser siebenjährige Krieg mit nichts anderem zu vergleichen sei als mit den Fehden, die im zehnten Jahrhundert zwischen den kleinen Feudalherren Galliens ausgefochten wurden, wo der Erfolg nicht das Ergebnis des Sieges war. Ein zweites Mißgeschick will es, daß von allen spanischen Heldentaten Esparteros diejenige den lebhaftesten Eindruck im Gedächtnis der Öffentlichkeit hinterließ, die, wenn sie auch nicht eben eine Niederlage war, doch eine immerhin höchst merkwürdige Leistung für einen Freiheitshelden bedeutet. Er ward berühmt als Bombardeur zweier Städte Barcelonas und Sevillas. Sollten die Spanier, meint ein Schriftsteller1, ihn
1 Hughes
jemals als Mars malen wollen, so müßte der Gott als „Mauernbrecher" dargestellt werden. Als Christina 1840 gezwungen wurde, der Regentschaft zu entsagen und aus Spanien zu tliehen, maßte sich Espartero, gegen den Willen eines großen Teils der Progressisten, die oberste Gewalt innerhalb der Grenzen der parlamentarischen Regierung an. Er umgab sich mit einer Art Kamarilla und benahm sich ganz wie ein militärischer Diktator, ohne sich tatsächlich über die Mittelmäßigkeit eines konstitutionellen Königs zu erheben. Seine Gunst schenkte er eher den Moderadostl90] als den alten Progressisten, die er mit wenigen Ausnahmen von den Ämtern ausschloß. Ohne seine Feinde zu gewinnen, entfremdete er sich allmählich seinen Freunden. Er besaß nicht den Mut, die Fesseln des parlamentarischen Regimes zu sprengen, verstand aber weder, es anzuwenden, noch es sich nutzbar zu machen, noch es in ein tatkräftiges Werkzeug zu verwandeln. Während seiner dreijährigen Diktatur wurde der revolutionäre Geist Schritt für Schritt durch endlose Kompromisse gebrochen, und die Mißhelligkeiten in der Progressistenpartei ließ man einen solchen Grad erreichen, daß es den Moderados möglich wurde, durch einen coup de main1 die alleinige Macht zurückzugewinnen. Espartero verlor dadurch so sehr alle Autorität, daß sein eigener Gesandter in Paris mit Christina und Narvaez gegen ihn konspirierte, und er war so entblößt von Hilfsmitteln, daß er keine Möglichkeit fand, die elenden Intrigen und die kleinlichen Streiche eines Louis-Philippe abzuwehren. Er verstand seine eigene Position so wenig zu beurteilen, daß er sich höchst unüberlegt der öffentlichen Meinung gerade dann entgegenstellte, als sie nur nach einem Vorwand suchte, ihn zu zerschmettern. Im Mai 1843, als seine Popularität längst geschwunden war, behielt er Linage, Zurbano und die anderen Mitglieder seiner Militärkamarilla immer noch bei sich, obwohl ihre Entlassung laut verlangt wurde. Er entließ das Ministerium Lopez, das über eine große Majorität in der Kammer der Deputierten verfügte, und verweigerte den verbannten Moderados hartnäckig die Amnestie, die damals von allen Seiten, vom Parlament, vom Volk und sogar von der Armee gefordert wurde. In dieser Forderung drückte sich der allgemeine Widerwille gegen sein Regime offenkundig aus. Ein Orkan von Pronunziamientos gegen den „Tyrannen Espartero" erschütterte damals plötzlich die ganze Pyrenäische Halbinsel. Die Bewegung läßt sich; was die Schnelligkeit ihrer Ausbreitung betrifft, nur mit der heutigen vergleichen. Moderados und Progressisten vereinigten sich zu dem gemeinsamen Zweck,
1 Handstreich
den Regenten loszuwerden. Die Krisis kam ihm ganz unerwartet, die verhängnisvolle Stunde fand ihn unvorbereitet. Narväez, begleitet von O'Donnell, Concha und Pezuela, landete mit einer Handvoll Männer in Valencia. Auf ihrer Seite war Schnelligkeit und Tatkraft, vorbedachte Kühnheit und energische Entschlossenheit. Auf Esparteros Seite hilfloses Zaudern, tödliche Saumseligkeit, apathische Unentschlossenheit und träge Schwachheit. Indes Narväez das belagerte Teruel entsetzte und in Aragonien einmarschierte, zog sich Espartero von Madrid zurück und verbrachte viele Wochen in unverantwortlicher Untätigkeit in Albacete. Nachdem Narväez bei Torrejon die Korps von Seoane und Zurbano für sich gewonnen hatte und auf Madrid marschierte, vereinigte sich Espartero endlich mit Van-Halen zu der nutzlosen und schmachvollen Beschießung von Sevilla. Er floh dann von Ort zu Ort, auf jeder neuen Etappe seiner Flucht von Teilen seiner Truppen verlassen, bis er endlich die Küste erreichte. Als er sich in Cadiz einschiffte, der letzten Stadt, wo ihm noch Anhänger verblieben waren, da sagten auch diese ihrem Helden Lebewohl, indem sie sich gegen ihn erklärten. Ein Engländer, der während dieser Katastrophe in Spanien lebte, gibt uns eine anschauliche Beschreibung des Niedergangs von Esparteros Größe.
„Es war nicht der fürchterliche Zusammenbruch eines Augenblicks nach heißdurchkämpfter Schlacht, sondern der kleine, schrittweise Abstieg ohne vorausgegangenen Kampf von Madrid nach Ciudad Real, von Ciudad Real nach Albacete, von Albacete nach Cordoba, von Cordoba nach Sevilla, von Sevilla nach Puerto de Santa Maria und von hier aufs weite Meer. Er sank von der Vergötterung zum Enthusiasmus, vom Enthusiasmus zur Zuneigung, von der Zuneigung zur Achtung, von der Achtung zur Gleichgültigkeit, von der Gleichgültigkeit zur Verachtung, von der Verachtung zum Haß, und der Haß trieb ihn endlich hinein ins Meer." Wie hat nun Espartero aufs neue wieder zum Retter des Landes und zum „Schwert der Revolution" werden können, wie er genannt wird? Es wäre einfach unbegreiflich, hätte Spanien nicht zehn Jahre unter der brutalen Diktatur eines Narvaez und unter dem drückenden Joch der Günstlinge der Königin geseufzt, die auf ihn folgten. Langwährende und heftige Zeiten der Reaktion sind jedoch vortrefflich geeignet, gefallene Größen aus der Zeit revolutionärer Fehlschläge wieder zu Ehren zu bringen. Je größer die Einbildungskraft eines Volkes - und wo wäre sie größer als im Süden Europas? -, desto unwiderstehlicher ist sein Drang, der persönlichen Verkörperung des Despotismus persönliche Verkörperungen der Revolution entgegenzustellen. Da man solche nicht plötzlich improvisieren kann, so gräbt man die Toten vergangener Bewegungen aus. Stand nicht Narväez selbst im Begriff, auf
Kosten von Sartorius populär zu werden? Jener Espartero, der am 29.Juli triumphierend seinen Einzug in Madrid hielt, war kein reales Wesen; er war ein Gespenst, ein Name, eine Reminiszenz. Die Gerechtigkeit gebietet, sich zu erinnern, daß Espartero niemals etwas anderes zu sein vorgab, als ein konstitutioneller Monarchist; und hätte darüber je ein Zweifel bestanden, so müßte er geschwunden sein angesichts des enthusiastischen Empfangs, der ihm während seiner Verbannung in Windsor Gastie und von den herrschenden Klassen in England bereitet wurde. Als er nach London kam, drängte sich die gesamte Aristokratie in sein Haus, an ihrer Spitze der Herzog von Wellington und Lord Palmerston. Aberdeen sandte ihm in seiner Eigenschaft als Minister des Auswärtigen eine Einladung zur Vorstellung bei der Königin. Der Lord Mayor und der Stadtrat boten ihm im Mansion House1 gastronomische Huldigungen dar. Und als bekannt wurde, daß der spanische Cincinnatus seine Mußestunden zur Gartenarbeit verwende, gab es keinen botanischen, Gartenbau- oder Agrikulturverein mehr, der sich nicht dazu gedrängt hätte, ihm die Mitgliedschaft anzubieten. Er war bald der Löwe der Hauptstadt. Ende 1847 wurden die spanischen Verbannten durch Amnestie zurückberufen, und ein Dekret der Königin Isabella ernannte ihn zum Senator. Er durfte England jedoch nicht verlassen, ehe Königin Victoria ihn und seine Herzogin zu Tisch geladen und sie noch besonders durch die Einladung geehrt hatte, in Windsor Castle eine Nacht zu verbringen. Allerdings glauben wir, Espartero verdankte diesen Glorienschein, der um seine Person gewoben wurde, mehr oder weniger der Meinung, daß er der Vertreter britischer Interessen in Spanien gewesen war und noch sei. Ebenso trifft es zu, daß die Demonstration für Espartero einer Demonstration gegen Louis-Philippe gleichkam. Bei seiner Rückkehr nach Spanien empfing er Deputation auf Deputation, Gratulation auf Gratulation, und die Stadt Barcelona entsandte einen besonderen Boten, der ihr schlechtes Benehmen vom Jahre 1843 entschuldigen sollte. Aber hat in der verhängnisvollen Zeit vom Januar 1848 bis zu den jüngsten Ereignissen irgend jemand auch nur seinen Namen erwähnen gehört? Hat er in dieser Zeit, wo das erniedrigte Spanien zu tiefstem Schweigen verdammt war, jemals seine Stimme erhoben? Hat er auch nur eine einzige Handlung patriotischen Widerstandes aufzuweisen? Er zieht sich ruhig auf sein Gut in Logrono zurück, züchtet dort sein Gemüse und seine Blumen und wartet seine Zeit ab. Er suchte auch die Revolution nicht, sondern wartete, bis die Revolution ihn rief. Er tat noch mehr als Mohammed. Er erwartete, daß der Berg zu ihm komme, und der
1 Amtsgebäude des Lord Mayor (Oberbürgermeisters) von London
Berg kam auch. Ein Unterschied ist jedoch zu erwähnen: als die Februarrevolution1 ausbrach, der das allgemeine europäische Erdbeben folgte, da ließ er durch Senor de Principe und einige andere Freunde eine kleine Broschüre veröffentlichen, betitelt „Espartero, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft", um Spanien daran zu erinnern, daß es noch immer den Mann der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf seinem Boden beherberge. Als die revolutionäre Bewegung in Frankreich bald darauf abflaute, sank der Mann der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch wieder in die Vergangenheit zurück. Espartero wurde zu Granatula in La Mancha geboren, und gleich seinem berühmten Landsmann2 hat er auch seine fixe Idee - die Konstitution und seine Dulcinea von Toboso - Königin Isabella. Am 8. Januar 1848, bei seiner Rückkehr aus dem englischen Exil nach Madrid, wurde er von der Königin empfangen und verabschiedete sich von ihr mit folgenden Worten: „Ich bitte Eure Majestät, mich zu rufen, wann immer Sie eines Armes bedürfen, der Sie verteidigt, und eines Herzens, das Sie liebt." Ihre Majestät hat jetzt gerufen, und der irrende Ritter erscheint, glättet die Wogen der Revolution, entnervt die Massen durch trügerische Beschwichtigungen, gestattet Christina, San Luis und den übrigen, sich im Palast zu verbergen, und beteuert laut seinen unerschütterlichen Glauben an das Wort der unschuldigen Isabella. Es ist bekannt, daß diese vertrauenswürdige Königin, deren Züge von Jahr zu Jahr eine auffallendere Ähnlichkeit mit denen von Ferdinand VII., schmachvollen Andenkens, annehmen sollen, am 15.November 1843 mündiggesprochen wurde. Am 2I.November desselben Jahres wurde sie erst 13 Jahre alt. Olozaga, den Lopez für drei Monate zu ihrem Erzieher ernannt hatte, bildete ein Ministerium, das der Kamarilla und den Cortes widerwärtig war, die unter dem Eindruck des ersten Erfolges von Narvaez neu gewählt worden waren. Er wollte die Cortes auflösen und erlangte ein von der Königin unterzeichnetes Dekret, welches ihn dazu ermächtigte, in dem jedoch das Datum seiner Veröffentlichung offen gelassen war. Am Abend des 28. November empfing Olozaga das Dekret aus den Händen der Königin. Am Abend des 29. hatte er noch eine Zusammenkunft mit ihr; er hatte sie aber kaum verlassen, als ein Unterstaatssekretär ihn in seinem Hause aufsuchte, ihm die Nachricht von seiner Entlassung brachte und das Dekret zurückforderte, zu dessen Unterzeichnung er die Königin gezwungen habe. Olozaga, von Beruf Rechtsanwalt, gab das Dokument erst am folgenden Tage zurück, nachdem
1 1848 in Frankreich - 2 Don Quijote
er es mindestens hundert Deputierten gezeigt hatte, um zu beweisen, daß die Unterschrift der Königin ihre gewöhnliche reguläre Handschrift aufwies. Am 13. Dezember berief Gonzalez Bravo, der zum Ministerpräsidenten ernannt war, die Präsidenten der Kammern, die hervorragendsten Notabein Madrids, Narväez, den Marquis de la Santa Cruz und andere zur Königin, damit sie ihnen eine Erklärung darüber abgebe, was sich zwischen ihr und Olozaga am Abend des 28. November zugetragen hat. Die unschuldige junge Königin führte sie in das Zimmer, wo sie Olozaga empfangen hatte, und spielte ihnen recht lebhaft, aber ein wenig übertrieben, ein kleines Drama zu ihrer Information vor. So habe Olozaga die Tür verriegelt, so sie beim Gewand ergriffen, so sie zum Niedersetzen genötigt, so ihr die Hand geführt, so ihre Unterschrift unter das Dekret erzwungen und so, mit einem Wort, ihre königliche Würde vergewaltigt. Während dieser Szene brachte Gonzalez Bravo diese Erklärungen zu Papier, und die anwesenden Personen betrachteten das betreffende Dekret, das mit verwischter, zitternder Schrift unterzeichnet schien. Und so sollte auf die feierliche Erklärung der Königin hin Olozaga wegen des Verbrechens der laesa majestas1 verurteilt, von vier Pferden in Stücke gerissen oder bestenfalls auf Lebenszeit nach den Philippinen verbannt werden. Wie wir jedoch schon sahen, hatte er seine Vorsichtsmaßregeln getroffen. Es folgte dann eine siebzehntägige Debatte in den Cortes, die größere Sensation erregte als seinerzeit selbst die berühmte Gerichtsverhandlung der Königin Caroline von England.[191]01ozagas Verteidigungsrede in den Cortes enthielt unter anderem auch diesen Passus: „Wenn man uns sagt, an das Wort der Königin haben wir ohne Widerspruch zu glauben, so sage ich nein! Entweder gibt es eine Anklage oder es gibt keine. Gibt es sie, dann ist ihr Wort eine Zeugenaussage wie jede andere, und dieser Aussage stelle ich die meinige entgegen." Bei den Erwägungen der Cortes ward Olozagas Wort schwerer befunden als das der Königin. Später entfloh er nachPortugal, um den Meuchelmördern zu entgehen, die nach ihm ausgesandt wurden. Das war Isabellas erster entrechat2 auf der politischen Bühne Spaniens und der erste Beweis ihrer Ehrenhaftigkeit. Und das ist dieselbe kleine Königin, deren Worten das Volk jetzt auf Esparteros Mahnung hin Glauben schenken soll und der man nach elf Jahren skandalösen Treibens den „Arm der Verteidigung" und das „liebende Herz" des „Schwerts der Revolution" anbietet.[192]
Geschrieben am 4. August 1854. Aus dem Englischen.
1 Majestätsbeleidigung - 2 Luftsprung
Friedrich Engels
Der Angriff auf die russischen Festungen11931
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4162 vom 21. August 1854» Leitartikel] Es scheint, daß die alliierten Franzosen und Engländer endlich einen wirklichen Angriff auf Rußland unternehmen wollen. Die am weitesten vorgeschobenen Befestigungen des Reiches auf den Alandsinseln und in Sewastopol am Schwarzen Meer sollen nacheinander, wenn nicht gleichzeitig, angegriffen werden. Allerdings wird in Westeuropa gemunkelt, daß der erstgenannte Punkt nach einem kurzen Bombardement bereits genommen worden sei, doch die Nachricht bedarf der Bestätigung und ist wahrscheinlich verfrüht. Was den Angriff auf Sewastopol betrifft, so haben wir keine offizielle Mitteilung darüber, daß er stattfinden soll, doch wird es von der „London Times" entschieden behauptet und in dieser Stadt allgemein geglaubt. Bis jetzt sind nur ein paar Divisionen französischer und englischer Truppen in Varna eingeschifft worden, und obgleich angenommen wird, daß sie zu den Expeditionstruppen nach der Krim gehören, ist es andrerseits möglich, daß sie für die Belagerung der russischen Festung Anapa in Asien bestimmt sind. In dieser Hinsicht werden wahrscheinlich mit dem Eintreffen des nächsten Dampfers alle Zweifel behoben werden. Der Angriff auf Bomarsund wird ein Ereignis von großem militärischem Interesse sein. Erstmalig werden Montalemberts kasemattierte Stadtbefestigungen erprobt werden. Nach den Ansichten und Plänen des Platzes zu urteilen, werden die dortigen Forts, obgleich in weit geringerem Maße als die von Helsingfors, Kronstadt oder Sewastopol, ebenso gegen einen Landangriff geschützt wie gegen ein Bombardement von Schiffen aus und sind ausschließlich nach Montalemberts Grundsätzen erbaut. Ein langes, bombensicheres Fort mit ungefähr hundert Geschützen, durch provisorische Erdwerke flankiert, bildet die Hauptverteidigung gegen Schiffe; im Rücken wird
es von großen Türmen beherrscht und geschützt, von denen einer mit dreißig und der andere mit zehn Geschützen bestückt ist. Während gegen das Hauptfort hauptsächlich die Schiffe eingesetzt würden, würde der Angriff auf die Türme von den Landstreitkräften durchgeführt werden. Unseren letzten Berichten zufolge ist die Garnison viel schwächer als wir angenommen haben; sie besteht aus nur wenig mehr als dreitausend Mann. Aus den zur Verfügung stehenden Informationen geht nicht ganz klar hervor, inwiefern der Angriff von der See aus und der Angriff vom Land nicht nur zeitlich zusammenfallen, sondern tatsächlich zusammen durchgeführt werden und sich gegenseitig unterstützen können, denn ein Angriff von der See aus ist zwangsläufig ein Angriff de vive force1, der in sehr kurzer Zeit entschieden sein muß, während jeder Landangriff gegen Mauerwerk Vorbereitungsarbeiten voraussetzt, mit wenigstens einer Parallele und Batterien, und deshalb eine gewisse Zeit erfordert. Solche Fragen können jedoch nur an Ort und Stelle entschieden werden. Auf jeden Fall wird die Einnahme Bomarsunds vom militärischen Standpunkt aus weit interessanter sein als selbst die Einnahme Sewastopols, da sie zur Lösung einer vieldiskutierten Frage beiträgt, während letztere Tat nur die erfolgreiche Durchführung alter militärischer Regeln bedeuten würde. Der vorgesehene Angriff auf Sewastopol muß hauptsächlich durch Landstreitkräfte ausgeführt werden, während sich die Aktionen der Flotte fast gänzlich auf die vollständige Blockade des Hafens beschränken müssen. Damit läuft er auf eine Land- und Seeblockade eines auf der Landseite unvollständig befestigten Seehafens hinaus. Wir können nicht wissen, welche Befestigungen von den Russen im Süden der Stadt und der Bucht errichtet worden sind; doch daß sie Redouten und Linien errichtet haben, die eine förmliche Belagerung erfordern, wenn man nicht große Opfer in Kauf nehmen will, steht außer Frage. Auf jeden Fall wissen wir, daß ein ständiges und allem Anschein nach gut konstruiertes Fort - ein großes Quadrat mit ausreichender Grabenverteidigung auf allen Seiten und Mörserbatterien auf allen vorspringenden Winkeln - den Hügel im Norden der Bucht, genau gegenüber der Stadt, krönt. Dieser Hügel ist die einzige Stellung in der Nähe der Stadt, die anscheinend nicht in Reichweite der Geschütze von anderen Höhen beherrscht wird und die selbst die Bucht und ihre gegenüberliegenden Hänge beherrscht. Hier wird also auf jeden Fall der Hauptwiderstand geleistet werden; doch es kann bezweifelt werden, ob die Stadt und der Hafen gehalten werden können, selbst wenn alle Forts an der Südküste genommen
1 im Sturm
worden sind, solange dieses Fort nicht bezwungen ist. Dort werden zumindest einige reguläre Belagerungsarbeiten notwendig sein. Nun beträgt die Ausdehnung der Bucht vom Kap Konstantin bis zu ihrem östlichen Ende ungefähr acht Meilen, und wenn man für die Stadt und die Forts eine beschränkte Ausdehnung annimmt, müßten sich die alliierten Truppen in einem Halbkreis von zweiundzwanzig oder vierundzwanzig Meilen im Umkreis ausbreiten, um die Blockade vom Lande aus zu sichern. Sie müssen an allen Punkten stark genug sein, um Ausfällen der Garnison und den Angriffen beliebiger Truppen Widerstand zu leisten, die in ihrem Rücken zusammengezogen werden könnten. Obwohl wir keine Möglichkeit haben, zu erfahren, welche Streitkräfte die Russen direkt oder indirekt zur Verteidigung ihrer Schwarzmeer-Feste einsetzen können, zeigen doch diese Einzelheiten, daß zu ihrer Einnahme beträchtliche Truppen erforderlich sind. Außerdem muß einem gefährlichen Feind Widerstand geleistet werden, dem tödlichen Klima der südlichen Krim. Da die Strandbatterien bei diesem Angriff den Russen kaum Nutzen bringen können, muß der Angriff ein gut Teil an militärischem Interesse einbüßen, weil er sich auf eine Belagerung in sehr großem, jedoch keinesfalls beispiellosem Maßstab beschränkt. Die für diese Bewegung vorgesehene Streitmacht wird nirgends mit mehr als 100 000 Mann angegeben, einschließlich eines Detachements Türken. Wenn man alle Umstände berücksichtigt, scheint diese Armee zur Erreichung dieses Zieles nicht auszureichen.
Geschrieben am 7. August 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Räumung der Donaufürstentümer Die Ereignisse in Spanien - Die neue dänische Verfassung - Die Chartisten]
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4162 vom 21. August 1854] London, Dienstag, 8. August 1854. Am 28. v.M. zog Fürst Gortschakow mit dem Zentrum seiner Armee durch Schlawa, ein Dorf, ungefähr sechs Meilen von Kalugereni entfernt, und verließ es wieder am 29. en route1 Fokschani. Die von General Soimonow kommandierte Vorhut besteht aus acht Bataillonen der 10. Infanteriedivision, aus den Ghasseurs-Regimentern von Tomsk und Kolywan und aus dem Husarenregiment Großfürst Zäsarewitsch. Diese Vorhut sollte am l.d.M. die Jalomitza bei Ureschti und Merescyani passieren, wo Brücken errichtet worden waren. Ihre Ankunft wird Mitte des Monats in Fokschani erwartet. Die türkische Armee rückt in drei Kolonnen vor. Das Zentrum war am 29. Juli in Kalugereni, am 30. wurden Schützen ihrer Vorhut bei Glina gesehen, 2 Meilen von Bukarest entfernt, wo man für den 1 .August die Errichtung des Hauptquartiers Omer Paschas erwartet. Der rechte Flügel marschierte entlang des Ardschisch in Richtung von Oltenitza auf Bukarest. Der linke, der am 28. bei Mogina stand, soll die Straße von Slatina nach Bukarest nehmen. „Die Rückzugsbewegung der russischen Armee", sagt der „Moniteur de 1'Armee", „scheint mehr strategischen als politischen Charakter zu tragen. Der Vorteil für den russischen General besteht hierbei darin, daß er seine Truppen in einer guten Stellung konzentrieren kann, wo sie nach den Leiden, die sie in der Dobrudscha erduldet haben und die ihnen von den Türken am linken Donauufer zugefügt worden sind, Atem schöpfen können. Er wird seiner Versorgungsbasis näher sein und dabei weiterhin einen bedeutenden Teil des im letzten Jahr eingenommenen Gebiets besetzt
1 in Richtung
halten. Schließlich erhält er eine Stellung, die selbst für überlegenere Kräfte gefährlich ist."
Am 26. Juli erließ Baron Budberg folgende Proklamation an die Walachen: „Seine Majestät, der Kaiser aller Reußen, König von Polen, Beschützer der Fürstentümer Moldau und Walachei, Beschützer all derer, die sich zum orthodoxen, griechischen Glauben bekennen, hat beschlossen, die kaiserlichen Truppen für kurze Zeit aus den ungesunden Donaugebieten zurückzuziehen, um sie in den gesünderen Bergen einzuquartieren. Der Feind in seiner Kurzsichtigkeit glaubte, wir zögen uns aus Furcht vor ihm zurück, und versuchte demzufolge, unsere Truppen während ihres Rückzugs anzugreifen. Doch kaum hatte Fürst Gortschakow, der Oberkommandant, seinen Truppen befohlen, sie zurückzuschlagen, als sie auch schon schmählich flohen und ihre Waffen und Munition zurückließen, die unsere tapferen Soldaten mitnahmen. Wenn die Jahreszeit günstiger sein wird, werden wir zu euch gerüstet zurückkehren, um euch für immer von den barbarischen Türken zu befreien. Unser Rückzug wird vorsichtig und ohne Eile erfolgen; denn der Feind soll nicht glauben, wir flüchteten vor ihm."t19^
Es ist sonderbar, daß die Russen 1853 in genau demselben Monat, im Juli, die Jahreszeit keineswegs ungünstig fanden, um die Walachei zu besetzen. „Die Auswanderung der bulgarischen Familien aus der Dobrudscha", heißt es in einem Brief aus Galatz, der in einer deutschen Zeitung veröffentlicht wurde, „geht ständig weiter. Ungefähr 1000 Familien mit 150 000 Stück Vieh sind in der Nähe von Reni übergesetzt." Diese „freiwillige Auswanderung", zu der die Einwohner von den Russen unter dem Vorwand der Gefahr einer türkischen Rache aufgefordert wurden, ähnelt ihrem Wesen .nach der „freiwilligen" österreichischen Anleihe. Der Wiener Korrespondent des „Morning Chronicle" meldet, daß dieselben Familien, „als sie gewahr wurden, daß sie an den Befestigungen der Moldau beschäftigt werden sollten, nach Hause zurückzukehren wünschten, aber von den Kosaken gezwungen wurden, nach Fokschani weiterzuziehen, wo sie jetzt Gräben ausheben".
Die Barrikaden in Madrid waren auf Forderung Esparteros kaum entfernt, da war die Konterrevolution bereits emsig am Werk. Der erste konterrevolutionäre Schritt war die Gewährung der Straffreiheit für Königin Christina, Sartorius und deren Bundesgenossen. Dann folgte die Bildung des Ministeriums mit dem Moderado O'Donnell als Kriegsminister, und die ganze Armee wurde der Verfügungsgewalt dieses alten Freundes von Narväez unterstellt. Auf der Liste stehen die Namen Pacheco, Lujan, Don Francisco
Die Ereignisse in Spanien - Die neue dänische Verfassung 393
Santa Cruz - sie alle sind als Anhänger von Narväez bekannt, und der erste war ein Mitglied des berüchtigten Ministeriums von 1847.1195] Ein anderer, Salazar, wurde wegen des einzigen Verdienstes berufen, daß er ein Spielkamerad Esparteros war. Als Belohnung für das blutige Gemetzel des Volkes auf den Barrikaden und auf den Plätzen wurden zahllose Auszeichnungen über die Espartero-Generale einerseits und die Moderado-Freunde O'Donnells andrerseits ausgeschüttet. Um den Weg für ein endgültiges Verstummen der Presse zu bahnen, wurde das Preßgesetz von 1837 wieder eingeführt. Anstatt allgemeine konstituierende Cortes einzuberufen, will Espartero angeblich nur die Kammern nach der Verfassung von 1837 und - wie von einigen behauptet wird - sogar nach der von Narväez geänderten Fassung einberufen. Um den Erfolg all dieser Maßnahmen und anderer, die noch folgen sollen, soweit wie möglich zu sichern, werden in der Nähe Madrids große Truppenmassen konzentriert. Was uns bei dieser Angelegenheit besonders auffällt, ist die Plötzlichkeit, mit der die Reaktion eingesetzt hat. Im ersten Moment haben die Barrikadenchefs Espartero aufgesucht, um ihm Vorstellungen wegen der Auswahl seines Ministeriums zu machen. Er begann eine lange Erklärung über die Schwierigkeiten, denen er ausgesetzt sei, und bemühte sich, seine Ernennungen zu verteidigen. Doch die Abgeordneten des Volkes schienen von seiner Erklärung wenig befriedigt. Gleichzeitig treffen „sehr alarmierende" Nachrichten über die Bewegungen der Republikaner in Valencia, Katalonien und Andalusien ein. Die Verwirrung Esparteros zeigt sich in seinem Dekret, das das Weiterbestehen der Provinzjuntas sanktioniert. Auch hat er noch nicht gewagt, die Madrider Junta aufzulösen, obgleich sein Ministerium vollständig und ins Amt eingeführt ist. Auf die Forderung Napoleons des Kleinen wurde Oberst Charras aus Belgien ausgewiesen. Der Pariser Korrespondent der „Independance Beige" erwähnt eine vom Prinzen Murat verfaßte und herausgegebene Flugschrift, welche die Krone König Bombas1 als das rechtmäßige Erbe der Murats fordert. Die Flugschrift ist ins Italienische übersetzt worden. Das dänische Ministerium weigert sich noch immer hartnäckig, den Westmächten die Häfen und Landungsplätze zu überlassen, wodurch diese ihre Streitkräfte während des Winters in der Ostsee belassen könnten. Nicht nur in dieser Form jedoch bringt die dänische Regierung ihre Verachtung für die Mächte zum Ausdruck, die gegen ihren Schutzherrn, den Kaiser von Rußland, angetreten sind. Sie zögerte nicht, ihren lange vorbereiteten coup d'etat, der völlig im Interesse Rußlands liegt, direkt vor der Nase der
1 Ferdinand II.
27 Marx'Engels, Werke, Band 10
Flotten und Armeen der Westmächte durchzuführen. Am 26. Juli wurde in Kopenhagen eine Staatsakte veröffentlicht mit der Überschrift: „Verfassung der dänischen Monarchie für ihre öffentlichen Angelegenheiten". Sonderbarerweise hat die englische Presse von dieser Maßnahme fast überhaupt keine Notiz genommen. Deshalb bringe ich Ihnen die wichtigsten Punkte dieser neuen dänischen Verfassung:
Abschn. 1. Die Nachfolge der dänischen Monarchie wird durch das Gesetz vom 31. Juli 1853 festgelegt. Abschn. 5. öffentliche Angelegenheiten der Monarchie sind all jene, von denen nicht ausdrücklich bestimmt wird, daß sie sich auf einen besonderen Teil derselben beziehen. Abschn. 6. Die öffentlichen Ausgaben der Monarchie, die ihre Einnahmen übersteigen, müssen in folgendem Verhältnis getragen werden: Dänemark 60 Prozent; Schleswig 17 Prozent; Holstein 23 Prozent. Abschn. 7. Die öffentlichen Angelegenheiten der Monarchie sollen einem Rigsraad unterstehen. Abschn. 8. Der gegenwärtige Rigsraad soll nur aus Mitgliedern bestehen, die der König ernannt hat. Zukünftige Rigsraade sollen teilweise gewählt werden. Abschn. 10. Der Rigsraad soll dann aus fünfzig Migliedern bestehen, wovon der König zwanzig ernennt und die anderen dreißig Mitglieder in folgendem Verhältnis gewählt werden: Der Reichstag Dänemarks wählt 18, die Provinzstaaten Schleswigs wählen 5, diejenigen Holsteins 6, und die Ritterschaft von Lauenburg wählt 1. Abschn. 11. Das Grundgesetz des Königreichs Dänemark vom 5. Juni 1849 soll auf die Angelegenheiten jenes Königreichs beschränkt sein. Abschn. 15. Die Mitglieder des Rigsraads erhalten eine jährliche Bezahlung von 500 Talern. Abschn. 16. Der Rigsraad muß wenigstens einmal in zwei Jahren einberufen werden, für eine Dauer, die der König bestimmen wird. Abschn. 17. Seine Sitzungen sollen in Kopenhagen stattfinden; der König kann sie jedoch nach jedem anderen Ort verlegen. Abschn. 18. Seine Beratungen werden von einem Präsidenten geleitet, der vom König ernannt wird. Die Debatten können sowohl in deutscher als auch in dänischer Sprache geführt werden, die Entschließungen müssen jedoch in der letzteren abgefaßt werden. Abschn. 19. Die Beratungen des Rigsraads sind geheim. Abschn. 21. Ohne Zustimmung des Rigsraads kann keine für die ganze Monarchie geltende Steuer erhoben, geändert oder aufgehoben, noch irgendeine Anleihe für die ganze Monarchie aufgenommen werden. Abschn. 22. In allen anderen Angelegenheiten, außer den Finanzen der gemeinsamen Monarchie, hat der Rigsraad nur eine beratende Stimme.
Ein Dekret desselben Datums beruft den Rigsraad für den I.September 1854 ein, und ein anderes Dekret enthält die Ernennungen des Königs; die Ernannten sind alle Höflinge, hohe Beamte und Ritter des Danebrog. Die durch diesen neuen coup d'etat erreichten Hauptpunkte sind die Abschaffung des Grundgesetzes und der Repräsentativeinrichtungen Dänemarks und die Errichtung einer einfachen Maschine zur Beschaffung des Geldbetrages, den der Hof und die Regierung haben will. Ernest Jones hat sich von neuem auf eine Reise durch die Fabrikbezirke begeben, um sie zugunsten der Charte zu agitieren. In Halifax, Bacup und den anderen Ortschaften, die er bereits besucht hat, wurde die folgende Petition an das Parlament angenommen:
„An die ehrenwerten Abgeordneten des Unterhauses Großbritanniens und Irlands, die im Parlament versammelt sind. - Die bescheidene Bittschrift der Einwohner Bacups, die sich auf einem öffentlichen Meeting am Dienstag, dem 30. Tag des Juli 1854, versammelt haben, will sagen: Daß Ihre Bittsteller lange und genau die Handlungen der Minister der Krone in ihrer Innen- und Außenpolitik betrachtet haben und durch eingehende Beobachtung davon überzeugt wurden, daß diese in beiderlei Beziehung bei weitem nicht das Vertrauen des Landes verdienen. Daß Ihre Bittsteller überzeugt sind, daß keine inneren Verbesserungen stattfinden und keine Stärke nach außen gezeigt werden wird, solange solche Männer an der Spitze der nationalen Angelegenheiten stehen. Ihre Bittsteller ersuchen deshalb Ihr ehrenwertes Haus, eine Adresse an den Thron zu senden, um zu bewirken, daß es Ihrer Majestät gefallen möge, Ihre gegenwärtigen Ratgeber zu entlassen und Männer zu Ihrer Unterstützung zu ernennen, die mit dem fortschrittlichen Geist des Zeitalters mehr in Einklang stehen und die für die Erfordernisse unserer Zeit besser geeignet sind. Ihre Bittsteller werden stets darum ersuchen."
Am Sonntag fand ein großes Meeting in Dirpley Moor, Bacup, statt, in der der Agitator1 eine der überzeugendsten Reden hielt, die er je gehalten hat, wovon einige Auszüge einen Platz in Ihrer Zeitung verdienen:
„Die Zeit des Handelns ist endlich gekommen, und wir beginnen jetzt, den Chartismus in England so sehr wiederzubeleben, wie dies in einer Zeit der Apathie noch nie geschah. Endlich nähert sich die Stunde, da wir unsere Charte haben werden... Ihr habt gegen das Sinken der Löhne gekämpft und kämpftet vergebens; Hunger trieb euch zum Zwist; doch die Armut war euer Lehrer, selbst als der Hunger euer Feldwebel war; und nach jeder neuen'Niederlage wuchset ihr an Wissen und Verstand.
1 Ernest Jones
Zuerst waren Vereinigungen und Streiks euer Heilmittel. Von ihnen erhofftet ihr die Rettung und ließet außer acht, daß ihr nicht die Möglichkeit hattet, für euch selber zu arbeiten, und daher auch nicht die Mittel zum Widerstand gegen die Kapitalisten, deren Reichtum es ihnen gestattete, abzuwarten und euren Magen zu beobachten, um zu sehen, wer es länger aushalten könne. Ihr hofftet, daß kürzere Arbeitszeit helfen würde, und man sagte euch, daß, arbeitete jeder zwei Stunden weniger, zwei Stunden Arbeit für diejenigen blieben, die überhaupt keine Arbeit haben. Doch ihr vergaßt, daß, während ihr die Arbeitszeit um ein Prozent herabsetztet, das Monopol die Maschinerie um hundert Prozent erhöhte. Dann flüchtetet ihr euch in die Genossenschaft. Ihr begrifft eine große Wahrheit die Befreiung der Arbeit muß sich auf die Genossenschaft stützen, doch ihr übersaht die Mittel zur Sicherung dieser Befreiung. Wenn man produziert, braucht man einen Markt - wenn man etwas zu verkaufen hat, braucht man jemanden, der es zu kaufen wünscht - und ihr vergaßt, daß dieser jemand nicht vorhanden war. Die genossenschaftliche Produktion beginnt - doch wo ist der Markt? Woher sollt ihr denn den Markt bekommen? Wie könnt ihr die Armen reich machen, damit sie das kaufen können, was die Genossenschaft produziert? Durch jene britischen Kalifornier, deren Gold auf der Oberfläche des Bodens liegt und das wogende Weizenfeld der Erntezeit tönt. Schaut zu euren Füßen! - dort auf dem grünen Ufer, an dem ihr sitzt - dort auf den weiten Feldern, auf denen ihr steht - dort liegt die Freiheit - dort liegt die Genossenschaft - dort sind die hohen Löhne - dort liegt Wohlstand und Frieden! In den fünfzehn Millionen unserer öffentlichen Ländereien - den siebenundzwanzig Millionen unserer unbebauten britischen Prärien hier im Lande. Eine griechische Legende sagt, Herkules rang mit dem Riesen Antäus, dessen Mutter die Erde war, und warf ihn oft zu Boden - doch jedesmal, wenn er an die Brust der Mutter fiel, bekam er neue Kräfte und stand stärker wieder auf. Als Herkules das entdeckte, hob er ihn empor und hielt ihn in der Luft, bis er ihn besiegt hatte. So reißt der Herkules Monopol den Riesen Arbeit von seiner Mutter Erde weg und hält ihn mit dem Griff der Konkurrenz, macht ihn schwach, machtlos und läßt ihn wie Mohammeds Sarg zwischen Himmel und Hölle schweben - nur dem letzteren Ort viel näher! Doch wie das Land bekommen? Es gibt einige Leute, die euch sagen, dafür brauche man keine politische Macht. Wer sind diese Leute, die euch das erzählen? Sind es die Führer der Zehnprozentbewegungen oder der Zehnstundenbewegungen oder der Bewegungen für kürzere Arbeitszeit oder der Bewegungen für die Einschränkung der Maschinerie oder der Begräbnisvereinsbewegungen oder der Partnerschaftsbewegungen oder der Wohltätigkeitsvereinsbewegungen oder der Bewegungen zur Trennung der Kirche vom Staat oder der Bildungsvereinsbewegungen, der Munizipalbewegungen und all der anderen Bewegungen? Welche Menge von .Bewegungen', und doch haben wir uns nicht bewegt. Ihr braucht keine politische Macht? Das sind doch gerade die Leute, die um ein politisches Schlaraffenland herumtanzen - oder wimmernde Abordnungen an einen politischen Palmerston senden - oder ein politisches Parlament bittstellern oder um einen politischen Thron herumwedeln! Also ist es doch die politische Macht, die wir schließlich erringen müssen, nach ihrem eigenen Beispiel. Nur sagen euch
diese Männer, daß ihr die politische Macht für eure Feinde erreichen sollt, und ich sage euch, erringt eure eigene politische Macht. Ich trage euch diese unübertreffliche Wahrheit vor: Die Charte ist das Allheilmittel!
Wen haben wir gegen uns? Erstens ein Koalitionsministerium. Was bedeutet das? Führer von Gruppen, von denen sich nicht eine allein halten kann. Einige Dutzend Leute, zu schwach, um auf ihren eigenen Beinen stehen zu können, deshalb stützen sie sich gegenseitig, und alle zusammen können schließlich nicht einen richtigen Mann abgeben. Das ist eine Koalition. Was haben wir außerdem? Eine Tory-Opposition, die sie hinauswerfen möchte, die es aber nicht wagt, da sie weiß, daß sie wiederum hinausgeworfen würde, und dann käme die Sündflut, in der selbst Noah die Klassenherrschaft nicht mehr retten könnte. Was haben wir sonst? Eine Landaristokratie, deren Besitzungen zu drei Viertel für mehr als zwei Drittel ihres Wertes verschuldet sind das ist eine glorreiche Macht, um ein Volk zu vernichten! 38 000 bankrotte Grundbesitzer mit 300 000 Farmern, die unter den hohen Pachten, den Jagdgesetzen und der Tyrannei der Grundbesitzer ächzen. Was haben wir noch? Ein Fabrikbesitzertum, das unter dem Wirken seines eigenen nichtswürdigen Konkurrenzrennens bankrott wird das bald nicht mehr in der Lage sein wird, die Fabriken zu halten. Eine vortreffliche Macht, um das Piedestal der Freiheit unter euren Füßen wegzuschlagen! Was bleibt? Der Arbeitsmann und der Ladenbesitzer. Oft wurde versucht, sie beide auf der Grundlage eines Kompromisses zu einen. Ich selbst war immer dagegen, denn ein Kompromiß des Vorrechts hätte die Geldinteressen nur gestärkt und die Klassengesetzgebung vervollkommnet. Doch die Zeit für eine solche Einigung ist jetzt endlich gekommen und ist ohne die Notwendigkeit eines Kompromisses oder Verrats gekommen. Die Kleinhändler werden schnell demokratisch. Man sagt, daß der Weg zum Verstand eines Arbeiters über seinen Magen gehe. Mag sein! Der Weg zum Herzen eines Ladenbesitzers geht dafür über seine Geldbörse. Für jeden Schilling, den er weniger einnimmt, bekommt er eine neue Idee. Zahlungsunfähigkeit lehrt ihn die Wahrheit... Damit ist die moralische Stärke unserer Feinde vernichtet - und neue Verbündete schließen sich uns an. Ihre physische Stärke ist ebenfalls dahin. Das hat der Zar besorgt! In Irland stehen kaum 1000 Soldaten! In England gibt es jetzt kein stehendes Heer, Aber es gibt die Miliz! Oh, die Miliz, die in so großer Zahl desertiert, sagt die Londoner »Times*, daß die Verfolgung mit Geschrei nicht mehr ausreicht, sondern daß an jede Gemeinde und an jeden Ort, wo der Deserteur je gelebt hat, wenn auch nur eine Woche, besondere Zirkulare geschickt werden, um festzustellen, ob Gewalt und Einschüchterung ihn zurückbringen können. Ich wünsche der Regierung zu ihrer neuen Streitmacht Glück. Damit ist das Feld klar - die Gelegenheit für das Volk ist gekommen. Entnehmt daraus nicht, daß ich Gewaltanwendung meine. Nein! Weit davon entfernt! Wir meinen eine große friedliche Moralbewegung. Doch wenn wir die moralische Gewalt meinen, folgt daraus noch nicht, daß dies auch unsere Feinde meinen. England hat zu denken und zu hören begonnen. Bis jetzt hörte es auf die Trommeln Polens und das Stampfen Ungarns. Bis jetzt hörte es auf die Schreie Mailands
und das Rufen von Paris! Doch in der eintretenden Stille beginnt es das Schlagen seines eigenen stolzen Herzens zu hören - und ruft: ,Auch ich habe ein Werk zu verrichten - einen Feind zu vernichten und ein Feld zu erobern.' "[196J Der Vorsitzende des Meetings wies auf die Anwesenheit des Inspektors und anderer Polizeibeamter hin, in der Erwartung, daß diese Angestellten der Regierung in ihren Berichten das Gesagte nicht entstellen werden. Indem er sich auf diese Warnung bezog, sagte Ernest Jones:
„Ich meinerseits kümmere mich nicht darum, was sie sagen - sie mögen sagen, was sie wollen. Ich gehe zur Agitation wie ein Soldat in die Schlacht, der es unter den fliegenden Kugeln darauf ankommen läßt, entweder zu fallen und umzukommen oder zu leben und zu siegen; denn ich bin ein Soldat der Demokratie." Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Räumung der Moldau und der Walachei — Polen Die Forderungen des spanischen Volkes]
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4166 vom 25.August 1854] London, Freitag, 11 .August 1854. Der gestrige „Moniteur" teilt mit, daß „der russische Gesandte in Wien dem österreichischen Kabinett angekündigt hat, daß Kaiser Nikolaus die vollständige Räumung der Walachei und der Moldau befohlen hat. Ungeachtet dieser Deklaration hat Graf Buol am 8. d. M. mit Baron de Bourqueney und Lord Westmoreland Noten ausgetauscht, denen zufolge Österreich, ebenso wie Frankreich und England, der Meinung ist, man müsse von Rußland Garantien gegen die Wiederkehr von Verwicklungen verlangen, die die Ruhe Europas stören. Österreich verpflichtet sich, mit dem Kabinett von St. Petersburg in keinerlei Verhandlungen einzutreten, ehe nicht der allgemeine Friede wiederhergestellt ist oder diese Garantien erreicht sind."
