KARL MARX FRIEDRICH ENGELS BAND 21

KARL MARX • FRIEDRICH ENGELS
WERKE • BAND 21
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS
WERKE
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DIETZ VERLAG BERLIN
1962
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS
BAND 21
DIETZ VERLAG BERLIN
Die deutsche Ausgabe fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten Ausgabe in russischer Sprache
Vorwort
Der einundzwanzigste Band der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels enthält die Arbeiten von Engels, die von Mai 1883 bis Dezember 1889 geschrieben wurden. Es war die Periode der relativ „friedlichen" Entwicklung des Kapitalismus, die Periode des beginnenden Übergangs vom vormonopolistischen zum monopolistischen Kapitalismus, die Periode der Sammlung der Kräfte des Proletariats für die künftigen revolutionären Schlachten. „Der Westen hat die bürgerlichen Revolutionen abgeschlossen. Der Osten ist noch nicht reif für sie", sagte Lenin, als er diese Periode charakterisierte (W. I.Lenin, Werke, Band 18, Berlin 1961, S.577). In den achtziger Jahren machte die Arbeiterbewegung in den europäischen Ländern und in den USA große Fortschritte. Immer neue Teile der Arbeiterklasse schlössen sich der Bewegung an, immer breitere Arbeitermassen wurden von den Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus erfaßt. In den beiden größten Ländern Westeuropas - Deutschland und Frankreich - wirkten bereits einflußreiche proletarische Parteien, die den Marxismus als ihre theoretische Grundlage anerkannten. In vielen Ländern - Österreich-Ungarn, Italien, Spanien, den USA, Belgien, Holland, der Schweiz u.a. - entstanden oder festigten sich bereits vorhandene sozialistische Organisationen. Die erste russische marxistische Gruppe „Befreiung der Arbeit" entfaltete große Aktivität bei der Verbreitung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus in Rußland. Das wachsende Klassenbewußtsein der proletarischen Massen schuf reale Voraussetzungen für die Lösung der von der Internationalen Arbeiterassoziation (I.Internationale) gestellten Hauptaufgabe, in den verschiedenen Ländern politische Massenparteien des Proletariats auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus zu schaffen.
Um diese Aufgabe zu verwirklichen, mußte die Arbeiterklasse vor allem tagtäglich dafür kämpfen, sich vom Einfluß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie frei zu machen. Weiterhin war es notwendig, die in der Arbeiterbewegung noch vorhandenen kleinbürgerlichen, reformistischen und anarchistischen Strömungen, die in den verschiedenen Ländern entsprechend dem Stand ihrer Entwicklung und den Besonderheiten ihrer sozialen Bedingungen unterschiedliche Formen und Schattierungen aufwiesen, endgültig ideologisch zu zerschlagen. Zu einer wachsenden Gefahr für die jungen sozialistischen Parteien und Organisationen wurden die Versuche der Bourgeoisie, die Arbeiterbewegung durch offene Angriffe auf die marxistische Lehre zu spalten, sowie sie durch Korrumpierung der Oberschicht der Arbeiterklasse und Ausnutzung aller möglichen opportunistischen Elemente in ihren Reihen zu zersetzen. Der Kampf gegen diese Versuche wurde zur dringenden Aufgabe der Arbeiterbewegung. Unter diesen Bedingungen war Engels' Tätigkeit für die weitere Entwicklung und Verbreitung der marxistischen Theorie, sein Kampf für die Reinheit der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus, gegen die klassenfremden Einflüsse und den Opportunismus von großer Bedeutung. Nach dem Tode von Karl Marx ruhte die ganze Verantwortung der Leitung der internationalen Arbeiter- und sozialistischen Bewegung auf den Schultern von Engels. Ausgehend von den theoretischen und praktischen Erfordernissen des sich entfaltenden Kampfes der Arbeiterklasse maß Engels der Vollendung des von Marx nicht beendeten Hauptwerkes des Marxismus, des „Kapitals", vorrangige Bedeutung bei und bereitete die Herausgabe des zweiten, dritten und vierten Bandes vor. Neben dieser Arbeit widmete er sich mit ganzer Kraft der weiteren Ausarbeitung anderer Probleme der marxistischen Theorie, der Verteidigung der Ideen des Marxismus gegen die Entstellungen durch die Ideologen der Bourgeoisie und die Opportunisten; er arbeitete die taktische Linie der Arbeiterparteien unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Aufgaben der proletarischen Bewegung wie auch der konkreten Bedingungen in den einzelnen Ländern aus und setzte sich für die Erziehung der fortgeschrittenen Arbeiter im Geiste des proletarischen Internationalismus ein. Die bedeutendste Arbeit, mit der Engels in diesen Jahren die Schatzkammer des Marxismus bereicherte, ist „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats". Lenin betrachtete diese Schrift als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus" (W. I.Lenin, Werke, Band 29, Berlin 1961, S.463). Diese Schrift beleuchtet erstmalig systematisch vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung die
Geschichte der Menschheit in den frühesten Etappen ihrer Entwicklung; sie legt die historische Entwicklung der Familienverhältnisse dar und deckt die Ursachen der Entstehung des Privateigentums und der Teilung der Gesellschaft in antagonistische Klassen auf. Sie enthüllt ferner die Entstehung des Staates als Machtinstrument der herrschenden Klassen und weist schließlich die historische Notwendigkeit seines allmählichen Absterbens nach dem endgültigen Sieg der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft nach. Mit diesem klassischen Werk gab Engels den Führern der Arbeiterbewegung das wissenschaftliche Rüstzeug für ihren Kampf gegen die Apologeten des Kapitalismus, die Kathedersozialisten und anderen Feinde des Marxismus, die bestrebt waren, die Unerschütterlichkeit des Privateigentums, des bürgerlichen Staates und anderer Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft nachzuweisen. Den „Ursprung der Familie" betrachtete Engels, nach seinen eigenen Worten, gewissermaßen als die Vollführung des Vermächtnisses von Marx, denn Marx widmete seit ihrer gemeinsamen Arbeit an dem Werk „Die deutsche Ideologie" den Problemen der Geschichte der dem Kapitalismus vorausgegangenen Gesellschaftsformationen große Aufmerksamkeit. Bei der Ausarbeitung dieser Schrift berücksichtigte Engels weitgehend Marx' Bemerkungen in seinem Konspekt des Buches „Ancient society" des fortschrittlichen amerikanischen Gelehrten Lewis Henry Morgan, in dem die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus eine Reihe eigener Schlußfolgerungen bestätigt fanden. Engels stützte sich außerdem auf die Ergebnisse seiner eigenen Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte der alten Kelten, der Deutschen und anderer Völker. Im „Ursprung der Familie" faßt Engels die von Marx und ihm im Laufe vieler Jahre gewonnenen Erkenntnisse über die vorkapitalistischen sozial-ökonomischen Formationen zusammen. Unter Anwendung der materialistischen Dialektik analysiert Engels diese Formationen und ergänzt das von Marx im „Kapital" gezeichnete wissenschaftliche Bild der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft durch eine tiefschürfende Charakteristik der Urgemeinschaft, der Sklavenhalterordnung und in gewissem Sinne auch des Feudalismus. Damit wurde ein gewaltiger Schritt vorwärts getan bei der Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung. Erstmalig in der marxistischen Literatur beleuchtet'Engels im „Ursprung der Familie" die Entwicklung der Familie vom Standpunkt des historischen Materialismus. Die Familie als eine historische Kategorie betrachtend, enthüllt Engels den organischen Zusammenhang ihrer Formen - von der alten Gruppenehe bis zu der mit der Entstehung des Privateigentums sich festi
genden monogamen Familie - mit den verschiedenen Entwicklungsetappen der Gesellschaft und die Abhängigkeit dieser Formen von der Veränderung der Produktionsweise. Er zeigt, wie sich entsprechend der Entwicklung der Produktivkräfte der Einfluß der Geschlechtsverbände auf die Gesellschaftsordnung verringerte und mit dem Sieg des Privateigentums eine Gesellschaft entstand, in der „die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird" (siehe vorl. Band, S. 28). Engels unterzieht die moderne bürgerliche Familie einer scharfen Kritik. Er enthüllt die ökonomische Grundlage der rechtlichen Ungleichheit der Frauen unter den Bedingungen der Herrschaft des Privateigentums und zeigt, daß erst die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die Voraussetzungen für die wirkliche Befreiung der Frau schafft. Erst in der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich, wie Engels nachweist, dank der immer breiteren Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozeß, der Herstellung der völligen Gleichberechtigung der Geschlechter auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, der Befreiung der Frau von der Last der Hauswirtschaft, für die die Gesellschaft die Sorge in immer steigendem Maße auf sich nehmen wird, eine neue, höhere Form der Familie, die auf der vollen Gleichheit von Mann und Frau, auf gegenseitiger Achtung und echter Liebe beruhen wird. Ein bedeutender Teil der Arbeit ist der Untersuchung der Herausbildung und Entwicklung der verschiedenen Eigentumsformen und der von ihnen abhängigen Formen der Gesellschaftsordnung gewidmet. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Historikern, Nationalökonomen und Soziologen Beweist Engels unwiderlegbar, daß es nicht immer Privateigentum gegeben hat, daß während der langen Periode der Urgesellschaft die Produktionsmittel Gemeineigentum waren. Die Urgesellschaft, deren Untereinheit die Gens und der Stamm waren, die auf einer bestimmten Stufe die ursprüngliche Horde abgelöst hatten, kannte weder eine Klassenteilung noch die mit dieser Teilung verbundenen AusbeutungsVerhältnisse, noch eine vom Volk getrennte öffentliche Macht, d.h. den Staat. Engels legt ausführlich dar, wie mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der gesteigerten Produktivität der Arbeit es möglich wurde, sich die Produkte anderer Menschen anzueignen, wie sich auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen herausbildete. Die direkte Folge dieser Entwicklung war das Entstehen des Staates. Die Fragen des Ursprungs und des Wesens des Staates sind das Wichtigste, das Kernstück in Engels' Schrift. Die allseitige Untersuchung dieser
Fragen durch Engels war ein gewaltiger Fortschritt bei der Ausarbeitung der marxistischen Lehre vom Staat und schließt sich in dieser Beziehung solchen klassischen Arbeiten an wie „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" und „Der Bürgerkrieg in Frankreich" von Marx und dem „Anti-Dühring" von Engels. Engels' Schrift richtet sich direkt gegen die bürgerlichen Gelehrten, die den Staat als ein über den Klassen stehendes Organ darzustellen versuchen, angeblich dazu berufen, die Interessen aller Bürger gleichermaßen zu schützen. Er weist am Beispiel der Staatsbildung in Athen, Rom und bei den Deutschen nach, daß der Staat in der antagonistischen Klassengesellschaft stets ein Werkzeug in den Händen der herrschenden Klasse zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse ist. Der Staat, schreibt Engels, ist das Organ „der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse" (siehe vorl. Band, S.166/167). Engels untersucht u.a. die einzelnen Staatsformen, insbesondere die bürgerlich-demokratische Republik, die von den Apologeten des Kapitalismus als die höchste Form der Demokratie verherrlicht wird. Er deckt den Klassencharakter dieser Republik auf, d.h. er zeigt, daß sich hinter der demokratischen Fassade die Herrschaft der Bourgeoisie verbirgt. Mit außerordentlichem Weitblick weist er auf sich schon zur damaligen Zeit abzeichnende Tendenzen der weiteren Entwicklung des bürgerlichen Staates hin, die jedoch erst im imperialistischen Stadium des Kapitalismus, für das der Prozeß der Verschmelzung des Staatsapparats mit den Monopolen, die Verwandlung des Staates in ein Instrument der Finanzoligarchie charakteristisch ist, zur vollen Blüte gelangten. Engels nahm bereits damals gewisse Seiten dieses Prozesses wahr und wies nach, daß in der demokratischen Republik „der Reichtum seine Macht ausübt... in der Form der Allianz von Regierung und Börse, die sich um so leichter vollzieht, je mehr die Staatsschulden steigen und je mehr Aktiengesellschaften nicht nur den Transport, sondern auch die Produktion selbst in ihren Händen konzentrieren und wiederum in der Börse ihren Mittelpunkt finden" (siehe vorl. Band, S.167). Vor parlamentarischen Illusionen warnend, die zu jener Zeit unter einem Teil der Führer der Arbeiterbewegung, besonders unter den opportunistischen Kräften in der deutschen Sozialdemokratie verbreitet waren, weist Engels darauf hin, daß, solange die Macht des Kapitals erhalten bleibt, keinerlei demokratische Freiheiten zur Befreiung der Werktätigen
führen können. Gleichzeitig unterstrich Engels das berechtigte Interesse des Proletariats an der Erhaltung und Erweiterung der demokratischen Freiheiten, da diese die besten Voraussetzungen bieten für die Entfaltung seines Befreiungskampfes, für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. Bei der Untersuchung, inwiefern die Entwicklung der Produktivkräfte zu einer Veränderung der Produktionsweise der materiellen Güter führt, inwiefern sich auf einer bestimmten Entwicklungsstufe das Privateigentum herausbildet und damit die Gesellschaft sich unvermeidlich in antagonistische Klassen spaltet, präzisiert Engels die bereits von Marx und ihm formulierte Schlußfolgerung, daß durch das weitere Wachstum der Produktivkräfte in der kapitalistischen Gesellschaft diese gesetzmäßig in Widerspruch zu den vorhandenen Produktionsverhältnisses geraten und die Produktionsverhältnisse zum Hemmschuh für die Entwicklung der Produktion werden. Der Widerspruch zwischen den modernen Produktivkräften und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen macht die proletarische Revolution zu einer geschichtlichen Notwendigkeit. Die Aufgaben dieser Revolution können - wie Marx und Engels wiederholt nachgewiesen haben - nicht gelöst werden ohne die Zerschlagung des alten Staatsapparates und der Errichtung der Diktatur des Proletariats, die die höchste Form der Demokratie ist. Nur durch die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der antagonistischen Klassen werden die Voraussetzungen für das Verschwinden und das Absterben des Staates geschaffen. „Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt" (siehe vorl. Band, S. 168). Die von Engels meisterhaft dargelegte marxistische Lehre vom Staat wurde später von Lenin entsprechend den Bedingungen der neuen historischen Epoche schöpferisch weiterentwickelt und wird ständig bereichert durch die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die anderen marxistisch-leninistischen Parteien. In seinem genialen Werk „Staat und Revolution" zeigte Lenin, welch große Bedeutung die marxistische Lehre vom Ursprung und Wesen des Staates und der Diktatur des Proletariats für den Kampf der Arbeiterklasse hat. Lenin vereitelte die Versuche der Revisionisten und Reformisten, diese Lehre totzuschweigen und zu verzerren. Er entlarvte ihr Bestreben, Engels* These vom Absterben des Staates als ein Abweichen von der Idee der revolutionären Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates hinzustellen. Lenin betonte, daß diese These sich nicht auf den bürgerlichen, sondern
auf den sozialistischen Staat bezieht, und machte das Absterben des Staates von der Erfüllung seiner für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft notwendigen Funktion abhängig. Schöpferisch die marxistische Theorie weiterentwickelnd, arbeitete Lenin die These von den ökonomischen Voraussetzungen für das Absterben des Staates aus und verband dieses Problem mit der Lehre von den beiden Phasen der kommunistischen Gesellschaft. Der Staat wird erst im vollendeten Kommunismus endgültig absterben, erklärte Lenin. Die marxistisch-leninistische Staatslehre zerschlug und zerschlägt auch heute die bürgerlich-revisionistischen Versuche, die „Theorie" vom über den Klassen stehenden Staat neu zu beleben sowie den modernen bürgerlichen Staat als einen „Wohlfahrtsstaat" hinzustellen. Diese Lehre hilft den Werktätigen der Länder des sozialistischen Lagers, erfolgreich die neue, klassenlose Gesellschaft zu errichten. Bei der Abfassung seiner Schrift stützte sich Engels auf das umfangreiche Tatsachenmaterial auf dem Gebiete der Archäologie, der Geschichte und der Ethnographie. Er benutzte weitgehend das Buch des spontanen Materialisten Morgan „Ancient society". Engels übernahm die von Morgan vorgenommene Einteilung der Urgeschichte in die Epoche der Wildheit und die Epoche der Barbarei sowie deren Unterteilung in eine untere, mittlere und obere Stufe, je nach der Entwicklung der Produktionsinstrumente und dem Stand der materiellen Produktion. Da diese Periodisierung der Geschichte nicht die Ablösung der verschiedenen Formen der Produktionsverhältnisse, sondern die vorgeschichtlichen Kulturstufen zur Grundlage hat, maß Engels ihr jedoch nur begrenzte Bedeutung bei und betonte, daß mit der weiteren Entwicklung der Wissenschaft und der Ansammlung neuen Tatsachenmaterials die Morgansche Periodisierung unvermeidlich präzisiert werden wird. Wie Engels voraussah, konnten auf Grund neuer Erkenntnisse der Wissenschaft eine präzisere Periodisierung der Urgeschichte sowie Berichtigungen einzelner Morganscher Thesen, Familienformen der Urgemeinschaft betreffend, vorgenommen werden. Engels selbst nahm in Vorbereitung der vierten Ausgabe seines Buches 1891 bereits einige Veränderungen und Verbesserungen vor. Diese unvermeidlichen Änderungen und Präzisierungen, die an dem von Engels vor mehr als 75 Jahren entworfenen Bild der Entstehung, Entwicklung und des Untergangs der ursprünglichen ökonomischen Gesellschaftsformation vorzunehmen sind, betreffen jedoch lediglich Einzelheiten und berühren keinesfalls Engels' Schlußfolgerungen, die im Gegenteil durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse ständig bestätigt werden. Der „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" gehört zu jenen Werken, in
denen nach den Worten Lenins „man zu jedem Satz Vertrauen haben ... kann" (W.I.Lenin, Werke, Band 29, Berlin 1961, S.463). In der ebenfalls in diesem Band enthaltenen theoretischen Schrift von Engels „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" wird mit außerordentlicher Klarheit der Prozeß der Herausbildung und das Wesen der marxistischen Weltanschauung dargelegt» Die Abfassung dieser Arbeit entsprang ebenfalls den dringenden Erfordernissen der Arbeiterbewegung, besonders in Deutschland. Die systematische Darstellung der Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus sollte das revolutionäre Proletariat Deutschlands und anderer Länder befähigen, den Kampf gegen jegliche idealistischen Theorien, die die ideologische Grundlage des Opportunismus und Reformismus bilden, zu führen. Es war notwendig geworden, alle Bestrebungen zu vereiteln, die negativen Seiten der klassischen deutschen Philosophie neu zu beleben und dem Marxismus gegenüberzustellen. Diese Bestrebungen bestanden darin, den Neukantianismus sowie reaktionäre Elemente der Hegeischen Philosophie und anderer philosophischer Schulen innerhalb bestimmter Kreise des Bürgertums und unter einem Teil der sozialdemokratischen Intelligenz zu verbreiten. Es kam darauf an, das Verhältnis der marxistischen Philosophie zur klassischen deutschen Philosophie, zur Philosophie Hegels und Feuerbachs, sowie ihren qualitativen Unterschied zu allen früheren philosophischen Systemen zu untersuchen und dabei die Schwächen und inneren Widersprüche dieser früheren Systeme, aber auch ihre wertvollen Elemente, die in den Marxismus eingegangen und schöpferisch weiterentwickelt worden sind, darzulegen. Engels weist nach, daß die marxistische Philosophie das Resultat der gesamten vorausgegangenen Entwicklung des philosophischen Denkens ist und daß die wichtigste Besonderheit der gesamten Geschichte der Philosophie im Kampf zwischen den zwei Hauptrichtungen - Materialismus und Idealismus - besteht. Engels gibt erstmalig eine klassische Definition der Grundfrage der Philosophie - der Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur, und betont, daß diese Frage noch einen anderen Aspekt, eine andere Seite hat, die sich in dem Problem der Erkennbarkeit der Welt, in der Wechselbeziehung zwischen dem Sein und seiner Widerspiegelung im menschlichen Bewußtsein ausdrückt. Je nach der Beantwortung dieser Grundfrage wird die Zugehörigkeit eines jeden Philosophen zu einer der beiden Hauptrichtungen bestimmt. Engels betont die Haltlosigkeit aller Versuche, Materialismus und Idealismus durch die Schaffung eines Mitteldinges (Dualismus, Agnostizismus)
miteinander zu versöhnen. Indem er die Erkennbarkeit der Welt beweist, widerlegt er den Agnostizismus in allen seinen Erscheinungsformen. Er sagt: „Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie ... Wir können die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen." (Siehe vorl. Band, S. 276.) Engels' größtes Verdienst ist es, die Parteilichkeit der Philosophie begründet zu haben, indem er an Hand der Geschichte des Kampfes der verschiedenen philosophischen Strömungen zeigte, wie der Kampf der Klassen und Parteien auf ideologischem Gebiet geführt wird. Engels' Arbeit selbst ist ein Musterbeispiel proletarischer Parteilichkeit in der Philosophie, ein Beispiel leidenschaftlicher Verteidigung der fortschrittlichen Weltanschauung und der entschiedenen Ablehnung der reaktionären idealistischen Strömungen. Bei der kritischen Untersuchung der Hegeischen Philosophie zeigt Engels, daß die progressive Seite dieser Philosophie die dialektische Methode ist; gleichzeitig hebt er hervor, daß diese Methode von Hegel mystifiziert und durch eine idealistische Hülle entstellt worden ist. Engels enthüllt den Widerspruch zwischen dieser Methode und dem ganzen idealistischen System Hegels, das dogmatischen und metaphysischen Charakter trägt. Er zeigt, wie Marx, den Idealismus der Hegeischen Philosophie beiseite lassend, deren rationellen Kern - die dialektische Methode - herausschälte, und diesen mit der materialistischen Geschichtsauffassung verband. Bei der Charakterisierung des Feuerbachschen Materialismus als eine der theoretischen Quellen der marxistischen Philosophie deckt Engels gleichzeitig die Beschränktheit des vormarxschen Materialismus, dessen mechanischen und metaphysischen Charakter auf. Er zeigt, daß Feuerbach ebenso wie alle anderen Materialisten, die die Natur als das Primäre und den Geist als das Sekundäre ansahen, bei der Betrachtung der menschlichen Gesellschaft und deren Geschichte, den Idealismus nicht überwinden konnten. Feuerbach, sagt Engels, »war unten Materialist, oben Idealist" (siehe vorl. Band, S.291). Engels enthüllt das Wesen der revolutionären Umwälzung in der Philosophie, die von Marx durch die Schaffung des dialektischen Materialismus vollzogen wurde. Er schreibt: „Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens." (Siehe vorl. Band, S.293.)
Gründlich untersucht er die Probleme des historischen Materialismus - der Wissenschaft von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft. Er stellt fest, daß dem historischen Prozeß ökonomische Verhältnisse zugrunde liegen, aus denen „der gesamte Uberbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen j \r i" d, i nr\ uliu. sonstigen v ui sicnungs weise ... jlu. ei Mai cii miiu \mciic uanu unSei ei Ausgabe, S.25). Gleichzeitig unterstreicht er die aktive Rolle des Überbaus, seine Fähigkeit, sich selbständig zu entwickeln, sowie seine Rückwirkung auf die Basis. Engels zerschlug damit die Behauptung, daß der Marxismus eine „einseitige", ökonomische Erklärung der Geschichte gebe und den Einfluß und die Rolle aller anderen Faktoren, der politischen, ideologischen usw., bestreite. In dieser Arbeit von Engels werden der Ursprung, die sozialen Wurzeln und das reaktionäre Wesen der Religion vom materialistischen Standpunkt aus bloßgelegt. Von überaus großer Bedeutung ist Engels* Gedanke vom engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der fortschrittlichen Philosophie und den Erfolgen des menschlichen Denkens auf dem Gebiete der Naturwissenschaft. Engels betont, daß die revolutionäre Weltanschauung, in der das Streben der fortschrittlichen Klasse nach Umwandlung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, durch die progressive Entwicklung der Naturwissenschaften unterstützt wird. Engels weist auf die Unwissenschaftlichkeit und Dekadenz der bürgerlichen Philosophie hin. deren Vertreter zu unverhüllten Ideologen der reaktionären Bourgeoisie wurden. Nur durch die Theoretiker der Arbeiterklasse wird der dialektische Materialismus schöpferisch weiterentwickelt. Sie sind auch, nach den Worten von Jtngels, die wirklichen Erben der klassischen deutschen Philosophie. Einige in diesem Band enthaltene Arbeiten widerspiegeln eine andere wichtige Seite der theoretischen Tätigkeit von Engels in dieser Periode seine Arbeit an der Vollendung und Drucklegung des „Kapitals" sowie an der Herausgabe und Neuausgabe anderer Werke von Marx. Engels betrachtete die Fertigstellung des „Kapitals" nach Marx' Tod als seine größte Verpflichtung gegenüber dem internationalen Proletariat. Wiederholt betonte er, daß mit dem Erscheinen aller Bände des „Kapitals" die Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus das unerschütterliche Fundament erhält und der ganzen offiziellen bürgerlichen politischen Ökonomie ein vernichtender Schlag versetzt wird. Im Februar 1885 beendete Engels die Arbeit am Manuskript des zweiten Bandes des „Kapitals", der noch im gleichen Jahr herausgegeben wurde; die redaktionelle Bearbeitung des dritten Bandes erforderte noch eine zehnjährige Arbeit; er erschien erst 1894.
Engels bereitete auch die dritte (1883) und die vierte (1890) Auflage des ersten Bandes des „Kapitals" vor und redigierte sorgsam die Übersetzung des ersten Bandes in die englische Sprache (erschien 1887). In der vierten deutschen Auflage des ersten Bandes des „Kapitals" nahm Engels auf Grund erhalten gebliebener Hinweise von Marx Veränderungen und Verbesserungen vor und schrieb für diese Ausgabe auch ein besonderes Vorwort (siehe Band 23 unserer Ausgabe, S. 41-46). Ein spezielles Vorwort verfaßte er auch für die englische Ausgabe (siehe ebenda, S.36-40.) Den 1885 erschienenen zweiten Band hatte Engels ebenfalls mit einem längeren Vorwort versehen, in dem er mit den bürgerlichen Nationalökonomen abrechnete, die in ihrem Bestreben, die Marxsche Lehre zu diskreditieren und die erfolgreiche Verbreitung des Marxismus zu verhindern, vor keinem noch so unwürdigen Mittel zurückschreckten, nicht einmal vor schmutziger Verleumdung. So beschuldigten sie z.B. Marx, ein Plagiat an dem bürgerlich-junkerlichen Nationalökonomen Karl Rodbertus, einem der geistigen Väter des preußischen „Staatssozialismus", begangen zu haben (siehe Band 24 unserer Ausgabe, S. 13—26). An das Vorwort von Engels zum zweiten Band des „Kapitals" schließt sich unmittelbar das in diesem Band veröffentlichte Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe von Marx' Schrift „Das Elend der Philosophie" an, die 1885 auf Initiative von Engels und unter seiner Redaktion erschien. In diesem Vorwort versetzt Engels den Apologeten Rodbertus' - den deutschen Kathedersozialisten sowie den Opportunisten innerhalb der deutschen Sozialdemokratie - einen vernichtenden Schlag. Engels entlarvt hier die reaktionäre Utopie in den Anschauungen von Rodbertus, die Unhaltbarkeit seiner Theorie vom „Arbeitsgeld", die von völliger Unkenntnis des Wirkens des Wertgesetzes in der kapitalistischen Gesellschaft zeugt. Ausgehend von der Marxschen Werttheorie legt Engels dar, daß unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise sich das Wertgesetz mit Hilfe der Marktkonkurrenz und der Wert der Waren - die Preise schwanken ständig um den Wert - sich durch die Abweichungen der Preise vom Wert durchsetzt. Engels zeigt, daß Marx, die Werttheorie kritisch anwendend, den unvermeidlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung und den gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus - der nicht auf moralischen Prinzipien, sondern auf ökonomischen Tatsachen beruht - wissenschaftlich begründet hat. Engels entlarvt auch die reaktionären Auffassungen Rodbertus' und seiner Anhänger vom angeblich über den Klassen stehenden Charakter des preußischen Staates und von dessen Fähigkeit, die besondere soziale
Mission - die Lage der Werktätigen zu erleichtern - zu erfüllen. Mit Hilfe dieser Auffassungen versuchten die Anhänger des „Staatssozialismus" ihre Liebedienerei vor der Bismarck-Regierung und ihre Lobpreisung der von ihr zu demagogischen Zwecken durchgeführten „sozialen Reformen" zu begründen. Im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der englischen Übersetzung des ersten Bandes des „Kapitals" schrieb Engels den Artikel „Wie man Marx nicht übersetzen soll". In diesem Artikel unterzieht er eine Übersetzung des ersten und eines Teils des zweiten Abschnitts des ersten Kapitels des ersten Bandes des „Kapitals", die von dem Führer der englischen Sozialdemokratischen Föderation, dem Opportunisten Hyndman - er trat unter dem Pseudonym John Broadhouse auf - stammt, einer kritischen Analyse. Dieser Aufsatz zeigt, mit welcher Unduldsamkeit Engels gegen die geringsten Versuche, Marx zu entstellen, auftrat, und welch großen Wert er auf eine richtige Übersetzung des „Kapitals" in fremde Sprachen legte. Mit großem Interesse verfolgte Engels die Übersetzung des „Kapitals" ins Russische. Er unterhielt ständigen Kontakt mit dem Ubersetzer des zweiten Bandes, N.F.Danielson, und unterstützte ihn, um die Herausgabe zu beschleunigen. Während der Arbeit am „Kapital" verfolgte Engels weiterhin aufmerksam die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft und analysierte die in ihr auftauchenden neuen Erscheinungen. In dem Artikel „Schutzzoll und Freihandel", dqr als Vorwort zu der amerikanischen Ausgabe von Karl Marx' „Rede über die Frage des Freihandels" geschrieben wurde, zeigt Engels, wie das Schutzzollsystem sich mit zunehmender Entwicklung des Kapitalismus aus einem fördernden in einen hemmenden Faktor verwandelt. Engels verweist dabei auf solche neue Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft wie die Bildung großer Aktiengesellschaften, die er für ein unvermeidliches Ergebnis der Entwicklung der kapitalistischen Produktion hält. „Die Verwandlung der pennsylvanischen Steinölproduktion in ein Monopol der Standard Oil Company ist ein Verfahren, das mit den Regeln der kapitalistischen Produktion durchaus im Einklang steht." (Siehe vorl. Band, S.372.) Er unterstreicht den volksfeindlichen Charakter solcher Monopole, ihre nicht nur gegen die ausländische Konkurrenz, sondern auch gegen die Lebensinteressen des einheimischen Verbrauchers gerichtete Tendenz. Neben der intensiven theoretischen Arbeit leitete Engels praktisch die ganzen Jahre hindurch die internationale sozialistische und Arbeiterbewegung. „Nach dem Tode von Marx", schrieb Lenin, „war es Engels
allein, der fortfuhr, als Berater und Führer der europäischen Sozialisten zu wirken." (W. I. Lenin, Werke, Berlin 1961, Band2, S. 13.) Er verfolgte aufmerksam den Kampf des Proletariats, unterhielt persönlichen Kontakt zu den Führern der sozialistischen Bewegung Deutschlands, Frankreichs, Englands, Rußlands, der USA, Hollands, Österreichs, Rumäniens und anderer Länder und studierte sorgfältig die sozialistische und die bürgerliche Presse. Engels' Rolle als Führer der internationalen Arbeiterbewegung kommt besonders deutlich zum Ausdruck in seinem überaus umfangreichen Nachlaß an Briefen, in dem riesigen Umfang seiner Korrespondenz, die er mit den führenden Vertretern der Arbeiterbewegung Europasund Amerikas führte. Da Engels über große Erfahrungen im revolutionären Kampf, über umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der Geschichte und der Ökonomie der verschiedensten Länder verfügte, war er in der Lage, stets konkrete Ratschläge und Hinweise zu geben. Unter Berücksichtigung der historischen Besonderheiten in der Entwicklung der einzelnen Länder half er bei der Lösung der kompliziertesten Fragen der Taktik der Arbeiterklasse. Unermüdlich sorgte er sich um die organisatorische und ideologische Festigung der proletarischen Parteien und half ihnen, Fehler zu berichtigen und Schwierigkeiten zu überwinden. Er kämpfte leidenschaftlich gegen alle Erscheinungen des Opportunismus, Dogmatismus, Sektierertums und Anarchismus. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Engels in diesen Jahren der deutschen Arbeiterbewegung. Die in verschiedenen Arbeiten dieses Bandes dargelegten Besonderheiten der historischen Entwicklung Deutschlands - die unvollendet gebliebene bürgerliche Revolution, die Einigung Deutschlands „von oben" unter der Hegemonie des junkerlichen Preußens, die politische Schwäche und Feigheit der Bourgeoisie, die schnelle Entwicklung des Kapitalismus unter Beibehaltung wesentlicher Überreste halbfeudaler Verhältnisse auf wirtschaftlichem und besonders auf politischem Gebiet - verschärften außerordentlich die Klassengegensätze. Diese Umstände trugen dazu bei, daß das deutsche Proletariat im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zur Vorhut der internationalen Arbeiterbewegung wurde. Deutschland war das erste Land, in dem eine einheitliche sozialistische Massenpartei geschaffen wurde, die auf dem Boden des Marxismus stand. Diese Partei war gezwungen, unter den schwierigen Bedingungen des 1878 von der BismarckRegierung erlassenen Sozialistengesetzes zu wirken. Engels erwies der Partei durch seinen unversöhnlichen Kampf gegen die opportunistischen Elemente in ihren Reihen, durch die Kritik an den Fehlern und Schwankungen der Parteiführung und bei der Überwindung dieser Schwächen eine
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große Hilfe. Engels half der Sozialdemokratischen Partei in den achtziger Jahren, eine richtige revolutionäre Taktik auszuarbeiten und die legale Arbeit mit der illegalen Tätigkeit geschickt zu verbinden; seine Autorität und sein Einfluß unter den Arbeitern wuchs bedeutend, als es der Partei mit seiner Unterstützung 1890 gelang, die Aufhebung des Sozialistengesetzes durchzusetzen. Engels hielt die Erziehung der Partei und der Arbeitermassen im Geiste der revolutionären Traditionen und des proletarischen Internationalismus, die endgültige Uberwindung des reformistischen Einflusses des Lassalleanismus sowie anderer Strömungen des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Sozialismus für eine Sache von größter Wichtigkeit. Im Vorwort zur zweiten durchgesehenen Auflage „Zur Wohnungsfrage" stellt Engels fest, daß in Deutschland diese Strömungen noch zahlreiche Vertreter sowohl in Gestalt der Kathedersozialisten als auch in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion haben, und betont, daß diese Erscheinungen bedingt sind durch die sozialen Verhältnisse in Deutschland - in „dem Land des Spießbürgertums par excellence, und zu einer Zeit, wo die industrielle Entwicklung dies alteingewurzelte Spießbürgertum gewaltsam und massenweise entwurzelt" (siehe vorl. Band, S.329). Engels schenkte der Ausarbeitung der von den Kathedersozialisten entstellten Geschichte der sozialistischen Bewegung in Deutschland und in anderen Ländern, in erster Linie der Geschichte des Bundes der Kommunisten und der I. Internationale, große Beachtung. Da es ihm nicht möglich war, seinen Plan für eine umfangreiche Ausarbeitung dieser Geschichte zu verwirklichen, schrieb Engels Aufsätze für die Presse, die einzelnen Perioden des revolutionären Kampfes gewidmet sind, und bereitete die Neuauflage einiger Arbeiten von Marx und der wichtigsten Dokumente aus der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung vor, die er auch mit Vorworten versah. In dem Aufsatz „Marx und die ,Neue Rheinische Zeitung' 1848 bis 1849", der anläßlich des ersten Todestages von Marx geschrieben wurde, legt Engels die Besonderheiten der Taktik der proletarischen Revolutionäre in der Periode der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 dar. Engels' Arbeit unterstreicht die historische Bedeutung des revolutionären Kampfes der Massen und der richtigen taktischen Leitung ihrer Aktionen. Er betont, daß eine proletarische Partei es verstehen muß, die allgemeinen demokratischen Aufgaben mit den Zielen des Proletariats zu verbinden. Am Beispiel der von Marx 1848/49 verfolgten Taktik lehrte Engels die deutschen Sozialdemokraten, die führende Rolle der Arbeiterklasse in der allgemeinen demokratischen Bewegung zu verteidigen und gleichzeitig die Klassen
interessen des Proletariats zu vertreten, ohne sich kleinbürgerlichen Illusionen hinzugeben, und entschieden die Versuche der herrschenden Klasse, durch falsche Versprechungen das Proletariat zu täuschen, zu entlarven. In der Arbeit „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten" zeigt Engels die historische Rolle und den Platz, den diese erste internationale Organisation des Proletariats, die zum ersten Male das Programm des wissenschaftlichen Kommunismus an ihre Fahnen heftete, in der Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung einnimmt. Er betont, daß die Gründung dieser Organisation eine wichtige Etappe im Kampf für die Schaffung proletarischer Parteien darstellt, insbesondere in Deutschland. Gleichzeitig entlarvt Engels die von den Lassalleanern verbreitete Legende, daß der Ausgangspunkt für die selbständige Arbeiterbewegung in Deutschland der lassalleanische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein sei. Am Beispiel der Geschichte des Bundes der Kommunisten zeigt Engels, daß der Sieg der marxistischen Theorie über die verschiedenen sektiererischen Strömungen dadurch bedingt war, daß diese Theorie vom Augenblick ihres Entstehens an vollständig den Erfordernissen des praktischen revolutionären Kampfes des Proletariats entsprach und von ihm nicht zu trennen war. Während des Sozialistengesetzes war für die deutsche Arbeiterklasse die Ausnutzung der von ihr in der Periode des Angriffs der Reaktion (1849 bis 1852) gesammelten Erfahrungen von großer Bedeutung. Engels erachtete darum die Neuauflage der Broschüre „Karl Marx vor den Kölner Geschwornen. Prozeß gegen den Ausschuß der rheinischen Demokraten wegen Aufrufs zum bewaffneten Widerstand" (1849) sowie Marx' Pamphlets „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln" für notwendig. Im Vorwort zur genannten Broschüre weist Engels darauf hin, daß die Reden von Marx Musterbeispiele dafür sind, wie Kommunisten das bürgerliche Gericht zur öffentlichen Verteidigung der revolutionären Anschauungen ausnutzen können. Engels entlarvt hier voller Zorn und Empörung die bürgerliche „Gesetzlichkeit", unter deren Flagge die deutsche Reichsregierung die Sozialisten verfolgte. Das Vorwort von Engels ist auch direkt gegen die opportunistischen Elemente innerhalb der Sozialdemokratischen Partei gerichtet, die bereit waren, für das Versprechen, das Sozialistengesetz aufzuheben, revolutionäre Grundprinzipien preiszugeben und die Partei des revolutionären Proletariats in eine Partei des deutschen Kleinbürgertums umzuwandeln. Der im vorliegenden Band veröffentlichte Aufsatz „Der Bergarbeiterstreik an der Ruhr 1889" zeigt, welche große Aufmerksamkeit Engels den
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Massenaktionen der deutschen Arbeiter und der Teilnahme der Sozialdemokratie am praktischen Kampfe des deutschen Proletariats schenkte. Er forderte stets diese Teilnahme von der Parteiführung und betonte, daß es besonders wichtig ist, immer neue Teile der Arbeiterklasse in die Bewegung einzubeziehen. Pnoplo J.'o Jontooko ClnTloUaTOnU-oflo oiiA Vusi AueI^llgCiO UlltUOLULi.1^ UXU kAJ/.lUtU^lllVlU ULl^ UUU11 UV^l * .UÖ"" arbeitung einer richtigen Taktik gegenüber der Bauernschaft. Er unterließ es nicht, ständig auf die Bedeutung dieser Fragen hinzuweisen. In diesen Jahren bereitete Engels die Neuausgabe seiner Schrift „Die Mark" in Form einer populärwissenschaftlichen Broschüre vor; er begann außerdem mit der Überarbeitung seines Buches „Der deutsche Bauernkrieg" für eine Neuauflage. In dieser wie auch einer Reihe anderer Arbeiten wird die Notwendigkeit des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der werktätigen Bauernschaft als des einzig realen Weges zur Befreiung der Bauern vom Joch des Junkertums und der Bourgeoisie begründet. Der von Engels in diesem Zusammenhang geschriebene Aufsatz „Zur Geschichte der preußischen Bauern" enthüllt den historischen Prozeß der Unterjochung dieser Bauern; sie weist nach, mit welch räuberischen Mitteln und Methoden die Gutsbesitzer, die durch den Krieg gegen Napoleon und die 1848 durchgeführten revolutionären Aktionen der Bauern gezwungen waren, der Aufhebung der Feudallasten zuzustimmen, die Bauern dabei ausplünderten. Engels schlußfolgert daraus, daß die Arbeiterklasse in der durch die Gutsbesitzer ausgeplünderten Bauernschaft einen natürlichen Verbündeten im Kampf für den Sturz der kapitalistischen Ordnung besitzt. IVIit diesem Problem ist auch das bereits erwähnte Vorwort zur zweiten durchgesehenen Auflage „Zur Wohnungsfrage" eng verbunden. Engels untersucht in diesem Vorwort den Zustand der deutschen Heimindustrie und verweist dabei besonders auf die erschreckend niedrigen Löhne der Heimarbeiter. Die Tatsache, daß die Heimarbeiter noch fest mit der Landwirtschaft verbunden waren, nutzten die Kapitalisten aus, um nicht nur diesen einen Hunger lohn zu zahlen, sondern auch die Arbeitslöhne aller übrigen Arbeiter zu senken. Gleichzeitig zeigt Engels, daß die Ausbreitung der Heimindustrie zur Verelendung der Kleinbauern und zu ihrer Verwandlung in Proletarier führt. Durch diesen Prozeß erhält das Proletariat ständig neuen Zustrom, was wiederum günstige Voraussetzungen für die Ausdehnung der revolutionären Bewegung bis in die entlegensten Winkel Deutschlands schafft. Engels zieht daraus die Schlußfolgerung, daß bei einer revolutionären Erhebung der Arbeiterklasse „die Bauernsöhne des
.herrlichen Kriegsheers"4 tapfer mithelfen werden (siehe vorl. Band, S.334). Im Interesse der ideologischen Erziehung der deutschen Arbeiter und der deutschen Sozialdemokratie zum richtigen Verständnis der Geschichte ihres Landes und seiner gegenwärtigen Situation nahm Engels trotz seiner großen Arbeitsbelastung, eine Reihe von Arbeiten in Angriff, in denen er die geschichtliche Vergangenheit Deutschlands zu analysieren beabsichtigte. Er gedachte darin die historischen Wurzeln der reaktionären Systeme bloßzulegen, die im Deutschen Reich geherrscht hatten. So hatte er vor, die Neuausgabe seines Buches „Der deutsche Bauernkrieg" bedeutend zu erweitern und ausführlicher auf die ihm vorangehende Geschichte Deutschlands einzugehen sowie die Bedeutung der Ereignisse im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts als der ersten, wenn auch erfolglosen bürgerlichen Revolution hervorzuheben, der Ereignisse, die nach seinen Worten zum Wendepunkt der ganzen Geschichte Deutschlands wurden. Im vorliegenden Band werden die uns erhalten gebliebenen Fragmente dieser unvollendeten Arbeit veröffentlicht. Der Anfang der Einleitung erscheint in dem Abschnitt „Aus dem handschriftlichen Nachlaß" unter dem Titel „Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie" und die Skizze, die offensichtlich'ein Konzept dieser Einleitung darstellt, unter dem Titel „Zum »Bauernkrieg'". In diesen Fragmenten zeigt Engels, wie in Westeuropa im Schöße der alten Feudalordnung allmählich die kapitalistischen Verhältnisse entstehen und sich die Nationalstaaten bilden. Er unterstreicht in diesem Zusammenhang die progressive Rolle, die das Königtum in der Periode der Zentralisierung spielte - „es vertrat die Ordnung in der Unordnung" (siehe vorl. Band, S.397). Er gab damit den Schlüssel zum Verständnis und zur richtigen Einschätzung des historischen Prozesses der Bildung zentralisierter absolutistischer Monarchien im 15. und 16. Jahrhundert in einigen europäischen Ländern - außer in Italien und Deutschland. Mit diesen Ausführungen, in denen auch die Besonderheiten der Bildung der europäischen Nationen aufgezeigt werden, trug Engels wesentlich zur Ausarbeitung der marxistischen Lehre über die nationale Frage bei. Aus dem handschriftlichen Nachlaß wird eine weitere unvollendete Arbeit von Engels - „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte" - veröffentlicht. Sie war als viertes Kapitel für eine Broschüre unter dem gleichen Titel gedacht. Die ersten drei Kapitel dieser Broschüre sollten Kapitel aus dem „Anti-Dühring" bilden, die dort den Titel „Gewaltstheorie" führen. Aus Engels' Aufzeichnungen ist ersichtlich, daß er am konkreten Beispiel
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der Geschichte Deutschlands die Richtigkeit der im „Anti-Dühring" gezogenen Schlußfolgerungen über die Beziehungen zwischen Ökonomie und Politik in der Geschichte nachzuweisen beabsichtigte. In dieser Arbeit sollte die herrschende Klasse Deutschlands entlarvt werden, die sich in ihrer Politik der Einigung Deutschlands „durch Blut und Eisen" brutaler Gewaltmaßnahmen bediente, die Vertreter des Proletariats aber als Verfechter der Gewaltanwendung in jeder beliebigen Situation hinzustellen versuchte. Diese Verleumdungen nahm die BismarckRegierung zum Anlaß, um mit polizeilichen Repressalien gegen die revolutionäre Sozialdemokratie vorzugehen. In der Arbeit„Die Rolle der Gewalt in der Geschichte" sind die Besonderheiten in der Entwicklung Deutschlands nach 1848 dargelegt. Während Engels in den Fragmenten für die Neuausgabe des „Deutschen Bauernkriegs" die Ursachen für die Aufrechterhaltung der feudalen Zersplitterung in Deutschland bis Mitte des 19. Jahrhunderts aufdeckt, untersucht er in der „Rolle der Gewalt in der Geschichte" die ökonomischen und politischen Voraussetzungen für die später durchgeführte Einigung des Landes. Engels analysiert tiefschürfend die zur Einigung Deutschlands führenden Wege und deckt die Ursachen auf, die zur Einigung „von oben" unter der Hegemonie Preußens geführt haben. Engels betrachtet die Einigung als einen Fortschritt, trotz der Tatsache, daß sie „von oben" erfolgte, zeigt aber gleichzeitig die ganze historische Beschränktheit und den bonapartistischen Charakter der Bismarckschen Politik, die zwangsläufig zur Festigung des Polizeistaates in Deutschland, zur Stärkung des Junkertums dieser ökonomisch und politisch überlebten Klasse - und zum Anwachsen des Militarismus führte. Er entlarvt die Unentschlossenheit und Feigheit der deutschen Bourgeoisie, die sich als unfähig erwies, ihre eigenen Interessen bis zu Ende zu verteidigen und die feudalen Überreste endgültig zu beseitigen. Engels verurteilt scharf die kriegslüsterne Außenpolitik der herrschenden Klassen Deutschlands, die am deutlichsten sichtbar wurde in der Ausplünderung Frankreichs 1871 und in der Annexion von ElsaßLothringen. Auf Grund seiner Analyse des inneren Zustandes des Deutschen Reiches - der Verteilung der Klassenkräfte, der bereits seit der Gründung vorhandenen inneren Widersprüche, sowie der militaristischen und aggressiven Bestrebungen - kam Engels zu der Schlußfolgerung, daß der Zusammenbruch des Reiches unvermeidlich ist. Aus der Arbeit von Engels geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß in Deutschland nur eine Klasse das Proletariat - den Anspruch erheben kann, die wahrhaft nationalen Interessen des gesamten Volkes zu vertreten.
Im vorliegenden Band werden auch eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, die den gegenwärtigen Stand und die Besonderheiten der englischen Arbeiterbewegung gründlich einschätzen: „England 1845 und 1885", „Anhang zur amerikanischen Ausgabe der »Lage der arbeitenden Klasse in England'", „Die Abdankung der Bourgeoisie". Bei der Untersuchung der in England vor sich gegangenen ökonomischen Veränderungen erkannte Engels bereits Anzeichen, die darauf hindeuteten, daß England allmählich sein Industriemonopol und seine Vormachtstellung auf dem Weltmarkt einbüßen wird. Der unvermeidliche Verlust dieses Monopols werde, wie Engels nachwies, den Verlust der Sonderstellung der englischen Arbeiter gegenüber den Arbeitern anderer Länder zur Folge haben, und dies wiederum werde den Anstoß zur Ausweitung der sozialistischen Bewegung in England geben. Große Bedeutung maß Engels der Einbeziehung der breiten Massen ungelernter Arbeiter bei, die außerhalb der alten, konservativen TradeUnions standen und daher nicht in den Genuß von Vergünstigungen kamen, über die die in den Trade-Unions vereinte „Arbeiteraristokratie" verfügte; er begrüßte leidenschaftlich das Erwachen des Klassenbewußtseins dieses zahlreichsten und am stärksten unterdrückten Teils des englischen Proletariats. Engels unterstützte aktiv den Ende der achtziger Jahre in England beginnenden Aufbau der sogenannten neuen Trade-Unions, die die bis dahin nicht organisierten ungelernten Arbeiter erfaßten, und übte scharfe Kritik an der Leitung der Sozialdemokratischen Föderation wegen ihres sektiererischen Verhaltens gegenüber dieser Bewegung. Engels war der Ansicht, daß gerade diese Schichten der Arbeiterklasse am aufgeschlossensten für die sozialistischen Ideen sind und daß ihre erwachende Aktivität dazu beitragen wird, die Arbeiterklasse vom Einfluß der trade-unionistischen Ideologie zu befreien und eine sozialistische Massenpartei in England zu schaffen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Engels dem Kampf des Proletariats in den USA, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen großen Aufschwung nahm. Er trat entschieden gegen die Theoretiker auf, die schon damals den Versuch unternahmen, auf Grund angeblicher Besonderheiten des amerikanischen Kapitalismus zu beweisen, daß für die Verbreitung sozialistischer Ideen in Amerika kein Boden vorhanden sei. Engels betonte, daß unter den Bedingungen des wachsenden Klassenbewußtseins des Proletariats der USA die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus unvermeidlich in die Arbeitermassen eindringen werden und daher ihre Verbreitung dringend notwendig ist. Engels veranjaßte die Herausgabe seiner
Arbeit „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" in den USA, wobei er sich davon leiten ließ, daß dieses Werk für die amerikanischen Arbeiter am verständlichsten und naheliegendsten war, da ihr politisches Bewußtsein Mitte der achtziger Jahre etwa der politischen Reife der englischen Arbeiter der vierziger Jahre entsprach. In dem Vorwort zu dieser Ausgabe, das auch als Sonderdruck unter dem Titel „Die Arbeiterbewegung in Amerika" veröffentlicht wurde, zeigt Engels, daß die stürmische Entwicklung des Kapitalismus in den USA gesetzmäßig von einem ebenso stürmischen Anwachsen der Arbeiterbewegung begleitet sein wird. Er schlußfolgert daraus, daß das amerikanische Proletariat, ähnlich wie seine europäischen Klassenbrüder, früher oder später gezwungen sein wird, den Kampf für den Sozialismus aufzunehmen. In der gleichen Arbeit unterzieht Engels die utopische Doktrin des bürgerlichen amerikanischen Reformers Henry George, dessen Ideen eine Zeitlang einen gewissen Einfluß auf die amerikanischen Arbeiter ausübten, einer kritischen Analyse. Während Engels die progressive Rolle der von George und dessen Anhängern aufgestellten Forderung nach Nationalisierung des Grund und Bodens hervorhebt, zeigt er gleichzeitig, daß die Verkündung dieser Forderung als alleiniges Allheilmittel gegen Armut und Verelendung der Volksmassen wirkungslos ist. Bei Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung kann, wie Engels nachweist, die Nationalisierung des Bodens entgegen den Behauptungen Georges nicht zur Befreiung der Werktätigen von Unterdrückung und Ausbeutung führen. „Die Forderung der Sozialisten schließt eine vollständige Umwälzung des gesamten heutigen Systems der gesellschaftlichen Produktion ein. Die Forderung Henry Georges dagegen läßt die heutige gesellschaftliche Produktionsweise unberührt..." (siehe vorl. Band, S. 340). In dieser wie auch in anderen seiner Schriften unterstreicht Engels, daß das Proletariat sich nur dann befreien und die politische Macht in die eigenen Hände nehmen kann, wenn es eine selbständige politische Partei geschaffen hat, und diese, was besonders wichtig ist, ein konsequentes revolutionäres sozialistisches Programm besitzt. Ohne ein solches Programm „wird auch die Partei nur noch als Keim existieren; ... sie mag eine Partei sein ihrer Bestimmung nach, aber noch nicht in der Wirklichkeit" (siehe vorl. Band, S.337). Engels hebt gleichzeitig hervor, daß es nicht genügt, in einer programmatischen Erklärung die Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus anzuerkennen. Eine Partei, die diese Prinzipien zwar verkündet, vom praktischen Kampf der Arbeiterklasse jedoch losgelöst ist, bleibt unweigerlich eine sektiererische Gruppe. Aus diesem Qrunde übte
Engels scharfe Kritik an der sektiererischen, dogmatischen Haltung der Sozialistischen Arbeiterpartei Amerikas, die zwar in Worten den Marxismus anerkannte, aber keine ernsthaften Schritte unternahm, um sich mit der Massenbewegung der Arbeiter Amerikas zu verbinden. Die weitere Entwicklung einer selbständigen Arbeiterbewegung in den USA hing seiner Meinung nach davon ab, ob es dem amerikanischen Proletariat gelingt, sich seine, vom Einfluß der Bourgeoisie freie politische Klassenpartei zu schaffen. Die im vorliegenden Band veröffentlichten Arbeiten „Die Situation", „An das Redaktionskollegium des ,Socialiste'", „Zum 15.Jahrestag der Pariser Kommune", „Über den Streik der Arbeiter der Glasfabriken in Lyon" und andere zeugen davon, mit welch großem Interesse Engels den Kampf der Arbeiterklasse Frankreichs verfolgte, wie er die Bemühungen des französischen Proletariats unterstützte, sich so rasch wie möglich von der Niederlage der Pariser Kommune zu erholen. Da Engels Frankreich als das Land betrachtete, in dem „... die wechselnden politischen Formen, innerhalb deren sie" (die Klassenkämpfe) „sich bewegen und in denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt sind" (Vorrede zur dritten Auflage von Karl Marx' Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", siehe vorl. Band, S.248), begrüßte er die Erfolge der französischen revolutionären Sozialisten, insbesondere die erfolgreiche Tätigkeit der Arbeiterdeputierten im Parlament. Über die sozialistische Fraktion im Parlament schrieb er, daß „deren bloßes Erscheinen auf dem Schauplatz genügt hat, Verwirrung in die Reihen aller bürgerlichen Parteien zu tragen" (siehe vorl. Band, S.258). Unaufhörlich unterstützte Engels die französischen Marxisten in ihrem Kampf gegen die opportunistische Strömung der Possibilisten, die sich von der Arbeiterpartei abgespalten hatte. In dem in die Beilagen dieses Bandes aufgenommenen Pamphlet „Der Internationale Arbeiterkongreß von 1889. Eine Antwort an die Justice'", das von Engels redigiert wurde, wird nachgewiesen, daß „die Possibilisten in diesem Augenblick im vollen Sinn des Worts eine Regierungspartei ministerielle Sozialisten - sind und die Wohltaten einer solchen Stellung einheimsen" (siehe vorl. Band, S.522). Unablässig half Engels den französischen Marxisten bei der Umwandlung der Arbeiterpartei Frankreichs in eine wirkliche sozialistische Massenpartei des Proletariats. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Engels die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland. Die Verschärfung der politischen Reaktion in den achtziger Jahren konnte Engels' Überzeugung, daß die Volksrevolution gegen den Zarismus unvermeidlich ist, nicht erschüttern; nach
wie vor maß er einer solchen Revolution große Bedeutung bei, da sie zur Beschleunigung des Sieges der europäischen Arbeiterklasse beitragen würde. In dem Interview, das er der sozialistischen „New Yorker Volkszeitung" gab, wies Engels darauf hin, daß eine Revolution in Rußland „die ganze Gestalt der europäischen politischen Lage umwälzen würde" (siehe vorl. Band, S. 512). Engels war überzeugt davon, daß die revolutionären Kräfte in Rußland ungeachtet aller Repressalien und des Terrors von Seiten des Zarismus ständig wachsen und eine immer bedeutendere Rolle in der internationalen revolutionären Bewegung spielen werden. „Rußland - das ist das Frankreich des gegenwärtigen Jahrhunderts", so gibt G.A.Lopatin die Worte von Engels wieder. „Gesetzmäßig und zu Recht kommt ihm die revolutionäre Initiative für eine neue soziale Umgestaltung zu." (Siehe vorl. Band, S.488.) Engels unterhielt ständig Kontakt zu den russischen Revolutionären und begrüßte die Bildung der ersten russischen marxistischen Gruppe „Befreiung der Arbeit". Er maß ihr eine außerordentliche Bedeutung für die Verbreitung des Marxismus in Rußland und für die Formierung eines revolutionären Proletariats bei. Mit großer Anerkennung äußerte sich Engels über die ersten Schriften russischer Marxisten, welche die Anschauung der Volkstümler kritisierten; er korrespondierte mit V. I.Sassulitsch und G.W. Plechanow und freute sich über ihre Teilnahme am Kampf für den internationalen Zusammenschluß der sozialistischen und Arbeiterparteien. Eine Reihe von Schriften und Dokumenten, die in diesem Bande veröffentlicht sind, widerspiegeln Engels' Rolle bei der Festigung der internationalen revolutionären Verbindungen der Sozialisten der verschiedensten Länder. Engels unterstützte mit allen Mitteln die verschiedenen Formen dieser Verbindungen: durch persönliche Kontakte, durch Mitarbeit an der sozialistischen Presse, durch internationale Kampagnen anläßlich dieses oder jenes Ereignisses, durch Agitationsreisen in andere Länder und schließlich, falls notwendig, durch Organisierung materieller Unterstützung. Große Bedeutung maß Engels der sozialistischen Presse bei. Unmittelbaren Einfluß übte Engels auf die Redaktion des „Sozialdemokrat", des Zentralorgans der deutschen Sozialdemokratie, aus und arbeitete außerdem an folgenden Zeitungen und Zeitschriften mit: „Le Socialiste", „The Commonweal", „The Labour Elector" und „Die Neue Zeit". Viele der in diesem Band veröffentlichten Artikel von Engels erschienen in sozialistischen Organen verschiedener Länder. Unter der unmittelbaren Beteiligung von Engels, in den meisten Fällen unter seiner Redaktion, wurde außer dem „Kapital" eine Reihe weiterer bedeutender Werke des wissenschaftlichen Kommunis
mus in verschiedene Sprachen übersetzt und herausgegeben; so wurden z.B. die französische Übersetzung von Marx' Arbeit „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" und die italienische, polnische und dänische Ausgabe des „Ursprungs der Familie, des Privateigentums und des Staats" vorbereitet. Von außerordentlicher Bedeutung war die unter seiner Mitwirkung vorbereitete neue deutsche (1883) und die von ihm redigierte englische (1888) Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei". In der Vorrede zur englischen Ausgabe dieses programmatischen Dokuments des Marxismus stellte Engels mit Befriedigung fest, daß das Manifest „gegenwärtig ... zweifellos das weitest verbreitete, internationalste Werk der ganzen sozialistischen Literatur, ein gemeinsames Programm" ist, „das von Millionen Arbeitern von Sibirien bis nach Kalifornien anerkannt wird" (siehe vorl. Band, S.354). Solange in einer Reihe der wichtigsten Länder Europas noch keine sozialistischen Parteien bestanden, hielt Engels die Gründung einer neuen Internationale für verfrüht. Als jedoch Ende der achtziger Jahre - überall waren marxistische Parteien entstanden und festigten sich - günstige Bedingungen für die Gründung einer neuen internationalen sozialistischen Organisation vorhanden waren, stürzte sich Engels mit großem Eifer in die Vorbereitung des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses von 1889, der die Grundlage für die II. Internationale schuf. Dank seiner Unterstützung scheiterten die Versuche der opportunistischen Elemente in Gestalt der französischen Possibilisten und der Führer der englischen Sozialdemokratischen Föderation, die Führung der internationalen Arbeiterbewegung an sich zu reißen. Diese Seite der Tätigkeit von Engels widerspiegelt sich in dem Artikel „Die Mandate der Possibilisten" sowie in dem „Brief an die Redaktion des ,Labour Elector'", den Engels mit dem Namen des französischen Sozialisten Bonnier unterzeichnete, in den beiden von ihm redigierten Pamphleten „Der Internationale Arbeiterkongreß von 1889" und in den unter seiner Mitwirkung verfaßten Dokumenten über die Einberufung des Kongresses, die als Beilagen gebracht werden. Im vorliegenden Band sind auch einige Arbeiten enthalten, die Engels dem Kampf gegen die drohende Kriegsgefahr, gegen Militarismus und Aufrüstung widmet. Diesen Kampf hielt Engels für eine der Hauptaufgaben der sozialistischen Parteien und der ganzen internationalen Arbeiterbewegung. Im Artikel „Die politische Lage Europas", in dem die internationale Lage in der zweiten Hälfte des Jahres 1886 analysiert wird, als infolge der sogenannten Balkankrise und des Anwachsens des Chauvinismus in Deutschland und in Frankreich sich die Kriegsgefahr besonders zuspitzte, betont
Engels, daß die herrschenden Klassen der europäischen Staaten, die zum Kriege rüsten, in ihm auch ein Mittel zur Unterdrückung der revolutionären Bewegung sehen. „.. .Sie sehen vor sich das Gespenst der sozialen Revolution und kennen nur ein Mittel zur Rettung: den Krieg" (siehe vorl. Band, S.317). Engels ruft den sozialistischen Parteien ins Gedächtnis, daß es ihre unmittelbare Pflicht ist, gegen den Ausbruch eines Krieges zu kämpfen. „Die Sozialisten...", schreibt er, „sind gleichermaßen an der Erhaltung des Friedens interessiert, weil sie es wären, die sämtliche Kriegskosten zu bezahlen hätten." (Siehe vorl. Band, S.318.) Ein hervorragender Beitrag zur Entlarvung der militaristischen und aggressiven Politik ist die Einleitung von Engels zu Sigismund Borkheims Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806 bis 1807". Diese Arbeit enthält eine glänzende, auf einer sorgfältigen Analyse der tiefen Widersprüche zwischen den europäischen Großmächten beruhende Darstellung der Ausmaße und Folgen eines künftigen Krieges, der von den herrschenden Klassen vorbereitet wurde; Engels schreibt in kluger Voraussicht, daß das „ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit" sein würde. „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckensch warm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse." (Siehe vorl. Band, S.350/351.) Diese Voraussicht Engels' charakterisierte Lenin als „geniale Voraussage". „Einiges von dem, was Engels voraussagte", schrieb Lenin-im Jahre 1918 in dem Aufsatz „Prophetische Worte", „ist anders gekommen: wie sollten sich auch die Welt und der Kapitalismus in den dreißig Jahren wahnsinnig schneller imperialistischer Entwicklung nicht geändert haben! Am erstaunlichsten aber ist, daß so vieles von dem, was Engels vorausgesagt hat, eintrifft, ,wie es geschrieben steht*. Denn Engels hat eine einwandfrei genaue Klassenanalyse gegeben, und die Klassen sowie ihre Wechselbezie
hungen sind die früheren geblieben." (W.I.Lenin, Werke, Berlin 1961, Band 27, S.495.) Besonders hoch schätzte Lenin in den Ausführungen über den künftigen Krieg Engels' optimistischen, unerschütterlichen Glauben an den Endsieg der Arbeiterklasse und den Triumph des Sozialismus. Als er seinen zornigen, anklagenden Protest gegen die verbrecherische, menschenfeindliche Politik der Vorbereitung und Auslösung eines Weltkriegs erhob, sagte Engels voraus, daß dieser Krieg zum Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaftsordnung führen wird... Die Arbeitet, die zu Lebzeiten von Friedrich Engels nicht veröffentlicht worden sind und im Manuskript erhalten blieben, werden in dem Abschnitt „Aus dem handschriftlichen Nachlaß" veröffentlicht. In den Beilagen werden die Arbeiten und Dokumente veröffentlicht, an deren Abfassung Engels mitwirkte und die das Bild über seine theoretische und praktische Tätigkeit in der vorliegenden Periode abrunden...
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU
Von den insgesamt 54 im vorliegenden Band veröffentlichten Arbeiten von Engels werden eine Reihe Artikel zum erstenmal in deutscher Sprache veröffentlicht. Einige in deutscher Sprache verfaßten Artikel werden erstmalig wieder in der Originalsprache zugänglich gemacht. Das Vorwort zum „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (vierte Auflage 1891) wurde zusätzlich zur russischen Ausgabe in die Beilagen aufgenommen. Der Text des vorliegenden Bandes wurde an Hand der Originale oder Photokopien überprüft, soweit die Quellen zur Verfügung standen. Bei jeder Arbeit ist die für den Abdruck bzw. für die Übersetzung herangezogene Quelle vermerkt. Die von Engels angeführten Zitate wurden ebenfalls überprüft, soweit die Quellen zur Verfügung standen. Längere Zitate werden zur leichteren Übersicht in kleinerem Druck gebracht. Im Text vorkommende fremdsprachige Zitate und fremdsprachige Wörter sind in Fußnoten übersetzt. In den deutschsprachigen Texten sind die Rechtschreibung und Zeichensetzung, soweit vertretbar, modernisiert; der Lautstand der Wörter wurde nicht verändert. Alle in eckigen Klammern stehenden Titel, Wörter und
Wortteile stammen von der Redaktion; offensichtliche Druck- oder Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. Fußnoten von Engels sind durch Sternchen gekennzeichnet, Fußnoten der Redaktion durch eine durchgehende Linie vom Text abgetrennt und durch Ziffern kenntlich gemacht. Zur Erläuterung ist der Band mit Anmerkungen versehen, auf die im Text durch hochgestellte Zahlen in eckigen Klammern hingewiesen wird; außerdem sind ein Literaturverzeichnis, Daten über das Leben und die Tätigkeit von Engels, ein Personenverzeichnis, ein Verzeichnis der literarischen und mythologischen Namen, eine Liste der geographischen Namen, ein Verzeichnis der Völker- und Stammesnamen sowie eine Erklärung der Fremdwörter beigefügt. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED
FRIEDRICH ENGELS
Mai 1883-Dezember 1889
1 Marx/Engels. Werke, Bd. 21

[Vorwort zum „Manifest der Kommunistischen Partei" (deutsche Ausgabe von 1883)m]
Das Vorwort zur gegenwärtigen Ausgabe muß ich leider allein unterschreiben. Marx, der Mann, dem die gesamte Arbeiterklasse Europas und Amerikas mehr verdankt als irgendeinem andern - Marx ruht auf dem Friedhof zu Highgate, und über sein Grab wächst bereits das erste Gras. Seit seinem Tode kann von einer Umarbeitung oder Ergänzung des „Manifestes" erst recht keine Rede mehr sein. Für um so nötiger halte ich es, hier nochmals das Folgende ausdrücklich festzustellen. Der durchgehende Grundgedanke des „Manifestes": daß die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichtsepoche die Grundlage bildet für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche; daß demgemäß (seit Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden) die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung; daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien - dieser Grundgedanke gehört einzig und ausschließlich Marx an.*
* „Diesem Gedanken", sage ich in der Vorrede zur englischen Übersetzung1, „der nach meiner Ansicht berufen ist, für die Geschichtswissenschaft denselben Fortschritt zu begründen, den Darwins Theorie für die Naturwissenschaft begründet hat - diesem Gedanken hatten wir beide uns schon mehrere Jahre vor 1845 allmählich genähert. Wieweit ich selbständig mich in dieser Richtung voranbewegt, zeigt meine .Lage der
1 Siehe vorl. Band, S. 357-358
Ich habe das schon oft ausgesprochen; es ist aber gerade jetzt nötig, daß es auch vor dem „Manifest" selbst steht.
London, 28. Juni 1883
F. Engels
Nach: „Das Kommunistische Manifest", dritte autorisierte deutsche Ausgabe, Hottingen-Zürich 1883.
arbeitenden Klasse in England'1. Als ich aber im Frühjahr 1845Marx in Brüssel wiedertraf, hatte er ihn fertig ausgearbeitet und legte ihn mir vor in fast ebenso klaren Worten wie die, worin ich ihn oben zusammengefaßt." [Anmerkung von Engels zur deutschen Ausgabe üonl890.]
Her Sojißltomokrat - ^entraf-^rgan öcr öeuffdjen ^ojiaföemofirdie. gj; pntnnthig, 7. 3«"'- 1888.
[Georg Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats]
Handwerksburschenlied Von Georg Weerth (1846)121
Wohl um die Kirschenblüte Da haben wir logiert, Wohl um die Kirschenblüte In Frankfurt einst logiert.
[„Der Sozialdemokrat" Nr.24 vom 7. Juni 18831
Es sprach der Herbergsvater: „Habt schlechte Röcke an!" „Du lausiger Herbergsvater, Das geht Dich gar nichts an!
Gib uns von Deinem Weine, Gib uns von Deinem Bier; Gib uns zu Bier und Weine Auch ein gebraten Tier."
Da kräht der Hahn im Spunde Das ist ein guter Fluß. Es schmeckt in unsrem Munde Als wie Urinius.
Da bracht' er einen Hasen In Petersilienkraut, Vor diesem toten Hasen Hat es uns sehr gegraut.
Und als wir waren im Bette Mit unsrem Nachtgebet, Da stachen uns im Bette Die Wanzen früh und spät.
Das ist geschehn zu Frankfurt, Wohl in der schönen Stadt, Das weiß, der dort gelebet Und dort gelitten hat.
Dieses Gedicht unseres Freundes Weerth habe ich unter dem Nachlaß von Marx wieder aufgefunden. Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats, war von rheinischen Eltern in Detmold geboren, wo sein Vater geistlicher Superintendent war. Als ich mich 1843 in Manchester aufhielt, kam Weerth als Kommis seiner deutschen Firma nach Bradford, und wir verbrachten viele heitere Sonntage zusammen. 1845, als Marx und ich in Brüssel wohnten, übernahm Weerth die kontinentale Agentur seines Handlungshauses und richtete es so ein, daß er sein Hauptquartier ebenfalls in Brüssel nehmen konnte. Nach der 1848er Märzrevolution fanden wir uns alle in Köln zur Gründung der „Neuen Rheinischen Zeitung" zusammen. Weerth übernahm das Feuilleton, und ich bezweifle, ob je eine andere Zeitung ein so lustiges und schneidiges Feuilleton hatte. Eine seiner Hauptarbeiten war: „Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski", die Abenteuer des von Heine im „Atta Troll" so benamsten Fürsten Lichnowski schildernd. Die Tatsachen sind alle wahr; wie wir sie erfuhren, darüber vielleicht ein andermal. Diese Schnapphahnski-Feuilletons sind 1849 bei Hoffmann u. Campe gesammelt als Buch erschienen131 und noch heute äußerst erheiternd. Da aber SchnapphahnskiLichnowski am 18. September 1848 mit dem preußischen General von Auerswald (ebenfalls Parlamentsmitglied) die den Frankfurter Barrikadenkämpfern zuziehenden Bauernkolonnen spionieren ritt, bei welcher Gelegenheit er und Auerswald von den Bauern verdientermaßen als Spione totgeschlagen wurden, richtete die deutsche Reichsverweserschaft eine Anklage gegen Weerth wegen Beleidigung des toten Lichnowski, und Weerth, der längst in England war, bekam drei Monate Gefängnis, lange nachdem die Reaktion der „N.Rh.Ztg." ein Ende gemacht hatte. Diese drei Monate hat er denn auch richtig abgesessen, weil seine Geschäfte ihn nötigten, Deutschland von Zeit zu Zeit zu besuchen. 1850/51 reiste er im Interesse einer anderen Bradforder Firma nach Spanien, dann nach Westindien und über fast ganz Südamerika. Nach einem
kurzen Besuch in Europa kehrte er nach seinem geliebten Westindien zurück. Dort wollte er sich das Vergnügen nicht versagen, das wirkliche Original des Louis-Napoleon III., den Negerkönig Soulouque auf Haiti141, einmal anzusehen. Aber er bekam, wie W. Wolff, 28. August 1856, an Marx schreibt, „Schwierigkeiten mit den Quarantäne-Behörden, mußte sein Projekt aufgeben und sammelte auf der Tour die Keime zu dem (gelben) Fieber, das er mit nach Havanna brachte. Er legte sich nieder, eine Gehirnentzündung trat hinzu und - am 30.Juli starb unser Weerth in Havanna." Ich nannte ihn den ersten und bedeutendsten Dichter des deutschen Proletariats. In der Tat sind seine sozialistischen und politischen Gedichte denen Freiligraths an Originalität, Witz und namentlich an sinnlichem Feuer weit überlegen. Er wandte oft Heinesche Formen an, aber nur, um sie mit einem ganz originellen, selbständigen Inhalt zu erfüllen. Dabei unterschied er sich von den meisten Poeten dadurch, daß ihm seine Gedichte,' einmal hingeschrieben, total gleichgültig waren. Hatte er eine Abschrift davon an Marx oder mich geschickt, ließ er die Verse liegen und war oft nur schwer dazu zu bringen, sie irgendwo drucken zu lassen. Nur während der „Neuen Rheinischen Zeitung" war das anders. Warum, zeigt folgender Auszug eines Briefes von Weerth an Marx, Hamburg, 28. April 1851: „Übrigens hoffe ich Dich Anfang Juli in London wiederzusehen, denn ich kann diese grashoppers (Heuschrecken) in Hamburg nicht länger ertragen. Es droht mir hier eine glänzende Existenz, aber ich erschrecke davor. Jeder andere würde mit beiden Händen zugreifen. Aber ich bin zu alt, um ein Philister zu werden, und jenseit der See liegt ja der ferne Westen... Ich habe in der letzten Zeit allerlei geschrieben, aber nichts beendigt, denn ich sehe gar keinen Zweck, kein Ziel bei der Schriftstellerei. Wenn Du etwas über Nationalökonomie schreibst, so hat das Sinn und Verstand. Aber ich? Dürftige Witze, schlechte Späße reißen, um den vaterländischen Fratzen ein blödes Lächeln abzulocken - wahrhaftig, ich kenne nichts Erbärmlicheres! Meine schriftstellerische Tätigkeit ging entschieden mit der .Neuen Rheinischen Zeitung' zugrunde. Ich muß gestehen: so leid es mir tut, die letzten drei Jahre für nichts und wieder nichts verloren zu haben, so sehr freut es mich, wenn ich an unsere Kölner Residenz denke. Wir haben uns nicht kompromittiert. Das ist die Hauptsache! Seit Friedrich dem Großen hat niemand das deutsche Volk so sehr en canaille behandelt wie die .Neue Rheinische Zeitung'. Ich will nicht sagen, daß dies mein Verdienst war; aber ich bin dabei gewesen ... 0 Portugal! 0 Spanien!" (W. kam gerade dorther.) „Hätten wir nur deinen schönen Himmel, deinen Wein, deine Orangen und Myrthen! Aber auch das nicht! Nichts als Regen und lange Nasen und Rauchfleisch! Bei Regen mit langer Nase Dein G.Weerth."
Worin Weerth Meister war, worin er Heine übertraf (weil er gesunder und unverfälschter war) und in deutscher Sprache nur von Goethe übertroffen wird, das ist der Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust. Manche der Leser des „Sozialdemokrat" würden sich entsetzen, wollte ich die einzelnen Feuilletons der „Neuen Rhein. Zeitung" hier abdrucken lassen. Es fällt mir jedoch nicht ein, dies zu tun. Indes kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auch für die deutschen Sozialisten einmal der Augenblick kommen muß, wo sie dies letzte deutsche Philistervorurteil, die verlogene spießbürgerliche Moralprüderie offen abwerfen, die ohnehin nur als Deckmantel für verstohlene Zotenreißerei dient. Wenn man z.B. Freiligraths Gedichte liest, so sollte man wirklich meinen, die Menschen hätten gar keine Geschlechtsteile. Und doch hatte niemand mehr Freude an einem stillen Zötlein, als gerade der in der Poesie so ultrazüchtige Freiligrath. Es wird nachgerade Zeit, daß wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen ebenso unbefangen zu sprechen wie die romanischen Völker, wie Homer und Plato, wie Horaz und Juvenal, wie das Alte Testament und die „Neue Rheinische Zeitung". Übrigens hat Weerth auch minder anstößige Sachen geschrieben, und von diesen werde ich mir die Freiheit nehmen, von Zeit zu Zeit einiges dem Feuilleton des „Sozialdemokrat" zuzuschicken. F. Engels
Geschrieben Ende Mai 1883.
Das Buch der Offenbarung151
Die historische und sprachliche Kritik der Bibel, die Untersuchung des Alters, des Ursprungs und des historischen Werts der verschiedenen Schriften, aus denen sich das Alte und das Neue Testament zusammensetzt, ist eine Wissenschaft, welche in diesem Lande fast niemandem, außer einigen freisinnigen Theologen, bekannt ist, die sich bemühen, sie so geheim wie möglich zu halten. Diese Wissenschaft ist fast ausschließlich deutsch. Überdies hat sich das wenige, das über die Grenzen Deutschlands gedrungen ist, nicht gerade als ihr bester Teil erwiesen; es ist jene freisinnige Kritik, die sich brüstet, unvoreingenommen, gründlich und gleichzeitig christlich zu sein. Die Bücher sind nicht gerade Offenbarungen des heiligen Geistes, sondern sind Offenbarungen des Göttlichen durch den heiligen Geist der Menschlichkeit etc. So sind die Vertreter der Tübinger Schule (Baur, Gfrörer etc.)[61 in Holland und der Schweiz ebensosehr beliebt wie in England; will man jedoch ein wenig darüber hinausgehen, so folgt man Strauß. Derselbe nachsichtige, aber vollkommen unhistorische Geist beherrscht den berühmten Ernest Renan, der nur ein armseliger Plagiator der deutschen Kritiker ist. Von all seinen Werken gehört ihm nichts als die ästhetische Sentimentalität des durchdringenden Gedankens und die seichte Sprache, in die das Ganze gekleidet ist. Etwas Gutes hat Ernest Renan allerdings gesagt: «Wenn Sie einen genauen Begriff davon haben wollen, was die ersten christlichen Gemeinden waren, dann vergleichen Sie sie nicht mit den Kirchengemeinden unserer Tage; sie glichen eher lokalen Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation." Und das stimmt. Das Christentum ergriff die Massen genauso, wie es der moderne Sozialismus tut, in Gestalt mannigfaltiger Sekten und noch mehr durch widersprechende individuelle Meinungen - manche klarer, manche
verwirrter, wobei die letzteren die große Mehrheit bildeten -, aber alle sind dem herrschenden System, „den bestehenden Mächten", feindlich gesinnt. Nehmen wir z.B. unser Buch der Offenbarung, von dem wir sehen werden, daß es, statt das dunkelste und geheimnisvollste zu sein, das einfachste und klarste Buch des ganzen Neuen Testaments ist. Im Augenblick müssen wir den Leser bitten, zu glauben, was wir nach und nach beweisen werden: daß es im Jahre 68 oder im Januar 69 u.Z. geschrieben wurde und daß es deshalb nicht nur das einzige Buch des Neuen Testaments ist, von dem das Datum wirklich feststeht, sondern auch das älteste Buch. Wie das Christentum im Jahre 68 aussah, können wir hier wie im Spiegel sehen. Als erstes, Sekten und immer wieder Sekten. In den Sendschreiben an die sieben Kirchen Asiens171 werden mindestens drei Sekten erwähnt, von denen wir sonst nichts weiter wissen: die Nikolaiten, die Bileamiten und die Anhänger einer Frau, hier durch den Namen Jesabel versinnbildlicht. Von allen drei wird behauptet, daß sie es ihren Anhängern gestatteten, von den den Göttern geopferten Dingen zu essen, und daß sie der Unzucht zugetan waren. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß mit jeder großen revolutionären Bewegung die Frage der „freien Liebe" in den Vordergrund tritt: bei einem Teil der Menschen als ein revolutionärer Fortschritt, als ein Abwerfen nicht mehr notwendiger, alter traditioneller Fesseln, bei anderen als eine willkommene Lehre, die bequemerweise alle Arten zügelloser Handlungen zwischen Mann und Frau deckt. Die letzteren, nämlich die Philister, scheinen hier bald die Oberhand bekommen zu haben; denn die „Hurerei" wird immer in Zusammenhang gebracht mit dem Essen von „Götzenopfern was Juden und Christen streng verboten war, aber was abzulehnen manchmal gefährlich oder zumindest unangenehm sein konnte. Dies zeigt offensichtlich, daß die hier erwähnten Anhänger der freien Liebe im allgemeinen bestrebt waren, jedermanns Freund zu sein, und daß sie edles andere als das Zeug zu Märtyrern hatten. Das Christentum wurde, wie jede andere große revolutionäre Bewegung, von den Massen geschaffen. Es entstand in einer uns vollkommen unbekannten Art und Weise in Palästina zu einer Zeit, als neue Sekten, neue Religionen, neue Propheten zu Hunderten auftauchten. Tatsächlich handelt es sich nur um eine Durchschnittserscheinung, die sich spontan aus den gegenseitigen Reibereien der fortschrittlicheren dieser Sekten bildete und die nachher durch das Hinzukommen von Theoremen des alexandrinischen Juden Philo und später durch starke stoische*8' Infiltrationen zu einer Lehre wurde. Wenn wir in der Tat Philo den geistigen Vater des Christentums
nennen können, so war Seneca der Onkel. Ganze Absätze des Neuen Testaments scheinen fast wörtlich aus seinen Werken abgeschrieben zu sein; andererseits kann man Absätze in den Satiren von Persius finden, die aus dem damals ungeschriebenen Neuen Testament entnommen zu sein scheinen. Von all diesen, die Lehre betreffenden Elementen ist in unserem Buch der Offenbarung nichts zu finden. Hier haben wir das Christentum in der primitivsten Form, in der es für uns erhalten geblieben ist. Es gibt dort nur einen vorherrschenden, dogmatischen Punkt: daß die Gläubigen durch das Opfer Christi gerettet worden sind. Aber wie und warum kann absolut nicht erklärt werden. Da ist nichts als die alte jüdische und heidnische Vorstellung, daß Gott oder die Götter durch Opfer versöhnt werden müssen, in die spezifisch christliche Vorstellung umgewandelt (die das Christentum tatsächlich zur allgemeinen Religion machte), daß der Tod Christi das ein für allemal ausreichende große Opfer ist. Von der ursprünglichen Sünde keine Spur. Nichts von der Dreieinigkeit. Jesus ist „das Lamm", aber Gott untergeordnet. In der Tat wird er in einem Absatz (15,3) mit Moses auf eine Stufe gestellt. Statt des einen heiligen Geistes gibt es „die sieben Geister Gottes" (3,1 und 4,5). Die ermordeten Heiligen (die Märtyrer) rufen Gott zur Rache auf: „Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?" (6, 10) eine Gefühlsregung, die später sorgfältig aus dem theoretischen Moralkodex des Christentums gestrichen, die aber in der Praxis um so heftiger geübt wurde, sobald die Christen die Oberhand über die Heiden bekamen. Natürlicherweise stellt das Christentum nur eine Sekte des Judaismus dar. So in den Sendschreiben an die sieben Gemeinden: „ Ich weiß die Lästerung von denen, die da sagen, sie seien Juden" (nicht Christen) „und sind's nicht, sondern sind des Satans Schule" (2,9); und noch einmal (3,9): „Siehe, ich werde geben aus des Satanas Schule, die da sagen, sie seien Juden, und sind's nicht." Unser Autor hatte also im Jahre 69 u.Z. nicht im entferntesten eine Vorstellung davon, daß er eine neue Phase der religiösen Entwicklung vertrat, die dazu bestimmt war, eines der wesentlichsten Elemente der Revolution zu werden. Daher sind es auch, als die Heiligen vor dem Throne Gottes erscheinen, zuerst 144 000 Juden, 12 000 von jedem der zwölf Stämme, und erst nach ihnen werden die Heiden zugelassen, die dieser neuen Phase des Judentums beigetreten waren.
So sah das Christentum im Jahre 68 aus, wie es im ältesten und einzigen Buch des Neuen Testaments geschildert wird, dessen Echtheit nicht bezweifelt werden kann. Wer der Autor war, wissen wir nicht. Er nennt sich Johannes. Er gibt nicht einmal vor, der „Apostel" Johannes zu sein, denn die Grundsteine des „neuen Jerusalem" bergen „die Namen der zwölf Apostel des Lammes" (21, 14). Diese müssen daher schon tot gewesen sein, als er das Buch schrieb. Daß er ein Jude war, ist klar ersichtlich aus den reichlich vorhandenen Hebraismen in seinem Griechisch, welches an schlechter Grammatik selbst die anderen Bücher des Neuen Testaments bei weitem übertrifft. Daß das sogenannte Evangelium des Johannes, die Briefe des Johannes und dieses Buch mindestens drei verschiedene Autoren haben, wird eindeutig durch ihre Sprache, wenn nicht schon durch die in ihnen enthaltenen, einander völlig widersprechenden Doktrinen bewiesen. Die apokalyptischen Visionen, die fast die ganze Offenbarung ausmachen, sinjl in den meisten Fällen wörtlich den klassischen Propheten des Alten Testaments und ihren späteren Imitatoren entnommen, angefangen mit dem Buch des Daniel (ungefähr 160 v.u.Z., das Dinge prophezeite, die Jahrhunderte vorher geschehen waren) und endend mit dem „Buch des Henoch", einem apokryphischen Elaborat in griechischer Sprache, nicht lange vor Anfang unserer Zeitrechnung geschrieben. Die ursprüngliche Erdichtung, selbst die Gruppierung der plagiierten Visionen, ist äußerst armselig. Professor Ferdinand Benary, dessen Vorlesungsreihe an der Berliner Universität im Jahre 1841 ich das Folgende verdanke, hat unter Angabe von Kapitel und Vers nachgewiesen, woher unser Autor jede einzelne seiner angeblichen Visionen genommen hat. Es ist deshalb nutzlos, unserem „Johannes" in all seinen närrischen Einfällen zu folgen. Wir sollten vielmehr sofort zu dem Punkt kommen, der das Geheimnis dieses auf jeden Fall merkwürdigen Buchs aufdeckt. Im vollkommenen Gegensatz zu all seinen orthodoxen Kommentatoren, die alle erwarten, daß seine Prophezeiungen noch eintreffen, nach mehr als 1800 Jahren, hört „Johannes" niemals auf zu sagen:
„Die Zeit ist nahe, dies alles wird in Kürze geschehen."
Und das trifft besonders auf die Krise zu, die er voraussagt und die er offenbar zu sehen erwartet. Diese Krise ist der große entscheidende Kampf zwischen Gott und dem „Antichrist", wie andere ihn genannt haben. Die entscheidenden Kapitel sind die Kapitel 13 und 17. Lassen wir alle überflüssigen Ausschmückungen fort: „Johannes" sieht ein Tier aus dem Meer steigen, das
sieben Häupter und zehn Hörner hat (die Hörner interessieren uns überhaupt nicht). „Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund; und seine tödliche Wunde ward heil." Dieses Tier sollte für 42 Monate (eine Hälfte der heiligen sieben Jahre) Macht über die Erde gegen Gott und das Lamm haben, und alle Menschen sollten während dieser Zeit gezwungen sein, das Malzeichen dieses Tieres oder die Zahl seines Namens an der rechten Hand oder an der Stirn zu tragen. „Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666." Im zweiten Jahrhundert wußte Irenäus immer noch, daß mit dem verwundeten und geheiligten Haupt der Kaiser Nero gemeint war. Nero war der erste große Verfolger der Christen. Bei seinem Tode verbreitete sich besonders in Achaja und Asien das Gerücht, daß er nicht tot, sondern nur verwundet sei, und daß er eines Tages wieder erscheinen und über die ganze Welt Schrecken verbreiten würde (Tacitus, Hist. II, 8). Gleichzeitig kannte Irenäus eine andere sehr alte Lesart, wonach der Name die Zahl 616 an Stelle von 666 ergab.'91 Im Kapitel 17 erscheint das Tier mit den sieben Häuptern wieder, diesmal von der wohlbekannten scharlachroten Dame beritten, deren gefällige Beschreibung der Leser im Buch selbst nachsehen kann. Ein Engel erklärt dort dem Johannes: „Das Tier, das du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht ... Die sieben Häupter sind sieben Berge, auf welchen das Weib sitzt, und sieben Könige. Fünf sind gefallen, und einer ist, und der andere ist noch nicht gekommen; und wenn er kommt, muß er eine kleine Zeit bleiben. Und das Tier, das gewesen ist und nicht ist, das ist der achte und ist von den sieben ... Und das Weib, das du gesehen hast, ist die große Stadt, die das Reich hat über die Könige auf Erden." Hier haben wir also zwei klare Angaben: 1. Die scharlachrote Dame ist Rom, die große Stadt, die über die Könige der Welt regieret; 2. zur Zeit, da das Buch geschrieben wird, regiert der sechste römische Kaiser; nach ihm wird ein andrer kommen, der kurze Zeit regiert, und dann kommt die Rückkehr des einen, der „von den sieben ist", der verwundet, aber geheilt war und dessen Name in der geheimnisvollen Zahl enthalten ist, und von dem Irenäus noch wußte, daß es Nero war. Beginnen wir bei Augustus, so haben wir Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero als Fünften. Der Sechste, der ist, ist Galba, dessen
Thronbesteigung das Signal für einen Aufstand der Legionen war, besonders in Gallien, geführt durch Otho, Galbas Nachfolger1101. Demzufolge muß unser Buch unter Galba geschrieben worden sein, der vom 9. Juni 68 bis zum 15. Januar 69 regierte. Es sagt die Rückkehr Neros als bevorstehend voraus. Aber nun zum entscheidenden Beweis - die Zahl. Auch diese ist von Ferdinand Benary entdeckt und seitdem niemals in der wissenschaftlichen Welt abgestritten worden. Ungefähr dreihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung begannen die Juden, ihre Buchstaben als Symbole für Zahlen zu benutzen. Die spekulativen Rabbis sahen hierin eine Methode zur mystischen Deutung oder Kabbala. Geheime Worte wurden durch die Zahl ausgedrückt, die durch die Addition der in ihnen enthaltenen numerischen Werte der Buchstaben zustande kam. Diese neue Wissenschaft nannten sie gematriah, Geometrie. Eben diese Wissenschaft wird von unserem „Johannes" hier angewandt. Wir haben zu beweisen 1., daß die Zahl den Namen eines Mannes beinhaltet und daß dieser Mann Nero ist und 2., daß die Lösung sowohl für die Lesart 666 als auch für die ebenso alte Lesart 616 gilt. Wir nehmen die hebräischen Buchstaben und ihre Werte: 3 (nun) n = 50 1 (resch) r = 200 1 (waw) für o = 6 3 (nun) n = 50 p (koph) k[q] = 100 D (samech) s = 60 "1 (resch) r = 200 Neron Kesar, der Kaiser Neron, griechisch Neron Kaisar. Wenn wir nun aber, statt die griechische Schreibweise zu verwenden, das lateinische Nero Caesar in hebräische Buchstaben übertragen, verschwindet das Nun am Ende von Neron und damit der Wert von 50. Das bringt uns zur anderen alten Lesart, nämlich 616, und damit ist der Beweis so vollkommen, wie man es nur wünschen kann.* Also liegt nun der Inhalt des geheimnisvollen Buchs in voller Klarheit vor uns. „Johannes" sagt die Rückkehr Neros ungefähr für das Jahr 70 und seine Schreckensherrschaft voraus, die 42 Monate oder 1260 Tage dauern soll. Nach dieser Zeitspanne erscheint Gott, überwältigt Nero, den Anti
* Die obige Schreibweise des Namens, sowohl mit als auch ohne das zweite Nun, entspricht der Schreibweise des Talmuds und ist deshalb authentisch.
christ, zerstört die große Stadt durch Feuer und fesselt den Teufel für ein Jahrtausend. Das Tausendjährige Reich beginnt etc. All dies hat jetzt jegliche Bedeutung verloren, ausgenommen für einfältige Personen, die noch immer versuchen mögen, den Tag des letzten Gerichts auszurechnen. Jedoch als authentisches Bild eines beinah primitiven Christentums, von einem der ihren gezeichnet, ist das Buch mehr wert als alle übrigen Bücher des Neuen Testaments zusammengenommen.
Nach: „Progress", Vol. II, London 1883, S. 112-116. Aus dem Englischen.
Marx und die »Neue Rheinische Zeitung" 1848-18491,11
[„Der Sozialdemokrat* Nr.U vom 13. März 1884] Beim Ausbruch der Februarrevolution bestand die deutsche „Kommunistische Partei" ,wie wir sie nannten, nur aus einem kleinen Stamm, dem als geheime Propagandagesellschaft organisierten Bund der Kommunisten. Geheim war der Bund nur, weil es damals in Deutschland kein Vereinsund Versammlungsrecht gab. Außer den Arbeitervereinen im Ausland, wo er sich rekrutierte, hatte er ungefähr dreißig Gemeinden oder Sektionen im Lande selbst, dazu einzelne Mitglieder an vielen Orten. Aber diese unbedeutende Streitkraft hatte einen Führer, dem sich alle willig unterordneten, einen Führer ersten Ranges in Marx, und dank ihm ein prinzipielles und ein taktisches Programm, das noch heute in voller Geltung steht: das „.Kommunistische Manifest". Hier kommt in erster Reihe der taktische Teil des Programms in Betracht. Dieser lautete im allgemeinen: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besondern Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß einerseits sie in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationcdität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegimg vertreten. - Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder, sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in
die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus."[12) Und für die deutsche Partei im besonderen: „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgern. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muß, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt. Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht" usw. („Manifest" IV).1 Nie hat sich ein taktisches Programm so bewährt wie dieses. Aufgestellt am Vorabend einer Revolution, hielt es die Probe dieser Revolution aus; wo seit jener Zeit eine Arbeiterpartei von ihm abwich, strafte sich jede Abweichung; und heute, nach beinahe vierzig Jahren, bildet es die Richtschnur aller entschiedenen und selbstbewußten Arbeiterparteien Europas von Madrid bis Petersburg. Die Februarereignisse in Paris überstürzten die bevorstehende deutsche Revolution und modifizierten damit ihren Charakter. Die deutsche Bourgeoisie, statt aus eigener Kraft zu siegen, siegte im Schlepptau einer französischen Arbeiterrevolution. Noch ehe sie ihre alten Gegner, das absolute Königtum, den feudalen Grundbesitz, die Bürokratie, das feige Spießbürgertum, endgiltig niedergeworfen, mußte sie schon Front machen gegen einen neuen Feind, das Proletariat. Hier aber zeigten sich sofort die Wirkungen der hinter Frankreich und England weit zurückgebliebenen ökonomischen Zustände und der damit ebensosehr zurückgebliebenen Klassenlage Deutschlands. Die deutsche Bourgeoisie, die eben erst ihre große Industrie zu begründen anfing, hatte weder die Kraft noch den Mut, noch die zwingende Nötigung, sich die unbedingte Herrschaft im Staat zu erkämpfen; das Proletariat, in gleichem Verhältnis unentwickelt, herangewachsen in vollständiger geistiger Knechtung, unorganisiert und noch nicht einmal fähig zu
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S. 492/493
2 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
selbständiger Organisation, besaß nur das dumpfe Gefühl seines tiefen Interessengegensatzes gegen die Bourgeoisie. So, obgleich der Sache nach ihr drohender Gegner, blieb es anderseits ihr politisches Anhängsel. Geschreckt nicht durch das, was das deutsche Proletariat war, sondern durch das, was es zu werden drohte und was das französische schon war, sah die Bourgeoisie nur Rettung in jedem, auch dem feigsten Kompromiß mit Monarchie und Adel; unbekannt noch mit seiner eigenen geschichtlichen Rolle, mußte das Proletariat in seiner großen Masse zunächst die des vorantreibenden, äußersten linken Flügels der Bourgeoisie übernehmen. Die deutschen Arbeiter hatten vor allen Dingen diejenigen Rechte zu erkämpfen, die ihnen zu ihrer selbständigen Organisation als Klassenpartei unumgänglich waren: Freiheit der Presse, der Vereinigung und Versammlung - Rechte, die die Bourgeoisie im Interesse ihrer eigenen Herrschaft hätte erkämpfen müssen, die sie selbst aber in ihrer Angst den Arbeitern jetzt streitig machte. Die paar hundert vereinzelten Bundesmitglieder verschwanden in der ungeheuren, plötzlich in die Bewegung geschleuderten Masse. Das deutsche Proletariat erschien so zunächst auf der politischen Bühne als äußerste demokratische Partei. Damit war uns, als wir in Deutschland eine große Zeitung begründeten, die Fahne von selbst gegeben. Es konnte nur die der Demokratie sein, aber die einer Demokratie, die überall den spezifisch proletarischen Charakter im einzelnen hervorhob, den sie noch nicht ein für allemal aufs Banner schreiben konnte. Wollten wir das nicht, wollten wir nicht die Bewegung an ihrem vorgefundenen, fortgeschrittensten, tatsächlich proletarischen Ende aufnehmen und weiter vorantreiben, so blieb uns nichts, als Kommunismus in einem kleinen Winkelblättchen dozieren und statt einer großen Aktionspartei eine kleine Sekte stiften. Zu Predigern in der Wüste aber waren wir verdorben; dazu hatten wir die Utopisten zu gut studiert. Dazu hatten wir unser Programm nicht entworfen. Als wir nach Köln kamen, waren dort von demokratischer, teilweise kommunistischer Seite Vorbereitungen zu einem großen Blatt getroffen. Man wollte dies echt lokal-kölnisch machen und uns nach Berlin verbannen. Aber in 24 Stunden hatten wir, namentlich durch Marx, das Terrain erobert, das Blatt ward unser, auf die Gegenkonzession, daß wir Heinrich Bürgers in die Redaktion nahmen. Dieser schrieb einen Artikel (in Nr. 2) und nie mehr einen zweiten. Wir mußten eben nach Köln gehen und nicht nach Berlin. Erstens war Köln das Zentrum der Rheinprovinz, die die französische Revolution durchgemacht, sich im Code Napoleon'131 moderne Rechtsanschauungen
bewahrt, die weitaus bedeutendste große Industrie entwickelt hatte und in jeder Beziehung damals der fortgeschrittenste Teil Deutschlands war. Das damalige Berlin kannten wir nur zu gut aus eigener Anschauung, mit seiner kaum entstehenden Bourgeoisie, seinem maulfrechen, aber tatfeigen, kriechenden Kleinbürgertum, seinen noch total unentwickelten Arbeitern, seinen massenhaften Bürokraten, Adels- und Hofgesindel, seinem ganzen Charakter als bloße „Residenz". Entscheidend aber waren: In Berlin herrschte das elende preußische Landrecht1141, und politische Prozesse kamen vor die Berufsrichter; am Rhein bestand der Code Napoleon, der keine Preßprozesse kennt, weil er die Zensur voraussetzt, und wenn man keine politischen Vergehen, sondern nur Verbrechen beging, kam man vor die Geschwornen; in Berlin ward nach der Revolution der junge Schlöffel wegen einer Kleinigkeit zu einem Jahre verurteilt1151, am Rhein hatten wir unbedingte Preßfreiheit - und wir haben sie ausgenutzt bis auf den letzten Tropfen. So fingen wir am I.Juni 1848 an, mit einem sehr beschränkten Aktienkapital, von dem nur wenig eingezahlt war, und die Aktionäre selbst mehr als unsicher. Gleich nach der ersten Nummer verließ uns die Hälfte, und am Ende des Monats hatten wir gar keine mehr. Die Verfassung der Redaktion war die einfache Diktatur von Marx. Ein großes Tageblatt, das zur bestimmten Stunde fertig sein muß, kann bei keiner anderen Verfassung eine folgerechte Haltung bewahren. Hier aber war noch dazu Marx* Diktatur selbstverständlich, unbestritten, von uns allen gern anerkannt. Es war in erster Linie sein klarer Blick und seine sichere Haltung, die das Blatt zur berühmtesten deutschen Zeitung der Revolutionsjahre gemacht haben. Das politische Programm der „Neuen Rheinischen Zeitung" bestand aus zwei Hauptpunkten: Einige, unteilbare, demokratische deutsche Republik und Krieg mit Rußland, der Wiederherstellung Polens einschloß. Die kleinbürgerliche Demokratie teilte sich damals in zwei Fraktionen: die norddeutsche, die sich einen demokratischen preußischen Kaiser gefallen, und die süddeutsche, damals fast ganz spezifisch badische, die Deutschland in eine föderative Republik nach Schweizer Muster verwandeln wollte. Beide mußten wir bekämpfen. Das Interesse des Proletariats verbot ebensosehr die Verpreußung Deutschlands wie die Verewigung der Kleinstaaterei. Es gebot die endliche Vereinigung Deutschlands zu einer Nation, die allein den von allen überkommenen kleinlichen Hindernissen gereinigten Kampfplatz herstellen konnte, auf dem Proletariat und Bourgeoisie ihre
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Kräfte messen sollten. Aber es verbot ebensosehr die Herstellung einer preußischen Spitze; der preußische Staat mit seiner ganzen Einrichtung, seiner Tradition und seiner Dynastie war gerade der einzige ernsthafte innere Gegner, den die Revolution in Deutschland niederzuwerfen hatte; und obendrein konnte Preußen Deutschland nur einigen durch Deutschlands Zerreißung, durch den Ausschluß Deutsch-Österreichs. Auflösung des preußischen, Zerfall des österreichischen Staates, wirkliche Einigung Deutschlands als Republik - ein anderes revolutionäres, nächstes Programm konnten wir nicht haben. Und dies war durchzusetzen durch Krieg gegen Rußland und nur durch ihn. Auf diesen letzteren Punkt komme ich noch zurück. Im übrigen war der Ton des Blattes keineswegs feierlich, ernst oder begeistert. Wir hatten lauter verächtliche Gegner und behandelten sie ausnahmslos mit der äußersten Verachtung. Das konspirierende Königtum, die Kamarilla, der Adel, die „Kreuz-Zeitung"'16], die gesamte „Reaktion", über die der Philister sich sittlich entrüstete - wir behandelten sie nur mit Hohn und Spott. Aber nicht minder auch die durch die Revolution aufgekommenen neuen Götzen: die Märzminister, die Frankfurter und Berliner Versammlung, Rechte wie Linke darin. Gleich die erste Nummer begann mit einem Artikel, der die Nichtigkeit des Frankfurter Parlamentes, die Zwecklosigkeit seiner langatmigen Reden, die Überflüssigkeit seiner feigen Beschlüsse verspottete.'171 Er kostete uns die Hälfte der Aktionäre. Das Frankfurter Parlament war nicht einmal ein Debattierklub; hier wurde fast gar nicht debattiert, sondern meist nur fertig mitgebrachte akademische Abhandlungen abgeleiert und Beschlüsse gefaßt, die den deutschen Philister begeistern sollten, um die sich aber sonst kein Mensch kümmerte. Die Berliner Versammlung hatte schon mehr Bedeutung, sie stand einer wirklichen Macht gegenüber, sie debattierte und beschloß auf platter Erde, nicht im Frankfurter Wolkenkuckucksheim. Sie wurde daher auch ausführlicher behandelt. Aber auch die dortigen Götzen der Linken, Schulze-Delitzsch, Berends, Eisner, Stein usw., wurden ebenso scharf mitgenommen wie die Frankfurter, ihre Unentschiedenheit, Zaghaftigkeit und Rechnungsträgerei schonungslos aufgedeckt und ihnen nachgewiesen, wie sie Schritt vor Schritt sich in den Verrat an der Revolution hineinkompromisselten. Das erregte natürlich Schauder beim demokratischen Kleinbürger, der sich diese Götzen erst eben zum eigenen Gebrauch fabriziert hatte. Uns war dieser Schauder ein Zeichen, daß wir ins Schwarze getroffen hatten. Ebenso traten wir auch der vom Kleinbürgertum eifrig verbreiteten Täuschimg entgegen, als ob die Revolution mit den Märztagen abgeschlos
sen sei und man jetzt nur noch die Früchte einzuheimsen habe. Für uns konnten Februar und März nur dann die Bedeutung einer wirklichen Revolution haben, wenn sie nicht Abschluß, sondern im Gegenteil Ausgangspunkte einer langen revolutionären Bewegung wurden, in der, wie in der großen französischen Umwälzung, das Volk sich durch seine eigenen Kämpfe weiterentwickelte, die Parteien sich schärfer und schärfer schieden, bis sie mit den großen Klassen, Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Proletariat, ganz zusammenfielen, und in der die einzelnen Positionen vom Proletariat nach und nach in einer Reihe von Schlachttagen erobert wurden. Daher traten wir auch dem demokratischen Kleinbürgertum überall entgegen, wo es seinen Klassengegensatz gegen das Proletariat vertuschen wollte mit der beliebten Phrase: Wir wollen ja alle dasselbe, alle Differenzen beruhen auf bloßen Mißverständnissen. Je weniger aber wir dem Kleinbürgertum erlaubten, unsere proletarische Demokratie mißzuverstehen, desto zahmer und gefügiger wurde es uns gegenüber. Je schärfer und entschiedener man ihm gegenübertritt, desto williger duckt es sich, desto mehr Konzessionen macht es der Arbeiterpartei. Das haben wir gesehen. Endlich deckten wir den parlamentarischen Kretinismus (wie Marx es nannte) der verschiedenen sogenannten Nationalversammlungen auf.1181 Diese Herren hatten sich alle Machtmittel entschlüpfen lassen, sie zum Teil freiwillig wieder den Regierungen überliefert. Neben neugestärkten, reaktionären Regierungen standen in Berlin wie in Frankfurt machtlose Versammlungen, die trotzdem sich einbildeten, ihre ohnmächtigen Beschlüsse würden die Welt aus den Angeln heben. Bis auf die äußerste Linke herrschte diese kretinhafte Selbsttäuschung. Wir riefen ihnen zu: ihr parlamentarischer Sieg werde zusammenfallen mit ihrer wirklichen Niederlage. Und so geschah's in Berlin wie in Frankfurt. Als die „Linke" die Majorität erhielt, jagte die Regierung die ganze Versammlung auseinander; sie konnte es, weil die Versammlung ihren eigenen Kredit beim Volk verscherzt hatte. Als ich später Boagearts Buch über Marat las, fand ich, daß wir in mehr als einer Beziehung nur das große Vorbild des echten (nicht des von den Royalisten gefälschten) „Ami du peuple"1191 unbewußt nachgeahmt hatten und daß der ganze Wutschrei und die ganze Geschichtsfälschung, kraft deren man fast ein Jahrhundert hindurch nur einen gänzlich entstellten Marat gekannt, nur diese Ursache haben: daß Marat den Augenblicksgötzen Lafayette, Bailly und anderen unbarmherzig den Schleier abzog und sie als schon fertige Verräter an der Revolution enthüllte; und daß er, wie wir, die Revolution nicht für abgeschlossen, sondern in Permanenz erklärt wissen wollte.