Welcher Art diese Garantien sind, kann man der heutigen „Times" entnehmen. Erstens die Räumung der Fürstentümer; zweitens die Einsetzung eines allgemeinen europäischen Protektorats an Stelle eines russischen Protektorats; drittens die „Revision der Konvention über Meerengen und Anwendung solcher Maßnahmen, die notwendig sind, um das Flottenübergewicht Rußlands in Grenzen zu halten, die weniger gefährlich sind für die Existenz der Türkei und die Unabhängigkeit der Schiffahrt sowohl in den Gewässern des Schwarzen Meeres als auch an der Mündung der Donau". Die Erklärungen Lord Ciarendons in der gestrigen Sitzung des Oberhauses bestätigten im großen und ganzen die Behauptung des „Moniteur". Wir wissen auch aus anderen Quellen, daß das russische Hauptquartier nach Buseo verlegt wurde, daß vier russische Regimenter den Pruth überschritten haben und daß die österreichische Regierung ihrerseits die Befehle wider
rufen hat, wonach verschiedene Truppenkorps die Armeen verstärken sollten, die en echelon1 an der galizisch-transsylvanischen Grenze aufgezogen waren. In der Kriegsgeschichte hat es kaum je eine so merkwürdige Operation gegeben, wie diese Räumung der Fürstentümer durch die russische Armee. Tatsache ist, daß sie eigentlich nur vom diplomatischen und nicht vom strategischen Gesichtspunkt aus zu erklären ist. Wie wir in der „Tribüne" schon auseinandersetzten, ist zwischen Österreich und Rußland ein Plan vereinbart worden, wonach die Österreicher die Fürstentümer besetzen sollten, sobald der Ehre des Zaren durch die Einnahme Silistrias Genugtuung geschehen sei; durch eine Klausel wurde der Möglichkeit einer russischen Niederlage Rechnung getragen, wonach die österreichische Okkupation auch in diesem Falle stattfinden sollte. Dementsprechend wurde einen Tag bevor die Russen die Belagerung Silistrias aufhoben, zwischen der Türkei und Österreich ein Vertrag abgeschlossen, der Österreich das Recht gab, in die Walachei einzumarschieren.11971 Dieser Vertrag bezweckte dreierlei: erstens sollten die Fürstentümer der Türkei vorenthalten bleiben; zweitens sollte „gegen die Pest der Revolution rund um die österreichischen Grenzen ein Kordon gezogen werden", und schließlich sollte er der russischen Armee einen sicheren Rückzug ermöglichen. Aus den Geständnissen Lord Clarendons geht klar für uns hervor, daß es Lord Stratford de Redcliffe war, der englische Gesandte in Konstantinopel, der der Pforte diesen Vertrag aufzwang; gleichzeitig erließ der Diwan einen Befehl, der es den Russen ermöglichte, sich zurückzuziehen, ohne durch Verfolgung behelligt zu werden. Der überstürzte Rückzug der Russen von der Donau bleibt unerklärlich, es sei denn, er gehörte zu den Abmachungen zwischen Rußland und Österreich. Die Österreicher hatten festgesetzt, daß ihre Truppen am 3. Juli in die Walachei einziehen sollten. Woher also ihr Zögern? Sie wollten sich eine Konzession nach der andern von der Pforte erzwingen: erstens in bezug auf die Form der Regierung, die in der Walachei eingesetzt werden sollte; zweitens in bezug auf die Ausschließung der Türken aus ihrer eigenen Provinz. Nachträglich gaben sie bekannt, daß ihre Besetzung der Walachei keine Kriegserklärung bedeute. Lord Clarendon sagte:
„Gegen Ende Juni, als die Russen im Begriffe waren, die Walachei zu räumen, sandte die österreichische Regierung einen Offizier vom Stabe des Generals Hess, um den Befehlshabern der Alliierten bekanntzugeben, daß die österreichische Regierung beabsichtige, einen Teil der Walachei im Namen des Sultans zu besetzen, auch um seine Autorität dort wiederherzustellen; sie würden jedoch nicht als kriegführende
1 in Staffeln
Macht einmarschieren, weil Österreich mit Rußland nicht im Kriege stehe und auf die an Rußland gerichteten Forderungen keine Antwort erhalten habe."
Diese blödsinnige Aufrichtigkeit Österreichs erzeugte Verwirrung, und ein neuer Aufschub wurde notwendig. Dann kam der Protest Preußens, das auf die Vergrößerung der österreichischen Machtsphäre an der Donau eifersüchtig war. Wenn auch diese beiden Mächte Rußlands Werkzeuge sind, so schließt das nicht aus, daß sie doch stets aufeinander eifersüchtig bleiben, wie der „Kartoffelkrieg"[198] von 1850 zur Genüge bewies. Hätte Herr Urquhart das Warschauer Protokoll aus diesem Jahre studiert, so hätte ihm niemals die donquichottesche Idee kommen können, Preußen plötzlich als Bollwerk Europas gegen Rußland aufzurichten. Als nun die Russen, die sich schon auf dem Rückzug befanden, sahen, daß Österreich die günstige Gelegenheit verpaßte, machten sie kehrt und näherten sich wieder der Donau; denn wäre die Räumung der Walachei erfolgt, ehe Österreich sich gerührt hätte, so hätten sie für ihren späteren Einmarsch in dieses Fürstentum keinen Vorwand mehr gehabt. Der türkische General in Rustschuk1 jedoch, der - um die Phraseologie der „Times" zu gebrauchen - die Russen in vollem Rückzug „wähnte", marschierte inzwischen nach Giurgewo und schlug sie so gründlich aufs Haupt, daß jeder Versuch, die Donaulinie wieder in Besitz zu nehmen, unmöglich gemacht wurde. Nun mußten die Russen infolge dieser Niederlage ernstlich an den Rückzug denken; ein Entschluß, zu dem sie noch durch die Entdeckung gedrängt wurden, daß die sogenannten Alliierten der Türkei nicht länger mehr untätig bleiben würden und daß die englische Regierung mit Rücksicht auf die Armee und auf die öffentliche Meinung gezwungen sein würde, etwas gegen sie zu unternehmen.Durch ihren Rückzug aus den Fürstentümern vermehrten sie ihre Defensivstreitmacht in Bessarabien und auf der Krim. Nach einer uns zugegangenen telegraphischen Nachricht werden die russischen Regimenter aus Bessarabien und Cherson in größter Eile nach der Krim verlegt, während jene aus der Moldau abmarschierten, um deren Stellungen einzunehmen. Es war vorauszusehen, daß die Türken nicht versäumen würden, ihren Vorteil wahrzunehmen. Am 6. d.M. zog ihre Vorhut unter Iskender Beg in Bukarest ein, und ihr General empfing eine Deputation der walachischen Hauptstadt gerade an dem Tag, an dem vor einem Jahr, im Jahre 1853, ihre Feinde in die Stadt eingezogen waren.
1 Omer Pascha
Die Österreicher haben also die günstige Gelegenheit neuerdings verpaßt, und ihre Vorwände zum Einmarsch in die Walachei sind ihnen genommen. Im jetzigen Augenblick würde eine Besetzung sie unfehlbar in Kollision mit den Türken bringen. Während daher die österreichischen Blätter das Vorrücken der Türken auf Bukarest als einen Vertragsbruch tadeln, klagt die englische ministerielle Presse wiederum die Österreicher der Langsamkeit und Dummheit an, durch die der feingesponnene Plan zum Scheitern gebracht worden sei. In der „Times" vom Donnerstag lesen wir zum Beispiel: „Österreich hat durch seine Saumseligkeit den Vorteil der Position eingebüßt, die es in den Fürstentümern hätte einnehmen können. Omer Pascha hat sich diese Gelegenheit zunutze gemacht und sich an die Fersen des sich zurückziehenden Feindes geheftet. Die Walachei ist nun in einem bedeutenden Maße von den Truppen des Sultans besetzt. Von Orsova bis Galatz ist die Donau in ihrem Besitz, und es besteht kein Grund zur Annahme, daß eine fremde Macht irgendeine Forderung vorbringen könnte, die den türkischen Befehlshaber veranlassen könnte, auf eine Provinz zu verzichten, die er mit dem Recht des Herrn und auf Grund der Tapferkeit seiner Armee besetzt hält."
Alles, was den Österreichern jetzt noch zu tun bleibt, ist die Okkupation der Moldau. Die Depeschen aus Konstantinopel vom 30. Juli beziehen sich fast ausschließlich auf die geplante Expedition gegen die Krim. Die Division von zwanzig Schiffen, die am 21. Juli Baltschik unter dem Kommando Admiral Bruats verließ, begleitet von den Generalen Brown und Canrobert, um die Küste von Anapa bis Sewastopol zu erkunden, kehrte am 27. zurück. Canrobert und Brown begaben sich gleich nach ihrer Rückkehr nach Varna, um Saint-Arnaud und Lord Raglan die Resultate ihrer Mission mitzuteilen. Die englisch-französischen Truppen waren von Varna bis Kustendje stationiert, um in den verschiedenen Häfen leichter eingeschifft werden zu können. Diese Einschiffung muß am 29. oder 30. Juli erfolgt sein. Die türkische Flotte war ins Schwarze Meer eingefahren, und die ganze englisch-französische Seemacht muß auf der Höhe von Varna versammelt gewesen sein, denn am 1. d.M. waren dort zahlreiche Transportschiffe konzentriert. Über die Bestimmung dieser Streitkräfte bringt die „Gazette du Midi" folgendes:
„Einige sprechen von Anapa und der benachbarten Festung, in denen sich zusammen ungefähr 20 000 Mann befinden und deren Eroberung sofort Verbindungen zwischen Abchasien, Tscherkessien und der Krim herstellen würde, so daß die Tscherkessen ohne Schwierigkeit an einem Angriff auf die Krim teilnehmen könnten. Anderen Berichten zufolge ist beabsichtigt, den Angriff auf Odessa zu richten, das im Augenblick eine Garnison von ungefähr 40 000 Mann aufweist und das von den alliierten
Truppen besetzt werden würde, um dort Winterquartier zu beziehen und an der einen Seite Bessarabien und an der andern die Krim zu bedrohen. Eine dritte Version deutet auf Nikolajew als den anzugreifenden Punkt hin, wo sich die Arsenale der russischen Armee befinden. Dieser Ort nimmt das Dreieck ein, das durch den Dnepr im Osten und den Bug im Westen gebildet wird."
Die Dobrudscha ist von den Russen gänzlich verlassen worden und wird jetzt von 36 000 Türken und Franzosen besetzt gehalten. Die Türken sind in Babadagh, und es heißt, sie sollen Order haben, Tultscha anzugreifen, während die Franzosen Galatz angreifen sollen. Am 16. Juli sollen die englischen Dampfer „Spitfire" und „Vesuvius" die kleine Stadt gänzlich zerstört haben, die die Russen an der Sulinamündung errichtet hatten und die schon teilweise zerstört war. Außer dem Leuchtturm und der Kirche wurde kein Gebäude verschont. Im Weißen Meer sind die Engländer an irgendeinem Punkt der Onegabucht gelandet und haben ein Dorf zerstört. Die „ Wladimir "-Affäre1199 ] im Schwarzen Meer veranlaßte die „Times" zu einem heftigen Angriff gegen Admiral Dundas. Der „Herald" erwidert darauf: „Sir Charles Napier konnte es in der Ostsee dulden, daß die Flotte von Sweaborg unbehelligt zu ihrem Ankerplatz gelangte, konnte es erlauben, daß Hangöudd gut befestigt und dann völlig wirkungslos bombardiert wurde, konnte es dulden, daß Bojen entfernt und infolgedessen Schiffe gestrandet sind, und bei alledem verlor die .Times' nicht ein einziges Wort des Tadels. Bei Admiral Dundas aber liegt der Fall ganz anders."
Durch Briefe aus Paris vom 9. d.M. erfahren wir, daß die Orientarmee um 50 000 französische Truppen verstärkt werden soll. Wenn der Krieg auch sonst nichts Gutes zuwege bringt, so hat er wenigstens das Verdienst, Frankreich von seiner Dezembristenarmee[431 zu befreien. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß der Kaiser von Rußland seit seiner Schlappe in der Türkei wieder begonnen hat, den Titel König von Polen zu benutzen, den er nach seinem Sieg in Ungarn als überflüssig abgelegt hatte, da die Einverleibung jenes Landes als vollzogen erachtet wurde. In einem von der Wiener „Presse" veröffentlichten Bericht, datiert Warschau, I.August, lesen wir:
„Die bevorstehende Ankunft des Zaren in Warschau wird, wie man sagt, durch bestimmte Konzessionen an die Polen im nationalen Sinne gekennzeichnet sein. Es ist hier stark die Rede von der Zusammenberufung der mit dem organischen Statut des Königreichs Polen vom Jahre 1832 versprochenen Notabein. Die öffentlichen Unterrichtsanstalten sollen wieder eröffnet werden, die polnische Sprache als Amtssprache
in allen Zweigen der Verwaltung wieder zugelassen werden, die Vorlegung des jährlichen Etats der Einnahmen und Ausgaben ist vorgesehen und die Bewilligung der direkten Auflagen. Die polnische Armee soll auch, wie der Bericht weiterhin sagt, aufs neue errichtet, aber unter den Befehl russischer Offiziere gestellt werden. Die vierte Rekrutierung ist beendigt. Noch nie war in dieser Hinsicht die Bevölkerung so sehr in Anspruch genommen." Wir lesen auch in der „Düsseldorfer Zeitung" unterm 7. August:
„Nach Berichten aus Warschau hat General Rüdiger, der Statthalter des Königreichs Polen, die Adels-Marschälle des Königreichs aufgefordert, bei der Krone darum nachzusuchen, daß Polen wieder ein selbständiges Königreich bilde."
Viele Lösungen der polnischen Frage sind von den verschiedenen Parteien angeboten worden, aber niemals konnte sich irgend jemand eine solche Lösung vorstellen, wie sie von dem russischen General vorgeschlagen und befohlen wurde. Ich erfahre aus Kopenhagen, daß der idiotische König von Dänemark sich in Begleitung des Ministers des Innern, von Tillisch, eingeschifft hat, um den König von Schweden in Karlskrona zu treffen. Tillisch ist einer der fanatischsten Anhänger Rußlands, und es wird allgemein vermutet, daß das Treffen der beiden Könige dazu bestimmt ist, das Band zu Rußland, genannt nördliche bewaffnete Neutralität12001, zu erneuern. Wenn Dänemark und Schweden Neutralität gegenüber Rußland wollen, heißt das nicht, daß sie dasselbe gegenüber England und Frankreich im Sinne haben, wie der folgende Umstand beweist. Vor einigen Tagen musterte General Meza, der Oberbefehlshaber der dänischen Artillerie, die Artillerie der Nationalgarde und richtete an sie eine ungewöhnlich feurige Ansprache. Er deutete dabei an, daß vielleicht der Tag näher rücke, an dem der König die mit der Artillerie der Armee vereinigte Nationalartillerie zur allgemeinen Verteidigung des skandinavischen Vaterlandes aufrufen würde. Das englische Parlament wird morgen vertagt werden.
„Die Session ist ebenso bemerkenswert durch ihre aufgegebenen Maßnahmen, wie es der Feldzug durch den Aufschub von kriegerischen Operationen ist."
Vor einigen Tagen veröffentlichte der „Charivari"[201J eine Karikatur, die das im Kampf befindliche spanische Volk darstellt und die beiden Säbel Espartero und O'Donnell -, die sich über ihm vereinigen. Der „Charivari" nahm irrtümlicherweise das als das Ende der Revolution an, was nur ihr Anfang ist. Der Kampf hat bereits zwischen O'Donnell und Espartero begonnen und nicht nur zwischen ihnen, sondern auch zwischen den militäri
Die Forderungen des spanischen Volkes 405
sehen Oberhäuptern und dem Volk. Es hat der Regierung wenig Nutzen gebracht, den Toreador Pucheta zum Direktor der Schlachthäuser ernannt, ein Komitee für die Belohnung der Barrikadenkämpfer gebildet und schließlich zwei Franzosen, Pujol und Delmas, als Geschichtsschreiber der Revolution ernannt zu haben. O'Donnell will, daß die Cortes nach dem Gesetz von 1846 gewählt werden, Espartero nach der Verfassung von 1837 und das Volk durch allgemeines Stimmrecht. Das Volk lehnt es ab, seine Waffen vor der Veröffentlichung eines Regierungsprogramms niederzulegen. Das Programm von Manzanares1 entspricht nicht mehr seinen Anschauungen. Das Volk verlangt die Annullierung des Konkordats von 1851[202], die Beschlagnahme der Güter der Konterrevolutionäre, eine öffentliche Darlegung der Finanzen, die Aufhebung aller Kontrakte für Eisenbahnen und anderer Schwindelkontrakte für Öffentliche Arbeiten und schließlich die Verurteilung Christinas durch ein Sondergericht. Zwei Fluchtversuche Christinas wurden durch den bewaffneten Widerstand des Volkes zunichte gemacht. „El Tribuno" gibt folgende Aufstellung von Wiedererstattungen, die Christina an die Staatskasse machen soll: Vierundzwanzig Millionen, die sie ungesetzlich als Regentin in den Jahren 1834 bis 1840 erhalten hat; zwölf Millionen, erhalten bei ihrer Rückkehr aus Frankreich nach dreijähriger Abwesenheit; und fünfunddreißig Millionen, empfangen aus der Schatzkammer Kubas. Diese Aufstellung ist sogar noch großzügig. Als Christina im Jahre 1840 Spanien verließ, schleppte sie große Summen und nahezu alle Juwelen der spanischen Krone fort. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die orientalische Frage - Die Revolution in Spanien - Die Madrider Presse]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4172 vom 1.September 1854] London, Dienstag, 15. August 1854. In der „Kölnischen Zeitung" wird berichtet, daß „nach vieljährigen Verhandlungen die amerikanische Regierung erklärt hat, sie werde den bestehenden Vertrag mit Dänemark nur unter der Bedingung erneuern, daß der Artikel V durch einen neuen ersetzt werde, der die Aufhebung des Sundzolles für amerikanische Schiffe ausspräche. Sie hat zugleich jede Entschädigung verweigert. Dänemark hat sich, durch amerikanische Maßregeln bedroht, an die übrigen Mächte gewandt, und die preußische Regierung soll sich erboten haben, 20 000 Mann zur Beschützung des Sundes zu schicken."
Da die Sundzölle niemanden drückender belasten als die Preußen selbst, so würde die ihm zugeschriebene Maßnahme ausgezeichnet in den Geist der preußischen Politik passen. In einem Satz - si non e vero, h ben trovato.1 Der Frankfurter Bundestag hat das neue Preß- und Vereinsgesetz verkündet, das seit langem Gegenstand seiner Beratungen gewesen ist. Das Gesetz über öffentliche Vereine verbietet einfach jede Art politischer Versammlungen oder Gesellschaften, und das Preßgesetz verlangt hohe Kautionssummen, macht die Herausgabe jeder Publikation von der Erlaubnis der Regierung abhängig und entzieht Preßvergehen der Rechtsprechung des Geschworenengerichts. Die seit langem schwebende Angelegenheit der Berliner Verschwörung der Revolutionäre[203] wurde von der preußischen Regierung aufgehoben, da der Hauptzeuge gegen die angeklagten Parteien, Herr Hentze, von dem Staatsanwalt als „verdächtig" erklärt wurde. Dieser Hentze ist dieselbe
1 Wenn es auch nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden.
Person, auf deren Aussage hin 1852 im Kölner Prozeß eine Reihe meiner Freunde zu Gefängnishaft verurteilt wurde[204]. Doch wir leben nicht mehr im Jahre 1852, und vielleicht wollte die preußische Regierung nicht das Risiko eingehen, ihre sämtlichen Polizeiagenten ein zweites Mal gebrandmarkt zu sehen und die souvenirs1 Kölns gerade in der Hauptstadt und zu einer Zeit aufzufrischen, da der terreur2 der Konterrevolution auf die Bevölkerung keinen Eindruck mehr macht. Am 1. August sandte die serbische Regierung einen Kurier nach Brestovac, wo Fürst Alexander eine Badekur macht, mit dem Vorschlag der Antwort auf die Forderungen der Hohen Pforte. Die Antwort wurde vom Fürsten unterzeichnet und sofort nach Konstantinopel gesandt. Darin wird dargelegt, daß eine Abrüstung wegen der vielen Gefahren, die Serbien umgeben, unmöglich sei, daß jedoch mit Rücksicht auf die Wünsche Österreichs und die Befehle der Pforte die militärischen Übungen ausgesetzt worden sind. Izzet Pascha, der Gouverneur von Belgrad, wurde auf eigenen Wunsch abberufen. Sein Nachfolger ist noch nicht bekannt. Es heißt, daß zehntausend Türken Bukarest besetzen; doch zur gleichen Zeit lesen wir im heutigen „Moniteur", daß Österreich nur die Antwort Omer Paschas auf die letzte Mitteilung Oberst Kaliks abwartet, um den Einmarsch österreichischer Truppen in die Fürstentümer zu befehlen. Als Graf Buol von Fürst Gortschakow die Mitteilung vom Abzug der Russen aus den Fürstentümern erhielt, antwortete er, daß „die österreichischen Truppen die Fürstentümer besetzen würden, daß jedoch in dieser Besetzung nichts Feindliches gegen Rußland liege". Durch die Vertagung des Parlaments im Jahre 1854 wird die orientalische Frage in den Stand zurückversetzt, den sie bei der Vertagung des Parlaments im Jahre 1853 gehabt hat. Wieder einmal soll sich die Wiener Konferenz ans Werk machen, um aktive Unternehmungen zu lähmen, die öffentliche Meinung zu verwirren und Sir James Graham bei der Wiedereröffnung des Parlaments eine neue Gelegenheit zu geben, zu sagen, ein großmütiger Geist entschließe sich nur schwer zum Argwohn. Es ist bemerkenswert, daß der Trick dieses Mal nicht in Österreich seinen Ursprung hat, sondern in England selbst, wie man aus der Wiener Korrespondenz der „Times" ersehen kann:
„Der englische und der franzosische Gesandte haben Graf Buol benachrichtigt, daß sie von ihren Regierungen die Anweisung erhalten haben, eine Zusammenkunft
1 Erinnerungen - 2 Schrecken
der Wiener Konferenz vorzuschlagen. Es heißt, die Antwort habe gelautet, dem kaiserlichen Hof wäre nichts angenehmer als dies."
Die Grundlage der neuen Beratungen der Konferenz ist eine Art überarbeitete Wiener Note[69\ dargeboten in der Antwort des Herrn Drouyn de Lhuys auf die letzte Mitteilung des Herrn von Nesselrode, deren Hauptpunkte nur wenig von dem abweichen, was ich erwartet habe, entsprechend der Analyse, die ich Ihnen in meinem letzten Artikel über die von der „Times" genannten Bedingungen gegeben habe. Sie enthält kein Wort über Entschädigungen an die Türken oder gar an die Alliierten. Das usurpierte russische Protektorat über die Moldau, die Walachei und Serbien soll in eine europäische Usurpation umgewandelt werden, dasselbe soll mit dem „Protektorat" über die Christen in der Türkei geschehen; die Früchte der türkischen Siege sollen sich auf eine freie Schiffahrt auf der Donau nach Österreich beschränken und auf eine Veränderung des Vertrags von 1841[13] nicht zugunsten der Pforte, sondern der Großmächte. Die Rede Lord Ciarendons am Donnerstag, über deren Hauptpunkte ich bereits berichtet habe, enthält eine höchst wichtige Enthüllung über die vom englischen Ministerium in der orientalischen Frage betriebene Politik. Er erklärte in klaren Worten:
„Ich mochte Sie daran erinnern, daß am 29.März - vor etwas mehr als vier Monaten - der Krieg erklärt wurde; damals wurde allgemein angenommen - und wenn ich allgemein angenommen sage, spreche ich nicht von der Regierung Ihrer Majestät, sondern von den fähigsten und erfahrensten Offizieren sowohl Englands als auch Frankreichs -, daß Rußland zu jener Zeit beabsichtigte, den Krieg mit weiteren Agressionen fortzusetzen. Niemand glaubte, daß es bei den großen Streitkräften, die es im Norden der Donau konzentriert, bei all den Anstrengungen, die es unternommen und bei all den gewaltigen Vorräten, die es gesammelt hatte, nicht die Absicht habe, südwärts zu marschieren im Gegenteil, man glaubte fest daran. Obwohl wir an der bekannten Tapferkeit der Türken nicht zweifelten, konnten wir uns doch nicht zu dem Glauben durchringen, daß sie in der Lage wären, den gutdisziplinierten und zahlenmäßig überlegenen russischen Truppen, die unter den erfahrensten Generalen kämpften, Widerstand zu leisten, während der einzige türkische General, den wir gerade dem Namen nach kannten, Omer Pascha war, der damals noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, die er seitdem so ausgezeichnet nutzte, sich selbst dauernden Ruhm und Anerkennung zu erringen. Die französische Regierung und wir waren so sehr davon überzeugt, daß man Sir J.Burgoyne und einen erfahrenen französischen Offizier des Geniewesens nach Konstantinopel sandte, um Mittel ausfindig zu machen, jene Hauptstadt und die Dardanellen zu verteidigen; ihrer Mission wurde soviel Bedeutung beigemessen, und man glaubte den ganzen Feldzugsplan so eng damit verbunden, daß Lord Raglan und Marschall Saint-Arnaud aufgehalten wurden, damit sie persönliche Fühlung
mit den für diesen Dienst bestimmten Offizieren nehmen könnten. Die vereinigten Armeen der Alliierten zogen dann nach Gallipoli, wo große Werke errichtet wurden. Sie zogen nach Konstantinopel, immer die Notwendigkeit im Auge, die Dardanellen verteidigen zu müssen." Der gesamte Plan der alliierten Mächte sah also vor, daß Rußland in die Provinzen vorrücken und sie besetzen solle, die alliierten Streitkräfte dagegen die Hauptstadt des Ottomanischen Reichs und die Dardanellen. Deshalb die Verzögerungen und all die mißverstandenen Bewegungen der englischfranzösischen Streitkräfte. Die Tapferkeit der türkischen Truppen, welche diese russisch-englisch-französischen Ränke durchkreuzte, war natürlich „unerwartet". Einige Monate vor dem Ausbruch der jetzigen spanischen Revolution teilte ich Ihren Lesern mit, daß russische Einflüsse am Werke seien, einen Aufruhr der Halbinsel zu entfachen. Dafür brauchte Rußland keine direkten Agenten. Da gab es die „Times", Fürsprecher und Freund König Bombas1, der „jungen Hoffnung" Österreichs2, Nikolaus' und Georgs IV., die plötzlich über die große Unmoral der Königin Isabella und des spanischen Hofes entrüstet war. Außerdem gab es die diplomatischen Vertreter der englischen Regierung, die der „russische" Minister Palmerston ohne Schwierigkeiten mit der Aussicht auf ein peninsulares Coburger Königreich12051 beschwindeln konnte. Man hat jetzt festgestellt, daß es der britische Gesandte war, der O'Donnell in seinem Palast verborgen hielt und den Bankier Collado, den gegenwärtigen Finanzminister, überredete, das von O'Donnell und Dulce benötigte Geld vorzuschießen, damit sie ihr Pronunziamiento beginnen können. Sollte jemand daran zweifeln, daß Rußland seine Hand wirklich in den Halbinsel-Angelegenheiten im Spiel hatte, dann will ich ihn an die Sache auf der Isla de Leon erinnern. Beträchtliche Truppeneinheiten wurden 1820 bei Cadiz zusammengezogen, die für die südamerikanischen Kolonien bestimmt waren. Ganz plötzlich erklärte sich die auf der Insel stationierte Armee für die Verfassung von 1812[1781, und die Truppen an anderen Orten folgten ihrem Beispiel. Nun wissen wir doch von Chateaubriand, dem französischen Gesandten auf dem Kongreß von Verona, daß Rußland Spanien anstiftete, den Feldzug nach Südamerika zu unternehmen, und Frankreich zwang, den Feldzug nach Spanien zu führen. Andrerseits wissen wir aus der Botschaft des Präsidenten der Vereinigten Staaten12061, daß Rußland ihm versprochen hat, die Expedition gegen Südamerika zu verhindern. Deshalb bedarf es keines großen Urteilsvermögens, um auf die Urheberschaft des Aufruhrs auf
1 Ferdinand II. - 2 Franz Joseph I.
28 Marx Engels, Werke, Band 10
der Isla de Leon zu schließen. Doch ich will Ihnen ein anderes Beispiel für das sorgsame Interesse Rußlands an den Geschehnissen auf der spanischen Halbinsel geben. In seiner „Historia politica de la Espana moderna", Barcelona 1849, gibt Senor de Marliani folgende Erklärung, um zu beweisen, daß Rußland keinen Grund hatte, die Verfassungsbewegung Spaniens zu bekämpfen: „Es wurden an der Newa spanische Soldaten beobachtet, die auf die Verfassung (von 1812) schwörten und aus kaiserlichen Händen ihre Fahnen erhielten. Bei seinem ungewöhnlichen Feldzug gegen Rußland bildete Napoleon aus den spanischen Gefangenen in Frankreich eine Sonderlegion, die nach der Niederlage der französischen Streitkräfte ins russische Lager desertierte. Alexander empfing sie mit betonter Leutseligkeit und quartierte sie in Peterhof ein, wo sie die Kaiserin häufig besuchte. Eines Tages befahl ihnen Alexander, sich auf der gefrorenen Newa zu versammeln, ließ sie den Eid auf die spanische Verfassung schwören und verlieh ihnen gleichzeitig Banner, die von der Kaiserin selbst gestickt worden waren. Dieses Korps, das von da an den Namen .Kaiser Alexander' trug, schiffte sich in Kronstadt ein und wurde in Cadiz gelandet. Es bewies seine Treue zu dem auf der Newa geleisteten Schwur, indem es sich im Jahre 1821 bei Ocana für die Wiedereinführung der Verfassung erhob." Während Rußland jetzt mittels England auf der Halbinsel intrigiert, denunziert es zugleich England an Frankreich. So lesen wir in der „Neuen Preußischen Zeitung", daß England die spanische Revolution hinter dem Rücken Frankreichs gemacht habe. Welches Interesse hat Rußland an der Anstiftung zum Aufruhr in Spanien? Eine Ablenkung im Westen zu bewirken, Zwietracht zwischen Frankreich und England hervorzurufen und schließlich Frankreich zu einer Intervention zu verleiten. Schon wird uns von englischen russenfreundlichen Zeitungen gemeldet, daß die Barrikaden in Madrid von französischen JuniAufständischen errichtet worden seien. Das gleiche wurde Karl X. auf dem Kongreß von Verona gesagt. „Das von der spanischen Armee geschaffene Beispiel fand Nachahmung in Portugal, breitete sich nach Neapel aus, griff nach Piemont über und zeigte überall das gefährliche Beispiel von Armeen, die sich in Reformmaßnahmen mischen und durch Waffengewalt ihrem Land Gesetze diktieren. Sofort, nachdem in Piemont die Erhebung stattgefunden hatte, entstanden in Frankreich, in Lyon und an anderen Stellen, Bewegungen mit dem gleichen Ziel. Da gab es Bertons Verschwörung in Rochelle, an der 25 Soldaten des 45. Regiments beteiligt waren. Das revolutionäre Spanien übertrug seine gräßlichen Elemente der Zwietracht wiederum auf Frankreich, und beide vereinten ihre demokratischen Fraktionen gegen das monarchische System." Sagen wir also, daß die spanische Revolution das Werk der Anglo-Russen ist? Keineswegs! Rußland unterstützt Aufstandsbewegungen nur dann, wenn
es revolutionäre Krisen auf der Tagesordnung weiß. Die wirkliche Volksbewegung jedoch, die dann beginnt, stellt sich den Intrigen Rußlands immer ebenso feindlich entgegen wie den despotischen Handlungen der Regierung. So war es 1848 in der Walachei - so ist es 1854 in Spanien. Das treulose Verhalten Englands wird in seiner ganzen Größe durch das Verhalten des Gesandten zu Madrid, Lord Howden, offenbar. Bevor er sich von England zur Rückkehr auf seinen Posten aufmachte, versammelte er die Inhaber spanischer Schuldverschreibungen und rief sie auf, von der Regierung die Bezahlung ihrer Forderungen zu verlangen und im Falle der Ablehnung zu erklären, daß sie spanischen Kaufleuten jeden Kredit verweigern würden. So bereitete er Schwierigkeiten für die neue Regierung vor. Sobald er in Madrid eintraf, zeichnete er für die auf den Barrikaden gefallenen Opfer. So ruft er Ovationen des spanischen Volkes hervor. Die „Times" beschuldigt Herrn Soule, den Madrider Aufruhr im Interesse der gegenwärtigen amerikanischen Regierung hervorgerufen zu haben. Auf keinen Fall hat Herr Soule die Artikel der „Times" gegen Isabella II. geschrieben, noch hat die zu einer Annexion Kubas neigende Partei aus der Revolution irgendwelchen Nutzen gezogen. Im Hinblick darauf ist die Ernennung Generals de la Concha zum Generalkapitän der Insel Kuba charakteristisch; er war einer der Sekundanten des Herzogs Alba in seinem Duell mit dem Sohne des Herrn Soule. Es wäre falsch, anzunehmen, daß die spanischen Liberalen irgendwie die Ansichten des englischen Liberalen Herrn Cobden in betreff der Aufgabe der Kolonien[207] teilen. Ein großes Ziel der Verfassung von 1812 war die Wiedererlangung der Herrschaft über die spanischen Kolonien durch die Einführung eines einheitlichen Vertretungssystems in das neue Gesetzwerk.[208] 1811 rüsteten die Spanier sogar eine große Kriegsmacht aus, die aus mehreren Regimentern aus Galicien bestand, der einzigen Provinz Spaniens, die damals nicht von den Franzosen besetzt war, um ihre Südamerika-Politik mit Zwang zu verbinden. Es war geradezu das Hauptprinzip jener Verfassung, keine der Kolonien aufzugeben, die zu Spanien gehören, und die heutigen Revolutionäre teilen dieselbe Anschauung. Keine Revolution hat je ein skandalöseres Schauspiel vom Betragen ihrer Staatsmänner gezeigt als diese im Interesse der „Sittlichkeit" unternommene. Die Koalition der alten Parteien, die die gegenwärtige Regierung Spaniens bilden (die Anhänger Esparteros und die von Narväez), hat sich mit nichts so sehr beschäftigt wie mit der Teilung der Beute an Ämtern, Posten, Gehältern, Titeln und Auszeichnungen. Dulce und Echagüe sind in Madrid eingetroffen, und Serrano hat gebeten, kommen zu dürfen, um sich einen Anteil an der
Beute zu sichern. Zwischen den Moderados und den Progressisten herrscht großer Streit, wobei die ersteren beschuldigt werden, alle Generale ernannt, und die letzteren, alle Staatsstellen besetzt zu haben. Um das Mißtrauen des „Pöbels" zu beschwichtigen, wurde der Toreador Pucheta vom Direktor der Schlachthäuser zum Polizeidirektör erhoben. Selbst der „Clamor Püblico", ein sehr gemäßigtes Blatt, macht seinen Gefühlen der Enttäuschung Luft:
„Das Verhalten der Generale und Führer wäre würdiger gewesen, wenn sie die Beförderung abgelehnt und damit ein edles Beispiel der Selbstlosigkeit gegeben und sich selbst an die von der Revolution verkündeten Grundsätze der Sittlichkeit gehalten hätten."
Das Schamlose der Beuteaufteilung wird auch in der Verteilung der Gesandtenposten offenbar. Ich spreche weder von der Ernennung Senor Olozagas für Paris, obgleich er, als er 1843 Gesandter Esparteros an demselben Hof war, mit Louis-Philippe, Christina und Narväez konspirierte; noch von der Ernennung Alejandro Möns für Wien, den Finanzminister Narväez' im Jahre 1844; noch von der Rios y Rosas' für Lissabon und Pastor Diaz' für Turin, beide Moderados mit sehr mittelmäßigen Fähigkeiten. Ich spreche von der Ernennung Gonzales Bravos für die Gesandtschaft in Konstantinopel. Er ist die Verkörperung der spanischen Korruption. 1840 gab er „El Guirigay" (das Kauderwelsch) heraus, eine Art Madrider „Punch"[209], in dem er die wütendsten Angriffe gegen Christina vorbrachte. Drei Jahre später verwandelte ihn seine Gier nach Ämtern in einen stürmischen Moderado. Narväez, der ein passendes Werkzeug brauchte, benutzte Bravo als Ministerpräsidenten Spaniens und warf ihn dann hinaus, sobald er ihn entbehren konnte. Bravo ernannte während dieser Zeit einen Carrasco zum Finanzminister, der den spanischen Staatsschatz direkt plünderte. Er ernannte seinen Vater, einen Mann, der aus seiner Stelle als Subalternbeamter im Finanzministerium wegen seiner Veruntreuungen hinausgeworfen worden war, zum Unterstaatssekretär des Schatzamtes, und seinen Schwager, einen Herumlungerer beimPrincipe-Theater, zu einem Kammerherrn der Königin. Als ihm seine Abtrünnigkeit und seine Korruption vorgehalten wurden, antwortete er: „Ist es nicht lächerlich, immer der Gleiche zu sein!" Dieser Mann ist der erwählte Gesandte der Revolution der Sittlichkeit. Im Gegensatz zu den offiziellen Schändlichkeiten, die die spanische Bewegung in Verruf bringen, ist es erfreulich, zu hören, daß das Volk diese Kerle wenigstens gezwungen hat, Christina den Cortes auszuliefern und der Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung ohne einen Senat und demzufolge weder nach dem Wahlgesetz von 1837 noch nach dem
von 1846 zuzustimmen. Die Regierung hat noch nicht gewagt, ein eigenes Wahlgesetz zu erlassen, während das Volk einmütig für allgemeines Stimmrecht ist. Bei den Wahlen zur Nationalgarde in Madrid wurden ausschließlich Exaltados gewählt. In den Provinzen herrscht völlige Anarchie, überall werden Juntas konstituiert und sind tätig, und jede Junta gibt Dekrete im Interesse ihrer Ortschaft heraus - eine hebt das Tabakmonopol auf, die andere die Salzsteuer. Schmuggler sind in enormer Zahl am Werke, und dies um so wirksamer, als sie die einzigen niemals desorganisierten Kräfte Spaniens sind. In Barcelona befinden sich die Soldaten im Widerstreit, einmal untereinander und einmal mit den Arbeitern. Dieser anarchische Zustand der Provinzen ist für die Sache der Revolution von großem Vorteil, da er verhindert, daß sie in der Hauptstadt kassiert wird. Augenblicklich besteht die MadriderPresse aus den folgenden Zeitungen: „Espana", „Novedades", „Nacion", „Epoca", „Clamor Püblico", „Diario espanol", „Tribuno", „Esperanza", „Iberia", „Catolico", „Miliciano", „Independencia", „Guardia Nacional", „Esparterista", „Union", „Europa", „Espectador", „Liberal", „Eco de la revoluciön". Die „Heraldo", „Boletin del pueblo" und der „Mensanjero" bestehen nicht mehr. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Revolution in Spanien - Bomarsund]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4174 vom 4. September 1854] London, Freitag, 18. August 1854. Die „Leitartikel" der „Assemblee nationale"I210], der „Times" und des „Journal des Debats" beweisen, daß weder die reine Russenpartei noch die Russo-Coburg-Partei, noch die Verfassungspartei von dem Verlauf der spanischen Revolution befriedigt ist. Hiernach hat es den Anschein, daß es für Spanien eine Chance gibt, ungeachtet der Widersprüchlichkeit der Erscheinungen. Am 8. d.M. sprach eine Abordnung des Unionsklubs1211]  bei Espartero vor, um eine Adresse zu überreichen, die das allgemeine Wahlrecht fordert. Zahlreiche Petitionen mit der gleichen Forderung folgten aufeinander. Infolgedessen kam es im Ministerrat zu einer langen, erregten Debatte. Aber sowohl die Anhänger des allgemeinen Wahlrechts als auch die Anhänger des Wahlgesetzes von 1846 sind geschlagen worden. Die Madrider „Gaceta" veröffentlicht ein Dekret für die Einberufung der Cortes am 8. November, dem ein Expose an die Königin vorangestellt ist. Den Wahlen wird mit kleinen Änderungen das Gesetz von 1837 zugrunde liegen. Die Cortes sollen eine einzige konstituierende Versammlung sein, da die legislativen Funktionen des Senats aufgehoben werden. Zwei Paragraphen des Gesetzes von 1846 sind geblieben, nämlich die, welche den Modus zur Bildung der Wahl-mesas (Ausschüsse, die die Wählerstimmen erhalten und die Wahlberichte veröffentlichen) und die Anzahl der Deputierten betreffen; wobei für jeweils 35000 Seelen ein Deputierter gewählt wird. Die Versammlung wird sich somit aus 420 bis 430 Mitgliedern zusammensetzen. Nach einem von Santa Cruz, dem Minister des Innern, herausgegebenen Rundschreiben müssen die Wähler bis zum 6.September registriert sein. Nach der Beglaubigung der
Listen durch die Provinzdeputierten werden die Wahllisten am 12. September geschlossen. Die Wahlen werden am 3.Oktober in den Hauptorten der Wahlbezirke stattfinden. Die Stimmenzählung wird am 16. Oktober in der Hauptstadt einer jeden Provinz vorgenommen werden. Im Falle widersprüchlicher Wahlen muß das dadurch bedingte neue Verfahren mit dem 30. Oktober beendet sein. Das Expose stellt ausdrücklich fest, daß
„die Cortes von 1854, wie jene von 1837, die Monarchie retten werden. Sie werden ein neues Band zwischen dem Thron und der Nation sein, welche nicht in Frage gestellt und diskutiert werden können."
Mit anderen Worten, die Regierung verbietet die Diskussion der dynastischen Frage. Die „Times" folgert hieraus das Gegenteil, in der Annahme, daß es jetzt um die Frage geht: entweder die jetzige Dynastie oder überhaupt keine Dynastie - eine Eventualität, die, wie man kaum erwähnen muß, für die Kalkulationen der „Times" unendlich verdrießlich und enttäuschend ist. Das Wahlgesetz von 1837 beschränkt das Wahlrecht, indem es hierfür einen eigenen Haushalt, die Zahlung der mayores cuotas (die durch den Staat erhobenen Schiffsgebühren) und ein Alter von 25 Jahren zur Bedingung stellt. Weiterhin sind zur Wahl berechtigt die Mitglieder der Spanischen Akademie der Geschichte und der edlen Künste, Doktoren, Lizentiaten an den Fakultäten der Theologie, der Rechte und der Medizin; Mitglieder der geistlichen Kapitel, Parochialkuraten und deren Hilfsgeistlichkeit; Richter und Advokaten mit zwei Jahren Praxis; Offiziere von bestimmtem Rang, gleich, ob im aktiven Dienst oder auf der Pensionsliste stehend; Ärzte, Chirurgen, Apotheker mit zwei Jahren Praxis; Architekten, Maler und Bildhauer, die zu Mitgliedern der Akademie erhoben wurden; Professoren und Lehrer aller Bildungsinstitute, die durch öffentliche Fonds unterhalten werden. Durch dasselbe Gesetz werden von der Wahl ausgeschlossen: säumige Zahler der staatlichen oder örtlichen Steuern, Bankrotteure, Personen, die sich wegen moralischer oder bürgerlicher Unfähigkeit unter gerichtlicher Aufsicht befinden, schließlich alle Personen, gegen die ein Prozeß schwebt. Zwar verkündet dieses Dekret nicht das allgemeine Wahlrecht und entzieht die dynastische Frage dem Forum der Cortes; dennoch ist es zweifelhaft, ob selbst diese Versammlung ausreichen wird. Wenn die spanischen Cortes 1812 davon absahen, sich mit der Krone zu befassen, so deshalb, weil die Krone nur nominell vertreten war - der König hielt sich seit Jahren nicht auf spanischem Boden auf. Wenn sie 1837 davon absahen, so deshalb, weil sie mit der absoluten Monarchie ins reine kommen mußten, bevor sie daran denken konnten, mit der konstitutionellen Monarchie zu einer Regelung zu
kommen. In bezug auf die allgemeine Lage hat die „Times" wahrlich guten Grund, das Fehlen von französischer Zentralisation in Spanien zu bedauern, so daß folglich sogar ein Sieg über die Revolution in der Hauptstadt nichts entscheidet hinsichtlich der Provinzen, solange dort jener Zustand der „Anarchie" besteht, ohne den keine Revolution erfolgreich sein kann. Natürlich gibt es in den spanischen Revolutionen Momente, die speziell für sie charakteristisch sind. Zum Beispiel die Verbindung von Räuberei und revolutionären Taten - eine Verbindung, welche sich in den Guerillakriegen gegen die französischen Invasionen entwickelte und die von den „Royalisten" 1823 und von den Karlisten seit 1835 fortgesetzt wurde. Die Nachricht, daß sich in Tortosa, in Niederkatalonien, größere Ausschreitungen abgespielt haben, wird daher keine Überraschung auslösen. Die Junta Populär1 jener Stadt sagt in ihrer Proklamation vom 31 .Juli:
„Eine Bande elender Meuchelmorder bemächtigte sich unter dem Vorwande der Abschaffung der indirekten Steuern der Stadt und trat alle Gesetze der Gesellschaft mit Füßen. Plünderung, Mord und Brandstiftung kennzeichneten ihren Weg."
Die Ordnung wurde jedoch von der Junta bald wiederhergestellt - die Bürger bewaffneten sich und kamen der schwachen Garnison der Stadt zu Hilfe. Eine Militärkommission, die mit der Verfolgung und Aburteilung der Urheber der Ereignisse vom 30.Juli beauftragt ist, hat ihre Tätigkeit aufgenommen. Natürlich hat dies den reaktionären Journalen Anlaß zu entrüsteten Deklamationen gegeben. Wie wenig diese in diesem Zusammenhang berechtigt sind, mag aus der Bemerkung des „Messager de Bayonne" entnommen werden, daß die Karlisten[177] ihr Banner in den Provinzen Katalonien, Aragonien und Valencia errichtet haben und in denselben angrenzenden Bergen, wo sie ihren Hauptschlupfwinkel in den alten Karlistenkriegen hatten. Es waren die Karlisten, von denen die ladrones facciosos herrührten, jene Verbindung von Räuberei und angeblicher Treue gegenüber einer unterdrückten Partei im Staate. Seit den Zeiten des Viriathus hat der spanische Guerilla immer etwas von einem Räuber an sich gehabt; aber es ist eine neue karlistische Erfindung, daß ein gewöhnlicher Räuber sich den Namen Guerilla zulegt. Die Männer der Tortosa-Affäre gehören sicherlich zu dieser Sorte. In Lerida, Saragossa und Barcelona ist die Lage ernst. Die beiden erstgenannten Städte haben es abgelehnt, mit Barcelona gemeinsame Sache zu machen, weil dort das Militär die Oberhand hat. Bis jetzt sieht es so aus, als
1 Volksjunta
ob dort sogar Concha nicht in der Lage ist, mit dem Sturm fertig zu werden; General Dulce wird an seine Stelle treten, da man erwartet, daß die jüngst erworbene Popularität dieses Generals größere Garantien für eine Beilegung der Schwierigkeiten bietet. Die geheimen Gesellschaften haben ihre Tätigkeit in Madrid wieder aufgenommen und beherrschen die demokratische Partei genauso wie 1823.12121 Die erste Forderung, die zu stellen sie dem Volk dringend angeraten haben, ist die, daß alle Minister seit 1843 ihre Konten offenlegen sollen. Das Ministerium kauft die Waffen zurück, welche sich das Volk am Tage der Barrikaden eroberte. Auf diese Weise ist es in den Besitz von 2500 Musketen gelangt, die bisher in den Händen von Aufständischen waren. Don Manuel Sagasti, der Ayacucho1 Jefe Politico2 von Madrid im Jahre 1843, ist in sein Amt wieder eingesetzt worden. In zwei Proklamationen - eine an die Bevölkerung und eine an die Nationalmiliz - tut er seine Absicht kund, jede Ausschreitung energisch zu unterdrücken. Die Entfernung der Kreaturen Sartorius* aus den verschiedenen Ämtern schreitet rapide voran. Dies ist wahrscheinlich das einzige, was in Spanien schnell durchgeführt wird. Alle Parteien zeigen sich in dieser Hinsicht gleich flink. Salamanca ist nicht, wie behauptet wurde, eingesperrt worden. Er wurde in Aranjuez verhaftet, jedoch bald freigelassen und hält sich jetzt in Malagaauf. Die Kontrolle des Ministeriums durch öffentlichen Druck beweist die Tatsache, daß die Minister des Krieges, des Innern und für öffentliche Arbeiten eine Reihe von Absetzungen und Vereinfachungen in ihren verschiedenen Abteilungen durchgeführt haben - ein Ereignis, das in der spanischen Geschichte bisher unbekannt war. Die Unionisten- oder Coburg-Braganza-Partei[213J ist jämmerlich schwach. Würde sie sonst einen derartigen Lärm über eine einzige von Portugal an die Nationalgarde in Madrid gesandte Adresse schlagen? Schauten wir sie uns näher an, dann würden wir sogar entdecken, daß die Adresse (die vom Lissaboner „Journal de Progr^s" ausgeht) nicht im geringsten dynastischer Natur ist, sondern einfach von der brüderlichen Art, wie sie aus den Bewegungen von 1848 wohlbekannt ist. Die Hauptursache der spanischen Revolution war der Zustand der Finanzen und besonders das Dekret von Sartorius, das die Zahlung von Steuern für sechs Monate im voraus anordnete. Als die Revolution ausbrach, waren alle Staatskassen leer, obwohl für keinen Zweig des öffentlichen Dienstes Zahlungen geleistet worden waren; auch waren mehrere Monate hindurch
1 Siehe vorl. Band, S. 382 - 2 Gouverneur
die für bestimmte Dienste vorgesehenen Summen nicht hierfür verwandt worden. So wurden z. B. die eingenommenen Chausseegelder niemals dazu benutzt, die Chausseen in gutem Zustand zu erhalten. Die für öffentliche Arbeiten vorgesehenen Gelder erlebten das gleiche Schicksal. Als die Kasse für öffentliche Arbeiten einer Revision unterzogen wurde, fand man an Stelle von Quittungen über durchgeführte Arbeiten Quittungen von Günstlingen des Hofes vor. Es ist bekannt, daß die Finanzverwaltung seit langem das profitabelste Geschäft in Madrid gewesen ist. Das spanische Budget für 1853 sah folgendermaßen aus:
Zivilliste und Apanagen 47 350 000 Realen Gesetzgebung 1 331 685 „ Zinsen der Staatsschuld 213 271 423 „ Konseilpräsident 1687 860 „ Ministerium des Auswärtigen.. 3 919 083 „ Justiz 39001 233 „ Krieg 278 646284 „ Marine... 85 165 000 „ Inneres..... 43 957 940 „ Polizei 72 000 000 „ Finanzen 142 279 000 „ Pensionen 143 400 586 „ Kultus 119 050 508 „ Sonderausgaben 18 387 788 „ Insgesamt 1209 448 390 Realen
Ungeachtet dieses Budgets ist Spanien das niedrigstbesteuerte Land Europas, und die ökonomische Frage ist nirgendwo so einfach wie dort. Die Reduzierung und Vereinfachung der bürokratischen Maschinerie in Spanien stößt um so weniger auf Schwierigkeiten, da die Gemeinden ihre Angelegenheiten traditionsgemäß selbst erledigen; so verhält es sich mit der Zollreform und der gewissenhaften Ausnutzung der noch nicht veräußerten bienes nacionales1. Die soziale Frage im modernen Sinne des Wortes hat keine Grundlage in einem Lande mit so unentwickelten Ressourcen und mit einer so spärlichen Bevölkerung wie in Spanien - nur 15 000 000. Sie werden in der englischen Presse über die ersten Heldentaten der britischen Armee bei Bomarsund lesen. Diese armseligen Blätter, die noch
1 National güter
nie über etwas wirklich Hervorragendes zu berichten hatten, sind voll Enthusiasmus über die Erfolge von 10000 Franzosen über 2000 Russen. Ich will mich nicht bei diesen Siegesjubeln aufhalten und lieber die Folgen betrachten, die diese Einnahme einer Insel haben wird, die ein faubourg1 von Stockholm und nicht von St. Petersburg ist. Der französische „Siecle" hatte angekündigt, und viele Blätter hatten es ihm nachgedruckt, daß Schweden sich unverzüglich den Aktionen der Westmächte gegen Rußland anschließen werde. Die Wahrscheinlichkeit dieser Ankündigung mag an der Tatsache ermessen werden, daß Schweden gerade zu der Zeit einen Vertrag über bewaffnete Neutralität abschloß, wo es mit Erfolg gegen die Sümpfe und Wälder Finnlands hätte operieren können. Wird es jetzt, wo die Zeit für solche Operationen vorüber ist, seine Politik ändern? England und Frankreich haben König Oskar die verlangten pekuniären und territorialen Garantien für seinen Beitritt verweigert. Wie wäre ferner die Order der schwedischen Regierung zur Demobilisierung eines ganzen Geschwaders zu erklären, wenn man annimmt, daß Schweden wirklich im Begriff steht, ins Feld zu rücken? Diese Demobilisierung erstreckt sich auf die Linienschiffe „Karl XII." und „Prinz Oskar", die Fregatte „Desiree" und die Korvetten „Gefle" und „Thor". Die Eroberung Bomarsunds kann jetzt, wo die Gewässer in diesen Breitengraden sich bald mit Eis bedecken werden, keine Bedeutung haben. In Hamburg herrscht die Ansicht, ihr müsse die Einnahme Rigas folgen. Diese Ansicht stützt sich auf ein Schreiben Kapitän Heathcotes, des Kommandanten der „Archer", an den englischen Konsul in Memel, Herrn Hertolet, nach dem alle fremden Schiffe den Rigaer Hafen bis zum 10. verlassen haben müssen. Preußen soll den Schmuggel von Kriegskonterbande an seinen russischen Grenzen sehr unterstützen und gleichzeitig einen Bruch mit den Westmächten vorbereiten. Die Kommandanten der Häfen von Königsberg, Danzig, Kolberg und Swinemünde haben Befehl erhalten, diese Festungen zu armieren. Die einflußreichsten Blätter Norwegens und Schwedens erklären:
„Es wäre mehr als Wahnsinn, sich mit den Alliierten zu vereinigen und ungeheure Opfer zu bringen, wenn es nicht von vornherein zweifellos und unzweideutig feststünde, daß Rußland zerschlagen und Polen wiederhergestellt wird. Geschähe dies nicht, so wäre selbst die Übergabe Finnlands an Schweden nur Blendwerk und eine Falle."
1 eine Vorstadt
Man muß sich hierbei vor Augen halten, daß alle diese nördlichen Regierungen mit ihren eigenen Völkern in Konflikt sind. In Kopenhagen steht es beispielsweise so, daß die Schleswig-Holsteiner beschlossen haben, sich aller Wahlen zum Reichsrat1 zu enthalten, während gleichzeitig die Wähler von Kopenhagen dem Abgeordneten des Landthing Dr. Madvig eine Adresse gesandt haben, in der sie ihn auffordern, kein Mandat für den Reichsrat1 anzunehmen, denn das Dekret des Königs sei eine Verletzung der dänischen Verfassung und der Rechte des dänischen Volkes. Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 „Reichsrat" in der „New-York Daily Tribüne" deutsch
Friedrich Engels
Die Einnahme Bomarsunds [Erster Artikel]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4174 vom 4. September 1854, Leitartikel] Endlich haben die alliierten Armeen zu handeln begonnen. Sie haben Bomarsund genommen. Französische Truppen und britische Seesoldaten landeten am 3. oder 4. vergangenen Monats auf der Insel Aland; am 10. wurde der Platz eingeschlossen; an den drei darauffolgenden Tagen wurden die Batterien errichtet und armiert; am 14. wurde das Feuer eröffnet; am 15. wurden die zwei runden Türme im Sturm genommen, der eine von den Franzosen, der andere von den Engländern; am 16. ergab sich das große kasemattierte Fort nach einem kurzen Kampf, in dem die Alliierten sehr wenig Verluste erlitten. Zweifellos erscheint dieses schnelle Vorgehen ziemlich kühn. Nach all unseren Informationen war zu erwarten, daß zur Einnahme des Platzes eine förmliche Belagerung erforderlich sein würde, mit wenigstens einer Parallele und ungefähr 14 Tagen offener Laufgräben. Selbst die „London Times", die lange Zeit in einer Weise redete, als ob die alliierte Infanterie die Steinmauern nur mit dem Bajonett anzugreifen brauche, um sie zusammenbrechen zu lassen, mußte zugeben, daß eine Belagerung schließlich unvermeidlich wäre und daß dieses langwierige Unternehmen wahrscheinlich zwei Wochen dauern werde. Wenn der Angriff dann etwa eine Woche nach der Einschließung und am sechsten Tag nach Eröffnung der Laufgräben zum Erfolg geführt hat, so muß man die natürliche Schlußfolgerung ziehen, daß die Belagerer auf weit weniger Schwierigkeiten gestoßen sind, als sie erwarteten. Was den Angriff erleichterte, können wir, bis die Berichte über die Einzelheiten der Belagerung eintreffen, natürlich nur vermuten, doch es gibt viele Umstände, die zu ihren Gunsten gewirkt haben können. Die Besatzung bestand zum großen Teil aus Finnen und teilweise sogar aus Aländern. Gewiß waren sie
nicht sehr vom russischen Patriotismus erfüllt, und wenn man den Berichten von Deserteuren Glauben schenken kann, waren sie sogar entschlossen, wenn irgend möglich, nicht zu kämpfen. Die Einwohner der Insel scheinen die Alliierten, als sie sahen, daß diese im Begriff standen, Bomarsund ernstlich anzugreifen, als Befreier vom russischen Joch empfangen zu haben und müssen ihnen jegliche Art von Informationen gegeben und Unterstützung erwiesen haben. Doch die Hauptursache muß in letzter Instanz ein sehr ernsthafter Fehler im Bau der Festung selbst gewesen sein. Da man keine Grundrisse von ihr bekommen kann und unsere ganzen Kenntnisse darüber aus Ansichten und Skizzen und aus Beschreibungen von Laien stammen (wenigstens, soweit es sich auf das Geniewesen bezieht), die naturgemäß sehr ungenau sind, und da sich die Ansichten und Beschreibungen hinsichtlich der Einzelheiten widersprechen, können wir uns keine Erklärung darüber anmaßen, worin der Fehler besteht. Nach den Skizzen zu urteilen, flankieren sich die beiden runden Türme durch ihr Feuer bis zu einem gewissen Grade; da jedoch in jeder runden Befestigung die Geschütze eine radiale Stellung haben müssen und ihr Feuer überaus exzentrisch sein muß, wird, je kleiner das Fort ist und folglich auch die Anzahl der Geschütze, die Streuung desto größer und die Wirksamkeit des Feuers um so geringer. Deshalb hütete sich Montalembert sehr davor, die Anlage solcher Türme vorzuschlagen, solange dieser Streuung nicht entgegengewirkt wurde durch die starke Unterstützung, die jeder Turm von seinen Nachbarn zur Rechten und zur Linken und von der Hauptfestung im Rücken erhält. Wenn fünf oder sechs solcher Türme ihr Feuer auf einen Punkt konzentrieren könnten, dann würde das Feuer so konzentrisch und wirksam sein, wie es vorher exzentrisch und schwach war. Außerdem wußte Montalembert sehr wohl, daß im letzten Stadium einer Belagerung, wenn es zum Sturm kommt, das Infanteriefeuer das Wirksamste ist, was man den Angreifern gegenüber anwenden kann. Deshalb verband er, neben den Vorkehrungen für die Infanterieverteidigung in seinen Türmen, die verschiedenen Türme gewöhnlich durch eine Art gedeckten Weg oder Laufgraben, nicht nur für eine sichere Kommunikation, sondern auch für Infanteriefeuer. Was ein solcher Laufgraben ausrichten kann, haben wir eben erst in ArabTabia erfahren, wo sich die gesamte Flankenverteidigung auf einen solchen Laufgraben beschränkte und wo die Russen immer wieder nur durch eine Handvoll Arnauten zurückgetrieben wurden. Schließlich versuchte Montalembert seine Türme gegen einen coup de main1 völlig zu sichern. Er umgab
1 Handstreich
sie mit einem Graben, mit einem gedeckten Weg und betrachtete sie manchmal nur als reduit oder letzte Reservestellung in einer großen, starken Redoute. Das war sein ausgereiftester und offensichtlich bester Plan. Er wurde mit mehr oder weniger Änderungen in fast allen neueren Befestigungen angewandt, wo die kleinen Türme Montalemberts verwandt wurden. Außer diesen Zugangs Schwierigkeiten hat er das ganze untere Stockwerk oder den Keller des Turmes in sehr sinnreicher Weise für die Infanterieverteidigung eingerichtet. Wie es scheint, haben die Russen in jeder Beziehung wichtige Punkte außer acht gelassen. Die Dauer des Breschfeuers, zwanzig bis dreißig Stunden, reicht offensichtlich nicht aus, um es selbst Zweiunddreißigpfündern zu ermöglichen, eine sturmreife Bresche zu schlagen, es sei denn, daß sich das Mauerwerk tatsächlich von dem unterscheidet, das gewöhnlich für Befestigungen verwendet wird. Es ist daher anzunehmen, daß die Türme mit Sturmleitern genommen wurden, die Soldaten durch die Schießscharten eindrangen und die Tore aufsprengten. Das setzt ein sehr unwirksames Flankenfeuer voraus, und da das große Fort in seinem Rücken keine Batterien zur Unterstützung der Türme zu haben schien, wurde jeder Turm nur durch das Feuer des anderen flankiert. Dieser Fehler ist um so größer, da aus den Skizzen hervorzugehen scheint, daß der Boden sehr uneben war und den Sturmkolonnen ermöglichte, durch Bodenfalten gedeckt, ziemlich nahe heranzukriechen. Nach den Skizzen und Ereignissen zu urteilen, müssen folglich die Vorkehrungen gegen einen coup de main völlig vernachlässigt worden sein. Rund um die Türme findet sich keine Spur von Redouten, und die Redouten, welche die Russen vor ihnen errichtet hatten, wurden fast ohne Widerstand aufgegeben. Es heißt, daß um jeden Turm ein Graben führte, doch er muß sehr flach gewesen sein, ohne jegliche Vorkehrungen für die Infanterieverteidigung. Nachdem erst einmal die Türme genommen waren, war das größere Fort, das sie beherrschen, zwangsläufig den Alliierten ausgeliefert. Deshalb fiel es anscheinend nur mit einem zum Schein geleisteten Widerstand. Wenn man diese Befestigungen danach beurteilt, was sie nach dieser kurzen Belagerung zu sein scheinen, sieht es beinahe so aus, als ob ihre Erbauer niemals mit einem ernsthaften Angriff von der Landseite her rechneten. Sie müssen die Türme nur als Abwehr für Angriffe von Seesoldaten gebaut haben, die auch im Höchstfalle zweitausend Mann nicht überschreiten und nicht genügend Kräfte zusammenziehen konnten, um einen Angriff zu wagen oder eine förmliche Belagerung mit Erfolg durchzuführen. Demzufolge war die der See zugewandte Front am stärksten, und die durch die Türme
gebildete Landfront war mehr Schein als Wirklichkeit. Indessen beweist das Ergebnis beinahe, daß eine Abteilung von 1000 Seesoldaten die Türme bereits vor vielen Monaten hätte stürmen und dadurch das Hauptfort bezwingen können. Was den Sturm selbst betrifft, so muß er von Franzosen und Engländern gleichermaßen sehr gut durchgeführt worden sein. Die Engländer sind als Stürmer bekannt; der Sturmangriff ist ihr Lieblingsmanöver, das ihnen selten mißlingt. Die Franzosen ziehen einen Angriff auf offenem Felde vor; bei Belagerungen bevorzugen sie, ihrer mathematischen Denkweise entsprechend, den methodischen Weg dieser von Vauban ausgearbeiteten, ausgesprochen französischen Wissenschaft. Doch der Eifer eines britischen Veteranen scheint sie mitgerissen zu haben. Bei Bomarsund gab es einen alten General1 Jones - der Mann, der Vauban verbesserte, als er es im Kampf gegen die tapferen und entschlossenen Besatzungen von Badajoz, Ciudad Rodrigo und San Sebastian fertigbrachte, mit unzureichenden Mitteln eine Belagerung um etwa ein Drittel der für sie festgelegten Zeit zu verkürzen. General1 Jones ist kein gewöhnlicher Genieoffizier. Er erblickt in einer Belagerung nicht, wie alle anderen seines Berufes, eine reine Schulfeier, auf der der Chef des Geniewesens seine Prüfung ablegt und vor den Augen der Armee beweisen muß, inwieweit er alle Regeln und Vorschriften der förmlichen Belagerungen und Vaubans „attaque des places fortes" in seinem Gedächtnis behalten und richtig eingeordnet hat. Er ist nicht der Meinung, daß die ganze Armee sich dort wegen der Genieoffiziere aufhält, um sie zu schützen, während diese ihre Kunststückchen vorführen. General1 Jones ist in erster Linie Soldat und erst dann Genieoffizier. Er kennt den britischen Soldaten gut und weiß, was er ihm zutrauen kann. Die schnelle, entschlossene und unauffällige Art, in der Bomarsund in der Hälfte der festgelegten Zeit genommen wurde, gleicht so sehr dem Brescheschlagen und dem Sturmangriff auf die spanischen Festungen, daß kein anderer als der alte Jones dahinterstecken kann. Die Franzosen könnten diese Art der Einnahme einer Festung niemals ersonnen haben. Das widerspricht ihrem Wesen, ist zu primitiv, ohne alle Manieren und Höflichkeit. Doch sie konnten nicht die Autorität des Mannes anfechten, der diese nicht den Regeln entsprechende Art der Einnahme von Festungen, die sich in jedem Fall als erfolgreich erwiesen hat, vor fünfzig Jahren gegen sie selbst erprobt hatte. Als es zum Sturmangriff kam, scheinen sie den Engländern an Entschlossenheit nicht nachgestanden zu haben. Es ist sonderbar, daß die Russen, die sich von Perekop und Otschakow
? In der „New-York Daily Tribüne": Oberst
bis Warschau und Bistritz12141 ihrer Fähigkeiten zum Stürmen so sehr gerühmt haben, bei jedem Sturm auf Feldwerke zurückgeschlagen wurden und vor Silistria nicht einmal in der Lage waren, ein Feldwerk durch eine förmliche Belagerung zu bezwingen, und abziehen mußten, ohne daß die Festung entsetzt worden war; andrerseits war die erste Handlung der Türken in diesem Kriege der Sturmangriff auf eine permanente russische Befestigung St.Nikolaja - und die ruhmreiche Festung Bomarsund wurde im Sturm genommen fast ohne die Ehre eines offenen Laufgrabens. Wir dürfen nicht vergessen, zu erwähnen, daß die Flotten anscheinend in keiner Weise wirksam zu diesem Sieg beigetragen haben. Sie scheinen übrigens die Nachbarschaft kasemattierter Batterien noch genauso zu meiden wie früher. Dieser Erfolg der Alliierten trägt jedoch solchen Charakter, daß er sie wahrscheinlich dazu veranlassen wird, im kommenden Herbst nichts mehr zu unternehmen. Auf alle Fälle ist die große Expedition nach Sewastopol noch nicht abgefahren, und eine weitere Verzögerung um einige Wochen ist bereits angekündigt worden. Dann wird es zu spät sein, und den Helden der alliierten Streitkräfte wird dadurch jene Ruhe und Erholung während des Winters gesichert, die nach den Beschwerden des Lagers von Varna so notwendig ist.
Geschrieben am 2I.August 1854. Aus dem Englischen.
29 Marx Engels, Werke, Band 10
Friedrich Engels
Die Einnahme Bomarsunds
[Zweiter Artikel]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4182 vom 13. September 1854, Leitartikel] Die Einzelheiten über die Einnahme Bomarsunds sind, soweit veröffentlicht, noch unbestimmt und unsachgemäß abgefaßt. Wir erfahren faktisch nicht, in welcher Entfernung von den Forts die Breschbatterien errichtet waren oder die Schiffe während des Angriffs von der See aus vor Anker Jagen. Wir erfahren keine weiteren Einzelheiten über die Anlage der Forts, wie man sie erwarten könnte, da die alliierten Truppen sie nun in Besitz haben. Tatsächlich werden fast alle wichtigen Punkte übergangen, um die Öffentlichkeit mit dem malerischen und weniger fachlichen Teil der Angelegenheit zu unterhalten. Selbst die offiziellen Berichte sind so nachlässig abgefaßt, daß niemand klar ergründen kann, ob das Fort I'zee (wie sie es nennen), als es von den Franzosen genommen wurde, gestürmt werden mußte oder nicht, da anscheinend außer dem kommandierenden Offizier kaum jemand Widerstand geleistet hat. Das wenige, was wir daraus entnehmen können, ist, wie wir bereits nach den Skizzen vermuteten, daß beide Türme auf so unebenem Boden errichtet wurden, daß Schluchten, Abhänge und Felsen natürliche Approchen bildeten, die sogar bis zu ihren eigenen Gräben führten. In diesen Schluchten konnten sich die Alliierten bequem einrichten, sicher vor den über ihre Köpfe pfeifenden Geschossen der Russen; da sie folglich die Möglichkeit hatten, ihre Batterien in der Nähe des Platzes zu errichten, begannen sie die Belagerung sofort mit Breschbatterien, die sonst in solchen Fällen erst zum Schluß eingesetzt werden. Daß die Russen ihre Forts auf solchem Boden errichteten, ohne ihn wenigstens sofort auf sechs- oder achthundert Yards vor ihnen einzuebnen, beweist, daß sie niemals mit einem ernsthaften Angriff vom Land
aus gerechnet haben. Die Breschbatterien müssen nicht weiter als fünf- oder sechshundert Yards von den Forts entfernt errichtet worden sein, da die Franzosen sie mit Sechzehnpfündern beschossen, die allgemein nicht für schwer genug erachtet werden, um selbst auf hundert oder hundertfünfzig Yards Entfernung Breschen in eine Mauer zu schlagen. Sechsunddreißigstündiges Feuer beschädigte den Turm jedoch so, daß zwölf weitere Stunden eine ganze Front niedergelegt hätten. Die Briten beschossen Fort Nottich mit sechzig Zweiunddreißigpfündern, von denen jeder 45 Zentner wog. Diese Geschütze werden, nach Sir Howard Douglas' „Naval Gunnery" mit einer vorschriftsmäßigen Ladung von sieben Pfund Pulver benutzt und müßten bei einer Entfernung von vier- bis fünfhundert Yards die Kugel zwei bis zweieinhalb Fuß tief in massive Eiche eindringen lassen. Die französischen Sechzehnpfünder müßten bei einer Ladung von fünf Pfund auf eine Entfernung von vier- bis fünfhundert Yards eine Durchschlagskraft von eineinhalb bis zwei Fuß in Eiche haben. Wenn die Briten, wie zu vermuten ist, die vorschriftsmäßige Ladung auf wenigstens acht Pfund erhöht haben, ist es nicht erstaunlich, daß sie mit der doppelten Anzahl Geschütze und dem doppelten Kaliber eine Seite des Forts in weniger als zwölf Stunden bloßlegten. Was den Angriff von der See aus betrifft, so war er nur ein Ablenkungsangriff. Nur Kapitän Pelham zog aus der Gelegenheit Nutzen, um ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen. Er benutzte sein langes achtzölliges Pivotgeschütz mit der ganzen Beständigkeit und Regelmäßigkeit eines Breschfeuers, um damit ständig so genau wie möglich den gleichen Punkt zu treffen. Diese langen achtzölligen Geschütze sind die besten in der britischen Marine. Ihr hohes Metallgewicht (fünfundneunzig Zentner) erlaubt eine Ladung von sechzehn Pfund Pulver auf ein Vollgeschoß von achtundsechzig Pfund. Die Wirkung dieses Geschosses ist selbst auf eine Entfernung von fünf- oder sechshundert Yards ungleich größer als die der bisher gewöhnlich verwandten achtzehn- oder vierundzwanzigpfündigen Kugeln für Breschbatterien; richtig angewandt, müssen sie eine gewaltige Wirkung erzielen. Folglich enthüllte Kapitän Pelhams ständiges Feuer sehr schnell das Geheimnis der russischen Granitfestungen. Ein paar Schüsse entfernten das, was bisher ein großer Block massiven Granits zu sein schien, sich jedoch nur als Verblendung erwies, deren Stärke in keinem Verhältnis zu ihrer Höhe und Breite stand. Einige weitere Schüsse und die nächsten Platten fielen zusammen, und dann folgte eine Lawine von Schutt, die die Mauern herunterprasselte und unmittelbar das Innere der Festung bloßlegte. Dadurch wurde klar, daß der „Granit" nur Schein war, daß, sobald die verhältnismäßig dünnen Platten,
die die Einfassung der Eskarpe bildeten, abgeschlagen worden waren, innen kein massives Mauerwerk vorhanden war, das den eindringenden Geschossen Widerstand bieten konnte. In Wirklichkeit bestanden die Mauern lediglich aus Verkleidungen, deren Hohlräume mit allerlei Steinstücken, Sand etc. ausgefüllt waren, die weder Zusammenhalt noch Stabilität besaßen. Wenn die Hauptfestung so gebaut war, dann war das Mauerwerk der Türme zweifellos ebenso schlecht; und damit ist das schnelle Breschelegen vollständig erklärt. Und diese Mauern von so geringer innerer Festigkeit haben durch ihr imponierendes Äußeres die gesamte englisch-französische Flotte beinahe vier Monate lang in Schach gehalten! Die Enttäuschung von Sir Charles Napier, als er sah, woraus sie in Wirklichkeit bestanden, kann jedoch nicht größer gewesen sein als die des Zaren, als er erfuhr, woraus der „Granit", für den er so teuer bezahlt hatte, bestand. Für den Angriff vom Land aus ist ein anderer Umstand bemerkenswert. Wir haben bereits gesehen, daß die Forts nicht nur in Reichweite der Geschütze, sondern auch in Gewehrschußnähe von unebenem Gelände umgeben waren. Das nutzten die Chasseurs von Vincennes aus, die sehr nahe herankrochen, hinter Baumstümpfen, Ufersteinen, Felsen etc. Deckung suchten und ein mörderisches Feuer auf die Schießscharten der Kasematten eröffneten. Da ihre Gewehre auf eine Entfernung von vier- bis fünfhundert Yards unfehlbar trafen und überdies die Schrägseiten der Schießscharten wie ein Tunnel bewirkten, daß jede auftreffende Kugel in den hinteren Spalt eindrang, kann man sich wohl vorstellen, wie sehr die Kanoniere in der Festung während des Ladens belästigt wurden. Die Russen scheinen die primitivsten Vorsichtsmaßnahmen gegen dieses Gewehrfeuer ganz und gar außer acht gelassen zu haben. Sie hatten ebenfalls Gewehre. Warum postierten sie diese nicht hinter der Brustwehr auf dem Dach des Turmes, von wo aus sie die Tirailleure des Feindes beherrschten? Doch die finnischen Schützen in Bomarsund schienen keine Neigung verspürt zu haben, für den Ruhm des Heiligen Rußlands zu kämpfen. Schließlich setzten die Franzosen außer den drei Breschgeschützen einige Mörser und drei Haubitzen ein. Die Mörser warfen ihre Geschosse in hohem Bogen auf das bombensichere Dach des Turmes, um es durch die vereinte Kraft des Falls und der Explosion zu zerstören. Das scheint jedoch keine große Wirkung gehabt zu haben. Die französischen Haubitzen hingegen blieben beim direkten horizontalen Beschuß und zielten auf die Schießscharten. Auf die kurze Entfernung von vier- bis fünfhundert Yards müßte eine lange vierundzwanzigpfündige Bronzehaubitze, die eine Granate von sechs Zoll Durchmesser feuert, ein Ziel wie die Schießscharte bei drei Schüssen wohl einmal
treffen; jede Granate, die trifft, würde die Geschützbedienung kampfunfähig machen und außerdem das Geschütz selbst zum Schweigen bringen. Deshalb muß dieses Feuer sehr wirksam gewesen sein. Folglich sehen wir, daß sich die Granitmauern von Bomarsund nur als Betrug der Russen erwiesen haben - Schutthaufen, durch dünne Steinverkleidungen in Form gebracht, nicht in der Lage, einem sicheren und ständigen Feuer eine Zeitlang standzuhalten. Wenn Nikolaus auch von ihren Erbauern betrogen wurde, so ist es ihm ungeachtet dessen durch diese Scheinfestungen gelungen, die Alliierten um einen ganzen Feldzug zu bringen. Im ganzen war die Verteidigung der Russen nicht besonders; das mag auf die ziemlich offen zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit der finnischen Truppen zurückzuführen sein. Der Angriff der Alliierten zeichnete sich durch eine bis dahin in ihrem Vorgehen unbekannte Entschlossenheit aus, die offensichtlich General Jones zuzuschreiben ist. Die bei der Fortbewegung und dem Aufstellen der Geschütze zu überwindenden Schwierigkeiten, obgleich von Sir Charles Napier übertrieben, waren sicherlich groß. Die Franzosen griffen mit Breschgeschützen von zu kleinem Kaliber und mit Mörsern an, die unter den gegebenen Verhältnissen wenig Nutzen bringen konnten; ihre Art des horizontalen Granat- und Gewehrfeuers auf die Schießscharten verdient jedoch hohes Lob. Die Engländer rückten wie gewöhnlich mit dem schwersten Kaliber an, das sie heranschaffen konnten, gaben offenes direktes und wirksames Feuer, überwanden Schwierigkeiten und hielten dem Feuer des Gegners mit der ihnen eigenen Beharrlichkeit stand, taten das ihrige ohne Aufhebens, aber auch ohne besondere Vorzüge. Nachdem Bomarsund genommen ist, erhebt sich jetzt die Frage, was damit geschehen soll. Nach den letzten Meldungen aus Hamburg haben die Admirale, die kommandierenden Generale der Expeditionstruppen und die wichtigsten Befehlshaber in einem Kriegsrat beschlossen, alle Befestigungen zu zerstören und die Insel aufzugeben, wenn Schweden nicht geneigt wäre, sie zu besetzen und für den Preis einer Kriegserklärung an Rußland zu erkaufen. Wenn sich diese Meldung bewahrheitet, würde sich die Expedition gegen die Alandsinseln, weit davon entfernt, ein militärisches Unternehmen zu sein, wie es der „Moniteur" darstellte, als ein rein diplomatisches Unternehmen erweisen, mit dem Ziel unternommen, die Schweden in eine gefährliche Allianz mit den gleichen Mächten zu verwickeln, deren Freundschaft, um die Worte von Herrn Bright zu gebrauchen,
„der Türkei in einem einzigen Jahr soviel Unglück brachte, wie es sich Rußland in seinen kühnsten Zukunftsträumen niemals vorgestellt hat".
Der schwedische Hof zögert, und die schwedische Presse warnt das Volk vor dem Danaos et dona ferentes1, doch die schwedischen Bauern haben bereits einen Antrag eingebracht, daß die Kammer den König ersuchen möge, Schritte zu unternehmen, damit Aland nie wieder russisch werde. Es besteht wenig Aussicht, daß man der Petition der Bauern Gehör schenken wird, und vermutlich werden wir bald erfahren, daß die Festung gesprengt worden ist.
Geschrieben am 28. August 1854. Aus dem Englischen.
1 Danaergeschenk
KARL MARX
Das revolutionäre Spanien12153

1
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4179 vom 9. September 1854] Die Revolution in Spanien hat nun schon so sehr einen Dauercharakter angenommen, daß, so meldet unser Londoner Korrespondent, die besitzenden und konservativen Klassen auszuwandern beginnen und sich nach Frankreich in Sicherheit bringen. Das überrascht uns keineswegs. Spanien hat sich nie die moderne französische Manier angeeignet, die 1848 so allgemein beliebt war, innerhalb von drei Tagen eine Revolution zu beginnen und zu beenden. Spaniens Bemühungen in dieser Richtung sind verwickelter und andauernder. Drei Jahre scheinen der kürzeste Zeitraum zu sein, auf den es sich beschränkt, und sein revolutionärer Zyklus erstreckt sich bisweilen auf neun. So dauerte seine erste Revolution in diesem Jahrhundert von 1808 bis 1814, die zweite von 1820 bis 1823 und die dritte von 1834 bis 1843. Wie lange die jetzige andauern und wie sie enden wird, das vermag der gewiegteste Politiker unmöglich vorauszusagen. Wohl aber sagt man nicht zuviel, wenn man behauptet, daß kein anderer Teil Europas, nicht einmal die Türkei und der russische Krieg, dem aufmerksamen Beobachter so tiefes Interesse einzuflößen vermag wie das Spanien von heute. Aufrührerische Erhebungen sind in Spanien so alt wie die Macht der höfischen Günstlinge, gegen die sie sich meistens richten. So revoltierte um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die Aristokratie gegen König Juan II. und seinen Günstling Don Alvaro de Luna. Noch ernster war dann der Aufstand im fünfzehnten Jahrhundert gegen König Heinrich IV. und das Haupt seiner Kamarilla, Don Juan de Pacheco, Marquis de Villena. Im siebzehnten Jahrhundert riß das Volk in Lissabon Vasconcellos in Stücke, den Sartorius des spanischen Vizekönigs in Portugal, und so erging es auch Santa Goloma in Saragossa, dem Günstling Philipps IV. Zu Ende desselben Jahrhunderts erhob sich unter der Regierung Carlos* Ii. das Volk von Madrid gegen die
Kamarilla der Königin, bestehend aus der Gräfin von Berlepsch und den Grafen Oropesa und Melgar, die für alle nach Madrid gebrachten Lebensmittel einen drückenden Zoll erhoben, den sie unter sich teilten. Das Volk zog vor den königlichen Palast, zwang den König, auf dem Balkon zu erscheinen und selbst die Kamarilla der Königin zu brandmarken. Dann zog es zu den Palästen der Grafen Oropesa und Melgar, plünderte sie, zerstörte sie durch Feuer und versuchte, die Besitzer zu ergreifen, die aber das Glück hatten, zu entwischen, wenn auch auf Kosten eines lebenslänglichen Exils. Das Ereignis, das die revolutionären Erhebungen im fünfzehnten Jahrhundert verursachte, war der verräterische Vertrag, den der Marquis von Villena, der Günstling Heinrichs IV., mit dem König von Frankreich geschlossen hatte und dem zufolge Katalonien an Ludwig XI. ausgeliefert werden sollte. Drei Jahrhunderte später verursachte der Vertrag von Fontainebleau vom 27. Oktober 1807 - in dem der Günstling Carlos' IV. und der Liebling seiner Königin, Don Manuel Godoy, der Friedensfürst, mit Bonaparte die Teilung Portugals und den Einmarsch der französischen Truppen in Spanien vereinbarte - einen Volksaufstand in Madrid gegen Godoy, die Abdankung Carlos' IV., die Thronbesteigung seines Sohnes Ferdinands VII., den Einmarsch der französischen Truppen in Spanien und den sich anschließenden Unabhängigkeitskrieg. Der spanische Unabhängigkeitskrieg begann also mit einer Volkserhebung gegen die Kamarilla, damals personifiziert durch Don Manuel Godoy, ebenso wie der Bürgerkrieg des fünfzehnten Jahrhunderts mit einem Aufstand gegen die Kamarilla begann, zu jener Zeit personifiziert durch den Marquis von Villena, und $ö begann auch die Revolution von 1854 mit einer Empörung gegen die Kamarilla, die in der Person des Grafen San Luis verkörpert ist. Trotz dieser stets wiederkehrenden Aufstände hat es in Spanien bis in das jetzige Jahrhundert keine ernsthafte Revolution gegeben, abgesehen von dem Krieg der Heiligen Junta[216] zur Zeit Carlos' I. oder Karls V., wie ihn die Deutschen nennen. Den unmittelbaren Vorwand lieferte, wie gewöhnlich, eine Clique, die unter dem Schutz des Vizekönigs Kardinal Adrian, eines Flamen, die Kastilianer durch ihre habgierige Frechheit zur Verzweiflung brachte, indem sie öffentliche Ämter an die Meistbietenden verkaufte und offenen Schacher mit Gerichtsprozessen trieb. Die Opposition gegen die flämische Kamarilla berührte jedoch nur die Oberfläche der Bewegung. Was ihr zugrunde lag, das war die Verteidigung der Freiheiten des mittelalterlichen Spaniens gegen die Übergriffe des modernen Absolutismus. Die materielle Basis der spanischen Monarchie war durch die Vereinigung von Aragonien, Kastilien und Granada unter Ferdinand dem Katholischen
iJ^sJl^^^iA^ ^jj^wfr e. Cou^' tfff
n) / ^fjxuv*. frGi&L. iL^.