Wir sprachen es offen aus, daß die Richtung, die wir vertraten, erst dann in den Kampf um die Erreichung unserer wirklichen Parteiziele eintreten könne, wenn die äußerste der in Deutschland bestehenden offiziellen Parteien am Ruder sei: dann würden wir, ihr gegenüber, die Opposition bilden. Die Ereignisse sorgten aber dafür, daß neben den Spott über die deutschen Gegner auch die flammende Leidenschaft trat. Die Insurrektion der Pariser Arbeiter im Juni 1848 fand uns auf dem Platze. Vom ersten Schuß an traten wir unbedingt ein für die Insurgenten. Nach ihrer Niederlage feierte Marx die Besiegten in einem seiner gewaltigsten Artikel.[20) Da verließ uns der letzte Rest der Aktionäre. Aber wir hatten die Genugtuung, das einzige Blatt in Deutschland und fast in Europa zu sein, das die Fahne des zertretenen Proletariats hochgehalten hatte im Augenblicke, wo die Bourgeois und Spießbürger aller Länder die Besiegten erdrückten mit dem Wüste ihrer Verleumdungen. Die auswärtige Politik war einfach: Eintreten für jedes revolutionäre Volk, Aufruf zum allgemeinen Krieg des revolutionären Europas gegen den großen Rückhalt der europäischen Reaktion - Rußland. Vom 24. Februar'211 an war es uns klar, daß die Revolution nur einen wirklich furchtbaren Feind habe, Rußland, und daß dieser Feind um so mehr gezwungen sei, in den Kampf einzutreten, je mehr die Bewegung europäische Dimensionen annahm. Die Ereignisse von Wien, Mailand, Berlin mußten den russischen Angriff verzögern, aber sein endliches Kommen wurde um so gewisser, je näher die Revolution Rußland auf den Leib rückte. Gelang es aber, Deutschland zum Krieg gegen Rußland zu bringen, so war es aus mit Habsburg und Hohenzollern, und die Revolution siegte auf der ganzen Linie. Diese Politik geht durch jede Nummer der Zeitung bis zum Moment des wirklichen Einrückens der Russen in Ungarn, das unsere Voraussicht vollauf bestätigte und die Niederlage der Revolution entschied. Als im Frühjahr 1849 der Entscheidungskampf heranrückte, wurde die Sprache des Blattes mit jeder Nummer heftiger und leidenschaftlicher. Den schlesischen Bauern rief Wilhelm Wolff in der „Schlesischen Milliarde"[a21 (acht Artikel) ins Gedächtnis, wie sie bei der Ablösung der Feudallasten von den Gutsherren mit Hilfe der Regierung um Geld und Grundbesitz geprellt worden, und forderte eine Milliarde Taler Entschädigung. Gleichzeitig erschien im April Marx' Abhandlung über Lohnarbeit und Kapital in einer Reihe von Leitartikeln1 als deutlicher Hinweis auf das soziale Ziel unserer Politik. Jede Nummer, jedes Extrablatt zeigte hin auf die
sich vorbereitende große Schlacht, auf die Zuspitzung der Gegensätze in Frankreich, Italien, Deutschland und Ungarn. Namentlich die Extrablätter vom April und Mai waren ebensoviel Aufrufe an das Volk, sich bereit zu halten zum Losschlagen. „Draußen im Reich" wunderte man sich, daß wir das alles so ungeniert in einer preußischen Festung ersten Ranges, gegenüber einer Garnison von 8000 Mann und angesichts der Hauptwache betrieben; aber von wegen der acht Bajonettgewehre und 250 scharfen Patronen im Redaktionszimmer und der roten Jakobinermützen der Setzer galt unser Haus bei den Offizieren ebenfalls für eine Festung, die nicht durch bloßen Handstreich zu nehmen sei. Endlich am 18. Mai 1849 kam der Schlag. Der Aufstand in Dresden und Elberfeld war unterdrückt, der in Iserlohn umzingelt, die Rheinprovinz und Westfalen starrten von Bajonetten, die nach vollendeter Vergewaltigung der preußischen Rheinlande gegen die Pfalz und Baden zu marschieren bestimmt waren. Da endlich wagte die Regierung, uns auf den Leib zu rücken. Die eine Hälfte der Redakteure war unter gerichtlicher Verfolgung, die andere als Nichtpreußen ausweisbar. Dagegen war nichts zu machen, solange ein ganzes Armeekorps hinter der Regierung stand. Wir mußten unsere Festung übergeben, aber wir zogen ab mit Waffen und Bagage, mit klingendem Spiel und mit der fliegenden Fahne der letzten, roten, Nummer, in der wir die Kölner Arbeiter vor hoffnungslosen Putschen warnten und ihnen zuriefen: „Die Redakteure der .Neuen Rheinischen Zeitung' danken Euch beim Abschiede für die ihnen bewiesene Teilnahme. Ihr letztes Wort wird immer und überall sein: Emanzipation der arbeitenden Klasse/"1231 So endete die „Neue Rheinische Zeitung", kurz ehe ihr erster Jahrgang vollendet. Mit feist gar keinen Geldmitteln angefangen - die wenigen ihr zugesicherten entgingen ihr, wie gesagt, bald -, brachte sie es schon im September auf eine Auflage von fast 5000. Der Belagerungszustand von Köln suspendierte sie; Mitte Oktober mußte sie wieder von vorne anfangen. Aber im Mai 1849 bei ihrer Unterdrückung stand sie schon wieder auf 6000 Abonnenten, während die „Kölnische"1241 damals, nach ihrem eigenen Eingeständnis, nicht über 9000 besaß. Keine deutsche Zeitung, weder vorher noch nachher, hat je die Macht und den Einfluß besessen, hat es verstanden, so die proletarischen Massen zu elektrisieren wie die „Neue Rheinische". Und das verdankte sie vor allem Marx. Als der Schlag gefallen war, zerstreute sich die Redaktion. Marx ging nach Paris, wo die Entscheidung sich vorbereitete, die am 13. Juni 1849[25)
fiel; Wilhelm Wolff nahm jetzt seinen Sitz im Frankfurter Parlament ein jetzt, wo die Versammlung zu wählen hatte zwischen Zersprengung von oben oder Anschluß an die Revolution; und ich ging nach der Pfalz und wurde Adjutant im Willichschen Freikorps126'. Fr.Engels
Geschrieben Mitte Februar bis Anfang März 1884.
Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats
Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen'271
Geschrieben Ende März bis 26. Mai 1884. Erstmalig veröffentlicht Hottingen-Zürich 1884. Nach der vierten, ergänzten Auflage, Stuttgart 1892. Alle wesentlichen Änderungen gegenüber der Erstausgabe sind in Fußnoten vermerkt.


Vorwort zur ersten Auflage 1884
Die nachfolgenden Kapitel bilden gewissermaßen die Vollführung eines Vermächtnisses. Es war kein Geringerer als Karl Marx, der sich vorbehalten hatte, die Resultate der Morganschen Forschungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen seiner - ich darf innerhalb gewisser Grenzen sagen unsrer - materialistischen Geschichtsuntersuchung darzustellen und dadurch erst ihre ganze Bedeutung klarzumachen. Hatte doch Morgan die von Marx vor vierzig Jahren entdeckte materialistische Geschichtsauffassung in Amerika in seiner Art neu entdeckt und war von ihr, bei Vergleichung der Barbarei und der Zivilisation, in den Hauptpunkten zu denselben Resultaten geführt worden wie Marx. Und wie „Das Kapital" von den zünftigen Ökonomen in Deutschland jahrelang ebenso eifrig ausgeschrieben wie hartnäckig totgeschwiegen wurde, ganz so wurde Morgans „Ancient Society"* behandelt von den Wortführern der „prähistorischen" Wissenschaft in England. Meine Arbeit kann nur einen geringen Ersatz bieten für das, weis meinem verstorbenen Freunde zu tun nicht mehr vergönnt war. Doch liegen mir in seinen ausführlichen Auszügen aus Morgan kritische Anmerkungen vor, die ich hier wiedergebe, soweit es irgend angeht. Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung,
* „Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery, through Barbarism to Civilization". By Lewis H. Morgan. London, Macmillan and Co., 1877. Das Buch ist in Amerika gedruckt und in London merkwürdig schwer zu haben. Der Verfasser ist vor einigen Jahren gestorben.
Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie. Je weniger die Arbeit noch entwickelt ist, je beschränkter die Menge ihrer Erzeugnisse, also auch der Reichtum der Gesellschaft, desto überwiegender erscheint die Gesellschaftsordnung beherrscht durch Geschlechtsbande. Unter dieser, auf Geschlechtsbande begründeten Gliederung der Gesellschaft entwickelt sich indes die Produktivität der Arbeit mehr und mehr; mit ihr Privateigentum und Austausch, Unterschiede des Reichtums, Verwertbarkeit fremder Arbeitskraft und damit die Grundlage von Klassengegensätzen: neue soziale Elemente, die im Lauf von Generationen sich abmühen, die alte Gesellschaftsverfassung den neuen Zuständen anzupassen, bis endlich die Unvereinbarkeit beider eine vollständige Umwälzung herbeiführt. Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten gesellschaftlichen Klassen; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefaßt im Staat, dessen Untereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände, sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird und in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisherigen geschriebnen Geschichte besteht. Es ist da« große Verdienst Morgans, diese vorgeschichtliche Grundlage unsrer geschriebnen Geschichte in ihren Hauptzügen entdeckt und wiederhergestellt und in den Geschlechtsverbänden der nordamerikanischen Indianer den Schlüssel gefunden zu haben, der uns die wichtigsten, bisher unlösbaren Rätsel der ältesten griechischen, römischen und deutschen Geschichte erschließt. Es ist aber seine Schrift kein Eintagswerk. An die vierzig Jahre hat er mit seinem Stoff gerungen, bis er ihn vollständig beherrschte. Darum aber ist auch sein Buch eins der wenigen epochemachenden Werke unsrer Zeit. In der nachfolgenden Darstellung wird der Leser im ganzen und großen leicht unterscheiden, was von Morgan herrührt und was ich hinzugesetzt. In den geschichtlichen Abschnitten über Griechenland und Rom habe ich mich nicht auf Morgans Belege beschränkt, sondern hinzugefügt, was mir zu Gebote stand. Die Abschnitte über Kelten und Deutsche gehören wesentlich mir an; Morgan verfügte hier fast nur über Quellen zweiter Hand und für die deutschen Zustände - außer Tacitus - nur über die schlechten
liberalen Verfälschungen des Herrn Freeman. Die ökonomischen Ausführungen, die bei Morgan für seinen Zweck hinreichend, für den meinigen aber durchaus ungenügend, sind alle von mir neu bearbeitet. Und endlich bin ich selbstredend verantwortlich für alle Schlußfolgerungen, soweit nicht Morgan ausdrücklich zitiert wird.
I
Vorgeschichtliche Kulturstufen
Morgan ist der erste, der mit Sachkenntnis eine bestimmte Ordnung in die menschliche Vorgeschichte zu bringen versucht; solange nicht bedeutend erweitertes Material zu Änderungen nötigt, wird seine Gruppierung wohl in Kraft bleiben. Von den drei Hauptepochen: Wildheit, Barbarei, Zivilisation beschäftigen ihn selbstredend nur die ersten zwei und der Übergang zur dritten. Jede der beiden teilt er ein in eine untere, mittlere und obere Stufe, je nach den Fortschritten der Produktion der Lebensmittel; denn, sagt er: „Die Geschicklichkeit in dieser Produktion ist entscheidend für den Grad menschlicher Überlegenheit und Naturbeherrschung; von allen Wesen hat nur der Mensch es bis zu einer fast unbedingten Herrschaft über die Erzeugung von Nahrungsmitteln gebracht. Alle großen Epochen menschlichen Fortschritts fallen, mehr oder weniger direkt, zusammen mit Epochen der Ausweitung der Unterhaltsquellen."'281 Die Entwicklung der Familie geht daneben, bietet aber keine so schlagenden Merkmale zur Trennung der Perioden.
/. Wildheit
1. Unterstufe. Kindheit des Menschengeschlechts, das, wenigstens teilweise, auf Bäumen lebend, wodurch allein sein Fortbestehn gegenüber großen Raubtieren erklärlich, noch in seinen ursprünglichen Sitzen, tropischen oder subtropischen Wäldern sich aufhielt. Früchte, Nüsse, Wurzeln dienten zur Nahrung; die Ausbildung artikulierter Sprache ist Hauptergebnis dieser Zeit. Von allen Völkern, die innerhalb der geschichtlichen Periode bekannt geworden sind, gehörte kein einziges mehr diesem Urzustand an. So lange Jahrtausende er auch gedauert haben mag, so wenig
können wir ihn aus direkten Zeugnissen beweisen; aber die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich einmal zugegeben, wird die Annahme dieses Übergangs unumgänglich. 2. Mittelstufe. Beginnt mit der Verwertung von Fischen (wozu wir auch Krebse, Muscheln und andere Wassertiere zählen) zur Nahrung und mit dem Gebrauch des Feuers. Beides gehört zusammen, da Fischnahrung erst vermittelst des Feuers vollständig vernutzbar wird. Mit dieser neuen Nahrung aber wurden die Menschen unabhängig von Klima und Lokalität; den Strömen und Küsten folgend, konnten sie selbst im wilden Zustand sich über den größten Teil der Erde ausbreiten. Die roh gearbeiteten, ungeschliffenen Steinwerkzeuge des früheren Steinalters, die sogenannten paläolithischen, die ganz oder größtenteils in diese Periode fallen, sind in ihrer Verbreitung über alle Kontinente Beweisstücke dieser Wanderungen. Die neubesetzten Zonen wie der ununterbrochen tätige Findungstrieb, verbunden mit dem Besitz des Reibfeuers, brachten neue Nahrungsmittel auf; so stärkmehlhaltige Wurzeln und Knollen, in heißer Asche oder in Backgruben (Erdöfen) gebacken; so Wild, das mit Erfindung der ersten Waffen, Keule und Speer, gelegentliche Zugabe zur Kost wurde. Ausschließliche Jägervölker, wie sie in den Büchern figurieren, d.h. solche, die nur von der Jagd leben, hat es nie gegeben; dazu ist der Ertrag der Jagd viel zu ungewiß. Infolge andauernder Unsicherheit der Nahrungsquellen scheint auf dieser Stufe die Menschenfresserei aufzukommen, die sich von jetzt an lange erhält. Die Australier und viele Polynesier stehn noch heute auf dieser Mittelstufe der Wildheit. 3. Oberstufe. Beginnt mit der Erfindung von Bogen und Pfeil, wodurch Wild regelmäßiges Nahrungsmittel, Jagd einer der normalen Arbeitszweige wurde. Bogen, Sehne und Pfeil bilden schon ein sehr zusammengesetztes Instrument, dessen Erfindung lange, gehäufte Erfahrung und geschärfte Geisteskräfte voraussetzt, also auch die gleichzeitige Bekanntschaft mit einer Menge andrer Erfindungen. Vergleichen wir die Völker, die zwar Bogen und Pfeil kennen, aber noch nicht die Töpferkunst (von der Morgan den Übergang in die Barbarei datiert), so finden wir in der Tat bereits einige Anfänge der Niederlassung in Dörfern, eine gewisse Beherrschung der Produktion des Lebensunterhalts, hölzerne Gefäße und Geräte, Fingerweberei (ohne Webstuhl) mit Fasern von Bast, geflochtene Körbe von Bast oder Schilf, geschliffene (neolithische) Steinwerkzeuge. Meist auch hat Feuer und Steinaxt bereits das Einbaum-Boot und stellenweise Balken und Bretter zum Hausbau geliefert. Alle diese Fortschritte finden wir z.B. bei den nordwestlichen Indianern Amerikas, die zwar Bogen und Pfeil, aber nicht die
Töpferei kennen. Für die Wildheit war Bogen und Pfeil, was das eiserne Schwert für die Barbarei und das Feuerrohr für die Zivilisation: die entscheidende Waffe.
2. Barbarei
1. Unterstufe. Datiert von der Einführung der Töpferei. Diese ist nachweislich in vielen Fällen und wahrscheinlich überall entstanden aus der Überdeckung geflochtener oder hölzerner Gefäße mit Lehm, um sie feuerfest zu machen; wobei man bald fand, daß der geformte Lehm auch ohne das innere Gefäß den Dienst leistete. Bisher konnten wir den Gang der Entwicklung ganz allgemein, als gültig für eine bestimmte Periode aller Völker, ohne Rücksicht auf die Lokalität, betrachten. Mit dem Eintritt der Barbarei aber haben wir eine Stufe erreicht, worauf sich die verschiedne Naturbegabung der beiden großen Erdkontinente geltend macht. Das charakteristische Moment der Periode der Barbarei ist die Zähmung und Züchtung von Tieren und die Kultur von Pflanzen. Nun besaß der östliche Kontinent, die sog. alte Welt, fast alle zur Zähmung tauglichen Tiere und alle kulturfähigen Getreidearten außer einer; der westliche, Amerika, von zähmbaren Säugetieren nur das Lama, und auch dies nur in einem Teil des Südens, und von allen Kulturgetreiden nur eins, aber das Beste: den Mais. Diese verschiednen Naturbedingungen bewirken, daß von nun an die Bevölkerung jeder Halbkugel ihren besondern Gang geht, und die Marksteine an den Grenzen der einzelnen Stufen in jedem der beiden Fälle verschieden sind. 2. Mittelstufe. Beginnt im Osten mit der Zähmung von Haustieren, im Westen mit der Kultur von Nährpflanzen mittelst Berieselung und dem Gebrauch von Adoben (an der Sonne getrockneten Ziegeln) und Stein zu Gebäuden. Wir beginnen mit dem Westen, da hier diese Stufe bis zur europäischen Eroberung nirgends überschritten wurde. Bei den Indianern der Unterstufe der Barbarei (wozu alle östlich des Mississippi gefundnen gehörten) bestand zur Zeit ihrer Entdeckung schon eine gewisse Gartenkultur von Mais und vielleicht auch Kürbissen, Melonen und andern Gartengewächsen, die einen sehr wesentlichen Bestandteil ihrer Nahrung lieferte; sie wohnten in hölzernen Häusern, in verpalisadierten Dörfern. Die nordwestlichen Stämme, besonders die im Gebiet des Kolumbiaflusses, standen noch auf der Oberstufe der Wildheit und kannten Weder Töpferei noch Pflanzenkultur irgendeiner Art. Die Indianer der
sog. Pueblos1-29' in Neu-Mexiko dagegen, die Mexikaner, Zentral-Amerikaner und Peruaner zur Zeit der Eroberung standen auf der Mittelstufe der Barbarei; sie wohnten in festungsartigen Häusern von Adoben oder Stein, bauten Mais und andre nach Lage und Klima verschiedne Nährpflanzen in künstlich berieselten Gärten, die die Hauptnahrungsquelle lieferten, und hatten sogar einige Tiere gezähmt - die Mexikaner den Truthahn und andre Vögel, die Peruaner das Lama. Dazu kannten sie die Verarbeitung der Metalle - mit Ausnahme des Eisens, weshalb sie noch immer der Steinwaffen und Steinwerkzeuge nicht entbehren konnten. Die spanische Eroberung schnitt dann alle weitere selbständige Entwicklung ab. Im Osten begann die Mittelstufe der Barbarei mit der Zähmung milchund fleischgebender Tiere, während Pflanzenkultur hier noch bis tief in diese Periode unbekannt geblieben zu sein scheint. Die Zähmung und Züchtung von Vieh und die Bildung größerer Herden scheinen den Anlaß gegeben zu haben zur Aussonderung der Arier und Semiten aus der übrigen Masse der Barbaren. Den europäischen und asiatischen Ariern sind die Viehnamen noch gemeinsam, die der Kulturpflanzen aber fast gar nicht. Die Herdenbildung führte an geeigneten Stellen zum Hirtenleben; bei den Semiten in den Grasebenen des Euphrat und Tigris, bei den Ariern in denen Indiens, des Oxus und Jaxartes, des Don und Dnjepr. An den Grenzen solcher Weideländer muß die Zähmung des Viehs zuerst vollführt worden sein. Den späteren Geschlechtern erscheinen so die Hirtenvölker als aus Gegenden stammend, die, weit entfernt, die Wiege des Menschengeschlechts zu sein, im Gegenteil für ihre wilden Vorfahren und selbst für Leute der Unterstufe der Barbarei fast unbewohnbar waren. Umgekehrt, sobald diese Barbaren der Mittelstufe einmal an Hirtenleben gewöhnt, hätte es ihnen nie einfallen können, freiwillig aus den grastragenden Stromebenen in die Waldgebiete zurückzukehren, in denen ihre Vorfahren heimisch gewesen. Ja selbst als sie weiter nach Norden und Westen gedrängt wurden, war es den Semiten und Ariern unmöglich, in die westasiatischen und europäischen Waldgegenden zu ziehn, ehe sie durch Getreidebau in den Stand gesetzt wurden, ihr Vieh auf diesem weniger günstigen Boden zu ernähren und besonders zu überwintern. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Getreidebau hier zuerst aus dem Futterbedürfnis fürs Vieh entsprang und erst später für menschliche Nahrung wichtig wurde. Der reichlichen Fleisch- und Milchnahrung bei Ariern und Semiten, und besonders ihrer günstigen Wirkung auf die Entwicklung der Kinder, ist vielleicht die überlegne Entwicklung beider Racen zuzuschreiben. In der Tat haben die Pueblos-Indianer von Neu-Mexiko, die auf fast reine
3 Mars/Engels, Werke, Bd. 21 '
Pflanzenkost reduziert sind, ein kleineres Gehirn als die mehr fleisch- und fischessenden Indianer der niedern Stufe der Barbarei. Jedenfalls verschwindet auf dieser Stufe allmählich die Menschenfresserei und erhält sich nur als religiöser Akt oder, was hier fast identisch, als Zaubermittel. 3. Oberstufe. Beginnt mit dem Schmelzen des Eisenerzes und geht über in die Zivilisation vermittelst der Erfindung der Buchstabenschrift und ihrer Verwendung zu literarischer Aufzeichnung. Diese Stufe, die, wie gesagt, nur auf der östlichen Halbkugel selbständig durchgemacht wird, ist an Fortschritten der Produktion reicher als alle vorhergehenden zusammengenommen. Ihr gehören an die Griechen zur Heroenzeit, die italischen Stämme kurz vor der Gründung Roms, die Deutschen des Tacitus, die Normannen der Wikingerzeit1. Vor allem tritt uns hier zuerst entgegen die eiserne, von Vieh gezogene Pflugschar, die den Ackerbau auf großer Stufe, den Feldhau, möglich machte, und damit eine für damalige Verhältnisse praktisch unbeschränkte Vermehrung der Lebensmittel; damit auch die Ausrodung des Waldes und seine Verwandlung in Ackerland und Wiese - die wieder, auf großem Maßstab, ohne die eiserne Axt und den eisernen Spaten unmöglich blieb. Damit kam aber auch rasche Vermehrung der Bevölkerung und dichte Bevölkerung auf kleinem Gebiet. Vor dem Feldbau müssen sehr ausnahmsweise Verhältnisse vorgekommen sein, wenn eine halbe Million Menschen sich unter einer einzigen Zentralleitung sollte vereinigen lassen; wahrscheinlich war das nie geschehn. Die höchste Blüte der Oberstufe der Barbarei tritt uns entgegen in den homerischen Gedichten, namentlich in der „Ilias"130'. Entwickelte Eisenwerkzeuge; der Blasbalg; die Handmühle; die Töpferscheibe; die öl- und Weinbereitung; eine entwickelte, ins Kunsthandwerk übergehende Metallbearbeitung; der Wagen und Streitwagen; der Schiffbau mit Balken und Planken; die Anfänge der Architektur als Kunst; ummauerte Städte mit Türmen und Zinnen; das homerische Epos und die gesamte Mythologie das sind die Haupterbschaften, die die Griechen aus der Barbarei hinübernahmen in die Zivilisation. Wenn wir damit die Beschreibung der Germanen bei Cäsar und selbst Tacitus vergleichen, die am Anfang derselben Kulturstufe standen, aus der in eine höhere überzugehn die homerischen Griechen sich anschickten, so sehn wir, welchen Reichtum der Entwicklung der Produktion die Oberstufe der Barbarei in sich faßt.
1 (1884) und die Deutschen des Cäsar (oder, wie wir lieber sagen möchten, des Tacitus) (statt: die Deutschen des Tacitus, die Normannen der Wikingerzeit)
Das Bild, das ich hier von der Entwicklung der Menschheit durch Wildheit und Barbarei zu den Anfängen der Zivilisation nach Morgan skizziert habe, ist schon reich genug an neuen und, was mehr ist, unbestreitbaren, weil unmittelbar der Produktion entnommenen Zügen. Dennoch wird es matt und dürftig erscheinen, verglichen mit dem Bild, das sich am Ende unsrer Wanderschaft entrollen wird; erst dann wird es möglich sein, den Übergang aus der Barbarei in die Zivilisation und den schlagenden Gegensatz beider ins volle Licht zu stellen. Vorderhand können wir Morgans Einteilung dahin verallgemeinern: Wildheit - Zeitraum der vorwiegenden Aneignung fertiger Naturprodukte; die Kunstprodukte des Menschen sind vorwiegend Hülfswerkzeuge dieser Aneignung. Barbarei - Zeitraum der Erwerbung von Viehzucht und Ackerbau, der Erlernung von Methoden zur gesteigerten Produktion von Naturerzeugnissen durch menschliche Tätigkeit. Zivilisation - Zeitraum der Erlernung der weiteren Verarbeitung von Naturerzeugnissen, der eigentlichen Industrie und der Kunst.
II
Die Familie
Morgan, der sein Leben großenteils unter den noch jetzt im Staat New York ansässigen Irokesen zugebracht und in einen ihrer Stämme (den der Senekas) adoptiert worden, fand unter ihnen ein Verwandtschaftssystem in Geltung, das mit ihren wirklichen Familienbeziehungen im Widerspruch stand. Bei ihnen herrschte jene, beiderseits leicht lösliche Einzelehe, die Morgan als „Paarungsfamilie" bezeichnet. Die Nachkommenschaft eines solchen Ehepaars war also vor aller Welt offenkundig und anerkannt; es konnte kein Zweifel sein, auf wen die Bezeichnungen Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester anzuwenden seien. Aber der tatsächliche Gebrauch dieser Ausdrücke widerspricht dem. Der Irokese nennt nicht nur seine eignen Kinder, sondern auch die seiner Brüder, seine Söhne und Töchter; und sie nennen ihn Vater. Die Kinder seiner Schwestern dagegen nennt er seine Neffen und Nichten, und sie ihn Onkel. Umgekehrt nennt die Irokesin, neben ihren eignen Kindern, diejenigen ihrer Schwestern ihre Söhne und Töchter, und diese nennen sie Mutter. Die Kinder ihrer Brüder dagegen nennt sie ihre Neffen und Nichten, und sie heißt ihre Tante. Ebenso nennen die Kinder von Brüdern sich untereinander Brüder und Schwestern, desgleichen die Kinder von Schwestern. Die Kinder einer Frau und die ihres Bruders dagegen nennen sich gegenseitig Vettern und Kusinen. Und dies sind nicht bloß leere Namen, sondern Ausdrücke tatsächlich geltender Anschauungen von Nähe und Entferntheit, Gleichheit und Ungleichheit der Blutsverwandtschaft; und diese Anschauungen dienen zur Grundlage eines vollständig ausgearbeiteten Verwandtschaftssystems, das mehrere hundert verschiedne Verwandtschaftsbeziehungen eines einzelnen Individuums auszudrücken imstande ist. Noch mehr. Dies System ist nicht nur in voller Geltung bei allen amerikanischen Indianern (bis jetzt ist keine Ausnahme gefunden), sondern es gilt auch fast unverändert bei den Ur
einwohnern Indiens, bei den drawidischen Stämmen in Dekan und den Gaurastämmen in Hindustan. Die Verwandtschaftsausdrücke der südindischen Tamiler und der Seneka-Irokesen im Staate New York stimmen noch heute überein für mehr als zweihundert verschiedne Verwandtschaftsbeziehungen. Und auch bei diesen indischen Stämmen, wie bei allen amerikanischen Indianern, stehn die aus der geltenden Familienform entspringenden Verwandtschaftsbeziehungen im Widerspruch mit dem Verwandtschaftssystem. Wie nun dies erklären? Bei der entscheidenden Rolle, die die Verwandtschaft bei allen wilden und barbarischen Völkern in der Gesellschaftsordnung spielt, kann man die Bedeutung dieses so weitverbreiteten Systems nicht mit Redensarten beseitigen. Ein System, das in Amerika allgemein gilt, in Asien bei Völkern einer ganz verschiednen Race ebenfalls besteht, von dem mehr oder weniger abgeänderte Formen überall in Afrika und Australien sich in Menge vorfinden, ein solches System will geschichtlich erklärt sein, nicht weggeredet, wie dies z.B. MacLennan1311 versuchte. Die Bezeichnungen Vater, Kind, Bruder, Schwester sind keine bloßen Ehrentitel, sondern führen ganz bestimmte, sehr ernstliche gegenseitige Verpflichtungen mit sich, deren Gesamtheit einen wesentlichen Teil der Gesellschaftsverfassung jener Völker ausmacht. Und die Erklärung fand sich. Auf den Sandwichinseln (Hawaii) bestand noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Form der Familie, die genau solche Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten lieferte, wie das amerikanisch-altindische Verwandtschaftssystem sie fordert. Aber merkwürdig! Das Verwandtschaftssystem, das in Hawaii in Geltung war, stimmte wieder nicht mit der dort tatsächlich bestehenden Familienform. Dort nämlich sind alle Geschwisterkinder, ohne Ausnahme, Brüder und Schwestern, und gelten für die gemeinsamen Kinder, nicht nur ihrer Mutter und deren Schwestern, oder ihres Vaters und dessen Brüder, sondern aller Geschwister ihrer Eltern ohne Unterschied. Wenn also das amerikanische Verwandtschaftssystem eine in Amerika nicht mehr bestehende, primitivere Form der Familie voraussetzt, die wir in Hawaii wirklich noch vorfinden, so verweist uns anderseits das hawaiische Verwandtschaftssystem auf eine noch ursprünglichere Familienform, die wir zwar nirgends mehr als bestehend nachweisen können, die aber bestanden haben muß, weil sonst das entsprechende Verwandtschaftssystem nicht hätte entstehn können. „Die Familie", sagt Morgan, „ist das aktive Element; sie ist nie stationär, sondern schreitet vor von einer niedrigeren zu einer höheren Form, im Maß wie die Gesellschaft
von niederer zu höherer Stufe sich entwickelt. Die Verwandtschaftssysteme dagegen sind passiv; nur in langen Zwischenräumen registrieren sie die Fortschritte, die die Familie im Lauf der Zeit gemacht hat, und erfahren nur dann radikale Änderung, wenn die Familie sich radikal verändert hat."[32) „Und", setzt Marx hinzu, „ebenso verhält es sich mit politischen, juristischen, religiösen, philosophischen Systemen überhaupt." Während die Familie fortlebt, verknöchert das Verwandtschaftssystem, und während dies gewohnheitsmäßig fortbesteht, entwächst ihm die Familie. Mit derselben Sicherheit aber, mit der Cuvier aus den bei Paris gefundnen Marsupialknochen eines Tierskeletts schließen konnte, daß dies einem Beuteltier gehörte und daß dort einst ausgestorbne Beuteltiere gelebt, mit derselben Sicherheit können wir aus einem historisch überkommenen Verwandtschaftssystem schließen, daß die ihm entsprechende, ausgestorbne Familienform bestanden hat. Die eben erwähnten Verwandtschaftssysteme und Familienformen unterscheiden sich von den jetzt herrschenden dadurch, daß jedes Kind mehrere Väter und Mütter hat. Bei dem amerikanischen Verwandtschaftssystem, dem die hawaiische Familie entspricht, können Bruder und Schwester nicht Vater und Mutter desselben Kindes sein; das hawaiische Verwandtschaftssystem aber setzt eine Familie voraus, in der dies im Gegenteil die Regel war. Wir werden hier in eine Reihe von Familienformen versetzt, die den bisher gewöhnlich als allein geltend angenommenen direkt widersprechen. Die hergebrachte Vorstellung kennt nur die Einzelehe, daneben Vielweiberei eines Mannes, allenfalls noch Vielmännerei einer Frau, und verschweigt dabei, wie es dem moralisierenden Philister ziemt, daß die Praxis sich über diese von der offiziellen Gesellschaft gebotenen Schranken stillschweigend aber ungeniert hinwegsetzt. Das Studium der Urgeschichte dagegen führt uns Zustände vor, wo Männer in Vielweiberei und ihre Weiber gleichzeitig in Vielmännerei leben, und die gemeinsamen Kinder daher auch als ihnen allen gemeinsam gelten; Zustände, die selbst wieder bis zu ihrer schließlichen Auflösung in die Einzelehe eine ganze Reihe von Veränderungen durchmachen. Diese Veränderungen sind der Art, daß der Kreis, den das gemeinsame Eheband umfaßt, und der ursprünglich sehr weit war, sich mehr und mehr verengert, bis er schließlich nur das Einzelpaar übrigläßt, das heute vorherrscht. Indem Morgan auf diese Weise die Geschichte der Familie rückwärts konstruiert, kommt er in Übereinstimmung mit der Mehrzahl seiner Kollegen auf einen Urzustand, wo unbeschränkter Geschlechtsverkehr innerhalb eines Stammes herrschte, so daß jede Frau jedem Mann, und jeder
Mann jeder Frau gleichmäßig gehörte.1 Von einem solchen Urzustand ist schon seit dem vorigen Jahrhundert gesprochen worden, aber nur in allgemeinen Redensarten; erst Bachofen, und es ist dies eines seiner großen Verdienste, nahm ihn ernst und suchte nach Spuren dieses Zustandes in den geschichtlichen und religiösen Überlieferungen.'331 Wir wissen heute, daß diese von ihm aufgefundnen Spuren keineswegs auf eine Gesellschaftsstufe des regellosen Geschlechtsverkehrs zurückführen, sondern auf eine weit spätere Form, die Gruppenehe. Jene primitive Gesellschaftsstufe, falls sie wirklich bestanden hat, gehört einer so weit zurückliegenden Epoche an, daß wir schwerlich erwarten dürfen, in sozialen Fossilien, bei zurückgebliebenen Wilden, direkte Beweise für ihre einstige Existenz zu finden. Bachofens Verdienst besteht eben darin, diese Frage in den Vordergrund der Untersuchung gestellt zu haben.* Es ist neuerdings Mode geworden, diese Anfangsstufe des menschlichen Geschlechtslebens wegzuleugnen. Mein will der Menschheit diese „Schande* ersparen. Und zwar beruft man sich, außer auf den Mangel jedes direkten Beweises, besonders auf das Beispiel der übrigen Tierwelt; aus dieser hat Letourneau („L'evolution du mariage et de la famille", 1888) zahlreiche Tatsachen zusammengestellt, wonach auch hier ein durchaus ungeregelter Geschlechtsverkehr einer niedrigen Stufe angehören soll. Aus allen diesen Tatsachen kann ich aber nur den Schluß ziehn, daß sie, für den Menschen und seine urzeitlichen Lebensverhältnisse, absolut nichts beweisen. Die Paarungen für längere Zeit bei Wirbeltieren erklären sich hinreichend aus physiologischen Ursachen, z. B. bei Vögeln durch die Hülfsbedürftigkeit des
* Wie wenig Bachofen verstand, was er entdeckt oder vielmehr erraten hatte, beweist er durch die Bezeichnung dieses Urzustandes als Hetärismus. Hetärismus bezeichnete den Griechen, als sie das Wort einführten, Verkehr von Männern, unverheirateten oder in Einzelehe lebenden, mit unverheirateten Weibern, setzt stets eine bestimmte Form der Ehe voraus, außerhalb der dieser Verkehr stattfindet, und schließt die Prostitution wenigstens schon als Möglichkeit ein. In einem andern Sinn ist das Wort auch nie gebraucht worden, und in diesem Sinn gebrauche ich es mit Morgan. Bachofens höchst bedeutende Entdeckungen werden überall bis ins Unglaubliche vermystifiziert durch seine Einbildung, die geschichtlich entstandnen Beziehungen von Mann und Weib hätten ihre Quelle in den jedesmaligen religiösen Vorstellungen der Menschen, nicht in ihren wirklichen Lebensverhältnissen.
1 Der folgende Text bis zum Absatz: 1. Die Blutsoanvandtschaftsfamilie... (S. 43) ist die von Engels 1892 erweiterte Fassung. Er lautete 1884: Die Entdeckung dieses Urzustandes ist das erste große Verdienst Bachofens.* Aus diesem Urzustand entwickelte sich wahrscheinlich sehr frühzeitig:
Weibchens während der Brütezeit; die bei Vögeln vorkommenden Beispiele treuer Monogamie beweisen nichts für die Menschen, da diese eben nicht von Vögeln abstammen. Und wenn strenge Monogamie der Gipfel aller Tugend ist, so gebührt die Palme dem Bandwurm, der in jedem seiner 50-200 Proglottiden oder Leibesabschnitte einen vollständigen weiblichen und männlichen Geschlechtsapparat besitzt und seine ganze Lebenszeit damit zubringt, in jedem dieser Abschnitte sich mit sich selbst zu begatten. Beschränken wir uns aber auf die Säugetiere, so finden wir da alle Formen des Geschlechtslebens, Regellosigkeit, Anklänge der Gruppenehe, Vielweiberei, Einzelehe; nur die Vielmännerei fehlt, die konnten nur Menschen fertigbringen. Selbst unsre nächsten Verwandten, die Vierhänder, bieten uns alle möglichen Verschiedenheiten in der Gruppierung von Männchen und Weibchen; und wenn wir noch engere Grenzen ziehn und nur die vier menschenähnlichen Affen betrachten, so weiß Letourneau uns nur zu sagen, daß sie bald monogam, bald polygam sind, während Saussure bei GiraudTeulon behauptet, sie seien monogam.'341 Auch die von Westermarck („The History of Human Marriage", London 1891) beigebrachten neueren Behauptungen von Monogamie der menschenähnlichen Affen sind noch lange keine Beweise. Kurzum, die Nachrichten sind der Art, daß der ehrliche Letourneau zugibt: „Übrigens besteht bei den Säugetieren durchaus kein strenges Verhältnis zwischen dem Grad der intellektuellen Entwicklung und der Form des Geschlechtsverkehrs."'361 Und Espinas („Des societds animales", 1877) sagt geradezu: „Die Horde ist die höchste soziale Gruppe, die wir bei den Tieren beobachten können. Sie ist, so scheint es, aus Familien zusammengesetzt, aber schon von Anfang an stehn die Familie und die Horde im Widerstreit, sie entwickeln sich in umgekehrtem Verhältnis."'361 Wie schon obiges zeigt, wissen wir über die Familien- und sonstigen geselligen Gruppen der menschenähnlichen Affen so gut wie nichts Bestimmtes; die Nachrichten widersprechen einander direkt. Das ist auch nicht zu verwundern. Wie widerspruchsvoll, wie sehr der kritischen Prüfung und Sichtung bedürftig sind schon die Nachrichten, die wir über wilde Menschenstämme besitzen; Affengesellschaften aber sind noch weit schwerer zu beobachten als menschliche. Bis auf weiteres also müssen wir jede Schlußfolgerung aus solchen absolut unzuverlässigen Berichten zurückweisen. Dagegen bietet uns der angeführte Satz von Espinas einen besseren Anhaltspunkt. Horde und Familie sind bei den höheren Tieren nicht gegenseitige Ergänzungen, sondern Gegensätze. Espinas führt sehr hübsch aus,
wie die Eifersucht der Männchen zur Brunstzeit jede gesellige Horde lockert oder zeitweilig auflöst. „Wo die Familie eng geschlossen ist, bilden sich Horden nur in seltnen Ausnahmen. Dagegen da, wo freier Geschlechtsverkehr oder Polygamie herrscht, entsteht die Horde fast von selbst... Damit eine Horde entstehn kann, müssen die Familienbande gelockert und das Individuum wieder frei geworden sein. Daher finden wir bei den Vögeln so selten organisierte Horden... Bei den Säugetieren dagegen finden wir einigermaßen organisierte Gesellschaften, grade weil hier das Individuum nicht in der Familie aufgeht... Das Gemeingefühl der Horde kann also bei seinem Entstehn keinen größeren Feind haben als das Gemeingefühl der Familie. Stehen wir nicht an, es auszusprechen: Wenn sich eine höhere Gesellschaftsform als die Familie entwickelt hat, so kann es nur dadurch geschehn sein, daß sie Familien in sich aufnahm, die eine gründliche Veränderung erlitten hatten; was nicht ausschließt, daß diese Familien grade dadurch später die Möglichkeit fanden, sich unter unendlich günstigeren Umständen neu zu konstituieren." (Espinas, I.e., zitiert bei Giraud-Teulon, „Origines du manage et de la famille", 1884, p. 518-520.) Hier zeigt sich, daß die Tiergesellschaften allerdings einen gewissen Wert haben für den Rückschluß auf die menschlichen - aber nur einen negativen. Das höhere Wirbeltier kennt, soviel wir wissen, nur zwei Familienformen: Vielweiberei oder Einzelpaarung; in beiden ist nur ein erwachsenes Männchen, nur ein Gatte zulässig. Die Eifersucht des Männchens, zugleich Band und Schranke der Familie, bringt die Tierfamilie in Gegensatz zur Horde; die Horde, die höhere Geselligkeitsform, wird hier unmöglich gemacht, dort gelockert oder während der Brunstzeit aufgelöst, im besten Fall in ihrer Fortentwicklung gehemmt durch die Eifersucht der Männchen. Dies allein genügt zum Beweis, daß Tierfamilie und menschliche Urgesellschaft unverträgliche Dinge sind; daß die sich aus der Tierheit emporarbeitenden Urmenschen entweder gar keine Familie kannten, oder höchstens eine, die bei den Tieren nicht vorkommt. Ein so waffenloses Tier wie der werdende Mensch, mochte sich in geringer Zahl auch in der Isolierung durchschlagen, deren höchste Geselligkeitsform die Einzelpaarung ist, wie Westermarck sie nach Jägerberichten dem Gorilla und Schimpansen zuschreibt. Zur Entwicklung aus der Tierheit hinaus, zur Vollziehung des größten Fortschritts, den die Natur aufweist, gehörte ein weiteres Element: die Ersetzung der dem einzelnen mangelnden Verteidigungsfähigkeit durch die vereinte Kraft und Zusammenwirkung der Horde. Aus Verhältnissen, wie denen, worin die menschenähnlichen Affen heute leben, wäre der Übergang zur Menschheit rein unerklärlich; diese Affen machen vielmehr den Eindruck abgeirrter Seitenlinien, die dem allmählichen Aussterben entgegengehn und jedenfalls im Niedergang begriffen sind. Das allein genügt,
um jeden Parallelschluß von ihren Familienformen auf die des Urmenschen abzuweisen. Gegenseitige Duldung der erwachsenen Männchen, Freiheit von Eifersucht, war aber die erste Bedingung für die Bildung solcher größeren und dauernden Gruppen, in deren Mitte die Menschwerdung des Tiers allein sich vollziehen konnte. Und in der Tat, was finden wir als die älteste, ursprünglichste Form der Familie, die wir in der Geschichte unleugbar nachweisen und noch heute hier und da studieren können? Die Gruppenehe, die Form, worin ganze Gruppen von Männern und ganze Gruppen von Frauen einander gegenseitig besitzen und die nur wenig Raum läßt für Eifersucht. Und ferner finden wir auf späterer Entwicklungsstufe die Ausnahmsform der Vielmännerei, die erst recht allen Gefühlen der Eifersucht ins Gesicht schlägt und daher den Tieren unbekannt ist. Da aber die uns bekannten Formen der Gruppenehe von so eigentümlich verwickelten Bedingungen begleitet sind, daß sie mit Notwendigkeit auf frühere, einfachere Formen des geschlechtlichen Umgangs zurückweisen und damit in letzter Instanz auf eine dem Übergang aus der Tierheit in die Menschheit entsprechende Periode des regellosen Verkehrs, so führen uns die Hinweise auf die Tierehen grade wieder auf den Punkt, von dem sie uns ein für allemal hinwegführen sollten. Was heißt denn das: regelloser Geschlechtsverkehr? Daß die jetzt oder zu einer früheren Zeit geltenden Verbotsschranken nicht gegolten haben. Die Schranke der Eifersucht haben wir bereits fallen sehn. Wenn etwas, so steht dies fest, daß die Eifersucht eine relativ spät entwickelte Empfindung ist. Dasselbe gilt von der Vorstellung der Blutschande. Nicht nur waren Bruder und Schwester ursprünglich Mann und Frau, auch der Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern ist noch heute bei vielen Völkern gestattet. Bancroft („The Native Races of the Pacific States of North America",!875, vol. I) bezeugt dies von den Kaviats an der Behringstraße, von den Kadiaks bei Alaska, von den Tinnehs im Innern des britischen Nordamerika; Letourneau stellt Berichte derselben Tatsache zusammen von den Chippeway-Indianern, den Cucus in Chile, den Karaiben, den Karens in Hinterindien; von Erzählungen der alten Griechen und Römer über Parther, Perser, Scythen, Hunnen etc. zu schweigen. Ehe die Blutschande erfunden war (und sie ist eine Erfindung, und zwar eine höchst wertvolle), konnte der Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern nicht abschreckender sein als zwischen andern Personen, die verschiednen Generationen angehören, und das kommt doch heute selbst in den philiströsesten Ländern vor, ohne großes Entsetzen zu erregen; sogar alte „Jungfern" von über sechzig heiraten zuweilen, wenn sie reich genug sind, junge
Männer^yon ungefähr dreißig. Nehmen wir aber von den ursprünglichsten Familienformen, die wir kennen, die damit verknüpften Vorstellungen von Blutschande hinweg - Vorstellungen, die von den unsrigen total verschieden sind und ihnen häufig direkt widersprechen -, so kommen wir auf eine Form des Geschlechtsverkehrs, die sich nur als regellos bezeichnen läßt. Regellos insofern, als die später durch die Sitte gezogenen Einschränkungen noch nicht bestanden. Daraus folgt aber keineswegs notwendig für die alltägliche Praxis ein kunterbuntes Durcheinander. Einzelpaarungen auf Zeit sind keineswegs ausgeschlossen, wie sie denn selbst in der Gruppenehe jetzt die Mehrzahl der Fälle bilden. Und wenn der neueste Ableugner eines solchen Urzustandes, Westermarck, jeden Zustand als Ehe bezeichnet, worin beide Geschlechter bis zur Geburt des Sprößlings gepaart bleiben, so ist zu sagen, daß diese Art Ehe im Zustand des regellosen Verkehrs sehr gut vorkommen konnte, ohne der Regellosigkeit, d.h. der Abwesenheit von durch die Sitte gezogenen Schranken des Geschlechtsverkehrs zu widersprechen. Westermarck geht freilich von der Ansicht aus, daß „Regellosigkeit die Unterdrückung der individuellen Neigungen einschließt", so daß „die Prostitution ihre echteste Form ist".'37' Mir scheint vielmehr, daß alles Verständnis der Urzustände unmöglich bleibt, solange man sie durch die Bordellbrille anschaut. Wir kommen bei der Gruppenehe auf diesen Punkt zurück. Nach Morgan entwickelte sich aus diesem Urzustand des regellosen Verkehrs, wahrscheinlich sehr frühzeitig: 1. Die Blutsverwandtschaftsfamilie, die erste Stufe der Familie. Hier sind die Ehegruppen nach Generationen gesondert: Alle Großväter und Großmütter innerhalb der Grenzen der Familie sind sämtlich untereinander Mann und Frau, ebenso deren Kinder, also die Väter und Mütter, wie deren Kinder wieder einen dritten Kreis gemeinsamer Ehegatten bilden werden, und deren Kinder, die Urenkel der ersten, einen vierten. In dieser Familienform sind also nur Vorfahren und Nachkommen, Eltern und Kinder von den Rechten wie Pflichten (wie wir sagen würden) der Ehe untereinander ausgeschlossen. Brüder und Schwestern, Vettern und Kusinen ersten, zweiten und entfernteren Grades sind alle Brüder und Schwestern untereinander und eben deswegen alle Mann und Frau eins des andern. Das Verhältnis von Bruder und Schwester schließt auf dieser Stufe die Ausübung des gegenseitigen Geschlechtsverkehrs von selbst in sich ein.* Die typische Gestalt
* In einem Brief vom Frühjahr 1882'S8' spricht Marx sich in den stärksten Ausdrücken aus über die im Wagnerschen Nibelungentext herrschende totale Verfälschung
einer solchen Familie würde bestehn aus der Nachkommenschaft eines Paars, in welcher wieder die Nachkommen jedes einzelnen Grades unter sich Brüder und Schwestern und eben deshalb Männer und Frauen untereinander sind. Die Blutsverwandtschaftsfamilie ist ausgestorben. Selbst die rohsten Völker, von denen die Geschichte erzählt, liefern kein nachweisbares Beispiel davon. Daß sie aber bestanden haben muß, dazu zwingt uns das hawaiische, in ganz Polynesien noch jetzt gültige Verwandtschaftssystem, das Grade der Blutsverwandtschaftausdrückt, wie sie nur unter dieser Familienform entstehn können, dazu zwingt uns die ganze weitere Entwicklung der Familie, die jene Form als nötwendige Vorstufe bedingt. 2. Die Punaluafamilie. Wenn der erste Fortschritt der Organisation darin bestand, Eltern und Kinder vom gegenseitigen Geschlechtsverkehr auszuschließen, so der zweite in der Ausschließung von Schwester und Bruder. Dieser Fortschritt war, wegen der größern Altersgleichheit der Beteiligten, unendlich viel wichtiger, aber auch schwieriger als der erste. Er vollzog sich
der Urzeit. „War es je erhört, daß der Bruder die Schwester kräutlich umfing?"'39' Diesen ihre Liebeshändel ganz in modemer Weise durch ein bißchen Blutschande pikanter machenden „Geilheitsgöttern" Wagners antwortet Marx: „ In der Urzeit war die Schwester die Frau, und das war sittlich."1 - (Zur vierten Auflage.) Ein französischer Freund und Wagnerverehrer ist mit dieser Note nicht einverstanden und bemerkt, daß schon in der „älteren Edda", worauf Wagner gebaut, in der „ögisdrecka", Loki der Freyja vorwirft: „Vor den Göttern umarmtest du den eignen Bruder." Die Geschwisterehe sei also schon damals verpönt gewesen. Die „Ögisdrecka" ist Ausdruck einer Zeit, wo der Glaube an die alten Mythen vollständig gebrochen war; sie ist ein reines Lucianisches Spottlied auf die Götter. Wenn Loki als Mephisto darin der Freyja solchen Vorwurf macht, so spricht das eher gegen Wagner. Auch sagt Loki, einige Verse weiter, zu Niördhr: „Mit deiner Schwester zeugtest du einen (solchen) Sohn" (vidh systur thinni gaztu slikan mög).'40' Niördhr ist zwar kein Ase, sondern Vane, und sagt in der „ Ynglinga Saga", daß Geschwisterehen in Vanaland üblich seien, was bei den Asen nicht der Fall. Dies wäre ein Anzeichen, daß die Vanen ältre Götter als die Asen.'41' Jedenfalls lebt Niördhr unter den Asen als ihresgleichen, und so ist die „ögisdrecka" eher ein Beweis, daß zur Zeit der Entstehung der norwegischen Göttersagen die Geschwisterehe, wenigstens unter Göttern, noch keinen Abscheu erregte. Will man Wagner entschuldigen, so täte man vielleicht besser, statt der „Edda" Goethe heranzuziehn, der in der Ballade vom Gott und der Bajadere einen ähnlichen Fehler in Beziehung auf die religiöse Frauenpreisgebung macht und sie viel zu sehr der modernen Prostitution annähert.
1 (1884) endet hier die Fußnote
allmählich, anfangend wahrscheinlich1 mit der Ausschließung der leiblichen Geschwister (d.h. von mütterlicher Seite) aus dem Geschlechtsverkehr, erst in einzelnen Fällen, nach und nach Regel werdend (in Hawaii kamen noch in diesem Jahrhundert Ausnahmen vor) und endend mit dem Verbot der Ehe sogar zwischen Kollateralgeschwistern, d.h. nach unsrer Bezeichnung Geschwisterkindern, -enkeln und -urenkeln; er bildet, nach Morgan,
„eine vortreffliche Illustration davon, wie das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl wirkt".1421
Keine Frage, daß Stämme, bei denen die Inzucht durch diesen Fortschritt beschränkt wurde, sich rascher und voller entwickeln mußten als die, bei denen die Geschwisterehe Regel und Gebot blieb. Und wie gewaltig die Wirkung dieses Fortschritts empfunden wurde, beweist die aus ihm unmittelbar entsprungne, weit über das Ziel hinausschießende Einrichtung der Gens, die die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung der meisten, wo nicht aller Barbarenvölker der Erde bildet und aus der wir in Griechenland und Rom unmittelbar in die Zivilisation hinübertreten. Jede Urfamilie mußte spätestens nach ein paar Generationen sich spalten. Die ursprüngliche kommunistische Gesamthaushaltung, die bis tief in die mittlere Barbarei hinein ausnahmslos herrscht, bedingte eine, je nach den Verhältnissen wechselnde, aber an jedem Ort ziemlich bestimmte Maximalgröße der Familiengemeinschaft. Sobald die Vorstellung von der Ungebühr des Geschlechtsverkehrs zwischen Kindern einer Mutter aufkam, mußte sie sich bei solchen Spaltungen alter und Gründung neuer Hausgemeinden (die indes nicht notwendig mit der Familiengruppe zusammenfielen) wirksam zeigen. Eine oder mehrere Reihen von Schwestern wurden der Kern der einen, ihre leiblichen Brüder der Kern der andern. So oder ähnlich ging aus der Blutsverwandtschaftsfamilie die von Morgan Punaluafamilie genannte Form hervor. Nach der hawaiischen Sitte waren eine Anzahl Schwestern, leibliche oder entferntere (d.h. Kusinen ersten, zweiten oder entfernteren Grades), die gemeinsamen Frauen ihrer gemeinsamen Männer, wovon aber ihre Brüder ausgeschlossen; diese Männer nannten sich untereinander nun nicht mehr Brüder, was sie auch nicht mehr zu sein brauchten,sondernPunalua,d.h.intimer Genosse, gleichsam Associe. Ebenso hatte eine Reihe von leiblichen oder entfernteren Brüdern eine Anzahl Frauen, nicht ihre Schwestern, in gemeinsamer Ehe, und diese Frauen nannten sich untereinander Punalua. Dies die klassische Gestalt einer
1 (1884) fehlt: wahrscheinlich
Familienformation, die später eine Reihe von Variationen zuließ und deren wesentlicher Charakterzug war: gegenseitige Gemeinschaft der Männer und Weiber innerhalb eines bestimmten Familienkreises, von dem aber die Brüder der Frauen, zuerst die leiblichen, später auch die entfernteren, und umgekehrt also auch die Schwestern der Männer ausgeschlossen waren. Diese Familienform liefert uns nun mit der vollständigsten Genauigkeit die Verwandtschaftsgrade, wie sie das amerikanische System ausdrückt. Die Kinder der Schwestern meiner Mutter sind noch immer ihre Kinder, ebenso die Kinder der Brüder meines Vaters auch seine Kinder, und sie alle sind meine Geschwister; aber die Kinder der Brüder meiner Mutter sind jetzt ihre Neffen und Nichten, die Kinder der Schwestern meines Vaters seine Neffen und Nichten, und sie alle meine Vettern und Kusinen. Denn während die Männer der Schwestern meiner Mutter noch immer ihre Männer sind, und ebenso die Frauen der Brüder meines Vaters auch noch seine Frauen - rechtlich, wo nicht immer tatsächlich -, so hat die gesellschaftliche Ächtung des Geschlechtsverkehrs zwischen Geschwistern die bisher unterschiedslos als Geschwister behandelten Geschwisterkinder in zwei Klassen geteilt: Die einen bleiben nach wie vor (entferntere) Brüder und Schwestern untereinander, die andern, die Kinder hier des Bruders, dort der Schwester, können nicht länger Geschwister sein, sie können keine gemeinschaftlichen Eltern mehr haben, weder Vater noch Mutter noch beide, und deshalb wird hier zum erstenmal die Klasse der Neffen und Nichten, Vettern und Kusinen notwendig, die unter der frühern Familienordnung unsinnig gewesen wäre. Das amerikanische Verwandtschaftssystem, das bei jeder auf irgendeiner Art Einzelehe beruhenden Familienform rein widersinnig erscheint, wird durch diePunaluafamilie bis in seine kleinsten Einzelnheiten rationell erklärt und natürlich begründet. Soweit dies Verwandtschaftssystem verbreitet gewesen, genau soweit, mindestens, muß auch die Punaluafamilie oder eine ihr ähnliche Form1 bestanden haben. Diese in Hawaii wirklich als bestehend nachgewiesene Familienform würde uns wahrscheinlich aus ganz Polynesien überliefert sein, hätten die frommen Missionare, wie weiland die spanischen Mönche in Amerika, in solchen widerchristlichen Verhältnissen etwas mehr zu sehen vermocht als den simplen „Greuel"*. Wenn uns Cäsar von den Briten, die sich damals
* Die Spuren unterschiedslosen Geschlechtsverkehrs, seiner sog. „Sumpfzeugung", die Bachofen'431 gefunden zu haben meint, führen sich, wie jetzt nicht mehr bezweifelt werden kann, auf die Gruppenehe zurück. „Wenn Bachofen diese Punalua1 (1884) fehlt: oder eine ihr ähnliche Form
auf der Mittelstufe der Barbarei befanden, erzählt, „sie haben ihre Frauen je zehn oder zwölf gemeinsam unter sich, und zwar meist Brüder mit Brüdern und Eltern mit Kindern"1441 - so erklärt sich dies am besten als Gruppenehe1. Barbarische Mütter haben nicht zehn bis zwölf Söhne, alt genug, um sich gemeinschaftliche Frauen halten zu können, aber das amerikanische Verwandtschaftssystem, das der Punaluafamilie entspricht, liefert viele Brüder, weil alle nahen und entfernten Vettern eines Mannes seine Brüder sind. Das „Eltern mit Kindern" mag falsche Auffassung des Cäsar sein; daß Vater und Sohn, oder Mutter und Tochter sich in derselben Ehegruppe befinden sollten, ist indes bei diesem System nicht absolut ausgeschlossen, wohl aber Vater und Tochter, oder Mutter und Sohn. Ebenso liefert diese oder eine ähnliche Form der Gruppenehe3 die leichteste Erklärung der Berichte Herodots und andrer alter Schriftsteller über Weibergemeinschaft bei wilden und barbarischen Völkern. Dies gilt auch von dem, was Watson und Kaye („The People of India") von den Tikurs in Audh (nördlich vom Ganges) erzählen:
„Sie leben zusammen" (d.h. geschlechtlich) „fast unterschiedslos in großen Gemeinschaften, und wenn zwei Leute als miteinander verheiratet gelten, so ist das Band doch nur nominell." Direkt aus der Punaluafamilie hervorgegangen scheint in weitaus den meisten Fällen die Institution der Gens. Zwar bietet auch das australische Klassensystem'451 einen Ausgangspunkt dafür; die Australier haben Gentes, aber noch keine Punaluafamilie, sondern eine rohere Form der Gruppenehe3. Bei allen Formen der Gruppenfamilie ist es ungewiß, wer der Vater eines Kindes ist, gewiß aber ist, wer seine Mutter. Wenn sie auch alle Kinder der Gesamtfamilie ihre Kinder nennt und Mutterpflichten gegen sie hat, so kennt sie doch ihre leiblichen Kinder unter den andern. Es ist also klar, daß, soweit Gruppenehe besteht, die Abstammung nur von mütterlicher Seite nachweisbar ist, also nur die weibliche Linie anerkannt wird. Dies ist in der Tat bei allen wilden und der niederen Barbarenstufe angehörigen
Ehen .gesetzlos* findet, so fände ein Mann aus jener Periode die meisten jetzigen Ehen zwischen nahen und entfernten Vettern väterlicher oder mütterlicher Seite blutschänderisch, nämlich als Ehen zwischen blutsverwandten Geschwistern." (Marx.)
1(I884) Punaluafamilie - 2 (1884) Familienform (statt: oder eine ähnliche Form der Gruppenehe) - 3 (1884) Ihre Organisation steht jedoch zu vereinzelt, als daß wir darauf Rücksicht zu nehmen hätten (statt: sondern eine rohere Form der Gruppenehe)
Völkern der Fall; und dies zuerst entdeckt zu haben, ist das zweite große Verdienst Bachofens. Er bezeichnet diese ausschließliche Anerkennung der Abstammungsfolge nach der Mutter und die daraus sich mit der Zeit ergebenden Erbschaftsbeziehungen mit dem Namen Mutterrecht; ich behalte diesen Namen, der Kürze wegen, bei. Er ist aber schief, denn auf dieser Gesellschaftsstufe ist von Recht im juristischen Sinne noch nicht die Rede. Nehmen wir nun aus der Punaluafamilie die eine der beiden Mustergruppen, nämlich die einer Reihe von leiblichen und entfernteren (d.h. im ersten, zweiten oder entfernteren Grad von leiblichen Schwestern abstammenden) Schwestern, zusamt ihren Kindern und ihren leiblichen oder entfernteren Brüdern von mütterlicher Seite (die nach unsrer Voraussetzung nicht ihre Männer sind), so haben wir genau den Umkreis der Personen, die später als Mitglieder einer Gens in der Urform dieser Institution erscheinen. Sie haben alle eine gemeinsame Stammutter, kraft der Abstammung, von welcher die weiblichen Nachkommen generationsweise Schwestern sind. Die Männer dieser Schwestern können aber nicht mehr ihre Brüder sein, also nicht von dieser Stammutter abstammen, gehören also nicht in die Blutsverwandtschaftsgruppe, die spätere Gens; ihre Kinder aber gehören in diese Gruppe, da Abstammung von mütterlicher Seite allein entscheidend, weil allein gewiß ist. Sobald die Ächtung des Geschlechtsverkehrs zwischen allen Geschwistern, auch den entferntesten Kollateralverwandten mütterlicher Seite, einmal feststeht, hat sich auch obige Gruppe in eine Gens verwandelt, d.h. sich konstituiert als ein fester Kreis von Blutsverwandten weiblicher Linie, die untereinander nicht hexraten dürfen, und der von nun an sich mehr und mehr durch andre gemeinsame Einrichtungen gesellschaftlicher und religiöser Art befestigt und von den andern Gentes desselben Stammes unterscheidet. Darüber ausführlich später. Wenn wir aber finden, wie nicht nur notwendig, sondern sogar selbstverständlich die Gens aus der Punaluafamilie sich entwickelt, so liegt es nahe, das ehemalige Bestehn dieser Familienform als fast sicher anzunehmen für alle Völker, bei denen Gentilinstitutionen nachweisbar sind, d.h. so ziemlich für alle Barbaren und Kulturvölker.1 Als Morgan sein Buch schrieb, war unsre Kenntnis von der Gruppenehe noch sehr beschränkt. Man wußte einiges wenige über die Gruppenehen der in Klassen organisierten Australier, und daneben hatte Morgan schon 1871 die ihm zugekommenen Nachrichten über die hawaiische Punaluafamilie
1 (1884) fehlt der folgende Text bis zum Abschnitt: 3. Die Paarungsfamilie ... (S. 51)
veröffentlicht146'. Die Punaluafamilie lieferte einerseits die vollständige Erklärung für das unter den amerikanischen Indianern herrschende Verwandtschaftssystem, das für Morgan der Ausgangspunkt aller seiner Untersuchungen gewesen war; sie bildete andrerseits den fertigen Ausgangspunkt zur Ableitung der mutterrechtlichen Gens; sie stellte endlich eine weit höhere Entwicklungsstufe dar als die australischen Klassen. Es war also begreiflich, daß Morgan sie als die der Paarungsehe notwendig vorhergehende Entwicklungsstufe faßte und ihr allgemeine Verbreitung in früherer Zeit zuschrieb. Wir haben seitdem eine Reihe andrer Formen der Gruppenehe kennengelernt, und wissen jetzt, daß Morgan hier zu weit ging. Aber er hatte immerhin das Glück, in seiner Punaluafamilie auf die höchste, die klassische Form der Gruppenehe zu stoßen, auf diejenige Form, aus der der Übergang zu einer höheren Form sich am einfachsten erklärt. Die wesentlichste Bereicherung unsrer Kenntnisse von der Gruppenehe verdanken wir dem englischen Missionar Lorimer Fison, der diese Familienform auf ihrem klassischen Boden, Australien, jahrelang studierte. Die niedrigste Entwicklungsstufe fand er bei den Austrainegern am Mount Gambier in Südaustralien. Hier ist der ganze Stamm in zwei große Klassen geteilt, Kroki und Kumite. Der Geschlechtsverkehr innerhalb jeder dieser Klassen ist streng verpönt; dagegen ist jeder Mann der einen Klasse der angeborne Gatte jeder Frau der andern Klasse, und diese ist seine angeborne Gattin. Nicht die Individuen, die ganzen Gruppen sind aneinander verheiratet, Klasse mit Klasse. Und wohlgemerkt, hier ist nirgends ein Vorbehalt gemacht wegen Altersunterschied oder spezieller Blutsverwandtschaft, außer soweit dies durch die Spaltung in zwei exogame Klassen bedingt ist. Ein Kroki hat zur rechtmäßigen Gattin jede Kumitefrau; da aber seine eigne Tochter, als Tochter einer Kumitefrau, nach Mutterrecht ebenfalls Kumite ist, so ist sie damit die geborne Gattin jedes Kroki, also auch ihres Vaters. Wenigstens schiebt dem die Klassenorganisation, wie sie uns vorliegt, keinen Riegel vor. Entweder also ist diese Organisation entstanden zu einer Zeit, wo man, bei allem dunkeln Drang, die Inzucht zu beschränken, im Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern noch nichts besonders Grauenhaftes fand - und dann würde das Klassensystem direkt entstanden sein aus einem Zustand des regellosen geschlechtlichen Umgangs. Oder aber, der Verkehr zwischen Eltern und Kindern war schon durch die Sitte verpönt, als die Klassen entstanden, und dann weist der jetzige Zustand zurück auf die Blutsverwandtschaftsfamilie und ist der erste Schritt aus dieser hinaus. Dies letztere ist das wahrscheinlichere. Beispiele von ehelichem Umgang zwischen Eltern und Kindern werden meines Wissens
4 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
aus Australien nicht erwähnt, und auch die spätere Form der Exogamie, die mutterrechtliche Gens, setzt in der Regel das Verbot dieses Umgangs stillschweigend, als etwas bei ihrer Stiftung schon Vorgefundnes voraus. Das System der zwei Klassen findet sich, außer am Mount Gambier in Südaustralien, ebenfalls am Darlingfluß weiter östlich und in Queensland im Nordosten, ist also weit verbreitet. Eis schließt nur die Ehen zwischen Geschwistern, zwischen Bruderskindern und zwischen Schwesterkindern auf Mutterseite aus, weil diese derselben Klasse angehören; die Kinder von Schwester und Bruder können dagegen heiraten. Einen weiteren Schritt zur Verhinderung der Inzucht finden wir bei den Kamilaroi am Darlingfluß in Neusüdwales, wo die beiden ursprünglichen Klassen in vier gespalten sind und jede dieser vier Klassen ebenfalls an eine bestimmte andre in Bausch und Bogen verheiratet ist. Die ersten zwei Klassen sind geborne Gatten voneinander; je nachdem die Mutter der ersten oder zweiten angehörte, fallen die Kinder in die dritte oder vierte; die Kinder dieser beiden, ebenfalls aneinander verheirateten Klassen, gehörten wieder in die erste und zweite. So daß immer eine Generation der ersten und zweiten, die folgende der dritten und vierten, die nächstfolgende wieder der ersten und zweiten Klasse angehört. Hiernach können Geschwisterkinder (auf Mutterseite) nicht Mann und Frau sein, wohl aber Geschwisterenkel. Diese eigentümlich komplizierte Ordnung wird noch verwickelter gemacht durch die jedenfalls spätere - Daraufpfropfung von mutterrechtlichen Gentes, doch können wir hierauf nicht eingehn. Man sieht eben, der Drang nach Verhinderung der Inzucht macht sich aber und abermals geltend, aber ganz naturwüchsig-tastend, ohne klares Bewußtsein des Ziels. Die Gruppenehe, die hier in Australien noch Klassenehe, Massenehestand einer ganzen, oft über die ganze Breite des Kontinents zerstreuten Klasse Männer mit einer ebenso weitverbreiteten Klasse Frauen ist - diese Gruppenehe sieht in der Nähe nicht ganz so grauenvoll aus, wie die an Bordellwirtschaft gewohnte Philisterphantasie sich das vorstellt. Im Gegenteil, es hat lange Jahre gedauert, bis man ihre Existenz nur geahnt hat, und auch ganz neuerdings wird diese wieder bestritten. Dem oberflächlichen Beobachter stellt sie sich dar als lockre Einzelehe und stellenweise Vielweiberei neben gelegentlicher Untreue. Man muß schon Jahre daranwenden, wie Fison und Howitt, um in diesen, in ihrer Praxis den gewöhnlichen Europäer eher anheimelnden Ehezuständen das regelnde Gesetz zu entdecken, das Gesetz, wonach der fremde Australneger, Tausende von Kilometern von seiner Heimatgegend, unter Leuten, deren Sprache ihm unverständlich, dennoch nicht selten von Lager zu Lager, von Stamm zu
Stamm Frauen findet, die ihm ohne Sträuben und ohne Arg zu Willen sind, und wonach derjenige, der mehrere Frauen hat, dem Gast eine derselben für die Nacht abtritt. Wo der Europäer Sittenlosigkeit und Gesetzlosigkeit sieht, herrscht in der Tat strenges Gesetz. Die Frauen gehören zur Eheklasse des Fremden und sind daher seine gebornen Gattinnen; dasselbe Sittengesetz, das beide aufeinander anweist, verbietet bei Strafe der Ächtung jeden Verkehr außerhalb der zueinander gehörigen Eheklassen. Selbst wo Frauen geraubt werden, wie das häufig und in manchen Gegenden die Regel ist, wird das Klassengesetz sorgfältig eingehalten. Beim Frauenraub zeigt sich übrigens hier schon eine Spur des Übergangs zur Einzelehe, wenigstens in der Form der Paarungsehe: Wenn der junge Mann mit Hülfe seiner Freunde das Mädchen geraubt oder entführt hat, so wird sie von ihnen allen der Reihe nach geschlechtlich gebraucht, gilt danach aber auch für die Frau des jungen Mannes, der den Raub angestiftet hat. Und umgekehrt, läuft die geraubte Frau dem Manne weg und wird von einem andern abgefaßt, so wird sie dessen Frau und der erste hat sein Vorrecht verloren. Neben und innerhalb der im allgemeinen fortbestehenden Gruppenehe bilden sich also Ausschließlichkeitsverhältnisse, Paarungen auf längere oder kürzere Zeit, daneben Vielweiberei, so daß die Gruppenehe auch hier im Absterben begriffen ist und es sich nur fragt, wer unter dem europäischen Einfluß zuerst vom Schauplatz verschwinden wird: die Gruppenehe oder die ihr frönenden Australneger. Die Ehe nach ganzen Klassen, wie sie in Australien herrscht, ist jedenfalls eine sehr niedrige und ursprüngliche Form der Gruppenehe, während die Punaluafamilie, soviel wir wissen, ihre höchste Entwicklungsstufe ist. Die erstere scheint die dem Gesellschaftsstand herumstreichender Wilden entsprechende Form, die zweite setzt schon relativ feste Ansiedlungen kommunistischer Gemeinschaften voraus und führt unmittelbar in die nächsthöhere Entwicklungsstufe. Zwischen beiden werden wir sicher noch manche Mittelstufen finden; hier liegt ein bis jetzt nur eröffnetes, kaum schon betretenes Untersuchungsgebiet vor. 3. Die Paantngsfamilie. Eine gewisse Paarung, für kürzere oder längere Zeit, fand bereits unter der Gruppenehe oder noch früher statt; der Mann hatte eine Hauptfrau (man kann noch kaum sagen Lieblingsfrau) unter den vielen Frauen, und er war für sie der hauptsächlichste Ehemann unter den andern. Dieser Umstand hat nicht wenig beigetragen zu der Konfusion bei den Missionaren, die in der Gruppenehe1 bald regellose Weibergemein
1 (1884) Punaluafamilie
schaft, bald willkürlichen Ehebruch sehn. Eine solche gewohnheitsmäßige Paarung mußte aber mehr und mehr sich befestigen, je mehr die Gens sich ausbildete und je zahlreicher die Klassen von „Brüdern" und „Schwestern" wurden, zwischen denen Heirat nun unmöglich war. Der durch die Gens gegebne Anstoß der Verhinderung der Heirat zwischen Blutsverwandten trieb noch weiter. So finden wir, daß bei den Irokesen und den meisten andern auf der Unterstufe der Barbarei stehenden Indianern die Ehe verboten ist zwischen allen Verwandten, die ihr System aufzählt, und das sind mehrere hundert Arten. Bei dieser wachsenden Verwicklung der Eheverbote wurden Gruppenehen mehr und mehr unmöglich; sie wurden verdrängt durch die Paarungsfamilie. Auf dieser Stufe lebt ein Mann mit einer Frau zusammen, jedoch so, daß Vielweiberei und gelegentliche Untreue Recht der Männer bleibt, wenn erstere auch aus ökonomischen Gründen selten vorkommt; während von den Weibern für die Dauer des Zusammenlebens meist strengste Treue verlangt und ihr Ehebruch grausam bestraft wird. Das Eheband ist aber von jedem Teil leicht löslich und die Kinder gehören nach wie vor der Mutter allein. Auch in dieser immer weiter getriebnen Ausschließung der Blutsverwandten vom Eheband wirkt die natürliche Zuchtwahl fort. In Morgans Worten:
„Die Ehen zwischen nicht-blutsverwandten Gentes erzeugten eine kräftigere Race, physisch wie geistig; zwei fortschreitende Stämme vermischten sich, und die neuen Schädel und Hirne erweiterten sich naturgemäß, bis sie die Fähigkeiten beider umfaßten."1"1
Stämme mit Gentilverfassung mußten so über die Zurückgebliebenen die Oberhand gewinnen oder sie durch ihr Beispiel mit sich ziehn. Die Entwicklung der Familie in der Urgeschichte besteht somit in der fortwährenden Verengerung des ursprünglich den ganzen Stamm umfassenden Kreises, innerhalb dessen eheliche Gemeinschaft zwischen den beiden Geschlechtern herrscht. Durch fortgesetzte Ausschließung erst näherer, dann immer entfernterer Verwandten, zuletzt selbst bloß angeheirateter, wird endlich jede Art von Gruppenehe praktisch unmöglich, und es bleibt schließlich das eine, einstweilen noch lose verbundne Paar übrig, das Molekül, mit dessen Auflösung die Ehe überhaupt aufhört. Schon hieraus zeigt sich, wie wenig die individuelle Geschlechtdiebe im heutigen Sinne des Worts mit der Entstehung der Einzelehe zu tun hatte. Noch mehr beweist dies die Praxis aller Völker, die auf dieser Stufe stehn. Während in früheren Familienformen die Männer nie um Frauen verlegen zu sein brauchten,
im Gegenteil ihrer eher mehr als genug hatten, wurden Frauen jetzt selten und gesucht. Daher beginnt seit der Paarungsehe der Raub und der Kauf von Frauen - weitverbreitete Symptome, aber weiter auch nichts, einer eingetretnen, viel tiefer liegenden Veränderung, welche Symptome, bloße Methoden, sich Frauen zu verschaffen, der pedantische Schotte MacLennan indes als „Raubehe" und „Kaufehe" in besondre Familienklassen umgedichtet hat. Auch sonst, bei den amerikanischen Indianern und anderswo (auf gleicher Stufe) ist die Eheschließung Sache nicht der Beteiligten, die oft gar nicht befragt werden, sondern ihrer Mütter. Oft werden so zwei einander ganz Unbekannte verlobt und erst von dem abgeschlossenen Handel in Kenntnis gesetzt, wenn die Zeit zum Heiraten heranrückt. Vor der Hochzeit macht der Bräutigam den Gentilverwandten der Braut (also ihren mütterlichen, nicht dem Vater und seiner Verwandtschaft) Geschenke, die als Kaufgaben für das abgetretene Mädchen gelten. Die Ehe bleibt löslich nach dem Belieben eines jeden der beiden Verheirateten: Doch hat sich nach und nach bei vielen Stämmen, z.B. den Irokesen, eine solchen Trennungen abgeneigte öffentliche Meinung gebildet; bei Streitigkeiten treten die Gentilverwandten beider Teile vermittelnd ein, und erst wenn dies nicht fruchtet, findet Trennung statt, wobei die Kinder der Frau verbleiben und wonach es jedem Teil freisteht, sich neu zu verheiraten. Die Paarungsfamilie, selbst zu schwach und zu unbeständig, um einen eignen Haushalt zum Bedürfnis oder nur wünschenswert zu machen, löst die aus früherer Zeit überlieferte kommunistische Haushaltung keineswegs auf. Kommunistischer Haushalt bedeutet aber Herrschaft der Weiber im Hause, wie ausschließliche Anerkennung einer leiblichen Mutter bei Unmöglichkeit, einen leiblichen Vater mit Gewißheit zu kennen, hohe Achtung der Weiber, d.h. der Mütter, bedeutet. Es ist eine der absurdesten, aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts überkommenen Vorstellungen, das Weib sei im Anfang der Gesellschaft Sklavin des Mannes gewesen. Das Weib hat bei allen Wilden und allen Barbaren der Unter- und Mittelstufe, teilweise noch der Oberstufe, eine nicht nur freie, sondern hochgeachtete Stellung. Was es noch in der Paarungsehe ist, möge Arthur Wright, langjähriger Missionar unter den Seneka-Irokesen, bezeugen:
„Was ihre Familien betrifft, zur Zeit, wo sie noch die alten langen Häuser" (kommunistische Haushaltungen mehrerer Familien) „bewohnten, ... so herrschte dort immer ein Clan" (eine Gens) „vor, so daß die Weiber ihre Männer aus den andern Clans" (Gentes) „nahmen ... Gewöhnlich beherrschte der weibliche Teil das Haus; die Vorräte waren gemeinsam; wehe aber dem unglücklichen Ehemann oder Liebhaber, der zu träge oder zu ungeschickt war, seinen Teil zum gemeinsamen Vorrat beizutragen.
Einerlei wieviel Kinder oder wieviel Eigenbesitz er im Hause hatte, jeden Augenblick konnte er des Befehls gewärtig sein, sein Bündel zu schnüren und sich zu trollen. Und er durfte nicht versuchen, dem zu widerstehn; das Haus wurde ihm zu heiß gemacht, es blieb ihm nichts, als zu seinem eignen Clan" (Gens) „ zurückzukehren oder aber, was meist der Fall, eine neue Ehe in einem andern Clan aufzusuchen. Die Weiber waren die große Macht in den Clans" (Gentes) „und auch sonst überall. Gelegentlich kam es ihnen nicht darauf an, einen Häuptling abzusetzen und zum gemeinen Krieger zu degradieren."'481
Die kommunistische Haushaltung, in der die Weiber meist oder alle einer und derselben Gens angehören, die Männer aber auf verschiedene Gentes sich verteilen, ist die sachliche Grundlage jener in der Urzeit allgemein verbreiteten Vorherrschaft der Weiber, die ebenfalls entdeckt zu haben ein drittes Verdienst Bachofens ist. - Nachträglich bemerke ich noch, daß die Berichte der Reisenden und Missionare über Belastung der Weiber mit übermäßiger Arbeit bei Wilden und Barbaren dem Gesagten keineswegs widersprechen. Die Teilung der Arbeit zwischen beiden Geschlechtern wird bedingt durch ganz andre Ursachen als die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Völker, bei denen die Weiber weit mehr arbeiten müssen, als ihnen nach unsrer Vorstellung gebührt, haben vor den Weibern oft weit mehr wirkliche Achtung als unsre Europäer. Die Dame der Zivilisation, von Scheinhuldigungen umgeben und aller wirklichen Arbeit entfremdet, hat eine unendlich niedrigere gesellschaftliche Stellung als das hartarbeitende Weib der Barbarei, das in seinem Volk für eine wirkliche Dame (lady, frowa, Frau = Herrin) galt und auch eine solche ihrem Charakter nach war. Ob die Paarungsehe in Amerika heute die Gruppenehe1 gänzlich verdrängt hat, müssen nähere Untersuchungen über die noch auf der Oberstufe der Wildheit stehenden nordwestlichen und namentlich über die südamerikanischen Völker entscheiden. Von diesen letzteren werden so mannigfache Beispiele geschlechtlicher Ungebundenheit erzählt, daß eine vollständige Überwindung der alten Gruppenehe hier kaum anzunehmen ist.2 Jedenfalls sind noch nicht alle Spuren davon verschwunden. Bei wenigstens vierzig nordamerikanischen Stämmen hat der Mann, der eine älteste Schwester heiratet, das Recht, alle ihre Schwestern ebenfalls zu Frauen zu nehmen, sobald sie das erforderliche Alter erreichen: Rest der Gemeinsamkeit der Männer für die ganze Reihe von Schwestern. Und von den Halbinsel-Kalif orniern (Oberstufe der Wildheit) erzählt Bancroft, daß sie gewisse Festlichkeiten haben, wo mehrere „Stämme" zusammenkommen zum
1 (1884) Punaluafamilie -2 (1884) fehlt der letzte Satz
Zweck des unterschiedslosen geschlechtlichen Verkehrs.'491 Es sind offenbar Gentes, die in diesen Festen die dunkle Erinnerung bewahren an die Zeit, wo die Frauen einer Gens alle Männer der andern zu ihren gemeinsamen Ehemännern hatten und umgekehrt.1 Dieselbe Sitte herrscht noch in Australien. Bei einigen Völkern kommt es vor, daß die älteren Männer, die Häuptlinge und Zauberer-Priester die Weibergemeinschaft für sich ausbeuten und die meisten Frauen für sich monopolisieren; aber dafür müssen sie bei gewissen Festen und großen Volksversammlungen die alte Gemeinschaft wieder in Wirklichkeit treten und ihre Frauen sich mit den jungen Männern ergötzen lassen. Eine ganze Reihe von Beispielen solcher periodischen Satumalienfeste1501, wo der alte freie Geschlechtsverkehr wieder auf kurze Zeit in Kraft tritt, bringt Westermarck p. 28/29: bei den Hos, den Santals, den Pandschas und Kotars in Indien, bei einigen afrikanischen Völkern usw. Merkwürdigerweise zieht Westermarck hieraus den Schluß, dies sei Überbleibsel nicht der von ihm geleugneten Gruppenehe, sondern - der dem Urmenschen mit den andern Tieren gemeinsamen Brunstzeit. Wir kommen hier auf die vierte große Entdeckung Bachofens, die Entdeckung der weitverbreiteten Übergangsform von der Gruppenehe zur Paarung. Was Bachofen als eine Buße für Verletzung der alten Göttergebote darstellt: Die Buße, womit die Frau das Recht auf Keuschheit erkauft, ist in der Tat nur mystischer Ausdruck für die Buße, womit die Frau sich aus der alten Männergemeinschaft loskauft und das Recht erwirbt, sich nur einem Mann hinzugeben. Diese Buße besteht in einer beschränkten Preisgebung: Die babylonischen Frauen mußten einmal im Jahr sich im Tempel der Mylitta preisgeben; andere vorderasiatische Völker schickten ihre Mädchen jahrelang in den Tempel der Anaitis, wo sie mit selbstgewählten Günstlingen der freien Liebe zu pflegen hatten, ehe sie heiraten durften; ähnliche religiös verkleidete Gebräuche sind fast allen asiatischen Völkern zwischen Mittelmeer und Ganges gemein. Das Sühnopfer für den Loskauf wird im Verlauf der Zeit immer leichter, wie schon Bachofen bemerkt: „Die jährlich wiederholte Darbringung weicht der einmaligen Leistung, auf den Hetärismus der Matronen folgt jener der Mädchen, auf die Ausübung während der Ehe
1 Der folgende Text bis zum Absatz: Die Paarungsfamilie... (S. 57) ist die von Engels 1891 erweiterte Fassung. Er lautete 1884: Ähnliche Reste aus der alten Welt sind bekannt genug, so die Preisgebung der phönizischen Mädchen im Tempel an den Festen der Astaroth; selbst das mittelalterliche Recht der ersten Nacht, das trotz neuromantischer deutscher Weißwaschungen eine sehr handfeste Existenz gehabt hat, ist ein vermutlich durch die keltische Gens (den Clan) überliefertes Stück Punaluafamilie.
die vor derselben, auf die wahllose Überlassung an alle die an gewisse Personen." („Mutterrecht", p. XIX.)
Bei andern Völkern fehlt die religiöse Verkleidung; bei einigen - Thrakern, Kelten etc. im Altertum, bei vielen Ureinwohnern Indiens, bei malaiischen Völkern, bei Südsee-Insulanern und vielen amerikanischen Indianern noch heute - genießen die Mädchen bis zu ihrer Verheiratung der größten geschlechtlichen Freiheit. Namentlich fast überall in Südamerika, wovon jeder, der dort etwas ins Innere gekommen, Zeugnis ablegen kann. So erzählt Agassiz („A Journey in Brazil", Boston and New York 1886, p.266) von einer reichen Familie von indianischer Abstammung; als er mit der Tochter bekannt gemacht wurde, frug er nach ihrem Vater, in der Meinung, dies sei der Mann der Mutter, der als Offizier im Krieg gegen Paraguay stand; aber die Mutter antwortete lächelnd: Nao tem pai, e filha da fortuna, sie hat keinen Vater, sie ist ein Zufallskind.
„In dieser Art sprechen indianische oder halbblütige Frauen jederzeit ohne Scham oder Tadel von ihren unehelichen Kindern; und dies ist weit entfernt davon, ungewöhnlich zu sein, eher scheint das Gegenteil Ausnahme. Die Kinder ... kennen oft nur ihre Mutter, denn alle Sorge und Verantwortlichkeit fällt auf sie; von ihrem Vater wissen sie nichts; auch scheint es der Frau nie einzufallen, daß sie oder ihre Kinder irgendwelchen Anspruch an ihn haben."
Was dem Zivilisierten hier befremdlich vorkommt, ist einfach die Regel nach Mutterrecht und in der Gruppenehe. Bei wieder andern Völkern nehmen die Freunde und Verwandten des Bräutigams oder die Hochzeitsgäste bei der Hochzeit selbst das altüberkommene Recht auf die Braut in Anspruch, und der Bräutigam kommt erst zuletzt an die Reihe; so auf den Balearen und bei den afrikanischen Augilern im Altertum, bei den Bareas in Abessinien noch jetzt. Bei wieder andern vertritt eine Amtsperson, der Stammes- oder Gentilvorstand, Kazike, Schamane, Priester, Fürst oder wie er heißen mag, die Gemeinschaft, und übt bei der Braut das Recht der ersten Nacht aus. Trotz aller neuromantischen Weißwaschungen besteht dies jus primae noctis1 als Rest der Gruppenehe noch heutzutage bei den meisten Einwohnern des Alaskagebiets (Bancroft, „Native Races", I, 81), bei den Tahus in Nordmexiko (ib. p.584) und andern Völkern; und hat es wenigstens in ursprünglich keltischen Ländern, wo es direkt aus der Gruppenehe überliefert worden, im ganzen Mittelalter bestanden, z.B. in Aragonien. Während in Kastilien der Bauer nie leib
1 Recht der ersten Nacht
eigen war, herrschte in Aragonien die schmählichste Leibeigenschaft bis zum Schiedsspruch Ferdinands des Katholischen von i4861511. In diesem Aktenstück heißt es: „Wir urteilen und erklären, daß die vorerwähnten Herren" (senyors, Barone) „... auch nicht können die erste Nacht, wo der Bauer eine Frau nimmt, bei ihr schlafen, oder zum Zeichen der Herrschaft, in der Hochzeitsnacht, nachdem die Frau sich zu Bette gelegt, über es und über die erwähnteFrau hinwegschreiten; noch können die vorerwähnten Herren sich der Tochter oder des Sohnes des Bauern bedienen, mit Bezahlung oder ohne Bezahlung, gegen deren Willen." (Zitiert im katalanischen Original bei Sugenheim, „Leibeigenschaft", Petersburg 1861, p.35.) Bachofen hat ferner unbedingt recht, wenn er durchweg behauptet, der Übergang von dem was er „Hetärismus" oder „Sumpfzeugung" nennt, zur Einzelehe sei zustande gekommen wesentlich durch die Frauen. Je mehr mit der Entwicklung der ökonomischen Lebensbedingungen, also mit der Untergrabung des alten Kommunismus und mit der wachsenden Dichtigkeit der Bevölkerung, die altherkömmlichen Geschlechtsverhältnisse ihren waldursprünglich-naiven Charakter einbüßten, um so mehr mußten sie den Frauen erniedrigend und drückend erscheinen; um so dringender mußten sie das Recht auf Keuschheit, auf zeitweilige oder dauernde Ehe mit nur einem Mann, als eine Erlösung herbeiwünschen. Von den Männern konnte dieser Fortschritt ohnehin schon deshalb nicht ausgehn, weil es ihnen überhaupt nie, auch bis heute nicht, eingefallen ist, auf die Annehmlichkeiten der tatsächlichen Gruppenehe zu verzichten. Erst nachdem durch die Frauen der Übergang zur Paarungsehe gemacht, konnten die Männer die strikte Monogamie einführen - freilich nur für die Frauen. Die Paarungsfamilie entsprang an der Grenze zwischen Wildheit und Barbarei, meist schon auf der Oberstufe der Wildheit, hier und da erst auf der Unterstufe der Barbarei. Sie ist die charakteristische Familienform für die Barbarei, wie die Gruppenehe für die Wildheit und die Monogamie für die Zivilisation. Um sie zur festen Monogamie weiterzuentwickeln, bedurfte es andrer Ursachen als derjenigen, die wir bisher wirkend fanden. Die Gruppe war in der Paarung bereits auf ihre letzte Einheit, ihr zweiatomiges Molekül, herabgebracht: auf einen Mann und eine Frau. Die Naturzüchtung hatte in der immer weiter geführten Ausschließung von der Ehegemeinschaft ihr Werk vollbracht; in dieser Richtung blieb nichts mehr für sie zu tun. Kamen also nicht neue, gesellschaftliche Triebkräfte in Wirksamkeit, so war kein Grund vorhanden, warum aus der Paarung eine neue Familienform hervorgehn sollte. Aber diese Triebkräfte traten in Wirksamkeit.
Wir verlassen jetzt Amerika, den klassischen Boden der Paarungsfamilie. Kein Anzeichen läßt schließen, daß dort eine höhere Familienform sich entwickelt, daß dort vor der Entdeckung und Eroberung jemals irgendwo feste Monogamie bestanden habe. Anders in der alten Welt. Hier hatte die Zähmung der Haustiere und die Züchtung von Herden eine bisher ungeahnte Quelle des Reichtums entwickelt und ganz neue gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen. Bis auf die Unterstufe der Barbarei hatte der ständige Reichtum bestanden fast nur in dem Haus, der Kleidung, rohem Schmuck und den Werkzeugen zur Erringung und Bereitung der Nahrung: Boot, Waffen, Hausrat einfachster Art. Die Nahrung mußte Tag um Tag neu errungen werden. Jetzt, mit den Herden der Pferde, Kamele, Esel, Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine hatten die vordringenden Hirtenvölker - die Arier im indischen Fünfstromland und Gangesgebiet wie in den damals noch weit wasserreicheren Steppen am Oxus und Jaxartes, die Semiten am Euphrat und Tigris - einen Besitz erworben, der nur der Aufsicht und rohesten Pflege bedurfte, um sich in stets vermehrter Zahl fortzupflanzen und die reichlichste Nahrung an Milch und Fleisch zu liefern. Alle früheren Mittel der Nahrungsbeschaffung traten nun in den Hintergrund; die Jagd, früher eine Notwendigkeit, wurde nun ein Luxus. Wem gehörte aber dieser neue Reichtum? Unzweifelhaft ursprünglich der Gens. Aber schon früh muß sich Privateigentum an den Herden entwickelt haben. Es ist schwer zu sagen, ob dem Verfasser des sog. ersten Buchs Mosis der Vater Abraham erschien als Besitzer seiner Herden kraft eignen Rechts als Vorstand einer Familiengemeinschaft oder kraft seiner Eigenschaft als tatsächlich erblicher Vorsteher einer Gens. Sicher ist nur, daß wir ihn uns nicht als Eigentümer im modernen Sinn vorstellen dürfen. Und sicher ist ferner, daß wir an der Schwelle der beglaubigten Geschichte die Herden schon überall in Sondereigentum1 von Familienvorständen finden, ganz wie die Kunsterzeugnisse der Barbarei, Metallgerät, Luxusartikel und endlich das Menschenvieh - die Sklaven. Denn jetzt war auch die Sklaverei erfunden. Dem Barbaren der Unterstufe war der Sklave wertlos. Daher auch die amerikanischen Indianer mit den besiegten Feinden ganz anders verfuhren, als auf höherer Stufe geschah. Die Männer wurden getötet oder aber in den Stamm der Sieger als Brüder aufgenommen; die Weiber wurden geheiratet oder sonst mit ihren überlebenden Kindern ebenfalls adoptiert. Die menschliche Arbeitskraft liefert auf dieser Stufe noch keinen beachtenswerten Überschuß über ihre Unter
1 (1884) Privateigentum
haltskosten. Mit der Einführung der Viehzucht, der Metallbearbeitung, der Weberei und endlich des Feldbaus wurde das anders. Wie die früher so leicht zu erlangenden Gattinnen jetzt einen Tauschwert1 bekommen hatten und gekauft wurden, so geschah es mit den Arbeitskräften, besonders seitdem die Herden endgültig in Familienbesitz2 übergegangen waren. Die Familie vermehrte sich nicht ebenso rasch wie das Vieh. Mehr Leute wurden erfordert, es zu beaufsichtigen; dazu ließ sich der kriegsgefangne Feind benutzen, der sich außerdem ebensogut fortzüchten ließ wie das Vieh selbst. Solche Reichtümer, sobald sie einmal in den Privatbesitz von Familien3 übergegangen und dort rasch vermehrt, gaben der auf Paarungsehe und mutterrechtliche Gens gegründeten Gesellschaft einen mächtigen Stoß. Die Paarungsehe hatte ein neues Element in die Familie eingeführt. Neben die leibliche Mutter hatte sie den beglaubigten leiblichen Vater gestellt, der noch dazu wahrscheinlich besser beglaubigt war als gar manche „Väter" heutzutage. Nach der damaligen Arbeitsteilung in der Familie fiel dem Mann die Beschaffung der Nahrung und der hiezu nötigen Arbeitsmittel, also auch das Eigentum an diesen letzteren zu; er nahm sie mit, im Fall der Scheidung, wie die Frau ihren Hausrat behielt. Nach dem Brauch der damaligen Gesellschaft also war der Mann auch Eigentümer der neuen Nahrungsquelle, des Viehs, und später des neuen Arbeitsmittels, der Sklaven. Nach dem Brauch derselben Gesellschaft aber konnten seine Kinder nicht von ihm erben, denn damit stand es folgendermaßen. Nach Mutterrecht, also solange Abstammung nur in weiblicher Linie gerechnet wurde, und nach dem ursprünglichen Erbgebrauch in der Gens erbten anfänglich die Gentilverwandten von ihrem verstorbnen Gentilgenossen. Das Vermögen mußte in der Gens bleiben. Bei der Unbedeutendheit der Gegenstände mag es von jeher in der Praxis an die nächsten Gentilverwandten, also an die Blutsverwandten mütterlicher Seite, übergegangen sein. Die Kinder des verstorbnen Mannes aber gehörten nicht seiner Gens an, sondern der ihrer Mutter; sie erbten, anfangs mit den übrigen Blutsverwandten der Mutter, später vielleicht in erster Linie, von dieser; aber von ihrem Vater konnten sie nicht erben, weil sie nicht zu seiner Gens gehörten, sein Vermögen aber in dieser bleiben mußte. Bei dem Tode des Herdenbesitzers wären also seine Herden übergegangen zunächst an seine Brüder und Schwestern und an die Kinder seiner Schwestern, oder an die Nachkommen der Schwestern seiner Mutter. Seine eignen Kinder aber waren enterbt. 1 (1884) zahlreichen Gattinnen jetzt einen Wert (statt: leicht zu erlangenden Gattinnen jetzt einen Tauschwert) - 2 (1884) Privatbesitz - 8 (1884) fehlt: von Familien
In dem Verhältnis also, wie die Reichtümer sich mehrten, gaben sie einerseits dem Mann eine wichtigere Stellung in der Familie als der Frau und erzeugten andrerseits den Antrieb, diese verstärkte Stellung zu benutzen, um die hergebrachte Erbfolge zugunsten der Kinder umzustoßen. Dies ging aber nicht, solange die Abstammung nach Mutterrecht galt. Diese also mußte umgestoßen werden, und sie wurde umgestoßen. Es war dies gar nicht so schwer, wie es uns heute erscheint. Denn diese Revolution - eine der einschneidendsten, die die Menschen erlebt haben - brauchte nicht ein einziges der lebenden Mitglieder einer Gens zu berühren. Alle ihre Angehörigen konnten nach wie vor bleiben, was sie gewesen. Der einfache Beschluß genügte, daß in Zukunft die Nachkommen der männlichen Genossen in der Gens bleiben, die der weiblichen aber ausgeschlossen sein sollten, indem sie in die Gens ihres Vaters übergingen. Damit war die Abstammungsrechnung in weiblicher Linie und das mütterliche Erbrecht umgestoßen, männliche Abstammungslinie und väterliches Erbrecht eingesetzt. Wie sich diese Revolution bei den Kulturvölkern gemacht hat, und wann, darüber wissen wir nichts. Sie fällt ganz in die vorgeschichtliche Zeit. Daß sie sich aber gemacht, ist mehr als nötig erwiesen durch die namentlich von Bachofen gesammelten reichlichen Spuren von Mutterrecht; wie leicht sie sich vollzieht, sehn wir an einer ganzen Reihe von Indianerstämmen, wo sie erst neuerdings gemacht worden ist und noch gemacht wird unter dem Einfluß teils wachsenden Reichtums und veränderter Lebensweise (Versetzung aus den Wäldern in die Prärie), teils moralischer Einwirkungen der Zivilisation und der Missionare. Von acht Missouristämmen haben sechs männliche, aber zwei noch weibliche Abstammungslinie und Erbfolge. Bei den Shawnees, Miamies und Delawares ist die Sitte eingerissen, die Kinder durch einen der Gens des Vaters gehörigen Gentilnamen in diese zu versetzen, damit sie vom Vater erben können. „Eingeborene Kasuisterei des Menschen, die Dinge zu ändern, indem man ihre Namen ändert! Und Schlupfwinkel zu finden, um innerhalb der Tradition die Tradition zu durchbrechen, wo ein direktes Interesse den hinreichenden Antrieb gab!" (Marx.) Dadurch entstand heillose Verwirrrung, der nur abzuhelfen war, und teilweise auch abgeholfen wurde, durch Übergang zum Vaterrecht. „Dies scheint überhaupt der natürlichste Übergang." (Marx.) - Was die vergleichenden Juristen uns zu sagen wissen über die Art und Weise, wie dieser Übergang sich bei den Kulturvölkern der alten Welt vollzog - freilich fast nur Hypothesen -, darüber vgl. M. Kowalewski, „Tableau des origines et de Involution de la famille et de la propriete", Stockholm 18901. 1 (1884) fehlt der letzte Satz
Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung. Diese erniedrigte Stellung der Frau, wie sie namentlich bei den Griechen der heroischen und noch mehr der klassischen Zeit offen hervortritt, ist allmählich beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Form gekleidet worden; beseitigt ist sie keineswegs. Die erste Wirkung der nun begründeten Alleinherrschaft der Männer zeigt sich in der jetzt auftauchenden Zwischenform der patriarchalischen Familie. Was sie hauptsächlich bezeichnet, ist nicht die Vielweiberei, wovon später, sondern „die Organisation einer Anzahl freier und unfreier Personen zu einer Familie unter der väterlichen Gewalt des Familienhaupts. In der semitischen Form lebt dies Familienhaupt in Vielweiberei, die Unfreien haben Weib und Kinder, und der Zweck der ganzen Organisation ist die Wartung von Herden auf einem abgegrenzten Gebiet."152'
Das Wesentliche ist die Einverleibung von Unfreien und die väterliche Gewalt; daher ist der vollendete Typus dieser Familienform die römische Familie. Das Wort familia bedeutet ursprünglich nicht das aus Sentimentalität und häuslichem Zwist zusammengesetzte Ideal des heutigen Philisters; es bezieht sich bei den Römern anfänglich gar nicht einmal auf das Ehepaar und dessen Kinder, sondern auf die Sklaven allein. Famulus heißt ein Haussklave, und familia ist die Gesamtheit der einem Mann gehörenden Sklaven. Noch zu Gajus Zeit wurde die familia, id est Patrimonium (d.h. das Erbteil) testamentarisch vermacht. Der Ausdruck wurde von den Römern erfunden, um einen neuen gesellschaftlichen Organismus zu bezeichnen, dessen Haupt Weib und Kinder und eine Anzahl Sklaven unter römischer väterlicher Gewalt, mit dem Recht über Tod und Leben aller, unter sich hatte.
„Das Wort ist also nicht älter als das eisengepanzerte Familiensystem der latinischen Stämme, welches aufkam nach Einführung des Feldbaus und der gesetzlichen Sklaverei und nach der Trennung der arischen Italer von den Griechen."'53'
Marx setzt hinzu: „Die moderne Familie enthält im Keim nicht nur Sklaverei (servitus), sondern auch Leibeigenschaft, da sie von vornherein Beziehung hat auf Dienste für Ackerbau. Sie enthält in Miniatur alle die Gegensätze in sich, die sich später breit entwickeln in der Gesellschaft und in ihrem Staat." Eine solche Familienform zeigt den Ubergang der Paarungsehe in die Monogamie. Um die Treue der Frau, also die Vaterschaft der Kinder,
sicherzustellen, wird die Frau der Gewalt des Mannes unbedingt überliefert: Wenn er sie tötet, so übt er nur sein Recht aus.1 Mit der patriarchalischen Familie betreten wir das Gebiet der geschriebnen Geschichte, und damit ein Gebiet, wo die vergleichende Rechtswissenschaft uns bedeutende Hülfe leisten kann. Und in der Tat hat sie uns hier einen wesentlichen Fortschritt gebracht. Wir verdanken Maxim Kowalewski („Tableau etc. de la famille et de la propriete", Stockholm 1890, p.60-100) den Nachweis, daß die patriarchalische Hausgenossenschaft, wie wir sie heute noch bei Serben und Bulgaren unter dem Namen Zädruga (etwa Verfreundung zu übersetzen) oder Bratstvo (Brüderschaft), und in modifizierter Form bei orientalischen Völkern vorfinden, die Übergangsstufe gebildet hat zwischen der, aus der Gruppenehe entspringenden, mutterrechtlichen Familie und der Einzelfamilie der modernen Welt. Wenigstens für die Kulturvölker der alten Welt, für Arier und Semiten scheint dies erwiesen. Die südslawische Zadruga bietet das beste noch lebende Beispiel einer solchen Familiengemeinschaft. Sie umfaßt mehrere Generationen der Nachkommen eines Vaters nebst deren Frauen, die alle auf einem Hof zusammen wohnen, ihre Felder gemeinsam bebauen, aus gemeinsamem Vorrat sich nähren und kleiden und den Überschuß des Ertrags gemeinsam besitzen. Die Gemeinschaft steht unter oberster Verwaltung des Hausherrn (domacin), der sie nach außen vertritt, kleinere Gegenstände veräußern darf, die Kasse führt und für dieselbe sowie für den regelmäßigen Geschäftsgang verantwortlich ist. Er wird gewählt und braucht keineswegs der Älteste zu sein. Die Frauen und ihre Arbeiten stehn unter Leitung der Hausfrau (domacica), die gewöhnlich die Frau des Domacin ist. Sie hat auch bei der Gattenwahl für die Mädchen eine wichtige, oft die entscheidende Stimme. Die oberste Macht aber ruht im Familienrat, der Versammlung aller erwachsenen Genossen, Frauen wie Männer. Dieser Versammlung legt der Hausherr Rechenschaft ab; sie faßt die entscheidenden Beschlüsse, übt Gerichtsbarkeit über die Mitglieder, beschließt über Käufe und Verkäufe von einiger Bedeutung, namentlich von Grundbesitz usw. Erst seit ungefähr zehn Jahren ist das Fortbestehn solcher großen Familiengenossenschaften auch in Rußland nachgewiesen1541; sie sind jetzt allgemein als ebensosehr in der russischen Volkssitte wurzelnd anerkannt wie die Obschtschina oder Dorfgemeinschaft. Sie figurieren im ältesten russischen Gesetzbuch, der Prawda des Jaroslaw'551, unter demselben Namen 1 (1884) fehlt der folgende Text bis zum Absatz: Ehe wir zu der mit dem Sturz ... (S. 64)
(werwj) wie in den dalmatinischen Gesetzen1561, und lassen sich auch in polnischen und tschechischen Geschichtsquellen nachweisen. Auch bei den Deutschen ist nach Heusler („Institutionen des deutschen Rechts"t571) die wirtschaftliche Einheit ursprünglich nicht die Einzelfamilie im modernen Sinn, sondern die „Hausgenossenschaft", die aus mehreren Generationen, beziehungsweise Einzelfamilien, besteht und daneben oft genug Unfreie in sich begreift. Auch die römische Familie wird auf diesen Typus zurückgeführt, und die absolute Gewalt des Hausvaters, wie die Rechtlosigkeit der übrigen Familienglieder, ihm gegenüber, wird demzufolge neuerdings stark bestritten. Bei den Kelten sollen ebenfalls in Irland ähnliche Familiengenossenschaften bestanden haben; in Frankreich erhielten sie sich im Nivernais unter dem Namen parfonneries bis auf die französische Revolution, und in der Franche Comte sind sie noch heute nicht ganz ausgestorben. In der Gegend von Louhans (Saone et Loire) sieht man große Bauernhäuser mit gemeinsamem, hohem, bis ans Dach reichendem Zentralsaal, und ringsherum die Schlafkammern, zu denen man auf Treppen von sechs bis acht Stufen gelangt und worin mehrere Generationen derselben Familie wohnen. In Indien ist die Hausgenossenschaft mit gemeinsamer Bodenbebauung bereits von Nearchos1581, zur Zeit Alexander des Großen, erwähnt, und besteht in derselben Gegend, im Pandschab und ganzen Nordwesten des Landes noch heute. Im Kaukasus hat Kowalewski selbst sie nachweisen können. In Algerien besteht sie noch bei den Kabylen. Selbst in Amerika soll sie vorgekommen sein, man will sie entdecken in den „Calpullis", die Zurita im alten Mexiko beschreibtc59); dagegen hat Cunow („Ausland", 1890, Nr. 42-44)[60J ziemlich klar nachgewiesen, daß in Peru zurZeit der Eroberung eine Art Markverfassung (wobei die Mark sonderbarerweise Marca hieß) mit periodischer Aufteilung des bebauten Landes, also Einzelbebauung, bestand. Jedenfalls erhält jetzt die patriarchalische Hausgenossenschaft mit gemeinsamem Grundbesitz und gemeinsamer Bebauung eine ganz andre Bedeutung als bisher. Wir können nicht länger zweifeln an der wichtigen Ubergangsrolle, die sie bei den Kulturvölkern und manchen andern Völkern der alten Welt zwischen der mutterrechtlichen und der Einzelfamilie gespielt hat. Weiter unten kommen wir zurück auf die von Kowalewski ferner gezogne Schlußfolge, daß sie ebenfalls die Übergangsstufe war, aus der sich die Dorf- oder Markgemeinde mit Einzelbebauung und erst periodischer, dann endgültiger Aufteilung von Acker- und Wiesenland entwickelt hat.
In Beziehung auf das Familienleben innerhalb dieser Hausgenossenschaften ist zu bemerken, daß wenigstens in Rußland der Hausvater im Rufe steht, seine Stellung gegenüber den jüngeren Frauen der Genossenschaft, speziell den Schwiegertöchtern, stark zu mißbrauchen und sich oft aus ihnen einen Harem zu bilden; worüber die russischen Volkslieder ziemlich beredt sind. Ehe wir zu der mit dem Sturz des Mutterrechtes sich rasch entwickelnden Monogamie Übergehn, noch ein paar Worte über Vielweiberei und Vielmännerei. Beide Eheformen können nur Ausnahmen sein, sozusagen geschichtliche Luxusprodukte, es sei denn, sie kämen in einem Lande nebeneinander vor, was bekanntlich nicht der Fall ist. Da also die von der Vielweiberei ausgeschlossenen Männer sich nicht bei den von der Vielmännerei übriggebliebnen Weibern trösten können, die Anzahl von Männern und Weibern aber ohne Rücksicht auf soziale Institutionen bisher ziemlich gleich war, ist die Erhebung der einen wie der andern dieser Eheformen zur allgemein geltenden von selbst ausgeschlossen. In der Tat war die Vielweiberei eines Mannes offenbar Produkt der Sklaverei und beschränkt auf einzelne Ausnahmestellungen. In der semitisch-patriarchalischen Familie lebt nur der Patriarch selbst, und höchstens noch ein paar seiner Söhne, in Vielweiberei, die übrigen müssen sich mit einer Frau begnügen. So ist es noch heute im ganzen Orient; die Vielweiberei ist ein Privilegium der Reichen und Vornehmen und rekrutiert sich hauptsächlich durch Kauf von Sklavinnen; die Masse des Volks lebt in Monogamie. Eine ebensolche Ausnahme ist die Vielmännerei in Indien und Tibet, deren sicher nicht uninteressanter Ursprung aus der Gruppenehe1 noch näher zu untersuchen ist. In ihrer Praxis scheint sie übrigens viel kulanter als die eifersüchtige Heiremswirtschaft der Muhamedaner. Wenigstens haben bei den Nairs in Indien je drei, vier oder mehr Männer zwar eine gemeinsame Frau; aber jeder von ihnen kann daneben mit drei oder mehr andern Männern eine zweite Frau in Gemeinschaft haben, und so eine dritte, vierte usw. Es ist ein Wunder, daß MacLennan in diesen Eheklubs, in deren mehreren man Mitglied sein kann und die er selbst beschreibt, nicht die neue Klasse der Klubehe entdeckt hat. Diese Eheklub-Wirtschaft ist übrigens keineswegs wirkliche Vielmännerei; sie ist im Gegenteil, wie schon Giraud-Teulon bemerkt, eine spezialisierte Form der Gruppenehe; die Männer leben in Vielweiberei, die Weiber in Vielmännerei.2 4. Die monogame Familie. Sie entsteht aus der Paarungsfamilie, wie
1 (1884) Punaluafamilie - 2 (1884) fehlt der letzte Satz
gezeigt, im Grenzzeitalter zwischen der mittleren und oberen Stufe der Barbarei; ihr endgültiger Sieg ist eins der Kennzeichen der beginnenden Zivilisation. Sie ist gegründet auf die Herrschaft des Mannes, mit dem ausdrücklichen Zweck der Erzeugung von Kindern mit unbestrittener Vaterschaft, und diese Vaterschaft wird erfordert, weil diese Kinder dereinst als Leibeserben in das väterliche Vermögen eintreten sollen. Sie unterscheidet sich von der Paarungsehe durch weit größere Festigkeit des Ehebandes, das nun nicht mehr nach beiderseitigem Gefallen lösbar ist. Es ist jetzt in der Regel nur noch der Mann, der es lösen und seine Frau verstoßen kann. Das Recht der ehelichen Untreue bleibt ihm auch jetzt wenigstens noch durch die Sitte gewährleistet (der Code Napoleon schreibt es dem Mann ausdrücklich zu, solange er nicht die Beischläferin ins eheliche Haus bringt[611) und wird mit steigender gesellschaftlicher Entwicklung immer mehr ausgeübt; erinnert sich die Frau der alten geschlechtlichen Praxis und will sie erneuern, so wird sie strenger bestraft als je vorher. In ihrer ganzen Härte tritt uns die neue Familienform entgegen bei den Griechen. Während, wie Marx bemerkt, die Stellung der Göttinnen in der Mythologie uns eine frühere Periode vorführt, wo die Frauen noch eine freiere, geachtetere Stellung hatten, finden wir zur Heroenzeit die Frau1 bereits erniedrigt durch die Vorherrschaft des Mannes und die Konkurrenz von Sklavinnen. Man lese in der „Odyssee", wie Telemachos seine Mutter ab- und zur Ruhe verweist. Die erbeuteten jungen Weiber verfallen bei Homer der Sinnenlust der Sieger; die Befehlshaber wählen sich der Reihe und Rangordnung nach die schönsten aus; die ganze „Ilias" dreht sich bekanntlich um den Streit zwischen Achilleus und Agamemnon wegen einer solchen Sklavin. Bei jedem homerischen Helden von Bedeutung wird das kriegsgefangene Mädchen erwähnt, womit er Zelt und Bett teilt. Diese Mädchen werden auch mit in die Heimat und ins eheliche Haus genommen, wie Kassandra von Agamemnon bei Äschylos; die mit solchen Sklavinnen erzeugten Söhne bekommen einen kleinen Anteil am väterlichen Erbe und
1 Der folgende Text bis zu den Worten: Aber trotz aller Abschließung und Bewachung... (S. 67) ist die von Engels 1891 erweiterte Fassung. Er lautete 1884: in einer halbgefänglichen Abgeschlossenheit, um die richtige Vaterschaft der Kinder sicherzustellen. Der Mann dagegen vergnügt sich mit kriegsgefangnen Sklavinnen, seinen Zeltgenossinnen im Kriege. Kaum besser in der klassischen Periode. Man kann in Beckers „Charikles" des breiteren nachlesen, wie die Griechen ihre Frauen behandelten. Wenn nicht gerade eingeschlossen, so doch abgeschlossen von der Welt, waren sie die obersten Hausmägde ihrer Männer geworden, beschränkt auf den Verkehr vornehmlich der übrigen Hausmägde. Die Mädchen wurden direkt eingeschlossen, die Frauen gingen nur aus in Begleitung der Sklavinnen. Kam Männerbesuch, so zog sich die Frau in ihr Gemach zurück.
5 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
gelten als Vollfreie; Teukros ist ein solcher unehelicher Sohn des Telamon und darf sich nach seinem Vater nennen. Von der Ehefrau wird erwartet, daß sie sich das alles gefallen läßt, selbst aber strenge Keuschheit und Gattentreue bewahrt. Die griechische Frau der Heroenzeit ist zwar geachteter als die der zivilisierten Periode, aber sie ist doch schließlich für den Mann nur die Mutter seiner ehelichen Erbkinder, seine oberste Hausverwalterin und die Vorsteherin der Sklavinnen, die er sich nach Belieben zu Konkubinen machen kann und auch macht. Es ist der Bestand der Sklaverei neben der Monogamie, das Dasein junger schöner Sklavinnen, die dem Mann gehören mit allem, was sie an sich haben, das der Monogamie von Anfang an ihren spezifischen Charakter aufdrückt, Monogamie zu sein nur für die Frau, nicht aber für den Mann. Und diesen Charakter hat sie noch heute. Für die späteren Griechen müssen wir unterscheiden zwischen Dorern und Ioniern. Die ersteren, deren klassisches Beispiel Sparta, haben in mancher Beziehung noch altertümlichere Eheverhältnisse, als selbst Homer sie aufzeigt. In Sparta gilt eine nach den dortigen Anschauungen vom Staat modifizierte Paarungsehe, die noch manche Erinnerungen an die Gruppenehe aufweist. Kinderlose Ehen werden getrennt; der König Anaxandridas (um 560 vor unsrer Zeitrechnung) nahm zu seiner kinderlosen Frau eine zweite und führte zwei Haushaltungen; um dieselbe Zeit nahm der König Ariston zu zwei unfruchtbaren Frauen eine dritte, entließ aber dafür eine der ersteren. Andrerseits durften mehrere Brüder eine gemeinsame Frau haben, durfte der Freund, dem des Freundes Frau besser gefiel, sich mit diesem in sie teilen, und galt es für anständig, die Frau einem strammen „Hengst", wie Bismarck sagen würde, zur Verfügung zu stellen, selbst wenn dieser ein Nichtbürger war. Aus einer Stelle bei Plutarch, wo eine Spartanerin den Liebhaber, der sie mit Anträgen verfolgte, an ihren Ehemann verwies, scheint — nach Schoemann - sogar eine noch größere Freiheit der Sitte hervorzugehn.[62] Wirklicher Ehebruch, Untreue der Frau hinter dem Rücken des Mannes, war daher auch unerhört. Andrerseits war die Haussklaverei in Sparta wenigstens in der besten Zeit unbekannt, die leibeignen Heloten wohnten gesondert auf den Gütern; die Versuchung für die Spartiatent63], sich an deren Weiber zu halten, war daher geringer. Daß unter allen diesen Umständen die Frauen in Sparta eine ganz anders geachtete Stellung einnahmen als bei den übrigen Griechen, konnte gar nicht anders sein. Die spartanischen Frauen und die Elite der athenischen Hetären sind die einzigen griechischen Frauen, von denen die Alten mit Respekt sprechen, deren Äußerungen aufzuzeichnen sie der Mühe wert halten.
Ganz anders bei den Ioniern, für die Athen kennzeichnend ist. Die Mädchen lernten nur Spinnen, Weben und Nähen, höchstens etwas Lesen und Schreiben. Sie waren so gut wie eingeschlossen, gingen nur mit andern Weibern um. Das Frauengemach war ein abgesondertes Stück des Hauses, im obern Stock oder im Hinterhaus, wohin Männer, namentlich Fremde, nicht leicht kamen, und wohin sie sich bei Männerbesuch zurückzogen. Die Frauen gingen nicht aus ohne Begleitung einer Sklavin; zu Hause wurden sie förmlich bewacht; Aristophanes spricht von molossischen Hunden, die zur Abschreckung der Ehebrecher gehalten wurden, und in den asiatischen Städten wenigstens hielt man zur Frauenbewachung Eunuchen, die in Chios schon zu Herodots Zeit für den Handel fabriziert wurden, und nach Wachsmuth[64] nicht allein für die Barbaren. Bei Euripides wird die Frau als oikurema, als ein Ding zur Hausbesorgung (das Wort ist Neutrum) bezeichnet, und außer dem Geschäft der Kinderzeugung war sie dem Athener nichts andres: die oberste Hausmagd. Der Mann hatte seine gymnastischen Übungen, seine öffentlichen Verhandlungen, wovon die Frau ausgeschlossen; er hatte außerdem oft noch Sklavinnen zu seiner Verfügung und zur Blütezeit Athens eine ausgedehnte und vom Staat wenigstens begünstigte Prostitution. Es war grade auf Grundlage dieser Prostitution, daß sich die einzigen griechischen Frauencharaktere entwickelten, die durch Geist und künstlerische Geschmacksbildung ebensosehr über das allgemeine Niveau der antiken Weiblichkeit hervorragen wie die Spartiatinnen durch den Charakter. Daß man aber erst Hetäre werden mußte, um Weib zu werden, das ist die strengste Verurteilung der athenischen Familie. Diese athenische Familie wurde im Lauf der Zeit das Vorbild, wonach nicht nur die übrigen Ionier, sondern auch mehr und mehr die sämtlichen Griechen des Inlands und der Kolonien ihre häuslichen Verhältnisse modelten. Aber trotz aller Abschließung und Bewachung fanden die Griechinnen oft genug Gelegenheit, ihre Männer zu täuschen. Diese, die sich geschämt hätten, irgendwelche Liebe für ihre Frauen zu verraten, amüsierten sich in allerlei Liebeshändeln mit Hetären; aber die Entwürdigung der Frauen rächte sich an den Männern und entwürdigte auch sie, bis sie versanken in die Widerwärtigkeit der Knabenliebe und ihre Götter entwürdigten wie sich selbst durch den Mythus von Ganymed. Das war der Ursprung der Monogamie, soweit wir ihn beim zivilisiertesten und am höchsten entwickelten Volk des Altertums verfolgen können. Sie war keineswegs eine Frucht der individuellen GeschlechtsKebe, mit der sie absolut nichts zu schaffen hatte, da die Ehen nach wie vor Konvenienzehen blieben. Sie war die erste Familienform, die nicht auf natürliche, son
dem auf ökonomische1 Bedingungen gegründet war2, nämlich auf den Sieg des Privateigentums über das ursprüngliche naturwüchsige Gemeineigentum. Herrschaft des Mannes in der Familie und Erzeugung von Kindern, die nur die seinigen sein konnten und die zu Erben seines Reichtums bestimmt waren - das allein waren die von den Griechen unumwunden ausgesprochenen ausschließlichen Zwecke der Einzelehe. Im übrigen war sie ihnen eine Last, eine Pflicht gegen die Götter, den Staat und die eignen Vorfahren, die eben erfüllt werden mußte. In Athen erzwang das Gesetz nicht nur die Verheiratung, sondern auch die Erfüllung eines Minimums der sogenannten ehelichen Pflichten von Seiten des Mannes.3 So tritt die Einzelehe keineswegs ein in die Geschichte als die Versöhnung von Mann und Weib, noch viel weniger als ihre höchste Form. Im Gegenteil. Sie tritt auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das andre, als Proklamation eines bisher in der ganzen Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlechter. In einem alten, 1846 von Marx und mir ausgearbeiteten, ungedruckten Manuskript finde ich: „Die erste Teilung der Arbeit ist die von Mann und Weib zur Kinderzeugung."'651 Und heute kann ich hinzusetzen: Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche. Die Einzelehe war ein großer geschichtlicher Fortschritt, aber zugleich eröffnet sie neben der Sklaverei und dem Privatreichtum jene bis heute dauernde Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern. Sie ist die Zellenform der zivilisierten Gesellschaft, an der wir schon die Natur der in dieser sich voll entfaltenden Gegensätze und Widersprüche studieren können. Die alte verhältnismäßige Freiheit des Geschlechtsverkehrs verschwand keineswegs mit dem Sieg der Paarungs- oder selbst der Einzelehe. „Das alte Ehesystem, auf engere Grenzen zurückgeführt durch das allmähliche Aussterben derPunaluagruppen, umgab immer noch die sich fortentwickelnde Familie und hing an ihren Schößen bis an die aufdämmernde Zivilisation hinan... es verschwand schließlich in der neuen Form des Hetärismus, die die Menschen bis in die Zivilisation hinein verfolgt, wie ein dunkler Schlagschatten, der auf der Familie ruht."'66' Unter Hetärismus versteht Morgan den neben der Einzelehe bestehenden außerehelichen geschlechtlichen Verkehr der Männer mit unverheirateten
1 (1884) gesellschaftliche - 2 (1884) endet hier der Satz - 3 (1884) fehlt der letzte Satz
Weibern, der bekanntlich während der ganzen Periode der Zivilisation in den verschiedensten Formen blüht und mehr und mehr zur offenen Prostitution wird.1 Dieser Hetärismus leitet sich ganz direkt ab aus der Gruppenehe, aus dem Preisgebungsopfer der Frauen, wodurch sie sich das Recht der Keuschheit erkauften. Die Hingebung für Geld war zuerst ein religiöser Akt, sie fand statt im Tempel der Liebesgöttin, und das Geld floß ursprünglich in den Tempelschatz. Die Hierodulen[671 der Anaitis in Armenien, der Aphrodite in Korinth, wie die den Tempeln attachierten religösen Tanzmädchen Indiens, die sog. Bajaderen (das Wort ist verstümmelt aus dem portugiesischen bailadeira, Tänzerin), waren die ersten Prostituierten. Die Preisgebung, ursprünglich Pflicht jeder Frau, wurde später durch diese Priesterinnen, in Stellvertretung für alle andern, allein ausgeübt. Bei andern Völkern leitet sich der Hetärismus her aus der den Mädchen vor der Ehe gestatteten Geschlechtsfreiheit - also ebenfalls Rest der Gruppenehe, nur auf anderm Weg uns überkommen. Mit dem Aufkommen der Eigentumsverschiedenheit, also schon auf der Oberstufe der Barbarei, tritt die Lohnarbeit sporadisch auf neben Sklavenarbeit, und gleichzeitig, als ihr notwendiges Korrelat, die gewerbsmäßige Prostitution freier Frauen neben der erzwungnen Preisgebung der Sklavin. So ist die Erbschaft, die die Gruppenehe der Zivilisation vermacht hat, eine doppelseitige, wie alles, was die Zivilisation hervorbringt, doppelseitig, doppelzüngig, in sich gespalten, gegensätzlich ist: hier die Monogamie, dort der Hetärismus mitsamt seiner extremsten Form, der Prostitution. Der Hetärismus ist eben eine gesellschaftliche Einrichtung wie jede andere; er setzt die alte Geschlechtsfreiheit fort zugunsten der Männer. In der Wirklichkeit nicht nur geduldet, sondern namentlich von den herrschenden Klassen flott mitgemacht, wird er in der Phrase verdammt. Aber in der Wirklichkeit trifft diese Verdammung keineswegs die dabei beteiligten Männer, sondern nur die Weiber: Sie werden geächtet und ausgestoßen, um so nochmals die unbedingte Herrschaft der Männer über das weibliche Geschlecht als gesellschaftliches Grundgesetz zu proklamieren. Hiermit entwickelt sich aber ein zweiter Gegensatz innerhalb der Monogamie selbst. Neben dem, sein Dasein durch den Hetärismus verschönernden Ehemann steht die vernachlässigte Gattin.2 Und man kann nicht die eine Seite des Gegensatzes haben ohne die andre, ebensowenig wie man noch einen ganzen Apfel in der Hand hat, nachdem man die eine Hälfte
1 (1884) fehlt in diesem Absatz der folgende Text bis zu den Worten: Der Hetärismus ist eben eine gesellschaftliche Einrichtung... - 2 (1884) fehlen die letzten beiden Sätze
gegessen. Trotzdem scheint dies die Meinung der Männer gewesen zu sein, bis ihre Frauen sie eines Bessern belehrten. Mit der Einzelehe treten zwei ständige gesellschaftliche Charakterfiguren auf, die früher unbekannt waren: der ständige Liebhaber der Frau und der Hahnrei. Die Männer hatten den Sieg über die Weiber errungen, aber die Krönung übernahmen großmütig die Besiegten. Neben der Einzelehe und dem Hetärismus wurde der Ehebruch eine unvermeidliche gesellschaftliche Einrichtung - verpönt, hart bestraft, aber ununterdrückbar. Die sichre Vaterschaft der Kinder beruhte nach wie vor höchstens auf moralischer Überzeugung, und um den unlöslichen Widerspruch zu lösen, dekretierte der Code Napoleon Art.312: »L'enfant con?u pendant le manage a pour pere le man; das während der Ehe empfangne Kind hat zum Vater - den Ehemann."
Das ist das letzte Resultat von dreitausend Jahren Einzelehe. So haben wir in der Einzelfamilie, in den Fällen, die ihrer geschichtlichen Entstehung treu bleiben und den durch die ausschließliche Herrschaft des Mannes ausgesprochnen Widerstreit von Mann und Weib klar zur Erscheinung bringen, ein Bild im kleinen derselben Gegensätze und Widersprüche, in denen sich die seit Eintritt der Zivilisation in Klassen gespaltne Gesellschaft bewegt, ohne sie auflösen und überwinden zu können. Ich spreche hier natürlich nur von jenen Fällen der Einzelehe, wo das eheliche Leben in Wirklichkeit nach Vorschrift des ursprünglichen Charakters der ganzen Einrichtung verläuft, wo die Frau aber gegen die Herrschaft des Mannes rebelliert. Daß nicht alle Ehen so verlaufen, weiß niemand besser als der deutsche Philister, der seine Herrschaft im Hause nicht besser zu wahren weiß als im Staat, und dessen Frau daher mit vollem Recht die Hosen trägt, deren er nicht wert ist. Dafür dünkt er sich aber auch weit erhaben über seinen französischen Leidensgenossen, dem, öfter als ihm selbst, weit Schlimmeres passiert. Die Einzelfamilie trat übrigens keineswegs überall und jederzeit in der klassisch-schroffen Form auf, die sie bei den Griechen hatte. Bei den Römern, die als künftige Welteroberer einen weiteren, wenn auch weniger feinen Blick hatten als die Griechen, war die Frau freier und geachteter. Der Römer glaubte die eheliche Treue durch die Gewalt über Leben und Tod seiner Frau hinlänglich verbürgt. Auch konnte die Frau hier ebensogut wie der Mann die Ehe freiwillig lösen. Aber der größte Fortschritt in der Entwicklung der Einzelehe geschah entschieden mit dem Eintritt der Deutschen in die Geschichte, und zwar weil bei ihnen, wohl infolge ihrer Armut, damals die Monogamie sich noch nicht vollständig aus der Paarungsehe ent
wickelt zu haben scheint. Wir schließen dies aus drei Umständen, die Tacitus erwähnt: Erstens galt bei großer Heilighaltung der Ehe - „sie begnügen sich mit einer Frau, die Weiber leben eingehegt durch Keuschheit"1681 dennoch Vielweiberei für die Vornehmen und Stammesführer, also ein Zustand, ähnlich dem der Amerikaner, bei denen Paarungsehe galt. Und zweitens konnte der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht erst kurz vorher gemacht worden sein, denn noch galt der Mutterbruder - der nächste männliche Gentilverwandte nach Mutterrecht - als fast ein näherer Verwandter denn der eigne Vater, ebenfalls entsprechend dem Standpunkt der amerikanischen Indianer, bei denen Marx, wie er oft sagte, den Schlüssel zum Verständnis unsrer eignen Urzeit gefunden. Und drittens waren die Frauen bei den Deutschen hochgeachtet und einflußreich auch auf öffentliche Geschäfte, was im direkten Gegensatz zur monogamischen Männerherrschaft steht. Fast alles Dinge, worin die Deutschen mit den Spartanern stimmen, bei denen, wie wir sahen, die Paarungsehe ebenfalls noch nicht vollständig überwunden war.1 Mit den Deutschen kam also auch in dieser Beziehung ein ganz neues Element zur Weltherrschaft. Die neue Monogamie, die sich nun auf den Trümmern der Römerwelt aus der Völkermischung entwickelte, kleidete die Männerherrschaft in mildere Formen und ließ den Frauen eine wenigstens äußerlich weit geachtetere und freiere Stellung, als das klassische Altertum sie je gekannt. Damit erst war die Möglichkeit gegeben, auf der sich aus der Monogamie - in ihr, neben ihr und gegen sie, je nachdem - der größte sittliche Fortschritt entwickeln konnte, den wir ihr verdanken: die moderne individuelle Geschlechtsliebe, die der ganzen früheren Welt unbekannt war. Dieser Fortschritt entsprang aber entschieden aus dem Umstand, daß die Deutschen noch in der Paarungsfamilie lebten, und die ihr entsprechende Stellung der Frau, soweit es anging, der Monogamie aufpfropften, keineswegs aber aus der sagenhaften, wunderbar sittenreinen Naturanlage der Deutschen, die sich darauf beschränkt, daß die Paarungsehe sich in der Tat nicht in den grellen sittlichen Gegensätzen bewegt wie die Monogamie. Im Gegenteil waren die Deutschen auf ihren Wanderzügen, besonders nach Südost zu den Steppennomaden am Schwarzen Meer, sittlich stark verkommen und hatten bei diesen außer ihren Reiterkünsten auch arge widernatürliche Laster angenommen, was Ammianus von den Taifalern und Prokop von den Herulem ausdrücklich bezeugt. Wenn aber die Monogamie von allen bekannten Familienformen die
1 (1884) fehlt der letzte Satz
jenige war, unter der allein sich die moderne Geschlechtsliebe entwickeln konnte, so heißt das nicht, daß sie sich ausschließlich oder nur vorwiegend in ihr, als Liebe der Ehegatten zueinander, entwickelte. Die ganze Natur der festen Einzelehe unter Mannesherrschaft schloß das aus. Bei allen geschichtlich aktiven, d.h. bei allen herrschenden Klassen blieb die Eheschließung, was sie seit der Paarungsehe gewesen, Sache der Konvenienz, die von den Eltern arrangiert wurde. Und die erste geschichtlich auftretende Form der Geschlechtsliebe als Leidenschaft, und als jedem Menschen (wenigstens der herrschenden Klassen) zukommende Leidenschaft, als höchste Form des Geschlechtstriebs - was gerade ihren spezifischen Charakter ausmacht -, diese ihre erste Form, die ritterliche Liebe des Mittelalters, war keineswegs eine eheliche Liebe. Im Gegenteil. In ihrer klassischen Gestalt, bei den Provenzalen, steuert sie mit vollen Segeln auf den Ehebruch los, und ihre Dichter feiern ihn. Die Blüte der provenzalischen Liebespoesie sind die Albas, deutsch Tagelieder. Sie schildern in glühenden Farben, wie der Ritter bei seiner Schönen - der Frau eines andern - im Bett liegt, während draußen der Wächter steht, der ihm zuruft, sobald das erste Morgengrauen (alba) aufsteigt, damit er noch unbemerkt entweichen kann; die Trennungsszene bildet dann den Gipfelpunkt. Die Nordfranzosen und auch die braven Deutschen nahmen diese Dichtungsart mit der ihr entsprechenden Manier der Ritterliebe ebenfalls an, und unser alter Wolfram von Eschenbach hat über denselben anzüglichen Stoff drei wunderschöne Tagelieder hinterlassen, die mir lieber sind als seine drei langen Heldengedichte. Die bürgerliche Eheschließung unserer Tage ist doppelter Art. In katholischen Ländern besorgen nach wie vor die Eltern dem jungen Bürgerssohn eine angemessene Frau, und die Folge davon ist natürlich die vollste Entfaltung des in der Monogamie enthaltnen Widerspruchs: üppiger Hetärismus auf seiten des Mannes, üppiger Ehebruch auf seiten der Frau. Die katholische Kirche hat wohl auch nur deswegen die Ehescheidung abgeschafft, weil sie sich überzeugt hatte, daß gegen den Ehebruch wie gegen den Tod kein Kräutlein gewachsen ist. In protestantischen Ländern dagegen ist es Regel, daß dem Bürgerssohn erlaubt wird, sich aus seiner Klasse eine Frau mit größerer oder geringerer Freiheit auszusuchen, wonach ein gewisser Grad von Liebe der Eheschließung zugrunde liegen kann und auch anstandshalber stets vorausgesetzt wird, was der protestantischen Heuchelei entspricht. Hier wird der Hetärismus des Mannes schläfriger betrieben und der Ehebruch der Frau ist weniger Regel. Da aber in jeder Art Ehe die Menschen bleiben, was sie vor der Ehe waren, und die Bürger protestan
tischer Länder meist Philister sind, so bringt es diese protestantische Monogamie im Durchschnitt der besten Fälle nur zur ehelichen Gemeinschaft einer bleiernen Langeweile, die man mit dem Namen Familienglück bezeichnet. Der beste Spiegel dieser beiden Heiratsmethoden ist der Roman, für die katholische Manier der französische, für die protestantische der deutsche1. In jedem von beiden „kriegt er sie": im deutschen der junge Mann das Mädchen, im französischen der Ehemann die Hörner. Welcher von beiden sich dabei schlechter steht, ist nicht immer ausgemacht. Weshalb auch dem französischen Bourgeois die Langeweile des deutschen Romans ebendenselben Schauder erregt wie die „Unsittlichkeit" des französischen Romans dem deutschen Philister. Obwohl neuerdings, seit „Berlin Weltstadt wird", der deutsche Roman anfängt, etwas weniger schüchtern in dem dort seit lange wohlbekannten Hetärismus und Ehebruch zu machen. In beiden Fällen aber wird die Heirat bedingt durch die Klassenlage der Beteiligten und ist insofern stets Konvenienzehe.2 Diese Konvenienzehe schlägt in beiden Fällen oft genug um in krasseste Prostitution - manchmal beider Teile, weit gewöhnlicher der Frau, die sich von der gewöhnlichen Kurtisane nur dadurch unterscheidet, daß sie ihren Leib nicht als Lohnarbeiterin zur Stückarbeit vermietet, sondern ihn ein für allemal in die Sklaverei verkauft. Und von allen Konvenienzehen gilt Fouriers Wort: „Wie in der Grammatik zwei Verneinungen eine Bejahung ausmachen, so gelten in der Heiratsmoral zwei Prostitutionen für eine Tugend."'69' Wirkliche Regel im Verhältnis zur Frau wird die Geschlechtsliebe und kann es nur werden unter den unterdrückten Klassen, also heutzutage im Proletariat - ob dies Verhältnis nun ein offiziell konzessioniertes oder nicht. Hier sind aber auch alle Grundlagen der klassischen Monogamie beseitigt. Hier fehlt alles Eigentum, zu dessen Bewahrung und Vererbung ja gerade die Monogamie und die Männerherrschaft geschaffen wurden, und hier fehlt damit auch jeder Antrieb, die Männerherrschaft geltend zu machen. Noch mehr, auch die Mittel fehlen; das bürgerliche Recht, das diese Herrschaft schützt, besteht nur für die Besitzenden und deren Verkehr mit den Proletariern; es kostet Geld und hat deshalb armutshalber keine Geltung für die Stellung des Arbeiters zu seiner Frau. Da entscheiden ganz andere persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse. Und vollends seitdem die große Industrie die Frau aus dem Hause auf den Arbeitsmarkt und in die
1 (1884) folgt: und schwedische - 2 (1884) fehlt der folgende Text bis zu dem Absatz: Wirkliche Regel im Verhältnis zur Frau ...
Fabrik versetzt hat und sie oft genug zur Ernährerin der Familie macht, ist dem letzten Rest der Männerherrschaft in der Proletarierwohnung aller Boden entzogen - es sei denn etwa noch ein Stück der seit Einführung der Monogamie eingerissenen Brutalität gegen Frauen. So ist die Familie des Proletariers keine monogamische im strengen Sinn mehr, selbst bei der leidenschaftlichsten Liebe und festesten Treue beider und trotz aller etwaigen geistlichen und weltlichen Einsegnung. Daher spielen auch die" ewigen Begleiter der Monogamie, Hetärismus und Ehebruch, hier nur eine fast verschwindende Rolle; die Frau hat das Recht der Ehetrennung tatsächlich wieder erhalten, und wenn mein sich nicht vertragen kann, geht man lieber auseinander. Kurz, die Proletarierehe ist monogam im etymologischen Sinn des Worts, aber durchaus nicht in seinem historischen Sinn.1 Unsre Juristen finden allerdings, daß der Fortschritt der Gesetzgebung den Frauen in steigendem Maß jeden Grund zur Klage entzieht. Die modernen zivilisierten Gesetzsysteme erkennen mehr und mehr an, erstens, daß die Ehe, um gültig zu sein, ein von beiden Teilen freiwillig eingegangner Vertrag sein muß, und zweitens, daß auch während der Ehe beide Teile einander mit gleichen Rechten und Pflichten gegenüberstehn sollen. Seien diese beiden Forderungen aber konsequent durchgeführt, so hätten die Frauen alles, was sie verlangen können. Diese echt juristische Argumentation ist genau dieselbe, womit der radikale republikanische Bourgeois den Proletarier ab- und zur Ruhe verweist. Der Arbeitsvertrag soll ein von beiden Teilen freiwillig eingegangner sein. Aber er gilt als für freiwillig eingegangen, sobald das Gesetz beide Teile auf dem Papier gleichstellt. Die Macht, die die verschiedne Klassenstellung dem einen Teil gibt, der Druck, den sie auf den andern Teil ausübt - die wirkliche ökonomische Stellung beider -, das geht das Gesetz nichts an. Und während der Dauer des Arbeitsvertrags sollen beide Teile wiederum gleichberechtigt sein, sofern nicht einer oder der andre ausdrücklich verzichtet hat. Daß die ökonomische Sachlage den Arbeiter zwingt, sogar auf den letzten Schein von Gleichberechtigung zu verzichten, dafür kann das Gesetz wiederum nichts. Mit Bezug auf die Ehe ist das Gesetz, selbst das fortgeschrittenste, vollauf befriedigt, sobald die Beteiligten ihre Freiwilligkeit formell zu Protokoll gegeben haben. Was hinter den juristischen Kulissen vorgeht, wo sich das wirkliche Leben abspielt, wie diese Freiwilligkeit zustande kommt, darum kann sich das Gesetz und der Jurist nicht kümmern. Und doch sollte hier 1 (1884) fehlt der folgende Text bis zum Absatz: Kehren wir indes zurück zu Morgan ... (S.83)
die einfachste Rechtsvergleichung dem Juristen zeigen, was es mit dieser Freiwilligkeit auf sich hat. In den Ländern, wo den Kindern ein Pflichtteil am elterlichen Vermögen gesetzlich gesichert ist, wo sie also nicht enterbt werden können - in Deutschland, in den Ländern französischen Rechts etc., sind die Kinder beim Eheschluß an die Einwilligung der Eltern gebunden. In den Ländern englischen Rechts, wo die elterliche Einwilligung kein gesetzliches Erfordernis des Eheschlusses, haben die Eltern auch volle Testierfreiheit über ihr Vermögen, können sie ihre Kinder nach Belieben enterben. Daß trotzdem und eben deshalb die Freiheit der Eheschließung in den Klassen, wo es was zu erben gibt, in England und Amerika, tatsächlich um kein Haar größer ist als in Frankreich und Deutschland, das ist doch klar. Nicht besser steht es mit der juristischen Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe. Die rechtliche Ungleichheit beider, die uns aus früheren Gesellschaftszuständen vererbt, ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung der ökonomischen Unterdrückung der Frau. In der alten kommunistischen Haushaltung, die viele Ehepaare und ihre Kinder umfaßte, war die den Frauen übergebne Führung des Haushalts ebensogut eine öffentliche, eine gesellschaftlich notwendige Industrie wie die Beschaffung der Nahrungsmittel durch die Männer. Mit der patriarchalischen Familie, und noch mehr mit der monogamen Einzelfamilie wurde dies anders. Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein Privatdienst; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt. Erst die große Industrie unsrer Zeit hat ihr - und auch nur der Proletarierin - den Weg zur gesellschaftlichen Produktion wieder eröffnet. Aber so, daß, wenn sie ihre Pflichten im Privatdienst der Familie erfüllt, sie von der öffentlichen Produktion ausgeschlossen bleibt und nichts erwerben kann; und daß, wenn sie sich an der öffentlichen Industrie beteiligen und selbständig erwerben will, sie außerstand ist, Familienpflichten zu erfüllen. Und wie in der Fabrik, so geht es der Frau in allen Geschäftszweigen, bis in die Medizin und Advokatur hinein. Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offne oder verhüllte Haussldaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. Der Mann muß heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen, und das gibt ihm eine Herrscherstellung, die keiner juristischen Extrabevorrechtung bedarf. Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat. In der industriellen Welt tritt aber der spezifische Charakter der auf demProletariatlastenden ökonomischen Unter
drückung erst dann in seiner vollen Schärfe hervor, nachdem alle gesetzlichen Sondervorrechte der Kapitalistenklasse beseitigt und die volle juristische Gleichberechtigung beider Klassen hergestellt worden; die demokratische Republik hebt den Gegensatz beider Klassen nicht auf, sie bietet im Gegenteil erst den Boden, worauf er ausgefochten wird. Und ebenso wird auch der eigentümliche Charakter der Herrschaft des Mannes über die Frau in der modernen Familie und die Notwendigkeit, wie die Art, der Herstellung einer wirklichen gesellschaftlichen Gleichstellung beider erst dann in grelles Tageslicht treten, sobald beide juristisch vollkommen gleichberechtigt sind. Es wird sich dann zeigen, daß die Befreiung der Frau zur ersten Vorbedingung hat die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie, und daß dies wieder erfordert die Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft.
Wir haben demnach drei Hauptformen der Ehe, die im ganzen und großen den drei Hauptstadien der menschlichen Entwicklung entsprechen. Für die Wildheit die Gruppenehe, für die Barbarei die Paarungsehe, für die Zivilisation die Monogamie, ergänzt durch Ehebruch und Prostitution. Zwischen Paarungsehe und Monogamie schiebt sich ein, auf der Oberstufe der Barbarei, das Kommando der Männer über Sklavinnen und die Vielweiberei. Wie unsre ganze Darstellung bewiesen, ist der Fortschritt, der sich in dieser Reihenfolge aufzeigt, an die Eigentümlichkeit geknüpft, daß den Frauen die geschlechtliche Freiheit der Gruppenehe mehr und mehr entzogen wird, den Männern aber nicht. Und wirklich besteht die Gruppenehe für die Männer tatsächlich bis heute fort. Was bei der Frau ein Verbrechen ist und schwere gesetzliche und gesellschaftliche Folgen nach sich zieht, das gilt beim Mann für ehrenvoll oder doch schlimmstenfalls als ein leichter moralischer Makel, den man mit Vergnügen trägt. Je mehr aber der altherkömmliche Hetärismus in unsrer Zeit durch die kapitalistische Warenproduktion verändert und ihr angepaßt wird, je mehr er sich in unverhüllte Prostitution verwandelt, desto demoralisierender wirkt er. Und zwar demoralisiert er die Männer noch weit mehr als die Frauen. Die Prostitution degradiert unter den Frauen nur die Unglücklichen, die ihr verfallen, und auch diese bei weitem nicht in dem Grad, wie gewöhnlich geglaubt wird. Dagegen erniedrigt sie den Charakter der gesamten Männerwelt. So ist namentlich ein langer Bräutigamsstand in neun Fällen aus zehn eine förmliche Vorschule der ehelichen Untreue.
Nun gehn wir einer gesellschaftlichen Umwälzung entgegen, wo die bisherigen ökonomischen Grundlagen der Monogamie ebenso sicher verschwinden werden wie die ihrer Ergänzung, der Prostitution. Die Monogamie entstand aus der Konzentrierung größerer Reichtümer in einer Hand und zwar der eines Mannes - und aus dem Bedürfnis, diese Reichtümer den Kindern dieses Mannes und keines andern zu vererben. Dazu war Monogamie der Frau erforderlich, nicht des Mannes, so daß diese Monogamie der Frau der offnen oder verdeckten Polygamie des Mannes durchaus nicht im Wege stand. Die bevorstehende gesellschaftliche Umwälzung wird aber durch Verwandlung wenigstens des unendlich größten Teils der dauernden, vererbbaren Reichtümer - der Produktionsmittel - in gesellschaftliches Eigentum diese ganze Vererbungssorge auf ein Minimum reduzieren. Da nun die Monogamie aus ökonomischen Ursachen entstanden, wird sie verschwinden, wenn diese Ursachen verschwinden? Man könnte nicht mit Unrecht antworten: Sie wird so wenig verschwinden, daß sie vielmehr erst vollauf verwirklicht werden wird. Denn mit der Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum verschwindet auch die Lohnarbeit, das Proletariat, also auch die Notwendigkeit für eine gewisse - statistisch berechenbare - Zahl von Frauen, sich für Geld preiszugeben. Die Prostitution verschwindet, die Monogamie, statt unterzugehn, wird endlich eine Wirklichkeit - auch für die Männer. Die Lage der Männer wird also jedenfalls sehr verändert. Aber auch die der Frauen, aller Frauen, erfährt bedeutenden Wechsel. Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche. Damit fällt die Sorge weg wegen der „Folgen", die heute das wesentlichste gesellschaftliche - moralische wie ökonomische - Moment bildet, das die rücksichtslose Hingabe eines Mädchens an den geliebten Mann verhindert. Wird das nicht Ursache genug sein zum allmählichen Aufkommen eines ungenierteren Geschlechtsverkehrs und damit auch einer laxeren öffentlichen Meinung von wegen jungfräulicher Ehre und weiblicher Schande? Und endlich, haben wir nicht gesehn, daß in der modernen Welt Monogamie und Prostitution zwar Gegensätze, aber untrennbare Gegensätze, Pole desselben Gesellschaftszustandes sind? Kann die Prostitution verschwinden, ohne die Monogamie mit sich in den Abgrund zu ziehn?
Hier tritt ein neues Moment in Wirksamkeit, ein Moment, das zur Zeit, als die Monogamie sich ausbildete, höchstens im Keim bestand: die individuelle Geschlechtsliebe. Vor dem Mittelalter kann von individueller Geschlechtsliebe nicht die Rede sein. Daß persönliche Schönheit, vertrauter Umgang, gleichgestimmte Neigungen etc. bei Leuten verschiednen Geschlechts das Verlangen zu geschlechtlichem Verkehr erweckt haben, daß es den Männern wie den Frauen nicht total gleichgültig war, mit wem sie in dies intimste Verhältnis traten, das ist selbstredend. Aber von da bis zu unsrer Geschlechtsliebe ist noch unendlich weit. Im ganzen Altertum werden die Ehen von den Eltern für die Beteiligten geschlossen, und diese finden sich ruhig hinein. Das bißchen eheliche Liebe, das das Altertum kennt, ist nicht etwa subjektive Neigung, sondern objektive Pflicht, nicht Grund, sondern Korrelat der Ehe. Liebesverhältnisse im modernen Sinne kommen im Altertum nur vor außerhalb der offiziellen Gesellschaft. Die Hirten, deren Liebesfreuden und Leiden Theokrit und Moschos uns besingen, der „Daphnis und Chloe" des Longos[701, sind lauter Sklaven, die keinen Teil haben am Staat, der Lebenssphäre des freien Bürgers. Außer bei Sklaven aber finden wir Liebeshändel nur als Zersetzungsprodukte der untergehenden alten Welt, und mit Frauen, die ebenfalls außerhalb der offiziellen Gesellschaft stehn, mit Hetären, also mit Fremden oder Freigelassenen: in Athen vom Vorabend seines Untergangs an, in Rom zur Kaiserzeit. Kamen Liebeshändel wirklich vor zwischen freien Bürgern und Bürgerinnen, so nur von wegen des Ehebruchs. Und dem klassischen Liebesdichter des Altertums, dem alten Anakreon, war die Geschlechtsliebe, in unserm Sinne, so sehr Wurst, daß ihm sogar das Geschlecht des geliebten Wesens Wurst war. Unsre Geschlechtsliebe unterscheidet sich wesentlich vom einfachen geschlechtlichen Verlangen, dem Eros, der Alten. Erstens setzt sie beim geliebten Wesen Gegenliebe voraus; die Frau steht insoweit dem Manne gleich, während sie beim antiken Eros keineswegs immer gefragt wird. Zweitens hat die Geschlechtsliebe einen Grad von Intensität und Dauer, der beiden Teilen Nichtbesitz und Trennung als ein hohes, wo nicht das höchste, Unglück erscheinen läßt; um sich gegenseitig besitzen zu können, spielen sie hohes Spiel, bis zum Einsatz des Lebens, was im Altertum höchstens beim Ehebruch vorkam. Und endlich entsteht ein neuer sittlicher Maßstab für die Beurteilung des geschlechtlichen Umgangs; man fragt nicht nur: war er ehelich oder außerehelich, sondern auch: entsprang er der Liebe und Gegenliebe oder nicht? Es versteht sich, daß es diesem neuen Maßstab in der feudalen oder bürgerlichen Praxis nicht besser ergeht als allen
andern Maßstäben der Moral - man setzt sich über ihn hinweg. Aber es ergeht ihm auch nicht schlechter. Er wird ebensogut wie sie anerkannt - in der Theorie, auf dem Papier. Und mehr kann er vorderhand nicht verlangen. Wo das Altertum abgebrochen mit seinen Anläufen zur Geschlechtsliebe, da setzt das Mittelalter wieder an: beim Ehebruch. Wir haben die ritterliche Liebe bereits geschildert, die die Tagelieder erfand. Von dieser Liebe, die die Ehe brechen will, bis zu der, die sie gründen soll, ist noch ein weiter Weg, den das Rittertum nie vollauf zurücklegt. Selbst wenn wir von den frivolen Romanen zu den tugendsamen Deutschen übergehn, finden wir im „Nibelungenlied", daß Kriemhild zwar im stillen nicht minder in Siegfried verliebt ist als er in sie, daß sie aber dennoch auf Gunthers Anzeige, er habe sie einem Ritter zugeschworen, den er nicht nennt, einfach antwortet:
„ Ihr kraucht mich nicht zu bitten; wie Ihr mir gebietet, so will ich immer sein; den Ihr, Herr, mir gebt zum Mann, dem will ich mich gern verloben."
Es fällt ihr gar nicht in den Sinn, daß ihre Liebe hier überhaupt in Betracht kommen kann. Gunther wirbt um Brünhild, Etzel um Kriemhild, ohne sie je gesehn zu haben; ebenso in der „Gutrun"1711 Siegebant von Irland um die norwegische Ute, Hetel von Hegelingen um Hilde von Irland, endlich Siegfried von Morland, Hartmut von Ormanien und Herwig von Seeland um Gutrun; und hier erst kommt es vor, daß diese sich freiwillig für letzteren entscheidet. In der Regel wird die Braut des jungen Fürsten ausgesucht von dessen Eltern, wenn sie noch leben, sonst von ihm selbst unter Beirat der großen Lehenträger, die in allen Fällen ein gewichtiges Wort dabei mitsprechen. Es kann auch gar nicht anders sein. Für den Ritter oder Baron wie für den Landesfürsten selbst ist die Verheiratung ein politischer Akt, eine Gelegenheit der Machtvergrößerung durch neue Bündnisse; das Interesse des Hauses hat zu entscheiden, nicht das Belieben des einzelnen. Wie soll da die Liebe in die Lage kommen, das letzte Wort zu sprechen über den Eheschluß? Nicht anders mit dem Zunftbürger der mittelalterlichen Städte. Gerade die ihn schützenden Privilegien, die verklausulierten Zunftordnungen, die verkünstelten Grenzlinien, die ihn gesetzlich schieden, hier von den andern Zünften, dort von seinen eignen Zunftgenossen, da von seinen Gesellen und Lehrlingen, zogen den Kreis schon eng genug, aus dem er sich eine passende Gattin suchen konnte. Und welche unter ihnen die passendste war, das entschied unter diesem verwickelten System unbedingt nicht sein individuelles Belieben, sondern das Familieninteresse.
So blieb also in der unendlichen Mehrzahl der Fälle der Eheschluß bis zum Ende des Mittelalters, was er von Anfang an gewesen, eine Sache, die nicht vpn den Beteiligten entschieden wurde. Im Anfang kam man bereits verheiratet auf die Welt - verheiratet mit einer ganzen Gruppe des andern Geschlechts. In den späteren Formen der Gruppenehe fand wahrscheinlich ein ähnliches Verhältnis statt, nur unter stets wachsender Verengerung der Gruppe. In der Paarungsehe ist es Regel, daß die Mütter die Ehen ihrer Kinder verabreden; auch hier entscheiden Rücksichten auf neue Verwandtschaf tsbande, die dem jungen Paar eine stärkere Stellung in Gens und Stamm verschaffen sollen. Und als mit dem Uberwiegen des Privateigentums über das Gemeineigentum und mit dem Interesse an der Vererbung das Vaterrecht und die Monogamie zur Herrschaft kamen, da wurde der Eheschluß erst recht abhängig von ökonomischen Rücksichten. Die Form der Kaufehe verschwindet, die Sache wird in stets steigendem Maß durchgeführt, so daß nicht nur die Frau, sondern auch der Mann einen Preis erhält - nicht nach seinen persönlichen Eigenschaften, sondern nach seinem Besitz. Daß die gegenseitige Neigung der Beteiligten der alles andre überwiegende Grund des Eheschlusses sein sollte, das war in der Praxis der herrschenden Klassen unerhört geblieben von Anfang an; so etwas kam vor höchstens in der Romantik oder - bei den unterdrückten Klassen, die nicht zählten. Das war der Zustand, den die kapitalistische Produktion vorfand, als sie, seit dem Zeitalter der geographischen Entdeckungen, durch den Welthandel und die Manufaktur sich anschickte zur Weltherrschaft. Man sollte meinen, dieser Modus der Eheschließung habe ihr ausnehmend gepaßt, und so war es auch. Und dennoch - die Ironie der Weltgeschichte ist unergründlich - war sie es, die die entscheidende Bresche in ihn legen mußte. Indem sie alle Dinge in Waren verwandelte, löste sie alle überkommenen, altherkömmlichen Verhältnisse auf, setzte an die Stelle der ererbten Sitte, des historischen Rechts, den Kauf und Verkauf, den „freien" Vertrag; wie denn der englische Jurist H.S.Maine1721 glaubte eine ungeheure Entdeckung gemacht zu haben, als er sagte, unser ganzer Fortschritt gegen frühere Epochen bestehe darin, daß wir gekpmmen seien from status to contract, von erblich überkommenen zu freiwillig kontrahierten Zuständen, was freilich schon im „Kommunistischen Manifest"1731 stand, soweit es richtig ist. Zum Vertragschließen gehören aber Leute, die frei über ihre Personen, Handlungen und Besitztümer verfügen können und die einander gleichberechtigt gegenüberstehn. Diese „freien" und „gleichen" Leute zu schaffen,
war grade eine der Hauptarbeiten der kapitalistischen Produktion. Geschah dies auch im Anfang noch in nur halbbewußter, obendrein religiös verkleideter Weise, so stand doch von der lutherischen und calvinischen Reformation an der Satz fest, daß der Mensch nur dann für seine Handlungen vollauf verantwortlich sei, wenn er sie in voller Freiheit des Willens begangen, und daß es sittliche Pflicht sei, Widerstand zu leisten gegen jeden Zwang zu unsittlicher Tat. Wie reimte sich dies aber mit der bisherigen Praxis der Eheschließung? Die Ehe war nach bürgerlicher Auffassung ein Vertrag, ein Rechtsgeschäft, und zwar das wichtigste von allen, weil es über Körper und Geist von zwei Menschen auf Lebenszeit Verfügung traf. Es wurde damals zwar formell freiwillig geschlossen; ohne das Jawort der Beteiligten ging es nicht. Aber man wußte nur zu gut, wie das Jawort zustande kam und wer die eigentlichen Eheschließer waren. Wenn aber zu allen andern Verträgen wirkliche Freiheit der Entschließung gefordert wurde, warum nicht zu diesem? Hatten die zwei jungen Leute, die verkuppelt werden sollten, nicht auch das Recht, über sich selbst, über ihren Leib und dessen Organe frei zu verfügen? War nicht die Geschlechtsliebe durch das Rittertum in die Mode gekommen und war, gegenüber der ritterlichen Ehebruchsliebe, nicht die Liebe der Ehegatten ihre richtige bürgerliche Form? Wenn es aber Pflicht der Eheleute, einander zu lieben, war es nicht ebensosehr Pflicht der Liebenden, einander zu heiraten und niemand anders? Stand dies Recht der Liebenden nicht höher als das Recht der Eltern, Verwandten und sonstigen hergebrachten Heiratsmakler und Ehekuppler? Brach das Recht der freien persönlichen Prüfung ungeniert in Kirche und Religion ein, wie sollte es stehenbleiben vor dem unerträglichen Anspruch der älteren Generation, über Leib, Seele, Vermögen, Glück und Unglück der jüngeren zu verfügen? Diese Fragen mußten aufgeworfen werden zu einer Zeit, die alle alten Bande der Gesellschaft auflockerte und alle ererbten Vorstellungen ins Wanken brachte. Die Welt war mit einem Schlage fast zehnmal größer geworden; statt eines Quadranten einer Halbkugel, lag jetzt die ganze Erdkugel vor dem Blick der Westeuropäer, die sich beeilten, die andern sieben Quadranten in Besitz zu nehmen. Und wie die alten engen Heimatsschranken, so fielen auch die tausendjährigen Schranken der mittelalterlichen vorgeschriebnen Denkweise. Dem äußern wie dem innern Auge des Menschen öffnete sich ein unendlich weiterer Horizont. Was galt die Wohlmeinung der Ehrbarkeit, was das durch Geschlechter vererbte ehrsame Zunftprivilegium dem jungen Mann, den die Reichtümer Indiens, die Gold- und Silberminen Mexikos und Potosis anlockten. Eis war die fahrende Ritterzeit
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des Bürgertums; sie hatte auch ihre Romantik und ihre Liebesschwärmerei, aber auf bürgerlichem Fuß und mit in letzter Instanz bürgerlichen Zielen. So geschah es, daß das aufkommende Bürgertum, namentlich der protestantischen Länder, wo am meisten am Bestehenden gerüttelt wurde, auch für die Ehe die Freiheit der Vertragschließung mehr und mehr anerkannte und in der oben geschilderten Weise durchführte. Die Ehe blieb Klassenehe, aber innerhalb der Klasse wurde den Beteiligten ein gewisser Grad von Freiheit der Wahl zugestanden. Und auf demPapier, in der moralischen Theorie wie in der poetischen Schilderung, stand nichts unerschütterlicher fest, als daß jede Ehe unsittlich, die nicht auf gegenseitiger Geschlechtsliebe und wirklich freier Übereinkunft der Gatten beruht. Kurzum, die Liebesehe war proklamiert als Menschenrecht, und zwar nicht nur als droit de Thomme1, sondern auch ausnahmsweise als droit de la femme2. Dies Menschenrecht unterschied sich aber in einem Punkt von allen übrigen sogenannten Menschenrechten. Während diese in der Praxis auf die herrschende Klasse, die Bourgeoisie, beschränkt blieben und der unterdrückten Klasse, dem Proletariat, direkt oder indirekt verkümmert wurden, bewährt sich hier wieder die Ironie der Geschichte. Die herrschende Klasse bleibt beherrscht von den bekannten ökonomischen Einflüssen und weist daher nur in Ausnahmefällen wirklich frei geschlossene Ehen auf, während diese bei der beherrschten Klasse, wie wir sahen, die Regel sind. Die volle Freiheit der Eheschließung kann also erst dann allgemein durchgeführt werden, wenn die Beseitigung der kapitalistischen Produktion und der durch sie geschaffnen Eigentumsverhältnisse alle die ökonomischen Nebenrücksichten entfernt hat, die jetzt noch einen so mächtigen Einfluß auf die Gatten wähl ausüben. Dann bleibt eben kein andres Motiv mehr als die gegenseitige Zuneigung. Da nun die Geschlechtsliebe ihrer Natur nach ausschließlich ist - obwohl sich diese Ausschließlichkeit heutzutage nur in der Frau durchweg verwirklicht -, so ist die auf Geschlechtsliebe begründete Ehe ihrer Natur nach Einzelehe. Wir haben gesehn, wie recht Bachofen hatte, wenn er den Fortschritt von der Gruppenehe zur Einzelehe vorwiegend als das Werk der Frauen ansah; nur der Fortgang von der Paarungsehe zur Monogamie kommt auf Rechnung der Männer; und er bestand, historisch, wesentlich in einer Verschlechterung der Stellung der Frauen und einer Erleichterung der Untreue der Männer. Fallen nun noch die ökonomischen Rücksichten weg, infolge deren die Frauen sich diese gewohnheitsmäßige Untreue der
1 Recht des Mannes - 2 Recht der Frau
Männer gefallen ließen - die Sorge um ihre eigne Existenz und noch mehr die um die Zukunft der Kinder -, so wird die damit erreichte Gleichstellung der Frau aller bisherigen Erfahrung nach in unendlich stärkerem Maß dahin wirken, daß die Männer wirklich monogam werden, als dahin, daß die Frauen polyandrisch. Was aber von der Monogamie ganz entschieden wegfallen wird, das sind alle die Charaktere, die ihr durch ihr Entstehn aus den Eigentumsverhältnissen aufgedrückt wurden, und diese sind erstens die Vorherrschaft des Mannes und zweitens die Unlösbarkeit. Die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe ist einfache Folge seiner ökonomischen Vorherrschaft und fällt mit dieser von selbst. Die Unlösbarkeit der Ehe ist teils Folge der ökonomischen Lage, unter der die Monogamie entstand, teils Tradition aus der Zeit, wo der Zusammenhang dieser ökonomischen Lage mit der Monogamie noch nicht recht verstanden und religiös outriert wurde. Sie ist schon heute tausendfach durchbrochen. Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die Liebe fortbesteht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechtsliebe ist aber nach den Individuen sehr verschieden, namentlich bei den Männern, und ein positives Aufhören der Zuneigung, oder ihre Verdrängung durch eine neue leidenschaftliche Liebe, macht die Scheidung für beide Teile wie für die Gesellschaft zur Wohltat. Nur wird man den Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozesses zu waten. Was wir also heutzutage vermuten können über die Ordnung der Geschlechtsverhältnisse nach der bevorstehenden Wegfegung der kapitalistischen Produktion, ist vorwiegend negativer Art, beschränkt sich meist auf das, was wegfällt. Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Männern, die nie in ihrem Leben in den Fall gekommen sind, für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen andern Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, daß sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis und ihre danach abgemeßne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen - Punktum. Kehren wir indes zurück zu Morgan, von dem wir uns ein beträchtliches entfernt haben. Die geschichtliche Untersuchung der während der Zivilisationsperiode entwickelten gesellschaftlichen Institutionen geht über den
Rahmen seines Buchs hinaus. Die Schicksale der Monogamie während dieses Zeitraums beschäftigen ihn daher nur ganz kurz. Auch er sieht in der Weiterbildung der monogamen Familie einen Fortschritt, eine Annäherung an die volle Gleichberechtigung der Geschlechter, ohne daß er dies Ziel jedoch für erreicht hält. Aber, sagt er, „wenn die Tatsache anerkannt wird, daß die Familie vier Formen nacheinander durchgemacht hat und sich jetzt in einer fünften befindet, so entsteht die Frage, ob diese Form für die Zukunft von Dauer sein kann. Die einzig mögliche Antwort ist die, daß sie fortschreiten muß, wie die Gesellschaft fortschreitet, sich verändern im Maß, wie die Gesellschaft sich verändert, ganz wie bisher. Sie ist das Geschöpf des Gesellschaftssystems und wird seinen Bildimgsstand widerspiegeln. Da die monogame Familie sich verbessert hat seit dem Beginn der Zivilisation, und sehr merklich in der modernen Zeit, so kann man mindestens vermuten, daß sie weiterer Vervollkommnung fähig, bis die Gleichheit beider Geschlechter erreicht ist. Sollte in entfernter Zukunft die monogame Familie nicht imstande sein, die Ansprüche der Gesellschaft zu erfüllen, so ist unmöglich vorherzusagen, von welcher Beschaffenheit ihre Nachfolgerin sein wird."'741
III
Die irokesische Gens
Wir kommen jetzt zu einer andern Entdeckung Morgans, die mindestens von derselben Wichtigkeit ist wie die Rekonstruktion der Urfamilienform aus den Verwandtschaftssystemen. Der Nachweis, daß die durch Tiernamen bezeichneten Geschlechtsverbände innerhalb eines Stammes amerikanischer Indianer wesentlich identisch sind mit den genea der Griechen, den gentes der Römer; daß die amerikanische Form die ursprüngliche, die griechischrömische die spätere, abgeleitete ist; daß die ganze Gesellschaftsorganisation der Griechen und Römer der Urzeit in Gens, Phratrie und Stamm ihre getreue Parallele findet in der amerikanisch-indianischen; daß die Gens eine allen Barbaren bis zu ihrem Eintritt in die Zivilisation, und selbst noch nachher, gemeinsame Einrichtung ist (soweit unsere Quellen bis jetzt reichen) - dieser Nachweis hat mit einem Schlag die schwierigsten Partien der ältesten griechischen und römischen Geschichte aufgeklärt und uns gleichzeitig über die Grundzüge der Gesellschaftsverfassung der Urzeit vor Einführung des Staats - ungeahnte Aufschlüsse gegeben. So einfach die Sache auch aussieht, sobald man sie einmal kennt, so hat Morgan sie doch erst in der letzten Zeit entdeckt; in seiner vorhergehenden, 1871 erschienenen Schrift[46] war er noch nicht hinter dies Geheimnis gekommen, dessen Enthüllung seitdem die sonst so zuversichtlichen englischen Urhistoriker für eine Zeitlang1 mäuschenstill gemacht hat. Das lateinische Wort gens, welches Morgan allgemein für diesen Geschlechtsverband anwendet, kommt wie das griechische gleichbedeutende genos von der allgemein-arischen Wurzel gan (deutsch, wo nach der Regel k für arisches g stehen muß, kan), welche erzeugen bedeutet. Gens, genos, sanskrit dschanas, gotisch (nach der obigen Regel) kuni, altnordisch und angelsächsisch kyn, englisch kin, mittelhochdeutsch künne bedeuten gleich
1 (1884) fehlt: für eine Zehlang
mäßig Geschlecht, Abstammung. Gens im Lateinischen, genos im Griechischen, wird aber speziell für jenen Geschlechtsverband gebraucht, der sich gemeinsamer Abstammung (hier von einem gemeinsamen Stammvater) rühmt und durch gewisse gesellschaftliche und religiöse Einrichtungen zu einer besondern Gemeinschaft verknüpft ist, dessen Entstehung und Natur trotzdem allen unsern Geschichtschreibern bis jetzt dunkel blieb. Wir haben schon oben, bei der Punaluafamilie, gesehn, was die Zusammensetzung einer Gens in der ursprünglichen Form ist. Sie besteht aus allen Personen, die vermittelst der Punaluaehe und nach den in ihr mit Notwendigkeit herrschenden Vorstellungen die anerkannte Nachkommenschaft einer bestimmten einzelnen Stammutter, der Gründerin der Gens, bilden. Da in dieser Familienform die Vaterschaft ungewiß, gilt nur weibliche Linie. Da die Brüder ihre Schwestern nicht heiraten dürfen, sondern nur Frauen andrer Abstammung, so fallen die mit diesen fremden Frauen erzeugten Kinder nach Mutterrecht außerhalb der Gens. Es bleiben also nur die Nachkommen der Töchter jeder Generation innerhalb des Geschlechtsverbandes; die der Söhne gehn über in die Gentes ihrer Mütter. Was wird nun aus dieser Blutsverwandtschaftsgruppe, sobald sie sich als besondre Gruppe, gegenüber ähnlichen Gruppen innerhalb eines Stammes, konstituiert? Als klassische Form dieser ursprünglichen Gens nimmt Morgan die der Irokesen, speziell des Senekastammes. Bei diesem gibt es acht Gentes, nach Tieren benannt: l.Wolf, 2. Bär, 3. Schildkröte, 4. Biber, 5. Hirsch, 6. Schnepfe, 7. Reiher, 8. Falke. In jeder Gens herrscht folgender Brauch: 1. Sie erwählt ihren Sachem (Friedensvorsteher) und Häuptling (Kriegs^ anführer). Der Sachem muß aus der Gens selbst gewählt werden, und sein Amt war erblich in ihr, insofern es bei Erledigung sofort neu besetzt werden mußte; der Kriegsanführer konnte auch außerhalb der Gens gewählt werden und zeitweise ganz fehlen. Zum Sachem wurde nie der Sohn des vorigen gewählt, da bei den Irokesen Mutterrecht herrschte, der Sohn also einer andern Gens angehörte; wohl aber und oft der Bruder oder Schwestersohn. Bei der Wahl stimmten alle mit, Männer und Weiber. Die Wahl mußte aber von den übrigen sieben Gentes bestätigt werden, und dann erst wurde der Gewählte feierlich eingesetzt, und zwar durch den gemeinsamen Rat des ganzen Irokesenbundes. Die Bedeutung hiervon wird sich später zeigen. Die Gewalt des Sachem innerhalb des Gens war väterlich, rein moralischer Natur; Zwangsmittel hatte er nicht. Daneben war er von Amts wegen Mitglied des Stammesrats der Senekas wie des Bundesrats der Gesamtheit der Irokesen. Der Kriegshäuptling hatte nur auf Kriegszügen etwas zu befehlen.
2. Sie setzt den Sachem und Kriegshäuptling nach Belieben ab. Dies geschieht wieder von Männern und Weibern zusammen. Die Abgesetzten sind nachher einfache Krieger wie die andern .Privatpersonen .Der Stammesrat kann übrigens auch Sachems absetzen, selbst gegen den Willen der Gens. 3. Kein Mitglied darf innerhalb der Gens heiraten. Dies ist die Grundregel der Gens, das Band, das sie zusammenhält; es ist der negative Ausdruck der sehr positiven Blutsverwandtschaft, kraft deren die in ihr einbegriffenen Individuen erst eine Gens werden. Durch die Entdeckung dieser einfachen Tatsache hat Morgan die Natur der Gens zum erstenmal enthüllt. Wie wenig die Gens bisher verstanden wurde, beweisen die früheren Berichte über Wilde und Barbaren, wo die verschiedenen Körperschaften, aus denen die Gentilordnung sich zusammensetzt, unbegriffen und ununterschieden als Stamm, Clan, Thum usw. durcheinandergeworfen wurden, und von diesen zuweilen gesagt wird, daß die Heirat innerhalb einer solchen Körperschaft verboten sei. Damit war denn die rettungslose Konfusion gegeben, in der Herr MacLennan als Napoleon auftreten und Ordnung schaffen konnte, durch den Machtspruch: Alle Stämme teilen sich in solche, innerhalb deren die Ehe verboten ist (exogame) und solche, in denen sie erlaubt (endogame). Und nachdem er so die Sache erst recht gründlich verfahren, konnte er sich in den tiefsinnigsten Untersuchungen ergehen, welche von seinen beiden abgeschmackten Klassen die ältere sei: die Exogamie oder die Endogamie. Mit der Entdeckung der auf Blutsverwandtschaft, und daraus hervorgehender Unmöglichkeit der Ehe unter ihren Mitgliedern, begründeten Gens hörte dieser Unsinn von selbst auf. - Es ist selbstverständlich, daß auf der Stufe, auf der wir die Irokesen vorfinden, das Eheverbot innerhalb der Gens unverbrüchlich eingehalten wird. 4. Das Vermögen Verstorbner fiel an die übrigen Gentilgenossen, es mußte in der Gens bleiben. Bei der Unbedeutendheit der Gegenstände, die ein Irokese hinterlassen konnte, teilten sich die nächsten Gentilverwandten in die Erbschaft; starb ein Mann, dann seine leiblichen Brüder und Schwestern und der Mutterbruder; starb eine Frau, dann ihre Kinder und leiblichen Schwestern, nicht aber ihre Brüder. Ebendeshalb konnten Mann und Frau nicht voneinander erben, oder die Kinder vom Vater. 5. Die Gentilgenossen schuldeten einander Hülfe, Schutz und namentlich Beistand zur Rache für Verletzung durch Fremde. Der einzelne verließ sich für seine Sicherheit auf den Schutz der Gens, und konnte es; wer ihn verletzte, verletzte die ganze Gens. Hieraus, aus den Blutbanden der Gens, entsprang die Verpflichtung zur Blutrache, die von den Irokesen unbedingt
anerkannt wurde. Erschlug ein Gentilfremder einen Gentilgenossen, so war die ganze Gens des Getöteten zur Blutrache verpflichtet. Zuerst versuchte man Vermittlung; die Gens des Töters hielt Rat und machte dem Rat der Gens des Getöteten Beilegungsanträge, meist Ausdrücke des Bedauerns und bedeutende Geschenke anbietend. Wurden diese angenommen, war die Sache erledigt. Im andern Fall ernannte die verletzte Gens einen oder mehrere Rächer, die den Töter zu verfolgen und zu erschlagen verpflichtet waren. Geschah dies, so hatte die Gens des Erschlagnen kein Recht, sich zu beklagen, der Fall war ausgeglichen. 6. Die Gens hat bestimmte Namen oder Reihen von Namen, die im ganzen Stamm nur sie gebrauchen darf, so daß der Name des einzelnen zugleich sagt, welcher Gens er angehört. Ein Gentilname führt Gentilrechte von vornherein mit sich. 7. Die Gens kann Fremde in sich adoptieren und sie dadurch in den ganzen Stamm aufnehmen. Die Kriegsgefangnen, die man nicht tötete, wurden so vermittelst Adoption in einer Gens Stammesmitglieder der Senekas und erhielten damit die vollen Gentil- und Stammesrechte. Die Adoption geschah auf Antrag einzelner Gentilgenossen, Männer, die den Fremden als Bruder resp. Schwester, Frauen, die ihn als Kind annahmen; die feierliche Aufnahme in die Gens war zur Bestätigung nötig. Oft wurden so einzelne, ausnahmsweise zusammengeschrumpfte Gentes durch Massenadoption aus einer andern Gens, mit Einwilligung dieser, neu gestärkt. Bei den Irokesen fand die feierliche Aufnahme in die Gens in öffentlicher Sitzung des Stammesrats statt, wodurch sie tatsächlich eine religiöse Zeremonie wurde. 8. Spezielle religiöse Feierlichkeiten kann man bei indianischen Gentes schwerlich nachweisen; aber die religiösen Zeremonien der Indianer hängen mehr oder minder mit den Gentes zusammen. Bei den sechs jährlichen religiösen Festen der Irokesen wurden die Sachems und Kriegshäuptlinge der einzelnen Gentes von Amts wegen den „Glaubenshütern" zugezählt und hatten priesterliche Funktionen. 9. Die Gens hat einen gemeinsamen Begräbnisplatz. Dieser ist bei den mitten unter Weißen eingeengten. Irokesen des Staats New York jetzt verschwunden, hat aber früher bestanden. Bei andern Indianern besteht er noch; so bei den den Irokesen nah verwandten Tuskaroras, die, obgleich Christen, für jede Gens eine bestimmte Reihe im Kirchhof haben, so daß zwar die Mutter in derselben Reihe begraben wird wie die Kinder, aber nicht der Vater. Und auch bei den Irokesen geht die ganze Gens eines Verstorbenen zum Begräbnis, besorgt das Grab, die Grabreden etc.
TO. Die Gens hat einen Rat, die demokratische Versammlung aller männlichen und weiblichen erwachsenen Gentilen, alle mit gleichem Stimmrecht. Dieser Rat erwählte Sachems und Kriegshäuptlinge und setzte sie ab; ebenso die übrigen „Glaubenshüter"; er beschloß über Bußgaben (Wergeid) oder Blutrache für gemordete Gentilen; er adoptierte Fremde in die Gens. Kurz, er war die souveräne Gewalt in der Gens. Dies sind die Befugnisse einer typischen indianischen Gens. „Alle ihre Mitglieder sind freie Leute, verpflichtet, einer des andern Freiheit zu schützen; gleich in persönlichen Rechten - weder Sachems noch Kriegsführer beanspruchen irgendwelchen Vorrang; sie bilden eine Brüderschaft, verknüpft durch Blutbande. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, obwohl nie formuliert, waren die Grundprinzipien der Gens, und diese war wiederum die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen Systems, die Grundlage der organisierten indianischen Gesellschaft. Das erklärt den unbeugsamen Unabhängigkeitssinn und die persönliche Würde des Auftretens, die jedermann bei den Indianern anerkennt."1'51 Zur Zeit der Entdeckung waren die Indianer von ganz Nordamerika in Gentes organisiert, nach Mutterrecht. Nur in einigen Stämmen, wie den der Dakotas, waren die Gentes verfallen, und in einigen andern, Ojibwas, Omahas, waren sie nach Vaterrecht organisiert. Bei sehr vielen indianischen Stämmen mit mehr als fünf oder sechs Gentes finden wir je drei, vier oder mehr Gentes zu einer besondern Gruppe vereinigt, die Morgan in getreuer Übertragung des indianischen Namens nach ihrem griechischen Gegenbild Phratrie (Brüderschaft) nennt. So haben die Senekas zwei Phratrien; die erste umfaßt die Gentes 1-4, die zweite die Gentes 5-8. Die nähere Untersuchung zeigt, daß diese Phratrien meist die ursprünglichen Gentes darstellen, in die sich der Stamm anfänglich spaltete; denn bei dem Heiratsverbot innerhalb der Gens mußte jeder Stamm notwendig mindestens zwei Gentes umfassen, um selbständig bestehn zu können. Im Maß, wie sich der Stamm vermehrte, spaltete sich jede Gens wieder in zwei oder mehrere, die nun jede als besondre Gens erscheinen, während die ursprüngliche Gens, die alle Tochtergentes umfaßt, fortlebt als Phratrie. Bei den Senekas und den meisten andern Indianern sind die Gentes der einen Phratrie Brudergentes, während die der andern ihre Vettergentes sind - Bezeichnungen, die im amerikanischen Verwandtschaftssystem, wie wir sahn, einen sehr reellen und ausdrucksvollen Sinn haben. Ursprünglich durfte auch kein Seneka innerhalb seiner Phratrie heiraten, doch ist dies längst außer Gebrauch gekommen und auf die Gens beschränkt. Tradition der Senekas war, daß Bär und Hirsch die beiden ursprünglichen Gentes seien, von denen die andern abgezweigt. Nachdem
diese neue Einrichtung einmal eingewurzelt, wurde sie nach dem Bedürfnis modifiziert; starben Gentes einer Phratrie aus, so wurden zuweilen zur Ausgleichung ganze Gentes aus andern Phratrien in jene versetzt. Daher finden wir bei verschiednen Stämmen die gleichnamigen Gentes verschieden gruppiert in den Phratrien. Die Funktionen der Phratrie bei den Irokesen sind teils gesellschaftliche, teils religiöse. 1. Das Ballspiel spielen die Phratrien gegeneinander; jede schickt ihre besten Spieler vor, die übrigen sehen zu, jede Phratrie besonders aufgestellt, und wetten gegeneinander auf das Gewinnen der ihrigen. 2. Im Stammesrat sitzen die Sachems und Kriegsführer jeder Phratrie zusammen, die beiden Gruppen einander gegenüber, jeder Redner spricht zu den Repräsentanten jeder Phratrie als zu einer besondern Körperschaft. 3. War ein Totschlag im Stamm vorgekommen, wo Töter und Getötete nicht zu derselben Phratrie gehörten, so appellierte die verletzte Gens oft an ihre Brudergentes; diese hielten einen Phratrienrat und wandten sich an die andre Phratrie als Gesamtheit, damit diese ebenfalls einen Rat versammle zur Beilegung der Sache. Hier tritt also die Phratrie wieder als ursprüngliche Gens auf und mit größerer Aussicht auf Erfolg als die schwächere einzelne Gens, ihre Tochter. - 4. Bei Todesfällen hervorragender Leute übernahm die entgegengesetzte Phratrie die Besorgung der Bestattung und der Begräbnisfeierlichkeiten, während die Phratrie des Verstorbenen als leidtragend mitging. Starb ein Sachem, so meldete die entgegengesetzte Phratrie die Erledigung des Amts dem Bundesrat der Irokesen an. - 5. Bei der Wahl eines Sachems kam ebenfalls der Phratrienrat ins Spiel. Bestätigung durch die Brudergentes wurde als ziemlich selbstverständlich angesehn, aber die Gentes der andern Phratrie mochten opponieren. In solchem Fall kam der Rat dieser Phratrie zusammen; hielt er die Opposition aufrecht, so war die Wahl wirkungslos. - 6. Früher hatten die Irokesen besondre religiöse Mysterien, von den Weißen medicinelodges genannt. Diese wurden bei den Senekas gefeiert durch zwei religiöse Genossenschaften, mit regelrechter Einweihung für neue Mitglieder; auf jede der beiden Phratrien entfiel eine dieser Genossenschaften. - 7. Wenn, wie fast sicher, die vier linages (Geschlechter), die die vier Viertel von Tlascalä zur Zeit der Eroberung bewohnten1761, vier Phratrien waren, so ist damit bewiesen, daß die Phratrien wie bei den Griechen und ähnliche Geschlechtsverbände bei den Deutschen, auch als militärische Einheiten galten; diese vier linages zogen in den Kampf, jede einzelne als besondre Schar, mit eigner Uniform und Fahne und unter eignem Führer. Wie mehrere Gentes eine Phratrie, so bilden, in der klassischen Form,
mehrere Phratrien einen Stamm; in manchen Fällen fehlt bei stark geschwächten Stämmen das Mittelglied, die Phratrie. Was bezeichnet nun einen Indianerstamm in Amerika? 1. Ein eignes Gebiet und ein eigner Name. Jeder Stamm besaß außer dem Ort seiner wirklichen Niederlassung noch ein beträchtliches Gebiet zu Jagd und Fischfang. Darüber hinaus lag ein weiter, neutraler Landstrich, der bis ans Gebiet des nächsten Stammes reichte, bei sprachverwandten Stämmen geringer, bei nichtsprachverwandten größer war. Es ist dies der Grenzwald der Deutschen, die Wüste, die Cäsars Sueven um ihr Gebiet schaffen, das isarnholt (dänisch jarnved, limes Danicus) zwischen Dänen und Deutschen, der Sachsenwald und der branibor (slawisch = Schutzwald), von dem Brandenburg seinen Namen trägt, zwischen Deutschen und Slawen. Das solchergestalt durch unsichre Grenzen ausgeschiedne Gebiet war das Gemeinland des Stamms, von Nachbarstämmen als solches anerkannt, von ihm selbst gegen Übergriffe verteidigt. Die Unsicherheit der Grenzen wurde meist erst praktisch nachteilig, wenn die Bevölkerung sich stark vermehrt hatte. - Die Stammesnamen erscheinen meist mehr zufällig entstanden als absichtlich gewählt; mit der Zeit kam es häufig vor, daß ein Stamm von den Nachbarstämmen mit einem andern als dem von ihm selbst gebrauchten bezeichnet wurde; ähnlich wie die Deutschen ihren ersten geschichtlichen Gesamtnamen, Germanen, von den Kelten auferlegt bekamen. 2. Ein besondrer, nur diesem Stamm eigentümlicher Dialekt. In der Tat fallen Stamm und Dialekt der Sache nach zusammen; Neubildung von Stämmen und Dialekten durch Spaltung ging noch bis vor kurzem in Amerika vor sich und wird auch jetzt kaum ganz aufgehört haben. Wo zwei geschwächte Stämme sich zu einem verschmolzen haben, kommt es ausnahmsweise vor, daß im selben Stamm zwei nahverwandte Dialekte gesprochen werden. Die Durchschnittsstärke amerikanischer Stämme ist unter 2000 Köpfen; die Tscherokesen indes sind an 26 000 stark, die größte Zahl Indianer in den Vereinigten Staaten, die denselben Dialekt sprechen. 3. Das Recht, die von den Gentes erwählten Sachems und Kriegsführer feierlich einzusetzen und 4. das Recht, sie wieder abzusetzen, auch gegen den Willen ihrer Gens. Da diese Sachems und Kriegsführer Mitglieder des Stammesrats sind, erklären sich diese Rechte des Stamms ihnen gegenüber von selbst. Wo sich ein Bund von Stämmen gebildet hatte und die Gesamtzahl der Stämme in einem Bundesrat vertreten war, gingen obige Rechte auf diesen über. 5. Der Besitz gemeinsamer religiöser Vorstellungen (Mythologie) und Kultusverrichtungen.