Titelblatt eines der Hefte von Karl Marx mit Auszügen zur Geschichte Spaniens'2171

und Isabella I. gelegt worden. Diese noch feudale Monarchie versuchte Karl I. in eine absolute umzuwandeln. Er attackierte gleichzeitig die beiden Stützpfeiler der spanischen Freiheit, die Cortes und die Ayuntamientos12181 die ersteren sind eine Modifikation der alten gotischen Concilia, die letzteren, die eine Mischung des erblichen und wählbaren Charakters der römischen Munizipalitäten darstellen, bestanden fast ohne Unterbrechung seit den Zeiten der Römer. Im Hinblick auf die städtische Selbstverwaltung weisen die Städte Italiens, der Provence, Nordgalliens, Großbritanniens und eines Teils von Deutschland eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem damaligen Zustand der spanischen Städte auf. Mit den spanischen Cortes aber kann man weder die französischen Generalstände noch die britischen Parlamente des Mittelalters vergleichen. Die Bildung des spanischen Königreichs vollzog sich unter Bedingungen, die für die Begrenzung der königlichen Machtsphäre besonders günstig waren. Einerseits wurden kleine Teile der Halbinsel zu einer Zeit wiedererobert und in selbständige Königreiche verwandelt, als noch die langwierigen Kämpfe mit den Arabern tobten. In diesen Kämpfen entstanden neue Volkssitten und Gesetze. Die einander folgenden Eroberungen, die hauptsächlich von den Adligen gemacht wurden, erhöhten deren Macht außerordentlich, während sie die königliche Machtsphäre einschränkten. Andrerseits erlangten die Städte und Gemeinden im Innern des Landes immer größere Bedeutung, denn die Menschen sahen sich gezwungen, in befestigten Plätzen beisammenzuwohnen, um sich gegen die fortgesetzten Einfälle der Mauren zu schützen. Die günstige Form einer Halbinsel, die das Land besitzt, wie auch der stete Verkehr mit der Provence und Italien schufen wiederum hervorragende Handels- und Hafenstädte an der Küste. Schon im vierzehnten Jahrhundert bildeten die Städte den mächtigsten Bestandteil der Cortes, die sich aus ihren Repräsentanten und aus denen der Geistlichkeit und des Adels zusammensetzten. Auch darf man nicht außer acht lassen, daß die langsame Überwindung der maurischen Herrschaft, die einen achthundert Jahre dauernden hartnäckigen Kampf erforderte, der Halbinsel nach ihrer vollen Emanzipation einen Charakter verlieh, der von dem des übrigen Europa der damaligen Zeit gänzlich verschieden war; im Norden Spaniens herrschten zur Zeit der europäischen Renaissance die Sitten und Gebräuche der Goten und Vandalen und im Süden die der Araber. Als Karl I. aus Deutschland zurückgekehrt war, wo man ihm die Kaiserwürde verliehen hatte, versammelten sich die Cortes in Valladolid, um seinen Eid auf die alten Gesetze entgegenzunehmen und ihn mit der Krone zu belehnen. Karl weigerte sich zu erscheinen und sandte Bevollmächtigte, die,
wie er forderte, von den Cortes den Untertaneneid entgegenzunehmen hätten. Die Cortes weigerten sich, die Bevollmächtigten vor sich erscheinen zu lassen, und bedeuteten dem Monarchen, daß er, wenn er nicht erschiene und auf die Landesgesetze schwöre, niemals als König von Spanien anerkannt werden würde. Karl gab daraufhin nach; er erschien vor den Cortes und schwor den Eid - wie die Geschichtsschreiber berichten, sehr unwillig. Bei dieser Gelegenheit sagten ihm die Cortes: „Senor, Ihr müßt wissen, daß der König bloß der bezahlte Diener der Nation ist." Das war der Beginn der Feindseligkeiten zwischen Karl I. und den Städten. Infolge seiner Intrigen brachen in Kastilien zahlreiche Aufstände aus, die Heilige Junta von Avila wurde gebildet, und die vereinigten Städte beriefen die Versammlung der Cortes nach Tordesillas ein, von wo aus am 20.Oktober 1520 ein „Protest gegen die Mißbräuche" an den König gerichtet wurde, der diesen Protest damit beantwortete, daß er alle in Tordesillas versammelten Abgesandten ihrer persönlichen Rechte beraubte. Damit war der Bürgerkrieg unvermeidlich geworden. Die Bürger riefen zu den Waffen, und ihre Soldaten bemächtigten sich unter Padillas Führung der Festung Torrelobaton; sie wurden aber schließlich durch überlegenere Kräfte in der Schlacht von Villalar am 23. April 1521 entscheidend geschlagen. Die Häupter der vornehmsten „Verschwörer" fielen auf dem Schafott, und die alten Freiheiten Spaniens verschwanden. Mehrere Umstände vereinigten sich zugunsten der wachsenden Macht des Absolutismus. Der Mangel an Einigkeit unter den verschiedenen Provinzen zersplitterte ihre Kräfte; vor allem aber nützte Karl den tiefen Klassengegensatz zwischen Adel und Stadtbürgern dazu aus, sie beide niederzudrücken. Wir erwähnten schon, daß seit dem vierzehnten Jahrhundert der Einfluß der Städte in den Cortes vorherrschte. Seit Ferdinand dem Katholischen war die Heilige Bruderschaft (Santa Hermandad)[219] ein mächtiges Werkzeug in den Händen der Städte gegen die kastilischen Adligen geworden, die die Städte der Übergriffe auf ihre alten Privilegien und Rechtstitel anklagten. Der Adel brannte deshalb darauf, Carlos I. bei seinem Vorhaben beizustehen, die Heilige Junta zu unterdrücken. Nachdem er den bewaffneten Widerstand der Städte gebrochen hatte, ging Carlos daran, ihre städtischen Privilegien einzuschränken; die Städte verloren schnell an Bevölkerung, Reichtum und Bedeutung und gingen daher auch bald ihres Einflusses in den Cortes verlustig. Jetzt wandte sich Garlos gegen die Adligen, die ihm geholfen hatten, die Freiheiten der Städte zu zerstören, die aber selbst noch großen politischen Einfluß behielten. Meuterei in seiner Armee wegen rückständiger Löhnung zwang ihn 1539, die Cortes einzuberufen, um Gelder bewilligt zu
erhalten. Die Cortes, darüber empört, daß frühere Bewilligungen zu Zwecken verwendet worden waren, die mit spanischen Interessen nichts zu tun hatten, verweigerten alle Hilfsmittel. Carlos entließ sie in heller Wut, und da die Adligen auf dem Privileg der Steuerfreiheit bestanden hatten, erklärte er, alle, die ein solches Vorrecht für sich beanspruchten, hätten das Recht verwirkt, in den Cortes zu erscheinen, und schloß sie infolgedessen von dieser Versammlung aus. Das bedeutete für die Cortes den Todesstoß, und ihre Zusammenkünfte waren von nun an auf die Ausübung einer bloßen Hofzeremonie beschränkt. Das dritte Element der alten Institution der Cortes, die Geistlichkeit, hatte sich seit Ferdinand dem Katholischen um das Banner der Inquisition geschart und längst aufgehört, seine Interessen mit denen des feudalen Spaniens zu identifizieren. Durch die Inquisition war die Kirche vielmehr in das furchtbarste Werkzeug des Absolutismus umgewandelt worden. Wenn nach der Regierung Carlos' I. Spaniens politischer und gesellschaftlicher Niedergang alle Symptome jener unrühmlichen und langwierigen Fäulnis aufwies, die uns in den schlimmsten Zeiten des Türkischen Reichs so sehr abstößt, so waren unter dem Kaiser die alten Freiheiten wenigstens glanzvoll zu Grabe getragen worden. Dies war die Zeit, da Vasco Nunez de Baiboa an der Küste von Darien, Cortez in Mexiko und Pizarro in Peru das Banner Kastiliens aufpflanzten, da spanischer Einfluß in ganz Europa vorherrschend war und ihre südliche Phantasie den Iberern Visionen von Eldorados, ritterlichen Abenteuern und Weltmonarchie vorgaukelte. Damals verschwand die spanische Freiheit unter Waffengeklirr, unter einem wahren Goldregen und beim schrecklichen Schein der Autodafes. Wie aber können wir uns das sonderbare Phänomen erklären, daß nach einer fast dreihundertjährigen Herrschaft der habsburgischen Dynastie, der noch die Dynastie der Bourbonen folgte - von denen jede einzelne genügt hätte, ein Volk zugrunde zu richten -, dennoch die städtischen Freiheiten Spaniens mehr oder weniger noch vorhanden waren? Daß gerade in dem Land, wo vor allen anderen Feudalstaaten die absolute Monarchie in ihrer brutalsten Form zuerst entstand, sich die Zentralisation niemals einwurzeln konnte? Die Antwort ist nicht schwer. Überall bildeten sich im sechzehnten Jahrhundert die großen Monarchien auf den Trümmern der kämpfenden feudalen Klassen: der Aristokratie und der Städte. In den anderen großen Staaten Europas tritt jedoch die absolute Monarchie als ein zivilisierendes Zentrum, als der Urheber gesellschaftlicher Einheit auf. Dort war sie das Laboratorium, in dem die verschiedenen Elemente der Gesellschaft so gemischt und bearbeitet wurden, daß es den Städten möglich wurde, ihre
lokale Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Mittelalters gegen die allgemeine Herrschaft der Bourgeoisie und gegen die gemeinsame Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft einzutauschen. Im Gegensatz dazu versank jedoch in Spanien die Aristokratie in die tiefste Erniedrigung, ohne ihre schlimmsten Privilegien zu verlieren, während die Städte ihre mittelalterliche Macht einbüßten, ohne moderne Bedeutung zu gewinnen. Seit der Errichtung der absoluten Monarchie vegetierten die Städte in einem Zustand andauernden Verfalls. Es ist nicht unsere Sache, hier die politischen oder ökonomischen Verhältnisse zu erörtern, die den Handel, die Industrie, die Schiffahrt und die Landwirtschaft Spaniens zugrunde richteten. Für den jetzigen Zweck genügt es, auf diese Tatsache einfach hinzuweisen. In dem Maße, wie das kommerzielle und industrielle Leben der Städte abnahm, wurde der Austausch im Inland geringer, der Verkehr zwischen den Bewohnern der einzelnen Provinzen spärlicher, wurden die Verkehrsmittel vernachlässigt, und die großen Straßen verödeten allmählich. Das lokale Leben Spaniens, die Unabhängigkeit seiner Provinzen und Gemeinden, die mannigfaltigen Unterschiede der Gesellschaft - die ursprünglich auf der natürlichen Gestaltung des Landes beruhte und die sich historisch je nach der Art entwickelt hatte, wie sich die einzelnen Provinzen von der maurischen Herrschaft emanzipiert und kleine unabhängige Gemeinwesen gebildet hatten - wurden nun schließlich durch die ökonomische Umwälzung bestärkt und bekräftigt, die die Quellen nationaler Tätigkeit austrocknete. Die absolute Monarchie, die in Spanien ein Material vorfand, das seiner ganzen Natur nach der Zentralisation widerstrebte, tat denn auch alles, was in ihrer Macht stand, das Wachstum gemeinsamer Interessen - wie sie die nationale Arbeitsteilung und die Vielfältigkeit des Inlandsverkehrs mit sich bringen - zu verhindern, und zerstörte so die Basis, auf der allein ein einheitliches Verwaltungssystem und eine allgemeine Gesetzgebung geschaffen werden kann. Daher ist die absolute Monarchie in Spanien eher auf eine Stufe mit asiatischen Herrschaftsformen zu stellen, als mit anderen absoluten Monarchien in Europa zu vergleichen, mit denen sie nur geringe Ähnlichkeit aufweist. Spanien blieb, wie die Türkei, ein Konglomerat schlechtverwalteter Provinzen mit einem nominellen Herrscher an der Spitze. In den verschiedenen Provinzen nahm der Despotismus verschiedene Formen an, entsprechend der verschiedenen Art, in der königliche Statthalter und Gouverneure die allgemeinen Gesetze willkürlich auslegten. So despotisch aber die Regierung war, so verhinderte sie doch die einzelnen Provinzen nicht, mit verschiedenartigen Gesetzen und Gebräuchen, verschiedenartigen Münzen, militärischen Fahnen von verschiedenen Farben und verschiedenartigen
Steuersystemen zu operieren. Der orientalische Despotismus wendet sich gegen die munizipale Selbstregierung nur dann, wenn sie seinen unmittelbaren Interessen zuwiderläuft, ist aber nur zu geneigt, die Fortexistenz dieser Einrichtungen zu gestatten, solange diese ihm die Pflicht abnehmen, selbst etwas zu tun und ihm die Mühen einer geordneten Verwaltung ersparen. So konnte es geschehen, daß Napoleon, der gleich allen seinen Zeitgenossen in Spanien nichts als einen leblosen Leichnam sah, höchst peinlich überrascht wurde, als er die Entdeckung machen mußte, daß wohl der spanische Staat tot sei, aber die spanische Gesellschaft voll gesunden Lebens stecke und in allen ihren Teilen von Widerstandskraft strotze. Gemäß dem Vertrag von Fontainebleau hatte Napoleon seine Truppen nach Madrid dirigiert; nachdem er die königliche Familie zu einer Unterredung nach Bayonne gelockt, hatte er Carlos IV. gezwungen, seine Abdankung zurückzunehmen, damit ihm dieser dann sein Reich abtreten könne; von Ferdinand VII. hatte er eine ähnliche Erklärung erpreßt. Als nun Carlos IV., seine Gemahlin und der Friedensfürst nach Compiegne gebracht worden und Ferdinand VII. mit seinen Brüdern im Schloß von Valen^ay gefangengesetzt war, übertrug Bonaparte die Krone von Spanien seinem Bruder Joseph, versammelte in Bayonne eine spanische Junta und versah sie mit einer seiner bereitgehaltenen Konstitutionen[220j. Da er in der spanischen Monarchie sonst nichts Lebendiges sah als die elende Dynastie, die er unter sicherem Verschluß hielt, so fühlte er sich bei dieser Konfiskation Spaniens seiner Sache ganz sicher. Nur wenige Tage jedoch nach seinem coup de main1 bekam er die Nachricht von einem Aufstand in Madrid. Murat unterdrückte zwar diesen Aufruhr, indem er etwa 1000 Menschen tötete. Als sich aber die Nachricht von dieser Metzelei verbreitete, brach in Asturien der Aufstand los, der bald die ganze Monarchie ergriff. Bemerkenswert ist, daß diese erste spontane Erhebung im Volke entstand, während die „besseren" Klassen sich ruhig dem fremden Joch gebeugt hatten. In dieser Weise wurde also Spanien für seine jüngste revolutionäre Laufbahn vorbereitet und in die Kämpfe hineingetrieben, die für seine Entwicklung in diesem Jahrhundert bezeichnend sind. Kurz und bündig haben wir hier die Tatsachen und Einflüsse verzeichnet, die noch heute seine Geschicke bestimmen und die Impulse seines Volkes leiten. Wir haben jedoch nicht nur auf sie hingewiesen, weil sie zum Verständnis der heutigen Krisis notwendig sind, sondern auch zum Verständnis alles dessen, was Spanien seit der napoleonischen Usurpation leistete und litt. Dieser Zeitraum von nun
1 Handstreich
30 Marx Engels, Werke, Band 10
bald fünfzig Jahren - reich an tragischen Episoden und heldenmütigen Anstrengungen - ist eines der ergreifendsten und lehrreichsten Kapitel der modernen Weltgeschichte.12211
II
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4192 vom 25.September 1854] Wir haben unseren Lesern eine Darstellung der früheren revolutionären Geschichte Spaniens gegeben, damit sie die Entwicklung, die diese Nation jetzt vor den Augen der Welt durchmacht, verstehen und würdigen können. Noch interessanter und vielleicht ebenso wertvoll als Quelle zur augenblicklichen Information ist die große nationale Bewegung, die die Vertreibung der Bonapartes begleitete und durch die die spanische Krone jener Familie zurückerstattet wurde, in deren Besitz sie noch heute ist. Will man aber diese Bewegung voll würdigen, die so reich an heldenmütigen Episoden ist und in der ein Volk, das man schon sterbend glaubte, die größte Lebenskraft entwickelte, so muß man bis zum Beginn des napoleonischen Angriffs auf die spanische Nation zurückgehen. Der wirkliche Grund der Vorgänge wurde vielleicht zum ersten Male im Vertrag von Tilsit dargelegt, der am 7. Juli 1807 abgeschlossen wurde und der durch eine Geheimkonvention ergänzt worden sein soll, die Fürst Kurakin und Talleyrand unterzeichneten. Der Vertrag wurde am 25. August 1812 in der Madrider „Gazeta" veröffentlicht und enthielt unter anderem folgende Abmachungen:
»Artikel /. Rußland soll von der europäischen Türkei Besitz ergreifen und seihen Besitz in Asien so weit ausdehnen, als es für gut befindet. Artikel II. Die Dynastie der Bourbonen in Spanien und das Haus Braganza in Portugal hören auf zu regieren. Die Kronen dieser Länder werden auf Fürsten des Hauses Bonaparte übergehen."
Angenommen also, dieser Vertrag ist authentisch - und seine Authentizität wird kaum bestritten, nicht einmal von König Joseph Bonaparte in seinen jüngst veröffentlichten Memoiren -, so bildet er den wahren Grund der französischen Invasion in Spanien im Jahre 1808, und die spanischen Erhebungen jener Zeit scheinen durch geheime Fäden an die Schicksale der Türkei geknüpft. Als nach dem Massaker in Madrid und den Verhandlungen in Bayonne gleichzeitig in Asturien, Galicien, Andalusien und Valencia Aufstände aus
brachen und eine französische Armee Madrid okkupierte, waren die vier nördlichen Festungen Pamplona, San Sebastian, Figueras und Barcelona von Bonaparte unter fadenscheinigen Vorwänden in Besitz genommen worden; ein Teil der spanischen Armee war nach der Insel Fünen verschickt worden, um gegen Schweden vorzugehen; alle eingesetzten Behörden endlich, militärische, kirchliche, gerichtliche und administrative, im Verein mit der Aristokratie ermahnten das Volk, sich dem fremden Eindringling zu unterwerfen. Da war jedoch ein Umstand, der alle Schwierigkeiten der Situation aufwog. Dank Napoleon war das Land seinen König, seine königliche Familie und seine Regierung losgeworden. So waren die Fesseln zerbrochen, die sonst vielleicht das spanische Volk daran gehindert hätten, seine ihm angeborene Kraft zu entfalten. Wie wenig es unter der Herrschaft seiner Könige und unter gewöhnlichen Verhältnissen imstande gewesen, den Franzosen Widerstand zu leisten, das hatte sich in den schmählichen Feldzügen von 1794 und 1795 gezeigt.^2221 Napoleon hatte die hervorragendsten Persönlichkeiten Spaniens berufen, damit sie in Bayonne mit ihm zusammenträfen und aus seinen Händen einen König und eine Konstitution entgegennähmen. Mit sehr wenigen Ausnahmen erschienen sie alle dort. Am 7. Juni 1808 empfing König Joseph in Bayonne eine Deputation der Granden von Spanien, in deren Namen der Herzog von Infantado, der intimste Freund Ferdinands VII., ihn folgendermaßen ansprach:
„Sire, die Granden von Spanien sind jederzeit ob ihrer Loyalität gegen ihren Souverän berühmt gewesen, und auch Eure Majestät wird bei ihnen dieselbe Treue und Anhänglichkeit finden."
Die Königliche Ratskammer von Kastilien gab dem armen Joseph die Versicherung, „er sei der hervorragendste Abkömmling einer Familie, die vom Himmel zum Herrschen bestimmt sei". Nicht minder demütig lautete die Huldigung, die der Herzog del Parque an der Spitze einer Deputation darbrachte, die die Armee vertrat. Am nächsten Tage veröffentlichten dieselben Leute eine Proklamation, in der sie allgemeine Unterwerfung unter die Dynastie Bonaparte forderten. Am 7. Juli 1808 wurde die neue Konstitution von 91 Spaniern aus den allerhöchsten Kreisen unterzeichnet; darunter waren Herzoge, Grafen, Marquis und mehrere Häupter religiöser Orden. Bei den Diskussionen über die Konstitution war die Abschaffung ihrer alten Privilegien und Steuerbefreiungen alles, was sie zu beanstanden hatten. Das erste Ministerium und der erste königliche Hofstaat Josephs bestand aus denselben Personen, die Ministerium und Hofstaat Ferdinands VII.
gebildet hatten. Einige Vertreter der oberen Klassen betrachteten Napoleon als den von der Vorsehung gesandten Erneuerer Spaniens, andere wieder sahen in ihm das einzige Bollwerk gegen die Revolution; niemand glaubte an die Möglichkeit eines nationalen Widerstandes. Von Anfang an hatten also im Spanischen Unabhängigkeitskrieg der hohe Adel und die alte Verwaltung ihre ganze Gewalt über Bourgeoisie und Volk eingebüßt, denn schon zu Beginn des Kampfes hatten sie sie im Stich gelassen. Auf der einen Seite standen die Afrancesados (die Franzosenfreunde), und auf der anderen stand die Nation. In Valladolid, Cartagena, Granada, Jaen, San Lucar, Carolina, Ciudad Rodrigo, Cadiz und Valencia fielen die bedeutendsten Mitglieder der alten Verwaltung - Gouverneure, Generale und andere hervorragende Persönlichkeiten, die als französische Agenten und Hindernisse für die nationale Bewegung galten - der Volkswut zum Opfer. Überall wurden die bestehenden Behörden abgesetzt. Schon mehrere Monate vor der Erhebung vom 19. März 1808 hatten die Volksbewegungen, die in Madrid stattfanden, es darauf abgesehen, El Chorizero (den Wurstmacher, ein Spitzname für Godoy) und seine verhaßten Spießgesellen von ihren Posten zu entfernen. Dieses Ziel wurde jetzt im nationalen Maßstab erreicht, und damit war die innere Revolution vollendet, soweit sie von den Massen beabsichtigt und nicht mit Widerstand gegen den fremden Eindringling verbunden war. Im ganzen schien die Bewegung mehr eine konterrevolutionäre zu sein als eine revolutionäre. National, weil sie die Unabhängigkeit Spaniens von Frankreich proklamierte, war sie gleichzeitig dynastisch, da sie den „geliebten" Ferdinand VII. Joseph Bonaparte entgegenstellte, war sie reaktionär, da sie die alten Einrichtungen, Gewohnheiten und Gesetze den rationellen Neuerungen Napoleons entgegensetzte, war sie abergläubisch und fanatisch, denn sie verfocht die „heilige Religion" gegenüber dem, was französischer Atheismus hieß oder Beseitigung der besonderen Privilegien der römischen Kirche. Die Priester, die durch das Schicksal ihrer Brüder in Frankreich erschreckt waren, nährten im Interesse der Selbsterhaltung noch die Volksleidenschaften.
„Das patriotische Feuer", sagt Southey, „flammte noch höher auf unter dem Einfluß des heiligen Öles des Aberglaubens."
Alle gegen Frankreich geführten Unabhängigkeitskriege tragen den gemeinsamen Stempel einer Regeneration, die sich mit Reaktion paart; nirgends aber in solchem Maße wie in Spanien. Der König erschien der Phantasie des Volkes im Lichte eines romantischen Prinzen, den ein gigantischer Räuber schimpflich mißhandelte und gefangenhielt. Die eindrucksvollsten und volks
tümlichsten Epochen der Vergangenheit wurden mit den geheiligten und wundersamen Traditionen der Kreuzzüge gegen den Halbmond verknüpft; und ein großer Teil der niederen Klassen war es gewohnt, die Kutte der Bettelmönche zu tragen und auf Kosten des Kirchenvermögens zu leben. Ein spanischer Schriftsteller, Don Josef demente Carnicero, veröffentlichte 1814 und 1816 folgende Reihe von Arbeiten: „Napoleon, der wahre Don Quixote Europas", „Die hauptsächlichsten Ereignisse der glorreichen Revolution Spaniens", „Die rechtlich wiedereingesetzte Inquisition". Es genügt, auf die Titel dieser Bücher hinzuweisen, um diese einseitige Auffassung der spanischen Revolution zu begreifen, die uns auch in den verschiedenen Manifesten der Provinzialjuntas entgegentritt, die sämtlich für den König, die heilige Religion und das Vaterland eintreten und von denen einige dem Volke sogar verkünden, daß „seine Hoffnungen auf eine bessere Welt auf dem Spiele stünden und in höchster Gefahr seien". Wenn nun aber auch die Bauernschaft, die Bewohner der Kleinstädte im Innern des Landes und die zahlreiche Armee der Bettelmönche mit und ohne Mönchskutten, die alle von religiösen und politischen Vorurteilen tief durchdrungen waren, die große Mehrheit der nationalen Partei bildeten, so enthielt sie doch auf der anderen Seite eine rührige und einflußreiche Minderheit, die die Volkserhebung gegen die französische Invasion als das Signal zur politischen und sozialen Erneuerung Spaniens betrachtete. Diese Minderheit setzte sich aus den Bewohnern der Hafen- und Handelsstädte und einem Teil der Provinzhauptstädte zusammen, wo sich unter der Regierung Karls V. die materiellen Bedingungen der modernen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade entwickelt hatten. Sie wurde verstärkt durch den gebildeteren Teil der oberen Klassen und der Bourgeoisie, Schriftsteller, Arzte, Rechtsanwälte und sogar Priester, für die die Pyrenäen keine genügende Barriere gegen das Eindringen der Philosophie des 18.Jahrhunderts gebildet hatten. Als das wahre Programm dieser Partei kann man das berühmte Memorandum Jovellanos' über die Verbesserung der Landwirtschaft und das Agrargesetz ansehen, das 1795 erschien und auf Befehl des Königlichen Rats von Kastilien abgefaßt worden war. Schließlich war da noch die Bourgeoisjugend, zum Beispiel die Universitätsstudenten, die die Bestrebungen und Grundsätze der Französischen Revolution mit glühendem Eifer in sich aufgenommen und einen Moment sogar erwartet hatten, ihr Vaterland durch Frankreichs Hilfe Wiederaufleben zu sehen. Solange es sich nur um die gemeinsame Verteidigung des Vaterlands handelte, blieben die beiden großen Elemente der nationalen Partei vollkommen einig. Ihre Gegnerschaft trat erst zutage, als sie sich in den Gortps
begegneten, auf dem Kampfplatz, wo die neue Konstitution entworfen werden sollte. Die revolutionäre Minderheit hatte, um den patriotischen Geist des Volkes zu nähren, ihrerseits keine Bedenken getragen, an die nationalen Vorurteile des alten Volksglaubens zu appellieren. So günstig nun diese Taktik für die unmittelbaren Zwecke des nationalen Widerstands erschienen sein mochte, so mußte sie doch für diese Minderheit verhängnisvoll werden, als die Zeit gekommen war, wo die konservativen Interessen der alten Gesellschaft sich hinter eben diesen Vorurteilen und Volksleidenschaften verschanzten, um sich gegen die eigentlichen und weiteren Pläne der Revolutionäre zu verteidigen. Als Ferdinand, der Aufforderung Napoleons gehorchend, Madrid verließ, hatte er eine oberste Regierungsjunta unter der Präsidentschaft des Infanten Don Antonio eingesetzt. Aber schon im Mai war diese Junta verschwunden. Eine Zentralregierung gab es nicht, und die aufrührerischen Städte bildeten ihre eigenen Juntas, die von denen der Provinzhauptstädte geleitet wurden. Diese Provinzialjuntas bildeten also ebenso viele unabhängige Regierungen, von denen jede eine Armee auf die Füße stellte. Die Junta der Vertreter von Oviedo erklärte, daß sie in den Besitz der vollen Souveränität gelangt sei, proklamierte deji Krieg gegen Bonaparte und schickte Abgesandte nach England, um einen Waffenstillstand zu schließen. Dasselbe tat später die Junta von Sevilla. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß diese fanatischen Katholiken durch die bloße Gewalt der Tatsachen zu einem Bündnis mit England gedrängt wurden, einer Macht, auf die die Spanier sonst als auf die Inkarnation der verdammenswertesten Ketzerei herabsahen und die sie nicht viel höher einschätzten als den Großtürken selber. Bedrängt vom französischen Atheismus, flüchteten sie jedoch in die Arme des englischen Protestantismus. Kein Wunder daher, daß Ferdinand VII. bei seiner Rückkehr nach Spanien in einem Dekret zur Wiederherstellung der Heiligen Inquisition erklärte, daß einer der Gründe,
„der die Reinheit der Religion in Spanien beeinträchtigt habe, in dem Aufenthalt fremder Truppen von verschiedenen Sekten zu suchen sei, die alle von dem gleichen Haß gegen die heilige römische Kirche beseelt seien".
Die so plötzlich und völlig unabhängig voneinander entstandenen Provinzialjuntas billigten der obersten Junta von Sevilla eine gewisse, wenn auch nur sehr geringe und unbestimmte Autorität zu; denn Sevilla wurde als Hauptstadt Spaniens betrachtet, solange Madrid sich in den Händen der Fremden befand. So entstand eine Art sehr anarchischer Bundesregierung, die durch das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Interessen, lokaler Eifersüchteleien
und rivalisierender Einflüsse zu einem recht untauglichen Instrument wurde, um Einheitlichkeit in die militärische Befehlsgewalt zu bringen und die Operationen eines Feldzugs zu koordinieren. Die Proklamationen, die diese verschiedenen Juntas an das Volk erließen, waren wohl alle von dem heldenmütigen Geist eines Volks erfüllt, das plötzlich aus langer Lethargie erweckt und durch einen elektrischen Schlag in einen Zustand fieberhafter Tätigkeit versetzt ward, waren aber doch nicht frei von jener schwulstigen Übertreibung, jenem Stil, gemischt aus Windbeutelei und Bombast, und jener hochtönenden Großsprecherei, die Sismondi veranlaßten, der spanischen Literatur den Beinamen einer orientalischen zu geben. Auch die kindische Eitelkeit des spanischen Charakters drückte sich in ihnen aus; die Mitglieder der Juntas legten sich zum Beispiel den Titel Hoheit bei und überluden sich mit prunkenden Uniformen. Zweierlei beobachten wir bei diesen Juntas: erstens das niedrige Niveau des Volks zur Zeit seiner Erhebung, zweitens die dadurch hervorgerufene schädliche Rückwirkung auf den Fortschritt der Revolution. Die Juntas waren durch das allgemeine Stimmrecht gewählt; aber „die unteren Klassen betätigten sogar ihren freiheitlichen Drang nur in unterwürfiger Weise". Sie wählten gewöhnlich nur ihre natürlichen Vorgesetzten, den höheren und niederen Adel der Provinz, hinter denen die Geistlichkeit und sehr wenige Notabilitäten aus der Bourgeoisie standen. Das Volk war sich seiner eigenen Schwäche so sehr bewußt, daß es seine Initiative darauf beschränkte, die höheren Klassen zum Widerstand gegen den Eindringling zu zwingen, ohne daran zu denken, an der Leitung dieses Widerstandes teilzunehmen. In Sevilla zum Beispiel „dachte das Volk zuerst daran, daß sich die Pfarrgeistlichkeit und die Klostervorsteher zusammentun sollten, um die Mitglieder der Junta zu wählen". So wurden die Juntas mit Leuten gefüllt, die auf Grund ihrer früheren Stellung gewählt und weit davon entfernt waren, revolutionäre Führer zu sein. Andrerseits dachte das Volk bei der Ernennung dieser Behörden weder daran, ihre Macht zu beschränken noch der Dauer derselben ein bestimmtes Ziel zu setzen. Die Juntas wieder dachten selbstverständlich nur daran, die erstere auszudehnen und die letztere zu verlängern. So erwiesen sich diese beim Beginn der Revolution ins Leben gerufenen ersten Schöpfungen des Volksimpulses während deren ganzer Dauer als ebenso viele Dämme, die sich der revolutionären Strömung entgegenstellten, wenn sie überzufließen drohte. Am 20. Juli 1808, als Joseph Bonaparte in Madrid einzog, wurden bei Baylen 14 000 Franzosen unter den Generalen Dupont und Vedel von Castanos gezwungen, ihre Waffen niederzulegen, und Joseph mußte sich einige
Tage später von Madrid nach Burgos zurückziehen. Noch zwei andere Ereignisse waren geeignet, den Mut der Spanier aufs höchste zu steigern: erstens die Vertreibung Lefebvres aus Saragossa durch General Palafox und zweitens die Ankunft der 7000 Mann starken Armee des Marquis de la Romana in La Coruna, die sich den Franzosen zum Trotz auf der Insel Fünen eingeschifft hatten, um dem bedrängten Vaterland zu Hilfe zu eilen. Nach der Schlacht von Baylen war es, daß die Revolution ihren Aufschwung nahm und daß der Teil des hohen Adels, der die Dynastie Bonaparte akzeptiert oder sich klug im Hintergrund gehalten hatte, hervortrat, um sich der Sache des Volks anzuschließen - ein höchst zweifelhafter Gewinn für diese Sache.
III
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4214 vom 20. Oktober 1854] Die Verteilung der Macht unter die einzelnen Provinzialjuntas hatte Spanien vor dem ersten Anprall der französischen Invasion unter Napoleon gerettet. Nicht nur weil sie die Hilfsquellen des Landes vervielfältigte, sondern weil sie es auch dem Eindringling unmöglich machte, auf ein bestimmtes Ziel loszuschlagen; die Franzosen waren höchst erstaunt, daß das Zentrum des spanischen Widerstandes überall und nirgends war. Nichtsdestoweniger machte sich, kurz nachdem Baylen kapituliert und Joseph Madrid geräumt hatte, die Notwendigkeit, eine Art Zentralregierung zu schaffen, allgemein fühlbar. Nach den ersten Erfolgen waren die Uneinigkeiten zwischen den Provinzialjuntas so heftig geworden, daß Sevilla zum Beispiel nur mit Mühe durch General Castanos davon abgehalten werden konnte, gegen Granada vorzurücken. Die französische Armee, die - mit Ausnahme der unter Marschall Besseres stehenden Truppen - sich in größter Verwirrung auf die Linie am Ebro zurückgezogen hatte, wäre bei kraftvoller Verfolgung mit Leichtigkeit zu zerstreuen gewesen, oder sie hätte mindestens wieder die Grenze überschreiten müssen, so aber gelang es ihr, sich zu erholen und eine starke Position einzunehmen. Besonders die blutige Unterdrückung des Aufstandes in Bilbao durch General Merlin12233 löste in der ganzen Nation einen Schrei der Empörung gegen die Eifersüchteleien der Juntas und gegen das unbekümmerte laissez faire1 der Befehlshaber aus. Die Dringlichkeit eines
1 Treibenlassen
gemeinsamen militärischen Vorgehens; die Gewißheit, daß Napoleon bald wieder an der Spitze eines siegreichen Heeres erscheinen würde, das von den Ufern des Njemen, der Oder und den Küsten der Ostsee zusammengezogen war; das Fehlen einer allgemeinen Autorität zum Abschluß von Bündnisverträgen mit Großbritannien oder anderen auswärtigen Mächten und zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit Spanisch-Amerika und zur Erhebung der Abgaben von ihm; das Bestehen einer französischen Zentralgewalt in Burgos und die Notwendigkeit, dem fremden Altar seinen eigenen gegenüberzustellen - alle diese Umstände zusammengenommen zwangen die Junta von Sevilla, auf ihr nur unbestimmtes, eigentlich nur nominelles Übergewicht, wenn auch ungern, zu verzichten und den verschiedenen Provinzialjuntas vorzuschlagen, aus ihren eigenen Körperschaften je zwei Deputierte zu wählen, deren Vereinigung eine Zentraljunta bilden sollte, während die Provinzialjuntas mit der inneren Verwaltung ihrer betreffenden Gebiete betraut bleiben sollten, „jedoch mit gebührender Subordination unter die Zentralregierung". So trat am 25.September 1808 in Aranjuez die Zentraljunta zusammen, die sich aus 35 Deputierten der Provinzialjuntas (34 für die spanischen Juntas und einer für die Kanarischen Inseln) zusammensetzte - gerade einen Tag, ehe die Potentaten von Rußland und Deutschland sich in Erfurt vor Napoleon demütigten.t2241 In revolutionären Verhältnissen - mehr noch als in normalen Zeiten spiegeln die Geschicke der Armeen die wahre Natur der zivilen Regierung wider. Die mit der Vertreibung der Eindringlinge vom spanischen Boden betraute Zentraljunta wurde durch den Erfolg der feindlichen Waffen von Madrid nach Sevilla und von Sevilla nach Cadiz getrieben, um dort ein ruhmloses Ende zu finden. Ihre Herrschaft war durch eine Kette schmachvoller Niederlagen gekennzeichnet, durch die Vernichtung der spanischen Armeen und schließlich durch die Auflösung der regulären Kriegführung in Guerillakämpfe. Urquijo, ein spanischer Edelmann, äußerte am 3. April 1808 zu Cuesta, dem Generalkapitän von Kastilien: „Unser Spanien ist ein gotisches Gebäude, das aus den heterogensten Stückchen zusammengesetzt ist, mit ebenso vielen Gewalten, Privilegien, Gesetzgebungen und Gebräuchen, als es Provinzen gibt. In Spanien existiert nichts von dem, was man in Europa Sinn für das öffentliche Wohl nennt. Diese Gründe werden bei uns stets die Errichtung einer Zentralgewalt verhindern, die mächtig genug wäre, unsere nationalen Kräfte zu vereinen." Wenn schon der Zustand, in dem Spanien sich zur Zeit der französischen Invasion befand, der Bildung eines revolutionären Zentrums die größten Schwierigkeiten bereitete, so machte gerade die Zusammen
Setzung der Zentraljunta das Land vollends unfähig, sich aus der furchtbaren Krise zu retten, in der es sich befand. Zu zahlreich und zu wahllos zusammengewürfelt, um als Exekutivgewalt auftreten zu können, waren es doch wieder zu wenig Delegierte, um die Autorität eines Nationalkonventst225] beanspruchen zu können. Allein die Tatsache, daß sie von Provinzialjuntas delegiert waren, machte sie dazu untauglich, die ehrgeizigen Neigungen, den bösen Willen und den eigensinnigen Egoismus dieser Körperschaften zu überwinden. Diese Juntas, deren Mitglieder, wie wir schon in einem früheren Artikel erwähnten, im großen und ganzen auf Grund ihrer Stellung in der alten Gesellschaft gewählt waren und nicht in Anbetracht ihrer Fähigkeiten, eine neue Gesellschaft ins Leben zu rufen, sandten nun ihrerseits in die „Zentrale" spanische Granden, Prälaten, Würdenträger von Kastilien, ehemalige Minister, hohe Zivil- und Militärbeamte, anstatt Personen, die aus der Revolution hervorgingen. Die spanische Revolution ging schon in ihren ersten Anfängen an dem Bestreben zugrunde, legitim und anständig zu sein. Die beiden hervorragendsten Mitglieder der Zentraljunta, um deren Banner sich ihre beiden großen Parteien scharten, waren Floridabianca und Jovellanos, beide Märtyrer der Godoyschen Verfolgung, frühere Minister, beide kränklich und alt geworden in den regelmäßigen und pedantischen Gepflogenheiten des saumseligen spanischen Regimes, dessen steife, umständliche Langsamkeit schon zu Bacons Zeiten sprichwörtlich geworden war, der einst ausrief: „Wenn der Tod mich holt, dann möge er von Spanien kommen, er kommt dann zu einer späteren Stunde."[2263 Floridabianca und jovellanos repräsentierten einen Gegensatz, der noch jener Epoche des achtzehnten Jahrhunderts angehörte, die dem Zeitalter der französischen Revolution voranging; der erstere ein plebejischer Bürokrat, der letztere ein aristokratischer Philanthrop. Floridabianca war ein Anhänger und Vertreter des aufgeklärten Despotismus, den ein Pombai, ein Friedrich II., ein Joseph II. vertrat. Jovellanos, ein „Volksfreund", hoffte das Volk durch ein sorgfältig ausgeklügeltes System ökonomischer Gesetze und durch die literarische Propagierung großherziger Theorien zur Freiheit zu führen. Beide waren Gegner der Traditionen des Feudalismus; der eine suchte die Monarchie, der andere die bürgerliche Gesellschaft von ihren Fesseln zu befreien. Die Rolle, die jeder von ihnen in der Geschichte ihres Vaterlandes spielte, entsprach der Verschiedenheit ihrer Ansichten. Floridabianca regierte an höchster Stelle als Premierminister Karls III., und seine Herrschaft wurde in dem Maße despotisch, wie er auf Widerstand stieß. Jovellanos, dessen Ministerlaufbahn unter Karl IV. nur kurz war, gewann seinen Einfluß auf das spanische Volk nicht als Minister, sondern als Gelehrter, nicht durch
Dekrete, sondern durch Essays. Floridabianca war ein Achtzigjähriger, als ihn der Sturm der Zeiten an die Spitze einer revolutionären Regierung trug; was bei ihm unerschüttert geblieben, war nur sein Glaube an den Despotismus und sein Unglaube an die schöpferischen Kräfte des Volkes. Als er nach Madrid delegiert wurde, hinterließ er dem Gemeinderat von Murcia einen geheimen Protest, worin er erklärte, daß er nur der Gewalt und der Furcht vor Attentaten des Volkes nachgebe und daß er dieses Protokoll zu dem ausdrücklichen Zwecke unterzeichne, daß König Joseph es ihm niemals verüble, wenn er das Mandat aus den Händen des Volkes annehme. Nicht zufrieden damit, zu den Traditionen seines Mannesalters zurückzukehren, widerrief er auch noch jene Schritte aus seiner ministeriellen Vergangenheit, die ihm jetzt als übereilt erschienen. Er, der die Jesuiten aus Spanien verbannt hatte12271, war kaum in die Zentraljunta eingesetzt, als er die Erlaubnis zu ihrer Rückkehr „als Privatleute" beantragte. Die einzige Veränderung, die sich seiner Meinung nach seit seiner Zeit vollzogen hatte, bestand lediglich darin, daß Godoy, der ihn verbannt und den mächtigen Grafen von Floridablanca seiner ministeriellen Allmacht beraubt hatte, nun durch denselben Grafen Floridabianca ersetzt und seinerseits vertrieben wurde. So warder Mann beschaffen, den die Zentraljunta zu ihrem Präsidenten wählte und den ihre Mehrheit als unfehlbaren Führer anerkannte. Jovellanos, der die einflußreiche Minderheit in der Zentraljunta leitete, war auch alt geworden und hatte während der ihm von Godoy auferlegten langen, schweren Kerkerhaft viel von seiner Energie eingebüßt. Aber selbst in seiner besten Zeit war er kein Mann der revolutionären Aktion, sondern eher ein wohlmeinender Reformer gewesen, der aus lauter Bedenklichkeit in der Wahl seiner Mittel nie gewagt hätte, seinen Endzweck zu erreichen. In Frankreich wäre er vielleicht so weit wie Mounier oder Lally-Tollendal gegangen, jedoch keinen Schritt weiter. In England wäre er ein populäres Mitglied des Oberhauses geworden. Im aufrührerischen Spanien taugte er wohl dazu, die strebsame Jugend mit Ideen zu erfüllen, in der Praxis aber war er nicht einmal der servilen Zähigkeit eines Floridabianca gewachsen. Nicht ganz frei von aristokratischen Vorurteilen und daher stark zur Anglomanie eines Montesquieu neigend, schien dieser untadelige Charakter den Beweis dafür zu liefern, daß, wenn Spanien einmal ausnahmsweise einen wissenschaftlichen Geist hervorbrachte, dies nur auf Kosten der persönlichen Energie geschehen konnte, die das Land nur zur Erfüllung seiner lokalen Aufgaben zu besitzen schien. Wohl gehörten der Zentraljunta einige Männer an - an deren Spitze Don Lorenzo Calvo de Rozas, der Delegierte von Saragossa, stand -, die
Anhänger von Jovellanos Reformansichten waren und gleichzeitig eine lebhaftere revolutionäre Aktion anstrebten. Ihre Zahl war aber zu klein und ihre Namen zu unbekannt, als daß sie die schwerfällige Staatskutsche der Junta aus dem ausgefahrenen Geleise des spanischen Zeremoniells hätten schieben können. Diese Gewalt, so plump zusammengefügt, so schwächlich organisiert, an deren Spitze solche überlebten Reliquien standen, war dazu berufen, eine Revolution zu vollbringen und Napoleon zu schlagen. Wenn ihre Proklamationen ebenso kraftvoll waren, wie ihre Taten kraftlos, so verdankte sie dies Don Manuel Quintana, einem spanischen Dichter; denn die Junta hatte so viel Geschmack besessen, ihn als ihren Sekretär anzustellen und mit der Abfassung ihrer Manifeste zu betrauen. Gleich den prunkenden Helden Calderons, die nicht müde werden, alle ihre Titel aufzuzählen, weil sie konventionelle Auszeichnung mit echter Größe verwechseln, war es auch die erste Sorge der Junta, die Ehren und Auszeichnungen zu dekretieren, die ihrer gehobenen Stellung gebührten. Ihr Präsident bekam das Prädikat „Hoheit", die anderen Mitglieder den Titel „Exzellenz" und die Junta in corpore1 erhielt die Bezeichnung „Majestät". Sie versahen sich mit einer Art Phantasieuniform, die der eines Generals ähnelte, schmückten ihre Brust mit Abzeichen, die Alte und die Neue Welt darstellend, und genehmigten sich ein Jahresgehalt von 120 000 Realen. Es entsprach ganz den Ideen der alten spanischen Schule, daß sich die Führer des aufständischen Spaniens erst in theatralische Kostüme stecken müßten, damit sich ihr Einzug auf die historische Bühne Europas großartig und würdevoll gestalte. Wir würden den Rahmen dieser Skizzen überschreiten, wollten wir auf die innere Geschichte der Junta und die Einzelheiten ihrer Verwaltung eingehen. Für unsere Zwecke genügt es, zwei Fragen zu beantworten. Welchen Einfluß hatte sie auf die Entwicklung der spanischen revolutionären Bewegung und auf die Verteidigung des Vaterlands? Sind diese beiden Fragen beantwortet, so wird vieles, was bis jetzt an den spanischen Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts geheimnisvoll und unerklärlich erschien, seine Aufklärung gefunden haben. Ihre Hauptpflicht sah die Mehrheit der Zentraljunta gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Unterdrückung des ersten revolutionären Überschwangs. Sie knebelte daher die Presse aufs neue und ernannte einen neuen Großinquisitor, der glücklicherweise durch die Franzosen verhindert wurde, seine
1 als Körperschaft
Funktionen wieder aufzunehmen. Obzwar der größte Teil des spanischen Grundbesitzes in der toten Hand festgelegt war - teils in adligen Fideikommissen, teils in unveräußerlichen Kirchengütern befahl die Junta, den bereits begonnenen Verkauf der Güter der toten Hand einzustellen, sie drohte sogar, die Privatverträge abzuändern, die sich auf die bereits verkauften Kirchengüter bezogen. Sie erkannte die Staatsschuld an, traf aber keinerlei finanzielle Maßnahmen, weder um das Budget von dem Berg von Lasten zu befreien, den eine jahrhundertelange Aufeinanderfolge von korrupten Regierungen aufgehäuft hatte, noch um das sprichwörtlich gewordene ungerechte, sinnlose und drückende Steuersystem zu reformieren, noch um der Nation neue Produktionsmöglichkeiten zu eröffnen, indem sie die Fesseln des Feudalismus sprengte.