„Die Indianer waren in ihrer barbarischen Art ein religiöses Volk."'77' Ihre Mythologie ist noch keineswegs kritisch untersucht; sie stellten sich die Verkörperungen ihrer religiösen Vorstellungen - Geister aller Art bereits unter menschlicher Gestalt vor, aber die Unterstufe der Barbarei, auf der sie sich befanden, kennt noch keine bildlichen Darstellungen, sogenannte Götzen. Es ist ein in der Entwicklung zur Vielgötterei sich befindender Natur- und Elementarkultus. Die verschiednen Stämme hatten ihre regelmäßigen Feste, mit bestimmten Kultusformen, namentlich Tanz und Spielen; der Tanz besonders war ein wesentlicher Bestandteil aller religiösen Feierlichkeiten; jeder Stamm hielt die seinigen besonders ab. 6. Ein Stammesrat für gemeinsame Angelegenheiten. Er war zusammengesetzt aus sämtlichen Sachems und Kriegsführern der einzelnen Gentes, ihren wirklichen, weil stets absetzbaren Vertretern; er beriet öffentlich, umgeben von den übrigen Stammesgliedern, die das Recht hatten dreinzureden und mit ihrer Ansicht gehört zu werden; der Rat entschied. In der Regel wurde jeder Anwesende auf Verlangen gehört, auch die Weiber konnten durch einen Redner ihrer Wahl ihre Ansicht vortragen lassen. Bei den Irokesen mußte der endliche Beschluß einstimmig gefaßt werden, wie dies auch in manchen Beschlüssen deutscher Markgemeinden der Fall war. Dem Stammesrat lag ob namentlich die Regelung des Verhältnisses zu fremden Stämmen; er empfing Gesandtschaften und sandte solche ab, er erklärte Krieg und schloß Frieden. Kam es zum Krieg, so wurde dieser meist von Freiwilligen geführt. Im Prinzip galt jeder Stamm als im Kriegszustand befindlich mit jedem andern Stamm, mit dem er keinen ausdrücklichen Friedensvertrag geschlossen. Kriegerische Auszüge gegen solche Feinde wurden meist organisiert durch einzelne hervorragende Krieger; sie gaben einen Kriegstanz, wer mittanzte, erklärte damit seine Beteiligung am Zug. Die Kolonne wurde sofort gebildet und in Bewegung gesetzt. Ebenso wurde die Verteidigung des angegriffnen Stammesgebiets meist durch freiwillige Aufgebote geführt. Der Auszug und die Rückkehr solcher Kolonnen gaben stets Anlaß zu öffentlichen Festlichkeiten. Genehmigung des Stammesrats zu solchen Auszügen war nicht erforderlich und wurde weder verlangt noch gegeben. Es sind ganz die Privatkriegszüge deutscher Gefolgschaften, wie Tacitus sie uns schildert, nur daß bei den Deutschen die Gefolgschaften bereits einen ständigem Charakter angenommen haben, einen festen Kern bilden, der schon in Friedenszeiten organisiert wird und um den sich im Kriegsfall die übrigen Freiwilligen gruppieren. Solche Kriegskolonnen waren selten zahlreich; die bedeutendsten Expeditionen der Indianer, auch
auf große Entfernungen, wurden von unbedeutenden Streitkräften vollführt. Traten mehrere solche Gefolgschaften zu einer großen Unternehmung zusammen, so gehorchte jede nur ihrem eignen Führer; die Einheit des Feldzugsplans wurde durch einen Rat dieser Führer gut oder schlecht gesichert. Es ist die Kriegführung der Alamannen im vierten Jahrhundert am Oberrhein, wie wir sie bei Ammianus Marcellinus geschildert finden. 7. In einigen Stämmen finden wir einen Oberhäuptling, dessen Befugnisse indessen sehr gering sind. Es ist einer der Sachems, der in Fällen, die rasches Handeln erfordern, provisorische Maßregeln zu treffen hat bis zu der Zeit, wo der Rat sich versammeln und endgültig beschließen kann. Es ist ein schwacher, aber in der weitren Entwicklung meist unfruchtbar gebliebner Ansatz zu einem Beamten mit vollstreckender Gewalt; dieser hat sich vielmehr, wie sich zeigen wird, in den meisten Fällen, wo nicht überall, aus dem obersten Heerführer entwickelt. Über die Vereinigung im Stamm kam die große Mehrzahl der amerikanischen Indianer nicht hinaus. In wenig zahlreichen Stämmen, durch weite Grenzstriche voneinander geschieden, durch ewige Kriege geschwächt, besetzten sie mit wenig Menschen ein ungeheures Gebiet. Bündnisse zwischen verwandten Stämmen bildeten sich hie und da aus augenblicklicher Notlage und zerfielen mit ihr. Aber in einzelnen Gegenden hatten sich ursprünglich verwandte Stämme aus der Zersplitterung wieder zusammengeschlossen zu dauernden Bünden und so den ersten Schritt getan zur Bildung von Nationen. In den Vereinigten Staaten finden wir die entwickeltste Form eines solchen Bundes bei den Irokesen. Von ihren Sitzen westlich vom Mississippi ausziehend, wo sie wahrscheinlich einen Zweig der großen Dakota-Familie gebildet, ließen sie sich nach langer Wanderung im heutigen Staat New York nieder, in fünf Stämme geteilt: Senekas, Cayugas, Onondagas, Oneidas und Mohawks. Sie lebten von Fisch, Wild und rohem Gartenbau, wohnten in Dörfern, die meist durch ein Pfahlwerk geschützt. Nie über 20 000 Köpfe stark, hatten sie in allen fünf Stämmen ein Anzahl von Gentes gemeinsam, sprachen nahverwandte Dialekte derselben Sprache und besetzten nun ein zusammenhängendes Gebiet, das unter die fünf Stämme verteilt war. Da dies Gebiet neu erobert, war gewohnheitsmäßiges Zusammenhalten dieser Stämme gegen die Verdrängten natürlich und entwickelte sich, spätestens anfangs des 15. Jahrhunderts, zu einem förmlichen „ewigen Bund", einer Eidgenossenschaft, die auch sofort im Gefühl ihrer neuen Stärke einen angreifenden Charakter annahm, und auf der Höhe ihrer Macht, gegen 1675, große Landstriche ringsumher erobert und die Bewohner teils vertrieben, teils tributpflichtig gemacht hatte. Der Irokesen
bund liefert die fortgeschrittenste gesellschaftliche Organisation, zu der es die Indianer gebracht, soweit sie die Unterstufe der Barbarei nicht überschritten (also mit Ausnahme der Mexikaner, Neumexikaner[29) und Peruaner). Die Grundbestimmungen des Bundes waren folgende: 1. Ewiger Bund der fünf blutsverwandten Stämme auf Grundlage vollkommner Gleichheitund Selbständigkeit in allen innern Stammesangelegenheiten. Diese Blutsverwandtschaft bildete die wahre Grundlage des Bundes. Von den fünf Stämmen hießen drei die Vaterstämme und waren Brüder untereinander; die beiden andern hießen Sohnstämme und waren ebenfalls Bruderstämme untereinander. Drei Gentes - die ältesten - waren in allen fünf, andre drei in drei Stämmen noch lebendig vertreten, die Mitglieder jeder dieser Gentes allesamt Brüder durch alle fünf Stämme. Die gemeinsame, nur dialektisch verschiedne Sprache war Ausdruck und Beweis der gemeinsamen Abstammung. 2. Das Organ des Bundes war ein Bundesrat von 50 Sachems, alle gleich in Rang und Ansehn; dieser Rat entschied endgültig über alle Angelegenheiten des Bundes. 3. Diese 50 Sachems waren bei Stiftung des Bundes auf die Stämme und Gentes verteilt worden, als Träger neuer Ämter, ausdrücklich für Bundeszwecke errichtet. Sie wurden von den betreffenden Gentes bei jeder Erledigung neu gewählt und konnten von ihnen jederzeit abgesetzt werden; das Recht der Einsetzung in ihr Amt aber gehört dem Bundesrat. 4. Diese Bundessachems waren auch Sachems in ihren jedesmaligen Stämmen und hatten Sitz und Stimme im Stammesrat. 5. Alle Beschlüsse des Bundesrats mußten einstimmig gefaßt werden. 6. Die Abstimmung geschah nach Stämmen, so daß jeder Stamm und in jedem Stamm alle Ratsmitglieder zustimmen mußten, um einen gültigen Beschluß zu fassen. 7. Jeder der fünf Stammesräte konnte den Bundesrat berufen, dieser aber nicht sich selbst. 8. Die Sitzungen fanden vor versammeltem Volk statt; jeder Irokese konnte das Wort ergreifen; der Rat allein entschied. 9. Der Bund hatte keine persönliche Spitze, keinen Chef der vollziehenden Gewalt. 10. Dagegen hatte er zwei oberste Kriegsführer, mit gleichen Befugnissen und gleicher Gewalt (die beiden „Könige" der Spartaner, die beiden Konsuln in Rom). Das war die ganze öffentliche Verfassung, unter der die Irokesen über vierhundert Jahre gelebt haben und noch leben. Ich habe sie ausführlicher
nach Morgan geschildert, weil wir hier Gelegenheit haben, die Organisation einer Gesellschaft zu studieren, die noch keinen Staat kennt. Der Staat setzt eine von der Gesamtheit der jedesmal Beteiligten getrennte, besondre öffentliche Gewalt voraus, und Maurer, der mit richtigem Instinkt die deutsche Markverfassung als eine vom Staat wesentlich verschiedne, wenn auch ihm großenteils später zugrunde liegende, an sich rein gesellschaftliche Institution erkennt - Maurer untersucht daher in allen seinen Schriften das allmähliche Entstehn der öffentlichen Gewalt aus und neben den ursprünglichen Verfassungen der Marken, Dörfer, Höfe und Städte. Wir sehn bei den nordamerikanischen Indianern, wie ein ursprünglich einheitlicher Volksstamm sich über einen ungeheuren Kontinent allmählich ausbreitet, wie Stämme durch Spaltung zu Völkern, ganzen Gruppen von Stämmen werden, die Sprachen sich verändern, bis nicht nur sie einander unverständlich werden, sondern auch fast jede Spur der ursprünglichen Einheit verschwindet; wie daneben in den Stämmen die einzelnen Gentes sich in mehrere spalten, die alten Muttergentes als Phratrien sich erhalten und doch die Namen dieser ältesten Gentes bei weit entfernten und lange getrennten Stämmen sich gleichbleiben - der Wolf und der Bär sind Gentilnamen noch bei einer Majorität aller indianischen Stämme. Und auf sie alle paßt im ganzen und großen die oben geschilderte Verfassung - nur daß viele es nicht bis zum Bund verwandter Stämme gebracht haben. Wir sehn aber auch, wie sehr - die Gens als gesellschaftliche Einheit einmal gegeben - die ganze Verfassung von Gentes, Phratrien und Stamm sich mit fast zwingender Notwendigkeit - weil Natürlichkeit - aus dieser Einheit entwickelt. Alle drei sind Gruppen verschiedner Abstufungen von Blutsverwandtschaft, jede abgeschlossen in sich und ihre eignen Angelegenheiten ordnend, jede aber auch die andre ergänzend. Und der Kreis der ihnen anheimfallenden Angelegenheiten umfaßt die Gesamtheit der öffentlichen Angelegenheiten des Barbaren der Unterstufe. Wo wir also bei einem Volk die Gens als gesellschaftliche Einheit vorfinden, werden wir auch nach einer ähnlichen Organisation des Stammes suchen dürfen wie die hier geschilderte; und wo hinreichende Quellen vorliegen, wie bei Griechen und Römern, werden wir sie nicht nur finden, sondern uns auch überzeugen, daß, wo die Quellen uns im Stich lassen, die Vergleichung der amerikanischen Gesellschaftsverfassung uns über die schwierigsten Zweifel und Rätsel hinweghilft. Und es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung! Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Ge
fängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht, die Gens oder der Stamm, oder die einzelnen Gentes unter sich - nur als äußerstes, selten angewandtes Mittel droht die Blutrache, von der unsre Todesstrafe auch nur die zivilisierte Form ist, behaftet mit allen Vorteilen und Nachteilen der Zivilisation. Obwohl viel mehr gemeinsame Angelegenheiten vorhanden sind als jetzt - die Haushaltung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltungen vorläufig zugewiesen | so braucht man doch nicht eine Spur unsres weitläufigen und verwickelten Verwaltungsapparats. Die ^Beteiligten entscheiden, und in den meisten Fällen hat jahrhundertelanger Gebrauch bereits alles geregelt. Arme und Bedürftige kann es nicht geben - die kommunistische Haushaltung und die Gens kennen ihre Verpflichtungen gegen Alte, Kranke und im Kriege Gelähmte. Alle sind gleich und frei - auch die Weiber. Für Sklaven ist noch kein Raum, für Unterjochung fremder Stämme in der Regel auch noch nicht. Als die Irokesen um 1651 die Eries und die „Neutrale Nation"[?sl besiegt hatten, boten sie ihnen an, als Gleichberechtigte in den Bund zu treten; erst als die Besiegten dies weigerten, wurden sie aus ihrem Gebiet vertrieben. Und welche Männer und Weiber eine solche Gesellschaft erzeugt, beweist die Bewundrung edler Weißen, die mit unverdorbnen Indianern zusammenkamen, vor der persönlichen Würde, Geradheit, Charakterstärke und Tapferkeit dieser Beurbaren. Von der Tapferkeit haben wir ganz neuerdings in Afrika Beispiele erlebt. Die Zulukaffern vor einigen Jahren wie die Nubier vor ein peiar Monaten - beides Stämme, bei denen Gentileinrichtungen noch nicht ausgestorben - haben getan, was kein europäisches Heer tun kann.[791 Nur mit Lanzen und Wurfspeeren bewaffnet, ohne Feuergewehr, sind sie im Kugelregen der Hinterlader der englischen Infanterie - der anerkannt ersten der Welt für das geschlossene Gefecht - bis an die Bajonette vorgerückt und haben sie mehr als einmal in Unordnung gebracht und selbst geworfen, trotz der kolossalen Ungleichheit der Waffen und trotzdem, daß sie gar keine Dienstzeit haben und nicht wissen, was Exerzieren ist. Was sie aushalten und leisten können, beweist die Klage der Engländer, daß ein Kaffer in 24 Stunden einen längeren Weg reischer zurücklegt als ein Pferd - der kleinste Muskel springt vor, hart und gestählt, wie Peitschenschnur, sagt ein englischer Maler. So sahn die Menschen und die menschliche Gesellschaft aus, ehe die Scheidung in verschiedne Kleissen vor sich gegangen war. Und wenn wir ihre Lage vergleichen mit der der ungeheuren Mehrzahl der heutigen zivi
lisierten Menschen, so ist der Abstand enorm zwischen dem heutigen Proletarier und Kleinbauer und dem alten freien Gentilgenossen. Das ist die eine Seite. Vergessen wir aber nicht, daß diese Organisation dem Untergang geweiht war. Über den Stamm ging sie nicht hinaus; der Bund der Stämme bezeichnet schon den Anfang ihrer Untergrabung, wie sich zeigen wird und wie sich schon zeigte in den Unterjochungsversuchen der Irokesen. Was außerhalb des Stammes, war außerhalb des Rechts. Wo nicht ausdrücklicher Friedensvertrag vorlag, herrschte Krieg von Stamm zu Stamm, und der Krieg wurde geführt mit der Grausamkeit, die den Menschen vor den übrigen Tieren auszeichnet und die erst später gemildert wurde durch das Interesse. Die Gentilverfassung in ihrer Blüte, wie wir sie in Amerika sahen, setzte voraus eine äußerst unentwickelte Produktion, also eine äußerst dünne Bevölkerung auf weitem Gebiet; also ein fast vollständiges Beherrschtsein des Menschen von der ihm fremd gegenüberstehenden, unverstandnen äußern Natur, das sich widerspiegelt in den kindischen religiösen Vorstellungen. Der Stamm blieb die Grenze für den Menschen, sowohl dem Stammesfremden als auch sich selbst gegenüber: Der Stamm, die Gens und ihre Einrichtungen waren heilig und unantastbar, waren eine von Natur gegebne höhere Macht, der der einzelne in Fühlen, Denken und Tun unbedingt Untertan blieb. So imposant die Leute dieser Epoche uns erscheinen, so sehr sind sie ununterschieden einer vom andern, sie hängen noch, wie Marx sagt, an der Nabelschnur des naturwüchsigen Gemeinwesens. Die Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen mußte gebrochen werden - sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durch Einflüsse, , die uns von vornherein als eine Degradation erscheinen, als ein Sündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Es sind die niedrigsten Interessen - gemeine Habgier, brutale Genußsucht, schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub am Gemeinbesitz die die neue, zivilisierte, die Klassengesellschaft einweihen; es sind die schmählichsten Mittel - Diebstahl, Vergewaltigung, Hinterlist, Verrat, die die alte klassenlose Gentilgesellschaft unterhöhlen und zu Fall bringen. Und die neue Gesellschaft selbst, während der ganzen dritthalbtausend Jahre ihres Bestehns, ist nie etwas andres gewesen als die Entwicklung der kleinen Minderzahl auf Kosten der ausgebeuteten und unterdrückten großen Mehrzahl, und sie ist dies jetzt mehr als je zuvor.
7 Marx/Engels, Werte, Bd. 21
IV
Die griechische Gens
Griechen wie Pelasger und andre stammverwandte Völker waren schon seit vorgeschichtlicher Zeit geordnet nach derselben organischen Reihe wie die Amerikaner: Gens, Phratrie, Stamm, Bund von Stämmen. Die Phratrie konnte fehlen wie bei den Doriern, der Bund von Stämmen brauchte noch nicht überall ausgebildet zu sein, aber in allen Fällen war die Gens die Einheit. Zur Zeit, wo die Griechen in die Geschichte eintreten, stehn sie an der Schwelle der Zivilisation; zwischen ihnen und den amerikanischen Stämmen, von denen oben die Rede war, liegen fast zwei ganze große Entwicklungsperioden, um welche die Griechen der Heroenzeit den Irokesen voraus sind. Die Gens der Griechen ist daher auch keineswegs mehr die archaische der Irokesen, der Stempel der Gruppenehe1 fängt an, sich bedeutend zu verwischen. Das Mutterrecht ist dem Vaterrecht gewichen; damit hat der aufkommende Privatreichtum seine erste Bresche in die Gentilverfassung gelegt. Eine zweite Bresche war natürliche Folge der ersten: Da nach Einführung des Vaterrechts das Vermögen einer reichen Erbin durch ihre Heirat an ihren Mann, also in eine andre Gens gekommen wäre, durchbrach man die Grundlage alles Gentilrechts, und erlaubte nicht nur, sondern gebot in diesem Fall, daß das Mädchen innerhalb der Gens heiratete, um dieser das Vermögen zu erhalten. Nach Grotes1801 griechischer Geschichte wurde speziell die athenische Gens zusammengehalten durch: 1. Gemeinsame religiöse Feierlichkeiten und ausschließliches Recht des Priestertums zu Ehren eines bestimmten Gottes, des angeblichen Stammvaters der Gens, der in dieser Eigenschaft durch einen besondern Beinamen bezeichnet wurde. 2. Gemeinsamen Begräbnisplatz (vgl. Demosthenes' „Eubulides")[811.
1 (1884) Punaluafamilie
3. Gegenseitiges Beerbungsrecht. 4. Gegenseitige Verpflichtung zu Hülfe, Schutz und Unterstützung bei Vergewaltigung. 5. Gegenseitiges Recht und Verpflichtung zur Heirat in der Gens in gewissen Fällen, besonders wo es Waisentöchter oder Erbinnen betraf. 6. Besitz, wenigstens in einigen Fällen, von gemeinsamem Eigentum mit einem eignen Archon (Vorsteher) und Schatzmeister. Sodann band die Vereinigung in der Phratrie mehrere Gentes zusammen, doch weniger eng; doch auch hier finden wir gegenseitige Rechte und Pflichten ähnlicher Art, besonders Gemeinsamkeit bestimmter Religionsübungen und das Recht der Verfolgung, wenn ein Phrator getötet worden. Die Gesamtheit der Phratrien eines Stammes hatte wiederum gemeinsame, regelmäßig wiederkehrende heilige Feierlichkeiten unter Vortritt eines aus den Adligen (Eupatriden) gewählten Phylobasileus (Stammvorstehers). So weit Grote. Und Marx fügt hinzu: „Durch die griechische Gens guckt der Wilde (Irokese z.B.) aber auch unverkennbar durch." Er wird noch unverkennbarer, sobald wir etwas weiter untersuchen. Der griechischen Gens kommt nämlich ferner zu: 7. Abstammung nach Vaterrecht; 8. Verbot der Heirat in der Gens außer im Fall von Erbinnen. Diese Ausnahme und ihre Fassung als Gebot beweisen die Geltung der alten Regel. Diese folgt ebenfalls aus dem allgemein gültigen Satz, daß die Frau durch die Heirat auf die religiösen Riten ihrer Gens verzichtete und in die ihres Mannes übertrat, in dessen Phratrie sie auch eingeschrieben wurde. Heirat außerhalb der Gens war hiemach und nach einer berühmten Stelle des Dikäarchos Regelt8al, und Becker im „Charikles" nimmt geradezu an, daß niemand innerhalb seiner eignen Gens heiraten durfte.1831 9. Das Recht der Adoption in die Gens; es erfolgte durch Adoption in die Familie, aber mit öffentlichen Formalitäten und nur ausnahmsweise. 10. Das Recht, die Vorsteher zu erwählen und abzusetzen. Daß jede Gens ihren Archon hatte, wissen wir; daß das Amt erblich in bestimmten Familien sei, wird nirgends gesagt. Bis ans Ende der Barbarei ist die Vermutung stets gegen strikte1 Erblichkeit, die ganz unverträglich ist mit Zuständen, wo Reiche und Arme innerhalb der Gens vollkommen gleiche Rechte hatten. Nicht nur Grote, sondern auch Niebuhr, Mommsen und alle andern bisherigen Geschichtsschreiber des klassischen Altertums sind gescheitert an
1 (1884) fehlt: strikte
der Gens. So richtig sie auch viele ihrer Merkmale aufgezeichnet haben, so sahn sie in ihr stets eine Gruppe von Familien und machten es sich damit unmöglich, die Natur und den Ursprung der Gens zu verstehn. Die Familie ist unter der Gentilverfassung nie eine Organisationseinheit gewesen und konnte es nicht sein, weil Mann und Frau notwendig zu zwei verschiednen Gentes gehörten. Die Gens ging ganz ein in die Phratrie, die Phratrie in den Stamm; die Familie ging auf halb in die Gens des Mannes und halb in die der Frau. Auch der Staat erkennt im öffentlichen Recht keine Familie an; sie existiert bis heute nur für das Privatrecht. Und dennoch geht unsre ganze bisherige Geschichtsschreibung von der, namentlich im achtzehnten Jahrhundert unantastbar gewordnen, absurden Voraussetzung aus, die monogame Einzelfamilie, die kaum älter ist als die Zivilisation, sei der Kristallkern, um den sich Gesellschaft und Staat allmählich angesetzt habe. „Herrn Grote ferner zu bemerken", fügt Marx ein, „daß, obgleich die Griechen ihre Gentes aus der Mythologie herleiten, jene Gentes älter sind als die von ihnen selbst geschaffne Mythologie mit ihren Göttern und Halbgöttern." Grote wird von Morgan mit Vorliebe angeführt, weil er ein angesehner und doch ganz unverdächtiger Zeuge. Er erzählt weiterhin, daß jede athenische Gens einen von ihrem vermeintlichen Stammvater abgeleiteten Namen hatte, daß vor Solon allgemein, und noch nach Solon bei Abwesenheit eines Testaments, die Gentilgenossen (gennetes) des Verstorbenen sein Vermögen erbten, und daß im Fall von Totschlag zunächst die Verwandten, dann die Gentilgenossen und endlich die Phratoren des Erschlagenen das Recht und die Pflicht hatten, den Verbrecher vor den Gerichten zu verfolgen:
„Alles, was wir von den ältesten athenischen Gesetzen hören, ist begründet auf die Einteilung in Gentes und Phratrien."'841
Die Abstammung der Gentes von gemeinsamen Urahnen hat den „schulgelehrten Philistern" (Marx) schweres Kopfbrechen gemacht. Da sie diese natürlich für rein mythisch ausgeben, so können sie sich die Entstehung einer Gens aus nebeneinanderstehenden, ursprünglich gar nicht verwandten Familien platterdings nicht erklären, und doch müssen sie dies fertigbringen, um nur das Dasein der Gentes zu erklären. Da wird denn ein sich im Kreise drehender Wortschwall aufgeboten, der nicht über den Satz hinauskommt: Der Stammbaum ist zwar eine Fabel, aber die Gens ist eine Wirklichkeit, und schließlich heißt es denn bei Grote - mit Einschiebungen von Marx - wie folgt:
„Wir hören von diesem Stammbaum nur selten, weil er vor die Öffentlichkeit nur in gewissen, besonders feierlichen Fällen gebracht wird. Aber die geringeren Gentes hatten ihre gemeinsamen Religionsübungen" (sonderbar dies, Mr. Grote!) „und gemeinsamen übermenschlichen Stammvater und Stammbaum ganz wie die berühmteren" (wie gar sonderbar dies, Herr Grote, bei geringeren Gentes!); „der Grundplan und die ideale Grundlage" (werter Herr, nicht ideal, sondern karnal, germanice fleischlich) „war bei allen dieselbe."'85' Marx faßt Morgans Antwort hierauf wie folgt zusammen: „Das der Gens in ihrer Urform - und die Griechen hatten diese einst besessen wie andre Sterbliche - entsprechende Blutsverwandtschaftssystem bewahrte die Kenntnis der Verwandtschaften aller Mitglieder der Gentes untereinander. Sie lernten dies für sie entscheidend Wichtige durch Praxis von Kindesbeinen. Mit der monogamen Familie fiel dies in Vergessenheit. Der Gentilname schuf einen Stammbaum, neben dem der der Einzelfamilie unbedeutend erschien. Es war nunmehr dieser Name, der die Tatsache der gemeinsamen Abstammung seiner Träger zu bewahren hatte; aber der Stammbaum der Gens ging so weit zurück, daß die Mitglieder ihre gegenseitige wirkliche Verwandtschaft nicht mehr nachweisen konnten, außer in beschränkter Zahl von Fällen bei neueren, gemeinschaftlichen Vorfahren. Der Name selbst war Beweis gemeinsamer Abstammung, und endgültiger Beweis, abgesehn von Adoptionsfällen. Dahingegen ist die tatsächliche Leugnung aller Verwandtschaft zwischen Gentilgenossen ä la Grote und Niebuhr, welche die Gens in eine rein ersonnene und erdichtete Schöpfung verwandelt, würdig .idealer', d.h. stubenhockerischer Schriftgelehrter. Weil die Verkettung der Geschlechter, namentlich mit Anbruch der Monogamie, in die Ferne gerückt und die vergangne Wirklichkeit im mythologischen Phantasiegebild widergespiegelt erscheint, schlössen und schließen Philister-Biedermänner, daß der Phantasiestammbaum wirkliche Gentes schuf!" Die Phratrie war, wie bei den Amerikanern, eine in mehrere Tochtergentes gespaltne und sie einigende Muttergens und leitete sie alle oft noch vom gemeinsamen Stammvater ab. So hatten nach Grote „alle gleichzeitigen Glieder der Phratrie des Hekatäus einen und denselben Gott zum Stammvater im sechzehnten Glied"'80'; alle Gentes dieser Phratrie waren also buchstäblich Brudergentes. Die Phratrie kommt noch bei Homer als militärische Einheit vor, in der berühmten Stelle, wo Nestor dem Agamemnon rät: Ordne die Männer nach Stämmen und nach Phratrien, daß die Phratrie der Phratrie beistehe, und der Stamm dem Stamm.1871 - Sonst hat sie das Recht und die Pflicht der Verfolgung
der an einem Phrator begangnen Blutschuld, also in früherer Zeit auch die Verpflichtung zur Blutrache. Sie hat ferner gemeinsame Heiligtümer und Feste, wie denn die Ausbildung der gesamten griechischen Mythologie aus dem mitgebrachten altarischen Naturkultus wesentlich bedingt war durch die Gentes und Phratrien und innerhalb ihrer vor sich ging. Ferner hatte sie einen Vorsteher (phratriarchos) und nach de Coulanges auch Versammlungen und bindende Beschlüsse, eine Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Selbst der spätere Staat, der die Gens ignorierte, ließ der Phratrie gewisse öffentliche Amts Verrichtungen. Aus mehreren verwandten Phratrien besteht der Stamm. In Attika gab es vier Stämme, zu je drei Phratrien, von denen jede dreißig Gentes zählte. Solche Abzirkelung der Gruppen setzt bewußtes, planmäßiges Eingreifen in die naturwüchsig entstandne Ordnung voraus. Wie, wann und warum dies geschehn, darüber schweigt die griechische Geschichte, von der die Griechen selbst nur bis ins Heldenzeitalter hinein sich Erinnerung bewahrt haben. Dialektische Abweichung war bei den auf verhältnismäßig kleinem Gebiet zusammengedrängten Griechen weniger entwickelt als in den weiten amerikanischen Wäldern; doch auch hier finden wir nur Stämme derselben Hauptmundart zu einem größern Ganzen vereinigt und selbst in dem kleinen Attika einen besondern Dialekt, der später als allgemeine Prosasprache der herrschende wurde. In den homerischen Gedichten finden wir die griechischen Stämme meist schon zu kleinen Völkerschaften vereinigt, innerhalb deren Gentes, Phratrien und Stämme indes ihre Selbständigkeit noch vollkommen bewahrten. Sie wohnten bereits in mit Mauern befestigten Städten, die Bevölkerungszahl stieg mit der Ausdehnung der Herden, des Feldbaus und den Anfängen des Handwerks; damit wuchsen die Reichtumsverschiedenheiten und mit ihnen das aristokratische Element innerhalb der alten, naturwüchsigen Demokratie. Die einzelnen Völkchen führten unaufhörliche Kriege um den Besitz der besten Landstriche und auch wohl der Beute wegen; Sklaverei der Kriegsgefangnen war bereits anerkannte Einrichtung. Die Verfassung dieser Stämme und Völkchen war nun wie folgt: 1. Stehende Behörde war der Rat, bule, ursprünglich wohl aus den Vorstehern der Gentes zusammengesetzt, später, als deren Zahl zu groß wurde, aus einer Auswahl, die Gelegenheit bot zur Ausbildung und Stärkung des aristokratischen Elements; wie denn auch Dionysios geradezu den Rat der Heroenzeit aus den Vornehmen (kratistoi) zusammengesetzt sein läßt.1881 Der Rat entschied endgültig in wichtigen Angelegenheiten; so faßt der von
Theben, bei Äschylos, den für die gegebne Sachlage entscheidenden Beschluß, den Eteokles ehrenvoll zu begraben, die Leiche des Polynikes aber hinauszuwerfen, den Hunden zur Beute. Mit Errichtung des Staats ging dieser Rat über in den späteren Senat. 2. Die Volksversammlung (agora). Bei den Irokesen fanden wir das Volk, Männer und Weiber, die Ratsversammlung umstehend, dreinredend in geordneter Weise und so ihre Beschlüsse beeinflussend. Bei den homerischen Griechen hat sich dieser „Umstand", um einen altdeutschen Gerichtsausdruck zu gebrauchen, bereits entwickelt zur vollständigen Volksversammlung, wie dies ebenfalls bei den Deutschen der Urzeit der Fall war. Sie wurde vom Rat berufen zur Entscheidung wichtiger Angelegenheiten; jeder Mann konnte das Wort ergreifen. Die Entscheidung erfolgte durch Handerheben (Äschylos in den „Schutzflehenden") oder durch Zuruf. Sie war souverän in letzter Instanz, denn, sagt Schoemann („Griechische Alterthümer"), „handelt es sich um eine Sache, zu deren Ausführung die Mitwirkung des Volks erforderlich ist, so verrät uns Homer kein Mittel, wie dasselbe gegen seinen Willen dazu gezwungen werden könne".'89'
Es gab eben zu dieser Zeit, wo jedes erwachsene männliche Stammesmitglied Krieger war, noch keine vom Volk getrennte öffentliche Gewalt, die ihm hätte entgegengesetzt werden können. Die naturwüchsige Demokratie stand noch in voller Blüte, und dies muß der Ausgangspunkt bleiben zur Beurteilung der Macht und der Stellung sowohl des Rats wie des BasiIeus. 3. Der Heerführer (basileus). Hierzu bemerkt Marx: „Die europäischen Gelehrten, meist geborne Fürstenbediente, machen aus dem Basileus einen Monarchen im modernen Sinn. Dagegen verwahrt sich der Yankee-Republikaner Morgan. Er sagt sehr ironisch, aber wahr, vom öligen Gladstone und dessen Juventus Mundi': ,Herr Gladstone präsentiert uns die griechischen Häuptlinge der Heldenzeit als Könige und Fürsten, mit der Zugabe, daß sie auch Gentlemen seien; er selbst muß aber zugeben: Im ganzen scheinen wir die Sitte oder das Gesetz der Erstgeburtsfolge hinreichend, aber nicht allzu scharf bestimmt vorzufinden.'"'90'
Eis wird auch wohl dem Herrn Gladstone selbst scheinen, daß eine so verklausulierte Erstgeburtsfolge hinreichend, wenn auch nicht allzu scharf, geradesoviel wert ist wie gar keine. Wie es mit der Erblichkeit der Vorsteherschaften bei den Irokesen und andern Indianern stand, sahen wir. Alle Ämter waren Wahlämter meist
innerhalb einer Gens und insofern in dieser erblich. Bei Erledigungen wurde der nächste Gentilverwandte - Bruder oder Schwestersohn - allmählich vorgezogen, falls nicht Gründe vorlagen, ihn zu übergehn. Ging also bei den Griechen unter der Herrschaft des Vaterrechts das Amt des Basileus in der Regel auf den Sohn oder einen der Söhne über, so ist das nur Beweis, daß die Söhne hier die Wahrscheinlichkeit der Nachfolge durch Volkswahl für sich hatten, keineswegs aber Beweis rechtskräftiger Erbfolge ohne Volkswahl. Was hier vorliegt, ist bei den Irokesen und Griechen die erste Anlage zu besondern Adelsfamilien innerhalb der Gentes, und bei den Griechen noch dazu die erste Anlage einer künftigen erblichen Führerschaft oder Monarchie. Die Vermutung spricht also dafür, daß bei den Griechen der Basileus entweder vom Volk gewählt oder doch durch seine anerkannten Organe - Rat oder Agora - bestätigt werden mußte, wie dies für den römischen „König" (rex) galt. In der „Ilias" erscheint der Männerbeherrscher Agamemnon nicht als oberster König der Griechen, sondern als oberster Befehlshaber eines Bundesheers vor einer belagerten Stadt. Und auf diese seine Egenschaft weist Odysseus hin, als Zwist unter den Griechen ausgebrochen war, in der berühmten Stelle: Nicht gut ist die Vielkommandiererei, einer sei Befehlshaber usw. (wobei noch der beliebte Vers mit dem Zepter späterer Zusatz).'911 „Odysseus hält hier keine Vorlesung über eine Regierungsform, sondern verlangt Gehorsam gegen den obersten Feldherrn im Kriege. Für die Griechen, die vor Troja nur als Heer erscheinen, geht es in der Agora demokratisch genug zu. Achilles, wenn er von Geschenken, d.h. Verteilung der Beute spricht, macht stets zum Verteiler weder den Agamemnon noch einen andern Basileus, sondern ,die Söhne der Achäer', d.h. das Volk. Die Prädikate: von Zeus erzeugt, von Zeus ernährt, beweisen nichts, da jede Gens von einem Gott abstammt, die des Stammeshaupts schon von einem .vornehmeren' Gott - hier Zeus. Selbst die persönlich Unfreien, wie der Sauhirt Eumäus u. a. sind .göttlich' (dioi und theioi) und dies in der .Odyssee', also in viel späterer Zeit als die ,Ilias'; in derselben .Odyssee' wird der Name Heros noch dem Herold Mulios beigelegt, wie dem blinden Sänger Demodokos. Kurz, das Wort basileia, das die griechischen Schriftsteller für das homerische sogenannte Königtum anwenden (weil die Heerführerschaft ihr Hauptkennzeichen), mit Rat und Volksversammlung daneben, bedeutet nur - militärische Demokratie." (Marx.) Der Basileus hatte außer den militärischen noch priesterliche und richterliche Amtsbefugnisse; letztere nicht näher bestimmt, erstere in seiner Egenschaft als oberster Vertreter des Stamms oder Bundes von Stämmen.
Von bürgerlichen, verwaltenden Befugnissen ist nie die Rede; er scheint aber von Amts wegen Ratsmitglied gewesen zu sein. Basileus mit König zu übersetzen, ist also etymologisch ganz richtig, da König (Kuning) von Kuni, Künne abstammt und Vorsteher einer Gens bedeutet. Aber der heutigen Bedeutung des Wortes König entspricht der altgriechische Basileus in keiner Weise. Thukydides nennt die alte Basileia ausdrücklich eine patrike, d.h. von Gentes abgeleitete, und sagt, sie habe festbestimmte, also begrenzte Befugnisse gehabt.1921 Und Aristoteles sagt, die Basileia der Heroenzeit sei eine Führerschaft über Freie gewesen, und der Basileus Heerführer, Richter und Oberpriester1931; Regierungsgewalt im spätem Sinne hatte er also nicht.* Wir sehn also in der griechischen Verfassung der Heldenzeit die alte Gentilorganisation noch in lebendiger Kraft, aber auch schon den Anfang ihrer Untergrabung: Vaterrecht mit Vererbung des Vermögens an die Kinder, wodurch die Reichtumsanhäufung in der Familie begünstigt und die Familie eine Macht wurde gegenüber der Gens; Rückwirkung der Reichtumsverschiedenheit auf die Verfassung vermittelst Bildung der ersten Ansätze zu einem erblichen Adel und Königtum; Sklaverei, zunächst noch bloß von Kriegsgefangnen, aber schon die Aussicht eröffnend auf Versklavung der eignen Stammes- und selbst Gentilgenossen; der alte Krieg von Stamm gegen Stamm bereits ausartend in systematische Räuberei zu Land und zur See, um Vieh, Sklaven, Schätze zu erobern, in regelrechte Erwerbsquelle; kurz, Reichtum gepriesen und geachtet als höchstes Gut und die alten Gentilordnungen gemißbraucht, um den gewaltsamen Raub von Reichtümern zu rechtfertigen. Es fehlte nur noch eins: eine Einrichtung, die die neuerworbnen Reichtümer der einzelnen nicht nur gegen die kommunistischen Traditionen der Gentilordnung sicherstellte, die nicht nur das früher so geringgeschätzte Privateigentum heiligte und diese Heiligung für den höchsten Zweck aller menschlichen Gemeinschaft erklärte, sondern die auch die nacheinander sich entwickelnden neuen Formen der Eigen
* Wie dem griechischen Basileus, so ist auch dem aztekischen Heerführer ein moderner Fürst untergeschoben worden. Morgan unterwirft die erst mii3verständlichen und übertriebnen, später direkt lügenhaften Berichte der Spanier zum erstenmal der historischen Kritik und weist nach, daß die Mexikaner auf der Mittelstufe der Barbarei, höher jedoch als die neumexikanischen Pueblos-Indianer, standen, und daß ihre Verfassung, soweit die entstellten Berichte sie erkennen lassen, dem entsprach: ein Bund dreier Stämme, der eine Anzahl andrer zur Tributpflichtigkeit unterworfen hatte und der regiert wurde von einem Bundesrat und Bundesfeldherrn, aus welchem letzteren die Spanier einen „Kaiser" machten.
tumserwerbung, also der stets beschleunigten Vermehrung des Reichtums mit dem Stempel allgemein gesellschaftlicher Anerkennung versah; eine Einrichtung, die nicht nur die aufkommende Spaltung der Gesellschaft in Klassen verewigte, sondern auch das Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nichtbesitzenden und die Herrschaft jener über diese. Und diese Einrichtung kam. Der Staat wurde erfunden.
V
Entstehung des athenischen Staats
Wie der Staat sich entwickelt hat, indem die Organe der Gentilverfassung teils umgestaltet, teils durch Einschiebung neuer Organe verdrängt und endlich vollständig durch wirkliche Staatsbehörden ersetzt wurden, während an die Stelle des in seinen Gentes, Phratrien und Stämmen sich selbst schützenden wirklichen „Volks in Waffen" eine diesen Staatsbehörden dienstbare, also auch gegen das Volk verwendbare, bewaffnete „öffentliche Gewalt" trat - davon können wir wenigstens das erste Stück nirgends besser verfolgen als im alten Athen. Die Formverwandlungen sind im wesentlichen von Morgan dargestellt, den sie erzeugenden ökonomischen Inhalt muß ich großenteils hinzufügen. Zur Heroenzeit saßen die vier Stämme der Athener in Attika noch auf getrennten Gebieten; selbst die sie zusammensetzenden zwölf Phratrien scheinen in den zwölf Städten des Kekrops noch gesonderte Sitze gehabt zu haben. Die Verfassung war die der Heroenzeit: Volksversammlung, Volksrat, Basileus. Soweit die geschriebne Geschichte zurückreicht, war der Grund und Boden schon verteilt und in Privateigentum übergegangen, wie dies der gegen Ende der Oberstufe der Barbarei bereits verhältnismäßig entwickelten Warenproduktion und dem ihr entsprechenden Warenhandel gemäß ist. Neben Korn wurde Wein und Öl gewonnen; der Seehandel auf dem Agäischen Meer wurde mehr und mehr den Phöniziern entzogen und fiel großenteils in attische Hände. Durch den Kauf und Verkauf von Grundbesitz, durch die fortschreitende Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Handwerk, Handel und Schiffahrt, mußten die Angehörigen der Gentes, Phratrien und Stämme sehr bald durcheinanderkommen, der Distrikt der Phratrie und des Stammes Bewohner erhalten, die, obwohl Volksgenossen, doch diesen Körperschaften nicht angehörten, also in ihrem eignen Wohnort fremd waren. Denn jede Phratrie und jeder Stamm verwalteten in ruhigen Zeiten ihre Angelegenheiten selbst, ohne nach Athen zum Volksrat oder Basileus zu schicken. Wer aber im Gebiet der Phratrie
oder des Stamms wohnte, ohne ihm anzugehören, konnte an dieser Verwaltung natürlich keinen Anteil nehmen. Das geregelte Spiel der Organe der Gentilverfassung kam damit so in Unordnung, daß schon zur Heroenzeit Abhülfe nötig wurde. Die dem Theseus zugeschriebne Verfassung wurde eingeführt. Die Änderung bestand vor allem darin, daß eine Zentralverwaltung in Athen eingerichtet, d.h. ein Teil der bisher von den Stämmen selbständig verwalteten Angelegenheiten für gemeinsame erklärt und dem in Athen sitzenden gemeinsamen Rat übertragen wurden. Hiermit gingen die Athener einen Schritt weiter als irgendein eingebornes Volk in Amerika je gegangen: An die Stelle des bloßen Bundes nebeneinander wohnender Stämme trat ihre Verschmelzung zu einem einzigen Volk. Damit entsprang ein athenisches allgemeines Volksrecht, das über den Rechtsbräuchen der Stämme und Gentes stand; der athenische Bürger erhielt, als solcher, bestimmte Rechte und neuen Rechtsschutz auch auf Gebiet, wo er stammesfremd war. Damit war aber der erste Schritt geschehn zur Untergrabung der Gentilverfassung; denn es war der erste Schritt zur späteren Zulassung von Bürgern, die in ganz Attika stammesfremd waren, die ganz außerhalb der athenischen Gentilverfassung standen und blieben. Eine zweite dem Theseus zugeschriebne Einrichtung war die Einteilung des ganzen Volks, ohne Rücksicht auf Gens, Phratrie oder Stamm, in drei Klassen: Eupatriden oder Adlige, Geomoren oder Ackerbauer und Demiurgen oder Handwerker, und die Überweisung des ausschließlichen Rechts der Ämterbesetzung an die Adligen. Diese Einteilung blieb zwar, mit Ausnahme der Ämterbesetzung durch den Adel, wirkungslos, da sie sonst keine Rechtsunterschiede zwischen den Klassen begründete1. Aber sie ist wichtig, weil sie uns die neuen gesellschaftlichen Elemente vorführt, die sich im stillen entwickelt hatten. Sie zeigt, daß die gewohnheitsmäßige Besetzung der Gentilämter aus gewissen Familien sich bereits zu einem wenig bestrittenen Anrecht dieser Familien auf die Ämter ausgebildet hatte, daß diese Familien, ohnehin mächtig durch Reichtum, anfingen, außerhalb ihrer Gentes sich zu einer eignen bevorrechteten Klasse zusammenzutun, und daß der eben erst aufkeimende Staat diese Anmäßung heiligte. Sie zeigt ferner, daß die Teilung der Arbeit zwischen Landbauern und Handwerkern bereits genug erstarkt war, um der alten Gliederung nach Gentes und Stämmen den Vorrang in gesellschaftlicher Bedeutung streitig zu machen. Sie proklamiert endlich den unverträglichen Gegensatz zwischen Gentilgesellschaft und Staat; der erste Versuch der
1(1884) da die beiden andern Klassen keine besondern Rechte erhielten (statt: da sie sonst keine Rechtsunterschiede zwischen den Klassen begründete)
Staatsbildung bestellt darin, die Gentes zu zerreißen, indem er die Mitglieder einer jeden in Bevorrechtete und Zurückgesetzte und diese wieder in zwei Gewerbsklassen scheidet und so einander entgegensetzt. Die weitere politische Geschichte Athens bis auf Solon ist nur unvollkommen bekannt. Das Amt des Basileus kam in Abgang; an die Spitze des Staats traten aus dem Adel gewählte Archonten. Die Herrschaft des Adels stieg mehr und mehr, bis sie gegen das Jahr 600 vor unsrer Zeitrechnung unerträglich wurde. Und zwar war das Hauptmittel zur Unterdrückung der gemeinen Freiheit - das Geld, und der Wucher. Der Hauptsitz des Adels war in und um Athen, wo der Seehandel, benebst noch immer gelegentlich mit in den Kauf genommenem Seeraub, ihn bereicherte und den Geldreichtum in seinen Händen konzentrierte. Von hier aus drang die sich entwickelnde Geldwirtschaft wie zersetzendes Scheide weisser in die auf Naturalwirtschaft gegründete, althergebrachte Daseinsweise der Landgemeinden. Die Gentilverfassung ist mit Geldwirtschaft absolut unverträglich; der Ruin der attischen Parzellenbauern fiel zusammen mit der Lockerung der sie schützend umschlingenden alten Gentilbande. Der Schuldschein und die Gutsverpfändung (denn auch die Hypothek hatten die Athener schon erfunden) achteten weder Gens noch Phratrie. Und die alte Gentilverfassung kannte kein Geld, keinen Vorschuß, keine Geldschuld. Daher bildete die sich immer üppiger ausbreitende Geldherrschaft des Adels auch ein neues Gewohnheitsrecht aus zur Sicherung des Gläubigers gegen den Schuldner, zur Weihe der Ausbeutung des Kleinbauern durch den Geldbesitzer. Sämtliche Feldfluren Attikas starrten von Pfandsäulen, an denen verzeichnet stand, das sie tragende Grundstück sei dem und dem verpfändet um soundso viel Geld. Die Äcker, die nicht so bezeichnet, waren großenteils bereits wegen verfallner Hypotheken oder Zinsen verkauft, in das Eigentum des adligen Wucherers übergegangen; der Bauer konnte froh sein, wenn ihm erlaubt wurde, als Pächter darauf sitzenzubleiben und von einem Seckstel des Ertrags seiner Arbeit zu leben, während er fünf Sechstel dem neuen Herrn als Pacht zahlen mußte. Noch mehr. Reichte der Erlös des verkauften Grundstücks nicht hin zur Deckung der Schuld, oder war diese Schuld ohne Sicherung durch Pfand aufgenommen, so mußte der Schuldner seine Kinder ins Ausland in die Sklaverei verkaufen, um den Gläubiger zu decken. Verkauf der Kinder durch den Vater - das war die erste Frucht des Vaterrechts und der Monogamie! Und war der Blutsauger dann noch nicht befriedigt, so konnte er den Schuldner selbst als Sklaven verkaufen. Das war die angenehme Morgenröte der Zivilisation beim athenischen Volk.
Früher, als die Lebenslage des Volks noch der Gentilverfassung entsprach, war eine solche Umwälzung unmöglich; und hier war sie gekommen, man wußte nicht wie. Gehn wir einen Augenblick zurück zu unsern Irokesen. Dort war ein Zustand undenkbar, wie er sich jetzt den Athenern sozusagen ohne ihr Zutun und sicher gegen ihren Willen aufgedrängt hatte. Dort konnte die sich jahraus, jahrein gleichbleibende Weise, den Lebensunterhalt zu produzieren, nie solche, wie von außen aufgezwungene Konflikte erzeugen, keinen Gegensatz von Reich und Arm, von Ausbeutern und Ausgebeuteten. Die Irokesen waren noch weit entfernt davon, die Natur zu beherrschen, aber innerhalb der für sie geltenden Naturgrenzen beherrschten sie ihre eigne Produktion. Abgesehn von schlechten Ernten in ihren Gärtchen, von Erschöpfung des Fischvorrats ihrer Seen und Flüsse, des Wildstandes ihrer Wälder, wußten sie, was bei ihrer Art, sich ihren Unterhalt zu erarbeiten, herauskam. Was herauskommen mußte, war der Lebensunterhalt, ob er kärglicher oder reichlicher ausfiel; was aber nie herauskommen konnte, das waren unbeabsichtigte gesellschaftliche Umwälzungen, Zerreißung der Gentilbande, Spaltung der Gentil- und Stammgenossen in entgegengesetzte, einander bekämpfende Klassen. Die Produktion bewegte sich in den engsten Schranken; aber - die Produzenten beherrschten ihr eignes Produkt. Das war der ungeheure Vorzug der barbarischen Produktion, der mit dem Eintritt der Zivilisation verlorenging und den wiederzuerobern, aber auf Grundlage der jetzt errungenen gewaltigen Naturbeherrschung durch den Menschen und der jetzt möglichen freien Assoziation, die Aufgabe der nächsten Generationen sein wird. Anders bei den Griechen. Der aufgekommene Privatbesitz an Herden und Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen, zur Verwandlung der Produkte in Waren. Und hier liegt der Keim der ganzen folgenden Umwälzung. Sobald die Produzenten ihr Produkt nicht mehr direkt selbst verzehrten, sondern es im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die Herrschaft darüber. Sie wußten nicht mehr, was aus ihm werde, und die Möglichkeit war gegeben, daß das Produkt dereinst verwandt wurde gegen den Produzenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung. Darum kann keine Gesellschaft auf die Dauer die Herrschaft über ihre eigne Produktion und die Kontrolle über die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Produktionsprozesses behalten, die nicht den Austausch zwischen einzelnen abschafft. Wie rasch aber, nach dem Entstehn des Austausches zwischen einzelnen und mit der Verwandlung der Produkte in Waren, das Produkt seine Herrschaft über den Produzenten geltend macht, das sollten die Athener
erfahren. Mit der Warenproduktion kam die Bebauung des Bodens durch einzelne für eigne Rechnung, damit bald das Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle andern austauschbar waren; aber indem die Menschen das Geld erfanden, dachten sie nicht daran, daß sie damit wieder eine neue gesellschaftliche Macht schufen, die Eine allgemeine Macht, vor der die ganze Gesellschaft sich beugen mußte. Und diese neue, ohne Wissen und Willen ihrer eignen Erzeuger plötzlich emporgesprungne Macht war es, die, in der ganzen Brutalität ihrer Jugendlichkeit, ihre Herrschaft den Athenern zu fühlen gab. Was war zu machen? Die alte Gentilverfassung hatte sich nicht nur ohnmächtig erwiesen gegen den Siegeszug des Geldes; sie war auch absolut unfähig, innerhalb ihres Rahmens selbst nur Raum zu finden für so etwas wie Geld, Gläubiger und Schuldner, Zwangseintreibung von Schulden. Aber die neue gesellschaftliche Macht war einmal da, und fromme Wünsche, Sehnsucht nach Rückkehr der guten alten Zeit trieben Geld und Zinswucher nicht wieder aus der Welt. Und obendrein waren eine Reihe andrer, untergeordneter Breschen in die Gentilverfassung gelegt. Die Durcheinanderwürfelung der Gentilgenossen und Phratoren auf dem ganzen attischen Gebiet, namentlich in der Stadt Athen selbst, war von Geschlecht zu Geschlecht größer geworden, trotzdem daß auch jetzt noch ein Athener zwar Grundstücke außerhalb seiner Gens verkaufen durfte, nicht aber sein Wohnhaus. Die Teilung der Arbeit zwischen den verschiednen Produktionszweigen: Ackerbau, Handwerk, im Handwerk wieder zahllose Unterarten, Handel, Schiffahrt usw., hatte sich mit den Fortschritten der Industrie und des Verkehrs immer vollständiger entwickelt; die Bevölkerung teilte sich nun nach ihrer Beschäftigung in ziemlich feste Gruppen, deren jede eine Reihe neuer, gemeinsamer Interessen hatte, für die in der Gens oder Phratrie kein Platz war, die also zu ihrer Besorgung neue Amter nötig machten. Die Zahl der Sklaven hatte sich bedeutend vermehrt und muß schon damals die der freien Athener weit überstiegen haben; die Gentilverfassung kannte ursprünglich keine Sklaverei, also auch kein Mittel, diese Masse Unfreier im Zaum zu halten. Und endlich hatte der Handel eine Menge Fremder nach Athen gebracht, die dort des leichtern Gelderwerbs wegen sich niederließen und ebenfalls nach der alten Verfassung recht- und schutzlos und trotz herkömmlicher Duldung ein störend fremdes Element im Volk blieben. Kurz, mit der Gentilverfassung ging es zu Ende. Die Gesellschaft wuchs täglich mehr aus ihr heraus; selbst die schlimmsten Übel, die unter ihren Augen entstanden waren, konnte sie nicht hemmen noch heben. Aber der
Staat hatte sich inzwischen im stillen entwickelt. Die neuen, durch die Teilung der Arbeit zuerst zwischen Stadt und Land, dann zwischen den verschiednen städtischen Arbeitszweigen geschaffnen Gruppen hatten neue Organe geschaffen zur Wahrnehmung ihrer Interessen; Ämter aller Art waren eingerichtet worden. Und dann brauchte der junge Staat vor allem eine eigne Macht, die bei den seefahrenden Athenern zunächst nur eine Seemacht sein konnte, zu einzelnen kleinen Kriegen und zum Schutz der Handelsschiffe. Es wurden, zu unbekannter Zeit vor Solon, die Naukrarien errichtet, kleine Gebietsbezirke, zwölf in jedem Stamm; jede Naukrarie mußte ein Kriegsschiff stellen, ausrüsten und bemannen und stellte außerdem noch zwei Reiter. Diese Einrichtung griff die Gentilverfassung zwiefach an. Erstens, indem sie eine öffentliche Gewalt schuf, die schon nicht mehr ohne weiteres mit der Gesamtheit des bewaffneten Volks zusammenfiel; und zweitens, indem sie zum erstenmal das Volk zu öffentlichen Zwekken einteilte, nicht nach Verwandtschaftsgruppen, sondern nach örtlichem Zusammenwohnen. Was das zu bedeuten hatte, wird sich zeigen. Konnte die Gentilverfassung dem ausgebeuteten Volk keine Hülfe bringen, so blieb nur der entstehende Staat. Und dieser brachte sie in der solonischen Verfassung, indem er sich zugleich neuerdings auf Kosten der alten Verfassung stärkte. Solon - die Art, wie seine in das Jahr 594 vor unsrer Zeitrechnung fallende Reform durchgesetzt wurde, geht uns hier nichts an - Solon eröffnete die Reihe der sogenannten politischen Revolutionen, und zwar mit einem Eingriff in das Eigentum. Alle bisherigen Revolutionen sind Revolutionen gewesen zum Schutz einer Art des Eigentums gegen eine andere Art des Eigentums. Sie können das eine nicht schützen, ohne das andre zu verletzen. In der großen französischen Revolution wurde das feudale Eigentum geopfert, um das bürgerliche zu retten; in der solonischen mußte das Eigentum der Gläubiger herhalten zum Besten des Eigentums der Schuldner. Die Schulden wurden einfach für ungültig erklärt. Die Einzelheiten sind uns nicht genau bekannt, aber Solon rühmt sich in seinen Gedichten, die Pfandsäulen von den verschuldeten Grundstücken entfernt und die wegen Schulden ins Ausland Verkauften und Geflüchteten zurückgeführt zu haben. Dies war nur möglich durch offne Eigentumsverletzung. Und in der Tat, von der ersten bis zur letzten sogenannten politischen Revolution sind sie alle gemacht worden zum Schutz des Eigentums - einer Art und durchgeführt durch Konfiskation, auch genannt Diebstahl des Eigentums - einer andern Art. So wahr ist es, daß seit drittehalbtausend Jahren des Privateigentum hat erhalten werden können nur durch Eigentumsverletzung.
Nun aber kam es darauf an, die Wiederkehr solcher Versklavung der freien Athener zu verhindern. Dies geschah zunächst durch allgemeine Maßregeln, z.B. durch das Verbot von Schuldverträgen, worin die Person des Schuldners verpfändet wurde. Ferner wurde ein größtes Maß des von einem einzelnen zu besitzenden Grundeigentums festgesetzt, um dem Heißhunger des Adels nach dem Bauernland wenigstens einige Schranken zu ziehn. Dann aber kamen Verfassungsänderungen; für uns sind die wichtigsten diese: Der Rat wurde auf vierhundert Mitglieder gebracht, hundert aus jedem Stamm; hier blieb also noch der Stamm die Grundlage. Das war aber auch die einzige Seite, nach welcher hin die alte Verfassung in den neuen Staatskörper hineingezogen wurde. Denn im übrigen teilte Solon die Bürger in vier Klassen je nach ihrem Grundbesitz und seinem Ertrag; 500, 300 und 150 Medimnen Korn (1 Medimnus = ca. 41 Liter) waren die Minimalerträge für die ersten drei Klassen; wer weniger oder keinen Grundbesitz hatte, fiel in die vierte Klasse. Alle Ämter konnten nur aus den obersten drei, die höchsten nur aus der ersten Klasse besetzt werden; die vierte Klasse hatte nur das Recht, in der Volksversammlung zu reden und zu stimmen, aber hier wurden edle Beamten gewählt, hier hatten sie Rechenschaft abzulegen, hier wurden edle Gesetze gemacht, und hier bildete die vierte Klasse die Majorität. Die aristokratischen Vorrechte wurden in der Form von Vorrechten des Reichtums teilweise erneuert, aber das Volk behielt die entscheidende Macht. Ferner bildeten die vier Klassen die Grundlage einer neuen Heeresorganisation. Die beiden ersten Klassen stellten die Reiterei; die dritte hatte als schwere Infanterie zu dienen; die vierte als leichtes, ungepanzertes Fußvolk oder auf der Flotte und wurde dann wahrscheinlich auch besoldet. Hier wird also ein ganz neues Element in die Verfassung eingeführt: der Privatbesitz. Je nach der Größe ihres Grundeigentums werden die Rechte und Pflichten der Staatsbürger abgemessen, und soweit die Vermögensklassen Einfluß gewinnen, soweit werden die alten Blutsverwandtschaftskörper verdrängt; die Gentilverfassung hatte eine neue Niederlage erlitten. Die Abmessung der politischen Rechte nach dem Vermögen war indes keine der Einrichtungen, ohne die der Staat nicht bestehn kann. Eine so große Rolle sie auch in der Verfassungsgeschichte der Staaten gespielt hat, so haben doch sehr viele Staaten, und grade die am vollständigsten entwickelten, ihrer nicht bedurft. Auch in Athen spielte sie nur eine vorübergehende Rolle; seit Aristides standen alle Ämter jedem Bürger offen.'941 8 Man/Engels, Werke, Bd. 21
Während der nächstfolgenden achtzig Jahre kam die athenische Gesellschaft allmählich in die Richtung, in der sie sich in den folgenden Jahrhunderten weiterentwickelt hat. Dem üppigen Landwucher der vorsolonischen Zeit war ein Riegel vorgeschoben, ebenso der maßlosen Konzentration des Grundbesitzes. Der Handel und das mit Sklavenarbeit immer mehr im großen betriebne Handwerk und Kunsthandwerk wurden herrschende Erwerbszweige. Man wurde aufgeklärter. Statt in der anfänglichen brutalen Weise die eignen Mitbürger auszubeuten, beutete man vorwiegend die Sklaven und die außerathenische Kundschaft aus. Der bewegliche Besitz, der Geldreichtum und der Reichtum an Sklaven und Schiffen wuchs immer mehr, aber er war jetzt nicht mehr bloßes Mittel zum Erwerb von Grundbesitz, wie in der ersten, bornierten Zeit, er war Selbstzweck geworden. Damit war einerseits der alten Adelsmacht eine siegreiche Konkurrenz erwachsen in der neuen Klasse von industriellen und kaufmännischen Reichen, andrerseits aber auch den Resten der alten Gentilverfassung der letzte Boden entzogen. Die Gentes, Phratrien und Stämme, deren Mitglieder jetzt über ganz Attika zerstreut und vollständig durcheinandergeworfen wohnten, waren damit zu politischen Körperschaften ganz untauglich geworden; eine Menge athenischer Bürger gehörten gar keiner Gens an, sie waren Eingewanderte, die zwar ins Bürgerrecht, aber nicht in einen der alten Geschlechtsverbände aufgenommen worden; daneben stand noch die stets wachsende Zahl der bloß schutzverwandten fremden Einwandrer.1951 Währenddessen gingen die Parteikämpfe voran; der Adel suchte seine früheren Vorrechte wiederzuerobern und erlangte wieder für einen Augenblick die Oberhand, bis die Revolution des Kleisthenes (509 vor unsrer Zeitrechnung) ihn endgültig stürzte; mit ihm aber auch den letzten Rest der Gentilverfassung.1961 Kleisthenes, in seiner neuen Verfassung, ignorierte die vier alten auf Gentes und Phratrien begründeten Stämme. An ihre Stelle trat eine ganz neue Organisation auf Grund der schon in den Naukrarien versuchten Einteilung der Bürger nach dem bloßen Ort der Ansässigkeit. Nicht mehr die Zugehörigkeit zu den Geschlechtsverbänden, sondern nur der Wohnsitz entschied; nicht das Volk, sondern das Gebiet wurde eingeteilt, die Bewohner wurden politisch bloßes Zubehör des Gebiets. Ganz Attika wurde in hundert Gemeindebezirke, Demen, geteilt, deren jeder sich selbst verwaltete. Die in jedem Demos ansässigen Bürger (Demoten) erwählten ihren Vorsteher (Demarch) und Schatzmeister sowie dreißig Richter mit Gerichtsbarkeit über kleinere Streitsachen. Sie erhielten ebenfalls einen eignen Tempel und Schutzgott oder Heroen, dessen Priester sie
wählten. Die höchste Macht im Demos war bei der Versammlung der Demoten. Es ist, wie Morgan richtig bemerkt, das Urbild der selbstregierenden amerikanischen Stadtgemeinde.[97J Mit derselben Einheit, mit der der moderne Staat in seiner höchsten Ausbildung endigt, mit derselben fing der entstehende Staat in Athen an. Zehn dieser Einheiten, Demen, bildeten einen Stamm, der aber zum Unterschied vom alten Geschlechtsstamm jetzt Ortsstamm genannt wird. Der Ortsstamm war nicht allein eine selbstverwaltende politische, er war auch eine militärische Körperschaft; er erwählte den Phylarchen oder Stammvorsteher, der die Reiterei, den Taxiarchen, der das Fußvolk, und den Strategen, der die gesamte im Stammesgebiet ausgehobene Mannschaft befehligte. Er stellte ferner fünf Kriegsschiffe nebst Mannschaft und Befehlshaber und erhielt einen attischen Heros, nach welchem er sich benannte, zum Schutzheiligen. Endlich wählte er fünfzig Ratsmänner in den athenischen Rat. Den Abschluß bildete der athenische Staat, regiert von dem aus den fünfhundert Erwählten der zehn Stämme zusammengesetzten Rat und in letzter Instanz von der Volksversammlung, wo jeder athenische Bürger Zutritt und Stimmrecht hatte; daneben besorgten Archonten und andre Beamte die verschiednen Verwaltungszweige und Gerichtsbarkeiten. Ein oberster Beamter der vollziehenden Gewalt bestand in Athen nicht. Mit dieser neuen Verfassung und mit der Zulassung einer sehr großen Zahl Schutzverwandter, teils Eingewanderter, teils freigelaßner Sklaven, waren die Organe der Geschlechterverfassung aus den öffentlichen Angelegenheit hinausgedrängt; sie sanken herab zu Privatvereinen und religiösen Genossenschaften. Aber der moralische Einfluß, die überkommene Anschauungs- und Denkweise der alten Gentilzeit erbten sich noch lange fort und starben erst allmählich aus. Das zeigte sich bei einer ferneren staatlichen Einrichtung. Wir sahn, daß ein wesentliches Kennzeichen des Staats in einer von der Masse des Volks unterschiednen öffentlichen Gewalt besteht. Athen hatte damals nur erst ein Volksheer und eine unmittelbar vom Volk gestellte Flotte; diese schützten nach außen und hielten die Sklaven im Zaum, die schon damals die große Mehrzahl der Bevölkerung bildeten. Gegenüber den Bürgern bestand die öffentliche Gewalt zunächst nur als die Polizei, die so alt ist wie der Staat, weshalb die naiven Franzosen des 18.Jahrhunderts auch nicht von zivilisierten Völkern sprachen, sondern von polizierten (nations policees). Die Athener richteten also gleichzeitig mit ihrem Staat auch eine Polizei ein, eine wahre Gendarmerie von Bogenschützen zu Fuß
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und zu Pferd - Landjäger, wie man in Süddeutschland und der Schweiz sagt. Diese Gendarmerie aber wurde gebildet - aus Sklaven. So entwürdigend kam dieser Schergendienst dem freien Athener vor, daß er sich lieber vom bewaffneten Sklaven verhaften ließ, als daß er selbst sich zu solcher Schmachtat hergab. Das war noch die alte Gentilgesinnung. Der Staat konnte ohne die Polizei nicht bestehn, aber er war noch jung und hatte noch nicht moralischen Respekt genug, um ein Handwerk achtungswert zu machen, das den alten Gentilgenossen notwendig infam erschien. Wie sehr der jetzt in seinen Hauptzügen fertige Staat der neuen gesellschaftlichen Lage der Athener angemessen war, zeigt sich in dem raschen Aufblühn des Reichtums, des Handels und der Industrie. Der Klassengegensatz, auf dem die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen beruhten, war nicht mehr der von Adel und gemeinem Volk, sondern der von Sklaven und Freien, Schutzverwandten und Bürgern. Zur Zeit der höchsten Blüte bestand die ganze athenische freie Bürgerschaft, Weiber und Kinder eingeschlossen, aus etwa 90 000 Köpfen, daneben 365 000 Sklaven beiderlei Geschlechts und 45 000 Schutzverwandte - Fremde und Freigelaßne. Auf jeden erwachsenen männlichen Bürger kamen also mindestens 18 Sklaven und über zwei Schutzverwandte. Die große Sklavenzahl kam daher, daß viele von ihnen in Manufakturen, großen Räumen, unter Aufsehern zusammen arbeiteten. Mit der Entwicklung des Handels und der Industrie aber kam Akkumulation und Konzentration der Reichtümer in wenigen Händen, Verarmung der Masse der freien Bürger, denen nur die Wahl blieb, entweder der Sklavenarbeit durch eigne Handwerksarbeit Konkurrenz zu machen, was für schimpflich, banausisch galt und auch wenig Erfolg versprach - oder aber zu verlumpen. Sie taten, unter den Umständen mit Notwendigkeit, das letztere, und da sie die Masse bildeten, richteten sie damit den ganzen athenischen Staat zugrunde. Nicht die Demokratie hat Athen zugrundegerichtet, wie die europäischen, fürstenschweifwedelnden Schulmeister behaupten, sondern die Sklaverei, die die Arbeit des freien Bürgers ächtete. Die Entstehung des Staats bei den Athenern ist ein besonders typisches Muster der Staatsbildung überhaupt, weil sie einerseits ganz rein, ohne Einmischung äußerer oder innerer Vergewaltigung vor sich geht - die Usurpation des Pisistratos hinterließ keine Spur ihrer kurzen Dauer1981 -, weil sie andrerseits einen Staat von sehr hoher Formentwicklung, die demokratische Republik, unmittelbar aus der Gentilgesellschaft hervorgehen läßt, und endlich weil wir mit allen wesentlichen Einzelheiten hinreichend bekannt sind.
VI
Gens und Staat in Rom
Aus der Sage von der Gründung Roms geht hervor, daß die erste Ansiedlung durch eine Anzahl zu einem Stamm vereinigter latinischer Gentes (der Sage nach hundert) erfolgte, denen sich bald ein sabellischer Stamm, der ebenfalls hundert Gentes gezählt haben soll, und endlich ein dritter, aus verschiedenen Elementen bestehender Stamm, wieder von angeblich hundert Gentes, anschloß. Die ganze Erzählung zeigt auf den ersten Blick, daß hier wenig mehr naturwüchsig war außer der Gens, und diese selbst in manchen Fällen nur ein Ableger einer in der alten Heimat fortbestehenden Muttergens. Die Stämme tragen an der Stirn den Stempel künstlicher Zusammensetzung, jedoch meist aus verwandten Elementen und nach dem Vorbild des alten gewachsenen, nicht gemachten Stamms; wobei nicht ausgeschlossen bleibt, daß der Kern jedes der drei Stämme ein wirklicher, alter Stamm gewesen sein kann. Das Mittelglied, die Phratrie, bestand aus zehn Gentes und hieß Curie; ihrer waren also dreißig. Daß die römische Gens dieselbe Institution war wie die griechische, ist anerkannt; ist die griechische eine Fortbildung derjenigen gesellschaftlichen Einheit, deren Urform uns die amerikanischen Rothäute vorführen, so gilt dasselbe ohne weiteres auch für die römische. Wir können uns hier also kürzer fassen. Die römische Gens hatte wenigstens in der ältesten Zeit der Stadt folgende Verfassung: 1. Gegenseitiges Erbrecht der Gentilgenossen; das Vermögen blieb in der Gens. Da in der römischen Gens wie in der griechischen schon Vaterrecht herrschte, waren die Nachkommen der weiblichen Linie ausgeschlossen. Nach dem Gesetz der zwölf Tafeln1"1, dem ältesten uns bekannten geschriebnen römischen Recht, erbten zunächst die Kinder als Leibeserben; in deren Ermanglung die Agnaten (Verwandte in männlicher Linie); und in deren Abwesenheit die Gentilgenossen. In allen Fällen blieb das Vermögen
in der Gens. Wir sehn hier das allmähliche Eindringen neuer, durch vermehrten Reichtum und Monogamie verursachter Rechtsbestimmungen inden Gentilbrauch: Das ursprüngliche gleiche Erbrecht der Gentilgenossen wird zuerst - wohl schon früh, wie oben erwähnt - durch Praxis auf die Agnaten beschränkt, endlich auf die Kinder und deren Nachkommen im Mannsstamm; in den zwölf Tafeln erscheint dies selbstverständlich in umgekehrter Ordnung. 2. Besitz eines gemeinsamen Begräbnisplatzes. Die patrizische Gens Claudia erhielt bei ihrer Einwanderung aus Regiii nach Rom ein Stück Land für sich angewiesen, dazu in der Stadt einen gemeinsamen Begräbnisplatz. Noch unter Augustus wurde der nach Rom gekommene Kopf des im Teutoburger Wald gefallenen Varus11001 im gentilitius tumulus1 beigesetzt; die Gens (Quinctilia) hatte also noch einen besondern Grabhügel.2 3. Gemeinsame religiöse Feiern. Diese, die sacra gentilitia, sind bekannt. 4. Verpflichtung, nicht in der Gens zu heiraten. Dies scheint in Rom nie in ein geschriebnes Gesetz verwandelt worden zu sein, aber die Sitte blieb. Von der Unmasse römischer Ehepaare, deren Namen uns aufbewahrt, hat kein einziges gleichen Gentilnamen für Mann und Frau. Das Erbrecht beweist diese Regel ebenfalls. Die Frau verliert durch die Heirat ihre agnatischen Rechte, tritt aus ihrer Gens, weder sie noch ihre Kinder können von ihrem Vater oder dessen Brüdern erben, weil sonst das Erbteil der väterlichen Gens verlorenginge. Dies hat Sinn nur unter der Voraussetzung, daß die Frau keinen Gentilgenossen heiraten kann. 5. Ein gemeinsamer Grundbesitz. Dieser war in der Urzeit stets vorhanden, sobald das Stammland anfing geteilt zu werden. Unter den latinischen Stämmen finden wir den Boden teils im Besitz des Stammes, teils der Gens, teils der Haushaltungen, welche damals schwerlich3 Einzelfamilien waren. Romulus soll die ersten Landteilungen an einzelne gemacht haben, ungefähr eine Hektare (zwei Jugera) auf jeden. Doch finden wir noch später Grundbesitz in den Händen der Gentes, vom Staatsland gar nicht zu sprechen, um das sich die ganze innere Geschichte der Republik dreht. 6. Pflicht der Gentilgenossen zu gegenseitigem Schutz und Beistand. Davon zeigt uns die geschriebne Geschichte nur noch Trümmer; der römische Staat trat gleich von vornherein mit solcher Übermacht auf, daß das
1 Gentilgrabhügel - 2 (1884) lautet der letzte Satz: Noch unter Augustus wurde der nach Rom gekommene Kopf des im Teutoburger Wald gefallenen Varus in der Grabstätte der Gens Quinctilia (gentilitius tumulus) beigesetzt - 3 (1884) nicht notwendig (statt: damals schwerlich)
Recht des Schutzes gegen Unbill auf ihn überging. Als Appius Claudius verhaftet wurde, legte seine ganze Gens Trauer an, selbst die seine persönlichen Feinde waren. Zur Zeit des zweiten Punischen Kriegs11011 verbanden sich die Gentes zur Auslösung ihrer kriegsgefangnen Gentilgenossen; der Senat verbot es ihnen. 7. Recht, den Gentilnamen zu tragen. Blieb bis in die Kaiserzeit; den Freigelaßneri erlaubte man, den Gentilnamen ihrer ehemaligen Herren anzunehmen, doch ohne Gentilrechte. 8. Recht der Adoption Fremder in die Gens. Dies geschah durch Adoption in eine Familie (wie bei den Indianern), die die Aufnahme in die Gens mit sich führte. 9. Das Recht, den Vorsteher zu wählen und abzusetzen, wird nirgends erwähnt. Da aber in der ersten Zeit Roms alle Ämter durch Wahl oder Ernennung besetzt wurden, vom Wahlkönig abwärts, und auch die Priester der Curien von diesen gewählt, so dürfen wir für die Vorsteher (principes) der Gentes dasselbe annehmen - so sehr auch die Wahl aus einer und derselben Familie in der Gens schon Regel geworden sein mochte. Das waren die Befugnisse einer römischen Gens. Mit Ausnahme des bereits vollendeten Übergangs zum Vaterrecht sind sie das treue Spiegelbild der Rechte und Pflichten einer irokesischen Gens; auch hier „guckt der Irokese unverkennbar durch".1 Welche Verwirrung, auch bei unsern anerkanntesten Geschichtsschreibern, heute noch über die römische Gentilordnung herrscht, dafür nur ein Beispiel. In Mommsens Abhandlung über die römischen Eigennamen der republikanischen und augustinischen Zeit („Römische Forschungen", Berlin 1864, I.Band) heißt es: „Außer den sämtlichen männlichen Geschlechtsgenossen, mit Ausschluß natürlich der Sklaven, aber mit Einschluß der Zugewandten und Schutzbefohlnen, kommt der Geschlechtsname auch den Frauen zu ... Der Stamm" (wie Mommsen hier gens übersetzt) „ist... ein aus gemeinschaftlicher - wirklicher oder vermuteter oder auch fingierter - Abstammung hervorgegangenes, durch Fest-, Grab- und Erbgenossenschaft vereinigtes Gemeinwesen, dem alle persönlich freien Individuen, also auch die Frauen, sich zuzählen dürfen und müssen. Schwierigkeit aber macht die Bestimmung des Geschlechtsnamens der verheirateten Frauen. Dieselbe fällt freilich weg, solange die Frau sich nicht anders als mit einem Geschlechtsgenossen vermählen durfte; und nachweislich hat es für die Frauen lange Zeit größere Schwierigkeit gehabt, außerhalb als innerhalb des Geschlechts sich zu verheiraten, wie denn jenes Recht, die gentis enuptio, noch im 6. Jahrhundert als persönliches Vorrecht zur Belohnung vergeben worden ist... Wo
1 (1884) fehlt der folgende Text bis zum Absatz: Noch fast dreihundert Jahre ... (S. 122)
nun aber dergleichen Ausheiratungen vorkamen, muß die Frau in ältester Zeit damit in den Stamm des Mannes übergegangen sein. Nichts ist sicherer, als daß die Frau in der alten religiösen Ehe völlig in die rechtliche und sakrale Gemeinschaft des Mannes einund aus der ihrigen austritt. Wer weiß es nicht, daß die verheiratete Frau das Erbrecht gegen ihre Gentilen aktiv und passiv einbüßt, dagegen mit ihrem Mann, ihren Kindern und dessen Gentilen überhaupt in Erbverband tritt? Und wenn sie ihrem Mann an Kindes Statt wird und in seine Familie gelangt, wie kann sie seinem Geschlecht fernbleiben?" (S. 8-11.)
Mommsen behauptet also, die römischen Frauen, die einer Gens angehörten, hätten ursprünglich nur innerhalb ihrer Gens heiraten dürfen, die römische Gens sei also endogam gewesen, nicht exogam. Diese Ansicht, die aller Erfahrung bei andern Völkern widerspricht, gründet sich hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf eine einzige vielumstrittene Stelle des Livius (Buch XXXIX, c. 19), wonach der Senat im Jahr der Stadt 568, vor unsrer Zeitrechnung 186, beschloß, uti Feceniae Hispalae datio, deminutio, gentis enuptio, tutoris optio item esset quasi ei vir testamento dedisset; utique ei ingenuo nubere liceret, neu quid ei qui eam duxisset, ob id fraudi ignominiaeve esset - daß die Fecenia Hispala das Recht haben soll, über ihr Vermögen zu verfügen, es zu vermindern, außer der Gens zu heiraten und sich einen Vormund zu wählen, ganz als ob ihr (verstorbner) Mann ihr dies Recht durch Testament übertragen hätte; daß sie einen Vollfreien heiraten dürfe, und daß dem, der sie zur Frau nehme, dies nicht als schlechte Handlung oder Schande angerechnet werden soll. Unzweifelhaft wird hier also der Fecenia, einer Freigelaßnen, das Recht erteilt, außerhalb der Gens zu heiraten. Und ebenso unzweifelhaft hatte hiernach der Ehemann des Recht, testamentarisch seiner Frau das Recht zu übertragen, nach seinem Tode außerhalb der Gens zu heiraten. Aber außerhalb welcher Gens? Mußte die Frau innerhalb ihrer Gens heiraten, wie Mommsen annimmt, so blieb sie auch nach der Heirat in dieser Gens. Erstens aber ist diese behauptete Endogamie der Gens grade das, was zu beweisen ist. Und zweitens, wenn die Frau in der Gens heiraten mußte, dann natürlich auch der Mann, der ja sonst keine Frau bekam. Dann kommen wir dahin, daß der Mann seiner Frau testamentarisch ein Recht vermachen konnte, das er selbst, und für sich selbst, nicht besaß; wir kommen auf einen rechtlichen Widersinn. Mommsen fühlt dies auch und vermutet daher:
„Es bedurfte für die Ausheiratung aus dem Geschlecht rechtlich wohl nicht bloß der Einwilligung des Gewalthabenden, sondern der sämtlichen Gentilgenossen." (S.l 0, Note.)
Das ist erstens eine sehr kühne Vermutung, und zweitens widerspricht es dem klaren Wortlaut der Stelle; der Senat gibt ihr dies Recht an Stelle des Mannes, er gibt ihr ausdrücklich nicht mehr und nicht minder, als ihr Mann ihr hätte geben können, aber was er ihr gibt, ist ein absolutes, von keiner andern Beschränkung abhängiges Recht; so daß, wenn sie davon Gebrauch macht, auch ihr neuer Mann darunter nicht leiden soll; er beauftragt sogar die gegenwärtigen und künftigen Konsuln und Prätoren, dafür zu sorgen, daß ihr keinerlei Unbill daraus erwachse. Mommsens Annahme scheint also durchaus unzulässig. Oder aber: Die Frau heiratete einen Mann aus einer andern Gens, blieb aber selbst in ihrer angebornen Gens. Dann hätte nach der obigen Stelle ihr Mann das Recht gehabt, der Frau zu erlauben, aus ihrer eignen Gens hinauszuheiraten. Das heißt, er hätte das Recht gehabt, Verfügungen zu treffen in Angelegenheiten einer Gens, zu der er gar nicht gehörte. Die Sache ist so widersinnig, daß darüber kein Wort weiter zu verlieren ist. Bleibt also nur die Annahme, die Frau habe in erster Ehe einen Mann aus einer andern Gens geheiratet und sei durch die Heirat ohne weiteres in die Gens des Mannes übergetreten, wie dies Mommsen auch für solche Fälle tatsächlich zugibt. Dann erklärt sich der ganze Zusammenhang, sofort. Die Frau, durch die Heirat losgerissen von ihrer alten Gens und aufgenommen in den neuen Gentilverband des Mannes, hat in diesem eine ganz besondre Stellung. Sie ist zwar Gentilgenossin, aber nicht' blutsverwandt; die Art ihrer Aufnahme schließt sie von vornherein aus von jedem Eheverbot innerhalb der Gens, in die sie ja gerade hineingeheiratet hat; sie ist ferner in den Eheverband der Gens aufgenommen, erbt beim Tode ihres Mannes von seinem Vermögen, also Vermögen eines Gentilgenossen. Was ist natürlicher, als daß dies Vermögen in der Gens bleiben, sie also verpflichtet sein soll, einen Gentilgenossen ihres ersten Mannes zu heiraten und keinen andern? Und wenn eine Ausnahme gemacht werden soll, wer ist so kompetent, sie dazu zu bevollmächtigen wie derjenige, der ihr dies Vermögen vermacht hat, ihr erster Mann? Im Augenblick, wo er ihr einen Vermögensteil vermacht und ihr gleichzeitig erlaubt, diesen Vermögensteil durch Heirat oder infolge von Heirat in eine fremde Gens zu übertragen, gehört ihm dies Vermögen noch, er verfügt also buchstäblich nur über sein Eigentum. Was die Frau selbst angeht, und ihr Verhältnis zur Gens ihres Mannes, so ist er es, der sie in diese Gens durch einen freien Willensakt - die Heirat - eingeführt hat; es scheint also ebenfalls natürlich, daß er die geeignete Person ist, sie zum Austritt aus dieser Gens durch zweite Heirat zu bevollmächtigen. Kurzum, die Sache scheint einfach und selbstverständlich, sobald wir
die wunderbare Vorstellung von der endogamen römischen Gens fallenlassen und sie mit Morgan als ursprünglich exogam fassen. Es bleibt noch eine letzte Annahme, die auch ihre Vertreter gefunden hat, und wohl die zahlreichsten: Die Stelle besage nur, „daß freigelaßne Mägde (libertae) nicht ohne besondre Bewilligung e gente enubere" (aus der Gens ausheiraten) „oder sonst einen der Akte vornehmen durften, der, mit capitis deminutio minima1 verbunden, den Austritt der liberta aus dem Gentilverbande bewirkt hätte". (Lange, „Römische Alterthümer", Berlin 1856, I, S.195, wo sich auf Huschke zu unsrer livianischen Stelle bezogen wird.)[l021 Ist diese Annahme richtig, so beweist die Stelle für die Verhältnisse vollfreier Römerinnen erst recht nichts und kann von einer Verpflichtung derselben, innerhalb der Gens zu heiraten, erst recht nicht die Rede sein. Der Ausdruck enuptio gentis kommt nur in dieser einen Stelle und sonst in der ganzen römischen Literatur nicht mehr vor; das Wort enubere, ausheiraten, nur dreimal, ebenfalls bei Livius, und dann nicht in Beziehung auf die Gens. Die Phantasie, daß Römerinnen nur innerhalb der Gens heiraten durften, verdankt nur dieser einen Stelle ihre Existenz. Sie kann aber absolut nicht aufrechterhalten werden. Denn entweder bezieht sich die Stelle auf besondre Beschränkungen für Freigelaßne, und dann beweist sie nichts für Vollfreie (ingenuae); oder aber sie gilt auch für Vollfreie, und dann beweist sie vielmehr, daß die Frau in der Regel außer ihrer Gens heiratete, aber mit der Heirat in die Gens des Mannes übertrat; also gegen Mommsen und für Morgan. Noch fast dreihundert Jahre nach Gründung Roms waren die Gentilbande so stark, daß eine patrizische Gens, die der Fabier, mit Einwilligung des Senats einen Kriegszug gegen die Nachbarstadt Veji auf eigne Faust unternehmen konnte. 306 Fabier sollen ausgezogen und in einem Hinterhalt sämtlich erschlagen worden sein; ein einziger zurückgebliebener Knabe habe die Gens fortgepflanzt. Zehn Gentes bildeten, wie gesagt, eine Phratrie, die hier Curie hieß und wichtigere öffentliche Befugnisse erhielt als die griechische Phratrie. Jede Curie hatte ihre eignen Religionsübungen, Heiligtümer und Priester; diese letzteren, in ihrer Gesamtheit, bildeten eins der römischen Priesterkollegien. Zehn Curien bildeten einen Stamm, der wahrscheinlich, wie die übrigen latinischen Stämme, ursprünglich einen gewählten Vorsteher - Heerführer und Oberpriester - hatte. Die Gesamtheit der drei Stämme bildete das römische Volk, den Populus Romanus.
1 Verlust der Familienrechte
Dem römischen Volk konnte also nur angehören, wer Mitglied einer Gens und durch sie einer Curie und eines Stammes war. Die erste Verfassung dieses Volkes war folgende. Die öffentlichen Angelegenheiten wurden besorgt zunächst durch den Senat, der, wie Niebuhr zuerst richtig gesehn, aus den Vorstehern der dreihundert Gentes zusammengesetzt war; eben deswegen, als Gentilälteste, hießen sie Väter, patres, und ihre Gesamtheit Senat (Rat der Ältesten, von senex, alt). Die gewohnheitsmäßige Wahl aus immer derselben Familie jeder Gens rief auch hier den ersten Stammesadel ins Leben; diese Familien nannten sich Patrizier und nahmen ausschließliches Recht des Eintritts in den Senat und alle andern Ämter in Anspruch. Daß das Volk sich diesen Anspruch mit der Zeit gefallen ließ und er sich in ein wirkliches Recht verwandelte, drückt die Sage dahin aus, daß Romulus den ersten Senatoren und ihren Nachkommen das Patriziat mit dessen Vorrechten erteilt habe. Der Senat, wie die athenische Bule, hatte die Entscheidung in vielen Angelegenheiten, die Vorberatung in wichtigeren und namentlich bei neuen Gesetzen. Diese wurden entschieden durch die Volksversammlung, genannt comitia curiata (Versammlung der Curien). Das Volk kam zusammen, in Curien gruppiert, in jeder Curie wahrscheinlich nach Gentes, bei der Entscheidung hatte jede der dreißig Curien eine Stimme. Die Versammlung der Curien nahm an oder verwarf alle Gesetze, wählte alle höhern Beamten mit Einschluß des rex (sogenannten Königs), erklärte Krieg (aber der Senat schloß Frieden) und entschied als höchstes Gericht, auf Berufung der Beteiligten, in allen Fällen, wo es sich um Todesstrafe gegen einen römischen Bürger handelte. - Endlich stand neben Senat und Volksversammlung der rex, der genau dem griechischen Basileus entsprach und keineswegs der fast absolute König war, als den Mommsen1-1031 ihn darstellt.* Auch er war Heerführer, Oberpriester und Vorsitzer in gewissen Gerichten. Zivilbefugnisse oder Macht über Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger hatte er durchaus nicht, soweit sie nicht aus der Disziplinargewalt des Heerführers oder der urteilsvollstreckenden Gewalt des Ge
* Das lateinische rex ist das keltisch-irische righ (Stammesvorsteher) und das gotische reiks; daß dies ebenfalls, wie ursprünglich auch unser Fürst (d.h. wie englisch first, dänisch forste, der erste) Gentil- oder Stammesvorsteher bedeutete, geht hervor daraus, daß die Goten schon im 4. Jahrhundert ein besonderes Wort für den späteren König, den Heerführer eines gesamten Volkes, besaßen: thiudans. Artaxerxes und Herodes heißen in Ulfilas' Bibelübersetzung nie reiks, sondern thiudans und das Reich des Kaisers Tiberius nicht reiki, sondern thiudinassus. Im Namen des gotischen Thiudans, oder wie wir ungenau übersetzen, Königs Thiudareiks, Theodorich, d.h. Dietrich, fließen beide Benennungen zusammen.
richtsvorsitzers entsprangen. Das Amt des rex war nicht erblich; er wurde im Gegenteil, wahrscheinlich auf Vorschlag des Amtsvorgängers, von der Versammlung der Curien zuerst gewählt und dann in einer zweiten Versammlung feierlich eingesetzt. Daß er auch absetzbar war, beweist das Schicksal des Tarquinius Superbus. Wie die Griechen zur Heroenzeit, lebten also die Römer zur Zeit der sogenannten Könige in einer auf Gentes, Phratrien und Stämmen begründeten und aus ihnen entwickelten militärischen Demokratie. Mochten auch die Curien und Stämme zum Teil künstliche Bildungen sein, sie waren geformt nach den echten, naturwüchsigen Vorbildern der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen und die sie noch auf allen Seiten umgab. Mochte auch der naturwüchsige patrizische Adel bereits Boden gewonnen haben, mochte die Reges ihre Befugnisse allmählich zu erweitern suchen das ändert den ursprünglichen Grundcharakter der Verfassung nicht, und auf diesen allein kommt es ein. Inzwischen vermehrte sich die Bevölkerung der Stadt Rom und des römischen, durch Eroberung erweiterten Gebiets teils durch Einwanderung, teils durch die Bewohner der unterworfnen, meist latinischen Bezirke. Alle diese neuen Staatsangehörigen (die Frage wegen der Klienten lassen wir hier beiseite) standen außerhalb der alten Gentes, Curien und Stämme, bildeten also keinen Teil des populus romanus, des eigentlichen römischen Volks. Sie waren persönlich freie Leute, konnten Grundeigentum besitzen, mußten Steuern und Kriegsdienste leisten. Aber sie konnten keine Ämter bekleiden und weder an der Versammlung der Curien teilnehmen noch an der Verteilung der eroberten Staatsländereien. Sie bildeten die von allen öffentlichen Rechten ausgeschlossene Plebs. Durch ihre stets wachsende Zahl, ihre militärische Ausbildung undBewaffnung wurden sie eine drohende Macht gegenüber dem alten, gegen allen Zuwachs von außen jetzt fest abgeschlossenen Populus. Dazu kam, daß der Grundbesitz zwischen Populus und Plebs ziemlich gleichmäßig verteilt gewesen zu sein scheint, während der allerdings noch nicht sehr entwickelte kaufmännische und industrielle Reichtum wohl vorwiegend bei der Plebs war. Bei der großen Dunkelheit, worin die ganz sagenhafte Urgeschichte Roms gehüllt ist - eine Dunkelheit, noch- bedeutend verstärkt durch die rationalistisch-pragmatischen Deutungsversuche und Berichte der späteren juristisch gebildeten Quellenschriftsteller -, ist es unmöglich, weder über Zeit noch Verlauf, noch Anlaß der Revolution etwas Bestimmtes zu sagen, die der alten Gentilverfassung ein Ende machte. Gewiß ist nur, daß ihre Ursache in den Kämpfen zwischen Plebs und Populus lag.
Die neue, dem Rex Servius Tullius zugeschriebne, sich an griechische Muster, namentlich Solon, anlehnende Verfassung schuf eine neue Volksversammlung, die ohne Unterschied Populus und Plebejer ein- oder ausschloß, je nachdem sie Kriegsdienste leisteten oder nicht. Die ganze Waffenpflichtige Mannschaft wurde nach dem Vermögen in sechs Klassen eingeteilt. Der geringste Besitz in jeder der fünf Klassen war: 1.100 000 Aß; II. 75 000; III. 50 000; IV. 25 000; V. 11 000 Aß; nach Dureau de la Malle gleich ungefähr 14 000, 10 500, 7000, 3600 und 1570 Mark. Die sechste Klasse, die Proletarier, bestand aus den weniger Begüterten, Dienst- und Steuerfreien. In der neuen Volksversammlung der Centurien (comitia centuriata) traten die Bürger militärisch an, kompanieweise in ihren Centurien zu hundert Mann, und jede Centurie hatte eine Stimme. Nun aber stellte die erste Klasse 80 Centurien; die zweite 22, die dritte 20, die vierte 22, die fünfte 30, die sechste des Anstands halber auch eine. Dazu kamen die aus den Reichsten gebildeten Reiter mit 18 Centurien; zusammen 193; Majorität der Stimmen: 97. Nun hatten die Reiter und die erste Klasse zusammen allein 98 Stimmen, also die Majorität; waren sie einig, wurden die übrigen gar nicht gefragt; der gültige Beschluß war gefaßt. Auf diese neue Versammlung der Centurien gingen nun alle politischen Rechte der früheren Versammlung der Curien (bis auf einige nominelle) über; die Curien und die sie zusammensetzenden Gentes wurden dadurch, wie in Athen, zu bloßen Privat- und religiösen Genossenschaften degradiert und vegetierten als solche noch lange fort, während die Versammlung der Curien bald ganz einschlief. Um auch die alten drei Geschlechterstämme aus dem Staat zu verdrängen, wurden vier Ortsstämme, deren jeder ein Viertel der Stadt bewohnte, mit einer Reihe von politischen Rechten eingeführt. Somit war auch in Rom, schon vor der Abschaffung des sogenannten Königtums, die alte auf persönlichen Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt. Die öffentliche Gewalt bestand hier in der kriegsdienstpflichtigen Bürgerschaft gegenüber nicht nur den Sklaven, sondern auch den vom Heeresdienst und der Bewaffnung ausgeschlossenen sogenannten Proletariern. Innerhalb dieser neuen Verfassung, die bei der Vertreibung des letzten, wirkliche Königsgewalt usurpierenden Rex Tarquinius Superbus und Ersetzung des rex durch zwei Heerführer (Konsuln) mit gleicher Amtsgewalt (wie bei den Irokesen) nur weiter ausgebildet wurde - innerhalb dieser Verfassung bewegt sich die ganze Geschichte der römischen Republik mit allen
ihren Kämpfen der Patrizier und Plebejer um den Zugang zu den Ämtern und die Beteiligung an den Staatsländereien, mit dem endlichen Aufgehn des Patrizieradels in der neuen Klasse der großen Grund- und Geldbesitzer, die allmählich allen Grundbesitz der durch den Kriegsdienst ruinierten Bauern aufsogen, die so entstandnen enormen Landgüter mit Sklaven bebauten, Italien entvölkerten und damit nicht nur dem Kaisertum die Tür öffneten, sondern auch seinen Nachfolgern, den deutschen Barbaren.
VII
Die Gens bei Kelten und Deutschen
Der Raum verbietet uns, auf die noch jetzt bei den verschiedensten wilden und barbarischen Völkern in reinerer oder getrübterer Form bestehenden Gentilinstitutionen einzugehn oder auf die Spuren davon in der älteren Geschichte asiatischer Kulturvölker.1 Die einen oder die andern finden sich überall. Nur ein paar Beispiele: Ehe noch die Gens erkannt war, hat der Mann, der sich die meiste Mühe gab sie mißzuverstehen, hat MacLennan sie nachgewiesen und im ganzen richtig beschrieben bei Kalmüken,Tscherkessen, Samojeden und bei drei indischen Völkern: den Waralis, den Magars und den Munnipuris. Neuerdings hat M. Kowalewski sie entdeckt und beschrieben bei den Pschaven, Schevsuren, Svaneten und andern kaukasischen Stämmen. Hier nur einige kurze Notizen über das Vorkommen der Gens bei Kelten und Germanen. Die ältesten erhaltenen keltischen Gesetze zeigen uns die Gens noch in vollem Leben; in Irland lebt sie wenigstens instinktiv im Volksbewußtsein noch heute, nachdem die Engländer sie gewaltsam gesprengt; in Schottland stand sie noch Mitte des vorigen Jahrhunderts in voller Blüte und erlag auch hier nur den Waffen, der Gesetzgebung und den Gerichtshöfen der Engländer. Die altwalisischen Gesetze, die mehrere Jahrhunderte vor der englischen Eroberung11011, spätestens im 1 I.Jahrhundert, niedergeschrieben wurden, zeigen noch gemeinschaftlichen Ackerbau ganzer Dörfer, wenn auch nur als ausnahmsweisen Rest früherer allgemeiner Sitte; jede Familie hatte fünf Acker zur eignen Bebauung; ein Stück wurde daneben gemeinsam bebaut und der Ertrag verteilt. Daß diese Dorfgemeinden Gentes repräsentieren, oder Unterabteilungen von Gentes, ist bei der Analogie von Irland und Schottland nicht zu bezweifeln, selbst wenn eine erneuerte Prüfung der walisischen Gesetze, zu der mir die Zeit fehlt (meine Auszüge sind vom
1 (1884) fehlt der folgende Text bis zu den Worten: Hier nur einige kurze Notizen...
Jahr 1869)[105], dies nicht direkt beweisen sollte. Was aber die walisischen Quellen, und mit ihnen die irischen, direkt beweisen, ist, daß bei den Kelten die Paarungsehe im 11 .Jahrhundert noch keineswegs durch die Monogamie verdrängt war. In Wales wurde eine Ehe erst unlöslich, oder besser unkündbar, nach sieben Jahren. Fehlten nur drei Nächte an den sieben Jahren, so konnten die Gatten sich trennen. Dann wurde geteilt: Die Frau teilte, der Mann wählte sein Teil. Die Möbel wurden nach gewissen, sehr humoristischen Regeln geteilt. Löste der Mann die Ehe, so mußte er der Frau ihre Mitgift und einiges andre zurückgeben; war es die Frau, so erhielt sie weniger. Von den Kindern bekam der Mann zwei, die Frau eines, und zwar das mittelste. Wenn die Frau nach der Scheidung einen andern Mann nahm, und der erste Mann holte sie sich wieder, so mußte sie ihm folgen, auch wenn sie schon einen Fuß im neuen Ehebett hatte. Waren die beiden aber sieben Jahre zusammengewesen, so waren sie Mann und Frau, auch ohne vorherige förmliche Heirat. Keuschheit der Mädchen vor der Heirat wurde durchaus nicht streng eingehalten oder gefordert; die hierauf bezüglichen Bestimmungen sind äußerst frivoler Natur und keineswegs der bürgerlichen Moral gemäß. Beging eine Frau einen Ehebruch, so durfte der Mann sie prügeln (einer der drei Fälle, wo ihm dies erlaubt, sonst verfiel er in Strafe), dann aber weiter keine Genugtuung fordern, denn
„für dasselbe Vergehen soll entweder Sühnung sein oderfoache, aber nicht beides zugleich"^.
Die Gründe, auf die hin die Frau die Scheidung verlangen durfte, ohne in ihren Ansprüchen bei der Auseinandersetzung zu verlieren, waren sehr umfassender Art: Übler Atem des Mannes genügte. Das an den Stammeshäuptling oder König zu zahlende Loskaufgeld für das Recht der ersten Nacht (gobr merch, daher der mittelalterliche Name marcheta, französisch marquette) spielt eine große Rolle im Gesetzbuch. Die Weiber hatten Stimmrecht in den Volksversammlungen. Fügen wir hinzu, daß in Irland ähnliche Verhältnisse bezeugt sind; daß dort ebenfalls Ehen auf Zeit ganz gebräuchlich und der Frau bei der Trennung genau geregelte, große Begünstigungen, sogar Entschädigung für ihre häuslichen Dienste zugesichert waren; daß dort eine „erste Frau" neben andern Frauen vorkommt und bei Erbteilungen zwischen ehelichen und unehelichen Kindern kein Unterschied gemacht wird - so haben wir ein Bild der Paarungsehe, wogegen die in Nordamerika gültige Eheform streng erscheint, wie es aber im I I.Jahrhundert bei einem Volk nicht verwundern kann, das noch zu Cäsars Zeit in der Gruppenehe lebte.
Die irische Gens (Sept, der Stamm heißt Clainne, Clan) wird nicht nur durch die alten Rechtsbücher, sondern auch durch die zur Verwandlung des Clanlandes in Domäne des englischen Königs hinübergesandten englischen Juristen des 17. Jahrhunderts bestätigt und beschrieben. Der Boden war bis zu dieser letzteren Zeit Gemeineigentum des Clans oder der Gens, soweit er nicht bereits von den Häuptlingen in ihre Privatdomäne verwandelt worden war. Wenn ein Gentilgenosse starb, also eine Haushaltung einging, so nahm der Vorsteher (caput cognationis nannten ihn die englischen Juristen) eine neue Landteilung des ganzen Gebiets unter den übrigen Haushaltungen vor. Diese muß im ganzen nach den in Deutschland gültigen Regeln erfolgt sein. Noch jetzt finden sich einige - vor vierzig oder fünfzig Jahren sehr zahlreiche - Dorffluren in sog. Rundale. Die Bauern, Einzelpächter des früher der Gens gemeinsam gehörigen, vom englischen Eroberer geraubten Bodens, zahlen jeder die Pacht für sein Stück, werfen aber das Acker- und Wiesenland aller Stücke zusammen, teilen es nach Lage und Qualität in „Gewanne", wie es an der Mosel heißt, und geben jedem seinen Anteil in jedem Gewann; Moor- und Weideland wird gemeinsam genutzt. Noch vor fünfzig Jahren wurde von Zeit zu Zeit, manchmal jährlich, neu umgeteilt. Die Flurkarte eines solchen Rundale-Dorfes sieht ganz genauso aus wie die einer deutschen Gehöferschaft an der Mosel oder im Hochwald. Auch in den „factions"1 lebt die Gens fort. Die irischen Bauern teilen sich oft in Parteien, die auf scheinbar ganz widersinnigen oder sinnlosen Unterschieden beruhen, den Engländern ganz unverständlich sind und keinen andern Zweck zu haben scheinen als die beliebten solennen Prügeleien der einen Faktion gegen die andre. Es sind künstliche Wiederbelebungen, nachgeborner Ersatz für die zersprengten Gentes, die die Fortdauer des ererbten Gentilinstinkts in ihrer Weise dartun. In manchen Gegenden sind übrigens die Gentilgenossen noch ziemlich auf dem alten Gebiet zusammen; so hatte noch in den dreißiger Jahren die große Mehrzahl der Bewohner der Grafschaft Monaghan nur vier Familiennamen, d.h. stammte aus vier Gentes oder Clans.*
* Zur vierten Auflage. Während einiger in Irland'107' zugebrachten Tage ist mir wieder frisch ins Bewußtsein getreten, wie sehr das Landvolk dort noch in den Vorstellungen der Gentilzeit lebt. Der Grundbesitzer, dessen Pächter der Bauer ist, gilt diesem noch immer als eine Art Clanchef, der den Boden im Interesse aller zu verwalten hat, dem der Bauer Tribut in der Form von Pacht bezahlt, von dem er aber auch in Notfällen Unterstützung erhalten soll. Und ebenso gilt jeder Wohlhabendere als
1 „Parteien"
9 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
In Schottland datiert der Untergang der Gentilordnung von der Niederwerfung des Aufstandes von 1745.[108] Welches Glied dieser Ordnung der schottische Clan speziell darstellt, bleibt noch zu untersuchen; daß er aber ein solches, ist unzweifelhaft. In Walter Scotts Romanen sehn wir diesen hochschottischen Clan lebendig vor uns. Er ist, sagt Morgan, „ein vortreffliches Musterbild der Gens in seiner Organisation und in seinem Geist, ein schlagendes Beispiel der Herrschaft des Gentillebens über die Gentilen... In ihren Fehden und in ihrer Blutrache, in der Gebietsverteilung nach Clans, in ihrer gemeinsamen Bodennutzung, in der Treue der Clanglieder gegen den Häuptling und gegeneinander finden wir die überall wiederkehrenden Züge der Gentilgesellschaft... Die Abstammung zählte nach Vaterrecht, so daß die Kinder der Männer in den Clans blieben, während die der Weiber in die Clans ihrer Väter übertraten."1109' Daß aber in Schottland früher Mutterrecht herrschte, beweist die Tatsache, daß in der königlichen Familie der Pikten, nach Beda[U0], weibliche Erbfolge galt. Ja selbst ein Stück Punaluafamilie hatte sich, wie bei den Walisern, so bei den Skoten, bis ins Mittelalter bewahrt in dem Recht der ersten Nacht, das der Clanhäuptling oder der König als letzter Vertreter der früheren gemeinsamen Ehemänner bei jeder Braut auszuüben berechtigt war, sofern es nicht abgekauft wurde.1
verpflichtet zur Unterstützung seiner ärmeren Nachbarn, sobald diese in Not geraten. Solche Hülfe ist nicht Almosen, sie ist das, was dem ärmeren vom reicheren Clangenossen oder Clanchef von Rechts wegen zukommt. Man begreift die Klage der politischen Ökonomen und Juristen über die Unmöglichkeit, dem irischen Bauer den Begriff des modernen bürgerlichen Eigentums beizubringen; ein Eigentum, das nur Rechte hat, aber keine Pflichten, will dem Irländer platterdings nicht in den Kopf. Man begreift aber auch, wie Irländer, die mit solchen naiven Gentilvorstellungen plötzlich in die großen englischen oder amerikanischen Städte verschlagen werden, unter eine Bevölkerung mit ganz andern Moral- und Rechtsanschauungen, wie solche Irländer da leicht an Moral und Recht total irre werden, allen Halt verlieren und oft massenhaft der Demoralisation verfallen mußten. 1 (1884) folgt: Dasselbe Recht - in Nordamerika kommt es im äußersten Nordwesten vielfach vor - galt auch bei den Russen, wo die Großfürstin Olga es im zehnten Jahrhundert abschaffte. Die in Frankreich, besonders in Nivemais und der Franche-Comt€ bis zur Revolution bestehenden kommunistischen Haushaltungen leibeigner Familien, ähnlich den slawischen Familiengemeinden in den serbisch-kroatischen Gegenden, sind ebenfalls Reste früherer gentiler Organisation. Sie sind noch nicht ganz ausgestorben, man sieht z. B. bei Louhans (Saone-et-Loire) noch eine Menge großer, eigentümlich gebauter Bauernhäuser mit gemeinsamem Zentralsaal und Schlafkammem rings herum, von mehreren Generationen derselben Familie bewohnt.
Daß die Deutschen bis zur Völkerwanderung in Gentes organisiert waren, ist unzweifelhaft. Sie können das Gebiet zwischen Donau, Rhein, Weichsel und den nördlichen Meeren erst wenige Jahrhunderte vor unsrer Zeitrechnung besetzt haben; die Cimbern und Teutonen waren noch in voller Wanderung, und die Sueven feinden erst zu Casars Zeit feste Wohnsitze. Von ihnen sagt Cäsar ausdrücklich, sie hätten sich nach Gentes und Verwandtschaften (gentibus cognationibusque)trL:l] niedergelassen, und im Munde eines Römers der gens Julia hat dies Wort gentibus eine nicht wegzudemonstrierende bestimmte Bedeutung. Dies galt von allen Deutschen; selbst die Ansiedlung in den eroberten Römerprovinzen1 scheint noch nach Gentes erfolgt zu sein. Im alamannischen Volksrecht wird bestätigt, daß das Volk auf dem eroberten Boden südlich der Donau nach Geschlechtern (genealogiae) sich ansiedelte11121; genealogia wird ganz in demselben Sinn gebraucht wie später Mark- oder Dorfgenossenschaft. Es ist neuerdings von Kowalewski die Ansicht aufgestellt worden, diese genealogiae seien die großen Hausgenossenschaften, unter die das Land verteilt worden sei und aus denen sich erst später die Dorfgenossenschaft entwickelt. Dasselbe dürfte denn auch von der fara gelten, mit welchem Ausdruck bei Burgundern und Langobarden - also bei einem gotischen und einem herminonischen oder hochdeutschen Volksstamm - so ziemlich, wenn nicht genau dasselbe bezeichnet wird wie mit genealogia im alamannischen Rechtsbuch. Was hier in Wirklichkeit vorliegt: Gens oder Hausgenossenschaft, muß noch näher untersucht werden. Die Sprachdenkmäler lassen uns im Zweifel darüber, ob bei allen Deutschen ein gemeinsamer Ausdruck für Gens bestand und welcher. Etymolo
1 Der folgende Text bis zum Absatz: Wie bei Mexikanern und Griechen ... (S. 132) ist die von Engels 1891 erweiterte Fassung. Er lautete 1884: geschah noch nach Gentes. Im alamannischen Volksrecht des achten Jahrhunderts wird genealogia gradezu mit Markgenossenschaft gleichbedeutend gesetzt; so daß wir hier ein deutsches Volk, und zwar wiederum Sueven, nach Geschlechtem, gentes, angesiedelt und jeder Gens einen bestimmten Bezirk zugewiesen sehn. Bei den Burgundern und Langobarden hieß die Gens fara, und die Bezeichnung für Gentilgenossen (faramanni) wird im burgundischen Volksrecht gradezu gleichbedeutend mit Burgunder gebraucht, im Gegensatz zu den romanischen Einwohnern, die natürlich nicht in den burgundischen Gentes einbegriffen waren. Die Landteilung ging also auch in Burgund nach Gentes vor sich. So löst sich die Frage wegen der faramanni, an der sich die germanischen Juristen seit hundert Jahren vergebens die Köpfe zerbrochen. Dieser Name fara für Gens hat schwerlich allgemein bei den Deutschen gegolten, obwohl wir ihn hier sowohl bei einem Volk gotischer, wie bei einem andern herminonischer (hochdeutscher) Abstammung finden. Die im Deutschen für Verwandtschaft angewandten Sprachwurzeln sind sehr zahlreich und werden gleichmäßig für Ausdrücke angewandt, bei denen wir Be» ziehung zur Gens voraussetzen dürfen.
gisch entspricht dem griechischen genos, lateinischen gens das gotische kuni, , mittelhochdeutsch künne, und wird auch in demselben Sinn gebraucht. Auf die Zeiten des Mutterrechts weist zurück, daß der Name für Weib von derselben Wurzel stammt: griechisch gyne, slawisch zena, gotisch qvino, altnordisch kona, kuna. - Bei Langobarden und Burgundern finden wir, wie gesagt, fara, das Grimm von einer hypothetischen Wurzel fisan, zeugen, ableitet. Ich möchte lieber auf die handgreiflichere Herleitung von faran, fahren, wandern, zurückgehn, als Bezeichnung einer fast selbstredend aus Verwandten sich zusammensetzenden, festen Abteilung des Wanderzugs, eine Bezeichnung, die im Lauf der mehrhundertjährigen Wanderung erst nach Ost, dann nach West, sich allmählich auf die Geschlechtsgenossenschaft selbst übertrug. - Ferner gotisch sibja, angelsächsisch sib, althochdeutsch sippia, sippa, Sippe. Altnordisch kommt nur der Plural sifjar, die Verwandten vor; der Singular nur als Name einer Göttin, Sif. - Und endlich kommt noch ein andrer Ausdruck im „Hildebrandslied"11131 vor, wo Hildebrand den Hadubrand fragt,
„wer sein Vater wäre unter den Männern im Volk... oder welches Geschlechtes du seist" (eddo huelihhes aiuosles du sis).
Soweit ein gemeinsamer deutscher Name für die Gens bestanden hat, wird er wohl gotisch kuni gelautet haben; dafür spricht nicht nur die Identität mit dem entsprechenden Ausdruck der verwandten Sprachen, sondern auch der Umstand, daß von ihm das Wort kuning, König, sich herleitet, welches ursprünglich einen Gentil- oder Stammesvorsteher bedeutet. Sibja, Sippe, scheint außer Betracht zu kommen, wenigstens bedeutet sifjar im Altnordischen nicht nur Blutsverwandte, sondern auch Verschwägerte, umfaßt also die Angehörigen mindestens zweier Gentes; sif kann also nicht selbst der Ausdruck für Gens gewesen sein. Wie bei Mexikanern und Griechen war auch bei den Deutschen die Schlachtordnung, sowohl die Reiterschwadron wie die Keilkolonne des Fußvolks, nach Gentilkörperschaften gegliedert; wenn Tacitus sagt: nach Familien und Verwandtschaften11141, so erklärt sich dieser unbestimmte Ausdruck daher, daß zu seiner Zeit die Gens in Rom längst aufgehört hatte, eine lebendige Vereinigung zu sein. Entscheidend ist eine Stelle bei Tacitus, wo es heißt: Der Mutterbruder sieht seinen Neffen an wie seinen Sohn, ja einige halten das Blutband zwischen mütterlichem Onkel und Neffen noch heiliger und enger als das zwischen Vater und Sohn, so daß, wenn Geiseln gefordert werden, der Schwestersohn für eine größere Garantie gilt als der eigne Sohn dessen, den
man binden will. Hier haben wir ein lebendiges Stück aus der nach Mutterrecht organisierten, also ursprünglichen Gens, und zwar als etwas die Deutschen besonders Auszeichnendes.* Wurde vom Genossen einer solchen Gens der eigne Sohn zum Pfand eines Gelöbnisses gegeben und fiel als Opfer bei Vertragsbruch des Vaters, so hatte dieser das mit sich selbst auszumachen. War es aber der Schwestersohn, der geopfert wurde, so war das heiligste Gentilrecht verletzt; der nächste, zum Schutz des Knaben oder Jünglings vor allen andern verpflichtete Gentilverwandte hatte seinen Tod verschuldet; entweder durfte er ihn nicht verpfänden, oder er mußte den Vertrag halten. Hätten wir sonst nicht eine Spur von Gentilverfassung bei den Deutschen, diese eine Stelle würde hinreichen.1 Noch entscheidender, weil um etwa 800 Jahre später, ist eine Stelle aus dem altnordischen Lied von der Götterdämmerung und vom Weltuntergang, der „Völuspä"[116]. In diesem „Gesicht der Seherin", worin, wie jetzt durch Bang und Bugge nachgewiesen, auch christliche Elemente verwoben sind, heißt es bei der Schilderung der die große Katastrophe einleitenden Zeit allgemeiner Entartung und Verderbtheit: Broedhr munu berjask ok at bönum verdask, munu systnmgar sifjum spilla. „Brüder werden sich befehden und einander zu Mördern werden, es werden Schwesterkinder die Sippe brechen." Systrungr heißt der Sohn der Mutterschwester, und daß solche die Blutsverwandtschaft gegeneinander verleugnen, gilt dem Dichter noch als
* Die aus der Zeit des Mutterrechts stammende besonders enge Natur des Bandes zwischen mütterlichem Onkel und Neffen, die bei vielen Völkern vorkommt, kennen die Griechen nur in der Mythologie der Heroenzeit. Nach Diodor (IV, 34) erschlägt Meleager die Söhne des Thestius, die Brüder seiner Mutter Althäa. Diese sieht in dieser Tat einen so unsühnbaren Frevel, daß sie dem Mörder, ihrem eignen Sohn, flucht und ihm den Tod anwünscht. „Die Götter erhörten, wie man erzählt, ihre Wünsche und machten dem Leben des Meleager ein Ende." Nach demselben Diodor (IV, 44) landen die Argonauten unter Herakles in Thrazien und finden dort, daß Phineus seine mit seiner verstoßenen Gemahlin, der Boreade Kleopatra, erzeugten beiden Söhne auf Antreiben seiner neuen Gemahlin schmählich mißhandelt. Aber unter den Argonauten sind auch Boreaden, Brüder der Kleopatra, als Mutterbrüder der Mißhandelten. Sie nehmen sich sofort ihrer Neffen an, befreien sie und erschlagen die Wächter.I1151 1 (1884) fehlt der folgende Text bis zum Absatz: Im übrigen war das Mutterrecht... (S. 134)
eine Steigerung selbst des Verbrechens des Brudermords. Die Steigerung liegt in dem systrungar, das die Verwandtschaft auf Mutterseite betont; stände statt dessen syskina-börn, Geschwisterkinder, oder syskina-synir, Geschwistersöhne, so böte die zweite Zeile gegen die erste keine Steigerung, sondern einen schwächenden Abstieg. Also selbst zur Wikingerzeit, wo die „Völuspä" entstand, war die Erinnerung an das Mutterrecht in Skandinavien noch nicht verwischt. Im übrigen war das Mutterrecht zu Tacitus' Zeit wenigstens1 bei den ihm näher bekannten2 Deutschen schon dem Vaterrecht gewichen: Die Kinder erbten vom Vater; wo keine Kinder waren, die Brüder und die Onkel von Vater- und Mutterseite. Die Zulassung des Mutterbruders zur Erbschaft hängt mit der Erhaltung der eben erwähnten Sitte zusammen und beweist ebenfalls, wie jung das Vaterrecht damals noch bei den Deutschen war. Auch bis tief ins Mittelalter finden sich Spuren von Mutterrecht. Damals noch scheint man der Vaterschaft, namentlich bei Leibeignen, nicht recht getraut zu haben; wenn also ein Feudalherr von einer Stadt einen entlaufnen Leibeignen zurückforderte, mußte z.B. in Augsburg, Basel und Kaiserslautern die Leibeigenschaft des Verklagten beschworen werden von sechs seiner nächsten Blutsverwandten, und zwar ausschließlich von Mutterseite (Maurer, „ Städte VerfassungI, S.381). Einen ferneren Rest des eben erst absterbenden Mutterrechts bietet die dem Römer fast unbegreifliche Achtung der Deutschen vor dem weiblichen Geschlecht. Jungfrauen aus edler Familie galten für die bindendsten Geiseln bei Verträgen mit den Deutschen; der Gedanke daran, daß ihre Frauen und Töchter in Gefangenschaft und Sklaverei fallen können, ist ihnen fürchterlich und stachelt mehr als alles andere ihren Mut in der Schlacht; etwas Heiliges und Prophetisches sehn sie in der Frau, sie hören auf ihren Rat auch in den wichtigsten Angelegenheiten, wie denn Veleda, die brukterische Priesterin an der Lippe, die treibende Seele des ganzen Bataveraufstandes war, in dem Civilis an der Spitze von Deutschen und Belgiern die ganze Römerherrschaft in Gallien erschütterte.1-1171 Im Hause scheint die Herrschaft der Frau unbestritten; sie, die Alten und Kinder haben freilich auch alle Arbeit zu besorgen, der Mann jagt, trinkt oder faulenzt. So sagt Tacitus; da er aber nicht sagt, wer den Acker bestellt, und bestimmt erklärt, die Sklaven leisteten nur Abgaben, aber keine Fronarbeit, so wird die Masse der erwachsenen Männer doch wohl die wenige Arbeit haben tun müssen, die der Landbau erforderte.
1 (1884) fehlt: wenigstens - 2 (1884) fehlt: ihm näher bekannten
Die Form der Ehe war, wie schon oben gesagt, eine allmählich der Monogamie sich nähernde Paarungsehe. Strikte Monogamie war es noch nicht, da Vielweiberei der Vornehmen gestattet war. Im ganzen wurde streng auf Keuschheit der Mädchen gehalten (im Gegensatz zu den Kelten), und ebenso spricht Tacitus mit einer besondern Wärme von der Unverbrüchlichkeit des Ehebandes bei den Deutschen. Nur Ehebruch der Frau gibt er als Scheidungsgrund an. Aber sein Bericht läßt hier manches lückenhaft und trägt ohnehin den den liederlichen Römern vorgehaltnen Tugendspiegel gar zu sehr zur Schau. Soviel ist sicher: Waren die Deutschen in ihren Wäldern diese ausnahmsweisen Tugendritter, so hat es nur geringer Berührung mit der Außenwelt bedurft, um sie auf das Niveau der übrigen europäischen Durchschnittsmenschen herunterzubringen; die letzte Spur der Sittenstrenge verschwand inmitten der Römerwelt noch weit rascher als die deutsche Sprache. Man lese nur Gregor von Tours. Daß in den deutschen Urwäldern nicht die raffinierte Üppigkeit der Sinnenlust herrschen konnte wie in Rom, versteht sich von selbst, und so bleibt den Deutschen auch in dieser Beziehung noch Vorzug genug vor der Römerwelt, ohne daß wir ihnen eine Enthaltsamkeit in fleischlichen Dingen andichten, die nie und nirgends bei einem ganzen Volk geherrscht hat. Der Gentilverfassung entsprungen ist die Verpflichtung, die Feindschaften des Vaters oder der Verwandten ebenso zu erben wie die Freundschaften; ebenso das Wergeid, die Buße, anstatt der Blutrache, für Totschlag oder Verletzungen. Dies Wergeid, das noch vor einem Menschenalter als eine spezifisch deutsche Institution eingesehen wurde, ist jetzt bei Hunderten von Völkern als edlgemeine Milderungsform der aus der Gentilordnung entspringenden Blutrache nachgewiesen. Wir finden es, ebenso wie die Verpflichtung zur Gastfreundschaft, unter andern bei den amerikanischen Indianern; die Beschreibung, wie die Gastfreundschaft nach Tacitus („Germania", c. 21) ausgeübt wurde, ist fast bis in die Einzelnheiten dieselbe, die Morgan von seinen Indianern gibt. Der heiße und endlose Streit darüber, ob die Deutschen des Tacitus das Ackerland schon endgültig aufgeteilt oder nicht und wie die betreffenden Stellen zu deuten, gehört jetzt der Vergangenheit an. Seitdem die gemeinsame Bebauung des Ackerlands durch die Gens und später durch kommunistische Familiengemeinden, die Cäsar noch bei den Sueven bezeugt[U8], und die ihr folgende Landzuweisung an einzelne Familien mit periodischer Neuaufteilung fast bei allen Völkern nachgewiesen, seitdem festgestellt ist, daß diese periodische Wiederverteilung des Ackerlands in Deutschland selbst stellenweise bis auf unsre Tage sich erhalten hat, ist darüber kein
Wort weiter zu verlieren. Wenn die Deutschen von dem gemeinsamen Landbau, den Cäsar den Sueven ausdrücklich zuschreibt (geteilten oder Privatacker gibt es bei ihnen durchaus nicht, sagt er), in den 150 Jahren bis zu Tacitus übergegangen waren zur Einzelbebauuung mit jährlicher Neuverteilung des Bodens, so ist das wahrlich Fortschritt genug; der Übergang von jener Stufe zum vollen Privateigentum am Boden während jener kurzen Zwischenzeit und ohne jede fremde Einmischung schließt eine einfache Unmöglichkeit ein. Ich lese also im Tacitus nur, was er mit dürren Worten sagt: Sie wechseln (oder teilen neu um) das bebaute Land jedes Jahr, und es bleibt Gemeinland genug dabei übrig.11191 Es ist die Stufe des Ackerbaus und der Bodenaneignung, die der damaligen Gentilverfassung der Deutschen genau entspricht.1 Den vorstehenden letzten Absatz lasse ich unverändert, wie er in den früheren Auflagen steht. Inzwischen hat sich die Frage anders gedreht. Seit dem von Kowalewski (vgl. oben S.442) nachgewiesenen weitverbreiteten, wo nicht allgemeinen Vorkommen der patriarchalischen Hausgenossenschaft als Zwischenstufe zwischen der mutterrechtlichen kommunistischen und der modernen isolierten Familie fragt es sich nicht mehr, wie noch zwischen Maurer und Waitz, um Gemeineigentum oder Privateigentum am Boden, sondern um die Form des Gemeineigentums. Daß zur Zeit des Cäsar bei den Sueven nicht nur Gemeineigentum, sondern auch gemeinsame Bebauung für gemeinsame Rechnung bestand, darüber ist kein Zweifel. Ob die wirtschaftliche Einheit die Gens war oder die Hausgenossenschaft oder eine zwischen beiden liegende kommunistische Verwandtschaftsgruppe, oder ob je nach den Bodenverhältnisse alle drei Gruppen vorkamen, darüber wird sich noch lange streiten lassen. Nun aber behauptet Kowalewski, der von Tacitus geschilderte Zustand habe nicht die Mark- oder Dorfgenossenschaft, sondern die Hausgenossenschaft zur Voraussetzung; erst aus dieser letzteren habe sich dann viel später, infolge des Anwachsens der Bevölkerung, die Dorfgenossenschaft entwickelt. Hiernach hätten die Ansiedlungen der Deutschen auf dem zur Römerzeit von ihnen besetzten wie auf dem den Römern später abgenommenen Gebiet nicht aus Dörfern bestanden, sondern aus großen Familiengenossenschaften, die mehrere Generationen umfaßten, eine entsprechende Landstrecke unter Bebauung nahmen und das umliegende Ödland mit den Nachbarn als gemeine Mark nutzten. Die Stelle des Tacitus vom Wechseln des
1 (1884) fehlt der folgende Text bis zum Absatz: Während bei Cäsar... (S. 137) -2 siehe vorl. Band, S. 60
bebauten Landes wäre dann in der Tat im agronomischen Sinn zu fassen: Die Genossenschaft habe jedes Jahr eine andre Strecke umgeackert und das Ackerland des Vorjahrs brachliegen oder wieder ganz verwildern lassen. Bei der dünnen Bevölkerung sei dann immer noch Ödland genug übriggeblieben, um jeden Streit um Landbesitz unnötig zu machen. Erst nach Jahrhunderten, als die Kopfzahl der Hausgenossen eine solche Stärke erreicht, daß gemeinsame Wirtschaft unter den damaligen Produktionsbedingungen nicht mehr möglich, hätten sie sich aufgelöst; die bisher gemeinsamen Äkker und Wiesen seien in der bekannten Weise unter die sich nunmehr bildenden Einzelhaushaltungen verteilt worden, anfangs auf Zeit, später ein für allemal, während Wald, Weide und Gewässer gemeinsam blieben. Für Rußland scheint dieser Entwicklungsgang historisch vollständig nachgewiesen. Was Deutschland und in zweiter Linie die übrigen germanischen Länder betrifft, so ist nicht zu leugnen, daß diese Annahme in vieler Beziehung die Quellen besser erklärt und Schwierigkeiten leichter löst als die bisherige, die die Dorfgemeinschaft bis zu Tacitus zurückreichen läßt. Die ältesten Dokumente z.B. des Codex Laureshamensis1-1201 erklären sich im ganzen weit besser mit Hülfe der Hausgenossenschaft als der Dorfmarkgenossenschaft. Andrerseits eröffnet sie wieder neue Schwierigkeiten und neue, erst zu lösende Fragen. Hier können nur neue Untersuchungen Entscheidung bringen; ich kann jedoch nicht leugnen, daß die Zwischenstufe der Hausgenossenschaft auch für Deutschland, Skandinavien und England sehr viele Wahrscheinlichkeit für sich hat. Während bei Cäsar die Deutschen teils eben erst zu festen Wohnsitzen gekommen sind, teils noch solche suchen, haben sie zu Tacitus' Zeit schon ein volles Jahrhundert der Ansässigkeit hinter sich; dementsprechend ist der Fortschritt in der Produktion des Lebensunterhalts unverkennbar. Sie wohnen in Blockhäusern; ihre Kleidung ist noch sehr waldursprünglich; grober Wollenmantel, Tierfelle, für Frauen und Vornehme leinene Unterkleider. Ihre Nahrung ist Milch, Fleisch, wilde Früchte und, wie Plinius hinzufügt, Haferbrei1121' (noch jetzt keltische Nationalkost in Irland und Schottland). Ihr Reichtum besteht in Vieh: Dies aber ist von schlechter Race, die Rinder klein, unansehnlich, ohne Hömer; die Pferde kleine Ponies und keine Renner. Geld wurde selten und wenig gebraucht, nur römisches. Gold und Silber verarbeiteten sie nicht und achteten seiner nicht, Eisen war selten und scheint wenigstens bei den Stämmen an Rhein und Donau fast nur eingeführt, nicht selbstgewonnen zu sein. Die Runenschrift (griechischen oder lateinischen Buchstaben nachgeahmt) war nur als Geheimschrift bekannt und wurde nur zu religiöser Zauberei gebraucht.
Menschenopfer waren noch im Gebrauch. Kurz, wir haben hier ein Volk vor uns, das sich soeben aus der Mittelstufe der Barbarei auf die Oberstufe erhoben hatte. Während aber die an die Römer unmittelbar angrenzenden Stämme durch die erleichterte Einfuhr römischer Industrieprodukte an der Entwicklung einer selbständigen Metall- und Textilindustrie verhindert wurden, bildete sich eine solche im Nordosten, an der Ostsee, ganz unzweifelhaft aus. Die in den schleswigschen Mooren gefundenen Rüstungsstücke - langes Eisenschwert, Kettenpanzer, Silberhelm etc., mit römischen Münzen vom Ende des zweiten Jahrhunderts - und die durch die Völkerwanderung verbreiteten deutschen Metallsachen zeigen einen ganz eignen Typus von nicht geringer Ausbildung, selbst wo sie sich an ursprünglich römische Muster anlehnen. Die Auswanderung in das zivilisierte Römerreich machte dieser einheimischen Industrie überall ein Ende, außer in England. Wie einheitlich diese Industrie entstanden und fortgebildet war, zeigen z.B. die bronzenen Spangen; die in Burgund, in Rumänien, am Asowschen Meer gefundenen könnten mit englischen und schwedischen aus derselben Werkstatt hervorgegangen sein und sind ebenso unbezweifelt germanischen Ursprungs. Der Oberstufe der Barbarei entspricht auch die Verfassung. Allgemein bestand nach Tacitus der Rat der Vorsteher (principes), der geringere Sachen entschied, wichtigere aber für die Entscheidung der Volksversammlung vorbereitete; diese selbst besteht auf der Unterstufe der Barbarei, wenigstens da, wo wir sie kennen, bei den Amerikanern, nur erst für die Gens, noch nicht für den Stamm oder den Stämmebund. Die Vorsteher (principes) scheiden sich noch scharf von den Kriegsführern (duces), ganz wie bei Irokesen. Erstere leben schon zum Teil von Ehrengeschenken an Vieh, Korn etc., von den Stammesgenossen; sie werden, wie in Amerika, meist aus derselben Familie gewählt; der Übergang zum Vaterrecht begünstigt, wie in Griechenland und Rom, die allmähliche Verwandlung der Wahl in Erblichkeit und damit die Bildung einer Adelsfamilie in jeder Gens. Dieser alte, sogenannte Stammesadel ging meist unter in der Völkerwanderung oder doch bald nachher. Die Heerführer wurden ohne Rücksicht auf Abstammung, bloß nach der Tüchtigkeit gewählt. Sie hatten wenig Gewalt und mußten durchs Beispiel wirken; die eigentliche Disziplinargewalt beim Heer legt Tacitus ausdrücklich den Priestern bei. Die wirkliche Macht lag bei der Volksversammlung. Der König oder Stammesvorsteher präsidiert; das Volk entscheidet - nein: durch Murren; ja: durch Akklamation und Waffenlärm. Sie ist zugleich Gerichtsversammlung; hier werden Klagen vorgebracht und abgeurteilt, hier Todesurteile gefällt, und zwar steht der
Tod nur auf Feigheit, Volksverrat und unnatürlicher Wollust. Auch in den Gentes und andern Unterabteilungen richtet die Gesamtheit unter Vorsitz des Vorstehers, der, wie in allem deutschen ursprünglichen Gericht, nur Leiter der Verhandlung und Fragesteller gewesen sein kann; Urteilsfinder war von jeher und überall bei Deutschen die Gesamtheit. Bünde von Stämmen hatten sich seit Cäsars Zeit ausgebildet; bei einigen von ihnen gab es schon Könige; der oberste Heerführer, wie bei Griechen und Römern, strebte bereits der Tyrannis zu und erlangte sie zuweilen. Solche glückliche Usurpatoren waren nun keineswegs unbeschränkte Herrscher; aber sie fingen doch schon an, die Fesseln der Gentilverfassung zu brechen. Während sonst freigelaßne Sklaven eine untergeordnete Stellung einnahmen, weil sie keiner Gens angehören konnten, kamen solche Günstlinge bei den neuen Königen oft zu Rang, Reichtum und Ehren. Gleiches geschah nach der Eroberung des Römerreichs von den nun zu Königen großer Länder gewordnen Heerführern. Bei den Franken spielten Sklaven •und Freigelaßne des Königs erst am Hof, dann im Staat eine große Rolle; zum großen Teil stammt der neue Adel von ihnen ab. Eine Einrichtung begünstigte das Aufkommen des Königtums: die Gefolgschaften. Schon bei den amerikanischen Rothäuten sahen wir, wie sich neben der Gentilverfassung Privatgesellschaften zur Kriegführung auf eigne Faust bilden. Diese Privatgesellschaften waren bei den Deutschen bereits ständige Vereine geworden. Der Kriegsführer, der sich einen Ruf erworben, "versammelte eine Schar beutelustiger junger Leute um sich, ihm zu persönlicher Treue, wie er ihnen, verpflichtet. Der Führer verpflegte und beschenkte sie, ordnete sie hierarchisch; eine Leibgarde und schlagfertige Truppe zu kleineren, ein fertiges Offizierkorps für größere Auszüge. Schwach wie diese Gefolgschaften gewesen sein müssen und auch z.B. bei Odovakar in Italien später erscheinen, so bildeten sie doch schon den Keim •des Verfalls der alten Volksfreiheit und bewährten sich als solche in und nach der Völkerwanderung. Denn erstens begünstigten sie das Aufkommen •der königlichen Gewalt. Zweitens aber konnten sie, wie schon Tacitus bemerkt, zusammengehalten werden nur durch fortwährende Kriege und Raubzüge. Der Raub wurde Zweck. Hatte der Gefolgsherr in der Nähe nichts zu tun, so zog er mit seiner Mannschaft zu andern Völkern, bei denen •es Krieg und Aussicht auf Beute gab; die deutschen Hülfsvölker, die unter römischer Fahne selbst gegen Deutsche in großer Menge fochten, waren zum Teil durch solche Gefolgschaften zusammengebracht. Das Landslaiechtswesen, die Schmach und der Fluch der Deutschen, war hier schon in der ersten Anlage vorhanden. Nach Eroberung des Römerreichs bildeten
diese Gefolgsleute der Könige neben den unfreien und römischen Hofbedienten den zweiten Hauptbestandteil des späteren Adels. Im ganzen gilt also für die zu Völkern verbündeten deutschen Stämme dieselbe Verfassung, wie sie sich bei den Griechen der Heroenzeit und den Römern der sogenannten Königszeit entwickelt hatte: Volksversammlung, Rat der Gentilvorsteher, Heerführer, der schon einer wirklichen königlichen Gewalt zustrebt. Es war die ausgebildetste Verfassung, die die Gentilordnung überhaupt entwickeln konnte; sie war die Musterverfassung der Oberstufe der Barbarei. Schritt die Gesellschaft hinaus über die Grenzen, innerhalb deren diese Verfassung genügte, so war es aus mit der Gentilordnung; sie wurde gesprengt, der Staat trat an ihre Stelle.
VIII
Die Staatsbildung der Deutschen
Die Deutschen waren nach Tacitus ein sehr zahlreiches Volk. Eine ungefähre Vorstellung von der Stärke deutscher Einzelvölker erhalten wir bei Cäsar; er gibt die Zahl der auf dem linken Rheinufer erschienenen Usipeter und Tenkterer auf 180 000 Köpfe an, Weiber und Kinder eingeschlossen. Also etwa 100 000 auf ein Einzelvolk*, schon bedeutend mehr als z.B. die Gesamtheit der Irokesen in ihrer Blütezeit, wo sie, nicht 20 000 Köpfe stark, der Schrecken des ganzes Landes wurden, von den großen Seen bis an den Ohio und Potomac. Ein solches Einzelvolk nimmt auf der Karte, wenn wir versuchen, die in der Nähe des Rheins angesessenen, genauer bekannten nach den Berichten zu gruppieren, im Durchschnitt ungefähr den Raum eines preußischen Regierungsbezirks ein, also etwa 10 000 Quadratkilometer oder 182 geographische Quadratmeilen. Germania Magna1 der Römer aber, bis an die Weichsel, umfaßt in runder Zahl 500 000 Quadratkilometer. Bei einer durchschnittlichen Kopfzahl der Einzelvölker von 100 000 würde die Gesamtzahl für Germania Magna sich auf fünf Millionen berechnen; für eine barbarische Völkergruppe eine ansehnliche Zahl, für unsre Verhältnisse - 10 Köpfe auf den Quadratkilometer oder 550 auf die geographische Quadratmeile - äußerst gering. Damit aber ist die Zahl der damals lebenden Deutschen keineswegs erschöpft. Wir wissen, daß die Karpaten entlang bis zur Donaumündung hinab deutsche Völker gotischen
* Die hier angenommene Zahl wird bestätigt durch eine Stelle Diodors über die gallischen Kelten: „In Gallien wohnen viele Völkerschaften von ungleicher Stärke. Bei den größten beträgt die Menschenzahl ungefähr 200 000, bei den kleinsten 50 000." (Diodorus Siculus, V, 25.) Also durchschnittlich 125 000; die gallischen Einzelvölker sind, bei ihrem höheren Entwicklungsstand, unbedingt etwas zahlreicher anzunehmen als die deutschen.
1 Großgermanien
Stamms wohnten, Bastarner, Peukiner und andre, so zahlreich, daß Plinius aus ihnen den fünften Hauptstamm der Deutschen zusammensetzt11221 und daß sie, die schon 180 vor unsrer Zeitrechnung im Solddienst des makedonischen Königs Perseus auftreten, noch in den ersten Jahren des Augustus bis an die Gegend von Adrianopel vordrangen. Rechnen wir sie nur für eine Million, so haben wir als wahrscheinliche Anzahl der Deutschen zu Anfang unsrer Zeitrechnung mindestens sechs Millionen. Nach der Niederlassung in Germanien muß sich die Bevölkerung mit steigender Geschwindigkeit vermehrt haben; die obenerwähnten industriellen Fortschritte allein würden dies beweisen. Die schleswigschen Moorfunde sind, nach den zugehörigen römischen Münzen, aus dem dritten Jahrhundert. Um diese Zeit herrschte also schon an der Ostsee ausgebildete Metall- und Textilindustrie, reger Verkehr mit dem Römerreich und ein gewisser Luxus bei Reicheren - alles Spuren dichterer Bevölkerung. Um diese Zeit aber beginnt auch der allgemeine Angriffskrieg der Deutschen auf der ganzen Linie des Rheins, des römischen Grenzwalls und der Donau, von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer - direkter Beweis der immer stärker werdenden, nach außen drängenden Volkszahl. Dreihundert Jahre dauerte der Kampf, währenddessen der ganze Hauptstamm gotischer Völker (mit Ausnahme der skandinavischen Goten und der Burgunder) nach Südosten zog und den linken Flügel der großen Angriffslinie bildeten, in deren Zentrum die Hochdeutschen (Herminonen) an der Oberdonau und auf dessen rechtem Flügel die Isgävonen, jetzt Franken genannt, am Rhein vordrangen; den Inzävonen fiel die Eroberung Britanniens zu. Am Ende des fünften Jahrhunderts lag das Römerreich entkräftet, blutlos und hülflos den eindringenden Deutschen offen. Wir standen oben an der Wiege der antiken griechischen und römischen Zivilisation. Hier stehn wir an ihrem Sarg. Über alle Länder des Mittelmeerbeckens war der nivellierende Hobel der römischen Weltherrschaft gefahren, und das jahrhundertelang. Wo nicht das Griechische Widerstand leistete, hatten alle Nationalsprachen einem verdorbenen Lateinisch weichen müssen; es gab keine Nationalunterschiede, keine Gallier, Iberer, Ligurer, Noriker mehr, sie alle waren Römer geworden. Die römische Verwaltung und das römische Recht hatten überall die alten Geschlechterverbände aufgelöst und damit den letzten Rest lokaler und nationaler Selbsttätigkeit. Das neugebackne Römertum bot keinen Ersatz; es drückte keine Nationalität aus, sondern nur den Mangel einer Nationalität. Die Elemente neuer Nationen waren überall vorhanden; die lateinischen Dialekte der verschiednen Provinzen schieden sich mehr und mehr; die natürlichen
Grenzen, die Italien, Gallien, Spanien, Afrika früher zu selbständigen Gebieten gemacht hatten, waren noch vorhanden und machten sich auch noch fühlbar. Aber nirgends war die Kraft vorhanden, diese Elemente zu neuen Nationen zusammenzufassen; nirgends war noch eine Spur von Entwicklungsfähigkeit, von Widerstandskraft, geschweige von Schaffungsvermögen. Die ungeheure Menschenmasse des ungeheuren Gebiets hatte nur ein Band, das sie zusammenhielt: den römischen Staat, und dieser war mit der Zeit ihr schlimmster Feind und Unterdrücker geworden. Die Provinzen hatten Rom vernichtet; Rom selbst war eine Provinzialstadt geworden wie die andern - bevorrechtet, aber nicht länger herrschend, nicht länger Mittelpunkt des Weltreichs, nicht einmal mehr Sitz der Kaiser und Unterkaiser, die in Konstantinopel, Trier, Mailand wohnten. Der römische Staat war eine riesige, komplizierte Maschine geworden, ausschließlich zur Aussaugung der Untertanen. Steuern, Staatsfronden und Lieferungen aller Art drückten die Masse der Bevölkerung in immer tiefere Armut; bis zur Unerträglichkeit wurde der Druck gesteigert durch die Erpressungen der Statthalter, Steuereintreiber, Soldaten. Dahin hatte es der römische Staat mit seiner Weltherrschaft gebracht: Er gründete sein Existenzrecht auf die Erhaltung der Ordnung nach innen und den Schutz gegen die Barbaren nach außen. Aber seine Ordnung war schlimmer als die ärgste Unordnung, und die Barbaren, gegen die er die Bürger zu schützen vorgab, wurden von diesen als Retter ersehnt. Der Gesellschaftszustand war nicht weniger verzweifelt. Schon seit den letzten Zeiten der Republik war die Römerherrschaft auf rücksichtslose Ausbeutung der eroberten Provinzen ausgegangen; das Kaisertum hatte diese Ausbeutung nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil geregelt. Je mehr das Reich verfiel, desto höher stiegen Steuern und Leistungen, desto schamloser raubten und erpreßten die Beamten. Handel und Industrie waren nie Sache der Völker beherrschenden Römer gewesen; nur im Zinswucher hatten sie alles übertroffen, was vor und nach ihnen war. Was sich von Handel vorgefunden und erhalten hatte, ging zugrunde unter der Beamtenerpressung; was sich noch durchschlug, fällt auf den östlichen, griechischen Teil des Reichs, der außer unsrer Betrachtung liegt. Allgemeine Verarmung, Rückgang des Verkehrs, des Handwerks, der Kunst, Abnahme der Bevölkerung, Verfall der Städte, Rückkehr des Ackerbaus auf eine niedrigere Stufe - das war das Endresultat der römischen Weltherrschaft. Der Ackerbau, in der ganzen alten Welt der entscheidende Produktionszweig, war es wieder mehr als je. In Italien waren die seit Ende der Republik fast das ganze Gebiet einnehmenden ungeheuren Güterkomplexe
(Latifundien) auf zweierlei Weise verwertet worden. Entweder als Viehweide, wo die Bevölkerung durch Schafe und Ochsen ersetzt war, deren Wartung nur wenige Sklaven erforderte. Oder als Villen, die mit Massen von Sklaven Gartenbau in großem Stil trieben, teils für den Luxus des Besitzers, teils für den Absatz auf den städtischen Märkten. Die großen Viehweiden hatten sich erhalten und wohl noch ausgedehnt; die Villengüter und ihr Gartenbau waren verkommen mit der Verarmung ihrer Besitzer und dem Verfall der Städte. Die auf Sklavenarbeit gegründete Latifundienwirtschaft rentierte sich nicht mehr; sie war aber damals die einzig mögliche Form der großen Agrikultur. Die Kleinkultur war wieder die allein lohnende Form geworden. Eine Villa nach der andern wurde in kleine Parzellen zerschlagen und ausgegeben an Erbpächter, die eine bestimmte Summe zahlten, oder partiarii, mehr Verwalter als Pächter, die den sechsten oder gar nur neunten Teil des Jahresprodukts für ihre Arbeit erhielten. Vorherrschend aber wurden diese kleinen Ackerparzellen an Kolonen ausgetan, die dafür einen bestimmten jährlichen Betrag zahlten, an die Scholle gefesselt waren und mit ihrer Parzelle verkauft werden konnten; sie waren zwar keine Sklaven, aber auch nicht frei, konnten sich nicht mit Freien verheiraten, und ihre Ehen untereinander wurden nicht als vollgültige Ehen, sondern wie die der Sklaven als bloße Beischläferei (contubernium) angesehn. Sie waren die Vorläufer der mittelalterlichen Leibeignen. Die antike Sklaverei hatte sich überlebt. Weder auf dem Lande in der großen Agrikultur noch in den städtischen Manufakturen gab sie einen Ertrag mehr, der der Mühe wert war - der Markt für ihre Produkte war ausgegangen. Der kleine Ackerbau aber und das kleine Handwerk, worauf die riesige Produktion der Blütezeit des Reichs zusammengeschrumpft war, hatte keinen Raum für zahlreiche Sklaven. Nur für Haus- und Luxussklaven der Reichen war noch Platz in der Gesellschaft. Aber die absterbende Sklaverei war immer noch hinreichend, alle produktive Arbeit als Sklaventätigkeit, als freier Römer - und das war ja jetzt jedermann - unwürdig erscheinen zu lassen. Daher einerseits wachsende Zahl der Freilassungen überflüssiger, zur Last gewordner Sklaven, andrerseits Zunahme der Kolonen hier, der verlumpten Freien (ähnlich den poor whites1 der Exsklavenstaaten Amerikas) dort. Das Christentum ist am allmählichen Aussterben der antiken Sklaverei vollständig unschuldig. Es hat die Sklaverei jahrhundertelang im Römerreich mitgemacht und später nie den Sklavenhandel der Christen verhindert, weder den der Deutschen im Norden noch den der
1 armen Weißen
Venetianer im Mittelmeer, noch den späteren Negerhandel.* Die Sklaverei bezahlte sich nicht mehr, darum starb sie aus. Aber die sterbende Sklaverei ließ ihren giftigen Stachel zurück in der Ächtung der produktiven Arbeit der Freien. Hier war die ausweglose Sackgasse, in der die römische Welt stak: Die Sklaverei war ökonomisch unmöglich, die Arbeit der Freien war moralisch geächtet. Die eine konnte nicht mehr, die andre noch nicht Grundform der gesellschaftlichen Produktion sein. Was hier allein helfen konnte, war nur eine vollständige Revolution. In den Provinzen sah es nicht besser aus. Wir haben die meisten Nachrichten aus Gallien. Neben den Kolonen gab es hier noch freie Kleinbauern. Um gegen Vergewaltigung durch Beamte, Richter und Wucherer gesichert zu sein, begaben sich diese häufig in den Schutz, das Patronat eines Mächtigen; und zwar nicht nur einzelne taten dies, sondern ganze Gemeinden, so daß die Kaiser im vierten Jahrhundert mehrfach Verbote dagegen erließen. Aber was half es den Schutzsuchenden? Der Patron stellte ihnen die Bedingung, daß sie das Eigentum ihrer Grundstücke an ihn übertrügen, wogegen er ihnen die Nutznießung auf Lebenszeit zusicherte - ein Kniff, den die heilige Kirche sich merkte und im 9. und 10. Jahrhundert zur Mehrung des Reiches Gottes und ihres eignen Grundbesitzes weidlich nachahmte. Damals freilich, gegen das Jahr 475, eifert der Bischof Salvianus von Marseille noch entrüstet gegen solchen Diebstahl und erzählt, der Druck der römischen Beamten und großen Grundherren sei so arg geworden, daß viele „Römer" in die schon von Barbaren besetzten Gegenden flöhen und die dort ansässigen römischen Bürger vor nichts mehr Angst hätten, als wieder unter römische Herrschaft zu kommen.11241 Daß damals Eltern häufig aus Armut ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, beweist ein dagegen erlassenes Gesetz. Dafür, daß die deutschen Barbaren die Römer von ihrem eignen Staat befreiten, nahmen sie ihnen zwei Drittel des gesamten Bodens und teilten ihn unter sich. Die Teilung geschah nach der Gentilverfassung; bei der verhältnismäßig geringen Zahl der Eroberer blieben sehr große Striche ungeteilt, Besitz teils des ganzen Volks, teils der einzelnen Stämme und Gentes. In jeder Gens wurde das Acker- und Wiesenland unter die einzelnen Haushaltungen zu gleichen Teilen verlost; ob in der Zeit wiederholte Auf
* Nach dem Bischof Liutprand von Cremona war im 1 O.Jahrhundert in Verdun, also im heiligen deutschen Reich, der Hauptindustriezweig die Fabrikation von Eunuchen, die mit großem Profit nach Spanien für die maurischen Harems exportiert wurden.t123'
10 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
teilungen stattfanden, wissen wir nicht, jedenfalls verloren sie sich in den Römerprovinzen bald, und die Einzelanteile wurden veräußerliches Privateigentum, Allod. Wald und Weide blieb ungeteilt zu gemeinsamer Nutzung; diese Nutzung sowie die Art der Bebauung der aufgeteilten Flur wurde geregelt nach altem Brauch und nach Beschluß der Gesamtheit. Je länger die Gens in ihrem Dorfe saß und je mehr Deutsche und Römer allmählich verschmolzen, desto mehr trat der verwandtschaftliche Charakter des Bandes zurück vor dem territorialen; die Gens verschwand in der Markgenossenschaft, in der allerdings noch oft genug Spuren des Ursprungs aus Verwandtschaft der Genossen sichtbar sind. So ging hier die Gentilverfassung, wenigstens in den Ländern, wo die Markgemeinschaft sich erhielt - Nordfrankreich, England, Deutschland und Skandinavien —, unmerklich in eine Ortsverfassung über und erhielt damit die Fähigkeit der Einpassung in den Staat. Aber sie behielt dennoch den naturwüchsig demokratischen Charakter bei, der die ganze Gentilverfassung auszeichnet, und erhielt so selbst in der ihr später aufgezwungnen Ausartung ein Stück Gentilverfassung und damit eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, lebendig bis in die neueste Zeit. Wenn so das Blutband in der Gens bald verlorenging, so war dies die Folge davon, daß auch im Stamm und Gesamtvolk seine Organe ausarteten infolge der Eroberung. Wir wissen, daß Herrschaft über Unterworfene mit der Gentilverfassung unverträglich ist. Hier sehn wir dies auf großem Maßstab. Die deutschen Völker, Herren der Römerprovinzen, hatten diese ihre Eroberung zu organisieren. Weder aber konnte man die Römermassen in die Gentilkörper aufnehmen noch sie vermittelst dieser beherrschen. An die Spitze der, zunächst großenteils fortbestehenden, römischen lokalen Verwaltungskörper mußte man einen Ersatz für den römischen Staat stellen, und dieser konnte nur ein andrer Staat sein. Die Organe der Gentilverfassung mußten sich so in Staatsorgane verwandeln, und dies, dem Drang der Umstände gemäß, sehr rasch. Der nächste Repräsentant des erobernden Volks war aber der Heerführer. Die Sicherung des eroberten Gebiets nach innen und außen forderte Stärkung seiner Macht. Der Augenblick war gekommen zur Verwandlung der Feldherrnschaft in Königtum: sie vollzogsich. Nehmen wir das Frankenreich. Hier waren dem siegreichen Volk der Salier nicht nur die weiten römischen Staatsdomänen, sondern auch noch alle die sehr großen Landstrecken als Vollbesitz zugefallen, die nicht an die größeren und kleineren Gau- und Markgenossenschaften verteilt waren, namentlich alle größeren Waldkomplexe. Das erste, was der aus einem einfachen obersten Heerführer in einen wirklichen Landesfürsten verwandelte
Frankenkönig tat, war, dies Volkseigentum in königliches Gut zu verwandeln, es dem Volk zu stehlen und an sein Gefolge zu verschenken oder zu verleihen. Dies Gefolge, ursprünglich seine persönliche Kriegsgefolgschaft und die übrigen Unterführer des Heers, verstärkte sich bald nicht nur durch Römer, d.h. romanisierte Gallier, die ihm durch ihre Schreiberkunst, ihre Bildung, ihre Kenntnis der romanischen Landessprache und lateinischen Schriftsprache sowie des Landesrechts bald unentbehrlich wurden, sondern auch durch Sklaven, Leibeigne und Freigelassene, die seinen Hofstaat ausmachten und aus denen er seine Günstlinge wählte. An alle diese wurden Stücke des Volkslandes zuerst meist verschenkt, später in der Form von Benefizien zuerst meist auf Lebenszeit des Königs verliehen11251 und so die Grundlage eines neuen Adels auf Kosten des Volks geschaffen. Damit nicht genug. Die weite Ausdehnung des Reichs war mit den Mitteln der alten Gentilverfassung nicht zu regieren; der Rat der Vorsteher, war er nicht längst abgekommen, hätte sich nicht versammeln können und wurde bald durch die ständige Umgebung des Königs ersetzt; die alte Volksversammlung blieb zum Schein bestehn, wurde aber ebenfalls mehr und mehr bloße Versammlung der Unterführer des Heers und der neuaufkommenden Großen. Die freien grundbesitzenden Bauern, die Masse des fränkischen Volks wurden durch die ewigen Bürger- und Eroberungskriege, letztere namentlich unter Karl dem Großen, ganz so erschöpft und heruntergebracht wie früher die römischen Bauern in den letzten Zeiten der Republik. Sie, die ursprünglich das ganze Heer und nach der Eroberung Frankreichs dessen Kern gebildet hatten, waren am Anfang des neunten Jahrhunderts so verarmt, daß kaum noch der fünfte Mann ausziehen konnte. An die Stelle des direkt vom König aufgebotenen Heerbannes freier Bauern trat ein Heer, zusammengesetzt aus den Dienstleuten der neuaufgekommenen Großen, darunter auch hörige Bauern, die Nachkommen derer, die früher keinen Herrn als den König und noch früher gar keinen, nicht einmal einen König gekannt hatten. Unter den Nachfolgern Karls wurde der Ruin des fränkischen Bauernstandes durch innere Kriege, Schwäche der königlichen Gewalt und entsprechende Übergriffe der Großen, zu denen nun noch die von Karl eingesetzten und nach Erblichkeit des Amts strebenden Gaugrafen11261 kamen, endlich durch die Einfälle der Normannen vollendet. Fünfzig Jahre nach dem Tode Karls des Großen lag das Frankenreich ebenso widerstandslos zu den Füßen der Normannen, wie vierhundert Jahre früher das Römerreich zu den Füßen der Franken. Und nicht nur die äußere Ohnmacht, sondern auch die innere Gesellschaftsordnung oder vielmehr -unordnung war fast dieselbe. Die freien
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fränkischen Bauern waren in eine ähnliche Lage versetzt wie ihre Vorgänger, die römischen Kolonen. Durch die Kriege und Plünderungen ruiniert, hatten sie sich in den Schutz der neuaufgekommenen Großen oder der Kirche begeben müssen, da die königliche Gewalt zu schwach war, sie zu schützen; aber diesen Schutz mußten sie teuer erkaufen. Wie früher die gallischen Bauern, mußten sie das Eigentum an ihrem Grundstück an den Schutzherrn übertragen und erhielten dies von ihm zurück als Zinsgut unter verschiednen und wechselnden Formen, stets aber nur gegen Leistung von Diensten und Abgaben; einmal in diese Form von Abhängigkeit versetzt, verloren sie nach und nach auch die persönliche Freiheit; nach wenig Generationen waren sie zumeist schon Leibeigne. Wie rasch der Untergang des freien Bauernstandes sich vollzog, zeigt Irminons Grundbuch[127) der Abtei Saint-Germain-des-Pres, damals bei, jetzt in Paris. Auf dem weiten, in der Umgegend zerstreuten Grundbesitz dieser Abtei saßen damals, noch zu Lebzeiten Karls des Großen, 2788 Haushaltungen, fast ausnahmslos Franken mit deutschen Namen. Darunter 2080 Kolonen, 35 Liten[128!, 220 Sklaven und nur 8 freie Hintersassen! Die von Salvianus für gottlos erklärte Übung, daß der Schutzherr das Grundstück des Bauern sich zu Eigentum übertragen ließ und es ihm nur auf Lebenszeit zur Nutzung zurückgab, wurde jetzt von der Kirche gegen die Bauern allgemein praktiziert. Die Frondienste, die jetzt mehr und mehr in Gebrauch kamen, hatten in den römischen Angarien1-1291, Zwangsdiensten für den Staat, ihr Vorbild ebensosehr gehabt wie in den Diensten der deutschen Markgenossen für Brücken- und Wegebauten und andre gemeinsame Zwecke. Dem Schein nach war also die Masse der Bevölkerung nach vierhundert Jahren ganz wieder beim Anfang angekommen. Das aber bewies nur zweierlei: Erstens, daß die gesellschaftliche Gliederung und die Eigentumsverteilung im sinkenden Römerreich der damaligen Stufe der Produktion in Ackerbau und Industrie vollständig entsprochen hatte, also unvermeidlich gewesen war; und zweitens, daß diese Produktionsstufe während der folgenden vierhundert Jahre weder wesentlich gesunken war noch sich wesentlich gehoben hatte, also mit derselben Notwendigkeit dieselbe Egentumsverteilung und dieselben Bevölkerungsklassen wieder erzeugt hatte. Die Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten des Römerreichs ihre frühere Herrschaft über das Land verloren und in den ersten Jahrhunderten der deutschen Herrschaft sie nicht wiedererhalten. Es setzt dies eine niedrige Entwicklungsstufe sowohl des Ackerbaus wie der Industrie voraus. Diese Gesamtlage produziert mit Notwendigkeit große herrschende Grundbesitzer und abhängige Kleinbauern. Wie wenig es mög
lieh war, einerseits die römische Latifundienwirtschaft mit Sklaven, andrerseits die neuere Großkultur mit Fronarbeit einer solchen Gesellschaft aufzupfropfen, beweisen Karls des Großen ungeheure, aber fast spurlos vorübergegangne Experimente mit den berühmten kaiserlichen Villen. Sie wurden fortgesetzt nur von Klöstern und waren nur für diese fruchtbar; die Klöster aber waren abnorme Gesellschaftskörper, gegründet auf Ehelosigkeit; sie konnten Ausnahmsweises leisten, mußten aber ebendeshalb auch Ausnahme bleiben. Und doch war man während dieser vierhundert Jahre weitergekommen. Finden wir auch am Ende fast dieselben Hauptklassen wieder vor wie am Anfang, so waren doch die Menschen andre geworden, die diese Klassen bildeten. Verschwunden war die antike Sklaverei, verschwunden die verlumpten armen Freien, die die Arbeit als sklavisch verachteten. Zwischen dem römischen Kolonen und dem neuen Hörigen hatte der freie fränkische Bauer gestanden. Das „unnütze Erinnern und der vergebliche Streit" des verfallenden Römertums war tot und begraben. Die Gesellschaftsklassen des neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der Versumpfung einer untergehenden Zivilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen. Das neue Geschlecht, Herren wie Diener, war ein Geschlecht von Männern, verglichen mit seinen römischen Vorgängern. Das Verhältnis von mächtigen Grundherren und dienenden Bauern, das für diese die auswegslose Untergangsform der antiken Welt gewesen, es war jetzt für jene der Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung. Und dann, so unproduktiv diese vierhundert Jahre auch scheinen, ein großes Produkt hinterließen sie: die modernen Nationalitäten, die Neugestaltung und Gliederung der westeuropäischen Menschheit für die kommende Geschichte. Die Deutschen hatten in der Tat Europa neu belebt, und darum endete die Staatenauflösung der germanischen Periode nicht mit normännisch-sarazenischer Unterjochung, sondern mit der Fortbildung der Benefizien und der Schutzergebung (Kommendation[1S01) zum Feudalismus1 und mit einer so gewaltigen Volksvermehrung, daß kaum zweihundert Jahre nachher die starken Aderlässe der Kreuzzüge ohne Schaden ertragen wurden. Was aber war das geheimnisvolle Zaubermittel, wodurch die Deutschen dem absterbenden Europa neue Lebenskraft einhauchten? War es eine, dem deutschen Volksstamm eingeborne Wundermacht, wie unsre chauvinistische Geschichtschreibung uns vordichtet? Keineswegs. Die Deutschen waren, besonders damals, ein hochbegabter arischer Stamm und in voller leben
1 (1884) endet hier der Absatz
diger Entwicklung begriffen. Aber nicht ihre spezifischen nationalen Eigenschaften waren es, die Europa verjüngt haben, sondern einfach - ihre Barbarei, ihre Gentilverfassung. Ihre persönliche Tüchtigkeit und Tapferkeit, ihr Freiheitssinn und demokratischer Instinkt, der in allen öffentlichen Angelegenheiten seine eignen Angelegenheiten sah, kurz, alle die Eigenschaften, die dem Römer abhanden gekommen und die allein imstande, aus dem Schlamm der Römerwelt neue Staaten zu bilden und neue Nationalitäten wachsen zu lassen - was waren sie anders als die Charakterzüge des Barbaren der Oberstufe, Früchte seiner Gentilverfassung? Wenn sie die antike Form der Monogamie umgestalteten, die Männerherrschaft in der Familie milderten, der Frau eine höhere Stellung gaben, als die klassische Welt sie je gekannt, was befähigte sie dazu, wenn nicht ihre Barbarei, ihre Gentilgewohnheiten, ihre noch lebendigen Erbschaften aus der Zeit des Mutterrechts? Wenn sie wenigstens in dreien der wichtigsten Länder, Deutschland, Nordfrankreich und England, ein Stück echter Gentilverfassung in der Form der Markgenossenschaften in den Feudalstaat hinüberretteten und damit der unterdrückten Klasse, den Bauern, selbst unter der härtesten mittelalterlichen Leibeigenschaft, einen lokalen Zusammenhalt und ein Mittel des Widerstands gaben, wie es weder die antiken Sklaven fertig vorfanden noch die modernen Proletarier - wem war das geschuldet, wenn nicht ihrer Barbarei, ihrer ausschließlich barbarischen Ansiedlungsweise nach Geschlechtern? Und endlich, wenn sie die bereits in der Heimat geübte mildere Form der Knechtschaft, in die auch im Römerreich die Sklaverei mehr und mehr überging, ausbilden und zur ausschließlichen erheben konnten; eine Form, die, wie Fourier zuerst hervorgehoben'1311, den Geknechteten die Mittel zur allmählichen Befreiung als Klasse gibt (fournit aux cultivateurs des moyens d'affranchissement collectif et progressiv); eine Form, die sich hierdurch hoch über die Sklaverei stellt, bei der nur die sofortige Einzelfreilassung ohne Übergangszustand möglich (Abschaffung der Sklaverei durch siegreiche Rebellion kennt das Altertum nicht) - während in der Tat die Leibeignen des Mittelalters nach und nach ihre Befreiung als Klasse durchsetzten -, wem verdanken wir das, wenn nicht ihrer Barbarei, kraft deren sie es noch nicht zur ausgebildeten Sklaverei gebracht hatten, weder zur antiken Arbeitssklaverei noch zur orientalischen Haussklaverei?
1 liefert den Ackerbauern Mittel zu ihrer kollektiven und fortschreitenden Befreiung
Alles, was die Deutschen der Römerwelt Lebenskräftiges und Lebenbringendes einpflanzten, war Barbarentum. In der Tat sind nur Barbaren fähig, eine an verendender Zivilisation laborierende Welt zu verjüngen. Und die oberste Stufe der Barbarei, zu der und in der die Deutschen sich vor der Völkerwanderung emporgearbeitet, war gerade die günstigste für diesen Prozeß. Das erklärt alles.
IX
Barbarei und Zivilisation
Wir haben jetzt die Auflösung der Gentilverfassung an den drei großen Einzelbeispielen der Griechen, Römer und Deutschen verfolgt. Untersuchen wir zum Schluß die allgemeinen ökonomischen Bedingungen, die die gentile Organisation der Gesellschaft auf der Oberstufe der Barbarei bereits untergruben und mit dem Eintritt der Zivilisation vollständig beseitigten. Hier wird uns Marx' „Kapital" ebenso notwendig sein wie Morgans Buch. Hervorgewachsen auf der Mittelstufe, weitergebildet auf der Oberstufe der Wildheit, erreicht die Gens, soweit unsre Quellen dies beurteilen lassen, ihre Blütezeit auf der Unterstufe der Barbarei. Mit dieser Entwicklungsstufe also beginnen wir. Wir finden hier, wo uns die amerikanischen Rothäute als Beispiel dienen müssen, die Gentilverfassung vollkommen ausgebildet. Ein Stamm hat sich in mehrere, meistens zwei1 Gentes gegliedert; diese ursprünglichen Gentes zerfallen mit steigender Volkszahl jede in mehrere Tochtergentes, gegenüber denen die Muttergens als Phratrie erscheint; der Stamm selbst spaltet sich in mehrere Stämme, in deren jedem wir die alten Gentes großenteils wiederfinden; ein Bund umschließt wenigstens in einzelnen Fällen die verwandten Stämme. Diese einfache Organisation genügt vollkommen den gesellschaftlichen Zuständen, denen sie entsprungen ist. Sie ist weiter nichts als deren eigne, naturwüchsige Gruppierung, sie ist imstande, alle Konflikte auszugleichen, die innerhalb der so organisierten Gesellschaft entspringen können. Nach außen gleicht der Krieg aus; er kann mit Vernichtung des Stamms endigen, nie aber mit seiner Unterjochung. Es ist das Großartige, aber auch das Beschränkte der Gentilverfassung, daß sie für Herrschaft und Knechtung keinen Raum hat. Nach innen gibt es noch
1 (1884) fehlt: meistens zwei
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Titelblatt der vierten Auflage von Friedrich Engels' Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats"

keinen Unterschied zwischen Rechten und Pflichten; die Frage, ob Teilnahme ein den öffentlichen Angelegenheiten, Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für den Indianer nicht; sie würde ihm ebenso absurd vorkommen wie die: ob Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei. Ebensowenig kann eine Spaltung des Stammes und der Gens in verschiedne Klassen stattfinden. Und dies führt uns auf Untersuchung der ökonomischen Basis des Zustandes. Die Bevölkerung ist äußerst dünn: verdichtet nur am Wohnort des Stamms, um den in weitem Kreise zunächst das Jagdgebiet liegt, dann der neutrale Schutzwald, der ihn von andern Stämmen trennt. Die Teilung der Arbeit ist rein naturwüchsig; sie besteht nur zwischen den beiden Geschlechtern. Der Mann führt den Krieg, geht jagen und fischen, beschafft den Rohstoff der Nahrung und die dazu nötigen Werkzeuge. Die Frau besorgt das Haus und die Zubereitung der Nahrung und Kleidung, kocht, webt, näht. Jedes von beiden ist Herr auf seinem Gebiet: der Mann im Walde, die Frau im Hause. Jedes ist Eigentümer der von ihm verfertigten und gebrauchten Werkzeuge: der Mann der Waffen, des Jagd- und Fischzeugs, die Frau des Hausrats. Die Haushaltung ist kommunistisch für mehrere, oft viele Familien.* Was gemeinsam gemacht und genutzt wird, ist gemeinsames Eigentum: das Haus, der Garten, das Langboot. Hier also, und nur hier noch, gilt das von Juristen und Ökonomen der zivilisierten Gesellschaft angedichtete „selbstbearbeitete Eigentum", der letzte verlogne Rechtsvorwand, auf den das heutige kapitalistische Eigentum sich noch stützt. Aber die Menschen blieben nicht überall auf dieser Stufe stehn. In Asien fanden sie Tiere vor, die sich zähmen und gezähmt weiterzüchten ließen. Die wilde Büffelkuh mußte erjagt werden, die zahme lieferte jährlich ein Kalb und Milch obendrein. Eine Anzahl der vorgeschrittensten Stämme - Arier, Semiten, vielleicht auch schon Turanier - machten erst die Zähmung, später nur noch die Züchtung und Wartung von Vieh zu ihrem Hauptarbeitszweig. Hirtenstämme sonderten sich aus von der übrigen Masse der Barbaren: erste große gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Die Hirtenstämme produzierten nicht nur mehr, sondern auch andre Lebensmittel als die übrigen Barbaren. Sie hatten nicht nur Milch, Milchprodukte und Fleisch in größeren Massen vor diesen voraus, sondern auch Häute,
* Besonders an der Nordwestküste Amerikas, siebe Bancroft. Bei den Haidahs auf Königin Charlottes Insel kommen Haushaltungen bis zu 700 Personen unter einem Dacbe vor. Bei den Nootkas lebten ganze Stämme unter einem Dache.
Wolle, Ziegenhaare und die mit der Masse des Rohstoffs sich vermehrenden Gespinste und Gewebe. Damit wurde ein regelmäßiger Austausch zum erstenmal möglich. Auf früheren Stufen können nur gelegentliche Austäusche stattfinden; besondre Geschicklichkeit in der Verfertigung von Waffen und Werkzeugen kann zu vorübergehender Arbeitsteilung führen. So sind unzweifelhafte Reste von Werkstätten für Steinwerkzeuge aus dem späteren Steinzeitalter an vielen Orten gefunden worden; die Künstler, die hier ihre Geschicklichkeit ausbildeten, arbeiteten wahrscheinlich, wie noch die ständigen Handwerker indischer Gentilgemeinwesen, für Rechnung der Gesamtheit. Keinenfalls konnte auf dieser Stufe ein andrer Austausch als der innerhalb des Stammes entstehn, und dieser blieb ausnahmsweises Ereignis. Hier dagegen, nach der Ausscheidung der Hirtenstämme, finden wir alle Bedingungen fertig zum Austausch zwischen den Gliedern verschiedner Stämme, zu seiner Ausbildung und Befestigung als regelmäßige Institution. Ursprünglich tauschte Stamm mit Stamm, durch die gegenseitigen Gentilvorsteher; als aber die Herden anfingen in Sondereigentum1 überzugehn, überwog der Einzelaustausch mehr und mehr und wurde endlich einzige Form. Der Hauptartikel aber, den die Hirtenstämme an ihre Nachbarn im Tausch abgaben, war Vieh; Vieh wurde die Ware, in der alle andren Waren geschätzt und die überall gern im Austausch gegen jene genommen wurde - kurz, Vieh erhielt Geldfunktion und tat Gelddienste schon auf dieser Stufe. Mit solcher Notwendigkeit und Raschheit entwickelte sich schon im Anbeginn des Warenaustausches das Bedürfnis einer Geldware. Der Gartenbau, den asiatischen Barbaren der Unterstufe wahrscheinlich fremd, kam spätestens in der Mittelstufe bei ihnen auf, als Vorläufer des Feldbaus. Das Klima der turanischen Hochebene läßt kein Hirtenleben zu ohne Futtervorräte für den langen und strengen Winter; Wiesenbau und Kultur von Kornfrucht war also hier Bedingung. Dasselbe gilt für die Steppen nördlich vom Schwarzen Meer. Wurde aber erst die Kornfrucht für das Vieh gewonnen, so wurde sie bald auch menschliche Nahrung. Das bebaute Land blieb noch Stammeseigentum, anfänglich der Gens, später von dieser den Hausgenossenschaften, endlich2 den einzelnen zur Benutzung überwiesen; sie mochten gewisse Besitzrechte daran haben, mehr aber auch nicht. Von den industriellen Errungenschaften dieser Stufe sind zwei besonders wichtig. Die erste ist der Webstuhl, die zweite die Schmelzung von Metallerzen und die Verarbeitung der Metalle. Kupfer und Zinn und die
1 (1884) Privateigentum - 2 (1884) fehlt: den Hausgemeinschaften, endlich
aus beiden zusammengesetzte Bronze waren weitaus die wichtigsten; die Bronze lieferte brauchbare Werkzeuge und Waffen, konnte aber die Steinwerkzeuge nicht verdrängen; dies war nur dem Eisen möglich, und Eisen zu gewinnen, verstand man noch nicht. Gold und Silber fingen an, zu Schmuck und Zierat verwandt zu werden, und müssen schon hoch im Wert gestanden haben gegenüber Kupfer und Bronze. Die Steigerung der Produktion in allen Zweigen - Viehzucht, Ackerbau, häusliches Handwerk - gab der menschlichen Arbeitskraft die Fähigkeit, ein größeres Produkt zu erzeugen, als zu ihrem Unterhalt erforderlich war. Sie steigerte gleichzeitig die tägliche Arbeitsmenge, die jedem Mitglied der Gens, der Hausgemeinde oder der Einzelfamilie zufiel. Die Einschaltung neuer Arbeitskräfte wurde wünschenswert. Der Krieg lieferte sie: Die Kriegsgefangnen wurden in Sklaven verwandelt. Die erste große gesellschaftliche Teilung der Arbeit zog mit ihrer Steigerung der Produktivität der Arbeit, also des Reichtums, und mit ihrer Erweiterung des Produktionsfeldes, unter den gegebnen geschichtlichen Gesamtbedingungen, die Sklaverei mit Notwendigkeit nach sich. Aus der ersten großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung entsprang die erste große Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete. Wie und wann die Herden aus dem Gemeinbesitz des Stammes oder der Gens in das Eigentum der einzelnen Familienhäupter übergegangen, darüber wissen wir bis jetzt nichts. Es muß aber im wesentlichen auf dieser Stufe geschehn sein. Mit den Herden nun und den übrigen neuen Reichtümern kam eine Revolution über die Familie. Der Erwerb war immer Sache des Mannes gewesen, die Mittel zum Erwerb von ihm produziert und sein Eigentum. Die Herden waren die neuen Erwerbsmittel, ihre anfängliche Zähmung und spätere Wartung sein Werk. Ihm gehörte daher das Vieh, ihm die gegen Vieh eingetauschten Waren und Sklaven. All der Überschuß, den der Erwerb jetzt lieferte, fiel dem Manne zu; die Frau genoß mit davon, aber sie hatte kein Teil am Eigentum. Der „wilde" Krieger und Jäger war im Hause zufrieden gewesen mit der zweiten Stelle, nach der Frau; der „sanftere" Hirt, auf seinen Reichtum pochend, drängte sich vor an die erste Stelle und die Frau zurück an die zweite. Und sie konnte sich nicht beklagen. Die Arbeitsteilung in der Familie hatte die Eigentumsverteilung zwischen Mann und Frau geregelt; sie war dieselbe geblieben; und doch stellte sie jetzt das bisherige häusliche Verhältnis auf den Kopf, lediglich weil die Arbeitsteilung außerhalb der Familie eine andre geworden war. Dieselbe Ursache, die der Frau ihre frühere Herrschaft im Hause gesichert: ihre Beschränkung auf die Hausarbeit, dieselbe Ursache sicherte jetzt die
Herrschaft des Mannes im Hause: die Hausarbeit der Frau verschwand jetzt neben der Erwerbsarbeit des Mannes; diese war alles, jene eine unbedeutende Beigabe. Hier zeigt sich schon, daß die Befreiung der Frau, ihre Gleichstellung mit dem Manne, eine Unmöglichkeit ist und bleibt, solange die Frau von der gesellschaftlichen produktiven Arbeit ausgeschlossen und auf die häusliche Privatarbeit beschränkt bleibt. Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese auf großem, gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann, und die häusliche Arbeit sie nur noch in unbedeutendem Maß in Anspruch nimmt. Und dies ist erst möglich geworden durch die moderne große Industrie, die nicht nur Frauenarbeit auf großer Stufenleiter zuläßt, sondern förmlich nach ihr verlangt, und die auch die private Hausarbeit mehr und mehr in eine öffentliche Industrie aufzulösen strebt. Mit der faktischen Herrschaft des Mannes im Hause war die letzte Schranke seiner Alleinherrschaft gefallen. Diese Alleinherrschaft wurde bestätigt und verewigt durch Sturz des Mutterrechts, Einführung des Vaterrechts, allmählichen Übergang der Paarungsehe in die Monogamie. Damit aber kam ein Riß in die alte Gentilordnung: Die Einzelfamilie wurde eine Macht und erhob sich drohend gegenüber der Gens. Der nächste Schritt führt uns auf die Oberstufe der Barbarei, die Periode, in der alle Kulturvölker ihre Heroenzeit durchmachen: die Zeit des eisernen Schwerts, aber auch der eisernen Pflugschar und Axt. Das Eisen war dem Menschen dienstbar geworden, der letzte und wichtigste aller Rohstoffe, die eine geschichtlich umwälzende Rolle spielten, der letzte - bis auf die Kartoffel. Das Eisen schuf den Feldbau auf größeren Flächen, die Urbarmachungausgedehnterer Waldstrecken; es gab dem Handwerker Werkzeug von einer Härte und Schneide, der kein Stein, kein andres bekanntes Metall widerstand. Alles das allmählich; das erste Eisen war oft noch weicher als Bronze. So verschwand die Steinwaffe nur langsam; nicht nur im „Hildebrandslied"in31, auch noch bei Hastings11321 im Jahre 1066 kamen noch Steinäxte ins Gefecht. Aber der Fortschritt ging nun unaufhaltsam, weniger unterbrochen und rascher vor sich. Die mit steinernen Mauern, Türmen und Zinnen steinerne oder Ziegelhäuser umschließende Stadt wurde Zentralsitz des Stamms oder Stämmebundes; ein gewaltiger Fortschritt in der Baukunst, aber auch ein Zeichen vermehrter Gefahr und Schutzbedürftigkeit. Der Reichtum wuchs rasch, aber als Reichtum einzelner; die Weberei, die Metallbearbeitung und die andern, mehr und mehr sich sondernden Handwerke entfalteten steigende Mannigfaltigkeit und Kunstfertigkeit der Produktion; der Landbau lieferte neben Korn, Hülsenfrüch
ten und Obst jetzt auch Öl und Wein, deren Bereitung man gelernt hatte. So mannigfache Tätigkeit konnte nicht mehr von demselben einzelnen ausgeübt werden; die zweite große Teilung der Arbeit trat ein: Das Handwerk sonderte sich vom Ackerbau. Die fortwährende Steigerung der Produktion und mit ihr der Produktivität der Arbeit erhöhte den Wert der menschlichen Arbeitskraft; die Sklaverei, auf der vorigen Stufe noch entstehend und sporadisch, wird jetzt wesentlicher Bestandteil des Gesellschaftssystems; die Sklaven hören auf,einfache Gehülfen zu sein, sie werden dutzendweise zur Arbeit getrieben auf dem Feld und in der Werkstatt. Mit der Spaltung der Produktion in die zwei großen Hauptzweige, Ackerbau und Handwerk, entsteht die Produktion direkt für den Austausch, die Warenproduktion; mit ihr der Handel, nicht nur im Innern und an den Stammesgrenzen, sondern auch schon über See. Alles dies aber noch sehr unentwickelt; die edlen Metalle fangen an, vorwiegende und allgemeine Geldware zu werden, aber noch ungeprägt, nur nach dem noch unverkleideten Gewicht sich austauschend. Der Unterschied von Reichen und Ärmeren tritt neben den von Freien und Sklaven - mit der neuen Arbeitsteilung eine neue Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Die Besitzunterschiede der einzelnen Familienhäupter sprengen die alte kommunistische Hausgemeinde überall, wo sie sich bis dahin erhalten; mit ihr die gemeinsame Bebauung des Bodens für Rechnung dieser Gemeinde. Das Ackerland wird den einzelnen Familien zunächst auf Zeit, später ein für allemal zur Nutzung überwiesen, der Übergang in volles Privateigentum vollzieht sich allmählich und parallel mit dem Übergang der Paarungsehe in Monogamie. Die Einzelfamilie fängt an, die wirtschaftliche Einheit in der Gesellschaft zu werden. Die dichtere Bevölkerung nötigt zu engerem Zusammenschließen nach innen wie nach außen. Der Bund verwandter Stämme wird überall eine Notwendigkeit; bald auch schon ihre Verschmelzung, damit die Verschmelzung der getrennten Stammesgebiete zu einem Gesamtgebiet des Volks. Der Heerführer des Volks - rex, basileus, thiudans - wird unentbehrlicher, ständiger Beamter. Die Volksversammlung kommt auf, wo sie nicht schon bestand. Heerführer, Rat, Volksversammlung bilden die Organe der zu einer militärischen Demokratie fortentwickelten Gentilgesellschaft. Militärisch denn der Krieg und die Organisation zum Krieg sind jetzt regelmäßige Funktionen des Volkslebens geworden. Die Reichtümer der Nachbarn reizen die Habgier von Völkern, bei denen Reichtumserwerb schon als einer der ersten Lebenszwecke erscheint. Sie sind Barbaren: Rauben gilt ihnen für leichter und selbst für ehrenvoller als Erarbeiten. Der Krieg, früher nur
geführt zur Rache für Übergriffe oder zur Ausdehnung des unzureichend gewordnen Gebiets, wird jetzt des bloßen Raubs wegen geführt, wird stehender Erwerbszweig. Nicht umsonst starren die dräuenden Mauern um die neuen befestigten Städte: In ihren Gräben gähnt das Grab der Gentilverfassung, und ihre Türme ragen bereits hinein in die Zivilisation. Und ebenso geht es im Innern. Die Raubkriege erhöhen die Macht des obersten Heerführers wie die der Unterführer; die gewohnheitsmäßige Wahl der Nachfolger in denselben Familien geht, namentlich seit Einführung des Vaterrechts, allmählich über in erst geduldete, dann beanspruchte, endlich usurpierte Erblichkeit; die Grundlage des Erbkönigtums und des Erbadels ist gelegt. So reißen sich die Organe der Gentilverfassung allmählich los von ihrer Wurzel im Volk, in Gens, Phratrie, Stamm, und die ganze Gentilverfassung verkehrt sich in ihr Gegenteil: Aus einer Organisation von Stämmen zur freien Ordnung ihrer eignen Angelegenheiten wird sie eine Organisation zur Plünderung und Bedrückung der Nachbarn, und dementsprechend werden ihre Organe aus Werkzeugen des Volkswillens zu selbständigen Organen der Herrschaft und Bedrückung gegenüber dem eignen Volk. Das aber wäre nie möglich gewesen, hätte nicht die Gier nach Reichtum die Gentilgenossen gespalten in Reiche und Arme, hätte nicht „die Eigentumsdifferenz innerhalb derselben Gens die Einheit der Interessen verwandelt in Antagonismus der Gentilgenossen" (Marx), und hätte nicht die Ausdehnung der Sklaverei bereits angefangen, die Erarbeitung des Lebensunterhalts für nur sklavenwürdige Tätigkeit, für schimpflicher gelten zu lassen als den Raub.
Damit sind wir angekommen an der Schwelle der Zivilisation. Sie wird eröffnet durch einen neuen Fortschritt der Teilung der Arbeit. Auf der untersten Stufe produzierten die Menschen nur direkt für eignen Bedarf; die etwa vorkommenden Austauschakte waren vereinzelt, betrafen nur den zufällig sich einstellenden Überfluß. Auf der Mittelstufe der Barbarei finden wir bei Hirtenvölkern in dem Vieh schon einen Besitz, der bei einer gewissen Größe der Herde regelmäßig einen Überschuß über den eignen Bedarf liefert, zugleich eine Teilung der Arbeit zwischen Hirtenvölkern und zurückgebliebnen Stämmen ohne Herden, damit zwei nebeneinander bestehende verschiedne Produktionsstufen, und damit die Bedingungen eines regelmäßigen Austausches. Die Oberstufe der Barbarei liefert uns die weitere Arbeitsteilung zwischen Ackerbau und Handwerk, damit Produktion eines stets wachsenden Teils der Arbeitserzeugnisse direkt für den Austausch, damit Erhebung des Austausches zwischen Einzelproduzenten zu
einer Lebensnotwendigkeit der Gesellschaft. Die Zivilisation befestigt und steigert alle diese vorgefundnen Arbeitsteilungen, namentlich durch Schärfung des Gegensatzes von Stadt und Land (wobei die Stadt das Land ökonomisch beherrschen kann, wie im Altertum, oder auch das Land die Stadt, wie im Mittelalter), und fügt dazu eine dritte, ihr eigentümliche, entscheidend wichtige Arbeitsteilung: Sie erzeugt eine Klasse, die sich nicht mehr mit der Produktion beschäftigt, sondern nur mit dem Austausch der Produkte - die Kaufleuie. Alle bisherigen Ansätze zur Klassenbildung hatten es noch ausschließlich mit der Produktion zu tun; sie schieden die bei der Produktion beteiligten Leute in Leitende und Ausführende, oder aber in Produzenten auf größerer und auf kleinerer Stufenleiter. Hier tritt zum erstenmal eine Klasse auf, die, ohne an der Produktion irgendwie Anteil zu nehmen, die Leitung der Produktion im ganzen und großen sich erobert und die Produzenten sich ökonomisch unterwirft; die sich zum unumgänglichen Vermittler zwischen je zwei Produzenten macht und sie beide ausbeutet. Unter dem Vorwand, den Produzenten die Mühe und das Risiko des Austausches abzunehmen, den Absatz ihrer Produkte nach entfernten Märkten auszudehnen, damit die nützlichste Klasse der Bevölkerung zu werden, bildet sich eine Klasse von Parasiten aus, echten gesellschaftlichen Schmarotzertieren, die als Lohn für sehr geringe wirkliche Leistungen sowohl von der heimischen wie von der fremden Produktion den Rahm abschöpft, rasch enorme Reichtümer und entsprechenden gesellschaftlichen Einfluß erwirbt, und eben deshalb während der Periode der Zivilisation zu immer neuen Ehren und immer größerer Beherrschung der Produktion berufen ist, bis sie endlich auch selbst ein eignes Produkt zutage fördert - die periodischen Handelskrisen. Auf unsrer vorliegenden Entwicklungsstufe hat die junge Kaufmannschaft allerdings noch keine Ahnung von den großen Dingen, die ihr bevorstehn. Aber sie bildet sich und macht sich unentbehrlich, und das genügt. Mit ihr aber bildet sich aus das Metallgeld, die geprägte Münze, und mit dem Metallgeld ein neues Mittel zur Herrschaft des Nichtproduzenten über den Produzenten und seine Produktion. Die Ware der Waren, die alle andern Waren im Verborgnen in sich enthält, war entdeckt, das Zaubermittel, das sich nach Belieben in jedes wünschenswerte und gewünschte Ding verwandeln kann. Wer es hatte, beherrschte die Welt der Produktion, und wer hatte es vor allen? Der Kaufmann. In seiner Hand war der Kultus des Geldes sicher. Er sorgte dafür, daß es offenbar wurde, wie sehr alle Waren, damit alle Warenproduzenten, sich anbetend in den Staub werfen mußten vor dem Geld. Er bewies es praktisch, wie sehr alle andern Formen des Reich
11 Man/Emrels, Werke, Bd. 21
tums nur selber bloßer Schein werden gegenüber dieser Verkörperung des Reichtums als solchem. Nie wieder ist die Macht des Geldes aufgetreten in solch ursprünglicher Roheit und Gewaltsamkeit wie in dieser ihrer Jugendperiode. Nach dem Warenkauf für Geld kam der Geldvorschuß, mit diesem der Zins und der Wucher. Und keine Gesetzgebung späterer Zeit wirft den Schuldner so schonungs- und rettungslos zu den Füßen des wucherischen Gläubigers wie die altathenische und altrömische - und beide entstanden spontan, als Gewohnheitsrechte, ohne andern als den ökonomischen Zwang. Neben den Reichtum an Waren und Sklaven, neben den Geldreichtum trat nun auch der Reichtum an Grundbesitz. Das Besitzrecht der einzelnen an den ihnen ursprünglich von Gens oder Stamm überlassenen Bodenparzellen hatte sich jetzt soweit befestigt, daß diese Parzellen ihnen erbeigentümlich gehörten. Wonach sie in der letzten Zeit vor allem gestrebt, das war die Befreiung von dem Anrecht der Gentilgenossenschaft an die Parzelle, das ihnen eine Fessel wurde. Die Fessel wurde sie los - aber bald nachher auch das neue Grundeigentum. Volles, freies Eigentum am Boden, das hieß nicht nur Möglichkeit, den Boden unverkürzt und unbeschränkt zu besitzen, das hieß auch Möglichkeit, ihn zu veräußern. Solange der Boden Gentileigentum, existierte diese Möglichkeit nicht. Als aber der neue Grundbesitzer die Fessel des Obereigentums der Gens und des Stamms endgültig abstreifte, zerriß er auch das Band, das ihn bisher unlöslich mit dem Boden verknüpft hatte. Weis das hieß, wurde ihm klargemacht durch das mit dem Privateigentum gleichzeitig erfundne Geld. Der Boden konnte nun Ware werden, die man verkauft und verpfändet. Kaum war das Grundeigentum eingeführt, so war auch die Hypothek schon erfunden (sieh Athen). Wie der Hetärismus und die Prostitution an die Fersen der Monogamie, so klammert sich von nun ein die Hypothek ein die Fersen des Grundeigentums. Ihr habt das volle, freie, veräußerliche Grundeigentum haben wollen, nun wohl, ihr habt's - tu l'as voulu, George Dandin!1 So ging mit Handelsausdehnung, Geld und Geldwucher, Grundeigentum und Hypothek die Konzentration und Zentralisation des Reichtums in den Händen einer wenig zahlreichen Klasse rasch voran, daneben die steigende Verarmung der Massen und die steigende Masse der Armen. Die neue Reichtumsaristokratie, soweit sie nicht schon von vornherein mit dem alten Stammesadel zusammengefallen war, drängte ihn endgültig in den Hintergrund (in Athen, in Rom, bei den Deutschen). Und neben dieser Scheidung der Freien in Klassen nach dem Reichtum ging besonders in
1 Du hast es nicht besser gewollt, George Dandinl P33]
Griechenland eine ungeheure Vermehrung der Zahl der Sklaven*, deren erzwungne Arbeit die Grundlage bildete, auf der sich der Überbau der ganzen Gesellschaft erhob. Sehen wir uns nun danach um, was unter dieser gesellschaftlichen Umwälzung aus der Gentilverfassung geworden war. Gegenüber den neuen Elementen, die ohne ihr Zutun emporgewachsen, stand sie ohnmächtig da. Ihre Voraussetzung war, daß die Glieder einer Gens, oder doch eines Stammes, auf demselben Gebiet vereinigt saßen, es ausschließlich bewohnten. Das hatte längst aufgehört. Überall waren Gentes und Stämme durcheinandergeworfen, überall wohnten Sklaven, Schutzverwandte, Fremde mitten unter den Bürgern. Die erst gegen Ende der Mittelstufe der Barbarei erworbene Seßhaftigkeit wurde immer wieder durchbrochen durch die von Handel, Erwerbsveränderung, Grundbesitzwechsel bedingte Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Wohnsitzes. Die Genossen der Gentilkörper konnten nicht mehr zusammentreten zur Wahrnehmung ihrer eignen gemeinsamen Angelegenheiten; nur unwichtige Dinge, wie die religiösen Feiern, wurden noch notdürftig besorgt. Neben den Bedürfnissen und Interessen, zu deren Wahrung die Gentilkörper berufen und befähigt, waren aus der Umwälzung der Erwerbsverhältnisse und der daraus folgenden Änderung der gesellschaftlichen Gliederung neue Bedürfnisse und Interessen entstanden, die der alten Gentilordnung nicht nur fremd waren, sondern sie in jeder Weise durchkreuzten. Die Interessen der durch Teilung der Arbeit entstandnen Handwerkergruppen, die besondern Bedürfnisse der Stadt im Gegensatz zum Land, erforderten neue Organe; jede dieser Gruppen aber war aus Leuten der verschiedensten Gentes, Phratrien und Stämme zusammengesetzt, sie schloß sogar Fremde ein; diese Organe mußten sich also bilden außerhalb der Gentilverfassung, neben ihr, und damit gegen sie. - Und wiederum in jeder Gentilkörperschaft machte sich dieser Konflikt der Interessen geltend, der seine Spitze erreichte in der Vereinigung von Reichen und Armen, Wucherern und Schuldnern in derselben Gens und demselben Stamm. - Dazu kam die Masse der neuen, den Gentilgenossenschaften fremden Bevölkerung, die wie in Rom eine Macht im Lande werden konnte, und dabei zu zahlreich war, um allmählich in die
* Die Anzahl für Athen siehe oben S.l 17.1 In Korinth betrug sie zur Blütezeit der Stadt 460 000, in Ägina 470 000, in beiden Fällen die zehnfache Anzahl der freien Bürgerbevölkerung.
blutsverwandten Geschlechter und Stämme aufgenommen zu werden. Dieser Masse gegenüber standen die Gentilgenossenschaften da als geschlossene, bevorrechtete Körperschaften; die ursprüngliche naturwüchsige Demokratie war umgeschlagen in eine gehässige Aristokratie. - Schließlich war die Gentilverfassung herausgewachsen aus einer Gesellschaft, die keine inneren Gegensätze kannte, und war auch nur einer solchen angepaßt. Sie hatte kein Zwangsmittel außer der öffentlichen Meinung. Hier aber war eine Gesellschaft entstanden, die kraft ihrer sämtlicher ökonomischer Lebensbedingungen sich in Freie und Sklaven, in ausbeutende Reiche und ausgebeutete Arme hatte spalten müssen, eine Gesellschaft, die diese Gegensätze nicht nur nicht wieder versöhnen konnte, sondern sie immer mehr auf die Spitze treiben mußte. Eine solche Gesellschaft konnte nur bestehn entweder im fortwährenden offnen Kampf dieser Klassen gegeneinander, oder aber unter der Herrschaft einer dritten Macht, die, scheinbar über den widerstreitenden Klassen stehend, ihren offnen Konflikt niederdrückte und den Klassenkampf höchstens auf ökonomischem Gebiet, in sogenannter gesetzlicher Form, sich ausfechten ließ. Die Gentilverfassung hatte ausgelebt. Sie war gesprengt durch die Teilung der Arbeit, und ihr Ergebnis, die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Sie wurde ersetzt durch den Staat.
Die drei Hauptformen, in denen der Staat sich auf den Ruinen der Gentilverfassung erhebt, haben wir oben im einzelnen betrachtet. Athen bietet die reinste, klassischste Form: Hier entspringt der Staat direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln. In Rom wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen aber pflichtenschuldigen Plebs; der Sieg der Plebs sprengt die alte Geschlechtsverfassung und errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentilaristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehn. Bei den deutschen Überwindern des Römerreichs endlich entspringt der Staat direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet. Weil aber mit dieser Eroberung weder ernstlicher Kampf mit der alten Bevölkerung verbunden ist noch eine fortgeschrittnere Arbeitsteilung; weil die ökonomische Entwicklungsstufe der Eroberten und die der Eroberer fast dieselbe ist, die ökonomische Basis der Gesellschaft also die alte bleibt, deshalb kann sich die Gentilverfassung lange Jahrhunderte hindurch in veränderter, territorialer Gestalt als Markverfassung forterhalten und selbst in den späteren Adels- und Patrizier
geschlechtern, ja selbst in Bauerngeschlechtern wie in Dithmarsehen, eine Zeitlang in abgeschwächter Form verjüngen.* Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er „die Wirklichkeit der sittlichen Idee", „das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft", wie Hegel behauptet.'135' Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat. Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet. Die alten, durch Blutbande gebildeten und zusammengehaltnen Gentilgenossenschaften, wie wir gesehn, waren unzureichend geworden, großenteils weil sie eine Bindung der Genossen an ein bestimmtes Gebiet voraussetzten und diese längst aufgehört hatte. Das Gebiet war geblieben, aber die Menschen waren mobil geworden. Man nahm also die Gebietseinteilung als Ausgangspunkt und ließ die Bürger ihre öffentlichen Rechte und Pflichten da erfüllen, wo sie sich niederließen, ohne Rücksicht auf Gens und Stamm. Diese Organisation der Staatsangehörigen nach der Ortsangehörigkeit ist allen Staaten gemeinsam. Uns kommt sie daher natürlich vor; wir haben aber gesehn, wie harte und langwierige Kämpfe erfordert waren, bis sie in Athen und Rom sich an die Stelle der alten Organisation nach Geschlechtern setzen konnte. Das zweite ist die Einrichtung einer Ö0entlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen. Die Sklaven gehören auch zur
* Der erste Geschichtsschreiber, der wenigstens eine annähernde Vorstellung vom Wesen der Gens hatte, war Niebuhr, und das - aber auch seine ohne weiteres mit übertragnen Irrtümer - verdankt er seiner Bekanntschaft mit den dithmarsischen Geschlechtern)3341
Bevölkerung; die 90 000 athenischen Bürger bilden gegenüber den 365 000 Sklaven nur eine bevorrechtete Klasse. Das Volksheer der athenischen Demokratie war eine aristokratische öffentliche Gewalt gegenüber den Sklaven und hielt sie im Zaum; aber auch um die Bürger im Zaum zu halten, wurde eine Gendarmerie nötig, wie oben erzählt. Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art, von denen die Gentilgesellschaft nichts wußte. Sie kann sehr unbedeutend, fast verschwindend sein in Gesellschaften mit noch unentwickelten Klassengegensätzen und auf abgelegnen Gebieten, wie zeit- und ortsweise in den Vereinigten Staaten Amerikas. Sie verstärkt sich aber in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher werden man sehe nur unser heutiges Europa an, wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht auf eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht. Um diese öffentliche Macht aufrechtzuerhalten, sind Beiträge der Staatsbürger nötig - die Steuern. Diese waren der Gentilgesellschaft vollständig unbekannt. Wir aber wissen heute genug davon zu erzählen. Mit der fortschreitenden Zivilisation reichen auch sie nicht mehr; der Staat zieht Wechsel auf die Zukunft, macht Anleihen, Staatsschulden. Auch davon weiß das alte Europa ein Liedchen zu singen. Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung, stehn die Beamten nun da als Organe der Gesellschaft über der Gesellschaft. Die freie, willige Achtung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde, genügt ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten; Träger einer der Gesellschaft entfremdenden Macht, müssen sie in Respekt gesetzt werden durch Ausnahmsgesetze, kraft deren sie einer besondren Heiligkeit und Unverletzlichkeit genießen. Der lumpigste Polizeidiener des zivilisierten Staats hat mehr „Autorität" als alle Organe der Gentilgesellschaft zusammengenommen; aber der mächtigste Fürst und der größte Staatsmann oder Feldherr der Zivilisation kann den geringsten Gentilvorsteher beneiden um die unerzwungne und unbestrittene Achtung, die ihm gezollt wird. Der eine steht eben mitten in der Gesellschaft; der andre ist genötigt, etwas vorstellen zu wollen außer und über ihr. Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende
Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse. So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält. So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Adel und Bürgertum gegeneinander balanciert; so der Bonapartismus des ersten und namentlich des zweiten französischen Kaiserreichs, der das Proletariat gegen die Bourgeoisie und die Bourgeoisie gegen das Proletariat ausspielte. Die neueste Leistung in dieser Art, bei der Herrscher und Beherrschte gleich komisch erscheinen, ist das neue deutsche Reich Bismarckscher Nation: Hier werden Kapitalisten und Arbeiter gegeneinander balanciert und gleichmäßig geprellt zum Besten der verkommnen preußischen Krautjunker. In den meisten geschichtlichen Staaten werden außerdem die den Staatsbürgern zugestandnen Rechte nach dem Vermögen abgestuft und damit direkt ausgesprochen, daß der Staat eine Organisation der besitzenden Klasse zum Schutz gegen die nichtbesitzende ist. So schon in den athenischen und römischen Vermögensklassen. So im mittelalterlichen Feudalstaat, wo die politische Machtstellung sich nach dem Grundbesitz gliederte. So im Wahlzensus der modernen Repräsentativstaaten. Diese politische Anerkennung des Besitzunterschieds ist indes keineswegs wesentlich. Im Gegenteil, sie bezeichnet eine niedrige Stufe der staatlichen Entwicklung. Die höchste Staatsform, die demokratische Republik, die in unsern modernen Gesellschaftsverhältnissen mehr und mehr unvermeidliche Notwendigkeit wird und die Staatsform ist, in der der letzte Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie allein ausgekämpft werden kann - die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden. In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse, die sich um so leichter vollzieht, je mehr die Staatsschulden steigen und je mehr Aktiengesellschaften nicht nur den Transport, sondern auch die Produktion selbst in ihren Händen konzentrieren und wiederum in der Börse ihren Mittelpunkt finden. Dafür ist außer Amerika die neueste französische Republik ein schlagendes Beispiel, und auch die biedre Schweiz
hat auf diesem Felde das ihrige geleistet. Daß aber zu diesem Bruderbund von Regierung und Börse keine demokratische Republik erforderlich, beweist außer England das neue deutsche Reich, wo man nicht sagen kann, wen das allgemeine Stimmrecht höher gehoben hat, Bismarck oder Bleichröder. Und endlich herrscht die besitzende Klasse direkt mittelst des allgemeinen Stimmrechts. Solange die unterdrückte Klasse, also in unserm Fall das Proletariat, noch nicht reif ist zu seiner Selbstbefreiung, solange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihr äußerster linker Flügel sein. In dem Maß aber, worin sie ihrer Selbstemanzipation entgegenreift, in dem Maß konstituiert sie sich als eigne Partei, wählt ihre eignen Vertreter, nicht die der Kapitalisten. Das allgemeine Stimmrecht ist so der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat; aber das genügt auch. An dem Tage, wo das Thermometer des allgemeinen Stimmrechts den Siedepunkt bei den Arbeitern anzeigt, wissen sie sowohl wie die Kapitalisten, woran sie sind. Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.
Die Zivilisation ist also nach dem Vorausgeschickten die Entwicklungsstufe der Gesellschaft, auf der die Teilung der Arbeit, der aus ihr entspringende Austausch zwischen einzelnen und die beides zusammenfassende Warenproduktion zur vollen Entfaltung kommen und die ganze frühere Gesellschaft umwälzen. Die Produktion aller früheren Gesellschaftsstufen war wesentlich eine gemeinsame, wie auch die Konsumtion unter direkter Verteilung der Produkte innerhalb größerer oder kleinerer kommunistischer Gemeinwesen
vor sich ging. Diese Gemeinsamkeit der Produktion fand statt innerhalb der engsten Schranken; aber sie führte mit sich die Herrschaft der Produzenten über ihren Produktionsprozeß und ihr Produkt. Sie wissen, was aus dem Produkt wird: Sie verzehren es, es verläßt ihre Hände nicht; und solange die Produktion auf dieser Grundlage betrieben wird, kann sie den Produzenten nicht über den Kopf wachsen, keine gespenstischen fremden Mächte ihnen gegenüber erzeugen, wie dies in der Zivilisation regelmäßig und unvermeidlich der Fall ist. Aber in diesen Produktionsprozeß schiebt sich die Teilung der Arbeit langsam ein. Sie untergräbt die Gemeinsamkeit der Produktion und Aneignung, sie erhebt die Aneignung durch einzelne zur überwiegenden Regel und erzeugt damit den Austausch zwischen einzelnen - wie, das haben wir oben untersucht. Allmählich wird die Warenproduktion herrschende Form. Mit der Warenproduktion, der Produktion nicht mehr für eignen Verbrauch, sondern für den Austausch, wechseln die Produkte notwendig die Hände. Der Produzent gibt sein Produkt im Tausch weg, er weiß nicht mehr, was daraus wird. Sowie das Geld, und mit dem Geld der Kaufmann, als Vermittler zwischen die Produzenten tritt, wird der Austauschprozeß noch verwickelter, das schließliche Schicksal der Produkte noch ungewisser. Der Kaufleute sind viele, und keiner von ihnen weiß, was der andre tut. Die Waren gehn nun schon nicht bloß von Hand zu Hand, sie gehn auch von Markt zu Markt; die Produzenten haben die Herrschaft über die Gesamtproduktion ihres Lebenskreises verloren und die Kaufleute haben sie nicht überkommen. Produkte und Produktion verfallen dem Zufall. Aber Zufall, das ist nur der eine Pol eines Zusammenhangs, dessen andrer Pol Notwendigkeit heißt. In der Natur, wo auch der Zufall zu herrschen scheint, haben wir längst auf jedem einzelnen Gebiet die innere Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit nachgewiesen, die in diesem Zufall sich durchsetzt. Was aber von der Natur, das gilt auch von der Gesellschaft. Je mehr eine gesellschafdiche Tätigkeit, eine Reihe gesellschaftlicher Vorgänge der bewußten Kontrolle der Menschen zu mächtig wird, ihnen über den Kopf wächst, je mehr sie dem puren Zufall überlassen scheint, desto mehr setzen sich in diesem Zufall die ihr eigentümlichen, innewohnenden Gesetze wie mit Naturnotwendigkeit durch. Solche Gesetze beherrschen auch die Zufälligkeiten der Warenproduktion und des Warenaustausches; dem einzelnen Produzenten und Austauschenden stehn sie gegenüber als fremde, anfangs sogar unerkannte Mächte, deren Natur erst mühsam erforscht und ergründet werden muß. Diese ökonomischen Gesetze der Warenproduktion modifizieren sich mit den verschiednen Entwicklungsstufen dieser Produk
tionsform; im ganzen und großen aber steht die gesamte Periode der Zivilisation unter ihrer Herrschaft. Und noch heute beherrscht das Produkt die Produzenten; noch heute wird die Gesamtproduktion der Gesellschaft geregelt, nicht durch gemeinsam überlegten Plan, sondern durch blinde Gesetze, die sich geltend machen mit elementarer Gewalt, in letzter Instanz in den Gewittern der periodischen Handelskrisen. Wir sahen oben, wie auf einer ziemlich frühen Entwicklungsstufe der Produktion die menschliche Arbeitskraft befähigt wird, ein beträchtlich größeres Produkt zu liefern, als zum Unterhalt der Produzenten erforderlich ist, und wie diese Entwicklungsstufe in der Hauptsache dieselbe ist, auf der Teilung der Arbeit und Austausch zwischen einzelnen aufkommen. Es dauerte nun nicht lange mehr, bis die große „Wahrheit" entdeckt wurde, daß auch der Mensch eine Ware sein kann; daß die menschliche Kraft1 austauschbar und vernutzbar ist, indem man den Menschen in einen Sklaven verwandelt. Kaum hatten die Menschen angefangen auszutauschen, so wurden sie auch schon selbst ausgetauscht. Das Aktivum wurde zum Passivum, die Menschen mochten wollen oder nicht. Mit der Sklaverei, die unter der Zivilisation ihre vollste Entfaltung erhielt, trat die erste große Spaltung der Gesellschaft ein in eine ausbeutende und eine ausgebeutete Klasse. Diese Spaltung dauerte fort während der ganzen zivilisierten Periode. Die Sklaverei ist die erste, der antiken Welt eigentümliche Form der Ausbeutung; ihr folgt die Leibeigenschaft im Mittelalter, die Lohnarbeit in der neueren Zeit. Es sind dies die drei großen Formen der Knechtschaft, wie sie für die drei großen Epochen der Zivilisation charakteristisch sind; offne, und neuerdings verkleidete, Sklaverei geht stets danebenher. Die Stufe der Warenproduktion, womit die Zivilisation beginnt, wird ökonomisch bezeichnet durch die Einführung 1. des Metallgeldes, damit des Geldkapitals, des Zinses und Wuchers; 2. der Kaufleute als vermittelnder Klasse zwischen den Produzenten; 3. des Privatgrundeigentums und der Hypothek und 4. der Sklavenarbeit als herrschender Produktionsform. Die der Zivilisation entsprechende und mit ihr definitiv zur Herrschaft kommende Familienform ist die Monogamie, die Herrschaft des Mannes über die Frau, und die Einzelfamilie als wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft. Die Zusammenfassung der zivilisierten Gesellschaft ist der Staat, der in allen mustergültigen Perioden ausnahmslos der Staat der herrschenden Klasse ist und in allen Fällen wesentlich Maschine zur Niederhaltung
1 (1884) Arbeitskraft
der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse bleibt. Bezeichnend für die Zivilisation ist noch: einerseits die Fixierung des Gegensatzes von Stadt und Land als der Grundlage der gesamten gesellschaftlichen Arbeitsteilung; andrerseits die Einführung der Testamente, wodurch der Eigentümer auch noch über seinen Tod hinaus über sein Eigentum verfügen kann. Diese der alten Gentilverfassung direkt ins Gesicht schlagende Einrichtung war in Athen bis auf Solon unbekannt; in Rom ist sie schon früh eingeführt, wann, wissen wir nicht*; bei den Deutschen führten die Pfaffen sie ein, damit der biedre Deutsche sein Erbteil der Kirche ungehindert vermachen könne. Mit dieser Grundverfassung hat die Zivilisation Dinge vollbracht, denen die alte Gentilgesellschaft nicht im entferntesten gewachsen war. Aber sie hat sie vollbracht, indem sie die schmutzigsten Triebe und Leidenschaften der Menschen in Bewegung setzte und auf Kosten seiner ganzen übrigen Anlagen entwickelte. Die platte Habgier war die treibende Seele der Zivilisation von ihrem ersten Tag bis heute, Reichtum und abermals Reichtum und zum drittenmal Reichtum, Reichtum nicht der Gesellschaft, sondern dieses einzelnen lumpigen Individuums, ihr einzig entscheidendes Ziel. Wenn ihr dabei die steigende Entwicklung der Wissenschaft, und zu wiederholten Perioden die höchste Blüte der Kunst in den Schoß gefallen ist, so doch nur, weil ohne diese die volle Reichtumserrungenschaft unsrer Zeit nicht möglich gewesen wäre. Da die Grundlage der Zivilisation die Ausbeutung einer Klasse durch eine andre Klasse ist, so bewegt sich ihre ganze Entwicklung in einem fortdauernden Widerspruch. Jeder Fortschritt der Produktion ist gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse, d. h. der großen Mehrzahl. Jede Wohltat für die einen ist notwendig ein Übel für die andern, jede neue Befreiung der einen Klasse eine neue Unterdrückung für eine andre Klasse. Den schlagendsten Beweis dafür liefert die Einführung der
* Lassalles „System der erworbenen Rechte" dreht sich im zweiten Teil hauptsächlich um den Satz, das römische Testament sei so alt wie Rom selbst, es habe für die römische Geschichte nie „eine Zeit ohne Testament gegeben"; das Testament sei vielmehr in vorrömischer Zeit aus dem Kultus der Verstorbenen entstanden. Lassalle, als gläubiger Althegelianer, leitet die römischen Rechtsbestimmungen ab nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen der Römer, sondern aus dem „spekulativen Begriff" des Willens, und kommt dabei zu jener total ungeschichtlichen Behauptung. Man kann sich darüber nicht wundern in einem Buch, das auf Grund desselben spekulativen Begriffs zu dem Ergebnis kommt, bei der römischen Erbschaft sei die Übertragung des Vermögens reine Nebensache gewesen. Lassalle glaubt nicht nur an die Illusionen der römischen Juristen, besonders der früheren Zeit; er übergipfelt sie noch.