IV
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4220 vom 27. Oktober 1854] Bereits zur Zeit Philipps V. hatte Francisco Benito de la Soledad gesagt: „Alles Übel in Spanien kommt von den Togados (Juristen)." An der Spitze der verderblichen obrigkeitlichen Hierarchie Spaniens stand der Consejo Real1 von Kastilien. Entstanden in den bewegten Zeiten der Don Juans und Enriques, verstärkt durch Philipp IL, der in ihm eine würdige Ergänzung des Santo officio2 sah, hatte er die Not der Zeit und die Schwäche der Könige auszunutzen verstanden, sich die verschiedenartigsten Vollmachten angeeignet und seiner früheren Funktion als Oberstes Gericht noch die des Gesetzgebers und einer obersten Verwaltungsbehörde für sämtliche Königreiche Spaniens hinzugefügt. So übertraf er an Macht sogar das französische Parlament, dem er in vielen Punkten ähnelte, ausgenommen darin, daß er nie auf Seiten des Volkes zu finden war. Als mächtigste Autorität des alten Spaniens war der Consejo Real natürlich der geschworene Feind eines neuen Spaniens und aller neu aufgetauchten volkstümlichen Autoritäten, die seinen überragenden Einfluß zu lähmen drohten. Als höchste Spitze des Juristenstandes und als lebendige Verkörperung aller seiner Mißbräuche und Privilegien verfügte der Consejo selbstverständlich über alle die zahlreichen und bedeutsamen Vorteile, die mit der spanischen Rechtsprechung verknüpft waren. Er war daher eine Macht, mit der kein Kompromiß möglich war entweder die Revolution fegte sie hinweg, oder sie fegte ihrerseits die Revo
1 Königliche Rat - 8 Heiligen Amtes (der Heiligen Inquisition)
lution über Bord. Wie wir in einem früheren Artikel gesehen, hatte sich der Consejo vor Napoleon gedemütigt und durch diesen verräterischen Akt alles Ansehen beim Volke verloren. Die Zentraljunta beging jedoch am Tage ihres Zusammentritts die Torheit, dem Consejo anzuzeigen, sie habe sich konstituiert und sie fordere nun den Treueid von ihm; hätte er diesen abgelegt, erklärte sie, so wolle sie dieselbe Eidesformel allen anderen Autoritäten im Königreich vorlegen. Dieser unüberlegte Schritt, der von der ganzen revolutionären Partei mit Nachdruck mißbilligt wurde, gab dem Consejo die Überzeugung, die Zentraljunta bedürfe seiner Unterstützung. Er erholte sich daher rasch von seiner Verzagtheit und bot nach mehrtägigem heuchlerischem Zögern der Junta eine übelwollende Unterwerfung an. Seinem Eid fügte er seine eigenen reaktionären Bedenken hinzu, die in der Empfehlung Ausdruck fanden, die Junta möge auseinandergehen, ihre Stärke auf drei oder fünf Mitglieder beschränken, gemäß Ley 3, Partida 2, Titulo 15[228]; ferner solle sie die zwangsweise Auflösung der Provinzialjuntas anordnen. Nachdem die Franzosen nach Madrid zurückgekehrt waren und den Consejo Real auseinandergejagt hatten, war die Zentraljunta, nicht zufrieden mit ihrer ersten Dummheit, so einfältig, den Consejo wiederzuerwecken, indem sie den Consejo Reunido schuf, eine Vereinigung des Consejo Real mit all den anderen Überbleibseln der alten königlichen Räte. So schuf die Junta aus eigener Initiative für die Konterrevolution eine Zentralgewalt, die, eine nimmermüde Rivalin für sie selbst, keinen Augenblick aufhörte, sie zu beunruhigen, ihr durch Intrigen und Verschwörungen entgegenzuarbeiten, sie zu den unpopulärsten Schritten zu drängen, um sie dann mit der Miene tugendhafter Entrüstung der leidenschaftlich erregten Verachtung des Volkes preiszugeben. Es versteht sich von selbst, daß die Zentraljunta, als sie den Consejo Real erst wieder anerkannt und dann wiederhergestellt hatte, nicht imstande war, irgendeine Reform durchzuführen, sei es an der Organisation der spanischen Gerichtshöfe, sei es an der ganz und gar untauglichen Zivil- und Strafgesetzgebung Spaniens. Waren in der spanischen Erhebung auch die nationalen und religiösen Elemente vorherrschend, so existierte doch in den ersten zwei Jahren eine sehr entschiedene Tendenz zu sozialen und politischen Reformen; das beweisen sämtliche Manifestationen der Provinzialjuntas aus der damaligen Zeit, die, wenn sie auch meist von Mitgliedern der privilegierten Klassen verfaßt waren, dennoch nie versäumten, das alte Regime zu verdammen und radikale Reformen zu versprechen. Diese Tatsache ist ferner durch die Manifeste der Zentraljunta bewiesen. In dem ersten Aufruf an die Nation vom 10. November 1808 heißt es:
„Eine zwanzigjährige Tyrannei, ausgeübt von den unfähigsten Köpfen, hat uns hart an den Rand des Abgrundes gebracht. Die Nation ist ihrer Regierung durch Haß und Verachtung entfremdet. Unterdrückt und entwürdigt, ihre eigene Kraft nicht kennend und vergebens Hilfe suchend gegen die eigene Regierung in den Einrichtungen und Gesetzen, hat sie vor kurzem sogar noch die Herrschaft von Fremden als weniger verhaßt empfunden als die verderbliche Tyrannei, die ihr Mark verzehrt. Die Herrschaft des Willens eines einzelnen, der immer launenhaft und meistens ungerecht war, hat schon zu lange gedauert; zu lange hat man ihre Geduld, ihre Gesetzestreue, ihre großmütige Loyalität mißbraucht; es war Zeit, daß gemeinnützige Gesetze in Kraft treten. Reformen auf allen Gebieten waren daher notwendig. Die Junta werde verschiedene Kommissionen ins Leben rufen, von denen jede mit einem bestimmten Gebiet betraut würde und an die dann alle Zuschriften in Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten gerichtet werden könnten." In ihrem Aufruf, datiert Sevilla, 28.Oktober 1809, heißt es:
„Ein geistesschwacher, abgelebter Despotismus hat der französischen Tyrannei die Wege geebnet. Den Staat in den alten Mißbräuchen verkommen zu lassen, wäre ein ebenso ungeheuerliches Verbrechen, wie wenn wir uns in die Hände Bonapartes auslieferten." In der Zentraljunta scheint eine originelle Arbeitsteilung geherrscht zu haben - die Partei Jovellanos' durfte die revolutionären Bestrebungen der Nation proklamieren und protokollieren, und die Partei Floridabiancas behielt sich das Vergnügen vor, sie direkt Lügen zu strafen und der revolutionären Dichtung konterrevolutionäre Wahrheit entgegenzustellen. Uns aber gilt es hier als besonders wichtig, gerade aus den Bekenntnissen der Provinzialjuntas gegenüber der Zentrale die oft geleugnete Tatsache zu beweisen, daß zur Zeit der ersten spanischen Erhebung revolutionäre Bestrebungen wirklich existierten. Die Art und Weise, in der die Zentraljunta die Gelegenheiten zu Reformen ausnützte, die ihr der Wille der Nation, die Macht der Ereignisse und die unmittelbar drohende Gefahr darboten, kann man nach dem Einfluß beurteilen, den ihre Kommissare in den verschiedenen Provinzen ausübten, in die sie gesandt wurden. Ein spanischer Schriftsteller1 gesteht ganz offen, daß die Zentraljunta, die nicht gerade Überfluß an fähigen Köpfen hatte, wohl darauf bedacht war, ihre hervorragenden Mitglieder im Zentrum zurückzubehalten und nur die Untauglichen nach draußen zu schicken. Diese Kommissare waren ermächtigt, den Provinzialjuntas zu präsidieren und die Zentrale in ihrer ganzen Herrlichkeit zu vertreten. Wir wollen nur einige
1 Toreno
Beispiele ihres Wirkens verzeichnen: General Romana, den die spanischen Soldaten den Marquis de las Romerias1 zu nennen pflegten, weil er stets Märsche und Gegenmärsche unternahm und Gefechte nur dann stattfanden, wenn er nicht dabei war, dieser Romana also kam als Kommissar der Zentrale nach Asturien, nachdem er von Soult aus Galicien herausgetrieben worden war. Seine erste Beschäftigung bestand darin, einen Streit mit der Provinzialjunta von Oviedo vom Zaune zu brechen, die sich durch ihre energischen und revolutionären Maßnahmen den Haß der privilegierten Klassen zugezogen hatte. Er ging daran, sie aufzulösen und ihre Mitglieder durch seine eigenen Kreaturen zu ersetzen. Als General Ney Kunde davon erhielt, daß solche Uneinigkeiten in einer Provinz herrschten, in der der Widerstand gegen die Franzosen so allgemein und einmütig gewesen, rückte er sofort mit seinem Heere in Asturien ein, vertrieb den Marquis de las Romerias, besetzte Oviedo und plünderte es drei Tage lang. Als die Franzosen Ende 1809 Galicien geräumt hatten, zog unser Marquis und Kommissar der Zentraljunta in La Coruna ein, vereinigte in seiner Person die ganze öffentliche Autorität, unterdrückte die Distriktjuntas, die sich während des Aufstandes vermehrt hatten, und ersetzte sie durch Militärgouverneure, er bedrohte die Mitglieder dieser Juntas mit Verfolgung und verfolgte, auch tatsächlich die Patrioten, behandelte dafür aber alle diejenigen, die die Sache des Eindringlings verfochten hatten, mit größtem Wohlwollen und erwies sich überhaupt in jeder Hinsicht als ein boshafter, unfähiger und launenhafter Dummkopf. Und was hatten die Distrikt- und Provinzialjuntas von Galicien sich zuschulden kommen lassen? Sie hatten eine allgemeine Rekrutierung ohne Unterschied der Klassen und Personen angeordnet; sie hatten den Kapitalisten und Grundbesitzern Steuern auferlegt; sie hatten die Gehälter der Staatsbeamten herabgesetzt; sie hatten von den kirchlichen Körperschaften verlangt, sie sollten ihnen die Einkünfte, die sie in ihren Truhen verschlossen hielten, zur Verfügung stellen. Sie hatten, mit einem Wort, revolutionäre Maßnahmen getroffen. Von der Zeit des glorreichen Marquis de las Romerias an enthielten sich die Provinzen Asturien und Galicien, die sich bis dahin durch ihren allgemeinen Widerstand gegen die Franzosen besonders ausgezeichnet hatten, jeder Teilnahme an dem Unabhängigkeitskriege, wenn ihnen nicht unmittelbar die Gefahr einer Invasion drohte. Auch in Valencia, wo sich neue Aussichten zu eröffnen schienen, solange das Volk sich selbst überlassen war und seine eigenen Führer wählte, wurde der revolutionäre Geist durch den Einfluß der Zentralregierung unterdrückt.
1 der Wallfahrten
Seite der nichtveröffentlichten Handschrift von Karl Marx aus der Artikelreihe „Das revolutionäre Spanien"

Nicht zufrieden damit, daß die Provinz dem Befehl eines Don Jose Caro unterstellt wurde, entsandte die Zentraljunta auch noch als „ihren eigenen" Kommissar den Baron Labazora. Dieser Baron verübelte es der Provinzialjunta, daß sie manche Befehle von oben nicht befolgt hatte, und kassierte ihre Verfügung, die klugerweise die Besetzung vakanter Stellen an Domkapiteln, geistlichen Pfründen und Komtureien eingestellt und deren Einkünfte zum Besten von Militärspitälern bestimmt hatte. Daher erbitterte Feindschaft zwischen der Zentraljunta und der von Valencia, daher die spätere Lethargie Valencias unter der liberalen Verwaltung des Marschalls Suchet, daher seine Bereitwilligkeit, Ferdinand VII. bei seiner Rückkehr gegen die damalige revolutionäre Regierung zum König zu proklamieren. In Cadiz, dem revolutionärsten Orte des damaligen Spaniens, verursachte am 22. und 23. Februar 1809 die Anwesenheit eines Kommissars der Zentraljunta, des dummen und eingebildeten Marquis de Villel, den Ausbruch einer Empörung, die die verhängnisvollsten Folgen hätte haben können, wenn sie nicht rechtzeitig in das Fahrwasser des Unabhängigkeitskrieges geleitet worden wäre. Es gibt kein besseres Beispiel für die Umsicht, die die Zentraljunta bei der Ernennung ihrer Kommissare walten ließ, als die Delegation des Senor Lozano de Torres zum Herzog von Wellington. Während er in serviler Schmeichelei vor dem englischen General katzbuckelte, berichtete er heimlich an die Junta, die Beschwerden des Generals über mangelhafte Versorgung seien völlig unbegründet. Wellington kam dieser Doppelzüngigkeit des Schurken auf die Spur und jagte ihn mit Schimpf und Schande aus seinem Lager. Die Zentraljunta wäre in der günstigsten Lage gewesen, das durchzuführen, was sie in einer ihrer Proklamationen an das spanische Volk verheißen hatte:
„Es hat der Vorsehung gefallen, daß ihr in dieser schrecklichen Krise keinen Schritt vorwärts und der Unabhängigkeit entgegen tun könnt, der euch nicht gleichzeitig auch einen Schritt näher der Freiheit bringt."
Als die Junta ihre Tätigkeit begann, hatten die Franzosen noch nicht einmal ein Drittel von Spanien in Besitz genommen. Von den bisherigen Autoritäten fand sie entweder überhaupt nichts mehr vor, oder was von ihnen noch vorhanden, war durch ihr Einverständnis mit dem Eindringling ihm entweder völlig unterworfen oder auf sein Geheiß zerstreut. Die Junta hätte die Macht gehabt, jede sozialreformerische Maßnahme, die die Güter und den Einfluß von der Kirche und der Aristokratie auf die Bourgeoisie und die
31 Marx Engels. Werke, Band 10
Bauern übertrug, im Namen der guten Sache der Vaterlands Verteidigung ohne weiteres durchzusetzen. Sie stand unter demselben Glücksstern wie das französische Comite du salut public[229] - die innere Umwälzung wurde gefördert durch die Notwendigkeit, äußere Angriffe abzuwehren; überdies hatten sie das Beispiel einer kühnen Initiative vor sich, wozu bereits einige Provinzen unter dem Druck der Verhältnisse gezwungen worden waren. Aber nicht genug damit, daß sie der spanischen Revolution als Bleigewicht anhing, wirkte sie im Sinne der Konterrevolution, indem sie die alten Autoritäten wiederherstellte, die schon zerbrochenen Ketten neu schmiedete, das revolutionäre Feuer erstickte, wo immer es aufloderte, indem sie selbst nichts tat und andere hinderte,etwas zutun. Am20.Juli 1809,als sie in Sevilla tagte, hielt sogar die englische Tory-Regierung es für notwendig, eine scharfe Protestnote wegen ihres konterrevolutionären Vorgehens an sie zu richten „aus Besorgnis, die allgemeine Begeisterung würde durch sie unterdrückt werden". Es ist einmal irgendwo die Bemerkung gemacht worden, Spanien hätte alle Übel der Revolution erdulden müssen, ohne dadurch an revolutionärer Kraft zu gewinnen. Wenn daran etwas Wahres ist, so bedeutet es nichts anderes als eine vollständige Verurteilung der Zentraljunta. Wir hielten es für um so notwendiger, bei diesem Punkt zu verweilen, weil kein europäischer Historiker bis jetzt seine entscheidende Bedeutung erfaßt hat. Nur unter dem Regime der Zentraljunta war es möglich, die Forderungen und Bedürfnisse der nationalen Verteidigung mit der Umwandlung der spanischen Gesellschaft und der Emanzipation des nationalen Geistes zu vereinigen, ohne die jede politische Verfassung zerstieben muß wie ein Phantom bei dem geringsten Zusammenstoß mit dem wirklichen Leben. Die Cortes befanden sich in ganz anderen Verhältnissen - zurückgedrängt auf einen abgelegenen Punkt der Pyrenäischen Halbinsel, zwei Jahre lang durch eine belagernde französische Armee von dem Hauptteil der Monarchie abgeschnitten, repräsentierten sie ein ideelles Spanien, während das wirkliche Spanien erobert war oder kämpfte. Zur Zeit der Cortes war Spanien in zwei Teile geteilt. Auf der Isla de Leon - Ideen ohne Taten, im übrigen Spanien Taten ohne Ideen. Im Gegensatz dazu mußte zur Zeit der Zentraljunta die oberste Regierung ein besonders großes Maß von Schwäche, Unfähigkeit und Unwilligkeit entfalten, um einen Unterschied zwischen spanischem Krieg und spanischer Revolution zu schaffen. Die Cortes scheiterten daher nicht, wie französische und englische Schriftsteller behaupten, weil sie revolutionär waren, sondern weil ihre Führer reaktionär waren und den richtigen Zeitpunkt zur revolutionären Aktion versäumten. Moderne spanische Schriftsteller, die sich durch die englisch-französischen Kritiker verletzt fühlten,
waren dennoch nicht imstande, sie zu widerlegen, und heute noch empfinden sie schmerzhaft das Bonmot des Abbe de Pradt: „Das spanische Volk gleicht dem Weibe Sganarells, das geprügelt sein wollte."
V
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4222 vom 30. Oktober 1854] Die Zentraljunta versagte in der Verteidigung ihres Vaterlands, weil sie in ihrer revolutionären Mission versagt hatte. Im Bewußtsein der eigenen Schwäche, der unsicheren Grundlage ihrer Macht und ihrer außerordentlichen Unpopularität, wie konnte sie da wagen, den allen revolutionären Epochen eigentümlichen Rivalitäten, Eifersüchteleien und anmaßenden Prätensionen ihrer Generale anders entgegenzutreten als durch unwürdige Tricks und kleinliche Intrigen? Da sie ständig in Furcht und Argwohn gegen ihre eigenen militärischen Befehlshaber lebte, so dürfen wir Wellington vollen Glauben schenken, wenn er seinem Bruder, dem Marquis von Wellesley, am I.September 1809 schreibt: „Ich fürchte sehr, daß, soweit ich das Vorgehen der Zentraljunta beobachten konnte, sie viel weniger ihr Augenmerk auf militärische Verteidigung und militärische Operationen richtet als auf politische Intrigen und auf Erreichung kleinlicher politischer Ziele." In revolutionären Zeiten, wo alle Bande der Subordination gelockert sind, kann die militärische Disziplin nur aufrechterhalten werden, wenn die Generale unter strengster bürgerlicher Disziplin gehalten werden. Weil die Zentraljunta infolge ihrer disharmonischen Zusammensetzung es niemals fertig brachte, ihre Generale im Zaum zu halten, so vermochten die Generale auch wieder nicht, ihre Soldaten zu bändigen, und bis zum Schluß des Kriegs erreichte die spanische Armee niemals ein Durchschnittsmaß an Disziplin und Subordination. Diese Insubordination wurde noch verstärkt durch den Mangel an Nahrung, Kleidung und allen anderen materiellen Bedürfnissen einer Armee - denn die moralische Verfassung einer Armee hängt, wie Napoleon sich ausdrückte, ganz von ihrer materiellen Verfassung ab. Die Zentraljunta war nicht imstande, die Armee regelmäßig zu versorgen; dazu reichten die Manifeste des armen Poeten Quintana nicht aus, und um ihren Dekreten den nötigen Nachdruck zu verleihen, hätte sie zu denselben revolutionären Maßnahmen greifen müssen, die sie in den Provinzen verurteilt hatte. Sogar
die allgemeine Wehrpflicht ohne Ausnahmen und ohne Rücksicht auf Privilegien und die jedem geborenen Spanier garantierte Möglichkeit, in der Armee jede Rangstufe erklimmen zu können, waren das Werk der Provinzialjuntas und nicht der Zentraljunta. Waren also einerseits die Niederlagen der spanischen Armee hervorgerufen durch die konterrevolutionäre Unfähigkeit der Zentraljunta, so drückten diese Mißgeschicke andrerseits wieder diese Regierung noch mehr herab, und in dem Maße, als sie zum Gegenstand der öffentlichen Mißachtung und des öffentlichen Mißtrauens wurde, wuchs ihre Abhängigkeit von unfähigen, aber anmaßenden militärischen Befehlshabern. Obzwar überall geschlagen, tauchte die spanische stehende Armee dennoch immer wieder überall auf. Mehr als zwanzigmal zerstreut, war sie stets wieder bereit, dem Feind entgegenzutreten, und erschien oft nach einer Niederlage wieder in erneuter Stärke. Es hatte keinen Zweck, sie zu schlagen, denn bei ihrer raschen Flucht war ihr Verlust an Menschen meistens gering, und aus dem Verlust an Gebiet machte sie sich nichts. Nachdem sie sich hastig auf die Sierras zurückgezogen, konnte man sicher sein, daß sie sich wieder sammeln und, verstärkt durch neuen Zuzug, wieder auftauchen würde, wenn man sie am wenigsten erwartete, und war sie auch nicht fähig, den Franzosen Widerstand zu leisten, so war sie doch imstande, sie in steter Bewegung zu halten und zu zwingen, ihre Kräfte zu zersplittern. Glücklicher als die Russen, hatten sie es nicht einmal nötig, erst zu sterben, um von den Toten auferstehen zu können. Die verhängnisvolle Schlacht von Ocana am 19. November 1809 war die letzte große reguläre Schlacht, die die Spanier ausfochten; von dieser Zeit an beschränkten sie sich auf den Guerillakrieg. Schon die Tatsache, daß sie die regelrechte Kriegführung aufgaben, beweist die Verdrängung der nationalen durch lokale Regierungszentren. Als die Mißerfolge der stehenden Armee sich regelmäßig wiederholten, wurde die Erhebung der Guerillas allgemein, und die Masse des Volkes dachte kaum mehr an die nationalen Niederlagen, sondern berauschte sich an den lokalen Erfolgen seiner Helden. In diesem einen Punkt wenigstens teilte die Zentraljunta die allgemeinen Illusionen. „Von einer Guerillaaffäre wurden in der ,Gaceta* genauere Berichte gebracht als von der Schlacht von Ocana." So wie Don Quixote mit seiner Lanze gegen das Schießpulver protestiert hatte, so protestierten die Guerillas gegen Napoleon, nur war der Erfolg ein anderer. „Diese Guerillas", sagt die „Oestreichische militärische Zeitschrift", (Band 1,1821) „trugen sozusagen ihre Basis in sich selbst, und jede Unternehmung gegen sie endete mit einem verschwundenen Objekte,"
Man muß in der Geschichte des Guerillakrieges drei Perioden unterscheiden. In der ersten griff die Bevölkerung ganzer Provinzen zu den Waffen und führte einen Freischärlerkrieg, wie in Galicien und Asturien. In der zweiten betrieben Guerillabanden, die sich aus den Resten der spanischen Armeen, aus spanischen Deserteuren der französischen Armeen, aus Schmugglern etc. gebildet hatten, den Krieg als ihre eigene Sache, unabhängig von jedem fremden Einfluß und nur, soweit er ihren unmittelbaren Interessen diente. Durch glückliche Zufälle und Umstände machten sie sich häufig zu Herren ganzer Bezirke. Solange die Guerillas sich in dieser Weise zusammenfanden, flößten sie als Ganzes wohl keinen Schrecken ein, waren aber nichtsdestoweniger den Franzosen äußerst gefährlich. Sie bildeten die Grundlage einer tatsächlichen Volksbewaffnung. Bot sich die Gelegenheit zu einem Beutezug, oder plante man ein gemeinsames Unternehmen, so fanden sich die rührigsten und verwegensten Elemente der Bevölkerung ein, und diese vereinigten sich dann mit den Guerillas. Mit äußerster Schnelligkeit stürzten sie sich auf ihre Beute oder stellten sich in Schlachtordnung auf, je nachdem es das Unternehmen erheischte. Häufig kam es vor, daß sie einen ganzen Tag einem wachsamen Feind gegenüberstanden, nur um einen Kurier abzufangen oder Vorräte zu ergattern. Auf diese Art hatte der jüngere Mina den Vizekönig von Navarra abgefangen, der von Joseph Bonaparte eingesetzt war, und ebenso hatte Julian den Kommandanten von Ciudad Rodrigo zum Gefangenen gemacht. War ihr Vorhaben ausgeführt, so ging jeder einzelne wieder seines Weges, und man konnte bewaffnete Männer sich nach allen Richtungen zerstreuen sehen; die Bauern aber, die sich angeschlossen hatten, kehrten ruhig wieder zu ihrer gewohnten Beschäftigung zurück, „ohne daß ihre Abwesenheit auch nur bemerkt worden wäre". Dadurch war der Verkehr auf allen Wegen unterbunden. Tausende von Feinden waren zur Stelle, und dabei wurde kein einziger sichtbar. Kein Kurier konnte abgesandt, ohne abgefaßt, kein Proviant verschickt, ohne abgefangen, kurz, keine Bewegung unternommen, ohne von Hunderten von Augen beobachtet zu werden. Dabei aber gab es keine Mittel, eine derartige Verbindung an der Wurzel zu fassen. Die Franzosen mußten unaufhörlich gerüstet sein gegen einen Feind, der, obwohl unausgesetzt auf der Flucht, doch immer wieder auftauchte, der überall war, ohne daß man ihn je zu Gesicht bekam, da ihm die Berge als Schlupfwinkel dienten. Abbe de Pradt sagt:
„Es waren weder Schlachten noch Zusammenstöße, die die Franzosen erschöpften, sondern die unaufhörlichen Quälereien eines unsichtbaren Feindes, der sich im Volk verlor, wenn man ihn verfolgte, um aus demselben alsbald wieder mit erneuter Kraft
emporzutauchen. Der Lowe in der Fabel, den die Mücke zu Tode peinigt, gibt ein getreues Bild der französischen Armee." In ihrer dritten Periode äfften die Guerillas ein regelrechtes stehendes Heer nach, verstärkten ihre Korps auf 3000 bis 6000 Mann, hörten auf, die Sache ganzer Bezirke zu sein, und gerieten in die Hände einiger weniger Führer, die sie für ihre eigenen Zwecke mißbrauchten. Diese Änderung des Systems verschaffte den Franzosen bei ihren Kämpfen mit den Guerillas beträchtliche Vorteile. Durch ihre große Zahl wurde es den Guerillas unmöglich, sich wie bisher zu verstecken und plötzlich zu verschwinden, ohne sich zum Kampf stellen zu müssen; sie wurden jetzt häufig eingeholt, geschlagen, zerstreut und für einige Zeit außerstande gesetzt, weitere Beunruhigung zu verursachen. Vergleicht man die drei Perioden des Guerillakriegs mit der politischen Geschichte Spaniens, so findet man, daß sie die entsprechenden Grade darstellen, bis zu denen der konterrevolutionäre Geist der Regierung die Begeisterung des Volkes nach und nach abgekühlt hatte. Im Anfang hatte sich die ganze Bevölkerung erhoben, dann wurde von Guerillabanden der Freischärlerkrieg geführt, dessen Reserven ganze Bezirke bildeten, und schließlich endeten sie in losen Korps, die stets auf dem Punkt standen, zu Banditen zu werden oder auf das Niveau stehender Regimenter herabzusinken. Entfremdung von der obersten Regierung, gelockerte Disziplin, unaufhörliches Mißgeschick, beständige Formierung, Auflösung und Wiederformierung - und das sechs Jahre lang in allen Kadern - mußten der Gesamtheit der spanischen Armee das Gepräge des Prätorianertums geben und sie gleichermaßen zum Werkzeug oder zur Peitsche ihrer Führer werden lassen. Die Generale selbst hatten notwendigerweise entweder an der Zentralregierung teilgenommen, oder sie hatten sich mit ihr gestritten oder gegen sie konspiriert; stets aber hatten sie das Gewicht ihres Schwerts in die politische Waagschale geworfen. So hatte Cuesta, der später das Vertrauen der Zentraljunta in dem selben Maße zu gewinnen schien, wie er ihre Schlachten verlor, mit dem Consejo Real zu konspirieren begonnen und die Abgeordneten der Zentraljunta für Leon gefangengesetzt. General Moria, selbst Mitglied der Zentraljunta, ging in das bonapartistische Lager über, nachdem er Madrid den Franzosen ausgeliefert hatte. Der geckenhafte Marquis de las Romerias, ebenfalls ein Mitglied der Junta, konspirierte gegen sie mit dem aufgeblasenen Francisco Palafox, mit dem nichtswürdigen Montijo und mit der aufrührerischen Junta von Sevilla. Die Generale Castanos, Blake, La Bisbai (ein O'Donnell) figurierten nacheinander als Regenten zur Zeit der Cortes und intrigierten ununterbrochen. Der Generalkapitän von Valencia, Don Xavier
Elio, lieferte Spanien schließlich auf Gnade und Ungnade an Ferdinand VII. aus. Das prätorianische Element war sicher unter den Generalen stärker vertreten als unter ihren Truppen. Auf der anderen Seite bildeten dieArmeeunddieGuerilleros-die während des Kriegs einen Teil ihrer Führer, wie Porlier, Lacy, Eroles und Villacampa, aus den Reihen der hervorragendsten Linienoffiziere genommen hatten, während die Linie wiederum später Guerillaführer, wie Mina, Empecinado und andere, aufnahm - den revolutionärsten Teil der spanischen Gesellschaft; sie rekrutierten sich aus allen Kreisen, eingeschlossen die ganze feurige, strebsame und patriotische Jugend, alle, die dem einschläfernden Einfluß der Zentralregierung nicht zugänglich waren und sich von den Fesseln des ancien regime befreit hatten; ein Teil von ihnen, darunter Riego, kehrte nach mehrjähriger Gefangenschaft aus Frankreich zurück. Wir brauchen daher durchaus nicht überrascht zu sein über den Einfluß, den die spanische Armee in späteren Bewegungen ausübte; weder wenn sie die revolutionäre Initiative ergriff, noch wenn sie durch ihr Prätorianertum die Revolution schädigte. Die Guerillas selbst mußten, das ist klar, nachdem sie so viele Jahre auf dem Schauplatz blutiger Kämpfe agiert, die Gewohnheiten von Landstreichern angenommen und allen ihren Leidenschaften des Hasses, der Rache und der Plünderungswut freien Lauf gelassen hatten, in Friedenszeiten einen höchst gefährlichen Mob bilden, der stets auf jeden Wink bereit war, im Namen irgendeiner Partei oder irgendeines Prinzips für denjenigen aufzutreten, der gut bezahlte oder den willkommenen Vorwand zu einem Plünderungsstreifzug bot.
VI
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4244 vom 24. November 1854} Am 24. September 1810 versammelten sich die außerordentlichen Cortes auf der Isla de Leon; am 20. Februar 1811 verlegten sie ihre Sitzungen von da nach Cadiz; am 19.März 1812 verkündeten sie die neue Konstitution, und am 20. September 1813 schlössen sie ihre Sitzungen, drei Jahre nach deren Eröffnung. Die Umstände, unter denen dieser Kongreß zusammentrat, sind ohnegleichen in der Geschichte. Kein gesetzgebender Körper hatte je zuvor seine Mitglieder aus so verschiedenen Teilen der Weltkugel zusammenberufen, keiner hatte je zuvor über so gewaltige Gebiete in Europa, Amerika und Asien, über so verschiedene Rassen und so verwickelte Interessen zu bestimmen
gehabt wie dieser; und das zu einer Zeit, wo fast ganz Spanien von den Franzosen okkupiert war und der Kongreß selbst, von Spanien buchstäblich durch feindliche Armeen abgeschnitten und auf einen schmalen Landstreifen verbannt, angesichts einer ihn umgebenden und belagernden Armee seine Gesetze erlassen mußte. Von dem entfernten Winkel der Isla Caditana aus wollten diese Männer die Grundlage zu einem neuen Spanien legen, wie ihre Vorväter dies von den Bergen von Cavadonga und Sobrarbe[2301 aus getan hatten. Wie sollen wir das merkwürdige Phänomen dieser Konstitution von 1812 erklären, die später die gekrönten Häupter Europas in ihrer Versammlung zu Verona als die aufwieglerischste Ausgeburt des Jakobinismus brandmarkten, wie erklären, weshalb diese Konstitution dem Kopfe des alten mönchischen und absolutistischen Spaniens gerade zu einer Zeit entsprang, wo es ganz in einem heiligen Krieg gegen die Revolution aufzugehen schien? Wie sollen wir es andrerseits erklären, daß diese selbe Konstitution plötzlich einem Schatten gleich verschwand - gleich dem „sueno de sombra", sagen die spanischen Historiker -, als sie mit einem lebenden Bourbonen in Berührung kam? Wenn schon die Entstehung dieser Konstitution ein Rätsel ist, so ist es ihr Verschwinden nicht minder. Um das Rätsel zu lösen, wollen wir mit einem kurzen Kommentar eben dieser Konstitution von 1812 beginnen, die die Spanier später noch zweimal verwirklichen wollten - zuerst in dem Zeitraum von 1820 bis 1823 und dann im Jahre 1836. Die Konstitution von 1812 besteht aus 384 Artikeln und umfaßt folgende zehn Abschnitte: 1. Die spanische Nation und die Spanier; 2. das Territorium Spaniens, seine Religion und Regierung und die spanischen Bürger; 3. die Cortes; 4. der König; 5. die Gerichtshöfe und die Verwaltung der Zivil- und Kriminaljustiz; 6. die innere Regierung der Provinzen und Städte; 7. die Steuern; 8. die Nationalkriegsmacht; 9. der öffentliche Unterricht; 10. die Beobachtung der Konstitution und die Art, wie man verfährt, um Veränderungen darin vorzunehmen. Ausgehend von dem Grundsatz, daß
„die Souveränität ihrem Wesen nach im Volke wohnt, dem deshalb ausschließlich das Recht zusteht, seine Grundgesetze aufzustellen",
proklamiert die Konstitution nichtsdestoweniger eine Teilung der Gewalten; hiernach „wird die gesetzgebende Gewalt in die Cortes in Gemeinschaft mit dem König verlegt", „ist die Ausführung der Gesetze dem König anvertraut"; „kommt die Gewalt, die Gesetze in Zivil- und Kriminalsachen in Anwendung zu bringen, ausschließlich den Gerichtshöfen zu. Weder die Cortes noch der König können in irgendeinem Falle
richterliche Funktionen ausüben, die schon anhängigen Prozesse zurücknehmen oder schon entschiedene noch einmal vornehmen lassen." Die Basis der Nationalrepräsentation ist allein die Bevölkerung; auf je 70000 Seelen kommt ein Deputierter. Die Cortes bestehen aus einem Haus, dem der Gemeinen, und die Wahl der Deputierten erfolgt in allgemeinen Wahlen. Das Wahlrecht genießen alle Spanier mit Ausnahme vonHausgesinde, Bankrotteuren und Verbrechern. Nach dem Jahre 1830 darf kein Bürger dieses Recht ausüben, der nicht lesen und schreiben kann. Die Wahl erfolgt jedoch indirekt, sie muß die drei Stufen der Kirchspiel-, Bezirks- und Provinzial wählen passieren. Eine bestimmte Vermögensqualifikation gibt es nicht für einen Deputierten. Wohl muß laut Artikel 92 „ein Deputierter der Cortes, um erwählt werden zu können, ein verhältnismäßiges jährliches Einkommen von eigentümlich einem zugehörenden Gütern besitzen", aber Artikel 93 hebt den vorhergehenden für so lange auf, bis die Cortes bei ihrem späteren Zusammentreten erklären werden, es sei die Zeit gekommen, wo er in Wirksamkeit tritt. Der König hat weder das Recht, die Cortes aufzulösen noch sie zu vertagen; sie versammeln sich alljährlich in der Hauptstadt am 1 .März, ohne einberufen zu werden, und tagen mindestens drei Monate hintereinander. Alle zwei Jahre werden neue Cortes gewählt, und kein Deputierter kann nacheinander in zwei Cortes sitzen, d.h., er kann erst nach Ablauf der nächsten Cortes nach zwei Jahren wiedergewählt werden. Kein Deputierter darf Belohnungen, Pensionen oder Würden vom König fordern oder annehmen. Minister, Staatsräte und diejenigen, die beim königlichen Hofe ein Amt bekleiden, sind als Deputierte für die Cortes nicht wählbar. Kein Regierungsbeamter darf als Deputierter in die Cortes von der Provinz gewählt werden, in der er sein Amt ausübt. Um die Deputierten für ihre Ausgaben zu entschädigen, sollen die betreffenden Provinzen ein Tagegeld zahlen, das die Cortes im zweiten Jahre jeder Generaldeputation für die Deputation aussetzen werden, die ihnen folgen wird. Die Cortes können nicht in Gegenwart des Königs beratschlagen. In den Fällen, wo die Minister im Namen des Königs den Cortes einige Vorschläge machen, sollen sie auf so lange und in der Art, wie die Cortes es bestimmen werden, den Diskussionen beiwohnen und sprechen, aber bei der Abstimmung nicht zugegen sein. Der König, der Prinz von Asturien und die Regenten müssen vor den Cortes auf die Konstitution schwören; diese entscheiden über jede faktische oder rechtliche Frage, die sich anläßlich der Thronfolge ergeben mag, und haben, wenn nötig, eine Regentschaft zu wählen. Die Cortes müssen alle Verträge über Offensivbündnisse oder über Subsidien und den Handel vor ihrer Ratifikation genehmigen, haben den Zutritt fremder Truppen ins Königreich zu gestatten
oder zu verhindern, verfügen die Errichtung oder Abschaffung von Stellen bei den durch die Konstitution errichteten Tribunalen und ebenso die Errichtung oder Abschaffung von Staatsämtern; ferner haben sie alle Jahre auf Vorschlag des Königs die Stärke der Land- und Seestreitkräfte in Friedens- und Kriegszeiten zu bestimmen; für die Armee, die Flotte und Nationalmiliz, wie alle verschiedenen Zweige, woraus sie bestehen, Verordnungen zu erlassen; die Ausgaben der Staatsverwaltung festzusetzen; jährlich die Steuern zu bestimmen, im Fall es notwendig ist, auf den Kredit der Nation Anleihen aufzunehmen; das Geldwesen sowie Gewichts- und Maßsystem zu regeln; einen allgemeinen Plan für den öffentlichen Unterricht zu entwerfen, die politische Preßfreiheit zu schützen, die Verantwortlichkeit der Minister wirklich und wirksam herzustellen usw. Dem König steht bloß ein aufschiebendes Veto zu, das er während zweier aufeinanderfolgender Sessionen ausüben darf; wird aber derselbe Gesetzentwurf ein drittes Mal vorgelegt und von den Cortes des nächsten Jahres angenommen, so gilt die Zustimmung des Königs als gegeben, und er muß sie wirklich erteilen. Bevor die Cortes eine Session schließen, setzen sie einen aus sieben ihrer Mitglieder bestehenden permanenten Ausschuß ein, der in der Hauptstadt bis zum nächsten Zusammentritt der Cortes tagt und ermächtigt ist, die strikte Einhaltung der Konstitution und die genaue Ausführung der Gesetze zu überwachen, den nächsten Cortes über jede Gesetzesverletzung zu berichten, die er wahrgenommen hat, und in kritischen Zeiten außerordentliche Cortes zusammenzuberufen. Der König darf das Land ohne Zustimmung der Cortes nicht verlassen. Zur Eingehung einer Ehe braucht er die Einwilligung der Cortes. Die Cortes setzen für den Hofhalt des Königs jährlich eine Summe aus. Der einzige Geheime Rat des Königs ist der Staatsrat, dem kein Minister angehören darf und der aus vierzig Personen besteht - aus vier Geistlichen, vier Granden von Spanien sowie aus hervorragenden Verwaltungsbeamten; sie alle werden vom König aus einer von den Cortes aufgestellten Liste von hundertzwanzig Personen ausgewählt; kein Deputierter kann Mitglied des Staatsrats werden, und kein Ratsmitglied darf Ämter, Würden oder Anstellungen vom König annehmen. Die Staatsräte dürfen nicht entlassen werden ohne ausreichende Gründe, die vor dem Obersten Gerichtshof zu erweisen sind. Die Cortes bestimmen das Gehalt dieser Räte, die der König in allen wichtigen Fragen hören muß und die die Kandidaten für geistliche und gerichtliche Ämter ernennen. In den Paragraphen, die sich mit der Gerichtsbarkeit befassen, werden alle alten Consejos abgeschafft, eine neue Organisation der Gerichtshöfe wird eingeführt, ein Oberster Gerichtshof errichtet,
der die Minister im Anklagefall zu verhören hat, sich mit allen Fällen der Entlassung oder Amtssuspendierung von Staatsräten und Gerichtsbeamten befassen muß usw. Kein Prozeß darf begonnen werden, ohne daß ein Versöhnungsversuch nachgewiesen ist. Tortur, Zwang und Vermögenskonfiskation werden abgeschafft. Auch alle Ausnahmegerichte sind abgeschafft, bis auf die militärischen und die geistlichen, gegen deren Entscheidungen jedoch an den Obersten Gerichtshof appelliert werden kann. Für die innere Verwaltung der Städte und Gemeinden (Gemeinden sollen, wo sie noch nicht existieren, in allen Bezirken mit einer Bevölkerung von tausend Seelen gebildet werden) sollen Ayuntamientos geschaffen werden aus einem oder mehreren Magistratsbeamten, Ratsherren und öffentlichen Räten, über die der Polizeipräsident (corregidor) den Vorsitz führt und die in allgemeinen Wahlen gewählt werden. Kein im Amt befindlicher oder durch den König angestellter öffentlicher Beamter ist als Magistratsperson, Ratsherr oder öffentlicher Rat wählbar. Die städtische Tätigkeit soll öffentliche Pflicht sein, von der niemand ohne zwingende rechtliche Ursache befreit sein soll. Die munizipalen Körperschaften sollen alle ihre Pflichten unter der Aufsicht der Provinzialdeputation ausüben. Die politische Regierung der Provinzen soll dem Gouverneur (jefe politico) anvertraut sein, den der König ernennt. Dieser Gouverneur ist verbunden mit einer Deputation, deren Vorsitzender er ist und die" von den Bezirken gewählt wird, sobald sie sich zu den allgemeinen Wahlen der Mitglieder für die neuen Cortes versammeln. Diese Provinzialdeputationen bestehen aus sieben Mitgliedern, denen ein von den Cortes besoldeter Sekretär assistiert. Die Sitzungen dieser Deputationen sollen höchstens neunzig Tage im Jahre dauern. Gemäß den ihnen übertragenen Pflichten und Vollmachten, können sie als ständige Kommissionen der Cortes betrachtet werden. Alle Mitglieder der Ayuntamientos und der Provinzialdeputationen schwören beim Amtsantritt den Treueid auf die Konstitution. Was die Steuern anbelangt, sind alle Spanier ohne Unterschied verpflichtet, im Verhältnis zu ihren Mitteln zu den Staatsausgaben beizutragen. Sämtliche Zollämter sollen abgeschafft werden, mit Ausnahme derjenigen in den Seehäfen oder an der Grenze. Alle Spanier sind ausnahmslos militärpflichtig, und neben der stehenden Armee sollen in allen Provinzen Korps der Nationalmiliz errichtet werden, die aus den Einwohnern derselben, nach Verhältnis ihrer Bevölkerung und ihres Zustandes, gebildet werden. Endlich darf die Konstitution von 1812 auch nicht in irgendwelchen Einzelheiten angetastet, verändert oder korrigiert werden, ehe nicht acht Jahre seit ihrer Einführung verstrichen sind.
Als die Cortes dem spanischen Staate diese neue Grundlage geben wollten, waren sie sich natürlich klar, daß eine solche moderne politische Konstitution völlig unvereinbar mit dem alten sozialen System sei, und sie verkündeten daher eine Anzahl von Dekreten, die eine organische Veränderung der staatlichen Ordnung zum Ziele hatten. So schafften sie die Inquisition ab. Sie beseitigten die herrschaftliche Gerichtsbarkeit mit ihren exklusiven, verbietenden und räuberischen feudalen Privilegien, z.B. Jagd-, Fischerei-, Wald- und Mühlenrecht etc., wobei sie solche ausnahmen, die gegen Entgelt erworben worden waren und die daher entschädigt werden sollten. Sie schafften in der ganzen Monarchie den Zehnten ab, stellten die Besetzung aller geistlichen Stellen ein, soweit diese nicht zur Ausübung des Gottesdienstes notwendig waren, und unternahmen Schritte zur Aufhebung der Klöster und zur Sequestration des klösterlichen Vermögens. Sie beabsichtigten, die unermeßlichen unbebauten Ländereien, die königlichen Domänen und die Gemeindegüter Spaniens in Privateigentum umzuwandeln; eine Hälfte davon sollte zur Tilgung der Staatsschuld verkauft werden, ein Teil als patriotische Entschädigung durch das Los an die demobilisierten Teilnehmer aus dem Unabhängigkeitskrieg verteilt und ein dritter Teil, ebenfalls gratis durch das Los, der armen Bauernschaft, die Grundbesitz haben wollte, aber nicht imstande war, ihn zu kaufen, zugewiesen werden. Sie gestatteten die Umzäunung des Weidelands und anderen Grundbesitzes, was vordem verboten war. Sie schafften die absurden Gesetze ab, die verhinderten, daß Weideland in Ackerland und Ackerland in Weideland umgewandelt wird, und befreiten den Ackerbau allgemein von den alten willkürlichen und lächerlichen Bestimmungen. Sie hoben alle feudalen Gesetze bezüglich der Pachtverträge auf; ebenso das Gesetz, das den Nachfolger auf einem Erblehen von der Verpflichtung befreite, die Pachtverträge zu bestätigen, die sein Vorgänger abgeschlossen hatte, diese Verträge erloschen mit dem Tode desjenigen, der sie eingegangen war. Sie kassierten das Voto de Santiago, worunter ein alter Tribut verstanden wurde, der in einem bestimmten Quantum des besten Brotes und des besten Weines bestand, den die Arbeiter bestimmter Provinzen hauptsächlich zur Erhaltung des Erzbischofs und Kapitels von Santiago zu entrichten hatten. Sie verfügten die Einführung einer großen progressiven Steuer etc. Da sie eine ihrer Hauptaufgaben in der Erhaltung ihrer amerikanischen Kolonien sahen, die sich schon zu erheben begonnen hatten, erkannten sie den amerikanischen Spaniern volle Gleichberechtigung mit denen Europas zu, proklamierten eine allgemeine Amnestie ohne jede Ausnahme, erließen Dekrete gegen die Unterdrückung, unter der die Eingeborenen von Amerika
und Asien seufzten, hoben die Mitas, die Repartimientos etc. auf, schafften das Quecksilbermonopol ab und waren die ersten in Europa bei der Unterdrückung des Sklavenhandels. Der Konstitution von 1812 wurde einerseits nachgesagt - zum Beispiel von Ferdinand VII. (siehe sein Dekret vom 4.Mai 1814) sie sei nichts anderes als eine bloße Nachahmung der französischen Konstitution von 179112311 und ohne Rücksicht auf die historischen Traditionen Spaniens von schwärmerischen Phantasten auf spanischen Boden verpflanzt worden. Andrerseits behauptete man - zum Beispiel Abbe de Pradt („De la Revolution actuelle de l'Espagne") die Cortes hätten sich ganz unvernünftig an überlebte Formeln angeklammert, die sie den alten Fueros entlehnt hätten und die noch den Feudalzeiten angehörten, wo die königliche Macht durch die außerordentlichen Privilegien der Granden in Schach gehalten wurde. Die Wahrheit ist, daß die Konstitution von 1812 eine Reproduktion der alten Fueros ist, jedoch im Lichte der französischen Revolution gesehen und den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft angepaßt. Das Recht zur Rebellion wird zum Beispiel allgemein als eine der kühnsten Neuerungen der jakobinischen Konstitution von 1793 angesehen[232]; man stößt aber auf dieses selbe Recht in den alten Fueros von Sobrarbe, wo es das „Privilegio de la Union" genannt ist. Auch in der alten Konstitution von Kastilien findet man es. Die Fueros von Sobrarbe erlauben dem König, weder Frieden zu schließen, noch Krieg zu erklären, noch Verträge abzuschließen, ohne vorher die Einwilligung der Cortes einzuholen. Der permanente Ausschuß, bestehend aus sieben Mitgliedern der Cortes, der über die strikte Einhaltung der Konstitution während der Vertagung der gesetzgebenden Körperschaft zu wachen hat, bestand von alters her in Aragonien und wurde in Kastilien eingeführt zu der Zeit, als die bedeutendsten Cortes der Monarchie zu einer einzigen Körperschaft vereint wurden. Zur Zeit der französischen Invasion existierte eine ähnliche Einrichtung noch im Königreich Navarra. Eine merkwürdige Schöpfung der Konstitution von 1812 war der Staatsrat, der aus einer dem König von den Cortes vorgelegten Liste von 120 Personen gebildet und von ihnen bezahlt wurde. Er verdankt seine Entstehung der Erinnerung an den verhängnisvollen Einfluß, den die Kamarilla zu allen Zeiten auf die spanische Monarchie ausübte. Der Staatsrat sollte an die Stelle dieser Kamarilla treten. Übrigens finden sich derartige Einrichtungen schon in früheren Zeiten. So war zum Beispiel zur Zeit Ferdinands IV. der König stets von zwölf Bürgern umgeben, die von den kastilischen Städten dazu ausersehen waren, als seine geheimen Räte zu fungieren; 1419 beklagten
sich die Abgesandten der Städte, daß ihre Beauftragten nicht mehr zum Königlichen Rat zugelassen wurden. Die Ausschließung der höchsten Würdenträger und der Mitglieder des königlichen Hofstaats von den Cortes sowie das Verbot für die Deputierten, vom König Ehren oder Ämter anzunehmen, scheint auf den ersten Blick der Konstitution von 1791 entlehnt und ganz natürlich der modernen Teilung der Gewalten zu entspringen, wie sie durch die Konstitution von 1812 sanktioniert wurde. Tatsächlich aber stoßen wir nicht nur in der alten Konstitution von Kastilien auf Präzedenzfälle, sondern wir wissen auch, daß sich das Volk zu verschiedenen Zeiten erhob und die Deputierten erschlug, die Ehren oder Ämter von der Krone angenommen hatten. Was das Recht der Cortes betrifft, im Fall von Minderjährigkeit Regentschaften einzusetzen, so war dieses von den alten kastilischen Cortes während der oft lange währenden Minderjährigkeiten im vierzehnten Jahrhundert ständig praktiziert worden. Es ist wahr, die Cortes von Cadiz entzogen dem König die von jeher geübte Gewalt, die Cortes einzuberufen, aufzulösen oder zu vertagen; aber da sie gerade durch die Art, in der die Könige von ihren Privilegien Gebrauch machten, an Einfluß verloren hatten, so war die Notwendigkeit für sie sonnenklar, dieses Recht zu beseitigen. Die angeführten Tatsachen genügen wohl, zu zeigen, daß die äußerst sorgfältige Begrenzung der königlichen Macht der auffallendste Zug in der Konstitution von 1812 -, wenn sie auch in anderer Hinsicht durch die noch frische und empörende Erinnerung an Godoys verächtlichen Despotismus vollkommen erklärt wäre, ihren Ursprung aus den alten Fueros Spaniens herleitet. Die Cortes von Cadiz übertrugen bloß die Herrschaft von den privilegierten Ständen auf die nationale Vertretung. Wie sehr die spanischen Könige die alten Fueros fürchteten, kann man daraus ersehen, daß, als 1805 eine neue Sammlung der spanischen Gesetze notwendig geworden war, eine königliche Verfügung erschien, der zufolge aus ihr alle Überbleibsel des Feudalismus auszumerzen waren, die die frühere Gesetzsammlung noch enthielt und die einer Zeit entstammten, in der die Schwäche der Monarchie die Könige gezwungen hatte, mit ihren Vasallen Kompromisse einzugehen, die der souveränen Gewalt Abbruch taten. Bedeutete die Wahl der Deputierten durch das allgemeine Stimmrecht auch eine Neuerung, so darf doch nicht vergessen werden, daß die Cortes von 1812 selbst durch das allgemeine Stimmrecht gewählt waren und ebenso alle Juntas; daß eine Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts also eine Verletzung eines vom Volke bereits eroberten Rechts gewesen wäre; und daß endlich eine Wahlberechtigung nach Maßgabe des Besitzes zu einer Zeit, wo
fast aller Grundbesitz Spaniens in der toten Hand aufgespeichert war, die große Masse der Bevölkerung ausgeschlossen hätte. Der Zusammentritt der Vertreter in einem einzigen Hause ist keineswegs der französischen Konstitution von 1791 nachgeahmt, wie es die verdrießlichen englischen Tories darstellen. Unsere Leser wissen bereits, daß seit der Zeit Carlos I. (Kaiser Karls V.) die Aristokratie und die Geistlichkeit ihre Sitze in den Cortes von Kastilien verloren hatten. Aber selbst zu den Zeiten, als die Cortes in Brazas (Zweige) geteilt waren, die die verschiedenen Stände repräsentierten, versammelten sie sich in einem einzigen Saale, nur durch die Sitzordnung getrennt, und gaben gemeinsam ihre Stimmen ab. Von allen Provinzen, in denen zur Zeit der französischen Invasion die Cortes überhaupt noch wirkliche Macht besaßen, hatte nur Navarra die alte Gepflogenheit beibehalten, die Cortes nach Ständen einzuberufen; in den Vascongadas1 aber ließen die ganz und gar demokratischen Körperschaften nicht einmal die Geistlichkeit zu. Außerdem hatten Adel und Geistlichkeit, wenn sie ihre verhaßten Privilegien zu wahren gewußt hatten, längst aufgehört, selbständige politische Körperschaften zu bilden, deren Existenz die Grundlage der Zusammensetzung der alten Cortes bildete. Die Trennung der Gerichts- von der Exekutivgewalt, die die Cortes von Cadiz verfügt hatten, wurde schon seit dem achtzehnten Jahrhundert von den hervorragendsten Staatsmännern Spaniens gefordert; und der allgemeine Haß, den sich der Consejo Real seit dem Beginn der Revolution zugezogen hatte, machte die Notwendigkeit, die Gerichtshöfe auf ihre eigentliche Aktionssphäre zurückzuführen, allgemein spürbar. Der Teil der Konstitution, der sich auf die Munizipalverwaltung der Gemeinden bezieht, ist echt spanischen Ursprungs, wie wir schon in einem früheren Artikel zeigten. Die Cortes stellten nur das alte Münizipalsystem wieder her, indem sie es gleichzeitig seines mittelalterlichen Charakters entkleideten. Die Provinzialdeputationen, die für die innere Verwaltung der Provinzen mit derselben Gewalt ausgestattet waren wie die Ayuntamientos für die Verwaltung der Gemeinden, waren von den Cortes nach dem Muster ähnlicher Institutionen gebildet worden, wie sie zur Zeit der Invasion noch in Navarra, Biskaya und Asturien bestanden. Als sie die Befreiung vom Militärdienst abschafften, sanktionierten die Cortes nur das, was während des Unabhängigkeitskrieges allgemein üblich geworden war. Die Abschaffung der Inquisition bedeutete ebenfalls nichts anderes als die Sanktionierung einer Tatsache; das Heilige Amt, obgleich von der Zentraljunta wieder eingesetzt, hatte den
1 baskischen Provinzen
noch nicht gewagt, seine Tätigkeit wiederaufzunehmen, und seine heiligen Mitglieder waren ganz zufrieden, ihre Gehälter einzustreichen und klugerweise auf bessere Zeiten zu warten. Bei der Abschaffung der feudalen Mißbräuche gingen die Cortes nicht einmal so weit wie die Reformvortchläge der berühmten Denkschrift Jovellanos', die er 1795 dem Consejo Real im Namen der ökonomischen Gesellschaft von Madrid überreichte. Schon zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten die Minister des aufgeklärten Despotismus - Floridabianca und Campomanes - begonnen, Schritte in dieser Richtung zu unternehmen. Auch darf man nicht vergessen, daß gleichzeitig mit den Cortes eine französische Regierung in Madrid saß, die in sämtlichen durch die Armeen Napoleons unterworfenen Provinzen alle klerikalen und feudalen Einrichtungen hinweggefegt und das moderne Verwaltungssystem eingeführt hatte. Die bonapartistischen Blätter stellten es so dar, als sei der ganze Aufstand allein durch die Machenschaften und Bestechungen Englands hervorgerufen worden, unterstützt durch die Mönche und die Inquisition. Wie sehr jedoch der Wetteifer mit der Regierung des Eindringlings die Entscheidungen der Cortes heilsam beeinflußte, geht daraus hervor, daß die Zentraljunta selbst in ihrem Dekret vom September 1809, das die Einberufung der Cortes ankündigt, die Spanier mit folgenden Worten anredet: „Unsere Verleumder sagen, wir kämpften, um die alten Mißbräuche und die eingewurzelten Laster unserer korrupten Regierung zu verteidigen. Beweist ihnen, daß euer Kampf dem Glück und der Unabhängigkeit eures Landes gilt; daß ihr von nun an nicht mehr von dem unbestimmten Willen oder der wechselnden Laune eines einzelnen abhängen wollt" etc.
Andrerseits finden sich in der Konstitution von 1812 unverkennbar die Symptome eines Kompromisses zwischen den liberalen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts und den finsteren Traditionen der Pfaffenherrschaft. Es genügt, Artikel 12 zu zitieren, der besagt, „die Religion der spanischen Nation ist für immer die römisch-katholische, apostolische, die einzig wahre Religion. Die Nation schützt sie durch weise und gerechte Gesetze und verbietet die Ausübung jeder anderen." Oder Artikel 173, der dem König befiehlt, bei seiner Thronbesteigung folgenden Eid vor den Cortes abzulegen: „N., durch die Gnade Gottes und die Konstitution der spanischen Monarchie König von Spanien, schwöre ich beim Allmächtigen und den heiligen Evangelisten, daß ich die römisch-katholische, apostolische Religion verteidigen und erhalten werde, ohne eine andere im Königreich zu dulden."
Wir kommen also bei einer sorgfältigen Prüfung der Konstitution von 1812 zu dem Schluß, daß sie, weit entfernt davon, eine sklavische Nachahmung der französischen Konstitution von 1791 zu sein, vielmehr als eine ursprüngliche und originelle Schöpfung spanischen geistigen Lebens anzusprechen ist, die alte nationale Einrichtungen wiederherstellte, Reformen einführte, die von den berühmtesten Schriftstellern und Staatsmännern des achtzehnten Jahrhunderts laut gefordert wurden und den Vorurteilen des Volkes unvermeidliche Konzessionen machte.
VII
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4250 vom I.Dezember 1854] Verschiedenen günstigen Umständen war es zu verdanken, daß in Cadiz die fortschrittlichsten Männer Spaniens zusammenkamen. Als die Wahlen stattfanden, hatte die Bewegung noch nicht nachgelassen, und gerade der Unwille, den die Zentraljunta herausgefordert hatte, kam ihren Gegnern zugute, die zu einem großen Teil der revolutionären Minderheit des Landes angehörten. Beim ersten Zusammentritt der Cortes waren fast ausschließlich die demokratischsten Provinzen Katalonien und Galicien vertreten; die Deputierten von Leon, Valencia, Murcia und den Balearen kamen erst drei Monate später. Die reaktionärsten Provinzen im Innern des Landes hatten, abgesehen von wenigen Orten, keine,Erlaubnis, Wahlen für die Cortes vorzunehmen. Für die verschiedenen Königreiche, Städte und Orte des alten Spaniens, die durch die französischen Armeen gehindert wurden, Deputierte zu wählen, und für die überseeischen Provinzen Neuspaniens, deren Deputierte nicht rechtzeitig eintreffen konnten, wurden Ersatzvertreter gewählt aus der zahlreichen Schar derer, die durch die Kriegswirren aus den Provinzen nach Cadiz verschlagen worden waren, und aus den zahlreichen Südamerikanern, Kaufleuten, Eingeborenen und anderen, die Neugierde oder Geschäfte dorthin getrieben hatten. So kam es, daß die Vertreter dieser Provinzen Leute waren, die mehr Interesse an Neuerungen hatten und von den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts mehr durchdrungen waren, als das der Fall gewesen wäre, wenn die Provinzen selbst gewählt hätten. Schließlich war der Umstand von entscheidender Bedeutung, daß die Cortes gerade in Cadiz zusammentraten, denn diese Stadt galt damals als die radikalste im ganzen Königreich und glich mehr einer amerikanischen als einer spanischen Stadt. Ihre Bevölkerung füllte die Galerien des Saales,
32 Marx Engels. Werke, Band 10
in dem die Cortes tagten, und hielt die Reaktionäre durch ein System von Einschüchterung und Druck von außen im Zaum, wenn deren Opposition sich allzu widerwärtig breit machte. Es wäre indes ein großer Irrtum, anzunehmen, daß die Mehrheit der Cortes aus Reformern bestand. Die Cortes waren in drei Parteien geteilt - die Serviles, die Liberales (diese Parteibezeichnungen gingen von Spanien auf ganz Europa über) und die Americanos[233], die mit der einen oder der anderen Partei stimmten, je nachdem ihr eigenes Interesse es erforderte. Die Serviles, an Zahl weit überlegen, wurden von der Tatkraft, dem Eifer und dem Enthusiasmus der liberalen Minderheit mitgerissen. Die geistlichen Deputierten, die die Mehrheit der Serviles bildeten, waren stets bereit, die königlichen Vorrechte preiszugeben, teils in Erinnerung an den alten Gegensatz zwischen Kirche und Staat, teils weil sie nach Popularität haschten, um sich dadurch die Privilegien und Vorrechte ihrer Kaste zu erhalten. Während der Debatten über das allgemeine Stimmrecht, das Einkammersystem, die Aufhebung des Vermögenszensus und über das aufschiebende Veto hielt sich die geistliche Partei stets zum demokratischeren Teil der Liberales gegen die Anhänger der englischen Konstitution. Einer von ihnen, der Kanonikus Canedo, später Erzbischof von Burgos, ein unerbittlicher Verfolger der Liberales, wandte sich an Senor Munoz Torrero, gleichfalls Kanonikus, aber Anhänger der Liberales, mit folgenden Worten:
„Ihr willigt darein, daß der König im Besitz einer ungeheuren Macht verbleibt, aber als Priester müßtet ihr doch viel eher die Sache der Kirche als die des Königs verfechten."
Zu diesen Kompromissen mit der kirchlichen Partei sahen sich die Liberales gezwungen, wie wir schon an einigen Artikeln der Konstitution von 1812 gezeigt haben. Als über die Preßfreiheit verhandelt wurde, erklärten die Pfaffen sie als „religionsfeindlich". Nach ungemein stürmischen Debatten, in denen erklärt wurde, alle Personen hätten die Freiheit, ohne besondere Erlaubnis ihre Meinung zu äußern, nahmen die Cortes doch einstimmig ein Amendement an, das durch die Einführung des Wortes politisch diese Freiheit auf die Hälfte reduzierte und alle Schriften über religiöse Angelegenheiten der Zensur der geistlichen Autoritäten unterstellte gemäß den Beschlüssen des Konzils von Trient[234]. Als am 18. August 1811 ein Gesetz gegen alle diejenigen votiert wurde, die sich gegen die Konstitution verschwören würden, wurde ein weiteres Gesetz angenommen, wonach jeder, der eine Verschwörung anzettelte, um die spanische Nation zum Abfall vom katholischen Glaubensbekenntnis zu veranlassen, als Verräter verfolgt
werden und den Tod erleiden sollte. Als das Voto de Santiago abgeschafft war, wurde als Entschädigung eine Resolution durchgesetzt, in der die heilige Teresa de Jesus zur Schutzpatronin von Spanien ernannt wurde. Die Liberales hüteten sich auch, die Dekrete zur Abschaffung der Inquisition, der Zehnten, der Klöster usw. vorzuschlagen und durchzusetzen, ehe nicht die Konstitution verkündet war. Von diesem Augenblick an wurde jedoch die Opposition der Serviles innerhalb und die der Geistlichkeit außerhalb der Cortes unerbittlich. Nun, da die Umstände auseinandergesetzt worden sind, denen die Konstitution von 1812 ihren Ursprung und ihre besonderen Merkmale verdankte, bleibt noch immer das Problem: wieso sie bei Ferdinands VII. Rückkehr so plötzlich und ohne Widerspruch verschwinden konnte. Selten hat die Welt ein kläglicheres Schauspiel gesehen. Als Ferdinand am 16. April 1814 in Valencia einfuhr,
„spannte sich das freudig erregte Volk vor seinen Wagen und gab auf jede nur mögliche Art und Weise durch Wort und Tat zu verstehen, daß es das alte Joch wieder auf sich zu nehmen wünschte, indem es rief: ,Lang lebe der absolute König!' .Nieder mit der Konstitution!'"
In allen großen Städten hatte man die Plaza Mayor, den Hauptplatz, „Plaza de la Constitucion" genannt und daselbst einen Stein errichtet, der diese Inschrift trug. In Valencia wurde dieser Stein entfernt und eine provisorische Holzsäule an seine Stelle gesetzt, auf der zu lesen stand: „Real Plaza de Fernando VII". Die Bevölkerung von Sevilla setzte sämtliche bestehenden Behörden ab, wählte andere an ihrer Stelle für alle Ämter, die unter dem alten Regime bestanden hatten, und verlangte von diesen dann die Wiedereinsetzung der Inquisition. Der Wagen des Königs wurde von Aranjuez bis Madrid vom Volke gezogen. Als er ausstieg, nahm ihn der Mob auf die Arme, zeigte ihn im Triumph der ungeheuren Menschenmenge, die vor dem Palast versammelt war, und trug ihn dann in seine Gemächer. Das Wort Freiheit stand in großen bronzenen Lettern über dem Eingang zum Saal der Cortes in Madrid. Der Pöbel eilte hin, um es zu entfernen. Man setzte Leitern an, brach einen Buchstaben nach dem andern gewaltsam aus den Mauern heraus, und so oft einer davon auf das Straßenpflaster geschleudert wurde, erneuerte sich das Triumphgeheul der Zuschauer. Was an Akten der Cortes und an Zeitungen und Flugschriften der Liberales erreichbar war, wurde gesammelt, eine Prozession wurde gebildet, in der die geistlichen Bruderschaften und die weltliche und Ordensgeistlichkeit die Führung übernahmen, die Papiere wurden auf einem der öffentlichen Plätze
aufgestapelt und mit ihnen eine Art politisches Autodafe veranstaltet, worauf die heilige Messe zelebriert und als Ausdruck der Dankbarkeit für den erlebten Triumph das Tedeum gesungen wurde. Bemerkenswerter als diese schamlosen Demonstrationen des städtischen Pöbels, der zum Teil für seine Ausschreitungen bezahlt war, zum Teil gleich den neapolitanischen Lazzaroni die liederliche Herrschaft der Könige und Mönche dem nüchternen Regiment des Bürgertums vorzog, erscheint die Tatsache, daß bei den zweiten allgemeinen Wahlen die Serviles einen entscheidenden Sieg davontrugen. Die konstituierenden Cortes wurden am 20. September 1813 durch die ordentlichen Cortes ersetzt, die ihre Sitzungen am 15. Januar 1814 von Cadiz nach Madrid verlegten. In früheren Artikeln zeigten wir, wie die revolutionäre Partei selbst dazu beitrug, die alten Volks Vorurteile wieder zu erwecken und zu stärken, in der Annahme, daß sich aus ihnen ebenso viele Waffen gegen Napoleon würden schmieden lassen. Wir sahen ferner, wie die Zentraljunta gerade in der Zeit, die es gestattet hätte, soziale Veränderungen Hand in Hand mit Maßregeln zur nationalen Verteidigung vorzunehmen, alles tat, was in ihrer Macht stand, um solche zu verhindern und die revolutionären Bestrebungen der Provinzen zu unterdrücken. Die Cortes von Cadiz hinwiederum, die fast während der ganzen Dauer ihres Bestehens von jeder Verbindung mit Spanien abgeschlossen waren, konnten infolgedessen ihre Konstitution und ihre organischen Dekrete erst dann in die Öffentlichkeit bringen, als die französischen Armeen sich zurückzogen. Die Cortes kamen also sozusagen post factum. Die Gesellschaft, an die sie sich wendeten, war ermüdet, erschöpft, leidend. Wie wäre es auch anders möglich gewesen nach einem so langwierigen, ausschließlich auf spanischem Boden geführten Krieg, einem Krieg, in dem die Armeen unausgesetzt in Bewegung waren, indes die Regierung von heute auf morgen beständig wechselte, und in dem es während sechs voller Jahre in ganz Spanien, von Cadiz bis Pamplona, von Granada bis Salamanca auch nicht einen Tag gab, an dem nicht Blut vergossen worden wäre. Es war kaum zu erwarten, daß eine so erschöpfte Gesellschaft sich für die abstrakten Schönheiten einer wie immer beschaffenen Konstitution besonders begeistern würde. Nichtsdestoweniger wurde die neue Konstitution, als sie zuerst in Madrid und in den von den Franzosen geräumten Provinzen proklamiert wurde, mit „überströmendem Jubel" begrüßt, denn die Massen erwarten bei einem Regierungswechsel stets ein plötzliches Verschwinden ihrer sozialen Übel. Als sie nun entdeckten, daß die Konstitution nicht die ihr zugeschriebenen Wunderkräfte besaß, verwandelten sich die übertriebenen Erwartungen, mit denen man sie bewillkommnet hatte, in die
bitterste Enttäuschung, und bei diesen leidenschaftlichen Südländern ist es nur ein Schritt von der Enttäuschung zum Haß. Es gab auch sonst noch manche besondere Umstände, die hauptsächlich dazu beitrugen, die Sympathien des Volkes dem konstitutionellen Regime zu entfremden. Die Cortes hatten gegen die Afrancesados oder Josephites die strengsten Dekrete erlassen. Teilweise waren sie dazu durch das Rachegeschrei der Bevölkerung und der Reaktionäre veranlaßt worden, die sich aber sofort gegen die Cortes wandten, als die Dekrete, die sie von ihnen erpreßt hatten, zur Ausführung gelangen sollten. Mehr als zehntausend Familien wurden dadurch in die Verbannung geschickt. Eine Horde kleiner Tyrannen überflutete die von den Franzosen geräumten Provinzen; sie spielten sich als Prokonsuln auf und begannen Untersuchungen, Verfolgungen, Verhaftungen und inquisitorische Maßregeln gegen alle einzuleiten, die sich kompromittiert hatten durch ihre Parteinahme für die Franzosen, durch Annahme von Amtern oder Ankauf von Nationaleigentum aus deren Händen etc. Statt den Übergang von der französischen zur nationalen Regierung in versöhnlicher und zurückhaltender Weise zu gestalten, tat die Regentschaft alles, was in ihrer Macht stand, um die Leidenschaften aufzupeitschen und die Schwierigkeiten zu verschärfen, die mit einem solchen Wechsel der Herrschaft untrennbar verknüpft sind. Warum aber tat sie das? Um von den Cortes die Suspendierung der Konstitution von 1812 verlangen zu können, die nach ihrer Behauptung diese aufreizenden Wirkungen hervorrief. En passant sei noch bemerkt, daß alle Regentschaften, diese von den Cortes eingesetzten obersten Exekutivbehörden, regelmäßig von den entschiedensten Gegnern der Cortes und ihrer Konstitution gebildet wurden. Diese merkwürdige Tatsache erklärt sich einfach dadurch, daß die Amerikaner stets mit den Serviles zusammengingen, wenn es sich um die Einsetzung der Exekutivgewalt handelte, deren Schwächung sie für notwendig hielten, um die amerikanische Unabhängigkeit vom Mutterland durchzusetzen; eine bloße Disharmonie zwischen der Exekutive und den souveränen Cortes hielten sie hierfür nicht ausreichend. Die Einführung einer einzigen direkten Steuer auf die Einkünfte aus Grundbesitz sowie aus Industrie und Handel erregte ebenfalls die größte Unzufriedenheit des Volkes gegen die Cortes, noch mehr aber die absurden Dekrete, die die Zirkulation von spanischen Geldsorten, die Joseph Bonaparte hatte prägen lassen, verboten und deren Besitzern befahlen, sie gegen nationale Münzen einzutauschen. Gleichzeitig wurde die Zirkulation von französischem Geld verboten und ein Tarif festgesetzt, zu welchem es in nationale Münze eingewechselt werden sollte. Da sich dieser Tarif sehr von demjenigen unterschied, den die Franzosen 1808 für den
relativen Wert des spanischen und französischen Geldes aufgestellt hatten, so erlitten viele Privatpersonen große Verluste. Diese sinnlose Verfügung trug auch dazu bei, den Preis der wichtigsten Bedarfsartikel zu erhöhen, der ohnehin schon hoch über dem Durchschnitt stand. Die Klassen, die an der Abschaffung der Konstitution von 1812 und an der Wiederherstellung des alten Regimes am meisten interessiert waren - die Granden, die Geistlichkeit, die Mönchsorden und die Juristen -, ließen es an nichts fehlen, die Unzufriedenheit des Volkes aufs äußerste zu schüren, welche ihre Ursache in den unglückseligen Verhältnissen hatte, die die Einführung des konstitutionellen Regimes in Spanien kennzeichneten. Daher der Sieg der Serviles bei den allgemeinen Wahlen von 1813. Nur von seiten der Armee konnte der König ernsthaften Widerstand erwarten; doch General Elio und seine Offiziere brachen den auf die Konstitution geleisteten Eid, proklamierten Ferdinand VII. in Valencia zum König, ohne die Konstitution auch nur zu erwähnen. Dem Beispiel Elios folgten bald die anderen militärischen Befehlshaber. In dem Dekret vom 4. Mai 1814, mit dem Ferdinand VII. die Cortes von Madrid auflöste und die Konstitution von 1812 aufhob, gab er gleichzeitig seinem Haß gegen jeglichen Despotismus Ausdruck, versprach, die Cortes unter den alten gesetzlichen Formen wieder einzuberufen, eine vernünftige Preßfreiheit einzuführen etc. Sein Versprechen hielt er auf die einzige Art und Weise, die dem spanischen Volk für den Empfang gebührte, den es ihm bereitet hatte: er schaffte alle Gesetze der Cortes wieder ab, stellte den vorherigen Stand der Dinge wieder her, setzte die heilige Inquisition wieder ein, rief die Jesuiten zurück, die sein Großvater verbannt hatte, verhängte über die hervorragendsten Mitglieder der Juntas, der Cortes und ihre Anhänger Galeerenstrafen, afrikanisches Gefängnis oder Exil und verurteilte schließlich die berühmtesten Guerillaführer Porlier und de Lacy zum Tode durch Erschießen.
VIII
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4251 vom 2. Dezember 1854] Während des Jahres 1819 wurde in der Umgegend von Cadiz eine Expeditionsarmee zum Zwecke der Wiedereroberung der aufrührerischen amerikanischen Kolonien ausgerüstet. Enrique O'Donnell, Graf La Bisbai, der Onkel von Leopoldo O'Donnell, dem jetzigen spanischen Minister, wurde mit dem Kommando betraut. Die früheren Expeditionen gegen
Spanisch-Amerika hatten in den fünf Jahren seit 1814 14000 Mann verschlungen und waren auf so widerliche und leichtfertige Art in Szene gesetzt worden, daß sie in der Armee sehr verhaßt waren und in dem Ruf standen, eigentlich nur ein heimtückisches Mittel zu sein, um unzufriedene Regimenter loszuwerden. Einige Offiziere, darunter Quiroga, Lopez Banos, San Miguel (der jetzige spanische Lafayette), O'Daly und Arco Aguero, beschlossen, die Unzufriedenheit der Soldaten zu benutzen, um das Joch abzuschütteln und die Konstitution von 1812 zu proklamieren. Als La Bisbai in den Plan eingeweiht wurde, versprach er, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Die Häupter der Verschwörung bestimmten im Einverständnis mit ihm, daß am 9. Juli 1819, demTag der großen Heerschau der Expeditionstruppen, mitten in diesem feierlichen Akt der große Schlag erfolgen sollte. La Bisbai erschien wohl pünktlich bei der Heerschau, statt aber sein Wort zu halten, gab er Befehl, die verschworenen Regimenter zu entwaffnen, schickte Quiroga und die anderen Anführer ins Gefängnis und sandte eilends einen Kurier nach Madrid, sich rühmend, er habe eine überaus schreckliche Katastrophe abgewendet. Beförderung und Orden waren sein Lohn; als aber der Hof später genauere Informationen erhielt, entzog man ihm das Kommando und beorderte ihn in die Hauptstadt zurück. Dies ist derselbe La Bisbai, der 1814, zur Zeit der Rückkehr des Königs nach Spanien, einen seiner Stabsoffiziere mit zwei Briefen zu Ferdinand schickte. Da er örtlich zu weit entfernt war, um des Königs Verhalten beobachten zu können und sein Benehmen danach einzurichten, so verherrlichte La Bisbai in einem der Briefe die Konstitution von 1812 in hochtrabenden Worten, für den Fall, daß der König den Eid auf sie ablegen werde. In dem anderen Briefe stellte er im Gegenteil das konstitutionelle System als einen anarchischen, konfusen Zustand dar, beglückwünschte Ferdinand dazu, es ausgetilgt zu haben, und stellte sich und seine Armee zur Verfügung, um gegen die Rebellen, Demagogen und Feinde von Thron und Altar vorzugehen. Der Offizier lieferte den zweiten Brief ab, der von dem Bourbonen huldvollst entgegengenommen wurde. Ungeachtet dieser Symptome derRebellion, die sich in der Expeditionsarmee zeigten, verharrte die Madrider Regierung, an deren Spitze der Herzog von San Fernando, damaliger Minister des Auswärtigen und Präsident des Kabinetts, stand, in unerklärlicher Apathie und Untätigkeit und tat nichts, um die Expedition zu beschleunigen oder die Armee auf verschiedene Seehafenstädte zu verteilen. Unterdessen einigten sich Don Rafael del Riego, der das zweite Bataillon von Asturien kommandierte, das damals in Las Cabezas de San Juan stationiert war, Quiroga, San Miguel und andere militärische
Führer von der Isla de Le6n, denen es gelungen war, aus dem Gefängnis zu fliehen, zu einem gleichzeitigen Vorstoß. Riegos Position war die bei weitem schwierigste. Die Gemeinde Las Cabezas lag im Mittelpunkt dreier der wichtigsten Quartiere der Expeditionsarmee, dem der Kavallerie in Utrera, dem der zweiten Infanteriedivision in Lebrija und dem eines Guidenbataillons in Arcos, wo sich der Oberbefehlshaber und der Stab befanden. Obwohl das in Arcos stationierte Bataillon die doppelte Stärke des asturischen hatte, gelang es Riego doch am I.Januar 1820, Befehlshaber und Stab zu überrumpeln und gefangenzunehmen. Er proklamierte noch am selben Tage in dieser Gemeinde die Konstitution von 1812, wählte einen provisorischen Alkalden, und nicht zufrieden damit, die ihm übertragene Aufgabe gelöst zu haben, brachte er die Guiden auf seine Seite, überrumpelte das aragonische Bataillon in Bornos, marschierte von Bornos nach Jeres, von Jeres nach Puerto de Santa Maria, proklamierte überall die Konstitution, bis er am 7. Januar Isla de Leön erreichte, wo er die von ihm gemachten Militärgefangenen in der Festung St. Petri einlieferte. Entgegen der früheren Abmachung hatten Quiroga und seine Anhänger sich nicht durch einen Handstreich der Brücke von Suazo und dann der Isla de Leön bemächtigt, sondern waren bis zum 2. Januar untätig geblieben, bis ihnen Oltra, der Bote Riegos, offizielle Nachricht von der Überrumpelung Arcos und der Gefangennahme des Stabs überbrachte. Die Gesamtmacht der Revolutionsarmee, deren Oberbefehl Quiroga übergeben wurde, belief sich auf nicht mehr als 5000 Mann, die sich, als ihre Angriffe auf die Tore von Cadiz abgeschlagen waren, auf der Isla de Leön eingeschlossen sahen.
„Unsere Situation", sagt San Miguel, „war eine außergewöhnliche; diese Revolution, die 25 Tage lang stillstand, ohne einen Zollbreit an Boden zu gewinnen oder zu verlieren, stellte eine der merkwürdigsten politischen Erscheinungen dar."