Maschinerie, deren Wirkungen heute weltbekannt sind. Und wenn bei den Barbaren der Unterschied von Rechten und Pflichten, wie wir sahen, noch kaum gemacht werden konnte, so macht die Zivilisation den Unterschied und Gegensatz beider auch dem Blödsinnigsten klar, indem sie einer Klasse so ziemlich alle Rechte zuweist, der andern dagegen so ziemlich alle Pflichten. Das soll aber nicht sein. Was für die herrschende Klasse gut ist, soll gut sein für die ganze Gesellschaft, mit der die herrschende Klasse sich identifiziert. Je weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffnen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt: Die Ausbeutung der unterdrückten Klasse werde betrieben von der ausbeutenden Klasse einzig und allein im Interesse der ausgebeuteten Klasse selbst; und wenn diese das nicht einsehe, sondern sogar rebellisch werde, so sei de« der schnödeste Undank gegen die Wohltäter, die Ausbeuter.* Und nun zum Schluß Morgans Urteil über die Zivilisation: „Seit dem Eintritt der Zivilisation ist das Wachstum des Reichtums so ungeheuer geworden, seine Formen so verschiedenartig, seine Anwendung so umfassend und seine Verwaltung so geschickt im Interesse der Eigentümer, daß dieser Reichtum, dem Volk gegenüber, eine nicht zu bewältigende Macht geworden ist. Der Menschengeist steht ratlos und gebannt da vor seiner eignen Schöpfung. Aber dennoch wird die Zeit kommen, wo die menschliche Vernunft erstarken wird zur Herrschaft über den Reichtum, wo sie feststellen wird sowohl das Verhältnis des Staats zu dem Eigentum, das er schützt, wie die Grenzen der Rechte der Eigentümer. Die Interessen der Gesellschaft gehn den Einzelinteressen absolut vor, und beide müssen in ein gerechtes und harmonisches Verhältnis gebracht werden. Die bloße Jagd nach Reichtum ist nicht die Endbestimmung der Menschheit, wenn anders der Fortschritt das Gesetz der Zukunft bleibt, wie er es war für die Vergangenheit. Die seit Anbruch der Zivilisation verflossene Zeit ist nur ein kleiner Bruchteil der verflossenen Lebenszeit der Menschheit; nur ein kleiner
* Ich beabsichtigte anfangs, die brillante Kritik der Zivilisation, die sich in den Werken Charles Fouriers zerstreut vorfindet, neben diejenige Morgans und meine eigne zu stellen. Leider fehlt mir die Zeit dazu. Ich bemerke nur, daß schon bei Fourier Monogamie und Grundeigentum als Hauptkennzeichen der Zivilisation gelten und daß er sie einen Krieg des Reichen gegen den Armen nennt. Ebenfalls findet sich bei ihm schon die tiefe Einsicht, daß in allen mangelhaften, in Gegensätze gespaltenen Gesellschaften Einzelfamilien (les familles incoherentes) die wirtschaftlichen Einheiten sind.
Bruchteil der ihr noch bevorstehenden. Die Auflösung der Gesellschaft steht drohend vor uns als Abschluß einer geschichtlichen Laufbahn, deren einziges Endziel der Reichtum ist; denn eine solche Laufbahn enthält die Elemente ihrer eignen Vernichtung. Demokratie in der Verwaltung, Brüderlichkeit in der Gesellschaft, Gleichheit der Rechte, allgemeine Erziehung werden die nächste höhere Stufe der Gesellschaft einweihen, zu der Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft stetig hinarbeiten. Sie wird eine Wiederbelebung sein - aber in höherer Form - der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Genies." (Morgan, „Ancient Society", p.552.)
[Vorbemerkung zur Einzelausgabe von Karl Marx' Artikelreihe „Lohnarbeit und Kapital" [,36]]
Die nachfolgende Arbeit erschien als eine Reihe von Leitartikeln in der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom 4. April 1849 an. Ihr liegen zugrunde die Vorträge, die Marx 1847 im Brüsseler Deutschen Arbeiterverein[137) gehalten. Sie ist im Abdruck Fragment geblieben; das in Nr.269 am Schluß stehende „Fortsetzung folgt" blieb unerfüllt infolge der sich damals überstürzenden Ereignisse, des Einmarsches der Russen in Ungarn, der Aufstände in Dresden, Iserlohn, Elberfeld, der Pfalz und Baden, die die Unterdrückung der Zeitung selbst (19. Mai 1849) herbeiführten.
Geschrieben Juni 1884. Nach: Karl Marx, „Lohnarbeit und Kapital", Hottingen-Zürich 1884.
Vorwort [zur ersten deutschen Ausgabe von Karl Marx' Schrift „Das Elend der Philosophie"Jm]
Die vorliegende Schrift entstand im Winter 1846/47, zu einer Zeit, wo Marx über die Grundzüge seiner neuen historischen und ökonomischen Anschauungsweise mit sich ins reine gekommen war. Proudhons eben erschienenes „Systeme des contradictions economiques, ou philosophie de la mis&re" gab ihm Gelegenheit, diese Grundzüge zu entwickeln im Gegensatz zu den Ansichten des Mannes, der von nun an unter den lebenden französischen Sozialisten die bedeutendste Stelle einnehmen sollte. Seit der Zeit, wo die beiden in Paris oft ganze Nächte lang ökonomische Fragen diskutiert, waren ihre Wege mehr und mehr auseinander gegangen; Proudhons Schrift bewies, daß jetzt schon eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden lag; ignorieren war damals nicht möglich; und so konstatierte Marx den unheilbaren Riß in dieser seiner Antwort. Das Gesamturteil Marx' über Proudhon findet sich in dem diesem Vorwort folgenden Aufsatz niedergelegt, der im Berliner „Social-Demokrat" Nr. 16, 17 und 18 von 1865 erschien11391. Es war der einzige Artikel, den Marx in jenes Blatt schrieb; die alsbald zutage tretenden Versuche des Herrn von Schweitzer, es ins feudale und Regierungsfahrwasser zu lenken, zwangen uns, unsere Mitarbeiterschaft schon nach wenigen Wochen öffentlich zu kündigen.'140' Für Deutschland hat die vorliegende Schrift gerade im jetzigen Augenblick eine Bedeutung, die Marx selbst nie geahnt hat. Wie konnte er wissen, daß, indem er auf Proudhon losschlug, er den ihm damals selbst dem Namen nach unbekannten Rodbertus, den Strebergott von heute, traf? Es ist hier nicht der Ort, auf das Verhältnis von Marx und Rodbertus einzugehn; dazu wird sich mir wohl demnächst Gelegenheit bieten.11411 Hier nur soviel, daß, wenn Rodbertus Marx anklagt, dieser habe ihn „geplündert" und seine Schrift „Zur Erkenntniß" „in seinem .Kapital' ganz hübsch benutzt, ohne ihn zu zitieren"[1421, er sich zu einer Verleumdung hinreißen
läßt, die nur erklärlich wird durch die Verdrießlichkeit des verkannten Genies und durch seine merkwürdige Unwissenheit über Dinge, die außerhalb Preußens vorgehn, und namentlich über die sozialistische und ökonomische Literatur. Marx sind weder diese Anklagen noch die erwähnte Rodbertussche Schrift je zu Gesicht gekommen; er kannte von Rodbertus überhaupt nur die drei „Socialen Briefe", und auch diese keinesfalls vor 1858 oder 1859. Mit mehr Grund behauptet Rodbertus in diesen Briefen, den „konstituierten Wert Proudhons" bereits vor Proudhon entdeckt zu haben'1431; wobei er sich freilich wieder irrigerweise schmeichelt, der erste Entdecker zu sein. Jedenfalls ist er also in unsrer Schrift mitkritisiert, und dies nötigt mich, auf sein „grundlegendes" Werkchen „Zur Erkenntniß unsrer staatswirthschaftlichen Zustände", 1842, kurz einzugehn, soweit dies nämlich außer dem ebenfalls darin (wieder unbewußt) enthaltnen Weitlingschen Kommunismus auch Antizipationen von Proudhon zutage fördert. Soweit der moderne Sozialismus, einerlei welcher Richtung, von der bürgerlichen politischen Ökonomie ausgeht, knüpft er fast ausnahmslos an die Ricardosche Werttheorie an. Die beiden Sätze, die Ricardo 1817 gleich am Anfang seiner „Principles" proklamiert: 1. daß der Wert jeder Ware bestimmt wird einzig und allein durch die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitsmenge, und 2. daß das Produkt der gesamten gesellschaftlichen Arbeit verteilt wird unter die drei Klassen der Grundbesitzer (Rente), Kapitalisten (Profit) und Arbeiter (Arbeitslohn), diese beiden Sätze wurden schon seit 1821 in England zu sozialistischen Konsequenzen verwertet11441, und zwar teilweise mit solcher Schärfe und Entschiedenheit, daß diese jetzt fast verschollene, von Marx großenteils erst wieder entdeckte Literatur bis zum Erscheinen des „Kapital" unübertroffen blieb. Darüber ein andermal. Wenn also Rodbertus 1842 seinerseits sozialistische Konsequenzen aus obigen Sätzen zog, so war das für einen Deutschen damals sicherlich ein sehr bedeutender Schritt vorwärts, konnte aber höchstens für Deutschland als neue Entdeckung gelten. Wie wenig neu solche Anwendung der Ricardoschen Theorie war, beweist Marx gegen Proudhon, der an ähnlicher Einbildung litt. „Wer nur einigermaßen mit der Entwicklung der politischen Ökonomie in England vertraut ist, weiß jedenfalls, daß fast alle Sozialisten dieses Leindes, zu verschiedenen Zeiten, die egalitäre (d.h. sozialistische) Anwendung der Ricardoschen Theorie vorgeschlagen haben. Wir könnten dem Herrn Proudhon anführen: ,Die politische Ökonomie' von Hopkins, 1822; William Thompson, ,An Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth, most conducive to Human Happiness', 1824; T.R.Edmonds,
,Practical, Moral and Political Economy', 1828, etc. etc. und noch vier Seiten Etceteras. Wir lassen nur einen englischen Kommunisten sprechen: Bray, in seiner bemerkenswerten Schrift ,Labour's Wrongs and Labour's Remedy', Leeds 1839."11451 Und allein die hier gegebenen Zitate aus Bray beseitigen ein gutes Stück der von Rodbertus beanspruchten Priorität. Damals hatte Marx noch nie das Lesezimmer des Britischen Museums betreten. Er hatte, außer Pariser und Brüsseler Bibliotheken, außer meinen Büchern und Auszügen, während einer sechswöchentlichen Reise nach England, die wir zusammen im Sommer 1845 machten, nur die in Manchester aufzutreibenden Bücher durchgesehn. Die betreffende Literatur war also in den vierziger Jahren noch keineswegs so unzugänglich wie etwa heutzutage. Wenn sie trotzdem Rodbertus stets unbekannt blieb, so war das lediglich seiner preußischen Lokalborniertheit geschuldet. Er ist der eigentliche Begründer des spezifisch preußischen Sozialismus und wird jetzt endlich als solcher anerkannt. Indes auch in seinem geliebten Preußen sollte Rodbertus nicht ungestört bleiben. 1859 erschien in Berlin Marx' „Zur Kritik der Politischen Ökonomie, erstes Heft"1. Darin wird unter den Einwürfen der Ökonomen gegen Ricardo als zweiter Einwand hervorgehoben S.40: „Wenn der Tauschwert eines Produkts gleich ist der in ihm enthaltnen Arbeitszeit, ist der Tauschwert eines Arbeitstags gleich seinem Produkt. Oder der Arbeitslohn muß dem Produkt der Arbeit gleich sein. Nun ist das Gegenteil der Fall." Dazu die folgende Note: „Dieser von ökonomischer Seite2 gegen Ricardo beigebrachte Einwand ward später von sozialistischer Seite aufgegriffen. Die theoretische Richtigkeit der Formel vorausgesetzt, wurde die Praxis des Widerspruchs gegen die Theorie bezüchtigt und die bürgerliche Gesellschaft angegangen, praktisch die vermeinte Konsequenz ihres theoretischen Prinzips zu ziehn. In dieser Weise wenigstens kehrten englische Sozialisten die Ricardosche Formel des Tauschwerts gegen die politische Ökonomie."3 In derselben Note wird verwiesen auf Marx' „Misere de la philosophie", die damals noch überall im Buchhandel zu haben war. Rodbertus hatte also Gelegenheit genug, sich selbst zu überzeugen, ob seine Entdeckungen von 1842 wirklich neu waren. Statt dessen verkündet er sie immer wieder und hält sie für so unvergleichlich, daß ihm nicht einmal einfällt, Marx könne seine Konsequenzen aus Ricardo ebensogut selbständig gezogen haben wie er, Rodbertus, selbst. Rein unmöglich! Marx hat
1 Siehe Band 13 unserer Ausgabe - 2 bei Marx: von bürgerlich-ökonomischer Seite 3 siehe Band 13 unserer Ausgabe, S.47
12 Marx/Engels, Werkt, Bd. 21
ihn „geplündert" - ihn, dem derselbe Marx jede Gelegenheit bot, sich zu vergewissern, wie lange vor ihnen beiden diese Schlußfolgerungen, wenigstens in der rohen Form, die sie noch bei Rodbertus haben, in England bereits ausgesprochen waren! Die einfachste sozialistische Nutzanwendung der Ricardoschen Theorie ist nun die oben gegebne. Sie hat in vielen Fällen zu Einsichten in den Ursprung und die Natur des Mehrwerts geführt, die weit über Ricardo hinausgehn; so unter andern bei Rodbertus. Abgesehn davon, daß er in dieser Beziehung nirgendwo etwas bietet, das nicht schon vor ihm mindestens ebensogut gesagt, leidet seine Darstellung wie die seiner Vorgänger daran, daß er die ökonomischen Kategorien: Arbeit, Kapital» Wert etc. in der ihm von den Ökonomen überlieferten cruden, an der Erscheinung haftenden Form unbesehn übernimmt, ohne sie auf ihren Gehalt zu untersuchen. Hierdurch schneidet er sich nicht nur jeden Weg weiterer Entwicklung ab im Gegensatz zu Marx, der erst aus diesen seit jetzt 64 Jahren oft wiederholten Sätzen etwas gemacht hat -, sondern eröffnet sich auch den geraden Weg in die Utopie, wie sich zeigen wird. . Die obige Nutzeinwendung der Ricardoschen Theorie, daß den Arbeitern, als den alleinigen wirklichen Produzenten, das gesamte gesellschaftliche Produkt, ihr Produkt, gehört, führt direkt in den Kommunismus. Sie ist aber, wie Marx in der obigen Stelle auch eindeutet, ökonomisch formell falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung der Moral auf die Ökonomie. Nach den Gesetzen der bürgerlichen Ökonomie gehört der größte Teil des Produkts nicht den Arbeitern, die es erzeugt haben. Sagen wir nun: das ist unrecht, das soll nicht sein, so geht das die Ökonomie zunächst nichts an. Wir sagen bloß, daß diese ökonomische Tatsache unserm sittlichen Gefühl widerspricht. Marx hat daher nie seine kommunistischen Forderungen hierauf begründet, sondern auf den notwendigen, sich vor unsern Augen täglich mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise; er sagt nur, daß der Mehrwert aus unbezahlter Arbeit besteht, was eine einfache Tatsache ist. Was aber ökonomisch formell falsch, kann darum doch weltgeschichtlich richtig sein. Erklärt das sittliche Bewußtsein der Masse eine ökonomische Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder die Fronarbeit, für unrecht, so ist das ein Beweis, daß die Tatsache selbst sich schon überlebt hat, daß andere ökonomische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene unerträglich und unhaltbar geworden ist. Hinter der formellen ökonomischen Unrichtigkeit kann also ein sehr wahrer ökonomischer Inhalt verborgen sein. Näher auf die Bedeutung und Geschichte der Mehrwertstheorie einzugehn, ist hier nicht der Ort.
Daneben kann man aber aus der Ricardoschen Werttheorie noch andre Folgerungen ziehn und hat sie gezogen. Der Wert der Waren wird durch die zu ihrer Erzeugung erheischte Arbeit bestimmt. Nun aber findet sich, daß in dieser schlechten Welt die Waren bald über, bald unter ihrem Wert verkauft werden, und zwar nicht nur infolge von Konkurrenzschwankungen. Die Profitrate hat ebensosehr die Tendenz, sich für alle Kapitalisten auf dasselbe Niveau auszugleichen, wie die Warenpreise die Tendenz haben, vermittelst Nachfrage und Angebot sich auf den Arbeitswert zu reduzieren. Die Profitrate aber berechnet sich auf das in einem industriellen Geschäft angelegte Gesamtkapital. Da nun in zwei verschiednen Geschäftszweigen das Jahresprodukt gleiche Arbeitsmengen verkörpern, also gleiche Werte darstellen kann, auch der Arbeitslohn in beiden gleich hoch, die vorgeschossenen Kapitale aber in dem einen Geschäftszweig doppelt oder dreimal so groß sein können, und oft sind, wie im andern, so kommt hier das Ricardosche Wertgesetz, wie schon Ricardo selbst entdeckte, in Widerspruch mit dem Gesetz der gleichen Profitrate. Werden die Produkte beider Geschäftszweige zu ihren Werten verkauft, so können die Profitraten nicht gleich sein; sind aber die Profitraten gleich, so können die Produkte beider Geschäftszweige nicht durchweg zu ihren Werten verkauft werden. Wir haben hier also einen Widerspruch, eine Antinomie zweier ökonomischer Gesetze; die praktische Lösung macht sich nach Ricardo (Kap. I, Sektion 4 und 5[146]) in der Regel zugunsten der Profitrate auf Kosten des Werts. Nun hat aber die Ricardosche Wertbestimmung, trotz ihrer ominösen Eigenschaften, eine Seite, die sie dem braven Bürger lieb und teuer macht. Sie appelliert mit unwiderstehlicher Gewalt an sein Gerechtigkeitsgefühl. Gerechtigkeit und Gleichheit der Rechte, das sind die Grundpfeiler, auf die der Bürger des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sein Gesellschaftsgebäude errichten möchte über den Trümmern der feudalen Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und Privilegien. Und die Bestimmung des Warenwerts durch Arbeit und der nach diesem Wertmaß sich vollziehende freie Austausch der Arbeitsprodukte zwischen gleichberechtigten Warenbesitzern, das sind, wie Marx schon nachgewiesen, die realen Grundlagen, auf denen die gesamte politische, juristische und philosophische Ideologie des modernen Bürgertums sich aufgebaut hat. Einmal die Erkenntnis gegeben, daß die Arbeit das Maß des Warenwertes ist, muß sich auch das bessere Gefühl des braven Bürgers tief verletzt fühlen durch die Schlechtigkeit einer Welt, die dies Grundgesetz der Gerechtigkeit zwar dem Namen nach anerkennt, aber der Sache nach jeden Augenblick ungeniert beiseite 12*
zu setzen scheint. Und namentlich der Kleinbürger, dessen ehrliche Arbeit •wenn sie auch nur die seiner Gesellen und Lehrlinge ist - täglich mehr und mehr entwertet wird durch die Konkurrenz der Großproduktion und der Maschinen, namentlich der Kleinproduzent muß sich sehnen nach einer Gesellschaft, worin der Austausch der Produkte nach ihrem Arbeitswert endlich einmal eine volle und ausnahmslose Wahrheit wird; in andern Worten: Er muß sich sehnen nach einer Gesellschaft, in der ein einzelnes Gesetz der Warenproduktion ausschließlich und unverkürzt gilt, aber die Bedingungen beseitigt sind, unter denen es überhaupt gelten kann, nämlich die übrigen Gesetze der Warenproduktion und weiterhin der kapitalistischen Produktion. Wie tief diese Utopie in der Denkweise des modernen - wirklichen oder ideellen - Kleinbürgers begründet ist, beweist die Tatsache, daß sie schon 1831 von John Gray systematisch entwickelt, in den dreißiger Jahren in England praktisch versucht und theoretisch breitgetreten, 1842 von Rodbertus in Deutschland, 1846 von Proudhon in Frankreich als neueste Wahrr heit proklamiert, noch 1871 von Rodbertus abermals als Lösung der sozialen Frage und gleichsam als sein soziales Testament verkündet wurde'1471 und 1884 wieder Anhang findet bei dem Streberheer, das auf den Namen Rodbertus hin den preußischen Staatssozialismus auszubeuten sich anschickt'1481. Die Kritik dieser Utopie ist von Marx so erschöpfend sowohl gegen Proudhon wie gegen Gray (siehe den Anhang dieser Schrift11491) geliefert, daß ich mich hier beschränken kann auf einige Bemerkungen über die speziell Rodbertussche Form ihrer Begründung und Ausmalung. Wie schon gesagt: Rodbertus übernimmt die herkömmlichen ökonomischen Begriffsbestimmungen ganz in der Form, in der sie ihm von den Ökonomen überliefert worden. Er macht nicht den geringsten Versuch, sie zu untersuchen. Wert ist ihm
„die Geltung einer Sache gegen die übrigen nach Quantität, diese Geltung als Maß aufgefaßt"'1501.
Diese, gelind gesagt, höchst loddrige Definition gibt uns im besten Fall eine Vorstellung davon, wie der Wert ungefähr aussieht, aber sagt absolut nicht, was er ist. Da dies aber alles ist, was Rodbertus uns vom Wert zu sagen weiß, ist es begreiflich, daß er nach einem außerhalb des Werts liegenden Wertmaßstab sucht. Nachdem er auf dreißig Seiten Gebrauchswert und Tauschwert mit der von Herrn Adolph Wagner'1511 so unendlich bewunderten Kraft des abstrakten Denkens kunterbunt durcheinander
geworfen, kommt er zu dem Resultat, daß es ein wirkliches Wertmaß nicht gibt und man sich mit einem Surrogatmaß begnügen müsse. Ein solches könne die Arbeit abgeben, aber nur dann, wenn Produkte gleicher Arbeitsquantitäten sich stets gegen Produkte gleicher Arbeitsquantitäten austauschten; sei es, daß dies „an sich schon der Fall ist, oder daß Vorkehrungen getroffen werden", die dies sicherstellen.11521 Wert und Arbeit bleiben also ohne irgendwelchen sachlichen Zusammenhang, trotzdem daß das ganze erste Kapitel darauf verwendet wird, uns auseinanderzusetzen, daß und warum die Waren „Arbeit kosten" und nichts als Arbeit. Die Arbeit nun wird wieder unbesehn in der Form genommen, in der sie bei den Ökonomen vorkommt. Und nicht einmal das. Denn, wenn auch mit zwei Worten auf die Intensitätsunterschiede der Arbeit hingewiesen wird, so wird die Arbeit doch ganz allgemein als „kostend", also wertmessend, angeführt, einerlei, ob sie unter den normalen gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen verausgabt wird oder nicht. Ob die Produzenten zehn Tage auf die Herstellung von Produkten verwenden, die in einem Tage hergestellt werden können, oder nur einen, ob sie die besten oder die schlechtesten Werkzeuge anwenden, ob sie ihre Arbeitszeit auf Herstellung gesellschaftlich nötiger Artikel und in der gesellschaftlich erheischten Quantität verwenden, oder ob sie ganz unbegehrte Artikel oder begehrte Artikel über oder unter Bedarf anfertigen - von alledem ist keine Rede: Arbeit ist Arbeit, Produkt gleicher Arbeit muß ausgetauscht werden gegen Produkt gleicher Arbeit. Rodbertus, der sonst jederzeit, ob angebracht oder nicht, bereit ist, sich auf den nationalen Standpunkt zu stellen und von der Höhe der allgemein gesellschaftlichen Warte die Verhältnisse der Einzelproduzenten zu überschauen, vermeidet dies hier ängstlich. Und zwar nur deshalb, weil er schon von der ersten Zeile seines Buches an direkt auf die Utopie des Arbeitsgelds lossteuert und jede Untersuchung der Arbeit in ihrer wertbildenden Eigenschaft ihm unpassierbare Felsblöcke ins Fahrwasser schleudern müßte. Sein Instinkt war hier bedeutend stärker als seine Kraft des abstrakten Denkens, die beiläufig nur vermittelst der konkretesten Gedankenlosigkeit bei Rodbertus zu entdecken ist. Der Übergang zur Utopie ist nun im Handumdrehen gemacht. Die „Vorkehrungen", die den Warenaustausch nach Arbeitswert als ausnahmslose Regel sicherstellen, machen keine Schwierigkeit. Die übrigen Utopisten dieser Richtung, von Gray bis Proudhon, plagen sich damit ab, gesellschaftliche Einrichtungen auszuklügeln, die diesen Zweck verwirklichen sollen. Sie versuchen wenigstens, die ökonomische Frage auf ökonomischem Wege, durch Aktion der austauschenden Warenbesitzer selbst, zu lösen.
Rodbertus bat es viel leichter. Als guter Preuße appelliert er an den Staat: Ein Dekret der Staatsgewalt befiehlt die Reform. Damit ist denn der Wert glücklich „konstituiert", aber keineswegs die von Rodbertus beanspruchte Priorität dieser Konstituierung. Im Gegenteil, Gray wie Bray - neben vielen andern - haben diesen Gedanken: den frommen Wunsch nach Vorkehrungen, vermittelst deren die Produkte unter allen Umständen stets und nur zu ihrem Arbeitswert sich austauschen, lange und oft vor Rodbertus bis zum Überdruß wiederholt. Nachdem der Staat den Wert - wenigstens eines Teils der Produkte, denn Rodbertus ist auch bescheiden - dermaßen konstituiert, gibt er sein Arbeitspapiergeld aus, macht den industriellen Kapitalisten Vorschüsse davon, mit denen diese die Arbeiter lohnen, worauf die Arbeiter mit dem erhaltenen Arbeitspapiergeld die Produkte kaufen und so den Rückfluß des Papiergelds an seinen Ausgangspunkt vermitteln. Wie wunderschön sich dies abwickelt, das müssen wir von Rodbertus selbst hören.
„Weis die zweite Bedingung betrifft, so wird die nötige Vorkehrung, daß der im Zettel bescheinigte Wert wirklich im Verkehr vorhanden ist, dadurch getroffen, daß nur derjenige, der ein Produkt wirklich abgibt, einen Zettel erhält, in welchem genau die Arbeitsquantität bemerkt ist, durch welche das Produkt hergestellt worden. Wer ein Produkt von zwei Tagen Arbeit abgibt, erhält einen Zettel, auf dem ,zwei Tage' bemerkt stehn. Durch die genaue Beobachtung dieser Regel bei der Emission muß notwendig auch diese zweite Bedingung erfüllt werden. Denn da nach unsrer Voraussetzung der wirkliche Wert der Güter immer mit derjenigen Arbeitsquantität zusammenfällt, welche ihre Herstellung gekostet hat, und diese Arbeitsquantität ihren Maßstab in der gewöhnlichen Zeiteinteilung besitzt, so hat jemand, der ein Produkt hingibt, auf das zwei Tage Arbeit verwandt sind, wenn er zwei Tage bescheinigt erhält, auch nicht mehr oder weniger Wert bescheinigt oder angewiesen erhalten, als er in der Tat abgeliefert hat; - und da femer nur derjenige eine solche Bescheinigung erhält, der wirklich ein Produkt in den Verkehr geliefert hat, so ist es auch gewiß, daß der im Zettel bemerkte Wert zur Befriedigung der Gesellschaft vorhanden ist. Denkt man sich nun den Kreis der Teilung der Arbeit auch noch so weit, so muß, wenn genau diese Regel befolgt wird, die Summe des vorhandenen Wertes der Stimme des bescheinigten Wertes genau gleich sein. Da aber die Summe des bescheinigten Wertes genau auch die Summe des angewiesenen Wertes ist, so muß auch diese mit dem vorhandenen Wert notwendig aufgehn, alle Ansprüche werden befriedigt und die Liquidation richtig vermittelt sem."(S. 166, 167.) . Wenn bisher Rodbertus stets das Unglück hatte, mit seinen neuen Entdeckungen zu spät zu kommen, so hat er diesmal wenigstens das Verdienst einer Art Originalität: In dieser kindlich naiven, durchsichtigen, ich möchte sagen echt pommerschen Form hat keiner seiner Konkurrenten die Torheit
der Arbeitsgelds-Utopie auszusprechen gewagt. Da für jeden Papierschein ein entsprechender Wertgegenstand geliefert worden und kein Wertgegenstand wieder abgegeben wird außer gegen einen entsprechenden Papierschein, so muß die Summe der Papierscheine stets durch die Summe der Wertgegenstände gedeckt sein; die Rechnung geht auf ohne den geringsten Rest, es stimmt bis auf die Arbeitssekunde, und kein im Dienst noch so ergrauter Regierungs-Hauptkassen-Rentamtskalkulator kann den geringsten Rechenfehler nachweisen. Was will man mehr? In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft produziert jeder industrielle Kapitalist auf eigne Faust, was, wie und wieviel er will. Der gesellschaftliche Bedarf aber bleibt ihm eine unbekannte Größe, sowohl was die Qualität, die Art der bedurften Gegenstände, wie deren Quantität angeht. Was heute nicht rasch genug geliefert werden kann, mag morgen weit über Bedarf ausgeboten werden. Trotzdem wird schließlich der Bedarf so oder so, schlecht oder recht, befriedigt, und die Produktion richtet sich im ganzen und großen schließlich auf die bedurften Gegenstände. Wie wird diese Ausgleichung des Widerspruchs bewirkt? Durch die Konkurrenz. Und wie bringt die Konkurrenz diese Lösung fertig? Einfach, indem sie die nach Art oder Menge für den augenblicklichen gesellschaftlichen Bedarf unbrauchbaren Waren unter ihren Arbeitswert entwertet und es auf diesem Umwege den Produzenten fühlbar macht, daß sie entweder überhaupt unbrauchbare oder an sich brauchbare Artikel in unbrauchbarer, überflüssiger Menge hergestellt haben. Es folgte hieraus zweierlei: Erstens, daß die fortwährenden Abweichungen der Warenpreise von den Warenwerten die notwendige Bedingung sind, unter der und durch die allein der Warenwert zum Dasein kommen kann. Nur durch die Schwankungen der Konkurrenz und damit der Warenpreise setzt sich das Wertgesetz der Warenproduktion durch, wird die Bestimmung des Warenwerts durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit eine Wirklichkeit. Daß dabei die Erscheinungsform des Werts, der Preis, in der Regel etwas anders aussieht als der Wert, den er zur Erscheinung bringt, dies Schicksal teilt der Wert mit den meisten gesellschaftlichen Verhältnissen. Der König sieht meist auch ganz anders aus als die Monarchie, die er vorstellt. In einer Gesellschaft austauschender Warenproduzenten die Wertbestimmung durch Arbeitszeit herstellen wollen, dadurch, daß man der Konkurrenz verbietet, diese Wertbestimmung durch Druck auf die Preise in der einzigen Weise herzustellen, in der sie überhaupt hergestellt werden kann, heißt also nur beweisen, daß man die übliche utopistische Mißachtung der ökonomischen Gesetze sich wenigstens auf diesem Gebiete angeeignet hat.
Zweitens: Indem die Konkurrenz innerhalb einer Gesellschaft austauschender Warenproduzenten das Wertgesetz der Warenproduktion zur Geltung bringt, setzt sie eben dadurch die unter den Umständen einzig mögliche Organisation und Ordnung der gesellschaftlichen Produktion durch. Nur vermittelst der Entwertung oder Überwertung der Produkte werden die einzelnen Warenproduzenten mit der Nase daraufgestoßen, was und wieviel davon die Gesellschaft braucht oder nicht braucht. Gerade diesen einzigen Regulator aber will die von Rodbertus mitvertretene Utopie abschaffen. Und wenn wir dann fragen, welche Garantie wir haben, daß von jedem Produkt die nötige Quantität und nicht mehr produziert wird, daß wir nicht an Korn und Fleisch Hunger leiden, während wir im Rübenzucker ersticken und im Kartoffelschnaps ersaufen, daß wir nicht Hosen genug haben, um unsere Blöße zu bedecken, während die Hosenknöpfe millionenweise umherwimmeln - so zeigt uns Rodbertus triumphierend seine famose Rechnung, wonach für jedes überflüssige Pfund Zucker, für jedes unverkaufte Faß Schnaps, für jeden unannähbaren Hosenknopf der richtige Schein ausgestellt worden ist, eine Rechnung, die genau „aufgeht", nach der „alle Ansprüche befriedigt werden und die Liquidation richtig vermittelt" ist. Und wer's nicht glaubt, der wende sich an den RegierungsHauptkassen-Rentamtskalkulator X in Pommern, der die Rechnung revidiert und richtig befunden und der als noch nie im Kassendefekt ertappt durchaus glaubwürdig ist. Und nun betrachte man die Naivetät, mit der Rodbertus die Industrieund Handelskrisen vermittelst seiner Utopie beseitigen will. Sobald die Warenproduktion Weltmarkts-Dimensionen angenommen hat, erledigt sich die Ausgleichung zwischen den für Privatrechnung produzierenden Einzelproduzenten und dem ihnen nach Quantität und Qualität des Bedarfs mehr oder weniger unbekannten Markt, für den sie produzieren, durch ein Weltmarktsungewitter, eine Handelskrise.* Verbietet man nun der Konkurrenz, den Einzelproduzenten durch Steigen oder Fallen der Preise mitzuteilen, wie der Weltmarkt steht, so verbindet man ihnen die Augen vollständig. Die Warenproduktion so einrichten, daß die Produzenten gar nichts mehr erfahren können über den Stand des Markts, für den sie produzieren
* Wenigstens war dies der Fall bis vor kurzem. Seitdem Englands Weltmarksmonopol mehr und mehr gebrochen wird durch die Beteiligung Frankreichs, Deutschlands und vor allem Amerikas am Welthandel, scheint eine neue Ausgleichungsform sich geltend zu machen. Die der Krise vorhergehende Periode allgemeiner Prosperität will noch immer nicht kommen. Bleibt sie ganz aus, so müßte chronische Stagnation der Normalzustand der modernen Industrie werden, mit nur geringen Schwankungen.
das ist allerdings eine Kur für die Krisenkrankheit, um die der Doktor Eisenbart Rodbertus beneiden könnte. Man begreift jetzt, warum Rodbertus den Wert der Waren durch „Arbeit" kurzweg bestimmt und höchstens verschiedne Intensitätsgrade der Arbeit zuläßt. Hätte er untersucht, wodurch und wie die Arbeit Wert schafft und daher auch bestimmt und mißt, so kam er auf die gesellschaftlich notwendige Arbeit, notwendig für das einzelne Produkt sowohl gegenüber andern Produkten derselben Art wie auch gegenüber dem gesellschaftlichen Gesamtbedarf. Damit kam er vor die Frage: wie die Anpassung der Produktion der einzelnen Warenproduzenten an den gesellschaftlichen Gesamtbedarf sich vollzieht; und damit war seine ganze Utopie unmöglich gemacht. Er zog es diesmal in der Tat vor, „zu abstrahieren", nämlich von dem, worauf es gerade ankam. Jetzt endlich kommen wir zu dem Punkt, in dem Rodbertus uns wirklich etwas Neues bietet; etwas, das ihn von allen seinen zahlreichen Mitgenossen der Arbeitsgeld-Tauschwirtschaft unterscheidet. Sie alle verlangen diese Tauscheinrichtung zum Zweck der Abschaffung der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Jeder Produzent soll den vollen Arbeitswert seines Produktes erhalten. Darin sind sie alle einig, von Gray bis Proudhon. Keineswegs, sagt Rodbertus. Die Lohnarbeit und ihre Ausbeutung bleibt. Erstens kann der Arbeiter in keinem denkbaren Gesellschaftszustand den ganzen Wert seines Produkts zum Verzehren erhalten; es müssen stets aus dem produzierten Fonds eine Reihe wirtschaftlich unproduktiver, aber notwendiger Funktionen mit bestritten, also auch die betreffenden Leute mit erhalten werden. Dies ist nur richtig, solange die heutige Teilung der Arbeit gilt. In einer Gesellschaft mit Verpflichtung zu allgemeiner produktiver Arbeit, die doch auch „denkbar" ist, fällt dies weg. Bleiben aber würde die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Reserve- und Akkumulationsfonds, und daher würden auch dann zwar die Arbeiter, d.h. alle, im Besitz und Genuß ihres Gesamtproduktes bleiben, nicht aber jeder einzelne seinen „vollen Arbeitsertrag" genießen. Die Erhaltung ökonomisch unproduktiver Funktionen aus dem Arbeitsprodukt ist auch von den andern ArbeitsgeldUtopisten nicht übersehn worden. Aber sie lassen die Arbeiter sich zu diesem Zweck auf üblichem demokratischen Wege selbst besteuern, während Rodbertus, dessen gesamte Sozialreform von 1842 auf den damaligen preußischen Staat zugeschnitten ist, die ganze Sache in das Befinden der Bürokratie legt, die dem Arbeiter seinen Anteil an seinem eigenen Produkt von oben herab bestimmt und in Gnaden zukommen läßt.
Zweitens aber soll auch Grundrente und Profit unverkürzt fortbestehn. Denn auch die Grundbesitzer und industriellen Kapitalisten üben gewisse, gesellschaftlich nützliche oder sogar nötige, wenn auch wirtschaftlich unproduktive Funktionen aus und erhalten in Grundrente und Profit gewissermaßen Gehalt dafür - eine bekanntlich selbst 1842 keineswegs neue Auffassung. Eigentlich bekommen sie jetzt viel zuviel für das Wenige, das sie, und schlecht genug, leisten, aber Rodbertus hat nun einmal, wenigstens für die nächsten 500 Jahre, eine privilegierte Klasse nötig, und so soll die gegenwärtige Rate des Mehrwerts, um mich korrekt auszudrücken, bestehn bleiben, aber nicht gesteigert werden dürfen. Diese gegenwärtige Rate des Mehrwerts nimmt Rodbertus an zu 200 Prozent, d.h. bei zwölfstündiger Arbeit täglich soll der Arbeiter nicht zwölf Stunden bescheinigt erhalten, sondern nur vier, und der in den übrigen acht Stunden produzierte Wert soll zwischen Grundbesitzer und Kapitalist verteilt werden. Die Rodbertusschen Arbeitsbescheinigungen lügen also direkt. Man muß aber eben wieder ein pommerscher Rittergutsbesitzer sein, um sich einzubilden, eine Arbeiterklasse würde sich das gefallen lassen, zwölf Stunden zu arbeiten, um vier Arbeitsstunden bescheinigt zu erhalten. Übersetzt man den Hokuspokus der kapitalistischen Produktion in diese naive Sprache, wo er als unverhüllter Raub erscheint, so macht man ihn unmöglich. Jeder dem Arbeiter gegebne Schein wäre eine direkte Aufforderung zur Rebellion und fiele unter § 110 des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs1153'. Man muß nie ein andres Proletariat gesehn haben als das noch tatsächlich in halber Leibeigenschaft befangne Taglöhnerproletariat eines pommerschen Ritterguts, wo Stock und Peitsche herrschen und wo alle hübschen Frauenzimmer des Dorfs zum Harem des gnädigen Herrn gehören, um sich vorzustellen, solche Unverschämtheit dürfe man den Arbeitern bieten. Aber unsre Konservativen sind nun einmal unsre größten Revolutionäre. Wenn aber unsre Arbeiter sanftmütig genug sind, sich aufbinden zu lassen, sie hätten während ganzer zwölf Stunden harter Arbeit in Wirklichkeit nur vier Stunden gearbeitet, so soll ihnen dafür zum Lohn garantiert werden, daß in alle Ewigkeit ihr Anteil an ihrem eigenen Produkt nicht unter ein Drittel fallen soll. Dies ist in der Tat Zukunftsmusik auf der Kindertrompete und nicht wert, daß man ein Wort darüber verliert. Soweit also in der Arbeitsgeld-Tauschutopie Rodbertus etwas Neues bietet, ist dies Neue einfach kindisch und steht tief unter den Leistungen seiner zahlreichen Genossen vor wie nach ihm. Für die Zeit, wo Rodbertus' „Zur Erkenntniß etc." erschien, war es unbedingt ein bedeutendes Buch. Seine Fortführung der Ricardoschen Wert
theorie in der einen Richtung war ein vielversprechender Anfang. War sie auch nur für ihn und für Deutschland neu, so steht sie doch im ganzen auf gleicher Höhe wie die Leistungen seiner besseren englischen Vorgänger. Aber es war eben nur ein Anfang, aus dem nur durch gründliche und kritische weitere Arbeit ein wirklicher Gewinn für die Theorie zu erlangen war. Diese Weiterführung jedoch schnitt er sich selbst ab dadurch, daß er gleich von vornherein auch die Weiterführung Ricardos in der zweiten Richtung, der Richtung auf die Utopie, mit in Angriff nahm. Damit verlor er die erste Bedingung aller Kritik - die Unbefangenheit. Er arbeitete los auf ein vorher bestimmtes Ziel, er wurde Tendenzökonom. Einmal gefangengenommen von seiner Utopie, hatte er sich alle Möglichkeit des Fortschreitens in der Wissenschaft versperrt. Von 1842 bis zu seinem Tode dreht er sich im Kreise, wiederholt stets dieselben bereits in der ersten Schrift ausgesprochen oder angedeuteten Gedanken, fühlt sich verkannt, findet sich geplündert, wo nichts zu plündern war, und verschließt sich zuletzt nicht ohne Absicht gegen die Erkenntnis, daß er im Grunde doch nur schon längst Entdecktes wiederentdeckt hat.
An einigen Stellen weicht die Übersetzung vom gedruckten französischen Original ab. Es beruht dies auf handschriftlichen Änderungen von Marx, die auch in der vorbereiteten, neuen französischen Ausgabe ihren Platz finden werdena541. Es ist wohl kaum nötig, darauf aufmerksam zu machen, daß die in dieser Schrift gebrauchte Ausdrucksweise nicht ganz mit der des „Kapital" stimmt. So wird hier noch von der Arbeit als Ware, von Kauf und Verkauf der Arbeit gesprochen, statt der Arbeitskraft. Als Ergänzung sind in dieser Ausgabe noch zugefügt: 1. eine Stelle aus der Marxschen Schrift „Zur Kritik der Politischen Oekonomie", Berlin 1859, über die erste Arbeitsgeld-Austauschutopie von John Gray, und 2. eine Übersetzung der Brüsseler Rede (1848) von Marx über Freihandel1, die derselben Entwicklungsperiode des Verfassers angehört wie die „Misere".
London, 23. Oktober 1884
Friedrich Engels '
Nach: Karl Marx, „Das Elend der Philosophie", Stuttgart 1885.
Kaiserlich Russische Wirkliche Geheime Dynamiträte"551
[„Der Sozialdemokrat" Nr. 5 vom 29. Januar 1885] Jedermann weiß, daß die russische Regierung alle Hebel ansetzt, um mit den westeuropäischen Staaten Verträge zustandezubringen zur Auslieferung der flüchtigen russischen Revolutionäre. Jedermann weiß ebenfalls, daß es ihr vor allem darauf ankommt, einen solchen Vertrag von England zu erlangen. Jedermann weiß endlich, daß das offizielle Rußland vor keinem Mittel zurückschreckt, wenn es nur zum Ziele führt. Nun gut. Am 13. Januar 1885 schließt Bismarck mit Rußland ein Übereinkommen ab, wonach jeder russische politische Flüchtling ausgeliefert werden muß, sobald es Rußland beliebt, ihn als angehenden Kaisermörder oder Dynamiter anzuklagen.'1561 Am 15. Januar erließ Frau Olga Nowikow einen Aufruf an England in der „Pall Mall Gazette", dieselbe Frau Nowikow, die 1877 und 1878, vor und während des Türkenkriegs, den edlen Herrn Gladstone im russischen Interesse so herrlich einseifte.11571 England wird hier ermahnt, nicht länger zu dulden, daß Leute wie Hartmann, Kropotkin und Stepniak auf englischem Boden konspirierten, „um tms in Rußland zu ermorden", jetzt, wo doch der Dynamit den Engländern auf den eigenen Nägeln brenne; und was verlange denn Rußland in bezug auf russische Revolutionäre anderes von England, als was England in bezug auf irische Dynamiter jetzt selbst von Amerika verlangen müsse? Am 24. Januar morgens wird der preußisch-russische Vertrag in London publiziert. Und am 24. Januar, nachmittags 2 Uhr, gehen in einer Viertelstunde drei Dynamitexplosionen in London los, die mehr Verwüstung anrichten als alle
früheren zusammen und wenigstens 7, nach anderen 18 Menschen verwunden. Diese Explosionen kommen zu gelegen, um nicht die Frage wachzurufen: Wem nützen sie? Wer hat das meiste Interesse an diesen sonst zwecklosen, gegen niemand im besonderen gerichteten Schreckschüssen, denen nicht nur untergeordnete Polizisten und Bourgeois, sondern auch Arbeiter und ihre Weiber und Kinder zum Opfer fielen? Wer? Die paar, teilweise durch englische Regierungsbrutalität während ihrer Gefängniszeit zur Verzweiflung getriebenen Irländer, die nach der Vermutung den Dynamit hingelegt haben sollen? Oder aber die russische Regierung, die ihren Zweck den Auslieferungsvertrag - nicht erreichen kann, ohne einen ganz außerordentlichen Druck auf Regierung und Volk in England auszuüben, einen Druck, der hinreichen muß, die öffentliche Meinung in England in blinde Tollwut zu versetzen gegen die Dynamiter? Als die polnischen Flüchtlinge - mit sehr geringen Ausnahmen - sich nicht herbeilassen wollten, nach dem Wunsche der russischen Diplomatie und Polizei falsches russisches Papiergeld zu machen, da schickte die russische Regierung Agenten ins Ausland, u.a. den Staatsrat Kamenski, um sie dazu anzustacheln; und als auch dies nicht gelang, da mußten die Herren Kamenski und Konsorten selbst falsches russisches Papiergeld machen. Wie ausführlich zu lesen in der Broschüre „Die Falschmünzer oder die Agenten der russischen Regierung", Genf, H. Georg, 1875. - Die Schweizer und Londoner, wahrscheinlich auch die Pariser Polizei weiß ein Liedchen davon zu singen, wie sie bei Verfolgung der russischen Geldfälscher in der Regel zuletzt auf Leute stieß, deren Verfolgung die russische Gesandtschaft hartnäckig ablehnte. Was das offizielle Rußland in Hinwegräumung von hinderlichen Personen durch Gift, Dolch etc. leisten kann, davon liefert die Geschichte der Balkanhalbinsel während der letzten hundert Jahre Beispiele genug. Ich verweise nur auf die berühmte „Histoire des principautes danubiennes" par Elias Regnault, Paris 1855. Die russische Diplomatie verfügt fortwährend über Agenten jeder Art, auch solche, die man zu Infamien gebraucht und dann verleugnet. Ich stehe also nicht an, bis auf weiteres die Londoner Explosionen vom 24. Januar 1885 auf die Rechnung Rußlands zu stellen. Irische Hände mögen das Dynamit hingelegt haben, es ist mehr als wahrscheinlich, daß ein russischer Kopf und russisches Geld dahinter standen. Den russischen Revolutionären ist ihre Kampfweise durch die Not, durch die Aktion ihrer Gegner selbst vorgeschrieben. Für die Mittel, die sie
anwenden, sind sie ihrem Volk und der Geschichte verantwortlich. Aber die Herren, die diesen Kampf in Westeuropa ohne Not in Schuljungenart parodieren, die die Revolution auf den Schinderhannes herunterzubringen suchen, die ihre Waffen nicht einmal gegen wirkliche Feinde, sondern gegen das Publikum im allgemeinen richten, diese Herren sind keineswegs Nachfolger und Bundesgenossen der russischen Revolutionäre, sondern ihre schlimmsten Feinde. Seitdem sich herausgestellt, daß außer dem offiziellen Rußland niemand ein Interesse hat an dem Gelingen dieser Heldentaten, ist es nur noch die Frage, welche von ihnen unfreiwillige und welche freiwillige, bezahlte Agenten des russischen Zarismus sind.
London, 25. Januar 1885
Friedrich Engels
England 1845 und 188511581
Vor 40 Jahren stand England vor einer Krisis, die zu lösen allem Anschein nach nur die Gewalt berufen war. Die ungeheure und rasche Entwicklung der Industrie hatte die Ausdehnung der auswärtigen Märkte und die Zunahme der Nachfrage weit überholt. Alle zehn Jahre wurde der Gang der Produktion gewaltsam unterbrochen durch eine allgemeine Handelskrisis, der, nach einer langen Periode chronischer Abspannung, wenige kurze Jahre der Prosperität folgten, um stets wieder zu enden in fieberhafter Überproduktion und schließlich in neuem Zusammenbruch. Die Kapitalistenklasse verlangte laut nach Freihandel in Korn und drohte, ihn zu erzwingen durch Rücksendung der hungernden Städtebevölkerung in die Landbezirke, woher sie kamen; aber, wie John Bright sagte: „nicht wie Bedürftige, die um Brot betteln, sondern wie eine Armee, die sich auf feindlichem Gebiete einquartiert"[159]. Die Arbeitermassen der Städte verlangten ihren Anteil an der politischen Macht - die Volks-Chartetl60]; sie wurden unterstützt von der Mehrzahl der Kleinbürger, und der einzige Unterschied zwischen beiden war, ob die Charte gewaltsam oder gesetzlich durchgeführt werden sollte. Da kam die Handelskrisis von 1847 und die irische Hungersnot, und mit beiden die Aussicht auf Revolution. Die französische Revolution von 1848 rettete die englische Bourgeoisie. Die sozialistischen Proklamationen der siegreichen französischen Arbeiter erschreckten das englische Kleinbürgertum und desorganisierten die Bewegung der englischen Arbeiter, die innerhalb engerer, aber mehr unmittelbar praktischer Grenzen vor sich ging. Gerade in demselben Augenblick, wo der Chartismus seine volle Kraft entwickeln sollte, brach er in sich selbst zusammen, schon ehe er am 10. April 184811611 äußerlich zusammenbrach. Die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse wurde in den Hintergrund gedrängt. Die Kapitalistenklasse hatte auf der ganzen Linie gesiegt.
Die Parlamentsreform von 183111621 war der Sieg der gesamten Kapitalistenklasse über die grundbesitzende Aristokratie. Die Abschaffung der Kornzölle'1631 war der Sieg der industriellen Kapitalisten nicht nur über den großen Grundbesitz, sondern auch über die Fraktionen von Kapitalisten, deren Interessen mehr oder weniger mit denen des Grundbesitzes identisch oder verkettet waren: Bankiers, Börsenleute, Rentiers usw. Freihandel bedeutete die Umgestaltung der gesamten inneren und äußeren Finanz- und Handelspolitik Englands im Einklang mit den Interessen der industriellen Kapitalisten, der Klasse, die jetzt die Nation vertrat. Und diese Klasse machte sich ernstlich ans Werk. Jedes Hemmnis der industriellen Produktion wurde unbarmherzig entfernt. Der Zolltarif und das ganze Steuersystem wurden umgewälzt. Alles wurde einem einzigen Zweck untergeordnet, aber einem Zweck von der äußersten Wichtigkeit für den industriellen Kapitalisten: der Verwohlfeilerung aller Rohstoffe und besonders aller Lebensmittel für die Arbeiterklasse; der Produktion der Rohstoffe und der Niederhaltung, wenn auch noch nicht der Herunterbringung des Arbeitslohnes. England sollte „die Werkstatt der Welt werden"; alle anderen Länder sollten für England werden, was Irland schon war - Märkte für seine Industrieprodukte, Bezugsquellen seiner Rohstoffe und Nahrungsmittel. England, der große industrielle Mittelpunkt einer ackerbauenden Welt, mit einer stets wachsenden Zahl Korn und Baumwolle produzierender Trabanten, die sich um die industrielle Sonne drehen. Welch herrliche Aussicht! Die industriellen Kapitalisten gingen an die Durchführung dieses ihres großen Zieles mit dem kräftigen, gesunden Menschenverstand und der Verachtung überkommener Grundsätze, durch die sie sich immer ausgezeichnet haben vor ihren philisterhafteren Konkurrenten auf dem Kontinent. Der Chartismus war im Aussterben. Die Wiederkehr der Geschäftsblüte, natürlich und fast selbstverständlich, nachdem der Krach von 1847 sich erschöpft hatte, wurde ausschließlich auf Rechnung des Freihandels geschrieben. Infolge beider Umstände war die englische Arbeiterklasse politisch der Schwanz der „großen liberalen Partei" geworden, der von den Fabrikanten angeführten Partei. Diesen einmal gewonnenen Vorteil galt es zu verewigen. Und aus der heftigen Opposition der Chartisten, nicht gegen den Freihandel, sondern gegen die Verwandlung des Freihandels in die einzige Lebensfrage der Nation, hatten die Fabrikanten begriffen und begriffen täglich mehr, daß die Bourgeoisie nie volle soziale und politische Herrschaft über die Nation erringen kann, außer mit Hilfe der Arbeiterklasse. So veränderte sich allmählich die gegenseitige Haltung beider Klassen. Die Fabrikgesetze, einst der Popanz aller Fabrikanten, wurden
jetzt nicht nur willig von ihnen befolgt, sondern mehr oder minder auf die ganze Industrie ausgedehnt. Die Trades Unions, vor kurzem noch als Teufelswerk verrufen, wurden jetzt von den Fabrikanten kajoliert und protegiert als äußerst wohlberechtigte Einrichtungen und als ein nützliches Mittel, gesunde ökonomische Lehren unter den Arbeitern zu verbreiten. Selbst Strikes, die vor 1848 in die Acht erklärt worden waren, wurden jetzt gelegentlich recht nützlich befunden, besonders, wenn die Herren Fabrikanten zu gelegener Zeit sie selbst hervorgerufen hatten. Von den Gesetzen, die dem Arbeiter gleiches Recht gegenüber seinem Beschäftiger geraubt hatten, wurden wenigstens die empörendsten abgeschafft. Und die einst so fürchterliche Volks-Charte wurde nun der Hauptsache nach das politische Programm derselben Fabrikanten, die ihr bis zuletzt opponiert hatten. Die Abschaffung des Wählbarkeitszensusll6i] und die geheime Abstimmung sind durch Gesetz eingeführt. Die Parlamentsreformen von 1867 und I884[165] nähern sich schon stark dem allgemeinen Stimmrecht, wenigstens wie es jetzt in Deutschland besteht; die Wahlkreisvorlage, die das Parlament jetzt berät, schafft gleiche Wahlkreise, im ganzen wenigstens nicht ungleicher, als die in Frankreich oder Deutschland.Dia'fen und kürzere Mandatsdauer, wenn auch nicht gerade jährlich gewählte Parlamente kommen in Sicht, als unzweifelhafte Errungenschaften der nächsten Zukunft; und dennoch sagen einige Leute, der Chartismus sei tot. Die Revolution von 1848, wie manche ihrer Vorgänger, hat seltsame Geschicke gehabt. Dieselben Leute, die sie niederwarfen, sind, wie Karl Marx zu sagen pflegte, ihre Testamentsvollstrecker geworden. Louis-Napoleon war gezwungen, ein einiges und unabhängiges Italien zu schaffen, Bismarck war gezwungen, Deutschland in seiner Art umzuwälzen und Ungarn eine gewisse Unabhängigkeit wiederzugeben, und die englischen Fabrikanten haben nichts Besseres zu tun, als der Volks-Charte Gesetzeskraft zu geben. Die Wirkungen dieser Herrschaft der industriellen Kapitalisten für England waren anfangs staunenerregend. Das Geschäft lebte wieder auf und dehnte sich aus in einem Grade, unerhört selbst in dieser Wiege der modernen Industrie. Alle früheren gewaltigen Schöpfungen des Dampfes und der Maschinerie verschwanden in nichts, verglichen mit dem gewaltigen Aufschwung der Produktion in den zwanzig Jahren von 1850 bis 1870, mit den erdrückenden Ziffern der Ausfuhr und Einfuhr, des in den Händen der Kapitalisten sich aufhäufenden Reichtums und der sich in Riesenstädten konzentrierenden menschlichen Arbeitskraft. Der Fortschritt wurde freilich unterbrochen, wie vorher durch die Wiederkehr einer Krisis alle 10 Jahre, 1857 so gut wie 1868; aber diese Rückschläge galten nun als natürliche
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unvermeidliche Ereignisse, die man eben durchmachen muß, und die schließlich doch auch wieder ins gleiche kommen. Und die Lage der Arbeiterklasse während dieser Periode? Zeitweilig gab es Besserung, selbst für die große Masse. Aber diese Besserung wurde immer wieder auf das alte Niveau herabgebracht durch den Zustrom der großen Menge der unbeschäftigten Reserve, durch die fortwährende Verdrängung von Arbeitern durch neue Maschinerie und durch die Einwanderung der Ackerbauarbeiter, die jetzt auch mehr und mehr durch Maschinen verdrängt wurden. Eine dauernde Hebung findet sich nur bei zwei beschützten Abteilungen der Arbeiterklasse. Davon sind die erste die Fabrikarbeiter. Die gesetzliche Feststellung eines wenigstens verhältnismäßig rationellen Normalarbeitstages zu ihren Gunsten hat ihre Körperkonstitution relativ wiederhergestellt und ihnen eine, noch durch ihre lokale Konzentration verstärkte, moralische Überlegenheit gegeben. Ihre Lage ist unzweifelhaft besser als vor 1848. Der beste Beweis dafür ist, daß von zehn Strikes, die sie machen, neun hervorgerufen sind durch die Fabrikanten selbst und in ihrem eigenen Interesse, als einziges Mittel, die Produktion einzuschränken. Ihr werdet die Fabrikanten nie dahin bringen, daß sie sich alle dazu verstehen, kurze Zeit zu arbeiten, mögen ihre Fabrikate noch so unverkäuflich sein. Aber bringt die Arbeiter zum Striken, und die Kapitalisten schließen ihre Fabriken bis auf den letzten Mann. Zweitens die großen Trades Unions. Sie sind die Organisationen der Arbeitszweige, in denen die Arbeit erwachsener Männer allein anwendbar ist oder doch vorherrscht. Hier ist die Konkurrenz weder der Weiber- noch der Kinderarbeit, noch der Maschinerie bisher imstande gewesen, ihre organisierte Stärke zu brechen. Die Maschinenschlosser, Zimmerleute und Schreiner, Bauarbeiter, sind jeder für sich eine Macht, so sehr, daß sie selbst, wie die Bauarbeiter tun, der Einführung der Maschinerie erfolgreich widerstehen können. Ihre Lage hat sich unzweifelhaft seit 1848 merkwürdig verbessert; der beste Beweis dafür ist, daß seit mehr als fünfzehn Jahren nicht nur ihre Beschäftiger mit ihnen, sondern auch sie mit ihren Beschäftigern äußerst zufrieden gewesen sind. Sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es fertiggebracht, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgiltig. Sie sind die Musterarbeiter der Herrn Leone Levi und Giffen (und auch des Biedermannes Lujo Brentano), und sie sind in der Tat sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen Kapitalisten im besonderen und für die Kapitalistenklasse im allgemeinen.
Aber was die große Masse der Arbeiter betrifft, so steht das Niveau des Elends und der Existenzunsicherheit für sie heute ebenso niedrig, wenn nicht niedriger als je. Das Ostende von London11661 ist ein stets sich ausdehnender Sumpf von stockendem Elend und Verzweiflung, von Hungersnot, wenn unbeschäftigt, von physischer und moralischer Erniedrigung, wenn beschäftigt. Und so in allen anderen Großstädten, mit Ausnahme nur der bevorrechteten Minderheit der Arbeiter; und so in den kleineren Städten und in den Landbezirken. Das Gesetz, das den Wert der Arbeitskraft auf den Preis der notwendigen Lebensmittel beschränkt, und das andere Gesetz, das ihren Durchschnittspreis der Regel nach auf das Minimum dieser Lebensmittel herabdrückt, diese beiden Gesetze wirken auf sie mit der unwiderstehlichen Kraft einer automatischen Maschine, die sie zwischen ihren Rädem erdrückt. Das war also die Lage, geschaffen durch die Freihandelspolitik von 1847 und durch die zwanzigjährige Herrschaft der industriellen Kapitalisten. Aber dann kam eine Wendung. Der Krisis von 1866 folgte in der Tat ein kurzer und leichter Geschäftsaufschwung gegen 1873, aber er dauerte nicht. Wir haben in der Tat zu der Zeit, wo sie fällig war, 1877 oder 1878, keine volle Krisis durchgemacht, aber wir leben seit 1876 in einem chronischen Versumpfungszustand aller herrschenden Industriezweige. Weder will der vollständige Zusammenbruch kommen, noch die langersehnte Zeit der Geschäftsblüte, auf die wir ein Recht zu haben glaubten, sowohl vor wie nach dem Krach. Ein tödlicher Druck, eine chronische Überfüllung aller Märkte für alle Geschäfte, das ist der Zustand, den wir seit beinahe zehn Jahren durchmachen. Woher das? Die Freihandelstheorie hatte zum Grund die eine Annahme: daß England das einzige große Industriezentrum einer ackerbauenden Welt werden sollte, und die Tatsachen haben diese Annahme vollständig Lügen gestraft. Die Bedingungen der modernen Industrie, Dampfkraft und Maschinerie, sind überall herstellbar, wo es Brennstoff, namentlich Kohlen, gibt, und andere Länder neben England haben Kohlen: Frankreich, Belgien, Deutschland, Amerika, selbst Rußland. Und die Leute da drüben waren nicht der Ansicht, daß es in ihrem Interesse sei, sich in irische Hungerpächter zu verwandeln, einzig zum größeren Ruhme und Reichtum der englischen Kapitalisten. Sie fingen an zu fabrizieren, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die übrige Welt, und die Folge ist, daß das Industriemonopol, das England beinahe ein Jahrhundert besessen hat, jetzt unwiederbringlich gebrochen ist. Aber das Industriemonopol Englands ist der Angelpunkt des bestehen
den englischen Gesellschaftssystems. Selbst während dies Monopol dauerte, konnten die Märkte nicht Schritt halten mit der wachsenden Produktivität der englischen Industrie; die zehnjährigen Krisen waren die Folge. Und jetzt werden neue Märkte täglich seltener, so sehr, daß selbst den Negern am Kongo die Zivilisation aufgezwungen werden soll, die aus den Kattunen von Manchester, den Töpferwaren von Staffordshire und den Metallartikeln von Birmingham fließt. Was wird die Folge sein, wenn kontinentale und besonders amerikanische Waren in stets wachsender Masse hervorströmen, wenn der jetzt noch den englischen Fabriken zufallende Löwenanteil an der Versorgung der Welt von Jahr zu Jahr zusammenschrumpft? Antworte, Freihandel, du Universalmittel! Ich bin nicht der erste, der darauf hinweist. Schon 1883, in der Versammlung der British Association in Southport, hat Herr Inglis Palgrave, Präsident der ökonomischen Sektion, geradezu gesagt,
„daß die Tage großer Geschäftsprofite in England vorbei seien, und eine Pause eingetreten sei in der Weiterentwicklung verschiedener großer Industriezweige. Man könne fast sagen, daß England im Begriffe sei, in einen nicht länger fortschreitenden Zustand überzugehen."'1671
Aber was wird das Ende von alledem sein? Die kapitalistische Produktion feinn nicht stabil werden, sie muß wachsen und sich ausdehnen, oder sie muß sterben. Schon jetzt, die bloße Einschränkung von Englands Löwenanteil an der Versorgung des Weltmarkts heißt Stockung, Elend, Übermaß an Kapital hier,, Übermaß an unbeschäftigten Arbeitern dort. Was wird es erst sein, wenn der Zuwachs der jährlichen Produktion vollends zum Stillstand gebracht ist? Hier ist die verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortwährender Ausdehnung, und diese fortwährende Ausdehnung wird jetzt unmöglich. Die kapitalistische Produktion läuft aus in eine Sackgasse. Jedes Jahr bringt England dichter vor die Frage: Entweder die Nation geht in Stücken, oder die kapitalistische Produktion. Welches von beiden muß dran glauben? Und die Arbeiterklasse? Wenn selbst unter der unerhörten Ausdehnung des Handels und der Industrie von 1848 bis 1868 sie solches Elend durchzumachen hatte, wenn selbst damals ihre große Masse im besten Fall nur eine vorübergehende Verbesserung ihrer Lage erfuhr, während nur eine kleine privilegierte, geschützte Minorität dauernden Vorteil hatte, wie wird es sein, wenn diese blendende Periode endgiltig zum Abschluß kommt, wenn die gegenwärtige drückende Stagnation sich nicht nur noch steigert,
sondern wenn dieser gesteigerte Zustand ertötenden Druckes der dauernde, der Normalzustand der englischen Industrie würde? Die Wahrheit ist diese: Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols. Diese Vorteile wurden sehr ungleich unter sie verteilt; die privilegierte Minderheit sackte den größten Teil ein, aber selbst die große Masse hatte wenigstens dann und wann vorübergehend ihr Teil. Und das ist der Grund, warum seit dem Aussterben des Owenismus es in England keinen Sozialismus gegeben hat. Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein - die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen - eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen, wie die Arbeiter des Auslandes. Und das ist der Grund, warum es in England wieder Sozialismus geben wird.
Geschrieben Mitte Februar 1885. Nach: „Die Neue Zeit", Dritter Jahrgang, Nr. 6, Juni 1885.
Vorwort [zu „Karl Marx vor den Kölner Geschwornen"]11685
Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Verhandlungen wird es genügen, die Hauptereignisse zusammenzustellen, an die sie sich anknüpfen. Die Feigheit der deutschen Bourgeoisie hatte der feudalbürokratischabsolutistischen Reaktion erlaubt, sich von den niederschmetternden Schlägen des Märzes 1848 soweit zu erholen, daß Ende Oktober schon ein zweiter Entscheidungskampf bevorstand. Der Fall von Wien, nach langem, heldenmütigem Widerstand, gab auch der preußischen Kamarilla den Mut zu einem Staatsstreich. Die zahme Berliner „Nationalversammlung" war ihr immer noch zu wild. Sie sollte gesprengt, mit der Revolution sollte ein Ende gemacht werden. Am 8. November 1848 wird das Ministerium Brandenburg-Manteuffel gebildet. Am 9. verlegt es den Sitz der Versammlung von Berlin nach Brandenburg, damit sie, ungestört durch die revolutionären Einflüsse Berlins, im Schutz der Bajonette „frei" beraten könne. Die Versammlung weigert sich zu gehen; die Bürgerwehr weigert sich, gegen die Versammlung einzuschreiten. Das Ministerium löst die Bürgerwehr auf, entwaffnet sie, ohne daß sie sich wehrt, und erklärt Berlin in Belagerungszustand. Die Versammlung antwortet damit, daß sie das Ministerium am 13. November wegen Hochverrats in Anklagestand versetzt. Das Ministerium hetzt die Versammlung von einem Berliner Lokal ins andere. Die Versammlung beschließt am 15., daß das Ministerium Brandenburg nicht berechtigt sei, über Staatsgelder zu verfügen und Steuern zu erheben, solange sie, die Versammlung, nicht frei in Berlin ihre Sitzungen fortsetzen kann. * Dieser Beschluß der Steuerverweigerung konnte nur dadurch in Wirksamkeit treten, daß das Volk der Steuereintreibung mit bewaffneter Hand Widerstand entgegensetzte. Und damals waren noch Waffen genug in der Hand der Bürgerwehr. Trotzdem blieb man fast überall beim passiven
Widerstand. Nur an wenigen Orten bereitete man sich vor, die Gewalt mit der Gewalt zu vertreiben. Der kühnste Aufruf hierzu aber blieb der des Ausschusses der demokratischen Vereine der Rheinprovinz, der in Köln saß und aus Marx, Schapper und Schneider bestand'1691. Daß der Kampf gegen den in Berlin siegreich durchgeführten Staatsstreich am Rhein nicht mit Erfolg aufzunehmen war, darüber täuschte sich der Ausschuß nicht. Die Rheinprovinz hatte fünf Festungen; in ihr selbst, in Westfalen, Mainz, Frankfurt und Luxemburg lag allein' ungefähr ein Drittel der ganzen preußischen Armee, darunter zahlreiche Regimenter aus den östlichen Provinzen. Die Bürgerwehr war in Köln und andern Städten bereits aufgelöst und entwaffnet. Aber es handelte sich auch nicht um den unmittelbaren Sieg in Köln, das selbst erst vor wenigen Wochen vom Belagerungszustand befreit war. Es handelte sich darum, ein Beispiel zu geben für die übrigen Provinzen und dadurch die revolutionäre Ehre der Rheinprovinz zu retten. Und das war geschehen. Die preußische Bourgeoisie, die der Regierung einen Machtposten nach dem andern wieder abgetreten hatte, aus Furcht vor den damals noch halb träumenden Zuckungen des Proletariats, die längst schon Reue empfand über ihre früheren Machtgelüste, die schon seit März vor Angst nicht mehr wußte wo aus noch ein, weil hier die um den Absolutismus gruppierten Mächte der alten Gesellschaft, dort das zum Bewußtsein seiner Klassenstellung heraufdämmernde junge Proletariat ihr drohend gegenübertrat die preußische Bourgeoisie tat, was sie stets im entscheidenden Augenblick getan - sie duckte sich. Und die Arbeiter waren nicht so dumm, für die Bourgeoisie ohne die Bourgeoisie loszuschlagen; für sie - namentlich am Rhein - waren die preußischen Fragen ohnehin reine Lokalfragen; sollten sie einmal im Interesse der Bourgeoisie ins Feuer gehn, dann auch gleich in und für ganz Deutschland. Es war ein bedeutsames Vorzeichen, daß schon damals die „preußische Spitze"11701 bei den Arbeitern absolut nicht zog. Kurz, die Regierung siegte. Einen Monat später, am 5. Dezember, konnte sie die Berliner Versammlung, die bis dahin ein ziemlich schäbiges Dasein gefristet, endgültig auflösen und eine neue Verfassung oktroyieren, die aber auch erst wirklich ins Leben trat, nachdem sie zum bloßen konstitutionellen Possenspiel degradiert war. Am Tage nach dem Erscheinen des Aufrufs, 20. November, waren die drei Unterzeichner vor den Untersuchungsrichter vorgeladen; der Prozeß wegen Rebellion wurde gegen sie eingeleitet. Von Verhaftung war damals selbst in Köln keine Rede. Am 7. Februar hatte die „Neue Rheinische
Zeitung" ihren ersten Preßprozeß zu bestehen; Marx, ich und der Gerant Korff erschienen vor den Geschwornen und wurden freigesprochen.'1711 Am folgenden Tage wurde der Prozeß des Ausschusses verhandelt.'1721 Das Volk hatte bereits sein Urteil im voraus gefällt, indem es 14 Tage vorher den Angeklagten Schneider zum Abgeordneten für Köln gewählt. Die Verteidigungsrede von Marx bildet selbstverständlich den Gipfelpunkt der Verhandlungen. Sie ist namentlich nach zwei Seiten hin interessant. Erstens dadurch, daß es ein Kommunist ist, der hier den bürgerlichen Geschwornen klarzumachen hat, daß die Handlungen, die er begangen und derentwegen er als Angeklagter vor ihnen steht, eine Handlung ist, die nicht nur zu begehn, sondern zu ihren äußersten Folgerungen fortzuführen eigentlich die Pflicht und Schuldigkeit ihrer Klasse, der Bourgeoisie, war. Diese Tatsache allein genügt, um die Haltung der deutschen, speziell preußischen Bourgeoisie während der Revolutionszeit zu kennzeichnen. Es handelt sich darum, wer herrschen soll, die um die absolute Monarchie gruppierten gesellschaftlichen und staatlichen Mächte: feudaler Großgrundbesitz, Armee, Bürokratie, Pfaffen tum, oder aber die Bourgeoisie. Das noch im Entstehen begriffene Proletariat hat an dem Kampf nur soweit Interesse, als es durch den Sieg der Bourgeoisie Luft und Licht zur eignen Entwicklung, Ellbogenraum auf dem Kampfplatz erhält, wo es einst den Sieg über alle andern Klassen erfechten soll. Aber die Bourgeoisie, und mit ihr das Kleinbürgertum, rührt und regt sich nicht, als die feindliche Regierung sie im Sitz ihrer Macht angreift, ihr Parlament zersprengt, ihre Bürgerwehr entwaffnet, sie selbst unter den Belagerungszustand wirft. Da treten die Kommunisten in den Riß, rufen sie auf, zu tun, was ihre verfluchte Schuldigkeit ist. Gegenüber der alten, feudalen Gesellschaft bilden beide, Bourgeoisie wie Proletariat, die neue Gesellschaft, stehn beide zusammen. Der Aufruf bleibt natürlich erfolglos, und die Ironie der Geschichte will, daß dieselbe Bourgeoisie jetzt zu Gericht sitzen soll über den revolutionären, proletarischen Kommunisten hier und über die kontrerevolutionäre Regierung dort. Zweitens aber - und dies macht die Rede besonders wichtig auch noch für unsere Tage - wahrt sie den revolutionären Standpunkt gegenüber der heuchlerischen Gesetzlichkeit der Regierung in einer Weise, woran mancher sich noch heute ein Beispiel nehmen könnte. - Wir haben das Volk zu den Waffen gerufen gegen die Regierung? Das taten wir, und es war unsere Schuldigkeit. Wir haben das Gesetz gebrochen, wir haben den Rechtsboden verlassen? Gut, aber die Gesetze, die wir brachen, die Regierung hat sie schon vorher zerrissen dem Volk vor die Füße geworfen, und ein
Rechtsboden besteht nicht mehr. Man kann uns als besiegte Feinde aus dem Wege räumen, aber man kann uns nicht verurteilen. Die offiziellen Parteien von der „Kreuz-Zeitung" bis zur „Frankfurter" [1731 werfen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei vor, sie sei eine revolutionäre Partei, sie wolle den Rechtsboden, der 1866 und 1871 geschaffen wurde, nicht anerkennen, und sie stelle sich dadurch selbst - so heißt's wenigstens noch bis zu den Nationalliberalen hinab - außerhalb des gemeinen Rechts.11741 Ich will von der monströsen Ansicht absehn, als könne sich jemand durch Behauptung einer Meinung außerhalb des gemeinen Rechts stellen. Das ist der pure Polizeistaat, den man doch besser täte, nur im stillen zu praktizieren und in der Phrase den Rechtsstaat zu predigen. Aber was ist denn der Rechtsboden von 1866 anders als ein revolutionärer Boden? Man bricht die Bundesverfassung und erklärt den Bundesgenossen den Krieg.11751 Nein, sagt Bismarck, die andern haben den Bundesbruch begangen. Worauf zu antworten, daß eine revolutionäre Partei sehr tölpelhaft sein muß, wenn sie nicht für jede Schilderhebung mindestens ebenso gute Rechtsgründe findet wie Bismarck für die seinige 1866. - Dann provoziert man den Bürgerkrieg, denn anders war der Krieg 1866 nichts. Jeder Bürgerkrieg aber ist ein revolutionärer Krieg. Man führt den Krieg mit revolutionären Mitteln. Man verbündet sich mit dem Ausland gegen Deutsche; man führt italienische Truppen und Schiffe ins Gefecht, man ködert Bonaparte mit Aussichten auf deutsche Gebietserwerbung am Rhein. Man bildet eine ungarische Legion, die für revolutionäre Zwecke gegen ihren angestammten Landesvater kämpfen soll; man stützt sich in Ungarn auf Klapka wie in Italien auf Garibaldi. Man siegt, und - verschluckt drei Kronen von Gottes Gnaden, Hannover, Kurhessen, Nassau, deren jede mindestens ebenso legitim, ebensosehr „angestammt" und „von Gottes Gnaden" war wie die Krone Preußen.11761 Endlich zwingt man den übrigen Bundesgenossen eine Reichsverfassung auf, die z.B. im Fall von Sachsen ebenso freiwillig angenommen wurde wie seinerzeit der Tilsiter Friede von Preußen.11771
Beklage ich mich darüber? Es fällt mir nicht ein. Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit auch ihre Folgen, die noch lange nicht erschöpft sind. Aber weis man ein Recht hat zu verlemgen, ist, daß die Leute, die alles das getan, nicht andern Leuten vorwerfen, sie seien Revolutionäre. Das Deutsche Reich ist eine Schöpfung der Revolution - allerdings einer Revolution eigner Art, aber darum nicht minder einer Revolution. Was dem einen recht, deis ist dem andern billig. Revolution bleibt Revolution, ob sie
von der Krone Preußen praktiziert wird oder von einem Kesselflicker. Wenn •die Regierung des Tags die bestehenden Gesetze anwendet, um sich ihrer Gegner zu entledigen, so tut sie, was jede Regierung tut. Wenn sie aber glaubt, sie schmettre sie noch extra nieder mit dem Donnerwort: Revolutionär! - so kann sie damit höchstens den Philister schrecken. „Selbst Revolutionär!" hallt es aus ganz Europa zurück. Grundkomisch aber wird die Zumutung, man solle die aus den geschichtlichen Verhältnissen unumgänglich folgende revolutionäre Natur -ablegen, wenn sie an eine Partei gerichtet wird, die man erst außerhalb des gemeinen Rechts, d.h. außerhalb des Gesetzes stellt und von der man dann verlangt, sie solle den Rechtsboden anerkennen, den man grade für sie abgeschafft hat.[178] Daß mein über so etwas nur ein Wort zu verlieren hat, beweist wieder •den politisch zurückgebliebenen Zustand Deutschlands. In der übrigen Welt weiß jedermann, daß die gesamten gegenwärtigen politischen Zustände das Ergebnis von lauter Revolutionen sind. Frankreich, Spanien, die .Schweiz, Italien - soviel Länder, soviel Regierungen von Revolutions Gnaden. In England erkennt sogar der Whig Macaulay an, daß der jetzige Rechtszustand begründet ist auf eine Revolution über die andere (revolutions heaped upon revolutions). Amerika feiert seit hundert Jahren seine Revolution jeden vierten Juli11791. In der Mehrzahl dieser Länder gibt es Parteien, die sich durch den bestehenden Rechtszustand nicht länger gebunden halten, als dieser sie binden kann. Wer aber z.B. in Frankreich die Royalisten oder Bonapartisten anklagen wollte, sie seien revolutionär, der würde einfach ausgelacht. Nur in Deutschland, wo politisch nichts gründlich erledigt wird (sonst wäre es nicht in zwei Stücke zerrissen, in Österreich und das sogenannte Deutschland) und wo eben deswegen auch die Vorstellungen vergangner, aber erst halb überwundner Zeiten in den Köpfen unsterblich fortvegetieren ' (weshalb die Deutschen sich das Denkervolk nennen) - nur in Deutschland kann es noch vorkommen, daß man von einer Partei verlangt, sie solle sich durch den bestehenden sogenannten Rechtszustand nicht nur tatsächlich, -sondern auch moralisch gebunden halten; sie solle im voraus versprechen: was auch kommen möge, sie wolle diesen von ihr bekämpften Rechtszustand nicht umwerfen, selbst wenn sie es könne. Mit anderen Worten, sie solle sich verpflichten, die bestehende politische Ordnung am Leben zu erhalten in alle Ewigkeit. Das und nichts andres heißt es, wenn man von der deutschen Sozialdemokratie verlangt, sie solle aufhören „revolutionär" zu :sein.
Aber der deutsche Spießbürger - und seine Meinung ist noch immer die öffentliche Meinung Deutschlands - ist ein eigner Mann. Er hat nie eine Revolution gemacht. Die von 1848 machten die Arbeiter für ihn - zu seinem Entsetzen. Dafür hat er um so mehr Revolutionen erlitten. Denn wer in Deutschland seit dreihundert Jahren die Revolutionen machte - sie waren auch danach das waren die Fürsten. Ihre ganze Landeshoheit und endlich ihre Souveränität war die Frucht von Rebellionen gegen den Kaiser. Preußen ging ihnen mit gutem Beispiel voran. Preußen konnte erst ein Königreich werden, nachdem der „große Kurfürst"1 gegen seinen Lehnsherrn, die Krone Polen, eine erfolgreiche Rebellion durchgeführt und so das Herzogtum Preußen von Polen unabhängig gemacht hatte.11801 Seit Friedrich II. wurde die Rebellion Preußens gegen das deutsche Reich in ein System gebracht; er „pfiff" auf die Reichsverfassung noch ganz anders als unser braver Bracke auf das Sozialistengesetz. Dann kam die Französische Revolution, und sie wurde von den Fürsten wie von den Spießbürgern unter Tränen und Seufzern erlitten. Das deutsche Reich wurde im Reichsdeputationshauptschluß 1803 von Franzosen und Russen höchst revolutionär unter die deutschen Fürsten verteilt, weil diese selbst über die Teilung sich nicht einigen konnten.11811 Dann kam Napoleon und erlaubte seinen ganz besondern Schützlingen, den Fürsten von Baden, Bayern und Württemberg, sich aller innerhalb und zwischen ihren Gebieten liegenden reichsunmittelbaren Grafschaften, Baronien und Städte zu bemächtigen. Gleich darauf machten dieselben drei Hochverräter die letzte erfolgreiche Rebellion gegen ihren Kaiser, machten sich mit Napoleons Hülfe souverän und sprengten damit endgiltig das alte deutsche Reich.'1821 Seitdem verteilte der faktische deutsche Kaiser, Napoleon, Deutschland ungefähr alle drei Jahre wieder neu unter seine getreuen Knechte, die deutschen Fürsten und andre. Endlich kam die glorreiche Befreiung von der Fremdherrschaft, und zum Lohne wurde Deutschland vom Wiener Kongreß, d.h. von Rußland, Frankreich und England, als allgemeines Entschädigungsgebiet für heruntergekommene Fürsten verteilt und verschachert, und die deutschen Spießbürger wie soviel Hämmel in ungefähr 2000 abgesonderten Gebietsfetzen den verschiedenen sechsunddreißig Ländesvätern zugewiesen, vor deren Mehrzahl sie noch heute als vor ihren angestammten Ländesvätern „untertänigst ersterben". Alles das soll nicht revolutionär gewesen sein - wie recht hatte doch Schnapphahnski-Lichnowski, als er im Frankfurter Parlament ausrief: Das historische Recht hat keinen Datum nicht!11831 Es hatte nämlich nie einen gehabt!
Die Zumutung des deutschen Spießbürgers an die deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei hat also nur den einen Sinn, daß diese Partei Spießbürger werden soll wie er selbst und die Revolutionen beileibe nicht mitmachen, aber sie alle erleiden. Und wenn die durch Kontrerevolution und Revolution zur Macht gekommene Regierung dieselbe Zumutung stellt, so heißt das nur, daß die Revolution gut ist, solange sie von Bismarck für Bismarck und Konsorten gemacht wird, aber verwerflich, wenn sie gegen Bismarck und Konsorten gemacht wird.
London, I.Juli 1885
Friedrich Engels
Nach: „Karl Marx vor den Kölner Geschwornen", Hottingen-Zürich 1885.
[An die Redaktion des „Sewerny Westnik""841]
Monsieur, Unter den Papieren meines verstorbenen Freundes K. M. habe ich eine Antwort auf einen Artikel des Herrn Michailowski: „Karl Marx vor dem Tribunal des Herrn Shukowski" gefunden. Da diese Antwort seinerzeit aus mir unbekannten Gründen nicht veröffentlicht worden ist, für die russische Öffentlichkeit jedoch noch von Interesse sein kann, stelle ich sie Ihnen zur Verfügung. Hochachtungsvoll etc.
Geschrieben um den 25.August 1885. Nach der Handschrift. Aus dem Französischen.
Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten1'853
Mit der Verurteilung der Kölner Kommunisten 1852 fällt der Vorhang über die erste Periode der deutschen selbständigen Arbeiterbewegung. Diese Periode ist heute fast vergessen. Und doch währte sie'von 1836 bis 1852, und die Bewegung spielte, bei der Verbreitung der deutschen Arbeiter im Ausland, in fast allen Kulturländern. Und damit nicht genug. Die heutige internationale Arbeiterbewegung ist der Sache nach eine direkte Fortsetzung der damaligen deutschen, welche die erste internationale Arbeiterbewegung überhaupt war und aus der viele der Leute hervorgingen, die in der Internationalen Arbeiterassoziation die leitende Rolle übernahmen. Und die theoretischen Grundsätze, die der Bund der Kommunisten im „Kommunistischen Manifest" von 1847 auf die Fahne schrieb, bilden heute das stärkste internationale Bindemittel der gesamten proletarischen Bewegung Europas wie Amerikas. Bis jetzt gibt es für die zusammenhängende Geschichte jener Bewegung nur eine Hauplquelle. Es ist das sogenannte Schwarze Buch: „Die Communisten-Verschwörungen des 19. Jahrhunderts". Von Wermuth und Stieber. Berlin. 2 Theile, 1853 und 1854.[186] Dies von zwei der elendsten Polizeilumpen unsres Jahrhunderts zusammengelogne, von absichtlichen Fälschungen strotzende Machwerk dient noch heute allen nichtkommunistischen Schriften über jene Zeit als letzte Quelle. Was ich hier geben kann, ist nur eine Skizze, und auch diese nur, soweit der Bund selbst in Betracht kommt; nur das zum Verständnis der „Enthüllungen" absolut Notwendige. Es wird mir hoffentlich noch vergönnt sein, das von Marx und mir gesammelte reichhaltige Material zur Geschichte jener ruhmvollen Jugendzeit der internationalen Arbeiterbewegung einmal zu verarbeiten.
Aus dem im Jahr 1834 in Paris von deutschen Flüchtlingen gestifteten demokratisch-republikanischen Geheimbund der „Geächteten" sonderten
sich 1836 die extremsten, meist proletarischen Elemente aus und bildeten den neuen geheimen Bund der Gerechten. Der Mutterbund, worin nur die schlafmützigsten Elemente ä la Jacobus Venedey zurückgeblieben, schlief bald ganz ein: Als die Polizei 1840 einige Sektionen in Deutschland aufschnüffelte, war er kaum noch ein Schatten. Der neue Bund dagegen entwickelte sich verhältnismäßig rasch. Ursprünglich war er ein deutscher Ableger des an babouvistische Erinnerungen11871 anknüpfenden französischen Arbeiterkommunismus, der sich um dieselbe Zeit in Paris ausbildete; die Gütergemeinschaft wurde gefordert als notwendige Folgerung der „Gleichheit". Die Zwecke waren die der gleichzeitigen Pariser geheimen Gesellschaften: halb Propaganda verein, halb Verschwörung, wobei jedoch Paris immer als Mittelpunkt der revolutionären Aktion galt, obgleich die Vorbereitung gelegentlicher Putsche in Deutschland keineswegs ausgeschlossen war. Da aber Paris das entscheidende Schlachtfeld blieb, war der Bund damals tatsächlich nicht viel mehr als der deutsche Zweig der französischen geheimen Gesellschaften, namentlich der von Blanqui und Barbes geleiteten Societe des saisons1, mit der enger Zusammenhang bestand. Die Franzosen schlugen los am 12. Mai 1839; die Sektionen des Bundes marschierten mit und wurden so in die gemeinsame Niederlage verwickelt.11881 Von den Deutschen waren namentlich Karl Schapper und Heinrich Bauer ergriffen worden; die Regierung Louis-Philippes begnügte sich damit, sie nach längerer Haft auszuweisen11891. Beide gingen nach London. Schapper aus Weilburg in Nassau, als Student der Forstwissenschaft in Gießen 1832 Mitglied der von Georg Büchner gestifteten Verschwörung, machte am 3. April 1833 den Sturm auf die Frankfurter Konstablerwache mit11901, entkam ins Ausland und beteiligte sich im Februar 1834 an Mazzinis Zug nach Savoyen11911. Ein Hüne von Gestalt, resolut und energisch, stets bereit, bürgerliche Existenz und Leben in die Schanze zu schlagen, war er das Musterbild des Revolutionärs von Profession, wie er in den dreißiger Jahren eine Rolle spielte. Bei einer gewissen Schwerfälligkeit des Denkens war er keineswegs besserer theoretischer Einsicht unzugänglich, wie schon seine Entwicklung vom „Demagogen"11921 zum Kommunisten beweist, und hielt dann um so starrer am einmal Erkannten. Ebendeshalb ging seine revolutionäre Leidenschaft zuweilen mit seinem Verstände durch; aber er hat stets seinen Fehler nachher eingesehn und offen bekannt. Er war ein ganzer Mann, und was er zur Begründung der deutschen Arbeiterbewegung getan, bleibt unvergeßlich.