Die Provinzen Schienen in einen lethargischen Schlummer verfallen. Das dauerte den ganzen Januar. Am Ende des Monats bildete Riego, der befürchtete, das Feuer der Revolution könnte in Isla de Leön ausgelöscht werden, gegen den Rat Quirogas und der anderen Führer eine bewegliche Kolonne von 1500 Mann, marschierte durch einen Teil Andalusiens angesichts einer ihn verfolgenden Macht, die zehnmal stärker war als er, und proklamierte die Konstitution in Algeciras, Ronda, Malaga, Cordoba und anderen Orten. Er wurde überall von den Bewohnern freundlich empfangen, rief aber nirgends ein ernsthaftes Pronunziamiento hervor. Inzwischen schien seinen Verfolgern, die unterdessen einen vollen Monat in nutzlosen Märschen und
Kontermärschen vergeudet hatten, nichts mehr am Herzen zu liegen, als soviel wie möglich jedes nähere Zusammentreffen mit seiner kleinen Armee zu vermeiden. Das Verhalten der Regierungstruppen war völlig unbegreiflich. Riegos Expedition, die am 27.Januar 1820 begonnen hatte, endete am 1 I.März, wo er sich gezwungen sah, die wenigen Leute zu entlassen, die ihm noch gefolgt waren. Sein kleines Korps wurde nicht in einer entscheidenden Schlacht auseinandergesprengt, es verschwand vielmehr teils aus Erschöpfung, teils infolge unaufhörlicher kleiner Zusammenstöße mit dem Feind, teils infolge Krankheit und Desertion. Die Situation der Aufständi. sehen auf der Isla [de Leön] war unterdessen keineswegs hoffnungsvoll. Sie waren nach wie vor zu Wasser und zu Lande eingeschlossen, und in der Stadt Cadiz selbst wurde jede Parteinahme für ihre Sache von der Garnison unterdrückt. Wie also konnte es geschehen, daß, nachdem doch Riego am 11. März in der Sierra Morena seine verfassungstreuen Truppen hatte auflösen müssen, Ferdinand VII. am 9. März in Madrid gezwungen war, auf die Konstitution zu schwören, so daß Riego tatsächlich sein Ziel erreichte, genau zwei Tage bevor er endgültig an seiner Sache verzweifelt war? Der Vormarsch von Riegos Kolonne hatte aufs neue die allgemeine Aufmerksamkeit wachgerufen; die Provinzen waren voll Erwartung und beobachteten gespannt jede Bewegung. Die Gemüter, erregt durch Riegos kühnen Ausfall, durch die Schnelligkeit seines Vormarsches, seine kräftige Abwehr des Feindes, sahen Triumphe, wo keine waren, und glaubten an Verstärkungen und an eine Anhängerschaft, die nie gewonnen worden war. Als die Nachrichten von Riegos Unternehmen die entfernteren Provinzen erreichten, waren sie schon ins Ungeheuerliche gewachsen, und die vom Schauplatz entferntesten waren die ersten, die sich für die Konstitution von 1812 erklärten. So reif war Spanien für eine Revolution, daß selbst falsche Nachrichten genügten, sie hervorzurufen. Auch 1848 waren es falsche Nachrichten, die den revolutionären Orkan entfesselten. In Galicien, Valencia, Saragossa, Barcelona und Pamplona brachen nacheinander Aufstände aus. Enrique O'Donnell alias Graf von La Bisbai, den der König zum bewaffneten Widerstand gegen Riegos Expedition aufrief, erbot sich nicht nur, ihm entgegenzutreten, sondern auch seine kleine Armee zu vernichten und sich seiner Person zu bemächtigen. Er verlangte nichts als das Kommando über die Truppen, die in der Provinz von La Mancha lagen, und Geld für seine eigenen Bedürfnisse. Der König selbst gab ihm eine Börse voll Gold und die nötigen Befehle für die Truppen von La Mancha. Bei seiner Ankunft in Ocana stellte sich La Bisbai jedoch an die Spitze der Truppen und proklamierte die Konstitution von 1812. Als die Nachricht von
diesem Abfall nach Madrid gelangte, wurden die Gemüter so erregt, daß sofort die Revolution ausbrach. Die Regierung begann nun mit der Revolution zu unterhandeln. In einem Dekret, datiert vom 6. März, erbot sich der König, die alten Cortes zusammenzuberufen, die nach Estamentos (Ständen) versammelt waren; damit war jedoch keine der Parteien einverstanden, weder die der alten Monarchie, noch die der Revolution. Bei seiner Rückkehr aus Frankreich hatte der König sie mit demselben Versprechen ködern wollen und war dann wortbrüchig geworden. Als nun in der Nacht des 7. März in Madrid revolutionäre Demonstrationen stattfanden, veröffentlichte die „Gaceta" vom 8. ein Dekret, worin Ferdinand VII. versprach, auf die Konstitution von 1812 zu schwören. In diesem Dekret sagt er:
„Laßt uns alle, mich voran, von nun ab aufrichtig den Weg der Konstitution beschreiten." Als sich das Volk am 9. seines Palastes bemächtigte, vermochte er sich nur dadurch zu retten, daß er das Madrider Ayuntamiento von 1814 wiedereinsetzte und vor demselben den Eid auf die Konstitution leistete. Was machte er sich schon aus einem Meineid? Hatte er doch immer einen Beichtvater zur Hand, stets bereit, ihm vollste Absolution von jeder nur möglichen Sünde zu gewähren. Gleichzeitig wurde eine beratende Junta eingesetzt, deren erstes Dekret die politischen Gefangenen befreite und die politischen Flüchtlinge zurückrief. Aus den nun geöffneten Gefängnissen zog das erste konstitutionelle Ministerium in den königlichen Palast ein. Castro, Herreros und A. Argüelles, die dieses erste Ministerium bildeten, waren Märtyrer von 1814 und Deputierte von 1812. Die eigentliche Ursache des Enthusiasmus bei Ferdinands Thronbesteigung war die Freude über die Entfernung Karls IV., seines Vaters. Und so auch war die Ursache der allgemeinen Begeisterung über die Proklamation der Konstitution von 1812 Freude über die Beseitigung Ferdinands VII. Was die Konstitution selbst betrifft, so wissen wir, daß, als sie vollendet war, es keine Gebiete gab, wo sie hätte verkündet werden können. Für die Mehrheit des spanischen Volks glich sie dem unbekannten Gott, den die alten Athener anbeteten. Die englischen Schriftsteller unserer Tage behaupten mit deutlicher Anspielung auf die jetzige spanische Revolution einerseits, die Bewegung von 1820 sei bloß eine Militärverschwörung, andrerseits, sie sei nur eine russische Intrige gewesen. Beide Behauptungen sind gleich lächerlich. Wir sahen, daß trotz des Mißlingens des Militäraufstandes die Revolution siegte. Das Rätselhafte liegt nicht in der Verschwörung der 5000 Soldaten, sondern darin, daß diese Verschwörung sanktioniert wurde von einer Armee von
35 000 Mann und von einer höchst loyalen Nation von zwölf Millionen. Warum die Revolution zuerst gerade innerhalb der Reihen der Armee ausbrach, erklärt sich leicht dadurch, daß die Armee die einzige unter allen Körperschaften der spanischen Monarchie war, die durch den Unabhängigkeitskrieg von Grund aus verändert und revolutioniert war. Was die russische Intrige betrifft, so läßt es sich nicht leugnen, daß Rußland seine Hände bei der spanischen Revolution mit im Spiele hatte; daß von allen europäischen Mächten Rußland zuerst die Konstitution von 1812 im Vertrag von Welikije Luki vom 20. Juli 1812[235] anerkannte, daß Rußland es war, das zuerst die Revolution von 1820 entfachte, das sie zuerst an Ferdinand VII. verriet, das zuerst die Fackel der Konterrevolution an verschiedenen Punkten der Halbinsel entzündete, das zuerst feierlich vor Europa gegen die Revolution protestierte und das endlich Frankreich zum bewaffneten Einschreiten gegen sie zwang. Herr von Tatischtschew, der russische Gesandte, war sicherlich die hervorragendste Persönlichkeit am Hof von Madrid - das unsichtbare Haupt der Kamarilla. Es war ihm gelungen, Antonio Ugarte, einen Wicht von niedriger Herkunft, bei Hofe einzuführen und ihn zum Haupt der Ordensbrüder und Lakaien zu machen, die in ihren Hintertreppenkonferenzen das Zepter im Namen Ferdinands VII. schwangen. Tatischtschew machte Ugarte zum Generaldirektor der Expeditionen gegen Südamerika, und Ugarte ernannte den Herzog von San Fernando zum Minister des Auswärtigen und Präsidenten des Kabinetts. Ugarte vermittelte den Ankauf morscher Schiffe von Rußland für die Südamerika-Expedition, wofür er mit dem St. Annenorden ausgezeichnet wurde. Ugarte hinderte Ferdinand und seinen Bruder Don Carlos daran, im ersten Augenblick der Krise vor der Armee zu erscheinen. Er war der geheimnisvolle Urheber der unbegreiflichen Apathie des Herzogs von San Fernando und der Maßnahmen, über die sich ein spanischer Liberaler in Paris 1836 mit den Worten äußerte:
„Man kann sich kaum der Überzeugung verschließen, daß die Regierung selbst die Mittel dazu lieferte, die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen.^236!
Wenn wir daneben noch auf die merkwürdige Tatsache verweisen, daß der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner Botschaft[206] Rußland dafür dankte, weil es ihm versprochen habe, zu verhindern, daß Spanien sich mit den südamerikanischen Kolonien befasse, so bleibt wohl kaum ein Zweifel über die Rolle, die Rußland in der spanischen Revolution spielte. Was beweist aber dies alles? Etwa, daß Rußland die Revolution von 1820 machte? Keineswegs. Es beweist nur, daß Rußland die spanische Regierung hinderte, ihr
entgegenzutreten. Daß die Revolution früher oder später die absolute, mönchische Monarchie Ferdinands VII. gestürzt hätte, beweist: 1. die Reihe von Verschwörungen, die seit 1814 einander folgten; 2. das Zeugnis des Herrn de Martignac, des französischen Kommissars, der den Herzog von Angouleme zur Zeit der legitimistischen Invasion in Spanien begleitete; 3. das unwiderleglichste Zeugnis - das von Ferdinand selbst. Im Jahre 1814 beabsichtigte Mina eine Erhebung in Navarra, gab das erste Zeichen zum Widerstand durch einen Aufruf zu den Waffen und marschierte in die Festung von Pamplona ein; dann aber mißtraute er seinen eigenen Anhängern und floh nach Frankreich. 1815 proklamierte General Porlier, einer der berühmtesten Guerilleros aus dem Unabhängigkeitskrieg, in La Coruna die Konstitution. Er wurde enthauptet. 1816 wollte Richard den König in Madrid gefangennehmen. Er wurde gehängt. 1817 büßten der Advokat Navarro und vier seiner Mitschuldigen in Valencia auf dem Schafott ihr Leben ein, weil sie die Konstitution von 1812 proklamiert hatten. In demselben Jahre wurde der unerschrockene General Lacy in Majorca erschossen, weil er sich desselben Vergehens schuldig gemacht hatte. 1818 wurden Oberst Vidal, Kapitän Sola und andere, die in Valencia die Konstitution von 1812 öffentlich proklamiert hatten, ergriffen und dem Schwert ausgeliefert. Die Verschwörung von Isla de Leon bildete dann nur das letzte Glied in der Kette, die aus den blutigen Häuptern so manches tapferen Mannes in den Jahren 1808 bis 1814 entstanden war. Herr de Martignac, der 1833, kurz vor seinem Tode, sein Werk „L'Espagne et ses Revolutions" veröffentlichte, spricht sich folgendermaßen aus: „Zwei Jahre waren vergangen, seit Ferdinand VII. sein absolutes Regime wieder aufgenommen hatte, und noch immer dauerten die Verfolgungen an, welche von einer Kamarilla ausgingen, die sich aus dem Abschaum der Menschheit zusammensetzte. Die ganze Staatsmaschinerie war von unterst zu oberst gekehrt. Unordnung, Stumpfsinn, Verwirrung herrschten überall. Die Steuern waren höchst ungleich verteilt, der Zustand der Finanzen war erbärmlich, für die Anleihen gab es keinen Kredit, und keine Möglichkeit war vorhanden, die dringendsten Erfordernisse des Staates zu decken. Die Armee blieb ohne Sold, die Beamten entschädigten sich durch Bestechung, die korrupte und untätige Verwaltung war außerstande, etwas zu verbessern oder auch nur das Vorhandene zu erhalten. Daher die allgemeine Unzufriedenheit des Volkes. Das neue konstitutionelle System wurde von den großen Städten, den Handels- und Gewerbetreibenden, den Angehörigen der freien Berufe, der Armee und dem Proletariat mit Enthusiasmus begrüßt. Es widersetzten sich ihm die Mönche, und es verblüffte die Landbevölkerung, "t237! So lauten die Bekenntnisse eines sterbenden Mannes, der als Hauptwerkzeug bei der Zerstörung dieses neuen Systems diente. Ferdinand VII.
bestätigt in seinen Dekreten vom I.März 1817, vom 11.April 1817, vom I.Juni 1817, vom 24.November 1819 etc. wörtlich die Behauptungen des Herrn de Martignac und faßt seine Klagen in die Worte zusammen:
„Der Jammer des klagenden Volkes, der zu den Ohren unserer Majestät dringt, nimmt kein Ende." Daraus geht hervor, daß es keines Tatischtschews bedurfte, um eine spanische Revolution zuwege zu bringen.
Aus dem Englischen.
Karl Marx
Die Reaktion in Spanien12381
[„New-York Daily Tribüne" Nr, 4185 vom 16. September 1854] London, Freitag, 1. September 1854. Der Einmarsch der Vicalvaro-Regimenter in Madrid hat die Regierung zu größerer konterrevolutionärer Aktivität ermutigt. Das Wieder Inkrafttreten des restriktiven Preßgesetzes von 1837, mit all den Härten des Ergänzungsgesetzes von 1842 ausgestattet, hat alle „aufwiegelnden" Teile der Presse getötet, die nicht in der Lage waren, den erforderlichen cautionnement1 zu bieten. Am 24. wurde die letzte Nummer des „Clamor de las Barricades" mit dem Titel „Ultimas Barrica des" herausgebracht, da die beiden Redakteure verhaftet wurden. An ihre Stelle trat an demselben Tag eine neue, reaktionäre Zeitung mit dem Titel „Las Cortes".
„Seine Exzellenz, der Generalkapitän Don San Miguel", sagt das Programm des letztgenannten Blattes, „der uns mit seiner Freundschaft beehrt, hat dieser Zeitung die Gunst seiner Mitarbeit angeboten. Seine Artikel werden mit seinen Initialen gezeichnet werden. Die an der Spitze dieses Unternehmens stehenden Männer werden energisch die Revolution verteidigen, welche den Mißbrauch und die Ausschreitungen einer korrupten Macht bezwang, doch sie werden ihr Banner auch in der Konstituierenden Versammlung aufpflanzen. Dort muß die große Schlacht ausgefochten werden."
Die große Schlacht wird für Isabella II. und Espartero geschlagen. Sie werden sich erinnern, daß dieser selbe San Miguel auf einem Pressebankett erklärte, daß die Presse keinen anderen Korrektor als sich selbst, gesunden Menschenverstand und Allgemeinbildung habe, daß sie eine Institution sei, die weder das Schwert noch die Deportation oder Exil, noch irgendeine
1 Kautionsbetrag
andere Macht der Welt vernichten könne. An demselben Tage, da er sich als Mitarbeiter der Presse anbietet, findet er kein Wort gegen das Dekret, das seine geliebte Preßfreiheit aufhebt. Der Unterdrückung der Preßfreiheit folgte bald, ebenfalls durch königliches Dekret, die Unterdrückung der Versammlungsfreiheit. In Madrid wurden die Klubs und in den Provinzen die Juntas und Komitees für öffentliche Sicherheit aufgelöst, mit Ausnahme der vom Ministerium als „Deputationen" anerkannten. Der Klub der Uniont211J wurde durch ein Dekret des gesamten Ministeriums geschlossen, obwohl Espartero erst einige Tage zuvor dessen Ehrenpräsidentschaft angenommen hatte, eine Tatsache, welche die „London Times" vergeblich zu leugnen versucht. Dieser Klub hatte eine Deputation an den Minister des Innern geschickt, um nachdrücklich die Entlassung Senor Sagastis, des Jefe politico1 von Madrid, zu fordern, dem er vorwirft, die Preßfreiheit und das Versammlungsrecht verletzt zu haben. Senor Santa Cruz antwortete, er könne einen Staatsbeamten nicht dafür tadeln, daß er Maßnahmen ergriffen habe, die vom Ministerrat gutgeheißen wurden. Das Ergebnis war, daß ernsthafte Unruhen ausbrachen, doch die Plaza de la Constituciön wurde von der Nationalgarde besetzt, und es geschah nichts weiter. Die kleinen Zeitungen waren kaum unterdrückt worden, als die größeren, die bisher Sagasti in Schutz genommen hatten, Gelegenheit fanden, sich mit ihm zu streiten. Um den „Clamor Püblico" zum Schweigen zu bringen, wurde sein Chefredakteur, Senor Corradi, zum Minister ernannt. Doch wird dieser Schritt nicht genügen, da man nicht alle Redakteure ins Ministerium aufnehmen kann. Der kühnste Streich der Konterrevolution war jedoch die Erlaubnis für Königin Christina, nach Lissabon zu reisen, nachdem sich der Ministerrat verpflichtet hatte, sie den Konstituierenden Cortes auszuliefern - ein Vertrauensbruch, den sie zu vertuschen Suchten durch eine vorweggenommene Konfiskation der Besitzungen Christinas in Spanien, die bekanntlich den geringsten Teil ihres Reichtums ausmachen. So wurde Christina die Flucht leicht gemacht, und wir hören jetzt, daß auch San Luis sicher in Bayonne eingetroffen ist. Der kurioseste Teil des Unternehmens ist die Art, in der das erwähnte Dekret zustande kam. Am 26. versammelten sich einige Patrioten und Nationalgarden, um die Sicherheit öffentlicher Angelegenheiten zu beraten, tadelten die Regierung wegen ihres Schwankens und ihrer halben Maßnahmen und beschlossen, eine Deputation an das Ministerium zu senden mit der Forderung, Christina aus dem Palast zu entfernen, wo sie Pläne zur
1 Gouverneurs
Unterdrückung der Freiheit schmiedete. Ein sehr verdächtiger Umstand war die Zustimmung zweier Adjutanten Esparteros und Sagastis selbst zu diesem Vorschlag. Infolgedessen trat das Ministerium zur Beratung zusammen, und das Ergebnis seiner Zusammenkunft war die Flucht Christinas. Am 25. zeigte sich die Königin zum ersten Male in der Öffentlichkeit auf der Prado-Promenade, begleitet von ihrem sogenannten Ehemann und von dem Prinzen von Asturien. Sie scheint jedoch außerordentlich kühl empfangen worden zu sein. Das Komitee, das zur Berichterstattung über die Finanzlage zur Zeit des Sturzes des Sartorius-Ministeriums ernannt wurde, hat seinen Bericht in der „Gaceta" veröffentlicht, wo ihm ein Expose Senor Collados, des Finanzministers, vorausgeht. Hiernach beträgt die schwebende Schuld Spaniens jetzt 33 000 000 Dollar und das Gesamtdefizit 50 000000 Dollar. Es stellt sich heraus, daß selbst die außerordentlichen Mittel der Regierung für Jahre vorweggenommen und verschwendet wurden. Die Einnahmen von Havana und den Philippinen wurden für zweieinhalb Jahre im voraus verbraucht. Der Ertrag der Zwangsanleihe ist spurlos verschwunden. Die Almadener Quecksilberminen wurden auf Jahre hinaus verpfändet. Der Sollbestand der Depositenkasse in Bargeld war nicht vorhanden. Ebenso fehlte der Fonds für Militärsubstitutionen. Es waren 7 485 692Realen für den Ankauf bereits erhaltenen Tabaks fällig, aber nicht bezahlt. Ebenso 5 505000 Realen Rechnungen für öffentliche Arbeiten. Nach den Erklärungen Senor Collados beträgt die Summe der allerdringendsten Verpflichtungen 252 980 253 Realen. Die von ihm zur Deckung dieses Defizits vorgeschlagenen Maßnahmen sind die eines echten Bankiers - Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, die Erhebung der alten Steuern fortzusetzen und neue Anleihen auszuschreiben. Gemäß diesem Rat hat Espartero von den wichtigsten Madrider Bankiers 2 500 000 Dollar für . das Versprechen einer reinen Moderado-Politik erhalten. Wie sehr er willens ist, sein Versprechen zu halten, beweisen seine letzten Maßnahmen. Man denke ja nicht, daß diese reaktionären Maßnahmen vom Volk völlig widerstandslos hingenommen wurden. Als die Abreise Christinas bekannt wurde, am 28. August, wurden wieder Barrikaden errichtet; doch wenn man einer telegraphischen Depesche aus Bayonne glauben soll, die von dem französischen „Moniteur" veröffentlicht wurde,
„nahmen die zur Nationalgarde vereinten Truppen die Barrikaden ein und schlugen die Bewegung nieder".
Das ist der cercle vicieux1, in dem sich unreife revolutionäre Regierungen notwendig bewegen müssen. Sie erkennen die von ihren konterrevolutionären Vorgängern gemachten Schulden als nationale Verpflichtungen an. Um sie bezahlen zu können, müssen sie deren alte Steuern beibehalten und neue Schulden machen. Um neue Anleihen aufnehmen zu können, müssen sie die „Ordnung" garantieren, das heißt, selbst konterrevolutionäre Maßnahmen ergreifen. So verwandelt sich die neue Volksregierung auf einmal in einen Handlanger der großen Kapitalisten und einen Unterdrücker des Volkes. Auf genau die gleiche Weise wurde die Provisorische Regierung Frankreichs 1848 zu der bekannten Maßnahme der 45-Centimes-SteuerI239) und zur Konfiskation der Sparkassenfonds getrieben, um den Kapitalisten die Zinsen zu zahlen.
„Die revolutionären Regierungen Spaniens", sagt der englische Autor2 der „Revelations of Spain", „sind wenigstens nicht so tief gesunken, die schändliche Doktrin der Nichtanerkennung zu übernehmen, wie man es in den Vereinigten Staaten getan hat."
Tatsache ist, daß die berüchtigte Regierung von San Luis, wenn je in einer früheren spanischen Revolution die Nichtanerkennung durchgeführt worden wäre, keinen Bankier gefunden hätte, der bereit gewesen wäre, ihr Darlehn zu gewähren. Aber vielleicht ist unser Autor der Meinung, es sei das Privileg der Konterrevolution, Schulden zu machen, wie es das Privileg der Revolution sei, sie zu zahlen. Anscheinend stimmen Saragossa, Valencia und Algeciras mit dieser Ansicht nicht überein, da sie alle ihnen unangenehmen Steuern aufgehoben haben. Nicht genug damit, daß Bravo Murillo als Gesandter nach Konstantinopel geschickt wurde, hat die Regierung Gonzales Bravo in derselben Eigenschaft nach Wien entsandt. Am Sonntag, dem 27. August, versammelten sich die Wahlvereine des Madrider Bezirks, um durch allgemeine Wahl die Bevollmächtigten zu bestimmen, die mit der Aufsicht der Wahlen in der Hauptstadt betraut werden. Es gibt in Madrid zwei Wahlkomitees - die Liberale Union und die Union del Comercio3. Die oben angeführten Symptome der Reaktion erscheinen demjenigen, der mit der Geschichte der spanischen Revolutionen vertraut ist, weniger beängstigend als dem oberflächlichen Beobachter - zumal die spanischen Revolutionen im allgemeinen erst mit dem Zusammentritt der Cortes beginnen,
1 fehlerhafte Kreis - 2 Hughes - 3 Handelsunion
33 Marx Engels, Werke, Band 10
was gewöhnlich das Zeichen für die Auflösung der Regierung ist. Außerdem befinden sich in Madrid nur wenig Truppen und höchstens 20 000 Mann Nationalgarde. Von den letzteren sind jedoch nur ungefähr die Hälfte ordentlich bewaffnet, während bekannt ist, daß das Volk dem Aufruf, seine Waffen abzuliefern, nicht gefolgt ist. Trotz der Tränen der Königin hat O'Donnell ihre Leibgarde aufgelöst, da die reguläre Armee auf die Vorrechte dieses Korps eifersüchtig war, aus dessen Reihen ein Godoy, bekannt als guter Gitarrenspieler und Sänger der seguidillas graciosas y picantes1, sich zum Ehemann der Nichte des Königs erheben konnte, und ein Munoz, nur wegen seiner privaten Vorzüge bekannt, zum Ehemann einer Königinmutter werden konnte. In Madrid hat ein Teil der Republikaner folgende Verfassung einer Iberischen Bundesrepublik verbreitet:
„TlTULO I. Organisation der Iberischen Bundesrepublik. Art. 1. Spanien mit seinen Inseln und Portugal werden vereinigt und bilden die Iberische Bundesrepublik. Die Farben des Banners werden eine Vereinigung der beiden gegenwärtigen Banner Spaniens und Portugals sein. Ihr Wahlspruch wird lauten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Art. 2. Die Souveränität liegt bei der Gesamtheit der Bürger. Sie ist unveräußerlich und unverjährbar. Keine Person, kein Teil des Volkes kann sich ihre Ausübung aneignen. Art. 3. Das Gesetz ist der Ausdruck des nationalen Willens. Die Richter werden vom Volk durch allgemeine Wahlen bestimmt. Art. 4. Wahlberechtigt sind alle Bürger über 21 Jahre, die ihre Bürgerrechte besitzen. Art. 5. Die Todesstrafe ist sowohl für politische als auch für kriminelle Verbrechen abgeschafft. Das Geschworenengericht entscheidet in allen Fällen. Art. 6. Das Eigentum ist heilig. Die den politischen Emigranten abgenommenen Güter werden ihnen zurückgegeben. Art. 7. Die öffentlichen Abgaben werden dem Einkommen entsprechend bezahlt. Es gibt nur eine Steuer, direkt und allgemein. Alle indirekten öffentlichen Abgaben, Verbrauchssteuern und Torzölle sind aufgehoben. Ebenso sind die Regierungsmonopole für Salz und Tabak sowie für Stempel- und Patentgebühren und die Aushebung aufgehoben. Art. 8. Die Freiheit der Presse, der Versammlung, der Vereinigung, der Wohnung, der Bildung, des Handels und des Gewissens wird garantiert. Jede Religion muß ihre Geistlichen selbst bezahlen. Art. 13. Die Verwaltung der Republik erfolgt föderativ nach Provinzen und Gemeinden.
1 graziösen und pikanten Seguidillas (span. Liedform und Tanz)
TlTULO II. Bundesverwaltung. Art. 14. Sie wird einem Exekutivrat übertragen, der von dem Zentralen Bundeskongreß ernannt und abberufen wird. Art. 15. Die internationalen und Handelsbeziehungen, die Einheit der Maße, Gewichte und Münzen, die Post und die bewaffneten Streitkräfte gehören zum Bereich der Bundesverwaltung. Art. 16. Der Zentrale Bundeskongreß setzt sich aus neun Deputierten für jede Provinz zusammen, die aus allgemeinen Wahlen hervorgehen und ein ihre Weisungen gebunden sind. Art. 17. Der Zentrale Bundeskongreß tagt in Permanenz. Art. 20. Wann immer ein Gesetz erlassen werden soll, bringt die Verwaltung, die es für erforderlich hält, den Entwurf zur Kenntnis des Bundes und zwar sechs Monate vorher, wenn es den Kongreß betrifft, und drei Monate vorher, wenn es die Provinzgesetzgebung betrifft. Art. 21. Jeder Volksdeputierte, der sich nicht an seine Instruktionen hält, wird der Justiz übergeben."
TlTULO III bezieht sich auf die Provinz-und Gemeindeverwaltung und bestätigt ähnliche Grundsätze. Der letzte Artikel dieses Abschnitts lautet: „Es darf nicht länger Kolonien geben; sie werden in Provinzen umgewandelt und nach Provinzgrundsätzen verwaltet. Die Sklaverei wird abgeschafft.
TlTULO IV. Die Armee. Art. 34. Das ganze Volk wird bewaffnet und in der Nationalgarde organisiert, ein Teil soll mobil und der andere ortsgebunden sein. Art. 35. Die mobile Truppe besteht aus den Unverheirateten im Alter von 21 bis 35 Jahren; ihre Offiziere werden in den Militärschulen durch Wahl bestimmt. Art. 36. Die ortsgebundene Miliz besteht aus allen Bürgern zwischen 35 und 56 Jahren; die Offiziere werden durch Wahl bestimmt. Ihr Dienst besteht in der Verteidigung der Gemeinden. Art. 38. Die Korps der Artillerie und Ingenieure werden aus Freiwilligen gebildet; sie bestehen ständig und dienen zur Besetzung der Festungen an den Küsten und Grenzen. Im Inneren werden keine Festungen geduldet."
Art. 39 bezieht sich auf die Marine und enthält ähnliche Vorkehrungen. „Art. 40. Die Stäbe der Provinzen und Generalkapitanate werden abgeschafft. Art. 42. Die Iberische Republik verwirft alle Eroberungskriege und wird ihre Streitfragen der Vermittlung anderer Regierungen unterbreiten, deren Interessen in dieser Frage nicht berührt werden. Art. 43. Es gibt kein stehendes Heer." Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Gerüchte über die Verhaftung Mazzinis Die österreichische Zwangsanleihe - Spanien Die Lage in der Walachei]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4197 vom 30. September 1854] London, Dienstag, 12. September 1854. Die Zeitungen bringen verschiedene Gerüchte über die Verhaftung Mazzinis bei Basel. Von einem Freund habe ich folgende Mitteilung erhalten: Mazzini wurde tatsächlich von zwei Gendarmen in Zürich verhaftet, doch nur für einige Stunden; dann entfloh er. Diese Flucht wurde durch einen anderen Italiener erleichtert, der sich zur gleichen Zeit an einem anderen Ort verhaften ließ, indem er vorgab, Mazzini zu sein. Durch diesen Coup wurden die Behörden irregeführt, und Herr Druey telegraphierte selbst aus Bern nach Genf, daß keine weiteren Nachforschungen erforderlich seien, da sich Mazzini im Gefängnis befinde. Man vermutet, daß die an Stelle Mazzinis verhaftete Person Saffi ist, während einige sagen, es wäre ein ungarischer Offizier namens Türr. Die „Gazzetta di Milano" vom 31. August stellt mit Befriedigung fest, daß der Stadtrat von Pavia in seiner Sitzung vom 28. August beschlossen hat, ander Nationalanleihe durch die Zeichnung von 200 000 Gulden teilzunehmen. Im Gegensatz zu diesem Bericht veröffentlicht ein nichtoffizielles Blatt folgendes als den tatsächlichen Beschluß dieses Rats: „Die Stadtverwaltung von Pavia zeichnet den der Stadt Pavia auferlegten und für sie festgesetzten Anteil, aber sie tut das weder als Vertreter der Gemeinde noch in ihrer Eigenschaft als Kontribuent, sondern nur als ein Organ der Regierung und weil sie von der Exekutivmacht abhängig ist, der sie nach dem Zirkular von 1830 zu absolutem Gehorsam verpflichtet ist, sowie in Ausführung der ihr vom Gouverneur am 7. August übermittelten Befehle."
In Treviso wurde die freiwillige Anleihe auch nur infolge direkter Drohung gezeichnet. Aus dem Bericht des Triester Rates geht hervor, daß selbst
in jener erz-österreichischen, loyalen Stadt die Anleihe weder freiwillig noch so allgemein genommen wurde, wie es von den österreichischen Zeitungen dargestellt wird: „Unsere Gemeinde hat eine weitere Million für die Nationalanleihe gezeichnet. Der Magistrat gibt hierdurch bekannt, daß diese Summe unter den Kontribuenten verteilt wird, die bis jetzt an der Anleihe nicht oder nicht im Verhältnis zu ihrem Vermögen teilgenommen haben. Gleichzeitig wird der 6. September als letzter Termin für die freiwillige Zeichnung festgesetzt. Der Rat hofft, daß jeder eilen wird, sich die Vorteile, die die Anleihe bietet, zunutze zu machen, um so mehr, als der Rat nach diesem Termin vor der bitteren Notwendigkeit stehen wird mit Zwang vorzugehen."
Die reaktionäre Presse ist mit den letzten Maßnahmen der spanischen Regierung noch nicht zufrieden; sie murrt darüber, daß mit der Revolution ein neuer Kompromiß eingegangen worden sei. So lesen wir im „Journal des Debats": „Erst am 7. August hatte Espartero erklärt, ,daß entsprechend den Wünschen der Bevölkerung von Madrid die Herzogin von Riansares die Hauptstadt weder bei Tag noch bei Nacht oder auf heimliche Weise verlassen darf*. Schon am 28. August wurde Königin Christina nach einer Haft von einundzwanzig Tagen erlaubt, bei hellichtem Tag mit einem bestimmten Gepränge abzureisen. Doch war die Regierung schwach genug, gleichzeitig die Konfiskation ihrer Güter anzuordnen." Die „Debats" hofft nun, daß diese Anweisung aufgehoben wird. Doch die Hoffnungen der „Debats" sind vielleicht in diesem Falle noch mehr zum Scheitern verurteilt als damals, da er schwache Hoffnungen äußerte, daß die Konfiskation der Güter der Orleanst240J nicht von Bonaparte durchgeführt werden würde. Der Jefe Politico1 von Oviedo hat bereits mit der Konfiskation der Kohlengruben begonnen, die Christina in der Provinz Asturien gehörten. Die Direktoren der Gruben von Siero, Langreo und Piero Corril haben Anweisung erhalten, Inventur zu machen und ihre Verwaltung der Regierung zu unterstellen. Was den „hellichten Tag" betrifft, an dem die „Debats" die Abreise Christinas bewerkstelligt, ist sie völlig falsch informiert. Königin Christina überquerte, als sie ihre Zimmer verließ, die Korridore in Totenstille - jeder wurde peinlichst ferngehalten. Die Nationalgarde, die sich "in den Kasernen im Hof des Palastes aufhielt, wurde ihre Abreise nicht gewahr. Der ganze Plan wurde so geheim durchgeführt, daß sogar Garrigö, der für ihre Eskorte verantwortlich war, seine Befehle erst im Augenblick der Abreise erhielt.
1 Gouverneur
Die Eskorte hörte von der Mission, mit der sie betraut war, erst zwölf Meilen von Madrid entfernt, wo Garrigö alle möglichen Schwierigkeiten hatte, seine Leute daran zu hindern, Christina zu beleidigen oder direkt nach Madrid zurückzukehren. Die Chefs der Nationalgarde hörten von dieser Angelegenheit erst zwei Stunden nach der Abreise von Mme. Munoz. Laut Bericht der „Espana" erreichte sie die portugiesische Grenze am Morgen des 3. September. Sie soll während der Reise sehr guter Stimmung gewesen sein, doch ihr Herzog war etwas trist. Die Beziehungen zwischen Christina und diesem nämlichen Munoz können nur durch die Antwort verstanden werden, die Don Quixote auf Sancho Pansas Frage gibt, warum er eine so gemeine Landdirne wie seine Dulcinea liebe, da er doch Prinzessinnen zu seinen Füßen haben könne:
„Eine Dame", antwortete der würdige Ritter, „die von einem Schwärm vornehmer, reicher und geistvoller Verehrer umgeben war, wurde gefragt, warum sie einen plumpen Bauern zum Liebhaber genommen habe. ,Ihr müßt wissen', sagte die Dame, ,daß zu dem Behuf, wozu ich ihn brauche, er mehr Philosophie besitzt als selbst Aristoteles."' Der Standpunkt, den die reaktionäre Presse im allgemeinen zu den spanischen Angelegenheiten bezieht, kann nach einigen Auszügen aus der „Kölnischen Zeitung" und der „Independance Beige" beurteilt werden. Die erste sagt:
„Nach einem Schreiben von einem sehr gemäßigten, zur Partei O'Donnells gehörenden Manne ist die Lage eine sehr gespannte, da unter den Parteien eine tiefe Spaltung herrscht. Die Arbeiterklassen sind fortwährend sehr aufgeregt, weil sie durch Umtriebler bearbeitet werden."
„Die Zukunft der spanischen Monarchie" sagt die „Independance", „ist großen Gefahren ausgesetzt. Alle wahren spanischen Patrioten sind sich über die Notwendigkeit einig, die revolutionären Orgien niederzuschlagen. Die Wut der Pasquillanten und der Barrikadenbauer wird gegen Espartero und seine Regierung mit derselben Gewalt wie gegen San Luis und den Bankier Salamanca losgelassen. Doch kann in Wahrheit diese ritterliche Nation für solche Ausschreitungen nicht verantwortlich gemacht werden. Das Volk von Madrid darf nicht mit dem Mob verwechselt werden, der schrie ,Tod der Christina'," noch verantwortlich gemacht werden für die berüchtigten Schmähschriften mit dem Titel ,Die Räubereien von San Luis, Christina und ihren Helfershelfern', die unter der Bevölkerung verbreitet wurden. Die 1800 Barrikaden von Madrid und die ultrakommunistischen Kundgebungen von Barcelona offenbaren die Einmischung der ausländischen Demokratie in die spanischen Saturnalien. Soviel ist gewiß, daß eine große Anzahl der Flüchtlinge aus Frankreich, Deutschland und Italien an den bedauernswerten Ereignissen teilgenommen hat, die die Halbinsel jetzt
bewegen. Soviel ist gewiß, daß Spanien am Rande einer sozialen Feuersbrunst steht; das unmittelbare Ergebnis wird der Verlust der Perle der Antillen, der reichen Insel Kuba sein, weil sie es Spanien unmöglich macht, die amerikanischen Ambitionen oder den Patriotismus eines Soule oder Sanders zu bekämpfen. Es wird Zeit, daß Spanien die Augen öffnet und daß sich alle ehrlichen Menschen des zivilisierten Europas vereinen, um Alarm zu schlagen."
Es bedarf gewiß keiner Interventionen der ausländischen Demokratie, um die Bevölkerung von Madrid aufzuwiegeln, wenn diese sieht, daß ihre Regierung am 28. das Wort bricht, das sie am 7. gegeben hat, das Recht auf Versammlungsfreiheit aufhebt und das Preßgesetz von 1837 wieder einführt, das von jedem Herausgeber einen cautionnement1 von 40 000 Realen und 300 Realen direkter Steuer verlangt. Wenn die Provinzen weiterhin von unbestimmten und unentschlossenen Bewegungen beunruhigt werden, welche andere Ursache sollen wir für diese Tatsache finden als das Fehlen eines Zentrums der revolutionären Aktion? Seitdem die sogenannte revolutionäre Regierung in die Hände Esparteros gefallen ist, ist nicht ein einziges Dekret zum Wohle der Provinzen erschienen. Die Provinzen sehen, daß sie gleichermaßen von Speichelleckerei, Intrigen und Postenjägerei umgeben ist wie unter San Luis. Der Regierung hängt derselbe Schwärm an - die Seuche, die Spanien seit der Zeit der Philipps heimgesucht hat. Lassen Sie uns nur einen Blick auf die letzte Nummer der Madrider „Gaceta" vom 6. September werfen. Darin ist ein Bericht von O'Donnell, der eine so große Zahl von militärischen Rängen und Ehren bekanntgibt, daß von je drei Generalen nur einer, für den aktiven Dienst eingesetzt werden kann. Das ist das gleiche Übel, das Spanien seit 1823 zum Fluch geworden ist - dieser Troß von überzähligen Generalen. Man sollte meinen, daß ein Dekret folgen würde, um das Übel zu beseitigen. Nichts dergleichen. Das Dekret, das dem Bericht folgt, beruft eine beratende Kriegsjunta ein, die aus einer bestimmten Anzahl von Generalen besteht, welche die Regierung aus den Reihen der Generale ernannte, die gegenwärtig in der Armee keinen Posten bekleiden. Außer ihrem üblichen Sold erhalten diese Männer: jeder Generalleutnant 5000 Realen und jeder Feldmarschall 6000 Realen. General Manuel de la Concha wurde zum Präsidenten dieser militärischen Sinekurenjunta ernannt. Dieselbe Nummer der „Gaceta" enthält eine weitere Liste von Auszeichnungen, Ernennungen etc., als ob die erste große Verteilung ihren Zweck nicht erfüllt hätte. San Miguel und Dulce haben das Großkreuz des Ordens Karls III. erhalten; alle Belohnungen und vorläufigen Ehrungen, die
1 Kautionsbetrag
von der Junta von Saragossa beschlossen worden waren, werden bestätigt und ergänzt. Doch der bemerkenswerteste Teil dieser Nummer der „Gaceta" ist die Ankündigung, daß die Zahlungen an die öffentlichen Gläubiger am U.d.M. wieder aufgenommen werden. Unglaubliche Torheit des spanischen Volkes, mit diesen Errungenschaften ihrer revolutionären Regierung nicht zufrieden zu sein! Reisende, die vor kurzem aus der Walachei kamen, erzählen von dem jammervollen Zustand dieses Fürstentums. Es ist bekannt, daß Rußland die Fürstentümer wegen der Besatzung 1848/49 mit 14 Millionen Francs Schulden belastete. Diese Summe ist während der letzten Besatzung von den russischen Generalen erhoben worden. Die Russen zogen sich zurück, nachdem sie in Kirchspielen, Klöstern und Gemeinden alle Kassen geleert hatten mit dem Inhalt dieser Kassen bezahlten sie die Vorräte, die sie laut Vertrag von den walachischen Besitzern und Bauern erhielten. Transportmittel jedoch, die in einem Agrarland sehr ins Gewicht fallen, sowie Holz, Kohle, Stroh etc. wurden überhaupt nicht bezahlt, sondern einfach requiriert. Der Staatsschatz der Fürstentümer ist folglich so erschöpft, daß der Bankrott der Kirchspiele zu erwarten ist. Und dies, ohne die Benutzung der in Spitäler verwandelten Häuser und die Vielzahl von Vermögen in Rechnung zu ziehen, die die Bojaren aus Furcht vor der türkischen Plünderung russischen Händen anvertrauten. In einem Brief aus Athen vom 29. August lesen wir:
„Der Konig weigerte sich weiterhin, den Türken irgendeine Entschädigung zu zahlen. Der Haß gegen die abendländischen Truppen wächst, und schon sind mehrere französische Soldaten vom Volk mißhandelt worden."
Ich könnte Ihren Lesern merkwürdige Geschichten darüber erzählen, wie die griechischen Gemeinden durch britischen Einfluß aufgelöst worden sind, wie man ihnen Kapodistrias aufoktroyierte und wie dieses ganze Volk durch die Machenschaften Lord Palmerstons demoralisiert worden ist. Wie ehrlich es die britische Regierung noch in diesem Augenblick ihrer Intervention in Griechenland meint, verrät zur Genüge die Unterstützung, die sie dem General Kalergis angedeihen läßt, einem Mann, der gleich Kapodistrias in Rußland geboren, erzogen und ansässig ist. Lord Stratford de Redcliffe und die britische Regierung haben endlich erreicht, was sie längst hervorzurufen bemüht waren - eine Revolution in der Türkei, wenn auch nicht im europäischen Teil, so doch in Anatolien. Wir erfuhren bereits aus Berichten von Rhodos, daß auf der dieser Insel gegenüberliegenden Küste die Zeybeks, ein kriegerisches ottomanisches Bergvolk,
sich erhoben hatten. Das „Journal de Constantinople" vom 20. August berichtet jetzt, daß die Anarchie in diesen Gegenden täglich zunimmt. Da keine reguläre Armee vorhanden ist, kommen die Rebellen ständig von den Bergen herab, fallen in die Dörfer ein, erheben den Zehnten, plündern die Einwohner und Karawanen, vergewaltigen die Frauen und morden jeden, der Widerstand leistet. Am ärgsten sind ihre Exzesse Tn der Provinz Mentesche. Der Gouverneur war gezwungen, von Aidin nach Tire zu flüchten. Denizlü ist in ihren Händen, und der Mufti Sahib Efendi, der ging, den Generalgouverneur zu verständigen, ward ergriffen und mit seinen Anhängern enthauptet. Ihre Stärke beläuft sich auf Tausende. Die Quelle dieser Unruhen sind die von Kars und Bajazid zurückkehrenden Baschi-Bosuks, die die Pforte beschuldigen, sie unterdrücke die Türken und unterwerfe sich den Russen. Wenn wir einen Blick auf Europa werfen, so begegnen wir Symptomen der Revolution in Spanien, Italien, Dänemark, den Donaufürstentümern, Griechenland und der asiatischen Türkei; und sogar in den Reihen der französischen Armee in Varna ist aufs neue der Ruf ertönt: „ A bas les singes!"1
Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 „Nieder mit den Affen!"