Heinrich Bauer aus Franken war Schuhmacher; ein lebhaftes, aufgewecktes, witziges Männchen, in dessen kleinem Körper aber ebenfalls viel Schlauheit und Entschlossenheit steckte. In London angekommen, wo Schapper, der in Paris Schriftsetzer gewesen, nun als Sprachlehrer seinen Unterhalt suchte, knüpften beide die abgerissenen Bundesfäden wieder zusammen und machten nun London zum Zentrum des Bundes. Zu ihnen gesellte sich hier, wenn nicht schon früher in Paris, Joseph Moll, Uhrmacher aus Köln, ein mittelgroßer Herkules - er und Schapper haben, wie oft! eine Saaltüre gegen Hunderte andringender Gegner siegreich behauptet -, ein Mann, der seinen beiden Genossen an Energie und Entschlossenheit mindestens gleichkam, sie aber geistig beide übertraf. Nicht nur, daß er geborner Diplomat war, wie die Erfolge seiner zahlreichen Missionsreisen bewiesen; er war auch theoretischer Einsicht leichter zugänglich. Ich lernte sie alle drei 1843 in London kennen; es waren die ersten revolutionären Proletarier, die ich sah; und soweit auch im einzelnen damals unsre Ansichten auseinandergingen - denn ich trug ihrem bornierten Gleichheitskommunismus* damals noch ein gut Stück ebenso bornierten philosophischen Hochmuts entgegen -, so werde ich doch nie den imponierenden Eindruck vergessen, den diese drei wirklichen Männer auf mich machten, der ich damals eben erst ein Mann werden wollte. In London, wie in geringerm Maße in der Schweiz, kam ihnen die Vereins- und Versammlungsfreiheit zugut. Schon am 7. Februar 1840 wurde der öffentliche Deutsche Arbeiterbildungsverein gestiftet, der heute noch besteht.[193) Dieser Verein diente dem Bund als Werbebezirk neuer Mitglieder, und da, wie immer, die Kommunisten die tätigsten und intelligentesten Vereinsmitglieder waren, verstand es sich von selbst, daß seine Leitung ganz in den Händen des Bundes, lag. Der Bund hatte bald mehrere Gemeinden oder, wie sie damals noch hießen, „Hütten" in London. Dieselbe auf der Hand liegende Taktik wurde in der Schweiz und anderswo befolgt. Wo man Arbeitervereine gründen konnte, wurden sie in derselben Weise benutzt. Wo die Gesetze dies verboten, ging mein in Gesangvereine, Turnvereine u. dgl. Die Verbindung wurde großenteils durch die fortwährend ab- und zureisenden Mitglieder aufrechterhalten, die auch, wo erforderlich, als Emissäre fungierten. In beiden Hinsichten wurde der Bund lebhaft unterstützt durch die Weisheit der Regierungen, die jeden
* Unter Gleichheitskoimrnmismus verstehe ich, wie gesagt, lediglich den Kommunismus, der sich ausschließlich oder vorwiegend auf die Gleichheitsforderung stützt.
mißliebigen Arbeiter - und das war in neun Fällen aus zehn ein Bundesmitglied - durch Ausweisung in einen Emissär verwandelten. Die Ausbreitung des wiederhergestellten Bundes war eine bedeutende. Namentlich in der Schweiz hatten Weitling, August Becker (ein höchst bedeutender Kopf, der aber an innerer Haltlosigkeit zugrundeging wie so viele Deutsche) und andre eine starke, mehr oder weniger auf Weitlings kommunistisches System vereidigte Organisation geschaffen. Es ist hier nicht der Ort, den Weitlingschen Kommunismus zu kritisieren. Aber für seine Bedeutung als erste selbständige theoretische Regung des deutschen Proletariats unterschreibe ich noch heute Marx* Worte im Pariser „VorwärtsI" von 1844: „Wo hätte die" (deutsche) „Bourgeoisie - ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet - ein ähnliches Werk wie Weitlings .Garantien der Harmonie und Freiheit' in bezug auf die Emanzipation der Bourgeoisie - die politische Emanzipation - aufzuweisen? Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten Debüt der deutschen Arbeiter; vergleicht man dieser iesenhaftenK inderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der Bourgeoisie, so muß man dem Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien."11941 Diese Athletengestalt steht heute vor uns, obwohl noch lange nicht ausgewachsen. Auch in Deutschland bestanden zahlreiche Sektionen, der Natur der Sache nach von vergänglicherer Natur; aber die entstehenden wogen die eingehenden mehr als auf. Die Polizei entdeckte erst nach sieben Jahren, Ende 1846, in Berlin (Mentel) und Magdeburg (Beck) eine Spur des Bundes, ohne imstande zu sein, sie weiter zu verfolgen. In Paris hatte der noch 1840 dort befindliche Weitling ebenfalls die zersprengten Elemente wieder gesammelt, ehe er in die Schweiz ging. Die Kerntruppe des Bundes waren die Schneider. Deutsche Schneider waren überall, in der Schweiz, in London, in Paris. In letzterer Stadt war das Deutsche so sehr herrschende Sprache des Geschäftszweigs, daß ich 1846 dort einen norwegischen, direkt zur See von Drontheim nach Frankreich gefahrnen Schneider kannte, der während 18 Monaten fast kein Wort Französisch, aber vortrefflich Deutsch gelernt hatte. Von den Pariser Gemeinden bestanden 1847 zwei vorwiegend aus Schneidern, eine aus Möbelschreinem. Seit der Schwerpunkt von Paris nach London verlegt, trat ein neues Moment in den Vordergrund: Der Bund wurde aus einem deutschen allmählich ein internationaler. Im Arbeiterverein fanden sich außer Deutschen und Schweizern auch Mitglieder aller jener Nationalitäten ein, denen die
14 Man/Engels, Werke, Bd. 21
deutsche Sprache vorwiegend als Verständigungsmittel mit Ausländern diente, also namentlich Skandinavier, Holländer, Ungarn, Tschechen, Südslawen, auch Russen und Elsässer. 1847 war unter andern auch ein englischer Gardegrenadier in Uniform regelmäßiger Stammgast. Der Verein nannte sich bald: Kommunistischer Arbeiterbildungsverein, und auf den Mitgliedskarten stand der Satz: „Alle Menschen sind Brüder" in wenigstens zwanzig Sprachen, wenn auch hie und da nicht ohne Sprachfehler. Wie der öffentliche Verein, so nahm auch der geheime Bund bald einen mehr internationalen Charakter an; zunächst noch in einem beschränkten Sinn, praktisch durch die verschiedene Nationalität der Mitglieder, theoretisch durch die Einsicht, daß jede Revolution, um siegreich zu sein, europäisch sein müsse. Weiter ging man noch nicht; aber die Grundlage war gegeben. Mit den französischen Revolutionären hielt man durch die Londoner Flüchtlinge, die Kampfgenossen vom 12. Mai 1839, enge Verbindung. Desgleichen mit den radikaleren Polen. Die offizielle polnische Emigration, wie auch Mazzini, waren selbstverständlich mehr Gegner als Bundesgenossen. Die englischen Chartisten wurden wegen des spezifisch englischen Charakters ihrer Bewegung als unrevolutionär beiseite gelassen. Mit ihnen kamen die Londoner Leiter des Bundes erst später durch mich in Verbindung. Auch sonst hatte sich der Charakter des Bundes mit den Ereignissen geändert. Obwohl man noch immer - und damals mit vollem Recht - auf Paris als die revolutionäre Mutterstadt blickte, war man doch aus der Abhängigkeit von den Pariser Verschwörern herausgekommen. Die Ausbreitung des Bundes hob sein Selbstbewußtsein. Man fühlte, daß man in der deutschen Arbeiterklasse mehr und mehr Wurzel faßte und daß diese deutschen Arbeiter geschichtlich berufen seien, den Arbeitern des europäischen Nordens und Ostens die Fahne voranzutragen. Man hatte in Weitling einen kommunistischen Theoretiker, den man seinen damaligen französischen Konkurrenten kühn an die Seite setzen durfte. Endlich war man durch die Erfahrung vom 12. Mai belehrt worden, daß es mit den Putschversuchen vorderhand nichts mehr sei. Und wenn man auch fortfuhr, jedes Ereignis sich als Anzeichen des hereinbrechenden Sturms auszulegen, wenn man die alten, halb konspiratorischen Statuten im ganzen aufrechthielt, so war das mehr die Schuld des alten revolutionären Trotzes, der schon anfing, mit der sich aufdringenden bessern Einsicht in Kollision zu kommen. Dagegen hatte die gesellschaftliche Doktrin des Bundes, so unbestimmt sie war, einen sehr großen, aber in den Verhältnissen selbst begründeten
Fehler. Die Mitglieder, soweit sie überhaupt Arbeiter, waren fast ausschließlich eigentliche Handwerker. Der Mann, der sie ausbeutete, war selbst in den großen Weltstädten meist nur ein kleiner Meister. Die Ausbeutung selbst der Schneiderei auf großem Fuß, der jetzt sogenannten Konfektion, durch Verwandlung des Schneiderhandwerks in Hausindustrie für Rechnung eines großen Kapitalisten, war damals sogar in London erst im Aufkeimen. Einerseits war der Ausbeuter dieser Handwerker ein kleiner Meister, andrerseits hofften sie alle schließlich selbst kleine Meister zu werden. Und dabei klebten dem damaligen deutschen Handwerker noch eine Masse vererbter Zunftvorstellungen an. Es gereicht ihnen zur höchsten Ehre, daß sie, die selbst noch nicht einmal vollgültige Proletarier waren, sondern nur ein im Übergang ins moderne Proletariat begriffener Anhang des Kleinbürgertums, der noch nicht in direktem Gegensatz gegen die Bourgeoisie, d.h. das große Kapital, stand — daß diese Handwerker imstande waren, ihre künftige Entwicklung instinktiv zu antizipieren und, wenn auch noch nicht mit vollem Bewußtsein, sich als Partei des Proletariats zu konstituieren. Aber es war auch unvermeidlich, daß ihre alten Handwerkervorurteile ihnen jeden Augenblick ein Bein stellten, sobald es darauf ankam, die bestehende Gesellschaft im einzelnen zu kritisieren, d.h. ökonomische Tatsachen zu untersuchen. Und ich glaube nicht, daß im ganzen Bund damals ein einziger Mann war, der je ein Buch über Ökonomie gelesen hatte. Das verschlug aber wenig; die „Gleichheit", die „Brüderlichkeit" und die „Gerechtigkeit" halfen einstweilen über jeden theoretischen Berg. Inzwischen hatte sich neben dem Kommunismus des Bundes und Weitlings ein zweiter, wesentlich verschiedner herausgebildet. Ich war in Manchester mit der Nase darauf gestoßen worden, daß die ökonomischen Tatsachen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung gar keine oder nur eine verachtete Rolle spielen, wenigstens in der modernen Welt eine entscheidende geschichtliche Macht sind; daß sie die Grundlage bilden für die Entstehung der heutigen Klassengegensätze; daß diese Klassengegensätze in den Ländern, wo sie vermöge der großen Industrie sich voll entwickelt haben, also namentlich in England, wieder die Grundlage der politischen Parteibildung, der Parteikämpfe und damit der gesamten politischen Geschichte sind. Marx war nicht nur zu derselben Ansicht gekommen, sondern hatte sie auch schon in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern " (1844)11951 dahin verallgemeinert, daß überhaupt nicht der Staat die bürgerliche Gesellschaft, sondern die bürgerliche Gesellschaft den Staat bedingt und regelt, daß also die Politik und ihre Geschichte aus den ökonomischen
Verhältnissen und ihrer Entwicklung zu erklären ist, nicht umgekehrt. Als ich Marx im Sommer 1844 in Penis besuchte, stellte sich unsere vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten heraus, und von da an datiert unsre gemeinsame Arbeit. Als wir im Frühjahr 1845 in Brüssel wieder zusammenkamen, hatte Marx aus den obigen Grundlagen schon seine materialistische Geschichtstheorie in den Hauptzügen fertig herausentwikkelt, und wir setzten uns nun daran, die neugewonnene Anschauungsweise nach den verschiedensten Richtungen hin im einzelnen auszuarbeiten. Diese die Geschichtswissenschaft umwälzende Entdeckung, die, wie man sieht, wesentlich das Werk von Marx ist und an der ich mir nur einen sehr geringen Anteil zuschreiben kann, war aber von unmittelbarer Wichtigkeit für die gleichzeitige Arbeiterbewegung. Kommunismus bei Franzosen und Deutschen, Chartismus bei den Engländern erschien nun nicht mehr als etwas Zufälliges, das ebensogut auch hätte nicht dasein können. Diese Bewegungen stellten sich nun dar als eine Bewegung der modernen unterdrückten Klasse, des Proletariats, als mehr oder minder entwickelte Formen ihres geschichtlich notwendigen Kampfs gegen die herrschende Klasse, die Bourgeoisie; als Formen des Klassenkampfs, aber unterschieden von allen früheren Klassenkämpfen durch dies eine: daß die heutige unterdrückte Klasse, das Proletariat, seine Emanzipation nicht durchführen kann, ohne gleichzeitig die ganze Gesellschaft von der Scheidung in Klassen und damit von den Klassenkämpfen zu emanzipieren. Und Kommunismus hieß nun nicht mehr: Ausheckung, vermittelst der Phantasie, eines möglichst vollkommenen Gesellschaftsideals, sondern: Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die daraus sich ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfs. Wir waren nun keineswegs der Absicht, die neuen wissenschaftlichen Resultate in dicken Büchern ausschließlich der „gelehrten" Welt zuzuflüstern. Im Gegenteil. Wir saßen beide schon tief in der politischen Bewegung, hatten unter der gebildeten Welt, namentlich Westdeutschlands, einen gewissen Anhang und reichliche Fühlung mit dem organisierten Proletariat. Wir waren verpflichtet, unsre Ansicht wissenschaftlich zu begründen; ebenso wichtig aber war es auch für uns, das europäische und zunächst das deutsche Proletariat für unsere Überzeugung zu gewinnen. Sobald wir erst mit uns selbst im reinen, ging's an die Arbeit. In Brüssel stifteten wir einen deutschen Arbeiterverein und bemächtigten uns der „Deutschen-BrüsselerZeitung"[196', in der wir bis zur Februarrevolution ein Organ hatten. Mit dem revolutionären Teil der englischen Chartisten verkehrten wir durch Julian Harney, den Redakteur des Zentralorgans der Bewegung, „The
Northern Star"[1971, dessen Mitarbeiter ich war. Ebenso standen wir in einer Art Kartell mit den Brüsseler Demokraten (Marx war Vizepräsident der Demokratischen Gesellschaft) und den französischen Sozialdemokraten von der „Reforme"!1981, der ich Nachrichten über die englische und deutsche Bewegung lieferte. Kurz, unsre Verbindungen mit den radikalen und proletarischen Organisationen und Preßorganen waren ganz nach Wunsch. Mit dem Bund der Gerechten standen wir folgendermaßen. Die Existenz des Bundes war uns natürlich bekannt; 1843 hatte mir Schapper den Eintritt angetragen, den ich damals selbstredend ablehnte. Wir blieben aber nicht nur mit den Londonern in fortwährender Korrespondenz, sondern in noch engerm Verkehr mit Dr. Ewerbeck, dem jetzigen Leiter der Pariser Gemeinden. Ohne uns um die innern Bundesangelegenheiten zu kümmern, erfuhren wir doch von jedem wichtigen Vorgang. Andrerseits wirkten wir mündlich, brieflich und durch die Presse auf die theoretischen Ansichten der bedeutendsten Bundesmitglieder ein. Hierzu dienten auch verschiedne lithographierte Zirkulare, die wir bei besondern Gelegenheiten, wo es sich um Interna der sich bildenden kommunistischen Partei handelte, an unsre Freunde und Korrespondenten in die Welt sandten. Bei diesen kam der Bund zuweilen selbst ins Spiel. So war ein junger westfälischer Studiosus, Hermann Kriege, der nach Amerika ging, dort als Bundesemissär aufgetreten, hatte sich mit dem verrückten Harro Harring assoziiert, um vermittelst des Bundes Südamerika aus den Angeln zu heben, und hatte ein Blatt'1991 gegründet, worin er einen auf „Liebe" beruhenden, von Liebe überfließenden, überschwenglichen Kommunismus der Liebesduselei im Namen des Bundes predigte. Hiergegen fuhren wir los in einem Zirkular1, das seine Wirkung nicht verfehlte. Kriege verschwand von der Bundesbühne. Später kam Weitling nach Brüssel. Aber er war nicht mehr der naive junge Schneidergeselle, der, über seine eigene Begabung erstaunt, sich klar darüber zu werden sucht, wie denn eine kommunistische Gesellschaft wohl aussehen möge. Er war der wegen seiner Überlegenheit von Neidern verfolgte große Mann, der überall Rivalen, heimliche Feinde, Fallstricke witterte; der von Land zu Land gehetzte Prophet, der ein Rezept zur Verwirklichung des Himmels auf Erden fertig in der Tasche trug und sich einbildete, jeder gehe darauf aus, es ihm zu stehlen. Er hatte sich in London schon mit den Leuten des Bundes überworfen, und auch in Brüssel, wo besonders Marx und seine Frau ihm mit fast übermenschlicher Geduld entgegen
kamen, konnte er mit niemand auskommen. So ging er bald darauf nach Amerika, um es dort mit dem Prophetentum zu versuchen. Alle diese Umstände trugen bei zu der stillen Umwälzung, die sich im Bund und namentlich unter den Londoner Leitern vollzog. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Auffassung des Kommunismus, sowohl des französischen einfachen Gleichheitskommunismus wie des Weitlingschen, wurde ihnen mehr und mehr klar. Die von Weitling eingeleitete Zurückführung des Kommunismus auf das Urchristentum - so geniale Einzelheiten sich in seinem „Evangelium des armen Sünders" finden - hatte in der Schweiz dahin geführt, die Bewegung großenteils in die Hände zuerst von Narren wie Albrecht und dann von ausbeutenden Schwindelpropheten wie Kuhlmann zu liefern. Der von einigen Belletristen vertriebne „wahre Sozialismus", eine Übersetzung französischer sozialistischer Wendungen in verdorbenes Hegeldeutsch und sentimentale Liebesduselei (siehe den Abschnitt über den deutschen oder „wahren" Sozialismus im „Kommunistischen Manifest"1), den Kriege und die Lektüre der betreffenden Schriften in den Bund eingeführt, mußte schon seiner speichelfließenden Kraftlosigkeit wegen den alten Revolutionären des Bundes zum Ekel werden. Gegenüber der Unhaltbarkeit der bisherigen theoretischen Vorstellungen, gegenüber den daraus sich herleitenden praktischen Abirrungen sah man in London mehr und mehr ein, daß Marx und ich mit unsrer neuen Theorie recht hatten. Diese Einsicht wurde unzweifelhaft dadurch befördert, daß sich unter den Londoner Führern jetzt zwei Männer befanden, die den Genannten an Befähigung zu theoretischer Erkenntnis bedeutend überlegen waren: der Miniaturmaler Karl Pfänder aus Heilbronn und der Schneider Georg Eccarius aus Thüringen.* Genug, im Frühjahr 1847 erschien Moll in Brüssel bei Marx und gleich darauf in Paris bei mir, um uns im Namen seiner Genossen mehrmals zum Eintritt in den Bund aufzufordern. Sie seien von der allgemeinen Richtigkeit unserer Auffassungsweise ebensosehr überzeugt wie von der Notwendigkeit, den Bund von den alten konspiratorischen Traditionen und
* Pfänder ist vor ungefähr acht Jahren in London gestorben. Er war ein eigentümlich feindenkender Kopf, witzig, ironisch, dialektisch. Eccarius war bekanntlich später langjähriger Generalsekretär der Internationalen Arbeiterassoziation, in deren Generalrat unter andern folgende alte Bundesmitglieder saßen: Eccarius, Pfänder, Leßner, Lochner, Marx, ich. Eccarius hat sich später ausschließlich der englischen Gewerkschaftsbewegung zugewandt.
Formen zu befreien. Wollten wir eintreten, so sollte uns Gelegenheit gegeben werden, auf einem Bundeskongreß unsren kritischen Kommunismus in einem Manifest zu entwickeln, das sodann als Manifest des Bundes veröffentlicht würde; und ebenso würden wir das unsrige beitragen können, daß die veraltete Organisation des Bundes durch eine neue zeit- und zweckgemäße ersetzt werde. Daß eine Organisation innerhalb der deutschen Arbeiterklasse schon der Propaganda wegen notwendig sei und daß diese Organisation, soweit sie nicht bloß lokaler Natur, selbst außerhalb Deutschlands nur eine geheime sein könne, darüber waren wir nicht im Zweifel. Nun bestand aber grade im Bund bereits eine solche Organisation. Das, was wir bisher an diesem Bund auszusetzen gehabt, wurde jetzt von den Vertretern des Bundes selbst als fehlerhaft preisgegeben; wir selbst wurden aufgefordert, zur Reorganisation mitzuarbeiten. Konnten wir nein sagen? Sicher nicht. Wir traten also in den Bund; Marx bildete in Brüssel aus unsern näheren Freunden eine Bundesgemeinde, während ich die drei Pariser Gemeinden besuchte. Im Sommer 1847 fand der erste Bundeskongreß in London statt, wo W. Wolff die Brüsseler und ich die Pariser Gemeinden vertrat. Hier wurde zunächst die Reorganisation des Bundes durchgeführt. Was noch von den alten mystischen Namen aus der Konspirationszeit übrig, wurde jetzt auch abgeschafft; der Bund organisierte sich in Gemeinden, Kreise, leitende Kreise, Zentralbehörde und Kongreß und nannte sich von nun an: „Bund der Kommunisten". „Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum" - so lautet der erste Artikel1200-1. Die Organisation selbst war durchaus demokratisch, mit gewählten und stets absetzbaren Behörden und hiedurch allein allen Konspirationsgelüsten, die Diktatur erfordern, ein Riegel vorgeschoben und der Bund - für gewöhnliche Friedenszeiten wenigstens - in eine reine Propagandagesellschaft verwandelt. Diese neuen Statuten - so demokratisch wurde jetzt verfahren - wurden den Gemeinden zur Diskussion vorgelegt, dann auf dem zweiten Kongreß nochmals durchberaten und von ihm definitiv am 8. Dezember 1847 angenommen. Sie stehn abgedruckt bei Wermuth und Stieber, I, S.239, Anl. X. Der zweite Kongreß fand statt Ende November und Anfang Dezember desselben Jahres. Hier war auch Marx anwesend und vertrat in längerer Debatte - der Kongreß dauerte mindestens 10 Tage - die neue Theorie. Aller Widerspruch und Zweifel wurde endlich erledigt, die neuen Grund
sätze einstimmig angenommen und Marx und ich beauftragt, das Manifest auszuarbeiten. Dies geschah unmittelbar nachher. Wenige Wochen vor der Februarrevolution wurde es nach London zum Druck geschickt. Seitdem hat es die Reise um die Welt gemacht, ist in fast alle Sprachen übersetzt worden und dient noch heute in den verschiedensten Ländern als Leitfaden der proletarischen Bewegung. An die Stelle des alten Bundesmottos: „Alle Menschen sind Brüder", trat der neue Schlachtruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!", der den internationalen Charakter des Kampfes offen proklamierte. Siebzehn Jahre später durchhallte dieser Schlachtruf die Welt als Feldgeschrei der Internationalen Arbeiterassoziation, und heute hat ihn das streitbare Proletariat aller Länder auf seine Fahne geschrieben. Die Februarrevolution brach aus. Sofort übertrug die bisherige Londoner Zentralbehörde ihre Befugnisse an den leitenden Kreis Brüssel. Aber dieser Beschluß traf ein zu einer Zeit, wo in Brüssel schon ein tatsächlicher Belagerungszustand herrschte und namentlich die Deutschen sich nirgends mehr versammeln konnten. Wir waren eben alle auf dem Sprung nach Paris, und so beschloß die neue Zentralbehörde, sich ebenfalls aufzulösen, ihre sämtlichen Vollmachten an Marx zu übertragen und ihn zu bevollmächtigen, in Paris sofort eine neue Zentralbehörde zu konstituieren. Kaum waren die fünf Leute, die diesen Beschluß (3. März 1848) gefaßt, auseinandergegangen, als die Polizei in Marx* Wohnung drang, ihn verhaftete und am nächsten Tage nach Frankreich abzureisen zwang, wohin er grade gehn wollte. In Paris fanden wir uns bald alle wieder zusammen. Dort wurde auch das folgende, von den Mitgliedern der neuen Zentralbehörde unterzeichnete Dokument verfaßt, das in ganz Deutschland verbreitet wurde und woraus auch heute mancher noch etwas lernen kann:
„Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland"™
1. Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt. 3. Die Volksvertreter werden besoldet, damit auch der Arbeiter im Parlament des deutschen Volkes sitzen könne. 4. Allgemeine Volksbewaffnung.
7. Die fürstlichen und andern feudalen Landgüter, alle Bergwerke, Gruben usw. werden in Staatseigentum umgewandelt. Auf diesen Landgütern wird der Ackerbau im großen und mit den modernsten Hilfsmitteln der Wissenschaft zum Vorteile der Gesamtheit betrieben. 8. Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigentum erklärt. Die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt. 9. In den Gegenden, wo das Pachtwesen entwickelt ist, wird die Grundrente oder der Pachtschilling als Steuer an den Staat gezahlt. 11. Alle Transportmittel: Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Posten etc. nimmt der Staat in seine Hand. Sie werden in Staatseigentum umgewandelt und der unbemittelten Klasse zur unentgeltlichen Verfügung gestellt. 14. Beschränkung des Erbrechts. 15. Einführung von starken Progressivsteuern und Abschaffung der Konsumtionssteuern . 16. Errichtung von Nationalwerkstätten. Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit Unfähigen. 17. Allgemeine, unentgeltliche Volkserziehung.
Es liegt im Interesse des deutschen Proletariats, des kleinen Bürgerund Bauernstandes, mit aller Energie an der Durchsetzung .obiger Maßregeln zu arbeiten. Denn nur durch Verwirklichung derselben können die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Rechte und zu derjenigen Macht gelangen, die ihnen, als den Hervorbringern alles Reichtums, gebührt.
Das Komitee: Karl Marx Karl Schapper H.Bauer F.Engels J.Moll W.Wolff
In Paris herrschte damals die Manie der revolutionären Legionen. Spanier, Italiener, Belgier, Holländer, Polen, Deutsche taten sich in Haufen zusammen, um ihre respektiven Vaterländer zu befreien. Die deutsche Legion wurde geführt von Herwegh, Bornstedt, Börnstein. Da sofort nach der Revolution alle ausländischen Arbeiter nicht nur beschäftigungslos, sondern auch noch vom Publikum drangsaliert wurden, fanden diese Legionen starken Zulauf. Die neue Regierung sah in ihnen ein Mittel, die fremden
Arbeiter loszuwerden, und bewilligte ihnen l'etape du soldat, d.h. Marschquartiere und die Marschzulage von 50 Centimen per Tag bis an die Grenze, wo dann der stets zu Tränen gerührte Minister des Auswärtigen, der SchönTedner Lamartine, schon Gelegenheit fand, sie an ihre respektiven Regierungen zu verraten. Wir widersetzten uns dieser Revolutionsspielerei aufs entschiedenste. Mitten in die damalige Gärung Deutschlands eine Invasion hineintragen, die die Revolution zwangsmäßig von außen importieren sollte, das hieß der Revolution in Deutschland selbst ein Bein stellen, die Regierungen stärken •und die Legionäre selbst - dafür bürgte Lamartine - den deutschen Truppen wehrlos in die Hände liefern. Als dann in Wien und Berlin die Revolution siegte, wurde die Legion erst recht zwecklos; aber man hatte einmal angefangen, und so wurde weitergespielt. Wir stifteten einen deutschen kommunistischen Klub[Z02], worin wir den Arbeitern rieten, der Legion fernzubleiben, dagegen einzeln nach der Heimat zurückzukehren und dort für die Bewegung zu wirken. Unser alter Freund Flocon, der in der provisorischen Regierung saß, erwirkte für die von nns fortgeschickten Arbeiter dieselben Reisebegünstigungen, die den Legionären zugesagt waren. So beförderten wir drei- bis vierhundert Arbeiter nach Deutschland zurück, darunter die große Mehrzahl der Bundesglieder. Wie leicht vorherzusehn, erwies sich der Bund, gegenüber der jetzt losgebrochenen Bewegung der Volksmassen, als ein viel zu schwacher Hebel. Drei Viertel der Bundesglieder, die früher im Ausland wohnten, hatten durch Rückkehr in die Heimat ihren Wohnsitz gewechselt; ihre bisherigen Gemeinden waren damit großenteils aufgelöst, alle Fühlung mit dem Bund ging für sie verloren. Ein Teil der Ehrgeizigeren unter ihnen suchte sie auch nicht wieder zu gewinnen, sondern fing, jeder in seiner Lokalität, eine kleine Separatbewegung auf eigne Rechnung an. Und endlich lagen die Verhältnisse in jedem einzelnen Kleinstaat, jeder Provinz, jeder Stadt wieder so verschieden, daß der Bund außerstande gewesen wäre, mehr als ganz allgemeine Direktiven zu geben; diese waren aber viel besser durch die Presse zu verbreiten. Kurz, mit dem Augenblick, wo die Ursachen aufhörten, die den geheimen Bund notwendig gemacht hatten, hörte auch der geheime Bund auf, als solcher etwas zu bedeuten. Das aber konnte am wenigsten die Leute überraschen, die soeben erst demselben geheimen Bund den letzten Schatten konspiratorischen Charakters abgestreift. Daß aber der Bund eine vorzügliche Schule der revolutionären Tätigkeit gewesen, bewies sich jetzt. Am Rhein, wo die „Neue Rheinische Zeitung" einen festen Mittelpunkt bot, in Nassau, Rheinhessen etc. standen überall
Bundesglieder an der Spitze der extrem-demokratischen Bewegung. Desgleichen in Hamburg. In Süddeutschland stand das Vorherrschen der kleinbürgerlichen Demokratie im Weg. In Breslau war Wilhelm Wolff bis in den Sommer 1848 hinein mit großem Erfolg tätig; er erhielt auch ein schlesisches Mandat als Stellvertreter zum Frankfurter Parlament. Endlich in Berlin stiftete der Schriftsetzer Stephan Born, der in Brüssel und Paris als tätiges Bundesmitglied gewirkt hatte, eine „Arbeiterverbrüderung", die eine ziemliche Verbreitung erhielt und bis 1850 bestand. Born, ein sehr talentvoller junger Mann, der es aber mit seiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu eilig hatte, „verbrüderte" sich mit den verschiedenartigsten Krethi und Plethi, um nur einen Haufen zusammenzubekommen, und war keineswegs der Mann, der Einheit in die widerstrebenden Tendenzen, Licht in das Chaos bringen konnte. In den amtlichen Veröffentlichungen des Vereins laufen daher auch die im „Kommunistischen Manifest" vertretenen Ansichten kunterbunt durcheinander mit Zunfterinnerungen und Zunftwünschen, Abfällen von Louis Blanc und Proudhon, Schutzzöllnerei usw., kurz, man wollte allen alles sein. Speziell wurden Streiks, Gewerksgenossenschaften, Produktivgenossenschaften ins Werk gesetzt und vergessen, daß es sich vor allem darum handelte, durch politische Siege sich erst das Gebiet zu erobern, worauf allein solche Dinge auf die Dauer durchführbar waren. Als dann die Siege der Reaktion den Leitern der Verbrüderung die Notwendigkeit fühlbar machten, direkt in den Revolutionskampf einzutreten, wurden sie von der verworrenen Masse, die sie um sich gruppiert, selbstredend im Stich gelassen. Born beteiligte sich am Dresdner Mai-Aufstand 1849[203) und entkam glücklich. Die „Arbeiterverbrüderung" aber hatte sich, gegenüber der großen politischen Bewegung des Proletariats, als ein reiner Sonderbund bewährt, der großenteils nur auf dem Papier bestand und eine so untergeordnete Rolle spielte, daß die Reaktion ihn erst 1850 und seine fortbestehenden Ableger erst mehrere Jahre nachher zu unterdrücken für nötig fand. Born, der eigentlich Buttermilch heißt, wurde keine politische Größe, sondern ein kleiner Schweizer Professor, der nicht mehr den Marx ins Zünftlerische, sondern den sanften Renan in sein eignes süßliches Deutsch übersetzt. Mit dem 13. Juni 1849 in Paris1251, mit der Niederlage der deutschen Mai-Aufstände und der Niederwerfung der ungarischen Revolution durch die Russen war eine große Periode der 1848er Revolution abgeschlossen. Aber der Sieg der Reaktion war soweit noch keineswegs endgültig. Eine Neuorganisation der zersprengten revolutionären Kräfte war geboten und damit auch die des Bundes. Die Verhältnisse verboten wieder, wie vor 1848,
jede öffentliche Organisation des Proletariats; man mußte also sich von neuem geheim organisieren. Im Herbst 1849 fanden sich die meisten Mitglieder der frühern Zentralbehörden und Kongresse wieder in London zusammen. Es fehlte nur noch Schapper, der in Wiesbaden saß, aber nach seiner Freisprechung im Frühjahr 1850 ebenfalls kam, und Moll, der, nachdem er eine Reihe der gefährlichsten Missions- und Agitationsreisen erledigt - zuletzt warb er mitten unter der preußischen Armee in der Rheinprovinz Fahrkanoniere für die pfälzische Artillerie -, in die Besangoner Arbeiterkompanie des Willichschen Korps eintrat und im Gefecht an der Murg, vorwärts der Rotenfelser Brücke, durch einen Schuß in den Kopf getötet wurde. Dagegen trat nun Willich ein. Willich war einer der seit 1845 im westlichen Deutschland so häufigen Gemütskommunisten, also schon deshalb in instinktivem, geheimem Gegensatz gegen unsre kritische Richtung. Er war aber mehr, er war vollständiger Prophet, von seiner persönlichen Mission als prädestinierter Befreier des deutschen Proletariats überzeugt und als solcher direkter Prätendent auf die politische nicht minder als auf die militärische Diktatur. Dem früher von Weitling gepredigten urchristlichen Kommunismus trat somit eine Art von kommunistischem Islam zur Seite. Doch blieb die Propaganda dieser neuen Religion zunächst auf die von Willich befehligte Flüchtlingskaserne beschränkt. Der Bund wurde also neu organisiert, die im Anhang (IX, Nr. 1) abgedruckte Ansprache vom März 1850[204] erlassen und Heinrich Bauer als Emissär nach Deutschland geschickt. Die von Marx und mir redigierte Ansprache ist noch heute von Interesse, weil die kleinbürgerliche Demokratie auch jetzt noch diejenige Partei ist, welche bei der nächsten europäischen Erschütterung, die nun bald fällig wird (die Verfallzeit der europäischen Revolutionen, 1815, 1830, 1848-1852, 1870, währt in unserm Jahrhundert 15 bis 18 Jahre), in Deutschland unbedingt zunächst ans Ruder kommen muß, als Retterin der Gesellschaft vor den kommunistischen Arbeitern. Manches von dem dort Gesagten paßt also noch heute. Die Missionsreise Heinrich Bauers war von vollständigem Erfolg gekrönt. Der kleine fidele Schuhmacher war ein geborner Diplomat. Er brachte die teils lässig gewordnen, teils auf eigne Rechnung operierenden ehemaligen Bundesglieder wieder in die aktive Organisation, namentlich auch die jetzigen Führer der „Arbeiterverbrüderung". Der Bund fing an, in den Arbeiter-, Bauern- und Turnvereinen in weit größerem Maß als vor 1848 die dominierende Rolle zu spielen, so daß schon die nächste vierteljährliche Ansprache an die Gemeinden vom Juni 1850 konstatieren konnte, der im Interesse der klein
bürgerlichen Demokratie Deutschland bereisende Studiosus Schurz aus Bonn (der spätere amerikanische Exminister) „habe alle brauchbaren Kräfte schon in den Händen des Bundes gefunden" (s. Anhang IX, Nr.2)l205]. Der Bund war unbedingt die einzige revolutionäre Organisation, die in Deutschland eine Bedeutung hatte. Wozu diese Organisation aber dienen sollte, das hing sehr wesentlich davon ab, ob die Aussichten auf einen erneuten Aufschwung der Revolution sich verwirklichten. Und dies wurde im Lauf des Jahres 1850 immer unwahrscheinlicher, ja unmöglicher. Die industrielle Krisis von 1847, die die Revolution von 1848 vorbereitet hatte, war überwunden; eine neue, bisher unerhörte Periode der industriellen Prosperität war angebrochen; wer Augen hatte zu sehn, und sie gebrauchte, für den mußte es klar sein, daß der Revolutionssturm von 1848 sich allmählich erschöpfte. „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten. Die verschiedenen Zänkereien, in denen sich jetzt die Repräsentanten der einzelnen Fraktionen der kontinentalen Ordnungspartei ergehn und gegenseitig kompromittieren, weit entfernt zu neuen Revolutionen Anlaß zu geben, sind im Gegenteil nur möglich, weil die Grundlage der Verhältnisse momentan so sicher und, was die Reaktion nicht weiß, so bürgerlich ist. An ihr werden edle die bürgerliche Entwicklung aufhaltenden Reaktionsversuche ebenso sicher abprallen wie alle sittliche Entrüstung imd alle begeisterten Pro' klamationen der Demokraten." So schrieb Marx und ich in der „Revue von Mai bis Oktober 1850" in der „Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue"[206J, V. und VI.Heft, Hamburg 1850, S.1531. Diese kühle Auffassung der Lage war aber für viele Leute eine Ketzerei zu einer Zeit, wo Ledru-Rollin, Louis Blanc, Mazzini, Kossuth, und von kleineren deutschen Lichtern Rüge, Kinkel, Goegg und wie sie alle heißen, sich in London haufenweise zu provisorischen Zukunftsregierungen, nicht nur für ihre respektiven Vaterländer, sondern auch für ganz Europa zusammentaten und wo es nur noch darauf ankam, das nötige Geld als Revolutionsanleihe in Amerika aufzunehmen, um die europäische Revolution benebst den damit selbstverständlichen verschiednen Republiken im Nu
zu verwirklichen. Daß ein Mann wie Willich hier hineinfiel und daß auch Schapper aus altem Revolutionsdrang sich betören ließ, daß die Mehrzahl der Londoner Arbeiter, großenteils selbst Flüchtlinge, ihnen in das Lager der bürgerlich-demokratischen Revolutionsmacher folgte, wen kann es wundern? Genug, die von uns verteidigte Zurückhaltung war nicht nach dem Sinn dieser Leute; es sollte in die Revolutionsmacherei eingetreten werden; wir weigerten uns aufs entschiedenste. Die Spaltung erfolgte; das Weitere ist in den „Enthüllungen" zu lesen. Dann kam die Verhaftung zuerst Nothjungs, dann Haupts in Hamburg, der zum Verräter wurde, indem er die Namen der Kölner Zentralbehörde angab und im Prozeß als Hauptzeuge dienen sollte; aber seine Verwandten wollten diese Schande nicht erleben und beförderten ihn nach Rio de Janeiro, wo er sich später als Kaufmann etablierte und in Anerkennung seiner Verdienste erst preußischer und dann deutscher Generalkonsul wurde. Er ist jetzt wieder in Europa.* Zum besseren Verständnis des Folgenden gebe ich die Liste der Kölner Angeklagten: 1. P.G.Röser, Zigarrenarbeiter; 2. Heinrich Bürgers, später verstorbener fortschrittlicher Landtagsabgeordneter; 3. Peter Nothjung, Schneider, vor wenigen Jahren als Photograph in Breslau gestorben; 4. W.J.Reiff; 5. Dr.Hermann Becker, jetzt Oberbürgermeister von Köln und Mitglied des Herrenhauses; 6. Dr.Roland Daniels, Arzt, wenige Jahre nach dem Prozeß an der im Gefängnis erworbenen Schwindsucht gestorben; 7. Karl Otto, Chemiker; 8. Dr. Abraham Jacobi, jetzt Arzt in New York; 9. Dr.J.J.KIein, jetzt Arzt und Stadtverordneter in Köln; 10. Ferdinand Freiligrath, der aber damals schon in London war; 11. J.L.Ehrhard, Kommis; 12. Friedrich Leßner, Schneider, jetzt in London. Von diesen wurden, nachdem die öffentlichen Verhandlungen vor den Geschwornen vom 4. Oktober bis 12. November 1852 gedauert, wegen versuchten Hochverrats verurteilt: Röser, Bürgers und Nothjung zu 6, Reiff, Otto, Becker zu 5, Leßner zu 3 Jahren Festungshaft, Daniels, Klein, Jacobi und Ehrhard wurden freigesprochen. Mit dem Kölner Prozeß schließt diese erste Periode der deutschen kommunistischen Arbeiterbewegung. Unmittelbar nach der Verurteilung lösten
* Schapper starb Ende der sechziger Jahre in London. Willich machte den amerikanischen Bürgerkrieg mit Auszeichnung mit; er erhielt in der Schlacht bei Murfreesboro (Tennessee) als Brigadegeneral einen Schuß durch die Brust, wurde aber geheilt und starb vor etwa zehn Jahren in Amerika. - Von andern oben erwähnten Personen will ich noch bemerken, daß Heinrich Bauer in Australien verschollen ist, Weitling und Ewerbeck in Amerika gestorben sind.
wir unsern Bund auf; wenige Monate nachher ging auch der WillichSchappersche Sonderbund[2071 ein zur ewigen Ruhe.
Zwischen damals und jetzt liegt ein Menschenalter. Damals war Deutschland ein Land des Handwerks und der auf Handarbeit beruhenden Hausindustrie; jetzt ist es ein noch in fortwährender industrieller Umwälzung begriffnes großes Industrieland. Damals mußte man die Arbeiter einzeln zusammensuchen, die Verständnis hatten für ihre Lage als Arbeiter und ihren geschichtlich-ökonomischen Gegensatz gegen das Kapital, weil dieser Gegensatz selbst erst im Entstehen begriffen war. Heute muß man das gesamte deutsche Proletariat unter Ausnahmegesetze stellen, um nur den Prozeß seiner Entwicklung zum vollen Bewußtsein seiner Lage als unterdrückte Klasse um ein geringes zu verlangsamen. Damals mußten sich diewenigen Leute, die zur Erkenntnis der geschichtlichen Rolle des Proletariats durchgedrungen, im geheimen zusammentun, in kleinen Gemeinden, von drei bis zwanzig Mann verstohlen sich versammeln. Heute braucht dasdeutsche Proletariat keine offizielle Organisation mehr, weder öffentliche noch geheime; der einfache, sich von selbst verstehende Zusammenhanggleichgesinnter Klassengenossen reicht hin, um ohne alle Statuten, Behörden, Beschlüsse und sonstige greifbare Formen das gesamte Deutsche Reich, zu erschüttern. Bismarck ist Schiedsrichter in Europa, draußen jenseits der Grenze; aber drinnen wächst täglich drohender jene Athletengestalt des deutschen Proletariats empor, die Marx schon 1844 vorhersah, der Riese, dem das auf den Philister bemessene enge Reichsgebäude schon zu knapp wird und dessen gewaltige Statur und breite Schultern dem Augenblick:, entgegenwachsen, wo sein bloßes Aufstehn vom Sitz den ganzen Reichsverfassungsbau in Trümmer sprengt. Und mehr noch. Die internationaleBewegung des europäischen und amerikanischen Proletariats ist jetzt so erstarkt, daß nicht nur ihre erste enge Form - der geheime Bund -, sondern selbst ihre zweite, unendlich umfassendere Form - die öffentliche Internationale Arbeiterassoziation - eine Fessel für sie geworden und daß das. einfache, auf der Einsicht in die Dieselbigkeit der Klassenlage beruhende Gefühl der Solidarität hinreicht, unter den Arbeitern aller Länder und. Zungen eine und dieselbe große Partei des Proletariats zu schaffen und zusammenzuhalten. Die Lehren, die der Bund von 1847 bis 1852 vertrat und. die damals als die Hirngespinste extremer Tollköpfe, als Geheimlehre einiger zersprengten Sektierer vom weisen Philisterium mit Achselzucken behandelt werden durften, sie haben jetzt zahllose Anhänger in allen zivili—
sierten Ländern der Welt, unter den Verdammten der sibirischen Bergwerke wie unter den Goldgräbern Kaliforniens; und der Begründer dieser Lehre, der bestgehaßte, bestverleumdete Mann seiner Zeit, Karl Marx, war, als er starb, der stets gesuchte und stets willige Ratgeber des Proletariats beider Welten.
London, 8. Oktober 1885
Friedrich Engels
Nach: Karl Marx, „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln", Hottingen-Zürich 1885.
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[Die Situation12081]
[„Le Socialiste" Nr.8 vom 17. Oktober 1885] London, 12. Oktober 1885 ...Ich bin nicht der Ansicht, daß der 4.Oktober eine Niederlage ist, es sei denn, daß Sie sich allen möglichen Illusionen hingegeben hatten. Es handelte sich darum, die Opportunisten zu zerschlagen - und sie sind zerschlagen worden. Aber um sie zu zerschlagen, bedurfte es eines Drucks von zwei entgegengesetzten Seiten, von rechts und von links. Daß der Druck von rechts stärker gewesen ist, als man erwartet hatte, ist offensichtlich. Aber das macht die Situation nur noch viel revolutionärer. Der Bourgeois, der große und der kleine, hat den verkappten Orleanisten und Bonapartisten die offenen Orleanisten und Bonapartisten vorgezogen, er hat Männern, die sich auf Kosten der Nation bereichern wollen, jene vorgezogen, die sich schon durch Diebstahl an der Nation bereichert haben er hat den Konservativen von morgen die Konservativen von gestern vorgezogen. Das ist alles. Die Monarchie ist in Frankreich unmöglich, sei es auch nur wegen der Vielzahl der Thronprätendenten. Wäre sie möglich, so wäre dies ein Zeichen, daß die Anhänger Bismarcks recht haben, wenn sie von der Degeneration Frankreichs sprechen. Aber diese Degeneration betrifft nur die Bourgeoisie, in Deutschland und in England ebenso wie in Frankreich. Die Republik bleibt immer die Regierung, die die drei monarchistischen Sekten12091 am wenigsten spaltet, die ihnen gestattet, sich in einer konservativen Partei zu vereinen. Wenn die Möglichkeit einer monarchistischen Restauration diskutabel wird, spaltet sich die konservative Partei sofort in drei Sekten, während die Republikaner gezwungen sein werden, sich um die einzig mögliche Regierung zu gruppieren, und im Augenblick ist das wahrscheinlich das Kabinett Clemenceau.
15 Marx/Engels, Werke, Bd. 2!
Clemenceau ist immerhin, im Vergleich zu Ferry und Wilson, ein Fortschritt. Es ist sehr wichtig, daß er nicht an die Macht kommt als Verteidiger des Eigentums gegen die Kommunisten, sondern als Retter der Republik vor der Monarchie. In diesem Falle wird er mehr oder weniger gezwungen sein, das zu halten, was er versprochen hat; im entgegengesetzten Falle würde er sich wie die andern verhalten, die sich wie Louis-Philippe für „die beste der Republiken"12101 hielten: wir sind an der Macht, die Republik kann ruhig schlafen; es genügt, daß wir von den Ministerien Besitz ergriffen haben, erzählt uns also nichts mehr von den versprochenen Reformen. Ich glaube, daß die Männer, die am 4. für die Monarchisten gestimmt haben, schon über ihren eigenen Erfolg erschrocken sind und daß der 18. Ergebnisse mehr oder weniger zugunsten Cl6menceaus[2U1 zeitigen wird, mit einem gewissen Erfolg für die Opportunisten nicht aus Achtung, sondern aus Verachtung für sie. Der Philister wird sich sagen: bei so vielen Royalisten und Bonapartisten brauche ich schließlich einige Opportunisten. Im übrigen wird der 18. die Situation entscheiden; Frankreich ist das Land des Unvorhergesehenen, und ich werde mich hüten, eine endgültige Meinung zu äußern. Aber auf alle Fälle werden sich Radikale und Monarchisten gegenüberstehen. Die Republik wird gerade soweit gefährdet sein, als nötig ist, um den kleinen Bourgeois zu zwingen, ein wenig mehr nach der extremen Linken zu tendieren, was er sonst niemals getan hätte. Das ist genau die Situation, die wir brauchen, wir Kommunisten. Bisher sehe ich keinen Grund anzunehmen, daß der so außergewöhnlich logische Verlauf der politischen Entwicklung in Frankreich gestört wäre: die Logik von 1792-1794 besteht noch immer; nur die Gefahr, die damals seitens der Koalition drohte, droht heute seitens der Koalition der monarchistischen Parteien im Innern des Landes. Aus der Nähe betrachtet, ist sie weniger gefährlich, als es die andere war... F.Engels
Aus dem Französischen.
An das Redaktionskollegium des „Socialiste"
[„Le Socialiste" Nr. 10 vom 31. Oktober 1885]
Bürger, In Ihrer Nummer vom 17. veröffentlichen Sie einen Auszug aus einem Privatbrief, den ich an einen von Ihnen gerichtet habe.1 Dieser Brief war in Eile geschrieben, so daß ich, um den Kurier nicht zu verfehlen, nicht einmal Zeit hatte, ihn noch einmal durchzulesen. Gestatten Sie mir daher, eine Stelle zu erläutern, die meinen Gedanken nicht klar genug wiedergibt. Als ich von Herrn Cl6menceau als Bannerträger des französischen Radikalismus sprach, sagte ich: „Es ist sehr wichtig, daß er nicht an die Macht kommt als Verteidiger des Eigentums gegen die Kommunisten, sondern als Retter der Republik vor der Monarchie. In diesem Falle wird er mehr oder weniger gezwungen sein, das zu halten, was er versprochen hat; im entgegengesetzten Falle würde er sich (hier muß man einfügen: vielleicht) wie die andern verhalten, die sich wie Louis-Philippe für die beste der Republiken hielten: wir sind an der Macht, die Republik kann ruhig schlafen; es genügt, daß wir von den Ministerien Besitz ergriffen haben, erzählt uns also nichts mehr von den versprochenen Reformen." Zunächst habe ich keinerlei Recht zu behaupten, daß Herr Clemenceau, wenn er auf dem üblichen Wege parlamentarischer Regierungen an die Macht käme, unausbleiblich „wie die andern" handeln würde. Dann gehöre ich nicht zu denen, die die Handlungen der Regierungen einfach aus ihrem guten oder bösen Willen erklären; dieser Wille selbst ist bedingt durch Ursachen, die unabhängig von ihnen sind: durch die allgemeine Situation. Es handelt sich hier also nicht um den guten oder bösen Willen des Herrn Clemenceau. Es handelt sich im Interesse der Arbeiterpartei darum, daß die
Radikalen in solch einer Situation an die Macht kommen, in der es für sie nur ein einziges Mittel gibt, sich an der Macht zu halten: ihr Programm in die Tat umzusetzen. Hoffen wir, daß die 200 Monarchisten in der Kammer ausreichen werden, um eine solche Situation zu schaffen.
London, 21. Oktober 1885
F. Engels
Aus dem Französischen.
Wie man Marx nicht übersetzen sollf2,2]
Der erste Band des Marxschen „Kapitals" ist Allgemeinbesitz, soweit es Übersetzungen in andere Sprachen betrifft. Deshalb hätte, obwohl es in englischen sozialistischen Kreisen recht gut bekannt ist, daß eine Übersetzung vorbereitet und in Kürze unter der Verantwortlichkeit der literarischen Testamentsvollstrecker von Marx veröffentlicht werden wird, niemand ein Recht, etwas dagegen einzuwenden, wenn dieser Übersetzung eine andere vorausginge, solange der Text treu und ebenso gut wiedergegeben würde. Die ersten Seiten solch einer Übersetzung von John Broadhouse sind in der Oktober-Nummer des „To-day" veröffentlicht. Ich sage ausdrücklich, daß sie sehr weit davon entfernt ist, eine treue Textwiedergabe zu sein, und dies deshalb, weil Herr Broadhouse keine der von einem Marx-Übersetzer geforderten Fähigkeiten besitzt. Um solch ein Buch zu übersetzen, genügt nicht allein eine gute Kenntnis der deutschen Literatursprache. Marx gebraucht gern Alltagsausdrücke und mundartliche Redewendungen; er prägt neue Wörter, er nimmt seine Erläuterungen aus jedem Zweig der Wissenschaft, seine Anspielungen aus den Literaturen von einem Dutzend Sprachen; um ihn zu verstehen, muß einer tatsächlich ein Meister der deutschen Sprache in Wort und Schrift sein und muß auch etwas vom deutschen Leben kennen. Hierzu ein Beispiel. Als einige Oxford-Studenten in einem Viererboot über die Straße von Dover ruderten, hieß es in den Zeitungsberichten, daß einer von ihnen „caught a crab"1. Der Londoner Korrespondent der „Kölnischen Zeitung" nahm das wörtlich und berichtete getreulich seinem Blatt, daß „ein Krebs mit dem Ruder eines der Studenten in Kollision gekommen
1 wörtlich: „einen Krebs fing"; in der Sprache der Ruderer: durch zu tiefes Eintauchen der Ruder aus dem Takt geriet
sei". Wenn ein Mann, der schon jahrelang mitten in London lebt, imstande ist, solch einen lächerlichen Schnitzer zu machen, sobald er auf Fachausdrücke eines ihm unbekannten Gebiets stößt, was kann man da von jemandem erwarten, der nur eine leidliche Kenntnis des Schriftdeutschen hat und es unternimmt, den am schwersten übersetzbaren deutschen Schriftsteller in eine andere Sprache zu übertragen? Und tatsächlich werden wir sehen, daß Herr Broadhouse außerordentlich geschickt im „Krebse fangen" ist. Aber hierfür wird noch etwas mehr verlangt. Marx ist einer der kraftvollsten, sich am prägnantesten und bündigsten ausdrückenden Schriftsteller unserer Zeit. Um ihn richtig wiederzugeben, muß man ein Meister nicht nur der deutschen, sondern auch der englischen Sprache sein. Herr Broadhouse jedoch, obwohl offensichtlich ein Mann von beachtenswerten journalistischen Fähigkeiten, beherrscht nur soweit Englisch, als es sich im Rahmen der konventionellen literarischen Respektabilität hält. Hier bewegt er sich gewandt; aber diese Art Englisch ist nicht die Sprache, in die „Das Kapital" jemals übersetzt werden kann. Kraftvolles Deutsch verlangt zu seiner Wiedergabe kraftvolles Englisch; alle Ressourcen der Sprache müssen ausgeschöpft werden; neu geprägte deutsche Ausdrücke erfordern entsprechende neue Ausdrücke im Englischen. Aber sobald Herr Broadhouse einer solchen Schwierigkeit gegenübersteht, verlassen ihn nicht nur seine Ressourcen, sondern auch sein Mut. Die geringste Erweiterung seines begrenzten Wortschatzes, die geringste Neuerung im üblichen konventionellen Alltagsenglisch erschreckt ihn, und ehe er eine solche Ketzerei wagt, gibt er lieber das schwierige deutsche Wort durch einen mehr oder weniger unbestimmten Ausdruck wieder, der sein Ohr nicht beleidigt, der aber die Meinung des Verfassers verdunkelt; oder, was noch schlimmer ist, er übersetzt es, wenn es wiederholt vorkommt, durch eine ganze Reihe verschiedener Ausdrücke und vergißt dabei, daß ein Fachausdruck immer mit ein und demselben entsprechenden Wort wiedergegeben werden muß. So übersetzt er gleich in der Überschrift des ersten Abschnitts Wertgröjße1 mit „extent of value", ohne zu beachten, daß Größe2 ein genau bestimmter mathematischer Ausdruck ist, gleichwertig mit „magnitude" oder einer bestimmten Quantität, während „extent" noch vieles andere bedeuten kann. So ist selbst die einfache Neubildung „labour-time" für Arbeitszeit zuviel für ihn; er übersetzt es durch 1. „time-labour", das bedeutet, wenn überhaupt etwas, Arbeit, die nach Zeit bezahlt wird, oder Arbeit, die jemand ver
1 Wartgröße: in „The Commonweal" deutsch - 2 ebenso: Größe - 3 ebenso: Arbeitszeit
richtet, der seine Strafzeff bei Zwangsar&eif „abdient"; 2. „time of labour"1; 3. „labour-time" und 4. „period of labour" (Arbeitsperiode2), worunter Marx im zweiten Band etwas ganz anderes versteht. Nun ist aber, wie wohl bekannt, die „Kategorie" Arbeitszeit eine der fundamentalsten des ganzen Buches, und sie durch vier verschiedene Ausdrücke in weniger als zehn Seiten zu übersetzen, ist mehr als unverzeihlich. Marx beginnt mit der Analyse der Ware. Der erste Gesichtspunkt, unter dem sich eine Ware darbietet, ist der eines Gebrauchsgegenstands; als solcher kann sie entweder in Hinblick auf ihre Qualität oder auf ihre Quantität betrachtet werden. „Any such thing is a whole in itself, the sum of many qualities or properties, and may therefore, be useful in different ways. To discover these different ways and therefore the various uses to which a thing may be put, is the act of history. So, too, is the finding and fixing of socially recognised Standards of measure for the quantity of useful things. The diversity of the modes of measuring commodities arises partly from the diversity of the nature of the objects to be measured, partly from Convention." [„Jedes solches Ding ist ein Ganzes vieler Eigenschaften und kann daher nach verschiedenen Seiten nützlich sein. Diese verschiedenen Seiten und daher die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken, ist geschichtliche Tat. So die Findung gesellschaftlicher Maße für die Quantität der nützlichen Dinge. Die Verschiedenheit der Warenmaße entspringt teils aus der verschiedenen Natur der zu messenden Gegenstände, teils aus Konvention." (Siehe Band 23 unserer Ausgabe, S. 49/50.)]
Das wird von Herrn Broadhouse wie folgt wiedergegeben: „To discover these various ways, and consequently the multifarious modes in which an object may be of use, is a Wot\ of time. So, consequently, is the finding of ihn social measure for the quantity of useful things. The diversity in the btdk of commodities arises partly from the different nature" etc. [„Diese verschiedenen Seiten zu entdecken und folglich die mannigfachen Arten, in denen ein Gegenstand nützlich sein könnte, ist ein Werk der Zeit. Genauso, folglich, das Finden des gesellschaftlichen Maßes für die Quantität der nützlichen Dinge. Die Verschiedenheit in der Masse von Waren entsteht teilweise aus der verschiedenen Natur" usw.]
Bei Marx bildet das Herausfinden der verschiedenen nützlichen Seiten der Dinge einen wesentlichen Teil des geschichtlichen Fortschritts; bei „Zeit der Arbeit" - 2 Arbeitsperiode; in „The Commonweal" deutsch
Herrn Broadhouse ist es bloß ein Werk der Zeit. Bei Marx wird die gleiche Einschätzung auf die Festsetzung allgemeiner gesellschaftlicher Maße angewandt. Bei Herrn B[roadhouse] besteht noch ein „Werk der Zeit" in dem „Finden des gesellschaftlichen Maßes für die Quantität der nützlichen Dinge", um eine Art Maß, um das sich Marx sicherlich niemals bemüht hat. Und dann schließt Broadhouse damit, daß er fälschlicherweise Maße1 (measures) für Masse3 (bulk) hält und dadurch Marx einen der schönsten Krebse anhängt, die jemals gefangen wurden.
Weiter sagt Marx: „Use-values form the material out [„Gebrauchswerte bilden den stoffof which wealth is made up, what- liehen Inhalt des Reichtums, welever may be the social form of that ches immer seine gesellschaftliche wealth" Form sei" (Ebenda, S.50.)] (die spezifische Form der Aneignung, in der er in Besitz genommen und verteilt wird). Herr Broadhouse übersetzt: „Use values constitute the actual basis of [„Gebrauchswerte bilden die wirkliche wealth which is always their social form", Basis des Reichtums, der immer ihre soziale Form tsf"] was entweder eine anmaßende Plattheit oder barer Unsinn ist. Der zweite Gesichtspunkt, unter dem eine Ware sich darbietet, ist ihr Tauschwert. Daß alle Waren in bestimmten, ständig wechselnden Proportionen gegeneinander austauschbar sind, daß sie Tauschwerte haben, diese Tatsache schließt ein, daß sie etwas enthalten, was ihnen allen gemeinsam ist. Ich übergehe die liederliche Art, in der Herr Broadhouse hier eine der feinsten Analysen in Marx* Buch wiedergibt, und gehe gleich zu der Stelle über, wo Marx sagt: „This something common to all commodities cannot be a geometrical, physical, chemical or other natural property. In fact their material properties come into consideration only in so far as they make them useful, that is, in so far as they turn them into use-values." [„Dies Gemeinsame kann nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein. Ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten." (Ebenda, S.51.)]
Und er fährt fort: „But it is the very act of ma\ing abstraction from their use-üalues which evidently is the characteristic point of the exchange-relation of commodities. Within this relation, one usevalue is equivalent to any other, so long as it is provided in sufficient proportion."
Nun Herr Broadhouse: „But on the other hand, it is precisely these vse-values in the abstract which apparently characterise the exchange-rafio of the commodities. In itself, one usevalue is worth just as much as another if it exists in the same proportion."
[„Andererseits aber ist es grade die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten, was das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert. Innerhalb desselben gilt ein Gebrauchswert grade soviel wie jeder andre, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist." (Ebenda, S. 51/52.)]
[„Aber andererseits sind es gerade diese abstrakten Gebrauchswerte, die offensichtlich die AustauschprojOorftbn der Waren charakterisieren. An sich ist ein Gebrauchswert genausoviel wert wie ein anderer, wenn er in dergleichen Proportion vorhanden ist."] Auf diese Weise läßt Herr Broadhouse, von kleineren Fehlern abgesehen, Marx genau das Gegenteil von dem sagen, was er wirklich sagt. Bei Marx ist das Charakteristische des Austauschverhältnisses von Waren die Tatsache, daß von ihren Gebrauchswerten völlig abstrahiert wird, daß sie angesehen werden, als hätten sie überhaupt keinen Gebrauchswert. Sein Dolmetscher läßt ihn sagen, daß das Charakteristische der Austauschpropor/ion (von der hier nicht die Rede ist) genau ihr Gebrauchswert sei, nur „abstrakt" genommen! Und dann, einige Zeilen weiter, gibt er den Satz von Marx wieder: „Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert", weder abstrakten noch konkreten. Wir dürfen wohl fragen: „Verstehest du auch, was du liesest?" Auf diese Frage kann man unmöglich bejahend antworten, wenn wir feststellen, daß Herr Broadhouse dieselbe falsche Auffassung ständig aufs neue wiederholt. Nach dem eben zitierten Satz fährt Marx fort: „Now, if we leave out of consideration" (that is, make abstraction from) „the use-values of the commodities, there remains to them but one property: that of being the products [„Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab" (das heißt, davon abstrahieren), „so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten.
of labour. But even this product of labour has already undergone a change in our hands. If we make abstraction/rom its use-value, we also make abstraction from the bodily components and forms which make it into a use-value."
Dies wird von Herrn Broadhouse „If we separate use-values from the actual material of the commodities, there remains" (where? with the use-values or with the actual material?) „one property only, that of the product of labour. But the product of labour is already transmuted in our hands. If we abstract from it its use-value, w£ abstract also the stamma and form which constitute its use-value."
Marx wiederum:
„In the exchange-relation of commodities, their exchange-value presented itself to us as something perfectly independent of their usevalues. Now, if we actually make abstraction from the use-value of the products of labour, we arrive at their value, as previously determined by M US .
Das lautet bei Herrn Broadhouse „In the exchange-rafco of commodities their exchange-value appears to us as something altogether independent of their use-value. If we now in effect abstract the use-value from the labour-products, we have their value as it is then determined."
Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen." (Ebenda, 5.52.)]
wie folgt englisch wiedergegeben: [„Wenn wir Gebrauchswerte von dem wirklichen Material der Waren trennen, da bleibt" (wo? bei den Gebrauchswerten oder bei dem wirklichen Material?) „nur eine Eigenschaft, die des Arbeitsprodukts. Aber das Arbeitsprodukt ist schon in unseren Händen verwandelt. Wenn wir von ihm seinen Gebrauchswert abstrahieren, abstrahieren wir auch seine Substanz und die Form, die seinen Gebrauchswert ausmachen.^
[„Im Austauschverhältnis der Waren selbst erschien uns ihr Tauschwert als etwas von ihren Gebrauchswerten durchaus Unabhängiges. Abstrahiert man nun wirklich vom Gebrauchswert der Arbeitsprodukte, so erhält man ihren Wert, wie er eben bestimmt ward." (Ebenda, 5.53.)]
wie folgt: [„ In der Austauschprojöorfron von Waren erscheint uns ihr Tauschwert als etwas von ihrem Gebrauchswert gänzlich Unabhängiges. Wenn wir nun tatsächlich den Gebrauchswert von den Arbeitsprodukten abstrahieren, haben wir ihren Wert, wie er dann bestimmt wird."]
Darüber besteht kein Zweifel. Herr Broadhouse hat niemals von irgendwelchen anderen Arten der Abstraktion als von dinglichen gehört, wie etwa die Abstraktion von Geld aus einer Kasse oder einem Safe. Abstraktion und Subtraktion gleichzusetzen, das ist für einen Marx-Übersetzer unverzeihlich. Noch ein Beispiel für die Verdrehung von deutschem Sinn in englischen Unsinn. Eine der vortrefflichsten Untersuchungen von Marx ist die Aufdeckung des Doppelcharakters der Arbeit. Die Arbeit, als Erzeugerin von Gebrauchswert betrachtet, ist von anderem Charakter und hat andere Eigenschaften als dieselbe Arbeit, als Erzeugerin von Wert. Die eine ist Arbeit spezifischer Art: Spinnen, Weben, Pflügen etc.; die andere ist der allen gemeinsame Charakter der menschlichen produktiven Tätigkeit, die dem Spinnen, Weben, Pflügen etc. eigen ist und sie alle unter dem einen gemeinsamen Begriff Arbeit zusammenfaßt. Die eine ist konkrete, die andere abstrakte Arbeit. Die eine ist Arbeit im technischen Sinn, die andere im ökonomischen. Kurz - denn die englische Sprache hat Ausdrücke für beide die eine ist work zum Unterschied von labour; die andere labour zum Unterschied von work. Nach dieser Analyse fährt Marx fort:
„Originally a commodity presented [„Ursprünglich erschien uns die itself to us as something duplex: Ware als ein Zwieschlächtiges, Geuse-value and exchange-value. Für- brauchswert und Tauschwert. Späther on we saw that labour, too, as ter zeigte sich, daß auch die Arbeit, far as it is expressed in value, does soweit sie im Wert ausgedrückt no longer possess the same characteris- ist, nicht mehr dieselben Merkmale tics which belong to it in its capacity besitzt, die ihr als Erzeugerin as a creator of use-value." von Gebrauchswerten zukommen." (Ebenda, S.56.)] Herr Broadhouse will unbedingt beweisen, daß er nicht ein Wort der Marxschen Analyse verstanden hat, und übersetzt den obigen Satz wie folgt: „We saw the commodity at first as a com- [„Wir sahen die Ware anfangs als eine potmd of use-value and exchange-value. Zusammensetzung von Gebrauchswert und Then we saw that labour, so far as it is Tauschwert. Dann sahen wir, daß Arbeit, expressed in value, only possesses that soweit sie in Wert ausgedrückt ist, nur incharacter so far as it is a generator of use- soweit diesen Charakter besitzt, als sie Ervalue." zeugerin von Gebrauchswert ist."]
Wenn Marx „Weiß" sagt, sieht Herr Broadhouse nicht ein, warum er nicht „Schwarz" übersetzen sollte.
Aber genug davon. Wir wollen zu etwas Amüsanterem kommen. Marx sagt: „In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht die fictio juris1, daß jeder Mensch als Warenkäufer eine enzyklopädische Warenkenntnis besitzt." Obgleich nun der Ausdruck Civil Society2 durch und durch englisch ist und Fergusons „History of Civil Society" mehr als hundert Jahre alt, ist Herr Broadhouse diesem Ausdruck nicht gewachsen. Er übersetzt ihn mit „amongst ordinary people"3 und verkehrt so den Satz in Unsinn. Denn es sind genau die „ordinary people", die ständig darüber murren, daß sie vom Kleinhändler betrogen werden etc., weil sie die Natur und den Wert der Waren, die sie kaufen müssen, nicht kennen. Die Produktion (Herstellung) eines Gebrauchswerts wird wiedergegeben durch „the establishing of a use-value"5. Wenn Marx sagt: „Gelingt es, mit wenig Arbeit Kohle in Diamant zu verwandeln, so kann sein Wert unter den von Ziegelsteinen fallen." Herr Broadhouse, dem anscheinend nicht bekannt ist, daß der Diamant eine allotropische Form des Kohlenstoffs ist, verwandelt Kohle in Koks. Ähnlich verwandelt er die „total yield of the Brazilian diamond mines"6 in „the entire profits of the whole yield"7. „The primitive communities of India"8 werden unter seinen Händen „venerable communities"9.
Marx sagt: „In the use-value of a commodity is [„In dem Gebrauchswert jeder Ware contained" (steckt, which had better steckt" (steckt, was man besser überbe translated: For the production of setzen sollte: Für die Produktion des the use-value of a commodity there Gebrauchswerts einer Ware ist verhas been spent) „a certain produc- ausgabt worden) „eine bestimmte tive activity, adapted to the peculiar zweckmäßig produktive Tätigkeit oder purpose, or a certain useful labour." nützliche Arbeit." (Ebenda, S.57.)] Herr Broadhouse muß sagen: „In the use-value of a commodity is con- [„In dem Gebrauchswert einer Ware tained a certain qucmtity of prodactive steckt eine bestimmte Menge Produktivpower or useful labour", kraft oder nützliche Arbeit"] und verkehrt so nicht nur Qualität in Quantität, sondern produktive Tätigkeit, die verausgabt wurde, in Produktivkraft, die erst verausgabt werden soll.
1 Rechtsfiktion - 2 bürgerliche Gesellschaft - 3 „unter gewöhnlichen Menschen" - 4 Herstellung: in „The Commonweal" deutsch - B „die Festsetzung eines Gebrauchswerts" 6 „Gesamtausbeute der brasilischen Diamantgruben" - 7 „die Gesamtprofite der ganzen Ausbeute" - 8 „Die altindischen Gemeinden" - 9„ehrwürdige Gemeinden
Aber genug. Ich könnte das Zehnfache der angeführten Beispiele bringen, um zu zeigen, daß Herr Broadhouse in keiner Hinsicht ein zum Übersetzen von Marx fähiger und geeigneter Mann ist, und besonders deshalb, weil er überhaupt nicht zu wissen scheint, was wirklich gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit ist.* Friedrich Engels
Geschrieben Oktober 1885. Nach: „The Commonweal", Vol.I, Nr. 10 vom November 1885. Aus dem Englischen.
* Aus dem Obengesagten ist ersichtlich, daß „Das Kapital" nicht zu den Büchern gehört, die auf Vertragsbasis übersetzt werden können. Die Übersetzungsarbeit liegt in den besten Händen; jedoch ist es den Übersetzern nicht möglich, ihre gesamte Zeit darauf zu verwenden. Das sind die Ursachen für die Verzögerung der Herausgabe. Aber wenn auch der genaue Zeitpunkt des Erscheinens nicht angegeben werden kann, so dürfen wir mit Gewißheit sagen, daß sich die englische Ausgabe im Laufe des nächsten Jahres in den Händen des Publikums befinden wird.
Zur Geschichte der preußischen Bauern [Einleitung zu Wilhelm Wolffs Broschüre „Die schlesische Milliarde"]12131
Zum Verständnis der folgenden Arbeit Wolffs muß ich einige Worte vorherschicken. Deutschland, östlich der Elbe und nördlich des Erz- und Riesengebirgs, ist ein den eingedrungenen Slawen in der zweiten Hälfte des Mittelalters entrissenes, von deutschen Kolonisten wieder germanisiertes Land. Die erobernden deutschen Ritter und Barone, denen das Land zugeteilt wurde, taten sich auf als „Gründer" von Dörfern, legten ihr Gebiet in Dorffluren aus, deren jede in eine Anzahl gleich großer Bauergüter oder Hufen abgeteilt wurde. Zu jeder Hufe gehörte ein Hausplatz mit Hof und Garten im Dorf selbst. Diese Hufen wurden unter den herbeigezogenen fränkischen (rheinfränkischen und niederländischen), sächsischen und friesischen Kolonisten durchs Los verteilt; die Kolonisten hatten dafür an den Gründer, d.h. den Ritter oder Baron, sehr mäßige, fest bestimmte Abgaben und Dienste zu leisten. Die Bauern waren, solange sie diese Leistungen entrichteten, erbliche Herren auf ihren Hufen. Dazu hatten sie im Walde des Gründers (des späteren Gutsherrn) dieselben Nutzungsrechte an Holzung, Weide, Eichelmast etc., die die westdeutschen Bauern in ihrer gemeinen Mark besaßen. Die angebaute Dorfflur war dem Flurzwang unterworfen, wurde meist in Winterfeld, Sommerfeld und Brachfeld nach der Dreifelderwirtschaft bebaut; brache und abgeerntete Felder wurden vom Vieh der Bauernschaft und des Gründers gemeinsam beweidet. Alle Dorfangelegenheiten wurden in der Versammlung der Hofgenossen, d.h. der Hufenbesitzer, durch Majoritätsbeschluß erledigt. Die Rechte der adligen Gründer beschränkten sich auf Einziehung der Leistungen und Mitgenuß der Brachund Stoppelweide, auf den Überschuß des Ertrages der Waldungen und den Vorsitz in der Versammlung der Hofgenossen, die alle persönlich freie Männer waren. Dies war der durchschnittliche Zustand der deutschen Bauern von der Elbe bis nach Ostpreußen und Schlesien. Und dieser Zustand war im ganzen bedeutend vorteilhafter als der gleichzeitige der west
und süddeutschen Bauern, die damals schon in einem heftigen, stets sich erneuernden Kampf um ihre alten ererbten Rechte mit den Feudalherren sich befanden und schon großenteils einer weit drückenderen, ihre persönliche Freiheit bedrohenden oder gar vernichtenden Form der Abhängigkeit verfallen waren. Das steigende Geldbedürfnis der Feudalherren im 14. und 15. Jahrhundert führte selbstredend auch im Nordosten Versuche zu vertragswidriger Bedrückung und Ausbeutung der Bauern herbei. Aber keineswegs in demselben Maß und demselben Erfolg wie in Süddeutschland. Die Bevölkerung war östlich der Elbe noch dünn, das Ödland noch ausgedehnt; Urbarmachung dieses Ödlands, Ausbreitung der Kultur, Neuanlage von zinsbaren Dörfern blieb hier das sicherste Mittel der Bereicherung auch für den feudalen Grundherrn; dazu kam, daß hier, an der Reichsgrenze gegen Polen, sich schon größere Staaten gebildet hatten: Pommern, Brandenburg, Kursachsen (Schlesien war östreichisch), und daher der Landfriede besser eingehalten, die Fehden und Räubereien des Adels kräftiger unterdrückt wurden als in den zersplitterten Gebieten am Rhein, in Franken und Schwaben; wer aber am meisten unter diesem ewigen Kriegszustand litt, war eben der Bauer. Nur in der Nachbarschaft unterworfner polnischer oder litauischpreußischer Dörfer trat schon häufiger der Versuch des Adels hervor, die nach deutschem Hofrecht angesiedelten Kolonisten in dieselbe Leibeigenschaft zu drängen wie die polnischen und preußischen Untertanen. So in Pommern und im preußischen Ordensgebiet[2141, seltner in Schlesien. Infolge dieser günstigeren Lage blieben die ostelbischen Bauern von der gewaltigen Bewegung der süd- und westdeutschen Bauern im letzten Viertel des 15. und ersten des 16. Jahrhunderts fast unberührt, und als die Revolution von 1525 ausbrach, fand sie nur in Ostpreußen ein schwaches, ohne große Mühe unterdrücktes Echo. Die ostelbischen Bauern ließen ihre rebellierenden Brüder im Stich, und es geschah ihnen, wie sie es verdient hatten. In den Strichen, wo der große Bauernkrieg gewütet hatte, wurden die Bauern jetzt ohne weiteres zu Leibeignen gemacht, ungemeßnen, nur von der Willkür des Grundherrn abhängigen Frondiensten und Lasten unterworfen, und ihre freie Mark einfach in herrschaftliches Eigentum verwandelt, auf dem sie nur noch die Nutzungen behielten, die ihnen der Grundherr in seiner Gnade zuließ. Dieser selbe Idealzustand der feudalen Grundherrschaft, nach dem der deutsche Adel das ganze Mittelalter hindurch vergebens ge'trachtet und den er jetzt, beim Verfall der Feudalwirtschaft, endlich erreicht, wurde nun auch allmählich auf die ostelbischen Länder ausgedehnt. Nicht nur wurden die den Bauern kontraktlich zu
stehenden Nutzungsrechte im herrschaftlichen Wald, soweit sie nicht schon früher beschnitten, in widerrufbare Gnadenbewilligungen des Grundherrn umgewandelt; nicht nur wurden die Fronden und Zinse widerrechtlich erhöht, sondern es wurden auch neue Lasten eingeführt wie die Laudemien (Abgaben an den Grundherrn bei Sterbfall des bäuerlichen Hofbesitzers), die als Merkmale der Leibeigenschaft galten, oder altherkömmlichen, unverfänglichen Leistungen wurde der Charakter von solchen aufgeprägt, die nur Leibeigne, nicht aber freie Männer leisten. In weniger als hundert Jahren waren so die freien ostelbischen Bauern erst tatsächlich und bald darauf auch juristisch in Leibeigne verwandelt. Der Feudaladel verbürgerlichte sich inzwischen mehr und mehr. Er wurde in stets steigendem Maß Schuldner der städtischen Geldkapitalisten, und Geld wurde damit sein dringendes Bedürfnis. Aber aus dem Bauer, seinem Leibeignen, war kein Geld herauszuschlagen, sondern zunächst nur Arbeit oder Ackerbauprodukt, und auch von diesem letzteren ergaben die unter den erschwerendsten Umständen bebauten Bauerhöfe nur ein Minimum über den allerkärglichsten Unterhalt der arbeitenden Besitzer hinaus. Daneben aber lagen die breitgedehnten, mit höriger oder leibeigner Fronarbeit unter verständiger Aufsicht für herrschaftliche Rechnung bebauten, einträglichen Landgüter der Klöster. Diese Art der Bewirtschaftung hatte der kleinere Adel bisher fast nie, der mächtigere und die Fürsten nur ausnahmsweise auf ihren Domänen betreiben können. Jetzt aber machte einerseits der hergestellte Landfriede die Großkultur überall möglich, während andererseits das wachsende Geldbedürfnis des Adels sie ihm mehr und mehr aufzwang. Die Bewirtschaftung großer Güter durch Fronarbeit leibeigner Bauern für Rechnung des Grundherrn wurde so allmählich die Einkommenquelle, die den Adel für das unzeitgemäß gewordne Raubrittertum schadlos halten mußte. Aber woher die nötige Bodenfläche nehmen? Der Adlige war zwar Grundherr über ein größeres oder geringeres Gebiet, aber dies war mit wenigen Ausnahmen ganz ausgetan an erbliche Zinsbauern[215), die an ihren Hofstellen und Hufen sowie an den Markberechtigungen ganz ebensoviel Recht hatten - solange sie die bedungnen Leistungen darbrachten - wie der gnädige Herr selbst. Hier mußte abgeholfen werden, und dazu tat vor allem die Verwandlung der Bauern in Leibeigne not. Denn wenn auch die Verjagung leibeigner Bauern von Haus und Hof nicht minder ein Rechtsbruch und eine Gewalttat war wie die freier Zinsleute, so ließ sie sich doch vermittelst des eingerißnen römischen Rechts weit leichter beschönigen. Kurz, nach gelungner Verwandlung der Bauern in Leibeigne jagte man die erforderliche Anzahl Bauern fort oder setzte sie als Kotsassen,
Taglöhner mit Hütte und Gärtchen, wieder auf herrschaftliches Gebiet. Wenn die ehemaligen festen Burgen des Adels seinen neuen, mehr oder weniger offnen Landschlössern wichen, so wichen ebendeshalb in weit größerem Maß die Höfe ehemals freier Bauern den elenden Hütten leibeigner Dienstleute. War das herrschaftliche Wirtschaftsgut - das Dominium, wie es in Schlesien heißt - einmal eingerichtet, so kam es nur noch darauf an, die Arbeitskraft der Bauern zu seiner Bearbeitung in Bewegung zu setzen. Und hier zeigte sich der zweite Vorteil der Leibeigenschaft. Die früheren, kontraktlich festgesetzten Frondienste der Bauern waren keineswegs für diesen Zweck bemessen. Sie beschränkten sich in der großen Mehrzahl auf Dienste im öffentlichen Interesse - Wege- und Brückenbau usw. -, Bauarbeit an der herrschaftlichen Burg, Arbeiten der Weiber und Mädchen auf der Burg in verschiedenen Industriezweigen und persönlichen Gesindedienst. Sobald aber der Bauer in einen Leibeignen verwandelt und dieser durch die römischen Juristen dem römischen Sklaven gleichgestellt war, pfiff der gnädige Herr aus einer ganz andern Tonart. Unter Zustimmung der Juristen auf der Gerichtsbank forderte er jetzt von den Bauern ungemeßne Dienste, soviel, wann und wo es ihm beliebte. Der Bauer mußte für den Gutsherrn fronden, fahren, pflügen, säen und ernten, sobald er dazu aufgeboten, ob auch sein eignes Feld vernachlässigt wurde und seine eigne Ernte verregnete. Und ebenso wurde ihm sein Kornzins oder Geldzins bis auf die äußersten Grenzen der Möglichkeit hinaufgeschraubt. Damit nicht genug. Der nicht minder edle Landesfürst, der östlich der Elbe ja überall vorhanden war, brauchte ebenfalls Geld, viel Geld. Dafür, daß er dem Adel erlaubte, seine Bauern zu unterjochen, erlaubte ihm der Adel, dieselben Bauern mit Staatssteuern zu belegen - der Adel selbst war ja steuerfrei! Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sanktionierte derselbe Landesfürst die eingerissene Verwandlung des früheren Vorsitzrechts des Grundherrn in dem - längst beseitigten - freien Hofgericht der Bauern in das Recht der Patrimonialgerichtsbarkeit und Gutspolizei, wonach der Gutsherr nicht nur Polizeichef, sondern auch alleiniger Richter über seine Bauern war - sogar in eigner Sache -, so daß der Bauer den Gutsherrn nur beim Gutsherrn selbst verklagen konnte. Damit war dieser Gesetzgeber, Richter und Vollstrecker in einer Person und auf seinem Gut vollständig unbeschränkter Herr. Diese infamen Zustände, die nicht einmal in Rußland ihresgleichen finden - denn dort hatte der Bauer doch seine sich selbst regierende Gemeinde -, erreichten ihren Gipfelpunkt in der Zeit vom Dreißigjährigen Kriege bis
16 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
zur rettenden Niederlage von Jena'2161. Die Drangsalierungen des Dreißigjährigen Kriegs erlaubten dem Adel, die Unterjochung der Bauern zu vollenden; die Verödung zahlloser Bauernstellen erlaubte ihre ungehinderte Vereinigung mit dem Dominium des Ritterguts; die Wiederansässigmachung der von der Kriegsverwüstung gewaltsam ins Strolchtum getriebnen Bevölkerung bot ihm den Vorwand, sie erst recht als Leibeigne an die Scholle zu fesseln. Aber auch das nur auf kurze Zeit. Denn kaum waren in den nächsten fünfzig Jahren die furchtbaren Wunden des Kriegs einigermaßen vernarbt, die Felder wieder angebaut, die Bevölkerung gewachsen, so erstand von neuem der Hunger der edlen Grundherrn nach Bauernland und Bauernarbeit. Das herrschaftliche Dominium war nicht groß genug, um all die Arbeit aufzusaugen, die noch aus den Leibeignen herauszuschlagen war - dies Herausschlagen hier im buchstäblichsten Sinn. Das System, Bauern zu Kotsassen, leibeignen Taglöhnern zu degradieren, hatte sich vortrefflich bewährt. Von Anfang des achtzehnten Jahrhunderts an kommt es immer mehr in Schwung; es heißt nun: „Bauernlegen'. Man „legt" soviel Bauern man kann, je nach Umständen; zuerst läßt man noch soviel übrig, als zur Leistung der Spanndienste nötig, und verwandelt den Rest in Kotsassen (Dreschgärtner, Häusler, Instleute[217) und wie sie sonst heißen), die für eine Hütte mit kleinem Kartoffelstück jahraus, jahrein, gegen einen miserablen Taglohn in Korn und nur sehr wenig in Geld, auf dem Gut schanzen müssen. Wo der gnädige Herr reich genug ist, sein eignes Zugvieh stellen zu können, „legt" man auch die noch übrigen Bauern und schlägt ihre Hufen zum herrschaftlichen Wirtschaftsgut. Auf diese Weise ist der gesamte große Grundbesitz des deutschen Adels, namentlich aber des ostelbischen, aas gestohlenem Bauernland zusammengebracht, und wenn er den Räubern ohne alle Entschädigung wieder abgenommen wird, so geschieht ihnen nicht einmal ihr volles Recht. Eigentlich sollten sie noch dazu Entschädigung zahlen. Allmählich merkten die Landesherren, daß dies System, so nützlich es für den Adel war, keineswegs in ihrem Interesse lag. Die Bauern hatten Staatssteuern gezahlt, eh sie gelegt worden; von ihren mit dem steuerfreien Dominium zusammengeworfnen Hufen erhielt der Staat keinen Deut und kaum einen Heller von den neuangesetzten Kotsassen. Ein Teil der gelegten Bauern wurde ohnehin, als überflüssig für die Bewirtschaftung des Guts, einfach weggejagt und somit frei, d.h. vogelfrei gemacht. Die Bevölkerung des platten Landes nahm ab, und seitdem der Landesfürst anfing, sein kostspieliges Werbeheer auf dem wohlfeilem Weg der Aushebung unter den Bauern zu ergänzen, war ihm dies keineswegs gleichgültig. So
finden wir namentlich in Preußen im ganzen 18. Jahrhundert Verordnungen über Verordnungen, die dem Bauernlegen Einhalt tun sollen; aber es geht ihnen wie neunundneunzig Hundertsteln der unermeßlichen Makulatur, die seit den Kapitularien Karls des Großen'2181 von deutschen Regierungen zusammengeschrieben worden: sie galten eben nur auf dem Papier, der Adel ließ sich nur wenig stören, das Bauernlegen dauerte fort. Selbst das furchtbare Exempel, das die große Revolution in Frankreich am eigensinnigen Feudaladel statuierte, schreckte nur für einen Augenblick. Es blieb alles beim alten, und was Friedrich 11. nicht gekonnt1219 das konnte am allerwenigsten sein schwacher, kurzsichtiger Neffe Friedrich Wilhelm III. Da kam die Rache. Am H.Oktober 1806 wurde der ganze preußische Staat an einem Tage bei Jena und Auerstedt in Stücke geschlagen, und der preußische Bauer hat alle Ursache, diesen Tag und den 18. März 1848 mehr zu feiern als alle preußischen Siege von Mollwitz bis Sedan[220). Jetzt fing der bis über die russische Grenze zurückgejagten preußischen Regierung endlich an ein schwaches Licht aufzudämmern, daß man die freien, grundbesitzenden französischen Bauernsöhne nicht mit den Söhnen leibeigner, täglich der Verjagung von Haus und Hof ausgesetzter Fronbauern besiegen könne; jetzt endlich merkte sie, daß der Bauer sozusagen auch ein Mensch ist. Jetzt sollte eingeschritten werden. Aber kaum war der Friede geschlossen und Hof und Regierung nach Berlin zurückgekehrt, so schmolzen auch die edlen Vorsätze wieder wie Eis in der Märzsonne. Das vielberühmte Edikt vom 9. Oktober 1807 hatte zwar den Namen der Leibeigenschaft oder Erbuhtertänigkeit (und auch dies erst von Martini 1810 an!) auf dem Papier aufgehoben1221', in der Wirklichkeit aber fast alles beim alten gelassen. Dabei blieb's; der ebenso zaghafte wie bornierte König ließ sich nach wie vor vom bauernplündernden Adel leiten, so sehr, daß 1808-1810 vier Verordnungen erschienen, die den Gutsherren in einer Reihe von Fällen das Bauernlegen wieder gestatteten - im Widerspruch mit dem Edikt von 1807t222]. Erst als der Krieg Napoleons gegen Rußland bereits in Sicht war, erinnerte man sich wieder, daß mein der Bauern bedürfen werde, und erließ das Edikt vom 14. September 181 1 I223), wodurch den Bauern und Grundherren empfohlen wurde, sich innerhalb zwei Jahren gütlich über Ablösung der Fronden und Lasten sowie des gutsherrlichen Obereigentums auseinanderzusetzen, indem nachher eine königliche Kommission diese Auseinandersetzung nach bestimmten Regeln zwangsweise vollführen werde. Als Hauptregel galt, daß der Bauer gegen Abtretung von einem Drittel seines Grundbesitzes (oder dessen Geldwert) in einen freien Eigentümer des ihm dann noch bleibenden Stücks 16*
verwandelt werden sollte. Aber selbst diese, dem Adel so enorm vorteilhafte Ablösung blieb Zukunftsmusik. Denn der Adel hielt zurück, um noch mehr zu erlangen, und nach Verlauf der zwei Jahre war Napoleon wieder im Land. Kaum war dieser - unter fortwährenden Zukunftsverheißungen von Konstitution und Volksvertretung von seiten des angstvollen Königs - definitiv aus dem Land gejagt, so waren alle schönen Zusagen wieder vergessen. Am 29. Mai 1816 schon - noch nicht ein Jahr nach dem Sieg von Waterloo - wurde eine Deklaration des Edikts von 1811 erlassen, die schon ganz anders lautete12241. Die Ablösbarkeit der Feudallasten war hier nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme: sie sollte nur gelten für solche in den Grundsteuerkatastern veranschlagte (also größere) Ackergüter, die bereits 1749 in Schlesien, 1752 in Ostpreußen, 1763 in Brandenburg und Pommern* und 1774 in Westpreußen mit bäuerlichen Wirten besetzt gewesen! Auch durften einige Frondienste bei Saat und Ernte beibehalten werden. Und als endlich 1817 mit den Ablösungskommissionen Ernst gemacht wurde, ging die Agrargesetzgebung viel rascher rückwärts als die Agrarkommissionen vorwärts. Am 7. Juni 1821 erfolgte eine neue Ablösungsordnung'2261, wodurch die Beschränkung der Ablösungsfähigkeit auf größere Bauernhöfe, sogenannte Ackernahrungen'227], neuerdings eingeschärft, und die Verewigung der Frondienste und andrer Feudallasten für die Inhaber von kleineren Wirtschaften - Kotsassen, Häusler, Dreschgärtner, kurz alle angesiedelten Taglöhner - ausdrücklich festgestellt wurde. Dies blieb von nun an Regel. Erst 1845 wurde ausnahmsweise für Sachsen und Schlesien die Ablösung auch dieser Art Lasten anders als durch gegenseitige Einwilligung von Gutsherr und Bauer - wozu selbstredend kein Gesetz erforderlich - möglich gemacht.'2281 Ferner wurde der Kapitalbetrag, womit die in Geld oder Kornrente umgewandelten Dienste ein für allemal abgekauft werden konnten, auf das Fünfundzwanzigfache der Rente festgesetzt, und sollten die Abzahlungen nur in Summen von mindestens 100 Talern auf einmal erfolgen; während schon 1809 den Bauern auf den Staatsdomänen Abkauf zum zwanzigfachen Rentenbetrag gestattet war. Kurzum, die vielberühmte aufgeklärte Agrargesetzgebung des „Staats der
* Die preußische Heimtücke ist unergründlich. Sie zeigt sich hier wieder im bloßen Datum. Warum nahm man 1763? Einfach weil im folgenden Jahr, 12.Juli 1764, Friedrich II. ein scharfes Edikt erlassen, worin den widerspenstigen Adligen bei Strafe befohlen wird, die seit 1740, namentlich aber seit Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs'225' massenweise eingezognen Bauernhöfe und Kotsassenstellen binnen Jahresfrist wieder mit entsprechenden Wirten zu besetzen. Soweit dieses Edikt eine Wirkung hatte, wird sie also 1816 zugunsten des Adels wieder vernichtet.
Intelligenz"12291 hatte nur ein Bestreben: vom Feudalismus alles zu retten, was noch zu retten war. Das praktische Ergebnis entsprach diesen jämmerlichen Maßregeln. Die Agrarkommissionen verstanden die wohlwollenden Absichten der Regierung vollkommen und, wie im einzelnen von Wolff drastisch geschildert, sorgten sie dafür, daß bei den Ablösungen der Bauer zugunsten des Adligen gehörig geprellt wurde. Von 1816 bis 1848 wurden abgelöst 70 582 bäuerliche Eigentümer mit einem Gesamtgrundbesitz von 5 158 827 Morgen; sie machten 6/7 aller Pflichtigen größeren Bauern aus. Dagegen wurden von den kleineren Stellenbesitzern nur 289 651 abgelöst (davon über 228 000 in Schlesien, Brandenburg und Sachsen). Die Zahl der insgesamt abgelösten jährlichen Diensttage betrug: an Spanndiensttagen: 5 978 295; an Handdiensttagen: 16 869 824. Dafür erhielt der hohe Adel eine Vergütung wie folgt: an Kapitalabzahlung 18 544 766 Taler; an Geldrenten jährlich 1 599 992 Taler; an Roggenrenten 260 069 Scheffel jährlich; endlich an abgetretnem Bauernland 1 533 050 Morgen.* Außer den sonstigen Entschädigungen erhielten die ehemaligen Grundherren also ein volles Drittel des bisherigen Bauernlandes! Das Jahr 1848 öffnete endlich den ebenso bornierten wie eingebildeten preußischen Krauljunkern die Augen. Die Bauern - namentlich in Schlesien, wo das Latifundiensystem und die ihm entsprechende Herabdrückung der Bevölkerung zu taglöhnernden Kotsassen am stärksten entwickelt war stürmten die Schlösser, verbrannten die schon abgeschlossenen Ablösungsurkunden und zwangen die gnädigen Herren zu schriftlichem Verzicht auf alle ferneren Leistungen. Diese Exzesse - auch in den Augen der damals herrschenden Bourgeoisie ruchlos - wurden allerdings mit Militärgewalt unterdrückt und streng geahndet; aber das sah nun auch der hirnloseste Junkerschädel ein: Die Frondienste waren unmöglich geworden, lieber gar keine als solche von diesen rebellischen Bauern! Jetzt kam es nur noch darauf an, zu retten, was noch zu retten war; und der grundbesitzende Adel hatte wirklich die Unverschämtheit, für diese unmöglich gewordnen Leistungen Entschädigung zu verlangen. Und kaum saß die Reaktion wieder einigermaßen fest im Sattel, so erfüllte sie diesen Wunsch. Zunächst jedoch kam noch das Gesetz vom 9. Oktober 1848, welches alle schwebenden Ablösungsverhandlungen und daraus entstandnen Prozesse sowie eine ganze Reihe andrer Prozesse zwischen Gutsherren und Bauern sistierte12301. Hiermit war also die ganze vielgepriesene Agrargesetzgebung
* Siehe für diese Statistik: Mätzen, „Der Boden des preußischen Staats", I.p.432ff.
von 1807 an verurteilt. Dann aber, sobald die Berliner sogenannte Nationalversammlung glücklich gesprengt und der Staatsstreich gelungen war1, hielt sich das feudal-bürokratische Ministerium Brandenburg-Manteuffel für stark genug, um dem Adel einen tüchtigen Schritt entgegenzukommen. Es erließ die provisorische Verordnung vom 20. Dezember 1848, wodurch die von den Bauern bis auf weitere Regelung zu leistenden Dienste usw. mit wenigen Ausnahmen auf dem alten Fuß wiederhergestellt wurden'2311. Es war diese Verordnung, welche unserm Wolff den Anlaß gab, die schlesischen Bauernverhältnisse in der „Neuen Rheinischen Zeitung" zu behandeln. Indessen dauerte es noch über ein Jahr, bis das neue, schließliche Ablösungsgesetz vom 2. März 1850[232' zustande kam. Man kann die auch jetzt noch von den preußischen Patrioten in den Himmel erhobne Agrargesetzgebung von 1807-1847 nicht schärfer verurteilen, als es, widerwillig genug, in den Motiven zu diesem Gesetz geschieht - und es ist das Ministerium Brandenburg-Manteuffel, welches hier spricht. Genug: einige unbedeutende Lasten wurden einfach aufgehoben, die Ablösung der andern durch Verwandlung in Geldrenten und deren Kapitalisierung zum achtzehnfachen Betrage dekretiert, und zur Vermittlung der Kapitalabzahlung Rentenbanken errichtet, die vermittelst bekannter Amortisationsoperationen dem Gutsherrn den zwanzigfachen Rentenbetrag abzahlen sollen, während der Bauer durch sechsundfünfzigjährige Abzahlung von Amortisationsraten aller Verpflichtung erledigt wird. Verurteilte das Ministerium in den Motiven die ganze bisherige Agrargesetzgebung, so verurteilte die Kommission der Kammer das neue Gesetz. Dies sollte nicht für das durch die französische Revolution längst von all dem Plunder befreite linke Rheinufer gelten; die Kommission schloß sich dem an, weil doch höchstens ein einziger von den 109 Paragraphen des Gesetzvorschlages dort anwendbar sei, „während alle übrigen Bestimmungen dort durchaus nicht passen, vielmehr leicht Verwirrung und unnötige Aufregung hervorrufen könnten ..., indem die Gesetzgebung auf dem linken Rheinufer in Beziehung auf Aufhebung der Reallasten viel weiter gegangen sei, als man gegenwärtig gehn wolle"[2SS', und man doch den Rheinländern nicht zumuten könne, sich wieder auf den neupreußischen Idealzustand herunterbringen zu lassen. Jetzt endlich wurde mit der Beseitigung der feudalen Arbeits- und Ausbeutungsformen Ernst gemacht. In wenigen Jahren war der Loskauf der Bauern durchgeführt. Von 1850 bis Ende 1865 wurden abgelöst: 1. der
Rest der größeren bäuerlichen Besitzer; es waren ihrer nur noch 12 706 mit einer Bodenfläche von 352 305 Morgen; 2. die kleineren Besitzer mit Einschluß der Kotsassen; während aber bis 1848 deren nicht ganz 290 000 abgelöst waren, hatten sich in den letzten fünfzehn Jahren volle I 014 341 losgekauft. Dementsprechend war die Anzahl der auf die größern Wirtschaften fallenden abgelösten Spanndiensttage auch nur 356 274, die der Handdiensttage dagegen 6 670 507. Ebenso war die Entschädigung, die in Grundstücken geleistet wurde und die auch nur auf die größern Bauernhöfe fiel, nur 113 071 Morgen, und die in Roggen zu leistende Jahresrente 55 522 Scheffel. Dagegen erhielt der Grundadel an neuen jährlichen Geldrenten 3 890 136 Taler und außerdem an endgültiger Kapitalabfindung fernere 19 697 483 Taler* Die Summe, die die gesamte preußische Grundherrschaft, mit Einschluß der Staatsdomänen, sich aus der Tasche der Bauern hat zahlen lassen für die freie Rückgabe eines Teils des den Bauern früher - bis in dies Jahrhundert hinein - geraubten Bodens, beträgt nach Meitzen I. S.437: 213 861 035 Taler. Dies ist aber viel zu gering. Denn der Morgen Kulturland ist hierbei „nur" zu 20 Taler, der Morgen Forstland zu 10 Taler und der Scheffel Roggen zu 1 Taler angerechnet, also viel zu niedrig. Ferner sind hier nur die „mit Sicherheit feststehnden Abfindungen" zugrunde gelegt, also mindestens alle privatim zwischen den Beteiligten gemachten Auseinandersetzungen unberücksichtigt gelassen, wie denn Meitzen selbst sagt, die hier aufgeführten abgelösten Leistungen, also auch die dafür gezahlten Entschädigungen seien nur ein „Minimum". Wir können also die von den Bauern an Adel und Fiskus zur Befreiung von widerrechtlich aufgelegten Lasten gezahlte Summe auf mindestens 300 000 000 Taler, vielleicht eine Milliarde Mark annehmen. Eine Milliarde Mark, um nur den kleinsten Teil des seit vierhundert Jahren geraubten Bodens lastenfrei zurückzuerhalten! Den kleinsten Teil, denn den weitaus größten Teil behielt Adel und Fiskus ohnehin zurück in Gestalt von Majorats- und andern Rittergütern und Domänen!
London, 24. November 1885
Friedrich Engels
Nach: Wilhelm Wolff, „Die schlesische Milliarde", Hottingen-Zürich 1886.
* Diese Zahlen ergeben sich als Differenz der Totalsummen der beiden Tabellen bei Meitzen, I. S.432 und 434[234).
Vorrede zur dritten Auflage [von Karl Marx' Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte"]
Daß eine neue Auflage des „Achtzehnten Brumaire"1 nötig geworden, dreiunddreißig Jahre nach dem ersten Erscheinen, beweist, daß das Schriftchen auch heute noch nichts von seinem Wert verloren hat. Und in der Tat war es eine geniale Arbeit. Unmittelbar nach dem Ereignis, das die ganze politische Welt wie ein Wetterstrahl aus heiterm Himmel überrascht, das von den einen mit lautem Schrei sittlicher Entrüstung verdammt, von den andern als Rettung aus der Revolution und als Strafe für ihre Verirrungen akzeptiert, von allen aber nur angestaunt und von keinem verstanden wurde - unmittelbar nach diesem Ereignis trat Marx auf mit einer kurzen, epigrammatischen Darstellung, die den ganzen Gang der französischen Geschichte seit den Februartagen in ihrem innern Zusammenhang darlegte, das Mirakel des zweiten Dezembers'235 ] in ein natürliches, notwendiges Resultat dieses Zusammenhangs auflöste, und dabei nicht einmal nötig hatte, den Helden des Staatsstreichs anders als mit der wohlverdienten Verachtung zu behandeln. Und mit solcher Meisterhand war das Bild gezeichnet, daß jede neue, inzwischen erfolgte Enthüllung nur neue Beweise dafür geliefert hat, wie treu es die Wirklichkeit widerspiegelt. Dies eminente Verständnis der lebendigen Tagesgeschichte, dies klare Durchschauen der Begebenheiten, im Moment, wo sie sich ereignen, ist in der Tat beispiellos. Dazu gehörte aber auch Marx' genaue Kenntnis der französischen Geschichte. Frankreich ist das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden, wo also auch die wechselnden politischen Formen, innerhalb deren sie sich bewegen und in denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt sind. Mittelpunkt des Feudalismus im Mittel
alter, Musterland der einheitlichen ständischen Monarchie seit der Renaissance, hat Frankreich in der großen Revolution den Feudalismus zertrümmert und die reine Herrschaft der Bourgeoisie begründet in einer Klassizität wie kein anderes europäisches Land. Und auch der Kampf des aufstrebenden Proletariats gegen die herrschende Bourgeoisie tritt hier in einer, anderswo unbekannten, akuten Form auf. Das war der Grund, weshalb Marx nicht nur die vergangne französische Geschichte mit besondrer Vorliebe studierte, sondern auch die laufende in allen Einzelheiten verfolgte, das Material zu künftigem Gebrauch sammelte und daher nie von den Ereignissen überrascht wurde. Dazu aber kam noch ein anderer Umstand. Es war grade Marx, der das große Bewegungsgesetz der Geschichte zuerst entdeckt hatte, das Gesetz, wonach alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf politischem, religiösem, philosophischem oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehn, in der Tat nur der mehr oder weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind, und daß die Existenz und damit auch die Kollisionen dieser Klassen wieder bedingt sind durch den Entwicklungsgrad ihrer ökonomischen Lage, durch die Art und Weise ihrer Produktion und ihres dadurch bedingten Austausches. Dies Gesetz, das für die Geschichte dieselbe Bedeutung hat wie das Gesetz von der Verwandlung der Energie für die Naturwissenschaft - dies Gesetz gab ihm auch hier den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der zweiten französischen Republik. An dieser Geschichte hat er hier die Probe auf sein Gesetz gemacht, und selbst nach dreiunddreißig Jahren müssen wir noch sagen, daß diese Probe glänzend ausgefallen ist. F.E.
Geschrieben 1885. Nach: Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", dritte Auflage, Hamburg 1885.