Karl Marx
[Die Operationen der vereinigten Flotten Die Lage in den Donaufürstentümern - Spanien Englands Außenhandel]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4198 vom 2. Oktober 18541 London, Freitag, 15. September 1854. Im gestrigen „Moniteur" lesen wir folgende telegraphische Depesche: „Therapia, den 7. September - Die Franzosen und Türken haben Varna am 5. verlassen. Die englische Flotte sollte sich ihnen auf der Schlangeninsel anschließen. Das Wetter ist ausgezeichnet." Die Verzögerung der Abreise dieses ersten Teils der Expeditionsarmee wurde durch die heftigen Stürme verursacht, welche den Bosporus bis zum 27. August heimsuchten. Nachdem der Wind am 27. auf Nordosten umsprang, wurde es der Transportflotte möglich, Konstantinopel in Richtung Schwarzes Meer zu verlassen. Die Schlangeninsel (Ilade Adessi) ist ein kleines, felsiges Inselchen fast gegenüber der Donaumündung in einiger Entfernung von der bessarabischen Küste. Sie mißt nicht mehr als drei englische Meilen im Umfang. Da die Abreise nicht vor dem 5. stattfand, kann die Ausschiffung der Truppen nicht vor dem 9. September erfolgt sein. In einem vom „Moniteur" veröffentlichten Artikel, worin die Aussichten der Expedition erörtert werden, erscheint eine merkwürdige Stelle. „Wenn", sagt der „Moniteur", „wenn die Zahl der auf der Krim stationierten russischen Truppen sich als beträchtlicher erweisen sollte, als uns frühere Berichte glauben machten, wenn die Streitmacht Sewastopols zäheren Widerstand leisten sollte, wenn die Jahreszeit uns Hindernisse in den Weg legen sollte, wenn es schließlich gelingen sollte, die Krim durch eine bedeutende russische Armee zu verstärken, werden wir das diesmal mit einer einfachen Wiedereinschiffung bezahlen, und der Angriff auf Sewastopol würde im Frühling wieder aufgenommen werden." Mit einem Wort; Wenn jene „mächtige Armada mit ihrer tausendfach wirksamen Zerstörung" auf irgendwelche ernsthaften Schwierigkeiten stoßen
sollte, wird sie schnell zum Bosporus zurückkehren. Auf jeden Fall wird es nicht ihre Schuld sein, wenn solche Schwierigkeiten nicht auftauchen sollten, da der Zar schon seit Monaten über diese Expedition gebührend informiert war und da man sie bis auf die allerletzten Tage der günstigen Jahreszeit hinausgezögert hatte. Welches Vertrauen die französischen Matrosen in ihren Kommandanten setzen, mag man nach dem folgenden Auszug eines Briefes aus Konstantinopel beurteilen, den die „Augsburger Zeitung" veröffentlichte: „In der Flotte wird Saint-Arnaud allgemein Florival genannt, unter welchem Neimen er sein Debüt an der Ambigu Comique1 in Paris gab." Den letzten Berichten aus Hamburg und Kopenhagen zufolge haben Teile der französischen Kriegsflotte und Transportschiffe mit Soldaten auf ihrer Rückkehr nach Frankreich den Belt passiert. Ein bonapartistisches Blatt, der „Constitutionnel"t241], gibt über die Bomarsund-Affäre Aufschluß: „Seine Majestät, Kaiser Napoleon III., wünschte nicht, daß die Ergebenheit der Flotte ihrer Belohnung, die sie sich nach einer so langen und mühevollen Fahrt in der Ostsee verdient hat, beraubt werden soll." Das Bombardement Bomarsunds geschah demnach nur zum Vergnügen der Flotte und war ein Zugeständnis an die Ungeduld und Langeweile der Offiziere. Diese beiden lakonischen Anspielungen des „Moniteur" und des „Constitutionnel"charakterisieren den Krieg besser als alle großsprecherischen Leitartikel der ministeriellen Presse Englands. Der Zar hat die Verhaftung aller Ingenieure befohlen, die mit dem Bau der Forts von Bomarsund beauftragt waren. Sie sollen vor Gericht gestellt werden. Eine der gegen sie erhobenen Beschuldigungen ist die, daß die Befestigung ganz und gar aus reinen Granitblöcken hergestellt werden sollte, während sich nach ihrem Fall herausgestellt hat, daß das Innere der Mauern einfach mit Sand und groben Steinen ausgefüllt war. Die Kommandanten aller Festungen entlang dem Finnischen Meerbusen haben aus St.Petersburg den Befehl erhalten, ihre Forts bis ins einzelne zu untersuchen und darüber unverzüglich Bericht zu erstatten. Es wurde jetzt festgestellt, daß Fort Gustavsvärn bei Hangöudd in dem Augenblick von den Russen selbst gesprengt wurde, als Baraguay d'Hilliers und General Jones auf ihrer Rekognoszierungsexpedition davor erschienen. Die Russen fürchteten einen Angriff auf Abo und zerstörten das Fort, um die Truppen von Fort Gustavsvärn zur Verteidigung jener Stadt verfügbar zu machen.
1 Theater in Paris
Da ich noch bei der Ostsee bin, kann ich hier auch der folgenden Nachricht aus dem „Aftonbladet" einen Platz einräumen:
„Ein Korrespondent aus Kopenhagen berichtet mit Gewißheit, daß die dänische Regierung am 16. August Herrn T. P. Schaffner ermächtigt hat, eine elektrische Telegraphenlinie einzurichten, die sich von Nordamerika über Grönland, Island, die Färöer und Norwegen nach Kopenhagen erstreckt. Am 26. wurde eine Linie von Stockholm nach Malmö eröffnet. Die Länge dieser Linie beträgt 68 670 Yards."
Einige Londoner Blätter bringen heute telegraphische Berichte über einen von Schamyl irgendwo in der Nähe von Tiflis errungenen Sieg. Die französischen und deutschen Blätter erwähnen diese Tatsache nicht. Am 4. September überschritten die Türken die Donau in der Nähe von Matschin und besetzten die zwischen dieser Festung und Braila gelegene Insel. Ein großer Teil der türkischen Donauflottille hat ebenfalls bei Matschin Anker geworfen. Die Besetzung Brailas durch die Türken sollte am 5. dieses Monats erfolgen. Man beachte die Bekanntmachung General Krusensterns, die am 30. August an die Mauern Odessas angeschlagen wurde und die Einwohner bei schwerer Bestrafung davor warnt, beim Inbrandsetzen der Stadt Widerstand zu leisten, wenn die Truppen dies zur Verteidigung des Landes für nötig erachten sollten. Die Russen haben auch in allen Bezirken Bessarabiens den Befehl ausgegeben, beim Nahen des Feindes Städte und Dörfer niederzubrennen. Der Befehl ist um so lächerlicher, als die Russen sehr wohl wissen, daß die Rumänen Bessarabiens ihren Rückzug auch nicht mehr bedauern würden als die Rumänen der Walachei und der Moldau. Ich habe die Umstände beschrieben, unter denen die walachische und moldauische Miliz in den russischen Militärdienst aufgenommen wurde. Aus den heutigen englischen Blättern kann man Einzelheiten der Auseinandersetzung erfahren, die am 28. August zwischen Herrn von Budberg und den Offizieren der rumänischen Miliz stattfand und damit endete, daß Hauptmann Phillippesco dem russischen General ins Gesicht sagte, die Walachen würden nur den Sultan als ihren Suzerän anerkennen. Natürlich wurde er gemeinsam mit zwei Offizierskameraden, die sich ähnliche Äußerungen erlaubt hatten, in Arrest genommen. Die folgende Darstellung der Ereignisse, die sich am 29. [August] abspielten, dem Tag, an dem der russische Feldzug in den Fürstentümern zu einem solch glorreichen Abschluß gebracht wurde, stammt aus der heutigen Pariser „Presse":
„Die Verhaftung Kapitän Phillippescos und zweier anderer Offiziere, die es gewagt hatten, den Vorschriften General Budbergs zu trotzen, hat in den Reihen der moldauischen Miliz große Entrüstung hervorgerufen und ihren Unwillen, der russischen
Armee zu dienen, vermehrt. Am 29., kurz vor der Stunde, die für die Parade festgesetzt war, begab sich der Hetman Mawrocordato zu der Kavalleriekaserne, die dem Verwaltungspalast gegenüber liegt. Zu seiner großen Bestürzung fand er sie völlig verlassen vor. Die Soldaten, anstatt ihre Pferde für die Parade zu satteln, hatten es vorgezogen, unter Zurücklassung ihrer Waffen und des Gepäcks aus den Ställen zu fliehen. Der unglückliche Hetman eilte zur Artilleriekaserne und erfuhr dort eine neue Überraschung: Die Kanonen standen im Hof an ihrem Platz, doch die Leute waren verschwunden. Mawrocordato sah sich in seiner Verzweiflung bereits auf dem Weg nach Sibirien. Doch es gelang ihm, ungefähr 30 Mann zu sammeln. Vor Wut und Angst zitternd, befahl er ihnen, die Pferde vor die Kanonen zu spannen und zum Paradeplatz zu marschieren. ,Und wenn man uns mit Gewalt fortbringt', riefen sie, ,wir nehmen von den Russen keine Befehle entgegen.' Mit diesen Worten schlössen sie die Tore der Kaserne. In diesem Moment dröhnten Trommeln über den Platz. Es war die ganze Division Osten-Sackens, bestehend aus zwölf Bataillonen, einem Regiment Dragoner und drei Bataillonen Artillerie, die sich, nachdem sie die Verbindungswege abgeschnitten hatte, auf dem Platz formierte und sowohl den Verwaltungspalast als auch die Kaserne der moldauischen Kavallerie blockierte. Sechzig moldauische Kavalleristen, die zurückgebracht worden waren, wurden vor der Kaserne aufgestellt. Ihnen gegenüber standen 12000 Russen - Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Osten-Sacken traf ein, gefolgt von General Budberg und einem zahlreichen Stab. Die moskowitischen Truppen entfalteten sich in Kolonnen und defilierten mit aufgepflanzten Bajonetten und Hurrageschrei vor ihren Generalen. Als nächstes formierten sie sich 150 Yards vor den moldauischen Kavalleristen zu Karrees. Sie erhielten Befehl zu laden. Die russischen Soldaten führten den Befehl aus, nachdem sie sich bekreuzigt hatten. Die sechzig Kavalleristen wurden aufs Korn genommen. Als das vollbracht war, rückte Osten-Sacken mit seinem Stab auf die kleine Schar der moldauischen Milizmänner vor undjforderte sie auf, seiner Armee zu- folgen, mit der Drohung, sie im Falle der Weigerung alle erschießen zu lassen. Darauf folgt minutenlange Stille. Der auf dem Platz versammelten Menge bemächtigt sich eine heftige Erregung. Dann tritt einer der Moldauer vor und wendet sich in ruhigem Ton an den russischen General: ,Wir sind moldauische Soldaten, und unsere Pflicht ist es, unser Land zu verteidigen, nicht aber für die Ausländer zu kämpfen. Tun Sie mit uns, was Sie wollen. Wir werden mit Ihnen nicht marschieren.' ,Und wenn Sie uns morden, wir werden nicht mit Ihnen marschieren', wiederholen die sechzig Soldaten einstimmig. Als Osten-Sacken ihre kühne Antwort hörte, befahl er ihnen, von den Pferden zu steigen und ihre Waffen niederzulegen, wie für eine Sofortige Exekution. Sie gehorchen, zum Tode bereit. Im selben Moment umringen sie Tausende von Soldaten, stürzen sich auf sie und nehmen sie gefangen. Nachdem sie diese große Waffentat vollbracht, rücken die Moskowiter auf die Kaserne der moldauischen Artillerie vor, wo die dreißig Mann weiterhin die Tore geschlossen halten. Die Soldaten brechen die Tore auf und dringen ein; ein Kampf findet statt, und auch die Artilleristen, von überlegener Zahl überwältigt, werden gefangengenommen. Sie werden unter Beschimpfungen und Todesdrohungen eilig weggebracht. Doch sie reagieren nicht darauf. Nur einer, ein junger Fähnrich von
22 Jahren, dessen Augen vor Wut funkeln, geht auf General Wrangel zu und ruft, seine Brust entblößend: ,Hier ist meine Brust, durchbohren Sie sie mit Ihren Kugeln, wenn Sie es wagen!' Der General wagte es nicht. Der Fähnrich und seine entwaffneten Kameraden wurden, von zwei Reihen Bajonetten begleitet, nach dem Lager OstenSackens, außerhalb der Tore Jassys, gebracht. Niemand weiß, was aus ihnen wurde. Von den drei am vorhergehenden Abend verhafteten Offizieren befürchtet man allgemein, daß sie erschossen wurden. An demselben Abend umzingelten die Russen den Ort, in dem das Regiment moldauischer Infanterie untergebracht war. Doch sie fanden nur 150 Mann, die andern waren entkommen. Die Bevölkerung Jassys stieß laute Verwünschungen gegen ihre Beschützer aus. Sechzig Kavalleristen, dreißig Artilleristen und einhundertfünfzig Infanteristen wurden von 12000 Russen mit drei Batterien gefangengenommen und entwaffnet. Das ist der einzige Sieg, dessen Lorbeeren die Russen von ihrem Feldzug in den Fürstentümern nach Hause bringen." In einem früheren Artikel erwähnte ich den Befehl Omer Paschas, die Veröffentlichung des österreichischen Manifests von General Hess zu unterbinden. Wir wissen jetzt, aus welchen Gründen dieser Befehl erteilt wurde, nämlich, weil besagte Proklamation die walachischen Behörden aufrief, sich in allen Angelegenheiten ausschließlich an den österreichischen Kommandanten zu wenden. Omer Pascha ließ General Hess wissen, daß er besser davon Abstand nehmen solle, sich in die Zivilverwaltung der Walachei einzumischen, die zu seinem (Omer Paschas) Gebiet gehöre. Da er mit seiner Proklamation nur erkunden wollte, wie weit er gehen dürfe, entschuldigte sich General Hess wegen des beanstandeten Passus. Um Omer Pascha zu überzeugen, daß alles nur ein Irrtum gewesen sei, übersandte er ihm den deutschen Originaltext, worin die walachischen Behörden nur aufgefordert werden, sich in Fragen, die die österreichischen Truppen betreffen, an seinen Adjutanten zu wenden. Der österreichische General Popovic, der am S.September mit dem österreichischen Vortrupp in Bukarest eingezogen war und sofort begann, die Rolle Haynaus zu spielen, wurde gleichfalls von Omer Pascha gezügelt. Wie willkommen die österreichische Besetzung den Walachen im allgemeinen ist, kann man einem Auszug aus der heutigen „Daily News" entnehmen: „Viele Dörfer an dem Wege, auf dem die Österreicher vorrückten, sind von ihren Einwohnern verlassen worden, die alle weltliche Habe mit sich genommen haben, da sie befürchteten, sie würden gezwungen, Lebens- oder Transportmittel für Papiergeld zur Verfügung zu stellen, dessen realer Wert genau die Hälfte seines nominellen Wertes beträgt. Infolgedessen muß Brot für die österreichischen Truppen aus dem zwanzig oder sogar dreißig Meilen entfernten Bukarest herangebracht werden." Der nüchterne „Economist" zieht, sicherlich wegen der in den Fürstentümern begangenen Schandtaten - den Folgen englischer Diplomatie auf
einige im Vergleich sehr leichte Fehler der amerikanischen Diplomatie in Europa anspielend, die folgende Unterscheidungslinie zwischen englischer und amerikanischer Diplomatie:
„Wir zweifeln nicht daran, daß es in Amerika ebenso wie hier genügend Menschen vornehmer Gesinnung gibt, die ein starkes Anstandsgefühl und eine klare Vorstellung davon haben, was anderen gebührt. Der Unterschied zwischen uns und das Unglück unserer Vettern ist, daß solche Menschen auf der anderen Seite des Atlantik weder die Regierung wählen, noch den Ton der Nation angeben oder die Sprache der Presse lenken. Bei uns haben die Gebildeten und die oberen Klassen die Macht in ihren Händen. In den Vereinigten Staaten regiert die Masse; es ist der Pöbel, der den Namen und Titel der Nation usurpiert; er ist es, der diktiert, was getan oder gesagt werden soll; er ist es, der die Regierung wählt und dem die Regierung dienen muß; er ist es, der die Presse unterstützt und den die Presse zufriedenstellen muß, kurz, er ist es, für den gehandelt und geschrieben werden muß."
So spricht der Diener der englischen Börsenjobber, als ob die englische Diplomatie nicht gleichbedeutend sei mit Infamie, als ob die „Gentlemen", ernannt von Herrn Wilson, dem Herausgeber des „Economist" und Herrn Gladstone, seinem Vorgesetzten, nicht als Schwindler, Spieler und Diebe vor dem Parlament überführt worden wären. Die Nachrichten aus Spanien sind spärlich. Am 8. d. M, löste sich die beratende Junta von Madrid endgültig auf. Die Junta von Sevilla löste sich erst nach einem scharfen Protest gegen den reaktionären Kurs der Zentralregierung auf. Die Demokraten Kataloniens haben ein Manifest gegen General Prim veröffentlicht, der aus der Türkei sein Einverständnis mit der gegenwärtigen Regierung erklärt hatte, um nicht von der Teilung der Beute ausgeschlossen zu werden. Er zog sich den Haß der Katalonier durch die Belagerung der Burg von Figueras im Jahre 1843 zu, berüchtigt wegen der entsetzlichen Grausamkeiten, die er hierbei aus reiner Wut über die tapfere Verteidigung der Festung durch eine verhältnismäßig kleine Streitmacht unter dem Kommando Ametllers beging. Man bezeichnete diesen Prim damals als „einen lächerlich eitlen Menschen, dem der Kopf durch zufällige Erfolge und die Ernennung zum Grafen und Generalleutnant verdreht wurde". In der „Epoca" lesen wir, daß am 7. bei Aranjuez ein Gefecht ausgetragen wurde zwischen der Nationalgarde und einer Abteilung, von der nicht bekannt ist, ob sie aus Karlisten oder Republikanern bestand. Da der Erfolg der Reaktion schnell und gewiß zu sein scheint, hören die konterrevolutionären Journale nicht auf, ihren Befürchtungen Ausdruck zu geben, daß die Dinge in Spanien bis jetzt noch nicht entschieden Seien.
Den gerade herausgegebenen Berichten über die Schiffahrt und den Handel entnehme ich folgenden Bericht12421:
Gesamtsumme des deklarierten Werts des Exports britischer und irischer Produkte und Manufakturwaren in den Jahren 1831,1842 und 1853:
1831 1842 1853 AUSWÄRTIGE LÄNDER: £ £ £ Rußland, Nordhäfen und Schwarzmeer 1195565 1885953 1228405 Schweden und Norwegen 115707 334017 556183 92294 194304 569733 Preußen 192816 376651 579588 Hannover und Hansestädte 3642952 6202700 7565493 Holland 1 Belgien 2082536 3573362 1099490 4452955 1371817 Frankreich 602688 3193939 2636330 975991 947855 1210411 Azoren und Madeira 80698 64909 124971 Spanien und Balearische Inseln ... 597848 322614 1360719 Kanarische Inseln 33282 54554 107638 Italien: Sardinische Gebiete [1 112447 Herzogtum Toskana 639794 Päpstliche Gebiete [ 2490376 2494197 207491 Neapel und Sizilien 639 544 637353 Griechenland 135315 899100 1489826 2029305 Walachei und Moldau 179510 Syrien und Palästina 375551 306580 Ägypten 122832 221003 787111 426 41952 75257 Französische Besitzungen in 1725 Westküste Afrikas 234768 459685 617764 285296 306132 558212 Philippinen 39513 47019 386552 519443 969381 1373689 Kuba 663531 711938 1124864 Haiti 376103 141896 133804 Vereinigte Staaten und Kalifornien . 9053583 3535381 23658427
1831 Mexiko 728858 Neu-Granada 1 0/.Q0cn v i t 248250 Venezuela j Brasilien 1238371
^mgUayÄ. 1 339870 Buenos Aires J Chile 651617 Peru 409003 Andere Lander 215 Gesamtexport nach auswärtigen Ländern 26909432
BRITISCHE BESITZUNGEN: Kanal-Inseln 324634 Gibraltar 367285 Malta 134519 Ionische Inseln 50883 Südafrika 257245 Mauritius 148475 Ostindien 3857969 Hongkong Australien 403223 Nordamerikanische Kolonien 2089327 Westindien 2581949 Andere Besitzungen 39431
Gesamtexport nach britischen Besitzungen 10254940 Gesamtsumme des Exports in britische Besitzungen und ins Ausland 37164372
1842 374969
231711
1756805
969791
950466 684313 7223
1853 791940 450804 248190 3186407 529883 551035 1264942 1246730 912662
34119587 65551579
364350 937719 289304 83600 369076 244922 5169888
998952 2333525 2591425 18675
470107 670840 297906 116567 1212630 385879 8185695 357908 14513700 4898544 1906639 347787
13261436 33382202
47381023 98933781
Der „Economist" wählt das Jahr 1842[243], um die Vorzüge des Freihandels seit dieser Zeit darzustellen, wobei er mit gewohnter Biederkeit vergißt, daß 1842 ein Jahr der Handelsdepression und 1853 ein Jahr höchster Prosperität war. Wenn der Fortschritt des englischen Exports durch die Wunderkraft des Freihandels hervorgebracht wurde, so wäre er besser bewiesen worden durch einen Vergleich der jeweiligen Exporte nach Ländern, die ein strenges Schutzzollsystem aufrechterhalten, wie zum Beispiel Rußland und Frankreich, wobei das erstere dieser Länder überdies dasjenige ist, aus dem Importe am stärksten gestiegen sind und das dem Einfluß des
34 Marx Engels, Werke, Band 10
englischen Freihandels am stärksten unterworfen war. Jetzt stellt sich heraus, daß der Export nach diesen beiden Ländern gesunken ist.
1853 betrug der Export nach Rußland .... 1 106767 Pfd. St. 1831 dagegen 1 195565 „ „ 1853 betrug der Export nach Frankreich .. 2636330 „ ,, 1842 dagegen 3193939 „ „
Der Gesamtwert des britischen Exports in den sieben Monaten, die mit dem 5. August 1854 enden, verglichen mit den entsprechenden Monaten des Jahres 1853, zeigt einen Zuwachs als Folge der gestiegenen Metallpreise; doch bei den anderen vorherrschenden Produkten der britischen Industrie zeigt sich ein deutliches Absinken, was folgende Tabelle beweist: 1853 1854 Leinenfabrikate 2650150 Pfd. St. 2456953 Pfd. St. Leinengarn 646578 „ 581752 Seidenfabrikate 965345 „ 834275 Seidengarn 132689 „ 120890 Wollfabrikate. 3741261 „ 3731453 Baumwollfabrikate 15515224 „ 14762981 Baumwollgarn 3897080 „ 3838393
Das Absinken bei Baumwolle erscheint um so überraschender, da die ausgeführte Menge anstieg, während sich der erzielte Preis verringert hat. 1854 wurden 981 994130 Yards Baumwollfabrikate, ohne Spitze und Tüll, exportiert, während 1853 nur 969293663 Yards exportiert wurden. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Der Angriff auf Sewastopol s
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4209 vom M.Oktober 1854, Leitartikel] Endlich scheint sich den Franzosen und Engländern die Möglichkeit eines ernstlichen Schlages gegen Rußlands Macht und Ansehen zu bieten, und wir verfolgen daher mit erneutem Interesse die Bewegung gegen Sewastopol; die letzten Nachrichten hierüber werden in einem anderen Artikel behandelt. Selbstverständlich brüsten sich die britischen und französischen Blätter sehr mit diesem Unternehmen, und dürfte man ihnen glauben, so hätte es nie etwas Großartigeres in der Kriegsgeschichte gegeben; wer aber den Tatsachen ins Auge sieht - die unbegreiflichen Verzögerungen und sinnlosen Ausreden, die das Anlaufen der Expedition begleiteten, sowie alle die vorhergehenden wie die begleitenden Umstände läßt sich dadurch nicht imponieren. Mag auch der Ausgang des Unternehmens glorreich sein, sein Anfang war recht erbärmlich. Sehen wir uns einmal die bisherige Geschichte der alliierten Armeen in der Türkei an. Zuerst wollten diese sehr heldenmütigen, aber auch recht vorsichtigen Krieger bei Enos diesseits der Dardanellen landen und sich der Halbinsel erst dann nähern, wenn alles ganz gefahrlos geworden wäre. Vor der Vollbringung dieser Heldentat jedoch nahm ihr Mut ein unerwartetes Ausmaß an, und sie wagten eine Landung bei Gallipoli auf dem Thrakischen Chersones. Das hatten sie aber nur deshalb getan, um die Verteidigungswerke quer über die Halbinsel in kürzerer Zeit zu vollenden und sich so die wichtigste aller Bedingungen, eine Operationsbasis, zu sichern. Inzwischen mußten die Türken an der Donau unausgesetzt jenen furchtbaren Gegnern die Stirn bieten, deren Anwesenheit in der Walachei der Vorwand zu den gelehrten Manövern der Alliierten war; und die Türken entledigten sich
dieser Aufgabe mit bedeutendem Erfolg. Als aber immer mehr Schiffe und Truppen ankamen, stellte es sich heraus, daß die Dardanellen und die Halbinsel sie nicht mehr aufnehmen konnten. So bekamen die wissenschaftlichen Vorbereitungen, die zwischen London und Paris vereinbart worden waren, ein neues Loch. Ein Teil der Truppen mußte sich tatsächlich den Gefahren und dem Wagnis einer Landung in Konstantinopel aussetzen, diesem sehr exponierten Punkt! Um diesen Gefahren abzuhelfen, wurde mit der Befestigung dieser Stadt sogleich begonnen. Darüber verging glücklicherweise eine Menge Zeit, und somit war der Hauptzweck erreicht: nicht etwa Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Dann vergewisserte man sich, daß ohne großes Risiko eine Division nach Varna als Besatzung für diesen wichtigen Ort geschickt werden konnte; denn die Türken, die Varna 1828 so glorreich verteidigten, hatten sich seitdem sicherlich in solchem Maße an die europäische Disziplin gewöhnt, daß man ihnen die Verteidigung einer solchen Stellung nicht mehr anvertrauen konnte. Die Division wurde also hingeschickt, und ihr folgten noch eine oder zwei Divisionen. Als endlich kein Vorwand mehr existierte, die Truppen im Bosporus zu halten, wurde die große vereinigte Armee in aller Gemütlichkeit bei Varna konzentriert. Das geschah zur gleichen Zeit, als eine österreichische Armee wie eine drohende Gewitterwolke in der Flanke und im Rücken der Russen erschien und so durch politische Kombinationen die Operationsbasis der Alliierten plötzlich von Konstantinopel nach Transsylvanien und Galizien verlegt wurde. Wäre dies nicht gewesen, so dürfte man mit Fug und Recht annehmen, daß es in Bulgarien niemals eine Armee der Alliierten gegeben hätte. Als Beweis dafür kann ihr Verhalten während der Belagerung Silistrias gelten. Jedermann weiß, daß dort der Wendepunkt des ganzen Feldzugs war und daß in einem solchen kritischen Augenblick, wenn beide Parteien ihre Kräfte bis zum äußersten angestrengt haben, das kleinste Übergewicht auf der einen Seite in neun von zehn Fällen zu deren Gunsten den Ausschlag gibt. Dennoch standen während dieser entscheidenden Belagerung 20000 englische und 30000 französische Soldaten, „die Blüte der beiden Armeen", nur wenige Tagemärsche von der Festung entfernt, rauchten gemütlich ihre Pfeife und bereiteten sich in aller Ruhe auf die Cholera vor. Hätte diese Krankheit nicht auch in den Reihen der Russen fürchterliche Musterung gehalten, hätte nicht eine Handvoll Arnauten, die in einem durch und durch von Sprenggeschossen zerwühlten Graben verschanzt waren, Wunder an Tapferkeit verrichtet, so wäre Silistria in die Hände des Feindes gefallen. Es gibt kein zweites Beispiel in der Kriegsgeschichte, wo eine Armee, die so bequem zur Hand war, ihre Bundesgenossen so feige ihrem Schicksal überließ. Kein Feldzug in die Krim und
DER KRIEGSSCHAUPLATZ AUF DER KRIM IM JAHRE 1854

kein Sieg wird die französischen und englischen Feldherren je von diesem Makel reinwaschen. Wie wäre es den Briten bei Waterloo ergangen, wenn der alte Blücher, nach seiner Niederlage bei Ligny zwei Tage vorher, ebenso gewissenhaft gehandelt hätte wie die Raglan und Saint-Arnaud?t1311 Die Handvoll Arnauten in den Gräben von Arab-Tabia war den Russen an Geschicklichkeit, Verstand und militärischer Stärke ebenbürtig. Die Russen wurden nicht etwa durch eine Entsatzarmee über die Donau getrieben; ihre eigene Dummheit, der Mut der Verteidiger, das Sumpffieber, der passive Druck der Österreicher am Dnestr und der Alliierten am DevnaSee (denn wer konnte ahnen, daß sich diese so verhalten würden?) ließen sie endlich die Belagerung abbrechen und sowohl den Feldzug als auch die Fürstentümer und die Dobrudscha aufgeben. Die alliierten Generale wollten natürlich diesen großen Erfolg ausnützen, und zwar getreu den Regeln jenes strategischen Systems, das sie bisher so erfolgreich angewendet hatten. Infolgedessen führte Lord Cardigan die britische Kavallerie an die Donau, um eine Rekognoszierung vorzunehmen, bei der sie keine Russen zu Gesicht bekam, viele Pferde verlor und nichts als Krankheit und Lächerlichkeit einheimste; unterdessen führte der hauptsächlich durch seinen Verrat an der Nationalversammlung vom 2. Dezember 1851 bekannte General Espinasse12441 seine Division in die Dobrudscha mit dem einzigen Erfolg, daß ein paar prächtige Regimenter durch die Cholera halb vernichtet wurden und der Keim dieser Epidemie in das Lager der Alliierten geschleppt wurde. Wenn die Cholera so fürchterlich in den Reihen der Alliierten bei Varna um sich griff, dann war dies das wohlverdiente Resultat ihrer vortrefflichen strategischen Anordnungen. Zu Tausenden fielen die Soldaten aus, ehe sie den Feind überhaupt zu Gesicht bekommen hatten; in einem Lager, wo sie ungestört und friedlich verhältnismäßig luxuriös leben konnten, starben sie wie Fliegen dahin. Entmutigung, Mißtrauen gegen die Führer und Desorganisation waren die Folge, nicht so sehr bei den Engländern, die weniger darunter litten und überhaupt viel widerstandsfähiger sind, als bei den Franzosen, deren Nationalcharakter solchen Einflüssen zugänglicher ist, besonders wenn ihre Befehlshaber sie in Untätigkeit halten. In den Meutereien, die jetzt unter den Franzosen ausbrachen, traten nur die natürlichen Folgen des abnormen Zustands zutage, in dem die französischen Soldaten seit 1849 lebten. Die Bourgeoisie hat den französischen Soldaten, der sie von den Schrecken der Revolution befreite, gelehrt, sich als Retter der Nation und der Gesellschaft überhaupt zu betrachten. Von Louis Bonaparte wurde er als das Werkzeug zur Wiederherstellung des Kaiserreichs gehätschelt. Man behandelte ihn die ganze Zeit über auf eine Art und Weise, die ihn glauben ließ, er habe zu
befehlen, und die ihn vergessen ließ, daß er zu gehorchen habe. Man hatte ihm die Meinung beigebracht, er stehe hoch über den Zivilisten, und nun bildete er sich alsbald ein, er sei seinen Führern zumindest ebenbürtig. Man scheute keine Anstrengung, ihn zu einem Prätorianer zu machen, und die Geschichte hat uns noch stets gelehrt, daß Prätorianer nur entartete Soldaten sind. Sie beginnen damit, den Zivilisten zu kommandieren, dann gehen sie dazu über, ihren eigenen Generalen zu diktieren, und sie enden damit, daß sie selbst tüchtige Prügel einstecken müssen. Was geschah also in Varna? Ganze Bataillone brachen in dem glühend heißen Sand zusammen und wanden sich dort in den Qualen der Cholera; da fingen die alten Soldaten an, die Abenteurer, die sie jetzt befehligten, mit den früheren Befehlshabern zu vergleichen, die sie so erfolgreich während jener afrikanischen Feldzüge geführt hatten, auf die die Helden des Lower Empire[245] der Gegenwart so gern mit Verachtung herabsehen. Afrika war ein heißeres Land als Bulgarien, und die Sahara ist bedeutend weniger angenehm als selbst die Dobrudscha. Nie aber gab es während der afrikanischen Eroberungen solche Sterblichkeitsziffern wie während dieser Ruhezeit in Devna und auf den leichten Rekognoszierungsmärschen um Kustendje. Cavaignac, Bedeau, Changarnier, Lamorici&re führten die französische Armee durch weit größere Gefahren mit weit weniger Verlusten; das war allerdings zu einer Zeit, wo Espinasse und Leroy Saint-Arnaud noch in jenem Dunkel schlummerten, aus dem nur politische Infamie sie hervorziehen konnte. Die Zuaven, die besten Vertreter der afrikanischen Armee, jene Männer, die die Hauptarbeit geleistet und das meiste Pulver gerochen hatten, erhoben sich daher wie ein Mann und brüllten: „A bas les singes! II nous faut Lamoriciere!" (Nieder mit den Affen! Gebt uns Lamoriciere!) Seine Kaiserliche Majestät Napoleon III., das Haupt und die Seele dieser jetzigen offiziellen Nachäfferei einer großen Vergangenheit, muß wohl, als er dies erfuhr, empfunden haben, daß der Schrei der Zuaven für ihn „der Anfang vom Ende" sei. In Varna hatte er eine magische Wirkung. Wir dürfen behaupten, daß er der Hauptbeweggrund zu der Expedition nach der Krim gewesen ist. Nach den Erfahrungen dieses Sommerfeldzugs oder, besser gesagt, Spaziergangs von Gallipoli nach Skutari, von Skutari nach Varna, von Varna nach Devna, Aladyn und wieder zurück, wird niemand von uns erwarten, daß wir die Vorwände ernst behandeln, die die alliierten Befehlshaber zur Erklärung dafür vorbringen, warum die Expedition, nachdem sie so lange aufgeschoben worden war, schließlich so überstürzt unternommen wurde. Wir können an einem Beispiel zeigen, was ihre Argumente wert sind. Es hieß,
der Aufschub sei dadurch hervorgerufen, daß die französische Belagerungsartillerie nicht angekommen sei. Aber als Leroy Saint-Arnaud zur Zeit der Cholerameutereien sah, daß er jetzt, und zwar unverzüglich, seinen besten Trumpf ausspielen mußte, verlangte er in Konstantinopel türkische Belagerungsartillerie und Munition, die dann auch in kürzester Zeit bereitgestellt und eingeschifft wurde; und wäre der französische Artillerietrain nicht in der Zwischenzeit eingetroffen, so wäre man ohne ihn abgesegelt. Die türkische Belagerungsartillerie aber war Monate früher bereit, und somit ist bewiesen, daß all die Verzögerungen unnötig waren. Es stellte sich also heraus, daß diese großsprecherische Expedition nach der Krim, die aus 600 Schiffen und 60000 Soldaten, 3 Trains Belagerungsartillerie und wer weiß wie vielen Feldgeschützen besteht, statt das wohlüberlegte Ergebnis kluger, von langer Hand wissenschaftlich vorbereiteter Bewegungen zu sein, nichts ist als ein übereilter coup de tete1, der Leroy Saint-Arnaud davor retten sollte, daß ihn seine eigenen Soldaten massakrierten; der arme alte, nachgiebige Lord Raglan war nicht der Mann, Widerstand zu leisten, um so mehr, als jede weitere Verzögerung seine Armee in dieselbe Disziplinlosigkeit und Verzweiflung stürzen konnte, die die französischen Truppen schon ergriffen hatte. Die Ironie des Schicksals, von der ein deutscher Schriftsteller spricht, wirkte nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist auch in der modernen Geschichte noch am Werk, und im Augenblick ist der arme Lord Raglan ihr Opfer. Was Leroy Saint-Arnaud betrifft, so wurde er von niemand je als Befehlshaber betrachtet. Er ist ein altes Mitglied der Hochstaplergilde, ein berüchtigter alter Kumpan von Diebinnen und Schwindlerinnen, der würdige Gehilfe des Mannes, den „die Schulden, nicht die Schuld" zu der Expedition von Boulogne[246] trieben. Trotz aller Zensur sind sein Charakter und sein Vorleben dem geschwätzigen Paris nur zu gut bekannt. Man kennt diesen zweimal kassierten Leutnant ganz genau, diesen Hauptmann, der als Zahlmeister in Afrika die Regimentskasse plünderte, und was er auch in der Krim vollbringen mag, sein wichtigster Anspruch auf militärischen Ruhm wird es doch stets bleiben, daß er in London mit den Bettdecken seiner Hauswirtin eine erfolgreiche Expedition nach dem Leihhaus unternahm, der er dann seinen gut gelungenen Rückzug nach Paris folgen ließ. Der arme Raglan jedoch, des Herzogs von Wellington Generaladjutant, der in der theoretischen Arbeit und den minutiösen Details der Stabsarbeit grau geworden ist, glaubt zweifellos wirklich an die Gründe, die Saint-Arnaud für seine Handlungen vorbringt. Und auf ihn fällt das ganze
1 unüberlegter Streich
Gewicht der merkwürdigen Tatsache, daß dieser gesamte Feldzug so wissenschaftlich entworfen, so klug durchgeführt wurde, daß 10000 Mann oder etwa einer von sieben starben, ehe sie den Feind auch nur sahen,unddaß dieses ganze kunstvolle Vorgehen zu nichts anderem führte als zu einer völlig überstürzten Expedition nach der Krim am Ende der günstigen Jahreszeit. Ja, nichts ist so beißend wie diese „Ironie des Schicksals". Trotz alledem kann die Expedition erfolgreich sein. Die Alliierten verdienen es fast, denn durch nichts würde die Art, in der sie den Feldzug bisher geführt haben, mehr der Verachtung preisgegeben sein. Soviel Aufhebens, solch ein Aufwand an Vorsicht, solch ein Übermaß an Wissenschaft gegenüber einem Feind, der einem Unternehmen erliegt, das nicht seine Vernichtung, sondern die Erhaltung der eigenen Armee zum Ziel hat; das wäre das ärgste Verdammungsurteil, das die Alliierten über sich selbst fällen könnten. Aber sie sind noch nicht in Sewastopol. Sie sind in Eupatoria und Staroje Ukreplenije gelandet. Von da haben sie noch 50 respektive 20 Meilen bis Sewastopol zu marschieren. Ihre schwere Artillerie soll nahe Sewastopol ausgeschifft werden, um den mühsamen Landtransport zu ersparen; die Landung ist also noch lange nicht vollendet. Wenn auch die Kräfte der Russen nicht genau bekannt sind, so besteht doch kein Zweifel, daß sie in der unmittelbaren Nähe von Sewastopol in vielfacher Beziehung stärker sind als die der Alliierten. Das hüglige Terrain und die etwa zehn Meilen ins Land hineinreichende Bucht werden die Alliierten zwingen, ihre Truppen weit auseinanderzuziehen, sobald sie die Festung einzuschließen versuchen. Einem entschlossenen Feldherrn kann es nicht schwer fallen, ihre Linie zu durchbrechen. Wir wissen natürlich nicht, mit welchen Mitteln der Platz zu Lande verteidigt wird; was wir aber vom alten Menschikow wissen, läßt uns darauf schließen, daß er seine Zeit nicht vertan haben wird. Berichte aus englischen Zeitungen und die von den Alliierten gewählte Operationslinie lassen uns annehmen, daß der erste Angriff auf das Fort erfolgt, das die Stadt von einem Hügel auf der Nordseite aus beherrscht. Es wird von den Russen Sewernaja Krepost, das Nordfort, genannt. Ist dieses Fort auch nur halbwegs solide gebaut, so vermag es lange Widerstand zu leisten. Es ist eine große viereckige Redoute, nach Montalemberts polygonalem oder auch Caponiere-System gebaut, deren Flankenverteidigung durch ein niedriges kasemattiertes Werk gebildet wird, das auf dem Boden des Grabens in der Mitte jeder Seite des Quadrats liegt und den Graben nach beiden Seiten rechts und links bestreicht. Diese Werke haben den Vorzug, dem direkten Feuer des Feindes nicht eher ausgesetzt zu sein, bis er mit seinen Arbeiten unmittelbar an den Rand des Grabens vorgerückt ist. Die Lage
dieses Forts in nächster Nähe der Hauptfestung gestattet, daß man es offensiv als Stütze und als Basis für starke Ausfälle gebraucht, und alles in allem muß sein Vorhandensein die Alliierten zwingen, ihre Hauptoperationen auf das Nordufer der Bucht zu beschränken. Die Erfahrungen von Bomarsund aber haben uns gezeigt, daß sich von russischen Festungen nichts Bestimmtes sagen läßt, ehe sie nicht tatsächlich auf die Probe gestellt werden. Deshalb können die Erfolgsaussichten der Krimexpedition jetzt nicht einmal annähernd genau festgestellt werden. Eines aber ist so ziemlich sicher: Sollten sich die Operationen in die Länge ziehen, sollten durch den Einbruch des Winters erneut Krankheiten ausbrechen, sollten die Truppen in unüberlegten, unvorbereiteten Angriffen wie die der Russen auf Silistria aufgerieben werden, so würde die französische und noch wahrscheinlicher auch die türkische Armee in jenen Zustand der Auflösung zurückfallen, in den die französische bei Varna geriet und der sich bei der türkischen in Asien mehr als einmal zeigte. Die Engländer werden sicher länger zusammenhalten; aber es gibt einen gewissen Punkt, an dem selbst die diszipliniertesten Truppen versagen. Darin liegt die wahre Gefahr für die Alliierten, und sollten sich durch den russischen Widerstand die Dinge in dieser Weise gestalten, so würde dadurch die Wiedereinschiffung vor einem siegreichen Feind zu einer sehr gewagten Sache. Die Expedition wird sehr wahrscheinlich erfolgreich ausgehen; aber andrerseits kann sie ein zweites Walcheren[247] werden.
Geschrieben am 18. September 1854. Aus dem Englischen.

Comentarios

Entradas populares