Anhang [zur amerikanischen Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klasse in England"]12363
Das Buch, das hiemit dem englisch sprechenden Publikum in seiner eigenen Sprache zugänglich gemacht wird, wurde vor mehr als vierzig Jahren geschrieben. Damals war der Verfasser jung, vierundzwanzig Jahre alt, und sein Werk trägt den Stempel seiner Jugend im guten wie im schlechten, wessen er sich keineswegs schämt. Daß es jetzt ins Englische übersetzt wird, ist keineswegs auf seine Initiative zurückzuführen. Dennoch möge ihm gestattet sein, einige Worte zu sagen, „seine Gründe anzugeben", warum es nicht verhindert werden soll, daß diese Übersetzung das Tageslicht erblickt. Der in diesem Buch beschriebne Stand der Dinge gehört heute was England angeht - größtenteils der Vergangenheit an. Obwohl nicht ausdrücklich in unseren anerkannten Lehrbüchern mit aufgezählt, ist es doch ein Gesetz der modernen politischen Ökonomie, daß, je mehr die kapitalistische Produktion sich ausbildet, desto weniger sie bestehn kann bei den kleinen Praktiken der Prellerei und Mogelei, die ihre früheren Stufen kennzeichnen. Die kleinlichen Schlaumeiereien des polnischen Juden, des Repräsentanten des europäischen Handels auf seiner niedrigsten Stufe, diese selben Pfiffe, die ihm in seiner eignen Heimat so vortreffliche Dienste leisten und dort allgemein angewandt werden, lassen ihn im Stich, sobald er nach Hamburg oder Berlin kommt. Desgleichen erkennt der Kommissionär, Jude oder Christ, der von Berlin oder Hamburg kommt, nachdem er einige Monate lang an der Börse von Manchester verkehrt hat, daß er, um Garn oder Gewebe wohlfeil zu kaufen, sich vor allem jener, um ein geringes verfeinerten, aber immer noch jammervollen Manöver und Kniffe entledigen müsse, die in seiner Heimat für die Spitze aller Geschäftsklugheit galten. Und in der Tat, diese Kniffe bezahlen sich nicht mehr in einem großen Markt, wo Zeit Geld ist und wo eine gewisse Höhe der kommerziellen Moralität sich unvermeidlich entwickelt, einfach, um Zeit und Mühe nicht nutzlos zu
verlieren. Und genauso steht es mit dem Verhältnis des Fabrikanten zu seinen Arbeitern. Die Abschaffung der Korngesetze11631, die Entdeckung der kalifornischen und australischen Goldfelder, die fast völlige Verdrängung der einheimischen Handweberei in Indien, das zunehmende Eindringen in den chinesischen Markt, das unerhört schnelle Wachstum der Eisenbahnlinien und der Dampfschiffahrt auf der ganzen Welt und andere weniger bedeutende Ursachen ermöglichten der englischen Fabrikindustrie eine so kolossale Entwicklung, daß uns der Stand von 1844 heute als vergleichsweise unbedeutend und fast waldursprünglich erscheint. Und in demselben Grad aber, worin dieser Fortschritt sich darstellte, in demselben Grad wurde auch die große Industrie, dem äußeren Scheine nach, moralisch. Die Konkurrenz von Fabrikant gegen Fabrikant, vermittelst kleiner Diebstähle an den Arbeitern, zahlte sich nicht mehr. Das Geschäft war solchen miserablen Mitteln des Geldverdienens entwachsen, für den fabrizierenden Millionär lohnten sich derlei kleinliche Kniffe nicht. So etwas war gut höchstens für kleine geldbedürftige Leute, die jeden Groschen aufschnappen mußten, wollten'sie nicht der Konkurrenz erliegen. So verschwand das Trucksystem, die Zehnstundenbill12371 und eine ganze Reihe kleinerer Reformen ging durch - alles Dinge, die dem Geist, des Freihandels und der zügellosen Konkurrenz direkt ins Gesicht schlugen, die aber ebensosehr die Konkurrenz des Riesenkapitalisten gegen seine weniger begünstigten Geschäftskollegen noch überlegner machten. Ferner. Je größer eine industrielle Anlage, je zahlreicher ihre Arbeiter, um so größer war der Schaden und der Geschäftsverdruß bei jedem Konflikt zwischen dem Fabrikanten und den Arbeitern. Daher kam mit der Zeit ein neuer Geist über die Fabrikanten, namentlich über die großen. Sie lernten unnötige Streitereien vermeiden, sich mit dem Bestand und der Macht derTrades Unions abfinden, und schließlich sogar in Strikes - wenn nur zur richtigen Zeit eingeleitet - ein wirksames Mittel entdecken zur Durchführung ihrer eignen Zwecke. So kam es, daß die größten Fabrikanten, früher die Heerführer im Kampf gegen die Arbeiterklasse, jetzt die ersten waren im Aufruf zu Frieden und Harmonie. Und aus sehr guten Gründen. Alle diese Konzessionen an die Gerechtigkeit und Menschenliebe waren eben in Wirklichkeit nur Mittel, die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger zu beschleunigen, für die die kleinen Nebenerpressungen früherer Jahre alle Wichtigkeit verloren hatten, und jetzt geradezu im Weg waren; Mittel, um schneller und sicherer ihre kleineren Konkurrenten zu erdrücken, die ohne solchen Extraverdienst nicht leben konnten. Und so hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktion allein hingereicht, wenigstens in den leitenden Industriezweigen - denn
in den weniger wichtigen ist dies keineswegs der Fall - alle jene kleineren Beschwerden zu beseitigen, die in frühern Jahren das Los des Arbeiters verschlimmerten. Und so tritt mehr und mehr in den Vordergrund die große Haupttatsache, daß die Ursache des Elends der Arbeiterklasse zu suchen ist nicht in jenen kleinern Übelständen, sondern im kapitalistischen System selbst. Der Lohnarbeiter verkauft dem Kapitalisten seine Arbeitskraft für eine gewisse tägliche Summe. Nach der Arbeit weniger Stunden hat er den Wert jener Summe reproduziert. Aber sein Arbeitsvertrag lautet dahin, daß er nun noch eine weitere Reihe von Stunden fortschanzen muß, um seinen Arbeitstag voll zu machen. Der Wert nun, den er in diesen zusätzlichen Stunden der Mehrarbeit produziert, ist Mehrwert, der dem Kapitalisten nichts kostet, trotzdem aber in seine Tasche fließt. Dies ist die Grundlage des Systems, das mehr und mehr die zivilisierte Gesellschaft spaltet, einerseits in einige wenige Vanderbilts, die Eigner aller Produktions- und Unterhaltsmittel, und andrerseits in eine ungeheure Menge von Lohnarbeitern, Eigner von nichts als ihrer Arbeitskraft. Und daß dies Ergebnis geschuldet ist nicht diesem oder jenem untergeordneten Beschwerdepunkt, sondern einzig dem System selbst - diese Tatsache ist durch die Entwicklung des Kapitalismus in England seit 1847 heute ins grellste Licht gestellt. Ferner. Die wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien haben dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert, seine Städte gesund zu machen, falls er nicht mit Familie diesen Seuchen zum Opfer fallen will. Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Mißstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht. Die Kanalisation ist eingeführt oder verbessert, breite Straßenzüge sind quer durch viele der schlechtesten unter den „schlechten Vierteln", die ich beschreiben mußte, angelegt. „Kleinirland" ist verschwunden,und die „Seven-Dials"[238] kommen demnächst an die Reihe. Aber was heißt das? Ganze Bezirke, die ich 1844 noch als fast idyllisch schildern konnte, sind jetzt, mit dem Anwachsen der Städte, herabgefallen in denselben Stand des Verfalls, der Unwohnlichkeit, des Elends. Die Schweine und die Abfallhaufen duldet man freilich nicht mehr. Die Bourgeoisie hat weitere Fortschritte gemacht in der Kunst, das Unglück der Arbeiterklasse zu verbergen. Daß aber, was die Arbeiterwohnungen angeht, kein wesentlicher Fortschritt stattgefunden hat, beweist vollauf der Bericht der königlichen Kommission „on the Housing of the Poor"1, 1885.12391 Und
ebenso in allem andern. Polizeiverordnungen sind so häufig geworden wie Brombeeren; sie können aber nur das Elend der Arbeiter einhegen, beseitigen können sie es nicht. Während aber England dem von mir geschilderten Jugendstand der kapitalistischen Ausbeutung entwachsen ist, haben andre Länder ihn eben erst erreicht. Frankreich, Deutschland und vor allem Amerika sind die drohenden Rivalen, die, wie ich 1844 vorhersah, mehr und mehr Englands industrielles Monopol brechen. Ihre Industrie ist jung gegen die englische, aber sie wächst mit weit größrer Geschwindigkeit als diese und ist erstaunlicherweise heute so ziemlich auf derselben Entwicklungsstufe angekommen, worauf die englische 1844 stand. Mit Beziehung auf Amerika ist die Parallele besonders frappant. Allerdings sind die äußern Umgebungen für die amerikanische Arbeiterklasse sehr verschieden, aber dieselben ökonomischen Gesetze sind an der Arbeit, und die Ergebnisse, wenn nicht in jeder Beziehung identisch, müssen doch derselben Ordnung angehören. Daher finden wir in Amerika dieselben Kämpfe für einen kürzeren, gesetzlich festzustellenden Arbeitstag, besonders für Frauen und Kinder in Fabriken; wir finden das Trucksystem in voller Blüte und das Cottagesystem12401, in ländlichen Gegenden, von den „bosses" ausgebeutet als Mittel der Arbeiterbeherrschung. Grade habe ich die amerikanischen Zeitungen mit den Berichten über den großen Strike der 12 000 pennsylvanischen Bergleute im Distrikt von Connellsville erhalten und es kommt mir vor, als läse ich meine eigne Schilderung des Ausstands der Kohlengräber in Nordengland 1844.[2Ö) Dieselbe Prellerei der Arbeiter durch falsches Maß; dasselbe Trucksystem; derselbe Versuch, den Widerstand der Grubenleute zu brechen durch das letzte zermalmende Mittel des Kapitalisten; die Ausweisung der Arbeiter aus ihren Wohnungen, die der Zechenverwaltung gehören. Es gab zwei Umstände, die viele Jahre verhinderten, daß die unvermeidlichen Konsequenzen des kapitalistischen Systems in Amerika voll ans Tageslicht kamen. Diese bestanden in dem leichten Erwerb von billigem Land und in der starken Einwanderung. Sie erlaubten es lange Zeit der großen Masse der einheimischen amerikanischen Bevölkerung, sich in jüngeren Jahren von der Lohnarbeit „zurückzuziehen" und Farmer, Händler oder Arbeitgeber zu werden, während die harte Lohnarbeit, die Stellung eines lebenslänglichen Proletariers, hauptsächlich den Einwanderern verblieb. Doch Amerika ist diesem Jugendstand entwachsen. Die unendlichen Urwälder sind verschwunden und die noch unendlicheren Prärien gehen rascher und rascher aus den Händen des Staates und der Staaten in die von
Privateigentümern. Das große Sicherheitsventil gegen die "Bildung einer permanenten proletarischen Klasse hat - praktisch genommen - zu wirken aufgehört. Zur Zeit besteht in Amerika eine Klasse lebenslänglicher und selbst erblicher Proletarier. Eine Nation von 60 Millionen, die hart und mit nicht geringer Aussicht auf Erfolg darum kämpft, die führende Industrienation der Welt zu werden, kann nicht ständig ihre eigene Lohnarbeiterklasse importieren; selbst dann nicht, wenn eine halbe Million Einwanderer pro Jahr in das Land strömen. Die Tendenz des kapitalistischen Systems, die Gesellschaft endgültig in zwei Klassen zu spalten, mit einigen wenigen Millionären auf der einen und der großen Masse der bloßen Lohnarbeiter auf der andern Seite, diese Tendenz wirkt, obwohl sich ihr ständig andere soziale Kräfte hemmend entgegenstellen, nirgends mit größerer Macht als in Amerika; und das Ergebnis war das Hervorbringen einer Klasse einheimischer amerikanischer Lohnarbeiter, die in der Tat, verglichen mit den Einwanderern, die Aristokratie der Lohnarbeiterklasse bildet, die aber mit jedem Tag sich mehr und mehr ihrer Solidarität mit den Einwanderern bewußt wird und die nun um so stärker ihre Verurteilung zu lebenslanger Lohnsklaverei erkennt, weil die Erinnerung an vergangene Tage, als es verhältnismäßig einfach war, eine höhere gesellschaftliche Ebene zu erreichen, in ihr noch wach ist. Demgemäß hat sich in Amerika die Bewegung der Arbeiterklasse mit wahrhaft amerikanischer Energie in Marsch gesetzt, und da sich auf der anderen Seite des Atlantik die Dinge mit zumindest der doppelten Geschwindigkeit entwickeln als in Europa, könnten wir es noch erleben, daß Amerika auch in dieser Beziehung die Führung an sich reißt. Ich habe in dieser Übersetzung nicht versucht, das Buch dem heutigen Stand der Dinge anzupassen, d.h. die seit 1844 eingetretenen Änderungen im einzelnen aufzuzählen. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte ich, um es gründlich zu machen, den Umfang des Buches verdoppeln müssen, und dazu kam mir die Übersetzung zu plötzlich, als daß ich mich einer solchen Arbeit hätte unterziehen können. Und zweitens gibt der erste Band des Marxschen „Kapital" - eine englische Übersetzung wird in Kürze erscheinen - eine ausführliche Darstellung der Lage der britischen Arbeiterklasse für die Zeit von etwa 1865, d.h. die Zeit, wo die britische industrielle Prosperität ihren Höhepunkt erreichte. Ich hätte also das wiederholen müssen, was schon in Marx' berühmtem Werk gesagt worden ist. Es wird wohl kaum nötig sein zu bemerken, daß der allgemein theoretische Standpunkt dieses Buchs - in philosophischer, ökonomischer und politischer Beziehung - sich keineswegs genau deckt mit meinem heutigen Standpunkt. Im Jahre 1844 existierte der moderne internationale Sozialis
mus noch nicht, der seitdem, vor allem und fast ausschließlich durch die Leistungen von Marx, zu einer Wissenschaft ausgebildet worden. Mein Buch repräsentiert nur eine der Phasen seiner embryonalen Entwicklung. Und wie der menschliche Embryo in seinen frühesten Entwicklungsstufen die Kiemenbögen unserer Vorfahren, der Fische, noch immer reproduziert, so verrät dies Buch überall die Spuren der Abstammung des modernen Sozialismus von einem seiner Vorfahren- der deutschen Philosophie. So wird großes Gewicht gelegt auf die Behauptung, daß der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß der Klasse der Kapitalisten, aus den gegenwärtigen einengenden Verhältnissen. Dies ist in abstraktem Sinn richtig, aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos. Solange die besitzenden Klassen nicht nur kein Bedürfnis verspüren nach Befreiung, sondern auch der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse sich mit allen Kräften widersetzen, solange wird die Arbeiterklasse nun einmal genötigt sein, die soziale Umwälzung allein einzuleiten und durchzuführen. Die französischen Bourgeois von 1789 erklärten auch die Befreiung der Bourgeoisie für die Emanzipation des gesamten Menschengeschlechts; Adel und Geistlichkeit wollten das aber nicht einsehn; die Behauptung - obwohl damals, soweit der Feudalismus dabei in Betracht kam, eine abstrakte, historische Wahrheit - artete bald aus in pure sentimentale Redensart und verduftete gänzlich im Feuer des revolutionären Kampfs. Heutzutage gibt es auch Leute genug, die den Arbeitern von der Unparteilichkeit ihres höheren Standpunkts einen über allen Klassengegensätzen und Klassenkämpfen erhabenen Sozialismus predigen und danach streben, in einer höheren Menschlichkeit die Interessen beider widerstreitenden Klassen zu versöhnen - aber diese Leute sind entweder Neulinge, die noch massenhaft zu lernen haben, oder aber die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wolfe im Schafspelz. Im Text wird die Kreislaufsperiode der großen industriellen Krisen auf fünf Jahre angegeben. Dies war die Zeitbestimmung, die sich aus dem Gang der Ereignisse von 1825 bis 1842 scheinbar ergab. Die Geschichte der Industrie von 1842 bis 1868 hat aber bewiesen, daß die wirkliche Periode eine zehnjährige ist; daß die Zwischenkrisen sekundärer Natur waren und mehr und mehr verschwunden sind. Seit 1868 hat sich die Sachlage wieder verändert; darüber weiter unten. Ich habe mir nicht einfallen lassen, aus dem Text die vielen Prophezeiungen zu streichen, namentlich nicht die einer nahe bevorstehenden Revolution in England, wie meine jugendliche Hitze sie mir damals eingab.
Das wunderbare ist, nicht, daß so viele dieser Prophezeiungen fehlgingen, sondern, daß so viele eingetroffen sind und daß die kritische Lage der englischen Industrie, infolge deutscher und namentlich amerikanischer Konkurrenz, die ich damals in einer allerdings viel zu nahen Zukunft voraussah, seitdem wirklich eingetreten ist. In Beziehung auf diesen Punkt ist es mir möglich—und bin ich dazu verpflichtet —, das Buch mit dem heutigen Stand der Dinge in Einklang zu bringen. Ich tue es, indem ich hier einen Artikel reproduziere, der in der Londoner „Commonweal" vom 1 .März 1885 unter dem Titel „England 1845 und 1885"1 erschien...
London, 25. Februar 1886
Friedrich Engels
Nach: Friedrich Engels, „The Condition of the Working Class in England in 1844", New York 1887. Aus dem Englischen.
[Zum 15.Jahrestag der Pariser Kommune 12421]
[„Le Sociallste" Nr. 31 vom 27. März 1886] Heute abend feiern die Arbeiter der ganzen Welt gemeinsam mit euch den Jahrestag der glorreichsten und tragischsten Etappe in der Entwicklung des Proletariats. Im Jahre 1871 ergriff die Arbeiterklasse zum ersten Male in ihrer Geschichte in einer großen Hauptstadt die politische Macht. Aber leider ging alles vorüber wie ein Traum! Auf der einen Seite bedrängt von den Söldnern des französischen Ex-Kaiserreichs, auf der anderen von den Preußen, wurde die Kommune schnell in einem Blutbad ohnegleichen erstickt, das nie vergessen werden wird. Die siegreiche Reaktion kannte keine Grenzen mehr; der Sozialismus schien im Blute ertränkt und das Proletariat zur ewigen Sklaverei verurteilt. Fünfzehn Jahre sind seit dieser Niederlage verflossen. In dieser Zeit ist in allen Ländern die Macht, die im Dienste der Herren des Bodens und des Kapitals steht, vor nichts zurückgeschreckt, um auch den letzten aufrührerischen Regungen der Arbeiter den Garaus zu machen. Und was hat man erreicht? Blickt um euch. Der revolutionäre Arbeitersozialismus, lebendiger denn je, ist heute eine Macht, vor der die Herrschenden überall zittern, die französischen Radikalen ebenso wie Bismarck, die Börsenkönige Amerikas ebenso wie der Zar aller Reußen. Aber das ist nicht alles. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo alle unsere Gegner, was sie auch tun mögen, wider ihren Willen für uns arbeiten. Sie haben geglaubt, die Internationale zu töten - aber heute ist der internationale Bund der Proletarier, die Bruderschaft der revolutionären Arbeiter der verschiedenen Länder, tausendmal stärker und umfassender als vor der Kommune. Die Internationale bedarf keiner Organisation im eigentlichen
17 Marx/Endels. Werke, Bd. 21
Sinne mehr; sie lebt und erstarkt durch das spontane und leidenschaftliche Zusammenwirken der Arbeiter Europas und Amerikas. In Deutschland hat Bismarck alle Mittel, bis zu den niederträchtigsten, erschöpft, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Ergebnis: vor der Kommune hatte er es mit vier sozialdemokratischen Abgeordneten zu tun; seine Verfolgungen haben bewirkt, daß jetzt fünfundzwanzig gewählt wurden. Und die deutschen Proletarier lachen über den großen Kanzler, der keine bessere revolutionäre Propaganda machen könnte, wenn er dafür bezahlt würde. In Frankreich hat man euch die Listenwahl[2431 aufgezwungen, eine Bourgeoiswahl par excellence, eigens erfunden, um zu sichern, daß ausschließlich Advokaten, Journalisten und andere politische Abenteurer, Wortführer des Kapitals, gewählt werden. Und was hat dieses Wahlsystem der Reichen der Bourgeoisie eingebracht? Es hat im Schöße des französischen Parlaments eine revolutionäre sozialistische Arbeiterpartei geschaffen, deren bloßes Erscheinen auf dem Schauplatz genügt hat, Verwirrung in die Reihen aller bürgerlichen Parteien zu tragen. Da stehen wir also. Alles, was geschieht, schlägt zu unseren Gunsten aus. Die ausgetüfteltsten Maßnahmen, um das Voranschreiten des Proletariats zu hemmen, beschleunigen nur seinen Siegesmarsch. Der Feind selbst kämpft und ist dazu verurteilt, für uns zu kämpfen. Und das hat er so reichlich und so gut besorgt, daß heute, am 18. März 1886, aus der Brust Tausender Arbeiter, von den Bergwerksproletariern Kaliforniens und des Aveyron bis zu den Zwangsarbeitern in den Bergwerken Sibiriens, der Ruf erklingt: „Eis lebe die Kommune! Eis lebe der internationale Bund der Arbeiter!"
Geschrieben am 15.März 1886. Aus dem Französischen.
Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie12441
Geschrieben Anfang 1886. Erstmalig veröffentlicht in: „Die Neue Zeit", Vierter Jahrgang, Nr. 4 und 5, 1886. Nach dem revidierten Sonderabdruck Stuttgart 1888.
LUDWIG FEUERBACH
UND DER. AUSGANG DER
KLASSISCHEN DEUTSCHEN PHILOSOPHIE
VON
FRIEDRICH ENGELS
RKV1DIRTER SONDER - ABDRUCK ADS OER. „NEUEN ZEIT"
MIT ANHANG:
KARL MARX ÜBER FEDERBACH VOM JAHRE 1845.
STUTTGART VERLAG VON J. IfWiMEIZ <1888.
Titelblatt des revidierten Sonderabdrucks Stuttgart 1888

[Vorbemerkung]
In der Vorrede von „Zur Kritik der Politischen Ökonomie", Berlin 1859, erzählt Karl Marx, wie wir beide 1845 in Brüssel uns daranmachten, „den Gegensatz unsrer Ansicht" - der namentlich durch Marx herausgearbeiteten materialistischen Geschichtsauffassung - „gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten, in der Tat mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen. Der Vorsatz wurde ausgeführt in der Form einer Kritik der nachhegelschen Philosophie. Das Manuskript1245•', zwei starke Oktavbände, war längst an seinem Verlagsort in Westfalen angelangt, als wir die Nachricht erhielten, daß veränderte Umstände den Druck nicht erlaubten. Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten - Selbstverständigung."1 Seitdem sind über vierzig Jahre verflossen, und Marx ist gestorben, ohne daß sich einem von uns Gelegenheit geboten hätte, auf den Gegenstand zurückzukommen. Über unser Verhältnis zu Hegel haben wir uns stellenweise geäußert, doch nirgends in umfassendem Zusammenhang. Auf Feuerbach, der doch in mancher Beziehung ein Mittelglied zwischen der Hegeischen Philosophie und unsrer Auffassung bildet, sind wir nie wieder zurückgekommen. Inzwischen hat die Marxsche Weltanschauung Vertreter gefunden weit über Deutschlands und Europas Grenzen hinaus und in allen gebildeten Sprachen der Welt. Andrerseits erlebt die klassische deutsche Philosophie im Ausland eine Art Wiedergeburt, namentlich in England und Skandinavien, und selbst in Deutschland scheint man die eklektischen Bettelsuppen
satt zu bekommen, die dort an den Universitäten ausgelöffelt werden unter dem Namen Philosophie. Unter diesen Umständen erschien mir eine kurze, zusammenhängende Darlegung unsres Verhältnisses zur Hegeischen Philosophie, unsres Ausgangs wie unsrer Trennung von ihr, mehr und mehr geboten. Und ebenso erschien mir eine volle Anerkennung des Einflusses, den vor allen andern nachhegelschen Philosophen Feuerbach, während unsrer Sturm- und Drangperiode, auf uns hatte, als eine unabgetragene Ehrenschuld. Ich ergriff also gern die Gelegenheit, als die Redaktion der „Neuen Zeit" mich um eine kritische Besprechung des Starckeschen Buchs über Feuerbach bat. Meine Arbeit wurde im 4. und 5. Heft 1886 jener Zeitschrift veröffentlicht und erscheint hier in revidiertem Sonderabdruck. Ehe ich diese Zeilen in die Presse schicke, habe ich das alte Manuskript von 1845/46 nochmals herausgesucht und angesehn. Der Abschnitt über Feuerbach ist nicht vollendet. Der fertige Teil besteht in einer Darlegung der materialistischen Geschichtsauffassung, die nur beweist, wie unvollständig unsre damaligen Kenntnisse der ökonomischen Geschichte noch waren. Die Kritik der Feuerbachschen Doktrin selbst fehlt darin; für den gegenwärtigen Zweck war es also unbrauchbar. Dagegen habe ich in einem alten Heft von Marx die im Anhang abgedruckten elf Thesen über Feuerbach1 gefunden. Es sind Notizen für spätere Ausarbeitung, rasch hingeschrieben, absolut nicht für den Druck bestimmt, aber unschätzbar als das erste Dokument, worin der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt ist.
London, 21.Februar 1888
Friedrich Engels
I
Die vorliegende Schrift* führt uns zurück zu einer Periode, die, der Zeit nach, ein gutes Menschenalter hinter uns liegt, die aber der jetzigen Generation in Deutschland so fremd geworden ist, als wäre sie schon ein volles Jahrhundert alt. Und doch war sie die Periode der Vorbereitung Deutschlands für die Revolution von 1848; und alles, was seitdem bei uns geschehn, ist nur eine Fortsetzung von 1848, nur Testamentsvollstreckung der Revolution. Wie in Frankreich im achtzehnten, so leitete auch in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert die philosophische Revolution den politischen Zusammenbruch ein. Aber wie verschieden sahn die beiden aus! Die Franzosen in offnem Kampf mit der ganzen offiziellen Wissenschaft, mit der Kirche, oft auch mit dem Staat; ihre Schriften jenseits der Grenze, in Holland oder England gedruckt, und sie selbst oft genug drauf und dran, in die Bastille zu wandern. Dagegen die Deutschen - Professoren, vom Staat eingesetzte Lehrer der Jugend, ihre Schriften anerkannte Lehrbücher, und das abschließnde System der ganzen Entwicklung, das Hegeische, sogar gewissermaßen zum Rang einer königlich preußischen Staatsphilosophie erhoben! Und hinter diesen Professoren, hinter ihren pedantisch-dunklen Worten, in ihren schwerfälligen, langweiligen Perioden sollte sich die Revolution verstecken? Waren denn nicht grade die Leute, die damals für die Vertreter der Revolution galten, die Liberalen, die heftigsten Gegner dieser die Köpfe verwirrenden Philosophie? Was aber weder die Regierungen noch die Liberalen sahen, das sah bereits 1833 wenigstens Ein Mann, und der hieß allerdings Heinrich Heine.12461
* „Ludwig Feuerbach" von C.N.Starcke, Dr. phil. - Stuttgart, Ferd. Encke, 1885.
Nehmen wir ein Beispiel. Kein philosophischer Satz hat so sehr den Dank beschränkter Regierungen und den Zorn ebenso beschränkter Liberalen auf sich geladen wie der berühmte Satz Hegels: „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich."'2471 Das war doch handgreiflich die Heiligsprechung alles Bestehenden, die philosophische Einsegnung des Despotismus, des Polizeistaats, der Kabinettsjustiz, der Zensur. Und so nahm es Friedrich Wilhelm III., so seine Untertanen. Bei Hegel aber ist keineswegs alles, was besteht, ohne weiteres auch wirklich. Das Attribut der Wirklichkeit kommt bei ihm nur demjenigen zu, was zugleich notwendig ist; „die Wirklichkeit erweist sich in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit"; eine beliebige Regierungsmaßregel - Hegel führt selbst das Beispiel „einer gewissen Steuereinrichtung"[248) an - gilt ihm daher auch keineswegs schon ohne weiteres als wirklich. Was aber notwendig ist, erweist sich in letzter Instanz auch als vernünftig, und auf den damaligen preußischen Staat angewandt, heißt also der Hegeische Satz nur: Dieser Staat ist vernünftig, der Vernunft entsprechend, soweit er notwendig ist; und wenn er uns dennoch schlecht vorkommt, aber trotz seiner Schlechtigkeit fortexistiert, so findet die Schlechtigkeit der Regierung ihre Berechtigung und ihre Erklärung in der entsprechenden Schlechtigkeit der Untertanen. Die damaligen Preußen hatten die Regierung, die sie verdienten. Nun ist aber die Wirklichkeit nach Hegel keineswegs ein Attribut, das einer gegebnen gesellschaftlichen oder politischen Sachlage unter allen Umständen und zu allen Zeiten zukommt. Im Gegenteil. Die römische Republik war wirklich, aber das sie verdrängende römische Kaiserreich auch. Die französische Monarchie war 1789 so unwirklich geworden, d.h. so aller Notwendigkeit beraubt, so unvernünftig, daß sie vernichtet werden mußte durch die große Revolution, von der Hegel stets mit der höchsten Begeisterung spricht. Hier war also die Monarchie das Unwirkliche, die Revolution das Wirkliche. Und so wird im Lauf der Entwicklung alles früher Wirkliche unwirklich, verliert seine Notwendigkeit, sein Existenzrecht, seine Vernünftigkeit; an die Stelle des absterbenden Wirklichen tritt eine neue, lebensfähige Wirklichkeit - friedlich, wenn das Alte verständig genug ist, ohne Sträuben mit Tode abzugehn, gewaltsam, wenn es sich gegen diese Notwendigkeit sperrt. Und so dreht sich der Hegeische Satz durch die Hegeische Dialektik selbst um in sein Gegenteil: Alles, was im Bereich der Menschengeschichte wirklich ist, wird mit der Zeit unvernünftig, ist also schon seiner Bestimmung nach unvernünftig, ist von vornherein mit
Unvernünftigkeit behaftet; und alles, was in den Köpfen der Menschen vernünftig ist, ist bestimmt, wirklich zu werden, mag es auch noch so sehr der bestehenden scheinbaren Wirklichkeit widersprechen. Der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen löst sich nach allen Regeln der Hegeischen Denkmethode auf in den andern: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht.cat9i Darin aber grade lag die wahre Bedeutung und der revolutionäre Charakter der Hegeischen Philosphie (auf die, als den Abschluß der ganzen Bewegung seit Kant, wir uns hier beschränken müssen), daß sie der Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus machte. Die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen galt, war bei Hegel nicht mehr eine Sammlung fertiger dogmatischer Sätze, die, einmal gefunden, nur auswendig gelernt sein v/ollen; die Wahrheit lag nun in dem Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer höhern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrigbleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen. Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem jeder andern Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns. Ebensowenig wie die Erkenntnis kann die Geschichte einen vollendenden Abschluß finden in einem vollkommnen Idealzustand der Menschheit; eine vollkommne Gesellschaft, ein vollkommner „Staat" sind Dinge, die nur in der Phantasie bestehn können; im Gegenteil sind alle nacheinander folgenden geschichtlichen Zustände nur vergängliche Stufen im endlosen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum Höhern. Jede Stufe ist notwendig, also berechtigt für die Zeit und die Bedingungen, denen sie ihren Ursprung verdankt; aber sie wird hinfällig und unberechtigt gegenüber neuen, höhern Bedingungen, die sich allmählich in ihrem eignen Schoß entwickeln; sie muß einer höhern Stufe Platz machen, die ihrerseits wieder an die Reihe des Verfalls und des Untergangs kommt. Wie die Bourgeoisie durch die große Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen, altehrwürdigen Institutionen praktisch auflöst, so löst diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszuständen auf. Vor ihr besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern,
dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist. Sie hat allerdings auch eine konservative Seite: Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen für deren Zeit und Umstände an; aber auch nur so weit. Der Konservatismus dieser Anschauungsweise ist relativ, ihr revolutionärer Charakter ist absolut - das einzig Absolute, das sie gelten läßt. Wir brauchen hier nicht auf die Frage einzugehn, ob diese Anschauungsweise durchaus mit dem jetzigen Stand der Naturwissenschaft stimmt, die der Existenz der Erde selbst ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich sichres Ende vorhersagt, die also auch der Menschengeschichte nicht nur einen aufsteigenden, sondern auch einen absteigenden Ast zuerkennt. Wir befinden uns jedenfalls noch ziemlich weit von dem Wendepunkt, von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft abwärtsgeht, und können der Hegeischen Philosophie nicht zumuten, sich mit einem Gegenstand zu befassen, den zu ihrer Zeit die Naturwissenschaft noch gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Was aber in der Tat hier zu sagen, ist dies: Die obige Entwicklung findet sich in dieser Schärfe nicht bei Hegel. Sie ist eine notwendige Konsequenz seiner Methode, die er selbst aber in dieser Ausdrücklichkeit nie gezogen hat. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil er genötigt war, ein System zu machen, und ein System der Philosophie muß nach den hergebrachten Anforderungen mit irgendeiner Art von absoluter Wahrheit abschließen. Sosehr also auch Hegel, namentlich in der „Logik", betont, daß diese ewige Wahrheit nichts anderes ist als der logische, resp. der geschichtliche Prozeß selbst, so sieht er sich doch selbst gezwungen, diesem Prozeß ein Ende zu geben, weil er eben mit seinem System irgendwo zu Ende kommen muß. In der „Logik" kann er dies Ende wieder zum Anfang machen, indem hier der Schlußpunkt, die absolute Idee - die nur insofern absolut ist, als er absolut nichts von ihr zu sagen weiß - sich in die Natur „entäußert", d.h. verwandelt, und später im Geist, d.h. im Denken und in der Geschichte, wieder zu sich selbst kommt. Aber am Schluß der ganzen Philosophie ist ein ähnlicher Rückschlag in den Anfang nur auf Einem Weg möglich. Nämlich indem man das Ende der Geschichte darin setzt, daß die Menschheit zur Erkenntnis eben dieser absoluten Idee kommt, und erklärt, daß diese Erkenntnis der absoluten Idee in der Hegeischen Philosophie erreicht ist. Damit wird aber der ganze dogmatische Inhalt des Hegeischen Systems für die absolute Wahrheit erklärt, im Widerspruch mit seiner dialektischen, alles Dogmatische auflösenden Methode; damit wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen. Und was von der philoso
phischen Erkenntnis, gilt auch von der geschichtlichen Praxis. Die Menschheit, die es, in der Person Hegels, bis zur Herausarbeitung der absoluten Idee gebracht hat, muß auch praktisch so weit gekommen sein, daß sie diese absolute Idee in der Wirklichkeit durchführen kann. Die praktischen politischen Forderungen der absoluten Idee an die Zeitgenossen dürfen also nicht zu hoch gespannt sein. Und so finden wir am Schluß der „Rechtsphilosophie", daß die absolute Idee sich verwirklichen soll in derjenigen ständischen Monarchie, die Friedrich Wilhelm III. seinen Untertanen so hartnäckig vergebens versprach, also in einer den deutschen kleinbürgerlichen Verhältnissen von damals angemessenen, beschränkten und gemäßigten, indirekten Herrschaft der besitzenden Klassen; wobei uns noch die Notwendigkeit des Adels auf spekulativem Wege demonstriert wird. Die innern Notwendigkeiten des Systems reichen also allein hin, die Erzeugung einer sehr zahmen politischen Schlußfolgerung, vermittelst einer durch und durch revolutionären Denkmethode, zu erklären. Die spezifische Form dieser Schlußfolgerung rührt allerdings davon her, daß Hegel ein Deutscher war und ihm wie seinem Zeitgenossen Goethe ein Stück Philisterzopfs hinten hing. Goethe wie Hegel waren jeder auf seinem Gebiet ein olympischer Zeus, aber den deutschen Philister wurden beide nie ganz los. Alles dies hinderte jedoch das Hegeische System nicht, ein unvergleichlich größeres Gebiet zu umfassen als irgendein früheres System und auf diesem Gebiet einen Reichtum des Gedankens zu entwickeln, der noch heute in Erstaunen setzt. Phänomenologie des Geistes (die man eine Parallele der Embryologie und der Paläontologie des Geistesnennen könnte, eine Entwicklung des individuellen Bewußtseins durch seine verschiedenen Stufen, gefaßt als abgekürzte Reproduktion der Stufen, die das Bewußtsein der Menschen geschichtlich durchgemacht), Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, und diese letztere wieder in ihren einzelnen geschichtlichen Unterformen ausgearbeitet: Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion, Geschichte der Philosophie, Ästhetik usw. - auf allen diesen verschiednen geschichtlichen Gebieten arbeitet Hegel daran, den durchgehenden Faden der Entwicklung aufzufinden und nachzuweisen; und da er nicht nur ein schöpferisches Genie war, sondern auch ein Mann von enzyklopädischer Gelehrsamkeit, so tritt er überall epochemachend auf. Es versteht sich von selbst, daß kraft der Notwendigkeiten des „Systems" er hier oft genug zu jenen gewaltsamen Konstruktionen seine Zuflucht nehmen muß, von denen seine zwerghaften Anfeinder bis heute ein so entsetzliches Geschrei machen. Aber diese Konstruktionen sind nur der Rahmen und das Baugerüst seines Werks; hält man sich hierbei nicht unnötig auf, dringt
man tiefer ein in den gewaltigen Bau, so findet man ungezählte Schätze, die auch heute noch ihren vollen Wert behaupten. Bei allen Philosophen ist grade das „System" das Vergängliche, und zwar grade deshalb, weil es aus einem unvergänglichen Bedürfnis des Menschengeistes hervorgeht: dem Bedürfnis der Überwindung aller Widersprüche. Sind aber alle Widersprüche ein für allemal beseitigt, so sind wir bei der sogenannten absoluten Wahrheit angelangt, die Weltgeschichte ist zu Ende, und doch soll sie fortgehn, obwohl ihr nichts mehr zu tun übrigbleibt - also ein neuer, unlösbarer Widerspruch. Sobald wir einmal eingesehn haben - und zu dieser Einsicht hat uns schließlich niemand mehr verholfen als Hegel selbst -, daß die so gestellte Aufgabe der Philosophie weiter nichts heißt als die Aufgabe, daß ein einzelner Philosoph das leisten soll, was nur die gesamte Menschheit in ihrer fortschreitenden Entwicklung leisten kann - sobald wir das einsehn, ist es auch am Ende mit der ganzen Philosophie im bisherigen Sinn des Worts. Man läßt die auf diesem Weg und für jeden einzelnen unerreichbare „absolute Wahrheit" laufen und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem Weg der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittelst des dialektischen Denkens. Mit Hegel schließt die Philosophie überhaupt ab; einerseits weil er ihre ganze Entwicklung in seinem System in der großartigsten Weise zusammenfaßt, anderseits weil er uns, wenn auch unbewußt, den Weg zeigt aus diesem Labyrinth der Systeme zur wirklichen positiven Erkenntnis der Welt. Man begreift, welch ungeheure Wirkung dies Hegeische System in der philosophisch gefärbten Atmosphäre Deutschlands hervorbringen mußte. Es war ein Triumphzug, der Jahrzehnte dauerte und mit dem Tod Hegels keineswegs zur Ruhe kam. Im Gegenteil, grade von 1830 bis 1840 herrschte die „Hegelei" am ausschließlichsten und hatte selbst ihre Gegner mehr oder weniger angesteckt; grade in dieser Zeit drangen Hegeische Anschauungen am reichlichsten, bewußt oder unbewußt, in die verschiedensten Wissenschaften ein und durchsäuerten auch die populäre Literatur und die Tagespresse, aus denen das gewöhnliche „gebildete Bewußtsein" seinen Gedankenstoff bezieht. Aber dieser Sieg auf der ganzen Linie war nur das Vorspiel eines innern Kampfs. Die Gesamtlehre Hegels Keß, wie wir gesehn, reichlichen Raum für die Unterbringung der verschiedensten praktischen Parteianschauungen; und praktisch waren im damaligen theoretischen Deutschland vor allem zwei Dinge: die Religion und die Politik. Wer das Hauptgewicht auf das System Hegels legte, konnte auf beiden Gebieten ziemlich konservativ sein; wer in der dialektischen Methode die Hauptsache sah, konnte religiös wie politisch
zur äußersten Opposition gehören. Hegel selbst schien, trotz der ziemlich häufigen revolutionären Zornesausbrüche in seinen Werken, im ganzen mehr zur konservativen Seite zu neigen; hatte ihm doch sein System weit mehr „saure Arbeit des Gedankens" gekostet als seine Methode. Gegen Ende der dreißiger Jahre trat die Spaltung in der Schule mehr und mehr hervor. Der linke Flügel, die sogenannten Junghegelianer, gaben im Kampf mit pietistischen Orthodoxen und feudalen Reaktionären ein Stück nach dem andern auf von jener philosophisch-vornehmen Zurückhaltung gegenüber den brennenden Tagesfragen, die ihrer Lehre bisher staatliche Duldung und sogar Protektion gesichert hatte; und als gar 1840 die orthodoxe Frömmelei und diefeudal-absolutistische Reaktion mit Friedrich WilhelmlV. den Thron bestiegen, wurde offne Parteinahme unvermeidlich. Der Kampf wurde noch mit philosophischen Waffen geführt, aber nicht mehr um abstrakt-philosophische Ziele; es handelte sich direkt um Vernichtung der überlieferten Religion und des bestehenden Staats. Und wenn in den „Deutschen Jahrbüchern"[2501 die praktischen Endzwecke noch vorwiegend in philosophischer Verkleidung auftraten, so enthüllte sich die junghegelsche Schule in der „Rheinischen Zeitung"[2511 von 1842 direkt als die Philosophie der aufstrebenden radikalen Bourgeoisie und brauchte das philosophische Deckmäntelchen nur noch zur Täuschung der Zensur. Die Politik war aber damals ein sehr dorniges Gebiet, und so wandte sich der Hauptkampf gegen die Religion; dies war ja, namentlich seit 1840, indirekt auch ein politischer Kampf. Den ersten Anstoß hatte Strauß' „Leben Jesu" 1835 gegeben. Der hierin entwickelten Theorie der evangelischen Mythenbildung trat später Bruno Bauer mit dem Nachweis gegenüber, daß eine ganze Reihe evangelischer Erzählungen von den Verfassern selbst fabriziert worden. Der Streit zwischen beiden wurde geführt in der philosophischen Verkleidung eines Kampfes des „Selbstbewußtseins" gegen die „Substanz", die Frage, ob die evangelischen Wundergeschichten durch bewußtlos-traditionelle Mythenbildung im Schoß der Gemeinde entstanden oder ob sie von den Evangelisten selbst fabriziert seien, wurde aufgebauscht zu der Frage, ob in der Weltgeschichte die „Substanz" oder das „Selbstbewußtsein" die entscheidend wirkende Macht sei; und schließlich kam Stirner, der Prophet des heutigen Anarchismus - Bakunin hat sehr viel aus ihm genommen - und übergipfelte das souveräne „Selbstbewußtsein" durch seinen souveränen „Einzigen". Wir gehn auf diese Seite des Zersetzungsprozesses der Hegeischen Schule nicht weiter ein. Wichtiger für uns ist dies: Die Masse der entschiedensten Junghegelianer wurde durch die praktischen Notwendigkeiten ihres Kampfs
gegen die positive Religion auf den englisch-französischen Materialismus zurückgedrängt. Und hier kamen sie in Konflikt mit ihrem Schulsystem. Während der Materialismus die Natur als das einzig Wirkliche auffaßt, stellt diese im Hegeischen System nur die „Entäußerung" der absoluten Idee vor, gleichsam eine Degradation der Idee; unter allen Umständen ist hier das Denken und sein Gedankenprodukt, die Idee, das Ursprüngliche, die Natur das Abgeleitete, das nur durch die Herablassung der Idee überhaupt existiert. Und in diesem Widerspruch trieb man sich herum, so gut und so schlecht es gehn wollte. Da kam Feuerbachs „Wesen des Christenthums". Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unseres eignen Wesens. Der Bann war gebrochen; das „System" war gesprengt und beiseite geworfen, der Widerspruch war, als nur in der Einbildung vorhanden, aufgelöst. - Man muß die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer. Wie enthusiastisch Marx die neue Auffassung begrüßte und wie sehr er - trotz aller kritischen Vorbehalte - von ihr beeinflußt wurde, kann man in der „Heiligen Familie"1 lesen. Selbst die Fehler des Buchs trugen zu seiner augenblicklichen Wirkung bei. Der belletristische, stellenweise sogar schwülstige Stil sicherte ein größeres Publikum und war immerhin eine Erquickung nach den langen Jahren abstrakter und abstruser Hegelei. Dasselbe gilt von der überschwenglichen Vergötterung der Liebe, die gegenüber der unerträglich gewordnen Souveränität des „reinen Denkens" eine Entschuldigung, wenn auch keine Berechtigung fand. Was wir aber nicht vergessen dürfen: Grade an diese beiden Schwächen Feuerbachs knüpfte der seit 1844 sich im „gebildeten" Deutschland wie eine Seuche verbreitende „wahre Sozialismus"[252] an, der an die Stelle der wissenschaftlichen Erkenntnis die belletristische Phrase, an die Stelle der Emanzipation des Proletariats durch die ökonomische Umgestaltung der Produktion die Befreiung der Menschheit vermittelst der „Liebe" setzte, kurz, sich in die widerwärtige Belletristik und Liebesschwüligkeit verlief, deren Typus Herr Karl Grün war.
Was fernerhin nicht zu vergessen: Die Hegeische Schule war aufgelöst, aber die Hegeische Philosophie war nicht kritisch überwunden. Strauß und Bauer nahmen jeder eine ihrer Seiten heraus und kehrten sie polemisch gegen die andre. Feuerbach durchbrach das System und warf es einfach beiseite. Aber man wird nicht mit einer Philosophie fertig dadurch, daß man sie einfach für falsch erklärt. Und ein so gewaltiges Werk wie die Hegeische Philosophie, die einen so ungeheuren Einfluß auf die geistige Entwicklung der Nation gehabt, ließ sich nicht dadurch beseitigen, daß man sie kurzerhand ignorierte. Sie mußte in ihrem eigenen Sinn „aufgehoben" werden, d.h. in dem Sinn, daß ihre Form kritisch vernichtet, der durch sie gewonnene neue Inhalt aber gerettet wurde. Wie dies geschah, davon weiter unten. Einstweilen schob die Revolution von 1848 jedoch die gesamte Philosophie ebenso ungeniert beiseite wie Feuerbach seinen Hegel. Und damit wurde auch Feuerbach selbst in den Hintergrund gedrängt.
18 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
II
Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein. Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen*, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Tode verlassenden Seele - seit dieser Zeit mußten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußern Welt sich Gedanken machen. Wenn sie im Tod sich vom Körper trennte, fortlebte, so lag kein Anlaß vor, ihr noch einen besondren Tod anzudichten; so entstand die Vorstellung von ihrer Unsterblichkeit, die auf jener Entwicklungsstufe keineswegs als ein Trost erscheint, sondern als ein Schicksal, wogegen man nicht ankann, und oft genug, wie bei den Griechen, als ein positives Unglück. Nicht das religiöse Trostbedürfnis, sondern die aus gleich allgemeiner Beschränktheit hervorwachsende Verlegenheit, was mit der einmal angenommenen Seele, nach dem Tod des Körpers, anzufangen, führte allgemein zu der langweiligen Einbildung von der persönlichen Unsterblichkeit. Auf ganz ähnlichem Weg entstanden, durch Personifikation der Naturmächte, die ersten Götter, die in der weitern Ausbildung der Religionen eine mehr und mehr außerweltliche Gestalt annahmen, bis endlich durch einen im Verlauf der geistigen Entwicklung sich naturgemäß einstellenden Abstraktions-, ich möchte fast sagen Destillationsprozeß aus den vielen, mehr oder minder beschränkten und sich gegenseitig beschränkenden Göttern die Vorstellung von dem einen ausschließlichen
* Noch heute ist bei Wilden und niedem Barbaren die Vorstellung allgemein, daß die im Traum erscheinenden menschlichen Gestalten Seelen seien, die zeitweilig den Körper verlassen; der wirkliche Mensch wird daher auch für die Handlungen verantwortlich gehalten, die seine Traumerscheinung gegenüber dem Träumenden begangen. So fand es z.B. im Thum 1884 bei den Indianern in Guyana.'253'
Gott der monotheistischen Religionen in den Köpfen der Menschen entstand. Die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur, die höchste Frage der gesamten Philosophie hat also, nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den bornierten und unwissenden Vorstellungen des Wildheitszustands. Aber in ihrer vollen Schärfe konnte sie erst gestellt werden, ihre ganze Bedeutung konnte sie erst erlangen, als die europäische Menschheit aus dem langen Winterschlaf des christlichen Mittelalters erwachte. Die Frage nach der Stellung des Denkens zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik des Mittelalters ihre große Rolle gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? - diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da? Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen - und diese Schöpfung ist oft bei den Philosophen, z.B. bei Hegel, noch weit verzwickter und unmöglicher als im Christentum -, bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus. Etwas andres als dies bedeuten die beiden Ausdrücke: Idealismus und Materialismus ursprünglich nicht, und in einem andern Sinne werden sie hier auch nicht gebraucht. Welche Verwirrung entsteht, wenn man etwas andres in sie hineinträgt, werden wir unten sehn. Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein hat aber noch eine andre Seite: Wie verhalten sich unsre Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen? Diese Frage heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der Identität von Denken und Sein und wird von der weitaus größten Zahl der Philosophen bejaht. Bei Hegel z. B. versteht sich ihre Bejahung von selbst: denn das, was wir in der wirklichen Welt erkennen, ist eben ihr gedankenmäßiger Inhalt, dasjenige, was die Welt zu einer stufenweisen Verwirklichung der absoluten Idee macht, welche absolute Idee von Ewigkeit her, unabhängig von der Welt und vor der Welt, irgendwo existiert hat; daß aber das Denken einen Inhalt erkennen kann, der schon von vornherein Gedankeninhalt ist, leuchtet ohne weitres ein. Ebensosehr leuchtet ein, daß
hier das zu Beweisende im stillen schon in der Voraussetzung enthalten ist. Das hindert aber Hegel keineswegs, aus seinem Beweis der Identität von Denken und Sein den weitern Schluß zu ziehen, daß seine Philosophie, weil für sein Denken richtig, nun auch die einzig richtige ist und daß die Identität von Denken und Sein sich darin zu bewähren hat, daß die Menschheit sofort seine Philosophie aus der Theorie in die Praxis übersetzt und die ganze Welt nach Hegeischen Grundsätzen umgestaltet. Es ist dies eine Illusion, die er so ziemlich mit allen Philosophen teilt. Daneben gibt es aber noch eine Reihe andrer Philosophen, die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten. Zu ihnen gehören unter den neueren Hume und Kant, und sie haben eine sehr bedeutende Rolle in der philosophischen Entwicklung gespielt. Das Entscheidende zur Widerlegung dieser Ansicht ist bereits von Hegel gesagt, soweit dies vom idealistischen Standpunkt möglich war; was Feuerbach Materialistisches hinzugefügt, ist mehr geistreich als tief. Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfaßbaren „Ding an sich" zu Ende. Die im pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten chemischen Stoffe blieben solche „Dinge an sich", bis die organische Chemie sie einen nach dem andern darzustellen anfing; damit wurde das „Ding an sich" ein Ding für uns, wie z.B. der Farbstoff des Krapps, das Alizarin, das wir nicht mehr auf dem Felde in den Krappwurzeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfacher herstellen. Das kopernikanische Sonnensystem war dreihundert Jahre lang eine Hypothese, auf die hundert, tausend, zehntausend gegen eins zu wetten war, aber doch immer eine Hypothese; als aber Leverrier aus den durch dies System gegebenen Daten nicht nur die Notwendigkeit der Existenz eines unbekannten Planeten, sondern auch den Ort berechnete, wo dieser Planet am Himmel stehn müsse, undals Galle dann diesen Planeten12541 wirklich fand, da war das kopernikanische System bewiesen. Wenn dennoch die Neubelebung der Kantschen Auffassung in Deutschland durch die Neukantianer und der Humeschen in England (wo sie nie ausgestorben) durch die Agnostiker versucht wird, so ist das, der längst erfolgten theoretischen und praktischen Widerlegung gegenüber, wissenschaftlich ein Rückschritt und praktisch nur eine verschämte Weise, den Materieiiismus hinterrücks zu akzeptieren und vor der Welt zu verleugnen.
Die Philosophen wurden aber in dieser langen Periode von Descartes bis Hegel und von Hobbes bis Feuerbach keineswegs, wie sie glaubten, allein durch die Kraft des reinen Gedankens vorangetrieben. Im Gegenteil. Was sie in Wahrheit vorantrieb, das war namentlich der gewaltige und immer schneller voranstürmende Fortschritt der Naturwissenschaft und der Industrie. Bei den Materialisten zeigte sich dies schon auf der Oberfläche, aber auch die idealistischen Systeme erfüllten sich mehr und mehr mit materialistischem Inhalt und suchten den Gegensatz von Geist und Materie pantheistisch zu versöhnen; so daß schließlich das Hegeische System nur einen nach Methode und Inhalt idealistisch auf den Kopf gestellten Materialismus repräsentiert. Es ist hiermit begreiflich, daß Starcke in seiner Charakteristik Feuerbachs zunächst dessen Stellung zu dieser Grundfrage über das Verhältnis von Denken und Sein untersucht. Nach einer kurzen Einleitung, worin die Auffassüng der frühern Philosophen, namentlich seit Kant, in unnötig philosophisch-schwerfälliger Sprache geschildert wird und wobei Hegel durch allzu formalistisches Festhalten an einzelnen Stellen seiner Werke sehr zu kurz kommt, folgt eine ausführliche Darstellung des Entwicklungsgangs der Feuerbachschen „Metaphysik" selbst, wie er sich aus der Reihenfolge der betreffenden Schriften dieses Philosophen ergibt. Diese Darstellung ist fleißig und übersichtlich gearbeitet, nur wie das ganze Buch mit einem keineswegs überall unvermeidlichen Ballast philosophischer Ausdrucksweise beschwert, der um so störender wirkt, je weniger sich der Verfasser an die Ausdrucksweise einer und derselben Schule, oder auch Feuerbachs selbst hält, und je mehr er Ausdrücke der verschiedensten, namentlich der jetzt grassierenden, sich philosophisch nennenden Richtungen hineinmengt. Der Entwicklungsgang Feuerbachs ist der eines - freilich nie ganz orthodoxen - Hegelianers zum Materialismus hin, eine Entwicklung, die auf einer bestimmten Stufe einen totalen Bruch mit dem idealistischen System seines Vorgängers bedingt. Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt sich ihm schließlich die Einsicht auf, daß die Hegeische vorweltliche Existenz der „absoluten Idee", die „Präexistenz der logischen Kategorien", ehe denn die Welt war, weiter nichts ist als ein phantastischer Überrest des Glaubens an einen außerweltlichen Schöpfer; daß die stoffliche, sinnlich wahrnehmbare Welt, zu der wir selbst gehören, das einzig Wirkliche, und daß unser Bewußtsein und Denken, so übersinnlich es scheint, das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organs, des Gehirns ist. Die Materie ist nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern der Geist ist selbst nur das höchste Produkt
der Materie. Dies ist natürlich reiner Materialismus. Hier angekommen, stutzt Feuerbach. Er kann das gewohnheitsmäßige, philosophische Vorurteil nicht überwinden, das Vorurteil nicht gegen die Sache, sondern gegen den Namen des Materialismus. Er sagt: „Der Materialismus ist für mich die Grundlage des Gebäudes des menschlichen Wesens und Wissens; aber er ist für mich nicht, was er für den Physiologen, den Naturforscher im engem Sinn, z.B. Moleschott ist, und zwar notwendig von ihrem Standpunkt und Beruf aus ist, das Gebäude selbst. Rückwärts stimme ich den Materialisten vollkommen bei, aber nicht vorwärts."1®651 Feuerbach wirft hier den Materialismus, der eine auf einer bestimmten Auffassung des Verhältnisses von Materie und Geist beruhende allgemeine Weltanschauung ist, zusammen mit der besondern Form, worin diese Weltanschauung auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe, nämlich im 18. Jahrhundert, zum Ausdruck kam. Noch mehr, er wirft ihn zusammen mit der verflachten, vulgarisierten Gestalt, worin der Materialismus des 18. Jahrhunderts heute in den Köpfen von Naturforschern und Ärzten fortexistiert und in den fünfziger Jahren von Büchner, Vogt und Moleschott gereisepredigt wurde. Aber wie der Idealismus eine Reihe von Entwicklungsstufen durchlief, so auch der Materialismus. Mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet muß er seine Form ändern; und seitdem auch die Geschichte der materialistischen Behandlung unterworfen, eröffnet sich auch hier eine neue Bahn der Entwicklung. Der Materialismus des vorigen Jahrhunderts war vorwiegend mechanisch, weil von allen Naturwissenschaften damals nur die Mechanik, und zwar auch nur die der - himmlischen und irdischen - festen Körper, kurz, die Mechanik der Schwere, zu einem gewissen Abschluß gekommen war. Die Chemie existierte nur erst in ihrer kindlichen, phlogistischen Gestalt. Die Biologie lag noch in den Windeln; der pflanzliche und tierische Organismus war nur im groben untersucht und wurde aus rein mechanischen Ursachen erklärt; wie dem Descartes das Tier, war den Materialisten des 18. Jahrhunderts der Mensch eine Maschine. Diese ausschließliche Anwendung des Maßstabs der Mechanik auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind und bei denen die mechanischen Gesetze zwar auch gelten, aber von andern, höhern Gesetzen in den Hintergrund gedrängt werden, bildet die eine spezifische, aber ihrer Zeit unvermeidliche Beschränktheit des klassischen französischen Materialismus. Die zweite spezifische Beschränktheit dieses Materialismus bestand in seiner Unfähigkeit, die Welt als einen Prozeß, als einen in einer geschieht
liehen Fortbildung begriffenen Stoff aufzufassen. Dies entsprach dem damaligen Stand der Naturwissenschaft und der damit zusammenhängenden metaphysischen, d.h. antidialektischen Weise des Philosophierens. Die Natur, das wußte man, war in ewiger Bewegung begriffen. Aber diese Bewegung drehte sich nach damaliger Vorstellung ebenso ewig im Kreise und kam daher nie vom Fleck; sie erzeugte immer wieder dieselben Ergebnisse. Diese Vorstellung war damals unvermeidlich. Die Kantsche Theorie von der Entstehung des Sonnensystems war erst soeben aufgestellt und passierte nur noch als bloßes Kuriosum. Die Geschichte der Entwicklung der Erde, die Geologie, war noch total unbekannt, und die Vorstellung, daß die heutigen belebten Naturwesen das Ergebnis einer langen Entwicklungsreihe vom Einfachen zum Komplizierten sind, konnte damals wissenschaftlich überhaupt nicht aufgestellt werden. Die unhistorische Auffassung der Natur war also unvermeidlich. Man kann den Philosophen des 18. Jahrhunderts daraus um so weniger einen Vorwurf machen, als sie sich auch bei Hegel findet. Bei diesem ist die Natur, als bloße „Entäußerung" der Idee, keiner Entwicklung in der Zeit fähig, sondern nur einer Ausbreitung ihrer Mannigfaltigkeit im Raum, so daß sie alle in ihr einbegriffnen Entwicklungsstufen gleichzeitig und nebeneinander ausstellt und zu ewiger Wiederholung stets derselben Prozesse verdammt ist. Und diesen Widersinn einer Entwicklung im Raum, aber außer der Zeit - der Grundbedingung aller Entwicklung bürdet Hegel der Natur auf grade zu derselben Zeit, wo die Geologie, die Embryologie, die pflanzliche und tierische Physiologie und die organische Chemie ausgebildet wurden und wo überall auf Grundlage dieser neuen Wissenschaften geniale Vorahnungen der spätem Entwicklungstheorie auftauchten (z.B. Goethe und Lamarck). Aber das System erforderte es so, und so mußte die Methode, dem System zulieb, sich selbst untreu werden.
Dieselbe unhistorische Auffassung galt auch auf dem Gebiet der Geschichte. Hier hielt der Kampf gegen die Reste des Mittelalters den Blick befangen. Das Mittelalter galt als einfache Unterbrechung der Geschichte durch tausendjährige allgemeine Barbarei; die großen Fortschritte des Mittelalters - die Erweiterung des europäischen Kulturgebiets, die lebensfähigen großen Nationen, die sich dort nebeneinander gebildet, endlich die enormen technischen Fortschritte des 14. und 15. Jahrhunderts -, alles das sah man nicht. Damit war aber eine rationelle Einsicht in den großen geschichtlichen Zusammenhang unmöglich gemacht, und die Geschichte diente höchstens als eine Sammlung von Beispielen und Illustrationen zum Gebrauch der Philosophen.
Die vulgarisierenden Hausierer, die in den fünfziger Jahren in Deutschland in Materialismus machten, kamen in keiner Weise über diese Schranke ihrer Lehrer hinaus. Alle seitdem gemachten Fortschritte der Naturwissenschaft dienten ihnen nur als neue Beweisgründe gegen die Existenz des Weltschöpfers; und in der Tat lag es ganz außerhalb ihres Geschäfts, die Theorie weiterzuentwickeln. War der Idealismus am Ende seines Lateins und durch die Revolution von 1848 auf den Tod getroffen, so erlebte er die Genugtuung, daß der Materialismus momentan noch tiefer heruntergekommen war. Feuerbach hatte entschieden recht, wenn er die Verantwortung für diesen Materialismus ablehnte; nur durfte er die Lehre der Reiseprediger nicht verwechseln mit dem Materialismus überhaupt. Indes ist hier zweierlei zu bemerken. Erstens war auch zu Feuerbachs Lebzeiten die Naturwissenschaft noch in jenem heftigen Gärungsprozeß begriffen, der erst in den letzten fünfzehn Jahren einen klärenden, relativen Abschluß erhalten hat; es wurde neuer Erkenntnisstoff in bisher unerhörtem Maß geliefert, aber die Herstellung des Zusammenhangs und damit der Ordnung in diesem Chaos sich überstürzender Entdeckungen ist erst ganz neuerdings möglich geworden. Zwar hat Feuerbach die drei entscheidenden Entdeckungen - die der Zelle, der Verwandlung der Energie und der nach Darwin benannten Entwicklungstheorie - noch alle erlebt. Aber wie sollte der einsame Philosoph auf dem Lande die Wissenschaft hinreichend verfolgen können, um Entdeckungen vollauf zu würdigen, die die Naturforscher selbst damals teils noch bestritten, teils nicht hinreichend auszubeuten verstanden? Die Schuld fällt hier einzig auf die erbärmlichen deutschen Zustände, kraft deren die Lehrstühle der Philosophie von spintisierenden eklektischen Flohknackern in Beschlag genommen wurden, während Feuerbach, der sie alle turmhoch überragte, in einem kleinen Dorf verbauern und versauern mußte. Es ist also nicht Feuerbachs Schuld, wenn die jetzt möglich gewordne, alle Einseitigkeiten des französischen Materialismus entfernende, historische Naturauffassung ihm unzugänglich blieb. Zweitens aber hat Feuerbach darin ganz recht, daß der bloß naturwissenschaftliche Materialismus zwar die „Grundlage des Gebäudes des menschlichen Wissens ist, aber nicht das Gebäude selbst". Denn wir leben nicht nur in der Natur, sondern auch in der menschlichen Gesellschaft, und auch diese hat ihre Entwicklungsgeschichte und ihre Wissenschaft nicht minder als die Natur. Es handelte sich also darum, die Wissenschaft von der Gesellschaft, d.h. den Inbegriff der sogenannten historischen und philosophischen Wissenschaften, mit der materialistischen
Grundlage in Einklang zu bringen und auf ihr zu rekonstruieren. Dies aber war Feuerbach nicht vergönnt. Hier blieb er, trotz der „Grundlage", in den überkommnen idealistischen Banden befangen, und dies erkennt er an mit den Worten: „Rückwärts stimme ich den Materialisten bei, aber nicht vorwärts." Wer aber hier, auf dem gesellschaftlichen Gebiet, nicht „vorwärts "kam, nicht über seinen Standpunkt von 1840 oder 1844 hinaus, das war Feuerbach selbst, und zwar wiederum hauptsächlich infolge seiner Verödung, die ihn zwang, Gedanken aus seinem einsamen Kopf zu produzieren - ihn, der vor allen andern Philosophen auf geselligen Verkehr veranlagt war - statt im freundlichen und feindlichen Zusammentreffen mit andern Menschen seines Kalibers. Wie sehr er auf diesem Gebiet Idealist bleibt, werden wir später im einzelnen sehn. Hier ist nur noch zu bemerken, daß Starcke den Idealismus Feuerbachs am unrechten Ort sucht. „Feuerbach ist Idealist, er glaubt an den Fortschritt der Menschheit." (S.19.) „Die Grundlage, der Unterbau des Ganzen, bleibt nichtsdestoweniger der Idealismus. Der Realismus ist für uns nichts weiter als ein Schütz gegen Irrwege, während wir unsern idealen Strömungen folgen. Sind nicht Mitleid, Liebe und Begeisterung für Wahrheit und Recht ideale Mächte?" (S. VIII.) Erstens heißt hier Idealismus nichts andres als Verfolgung idealer Ziele. Diese aber haben notwendig zu tun höchstens mit dem Kantschen Idealismus und seinem „kategorischen Imperativ"; aber selbst Kant nannte seine Philosophie „transzendentalen Idealismus", keineswegs, weil es sich darin auch um sittliche Ideale handelt, sondern aus ganz andren Gründen, wie Starcke sich erinnern wird. Der Aberglaube, daß der philosophische Idealismus sich um den Glauben an sittliche, d.h. gesellschaftliche Ideale drehe, ist entstanden außerhalb der Philosophie, beim deutschen Philister, der die ihm nötigen wenigen philosophischen Bildungsbrocken in Schillers Gedichten auswendig lernt. Niemand hat den ohnmächtigen Kantschen „kategorischen Imperativ" - ohnmächtig, weil er das Unmögliche fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt - schärfer kritisiert, niemand die durch Schiller vermittelte Philisterschwärmerei für unrealisierbare Ideale grausamer verspottet (siehe z.B. die „Phänomenologie") als grade der vollendete Idealist Hegel. Zweitens aber ist es nun einmal nicht zu vermeiden, daß alles, was einen Menschen bewegt, den Durchgang durch seinen Kopf machen muß - sogar Essen und Trinken, das infolge von vermittelst des Kopfs empfundnem
Hunger und Durst begonnen und infolge von ebenfalls vermittelst des Kopfs empfundner Sättigung beendigt wird. Die Einwirkungen der Außenwelt auf den Menschen drücken sich in seinem Kopf aus, spiegeln sich darin ab als Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensbestimmungen, kurz, als „ideale Strömungen", und werden in dieser Gestalt zu „idealen Mächten". Wenn nun der Umstand, daß dieser Mensch überhaupt „idealen Strömungen" folgt und „idealen Mächten" einen Einfluß auf sich zugesteht - wenn dies ihn zum Idealisten macht, so ist jeder einigermaßen normal entwickelte Mensch ein geborner Idealist, und wie kann es da überhaupt noch Materialisten geben? Drittens hat die Überzeugung, daß die Menschheit, augenblicklich wenigstens, sich im ganzen und großen in fortschreitender Richtung bewegt, absolut nichts zu tun mit dem Gegensatz von Materialismus und Idealismus. Die französischen Materialisten hatten diese Überzeugung in fast fanatischem Grad, nicht minder als die Deisten[2561 Voltaire und Rousseau, und brachten ihr oft genug die größten persönlichen.Opfer. Wenn irgend jemand der „Begeisterung für Wahrheit und Recht" - die Phrase im guten Sinn genommen - das ganze Leben weihte, so war es z.B. Diderot. Wenn also Starcke dies alles für Idealismus erklärt, so beweist dies nur, daß das Wort Materialismus und der ganze Gegensatz beider Richtungen für ihn hier allen Sinn verloren hat. Die Tatsache ist, daß Starcke hier dem von der langjährigen Pfaffenverlästerung her überkommenen Philistervorurteil gegen den Namen Materialismus eine unverzeihliche Konzession macht - wenn auch vielleicht unbewußt. Der Philister versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz, alle die schmierigen Laster, denen er selbst im stillen frönt; und unter Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe und überhaupt eine „bessere Welt", womit er vor andern renommiert, woran er selbst aber höchstens glaubt, solange er den auf seine gewohnheitsmäßigen „materialistischen" Exzesse notwendig folgenden Katzenjammer oder Bankerott durchzumachen pflegt und dazu sein Lieblingslied singt: Was ist der Mensch - halb Tier, halb Engel. Im übrigen gibt sich Starcke viel Mühe, Feuerbach gegen die Angriffe und Lehrsätze der sich heute unter dem Namen Philosophen in Deutschland breitmachenden Dozenten zu verteidigen. Für Leute, die sich für diese Nachgeburt der klassischen deutschen Philosophie interessieren, ist das gewiß wichtig; für Starcke selbst mochte dies notwendig scheinen. Wir verschonen den Leser damit.
III
Der wirkliche Idealismus Feuerbachs tritt zutage, sobald wir auf seine Religionsphilosophie und Ethik kommen. Er will die Religion keineswegs abschaffen, er will sie vollenden. Die Philosophie selbst soll aufgehn in Religion. „Die Perioden der Menschheit unterscheiden sich nur durch religiöse Veränderungen. Nur da geht eine geschichtliche Bewegung auf den Grund ein, wo sie auf das Herz des Menschen eingeht. Das Herz ist nicht eine Form der Religion, so daß sie auch im Herzen sein sollte; es ist das Wesen der Religion." (Zitiert bei Starcke, S.I68.) Religion ist nach Feuerbach das Gefühlsverhältnis, das Herzensverhältnis zwischen Mensch und Mensch, das bisher in einem phantastischen Spiegelbild der Wirklichkeit - in der Vermittlung durch einen oder viele Götter, phantastische Spiegelbilder menschlicher Eigenschaften - seine Wahrheit suchte, jetzt aber in der Liebe zwischen Ich und Du sie direkt und ohne Vermittlung findet. Und so wird bei Feuerbach schließlich die Geschlechtsliebe eine der höchsten, wenn nicht die höchste Form der Ausübung seiner neuen Religion. Nun haben Gefühlsverhältnisse zwischen den Menschen, namentlich auch zwischen beiden Geschlechtern bestanden, solange es Menschen gibt. Die Geschlechtshebe speziell hat in den letzten achthundert Jahren eine Ausbildung erhalten und eine Stellung erobert, die sie während dieser Zeit zum obligatorischen Drehzapfen aller Poesie gemacht hat. Die bestehenden positiven Religionen haben sich darauf beschränkt, der staatlichen Regelung der Geschlechtsliebe, d.h. der Ehegesetzgebung, die höhere Weihe zu geben, und können morgen sämtlich verschwinden, ohne daß an der Praxis von Liebe und Freundschaft das Geringste geändert wird. Wie die christliche Religion denn auch in Frankreich von 1793 bis 1798 faktisch so sehr verschwunden war, daß selbst Napoleon sie nicht ohne Widerstreben und Schwierigkeit wieder einführen konnte, ohne daß jedoch während des
Zwischenraums das Bedürfnis nach einem Ersatz im Sinn Feuerbachs hervortrat. Der Idealismus besteht hier bei Feuerbach darin, daß er die auf gegenseitiger Neigung beruhenden Verhältnisse der Menschen zueinander, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Mitleid, Aufopferung usw., nicht einfach als das gelten läßt, was sie ohne Rückerinnerung an eine, auch für ihn der Vergangenheit angehörige, besondre Religion aus sich selbst sind, sondern behauptet, sie kämen erst zu ihrer vollen Geltung, sobald man ihnen eine höhere Weihe gibt durch den Namen Religion. Die Hauptsache für ihn ist nicht, daß diese rein menschlichen Beziehungen existieren, sondern daß sie als die neue, wahre Religion aufgefaßt werden. Sie sollen für voll gelten, erst wenn sie religiös abgestempelt sind. Religion kommt her von religare und heißt ursprünglich Verbindung. Also ist jede Verbindung zweier Menschen eine Religion. Solche etymologische Kunststücke bilden das letzte Auskunftsmittel der idealistischen Philosophie. Nicht was das Wort nach der geschichtlichen Entwicklung seines wirklichen Gebrauchs bedeutet, sondern was es der Abstammung nach bedeuten sollte, das soll gelten. Und so wird die Geschlechtsliebe und die geschlechtliche Verbindung in eine „Religion" verhimmelt, damit nur ja nicht das der idealistischen Erinnening teure Wort Religion aus der Sprache verschwinde. Grade so sprachen in den vierziger Jahren die Pariser Reformisten der Louis Blancschen Richtung, die sich ebenfalls einen Menschen ohne Religion nur als ein Monstrum vorstellen konnten und uns sagten: Donc, l'atheisme c'est votre religion!1 Wenn Feuerbach die wahre Religion auf Grundlage einer wesentlich materialistischen Naturanschauung herstellen will, so heißt das soviel, wie die moderne Chemie als die wahre Alchimie auffassen. Wenn die Religion ohne ihren Gott bestehen kann, dann auch die Alchimie ohne ihren Stein der Weisen. Es besteht übrigens ein sehr enges Band zwischen Alchimie und Religion. Der Stein der Weisen hat viele gottähnliche Eigenschaften, und die ägyptisch-griechischen Alchimisten der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung haben bei der Ausbildung der christlichen Doktrin ihr Händchen mit im Spiel gehabt, wie die bei Kopp und Berthelot gegebenen Daten beweisen.
Entschieden falsch ist Feuerbachs Behauptung, daß die „Perioden der Menschheit sich nur durch religiöse Veränderungen unterscheiden". Große geschichtliche Wendepunkte sind von religiösen Veränderungen begleitet worden, nur soweit die drei Weltreligionen in Betracht kommen, die
Kapitel III 285
bisher bestanden haben: Buddhismus, Christentum, Islam. Die alten naturwüchsig entstandnen Stammes- und Nationalreligionen waren nicht propagandistisch und verloren alle Widerstandskraft, sobald die Selbständigkeit der Stämme und Völker gebrochen war; bei den Germanen genügte sogar die einfache Berührung mit dem verfallenden römischen Weltreich und der von ihm soeben aufgenommenen, seinem ökonomischen, politischen und ideellen Zustand angemeßnen christlichen Weltreligion. Erst bei diesen mehr oder weniger künstlich entstandnen Weltreligionen, namentlich beim Christentum und Islam, finden wir, daß allgemeinere geschichtliche Bewegungen ein religiöses Gepräge annehmen, und selbst auf dem Gebiet des Christentums ist das religiöse Gepräge, für Revolutionen von wirklich universeller Bedeutung, beschränkt auf die ersten Stufen des Emanzipationskampfs der Bourgeoisie, vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert, und erklärt sich nicht, wie Feuerbach meint, aus dem Herzen des Menschen und seinem Religionsbedürfnis, sondern aus der ganzen mittelalterlichen Vorgeschichte, die keine andere Form der Ideologie kannte als eben die Religion und Theologie. Als aber die Bourgeoisie im 18. Jahrhundert hinreichend erstarkt war, um auch ihre eigne, ihrem Klassenstandpunkt angemeßne Ideologie zu haben, da machte sie ihre große und endgültige Revolution, die französische, unter dem ausschließlichen Appell an juristische und politische Ideen durch und kümmerte sich um die Religion nur so weit, als diese ihr im Wege stand; es fiel ihr aber nicht ein, eine neue Religion an die Stelle der alten zu setzen; man weiß, wie Robespierre damit scheiterte.
Die Möglichkeit rein menschlicher Empfindung im Verkehr mit andern Menschen wird uns heutzutage schon genug verkümmert durch die auf Klassengegensatz und Klassenherrschaft gegründete Gesellschaft, in der wir uns bewegen müssen: Wir haben keinen Grund, sie uns selbst noch mehr zu verkümmern, indem wir diese Empfindungen in eine Religion verhimmeln. Und ebenso wird das Verständnis der geschichtlichen großen Klassenkämpfe von der landläufigen Geschichtschreibung, namentlich in Deutschland, schon hinreichend verdunkelt, auch ohne daß wir nötig hätten, es durch Verwandlung dieser Kampfesgeschichte in einen bloßen Anhang der Kirchengeschichte uns vollends unmöglich zu machen. Schon hier zeigt sich, wie weit wir uns heute von Feuerbach entfernt haben. Seine „schönsten Stellen", zur Feier dieser neuen Liebesreligion, sind heute gar nicht mehr lesbar. Die einzige Religion, die Feuerbach ernstlich untersucht, ist das Christentum, die Weltreligion des Abendlands, die auf dem Monotheismus gegründet ist. Er weist nach, daß der christliche Gott nur der phantastische
Reflex, das Spiegelbild des Menschen ist. Nun aber ist dieser Gott selbst das Produkt eines langwierigen Abstraktionsprozesses, die konzentrierte Quintessenz der früheren vielen Stammes- und Nationalgötter. Und dementsprechend ist auch der Mensch, dessen Abbild jener Gott ist, nicht ein wirklicher Mensch, sondern ebenfalls die Quintessenz der vielen wirklichen Menschen, der abstrakte Mensch, also selbst wieder ein Gedankenbild. Derselbe Feuerbach, der auf jeder Seite Sinnlichkeit, Versenkung ins Konkrete, in die Wirklichkeit predigt, er wird durch und durch abstrakt, sowie er auf einen weiteren als den bloß geschlechtlichen Verkehr zwischen den Menschen zu sprechen kommt. Dieser Verkehr bietet ihm nur eine Seite: die Moral. Und hier frappiert uns wieder die erstaunliche Armut Feuerbachs verglichen mit Hegel. Dessen Ethik oder Lehre von der Sittlichkeit ist die Rechtsphilosophie und umfaßt: 1. das abstrakte Recht, 2. die Moralität, 3. die Sittlichkeit, unter welcher wieder zusammengefaßt sind: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, der Staat. So idealistisch die Form, so realistisch ist hier der Inhalt. Das ganze Gebiet des Rechts, der Ökonomie, der Politik ist neben der Moral hier mit einbegriffen. Bei Feuerbach grade umgekehrt. Er ist der Form nach realistisch, er geht vom Menschen aus; aber von der Welt, worin dieser Mensch lebt, ist absolut nicht die Rede, und so bleibt dieser Mensch stets derselbe abstrakte Mensch, der in der Religionsphilosophie das Wort führte. Dieser Mensch ist eben nicht aus dem Mutterleib geboren, er hat sich aus dem Gott der monotheistischen Religionen entpuppt, er lebt daher auch nicht in einer wirklichen, geschichtlich entstandnen und geschichtlich bestimmten Welt; er verkehrt zwar mit andern Menschen, aber jeder andre ist ebenso abstrakt wie er selbst. In der Religionsphilosophie hatten wir doch noch Mann und Weib, aber in der Ethik verschwindet auch dieser letzte Unterschied. Allerdings kommen bei Feuerbach in weiten Zwischenräumen Sätze vor wie: „In einem Palast denkt man anders als in einer Hütte."'257' - „Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, in deinem Sinne'258' und Herzen keinen Stoff zur Moral." - „Die Politik muß unsere Religion werden"'259' usw. Aber mit diesen Sätzen weiß Feuerbach absolut nichts anzufangen, sie bleiben pure Redensarten, und selbst Starcke muß eingestehn, daß die Politik für Feuerbach eine unpassierbare Grenze war und die „Gesellschaftslehre, die Soziologie für ihn eine terra incognita1".
Ebenso flach erscheint er gegenüber Hegel in der Behandlung des Gegensatzes von Gut und Böse. „Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen - heißt es bei Hegel - wenn man sagt: Der Mensch ist von Natur gut; aber man vergißt, daß man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: Der Mensch ist von Natur böse."12601 Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt. Und zwar liegt hierin der doppelte Sinn, daß einerseits jeder neue Fortschritt notwendig auftritt als Frevel gegen ein Heiliges, als Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Gewohnheit geheiligten Zustände, und andrerseits, daß seit dem Aufkommen der Klassengegensätze es grade die schlechten Leidenschaften der Menschen sind, Habgier und Herrschsucht, die zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden, wovon z.B. die Geschichte des Feudalismus und der Bourgeoisie ein einziger fortlaufender Beweis ist. Aber die historische Rolle des moralisch Bösen zu untersuchen, fällt Feuerbach nicht ein. Die Geschichte ist ihm überhaupt ein ungemütliches, unheimliches Feld. Sogar sein Ausspruch: „Der Mensch, der ursprünglich aus der Natur entsprang, war auch nur ein reines Naturwesen, kein Mensch. Der Mensch ist ein Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte"12011 selbst dieser Ausspruch bleibt bei ihm durchaus unfruchtbar. Was uns Feuerbach über Moral mitteilt, kann hiernach nur äußerst mager sein. Der Glückseligkeitstrieb ist dem Menschen eingeboren und muß daher die Grundlage aller Moral bilden. Aber der Glückseligkeitstrieb erfährt eine doppelte Korrektur. Erstens durch die natürlichen Folgen unsrer Handlungen: Auf den Rausch folgt der Katzenjammer, auf den gewohnheitsmäßigen Exzeß die Krankheit. Zweitens durch ihre gesellschaftlichen Folgen: Respektieren wir nicht den gleichen Glückseligkeitstrieb der andern, so wehren sie sich und stören unsern eignen Glückseligkeitstrieb. Hieraus folgt, daß wir, um unsern Trieb zu befriedigen, die Folgen unsrer Handlungen richtig abzuschätzen imstande sein und andrerseits die Gleichberechtigung des entsprechenden Triebs bei andern gelten lassen müssen. Rationelle Selbstbeschränkung in Beziehung auf uns selbst und Liebe - immer wieder Liebe! - im Verkehr mit andern sind also die Grundregeln der Feuerbachschen Moral, aus denen alle andern sich ableiten. Und weder die geistvollsten Ausführungen Feuerbachs noch die stärksten Lobsprüche Starckes können die Dünnheit und Plattheit dieser paar Sätze verdecken.
Der Glückseligkeitstrieb befriedigt sich nur sehr ausnahmsweise und keineswegs zu seinem und andrer Leute Vorteil durch die Beschäftigung eines Menschen mit ihm selbst. Sondern er erfordert Beschäftigung mit der Außenwelt, Mittel der Befriedigung, also Nahrung, ein Individuum des andern Geschlechts, Bücher, Unterhaltung, Debatte, Tätigkeit, Gegenstände der Vernutzung und Verarbeitung. Die Feuerbachsche Moral setzt entweder voraus, daß diese Mittel und Gegenstände der Befriedigung jedem Menschen ohne weiteres gegeben sind,oder aber sie gibt ihm nur unanwendbare gute Lehren, ist also keinen Schuß Pulver wert für die Leute, denen diese Mittel fehlen. Und das erklärt Feuerbach selbst in dürren Worten: „In einem Palast denkt man anders als in einer Hütte." „Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, in deinem Sinne und Herzen keinen Stoff zur Moral."12821 Steht es etwa besser mit der Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebs andrer? Feuerbach stellt diese Forderung absolut hin, als gültig für alle Zeiten und Umstände. Aber seit wann gilt sie? War im Altertum zwischen Sklaven und Herren, im Mittelalter zwischen Leibeignen und Baronen je die Rede von Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebs? Wurde nicht der Glückseligkeitstrieb der unterdrückten Klasse rücksichtslos und „von Rechts wegen" dem der herrschenden zum Opfer gebracht? - Ja, das war auch unmoralisch, jetzt aber ist die Gleichberechtigung anerkannt. Anerkannt in der Phrase, seitdem und sintemal die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die Feudalität und in der Ausbildung der kapitalistischen Produktion gezwungen war, alle ständischen, d.h. persönlichen Privilegien abzuschaffen und zuerst die privatrechtliche, dann auch allmählich die staatsrechtliche, juristische Gleichberechtigung der Person einzuführen. Aber der Glückseligkeitstrieb lebt nur zum geringsten Teil von ideellen Rechten und zum allergrößten von materiellen Mitteln, und da sorgt die kapitalistische Produktion dafür, daß der großen Mehrzahl der gleichberechtigten Personen nur das zum knappen Leben Notwendige zufällt, respektiert also die Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebs der Mehrzahl kaum, wenn überhaupt, besser, als die Sklaverei oder die Leibeigenschaft dies tat. Und steht es besser in betreff der geistigen Mittel der Glückseligkeit, der Bildungsmittel? Ist nicht selbst „der Schulmeister von Sadowa"12631 eine mythische Person? Noch mehr. Nach der Feuerbachschen Moraltheorie ist die Fondsbörse der höchste Tempel der Sittlichkeit - vorausgesetzt nur, daß man stets richtig spekuliert. Wenn mein Glückseligkeitstrieb mich auf die Börse führt und ich dort die Folgen meiner Handlungen so richtig erwäge, daß sie mir
nur Annehmlichkeit und keinen Nachteil bringen, d.h. daß ich stets gewinne, so ist Feuerbachs Vorschrift erfüllt. Auch greife ich dadurch nicht in den gleichen Glückseligkeitstrieb eines andern ein, denn der andre ist ebenso freiwillig an die Börse gegangen wie ich, ist beim Abschluß des Spekulationsgeschäfts mit mir ebensogut seinem Glückseligkeitstrieb gefolgt wie ich dem meinigen. Und verliert er sein Geld, so beweist sich eben dadurch seine Handlung, weil schlecht berechnet, als unsittlich, und indem ich an ihm die verdiente Strafe vollstrecke, kann ich mich sogar als moderner Rhadamanthus stolz in die Brust werfen. Auch die Liebe herrscht an der Börse, insoweit sie nicht bloß sentimentale Phrase ist, denn jeder findet im andern die Befriedigung seines Glückseligkeitstriebs, und das ist ja, was die Liebe leisten soll und worin sie praktisch sich betätigt. Und wenn ich da in richtiger Voraussicht der Folgen meiner Operationen, also mit Erfolg spiele, so erfülle ich alle die strengsten Forderungen der Feuerbachschen Moral und werde ein reicher Mann obendrein. Mit andern Worten, Feuerbachs Moral ist auf die heutige kapitalistische Gesellschaft zugeschnitten, so wenig er selbst das wollen oder ahnen mag. Aber die Liebe! - Ja, die Liebe ist überall und immer der Zaubergott, der bei Feuerbach über alle Schwierigkeiten des praktischen Lebens hinweghelfen soll - und das in einer Gesellschaft, die in Klassen mit diametral entgegengesetzten Interessen gespalten ist. Damit ist denn der letzte Rest ihres revolutionären Charakters aus der Philosophie verschwunden, und es bleibt nur die alte Leier: Liebet euch untereinander, fallt euch in die Arme ohne Unterschied des Geschlechts und des Standes - allgemeiner Versöhnungsdusel! Kurz und gut. Es geht der Feuerbachschen Moraltheorie wie allen ihren Vorgängerinnen. Sie ist auf alle Zeiten, alle Völker, alle Zustände zugeschnitten, und eben deswegen ist sie nie und nirgends anwendbar und bleibt der wirklichen Welt gegenüber ebenso ohnmächtig wie Kants kategorischer Imperativ. In Wirklichkeit hat jede Klasse, sogar jede Berufsart ihre eigne Moral und bricht auch diese, wo sie es ungestraft tun kann, und die Liebe, die alles einen soll, kommt zu Tag in Kriegen, Streitigkeiten, Prozessen, häuslichem Krakeel, Ehescheidung und möglichster Ausbeutung der einen durch die andern. Wie aber war es möglich, daß der gewaltige, durch Feuerbach gegebene Anstoß für ihn selbst so unfruchtbar auslief? Einfach dadurch, daß Feuerbach aus dem ihm selbst tödlich verhaßten Reich der Abstraktionen den Weg nicht finden kann zur lebendigen Wirklichkeit. Er klammert sich gewaltsam an die Natur und den Menschen; aber Natur und Mensch bleiben 19 Marx/Engels, Werke, Bd. 21
bei ihm bloß Worte. Weder von der wirklichen Natur noch von den wirklichen Menschen weiß er uns etwas Bestimmtes zu sagen. Vom Feuerbachschen abstrakten Menschen kommt man aber nur zu den wirklichen lebendigen Menschen, wenn man sie in der Geschichte handelnd betrachtet. Und dagegen sträubt sich Feuerbach, und daher bedeutete das Jahr 1848, das er nicht begriff, für ihn nur den endgültigen Bruch mit der wirklichen Welt, den Rückzug in die Einsamkeit. Die Schuld hieran tragen wiederum hauptsächlich die deutschen Verhältnisse, die ihn elend verkommen ließen. Aber der Schritt, den Feuerbach nicht tat, mußte dennoch getan werden; der Kultus des abstrakten Menschen, der den Kern der Feuerbachschen neuen Religion bildete, mußte ersetzt werden durch die Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Diese Fortentwicklung des Feuerbachschen Standpunkts über Feuerbach hinaus wurde eröffnet 1845 durch Marx in der „Heiligen Familie".
IV
Strauß, Bauer, Stirner, Feuerbach, das waren die Ausläufer der Hegelschen Philosophie, soweit sie den philosophischen Boden nicht verließen. Strauß hat, nach dem „Leben Jesu" und der „Dogmatik"[2641, nur noch philosophische und kirchengeschichtliche Belletristik ä Ia Renan getrieben; Bauer hat nur auf dem Gebiet der Entstehungsgeschichte des Christentums etwas geleistet, aber hier auch Bedeutendes; Stirner blieb ein Kuriosum, selbst nachdem Bakunin ihn mit Proudhon verquickt und diese Verquikkung „Anarchismus" getauft hatte; Feuerbach allein war bedeutend als Philosoph. Aber nicht nur blieb die Philosophie, die angeblich über allen besondern Wissenschaften schwebende, sie zusammenfassende Wissenschaftswissenschaft, für ihn eine unüberschreitbare Schranke, ein unantastbar Heiliges; er blieb auch als Philosoph auf halbem Wege stehen, war unten Materialist, oben Idealist; er wurde mit Hegel nicht kritisch fertig, sondern warf ihn als unbrauchbar einfach beiseite, während er selbst, gegenüber dem enzyklopädischen Reichtum des Hegeischen Systems, nichts Positives fertigbrachte als eine schwülstige Liebesreligion und eine magere, ohnmächtige Moral. Aus der Auflösung der Hegeischen Schule ging aber noch eine andere Richtung hervor, die einzige, die wirklich Früchte getragen hat, und diese Richtung knüpft sich wesentlich an den Namen Marx*.
* Man gestatte mir hier eine persönliche Erläuterung. Man hat neuerdings mehrfach auf meinen Anteil an dieser Theorie hingewiesen, und so kann ich kaum umhin, hier die wenigen Worte zu sagen, wodurch dieser Punkt sich erledigt. Daß ich vor und während meinem vierzigjährigen Zusammenwirken mit Marx sowohl an der Begründung wie namentlich an der Ausarbeitung der Theorie einen gewissen selbständigen Anteil hatte, kann ich selbst nicht leugnen. Aber der größte Teil der leitenden Grund
Die Trennung von der Hegelschen Philosophie erfolgte auch hier durch die Rückkehr zum materialistischen Standpunkt. Das heißt, man entschloß sich, die wirkliche Welt - Natur und Geschichte - so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt; man entschloß sich, jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem eignen Zusammenhang, und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen ließ. Und weiter heißt Materialismus überhaupt nichts. Nur daß hier zum erstenmal mit der materialistischen Weltanschauung wirklich Ernst gemacht, daß sie auf allen in Frage kommenden Gebieten des Wissens - wenigstens in den Grundzügen - konsequent durchgeführt wurde. Hegel wurde nicht einfach abseits gelegt; man knüpfte im Gegenteil an an seine oben entwickelte revolutionäre Seite, an die dialektische Methode. Aber diese Methode war in ihrer Hegelschen Form unbrauchbar. Bei Hegel ist die Dialektik die Selbstentwicklung des Begriffs. Der absolute Begriff ist nicht nur von Ewigkeit - unbekannt wo? - vorhanden, er ist auch die eigentliche lebendige Seele der ganzen bestehenden Welt. Er entwickelt sich zu sich selbst durch alle die Vorstufen, die in der „Logik" des breiteren abgehandelt und die alle in ihm eingeschlossen sind; dann „entäußert" er sich, indem er sich in die Natur verwandelt, wo er ohne Bewußtsein seiner selbst, verkleidet als Naturnotwendigkeit eine neue Entwicklung durchmacht und zuletzt im Menschen wieder zum Selbstbewußtsein kommt; dies Selbstbewußtsein arbeitet sich nun in der Geschichte wieder aus dem Rohen heraus, bis endlich der absolute Begriff wieder vollständig zu sich selbst kommt in der Hegelschen Philosophie. Bei Hegel ist also die in der Natur und Geschichte zutage tretende dialektische Entwicklung, d.h. der ursächliche Zusammenhang des, durch alle Zickzackbewegungen und momentanen Rückschritte hindurch, sich durchsetzenden Fortschreitens vom Niedern zum Höhern, nur der Abklatsch der von Ewigkeit her, man weiß nicht wo, aber jedenfalls unabhängig von jedem denkenden Menschenhirn vor sich gehenden Selbstbewegung des Begriffs. Diese ideologische Verkehrung galt es zu beseitigen. Wir faßten die Begriffe unsres Kopfs wieder
gedanken, besonders auf ökonomischem und geschichtlichem Gebiet, und speziell ihre schließliche scharfe Fassung, gehört Marx. Was ich beigetragen, das konnte - allenfalls ein paar Spezialfächer ausgenommen - Marx auch wohl ohne mich fertigbringen. Was Marx geleistet, hätte ich nicht fertiggebracht. Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle. Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente. Ohne ihn wäre die Theorie heute bei weitem nicht das, was sie ist. Sie trägt daher auch mit Recht seinen Namen.
materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs. Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens - zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewußtsein anwenden kann, während sie in der Natur und bis jetzt auch großenteils in der Menschengeschichte sich in unbewußter Weise, in der Form der äußern Notwendigkeit, inmitten einer endlosen Reihe scheinbarer Zufälligkeiten durchsetzen. Damit aber wurde die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, und damit wurde die Hegeische Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt. Und diese materialistische Dialektik, die seit Jahren unser bestes Arbeitsmittel und unsere schärfste Waffe war, wurde merkwürdigerweise nicht nur von uns, sondern außerdem noch, unabhängig von uns und selbst von Hegel, wieder entdeckt von einem deutschen Arbeiter, Josef Dietzgen*. Hiermit war aber die revolutionäre Seite der Hegeischen Philosophie wieder aufgenommen und gleichzeitig von den idealistischen Verbrämungen befreit, die bei Hegel ihre konsequente Durchführung verhindert hatten. Der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt - dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei. Geht man aber bei der Untersuchung stets von diesem Gesichtspunkt aus, so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewußt, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde; aber man läßt sich auch nicht mehr imponieren durch die der noch stets landläufigen alten Metaphysik unüberwindlichen Gegen
* S. „Das Wesen der Kopfarbeit, von einem Handarbeiter", Hamburg, Meißner.
sätze von Wahr und Falsch, Gut und Schlecht, Identisch und Verschieden, Notwendig und Zufällig; man weiß, daß diese Gegensätze nur relative Gültigkeit haben, daß das jetzt für wahr Erkannte seine verborgene, später hervortretende falsche Seite ebensogut hat wie das jetzt als falsch Erkannte seine wahre Seite, kraft deren es früher für wahr gelten konnte; daß das behauptete Notwendige sich aus lauter Zufälligkeiten zusammensetzt und das angeblich Zufällige die Form ist, hinter der die Notwendigkeit sich birgt und so weiter. Die alte Untersuchungs- und Denkmethode, die Hegel die „metaphysische" nennt, die sich vorzugsweise mit Untersuchung der Dinge als gegebener fester Bestände beschäftigte und deren Reste noch stark in den Köpfen spuken, hatte ihrerzeit eine große geschichtliche Berechtigung. Die Dinge mußten erst untersucht werden, ehe die Prozesse untersucht werden konnten. Man mußte erst wissen, was ein beliebiges Ding war, ehe man die an ihm vorgehenden Veränderungen wahrnehmen konnte. Und so War es in der Naturwissenschaft. Die alte Metaphysik, die die Dinge als fertige hinnahm, entstand aus einer Naturwissenschaft, die die toten und lebendigen Dinge als fertige untersuchte. Als aber diese Untersuchung so weit gediehen war, daß der entscheidende Fortschritt möglich wurde, der Übergang zur systematischen Untersuchung der mit diesen Dingen in der Natur selbst vorgehenden Veränderungen, da schlug auch auf philosophischem Gebiet die Sterbestunde der alten Metaphysik. Und in der Tat, wenn die Naturwissenschaft bis Ende des letzten Jahrhunderts vorwiegend sammelnde Wissenschaft, Wissenschaft von fertigen Dingen war, so ist sie in unserm Jahrhundert wesentlich ordnende Wissenschaft, Wissenschaft von den Vorgängen, vom Ursprung und der Entwicklung dieser Dinge und vom Zusammenhang, der diese Naturvorgänge zu einem großen Ganzen verknüpft. Die Physiologie, die die Vorgänge im pflanzlichen und tierischen Organismus untersucht, die Embryologie, die die Entwicklung des einzelnen Organismus vom Keim bis zur Reife behandelt, die Geologie, die die allmähliche Bildung der Erdoberfläche verfolgt, sie alle sind Kinder unseres Jahrhunderts. Vor allem sind es aber drei große Entdeckungen, die unsere Kenntnis vom Zusammenhang der Naturprozesse mit Riesenschritten vorangetrieben haben: Erstens die Entdeckung der Zelle als der Einheit, aus deren Vervielfältigung und Differenzierung der ganze pflanzliche und tierische Körper sich entwickelt, so daß nicht nur die Entwicklung und das Wachstum aller höheren Organismen als nach einem einzigen allgemeinen Gesetz vor sich gehend erkannt, sondern auch in der Veränderungsfähigkeit der Zelle der
Weg gezeigt ist, auf dem Organismen ihre Art verändern und damit eine mehr als individuelle Entwicklung durchmachen können. - Zweitens die Verwandlung der Energie, die uns alle zunächst in der anorganischen Natur wirksamen sogenannten Kräfte, die mechanische Kraft und ihre Ergänzung, die sogenannte potentielle Energie, Wärme, Strahlung (Licht, resp. strahlende Wärme), Elektrizität, Magnetismus, chemische Energie, als verschiedene Erscheinungsformen der universellen Bewegung nachgewiesen hat, die in bestimmten Maßverhältnissen die eine in die andere übergehn, so daß für die Menge der einen, die verschwindet, eine bestimmte Menge einer andern wiedererscheint und so daß die ganze Bewegung der Natur sich auf diesen unaufhörlichen Prozeß der Verwandlung aus einer Form in die andre reduziert. - Endlich der zuerst von Darwin im Zusammenhang entwickelte Nachweis, daß der heute uns umgebende Bestand organischer Naturprodukte, die Menschen eingeschlossen, das Erzeugnis eines langen Entwicklungsprozesses aus wenigen ursprünglich einzelligen Keimen ist und diese wieder aus, auf chemischem Weg entstandenem, Protoplasma oder Eiweiß hervorgegangen sind. Dank diesen drei großen Entdeckungen und den übrigen gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft sind wir jetzt so weit, den Zusammenhang zwischen den Vorgängen in der Natur nicht nur auf den einzelnen Gebieten, sondern auch den der einzelnen Gebiete unter sich im ganzen und großen nachweisen und so ein übersichtliches Bild des Naturzusammenhangs in annähernd systematischer Form, vermittelst der durch die empirische Naturwissenschaft selbst gelieferten Tatsachen darstellen zu können. Dies Gesamtbild zu liefern, war früher die Aufgabe der sogenannten Naturphilosophie. Sie konnte dies nur, indem sie die noch unbekannten wirklichen Zusammenhänge durch ideelle, phantastische ersetzte, die fehlenden Tatsachen durch Gedankenbilder ergänzte, die wirklichen Lücken in der bloßen Einbildung ausfüllte. Sie hat bei diesem Verfahren manche geniale Gedanken gehabt, manche spätem Entdeckungen vorausgeahnt, aber auch beträchtlichen Unsinn zutage gefördert, wie das nicht anders möglich war. Heute, wo man die Resultate der Naturforschung nur dialektisch, d.h. im Sinn ihres eignen Zusammenhangs aufzufassen braucht, um zu einem für unsere Zeit genügenden „System der Natur" zu kommen, wo der dialektische Charakter dieses Zusammenhangs sich sogar den metaphysisch geschulten Köpfen der Naturforscher gegen ihren Willen aufzwingt, heute ist die Naturphilosophie endgültig beseitigt. Jeder Versuch ihrer Wiederbelebung wäre nicht nur überflüssig, er wäre ein Rückschritt. Was aber von der Natur gilt, die hiermit auch als ein geschichtlicher
Entwicklungsprozeß erkannt ist, das gilt auch von der Geschichte der Gesellschaft in allen ihren Zweigen und von der Gesamtheit aller der Wissenschaften, die sich mit menschlichen (und göttlichen) Dingen beschäftigen. Auch hier hat die Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion usw. darin bestanden, daß an die Stelle des in den Ereignissen nachzuweisenden wirklichen Zusammenhangs ein im Kopf des Philosophen gemachter gesetzt wurde, daß die Geschichte im ganzen wie in ihren einzelnen Teilstücken gefaßt wurde als die allmähliche Verwirklichung von Ideen, und zwar natürlich immer nur der Lieblingsideen des Philosophen selbst. Die Geschichte arbeitete hiernach unbewußt, aber mit Notwendigkeit, auf ein gewisses, von vornherein feststehendes ideelles Ziel los, wie z.B. bei Hegel auf die Verwirklichung seiner absoluten Idee, und die unverrückbare Richtung auf diese absolute Idee bildete den innern Zusammenhang in den geschichtlichen Ereignissen. An die Stelle des wirklichen, noch unbekannten Zusammenhangs setzte man somit eine neue - unbewußte oder allmählich zum Bewußtsein kommende - mysteriöse Vorsehung. Hier galt es also, ganz wie auf dem Gebiet der Natur, diese gemachten künstlichen Zusammenhänge zu beseitigen durch die Auffindung der wirklichen; eine Aufgabe, die schließlich darauf hinausläuft, die allgemeinen Bewegungsgesetze zu entdecken, die sich in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft als herrschende durchsetzen. Nun aber erweist sich die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft in einem Punkt als wesentlich verschiedenartig von der der Natur. In der Natur sind es - soweit wir die Rückwirkung der Menschen auf die Natur außer acht lassen-lauter bewußtlose blinde Agenzien, die aufeinander einwirken und in deren Wechselspiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt. Von allem, was geschieht - weder von den zahllosen scheinbaren Zufälligkeiten, die auf der Oberfläche sichtbar werden, noch von den schließlichen, die Gesetzmäßigkeit innerhalb dieser Zufälligkeiten bewährenden Resultaten -, geschieht nichts als gewollter bewußter Zweck. Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewußtsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel. Aber dieser Unterschied, so wichtig er für die geschichtliche Untersuchung namentlich einzelner Epochen und Begebenheiten ist, kann nichts ändern an der Tatsache, daß der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird. Denn auch hier herrscht auf der Oberfläche, trotz der bewußt gewollten Ziele aller einzelnen, im ganzen und großen scheinbar der Zufall. Nur selten geschieht das Gewollte, in den
meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke oder sind diese Zwecke selbst von vornherein undurchführbar oder die Mittel unzureichend. So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewußtlosen Natur herrschenden analog ist. Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder soweit sie dem gewollten Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, haben sie schließlich ganz andre als die gewollten Folgen. Die geschichtlichen Ereignisse erscheinen so im ganzen und großen ebenfalls als von der Zufälligkeit beherrscht. Wo aber auf der Oberfläche der Zufall sein Spiel treibt, da wird er stets durch innre verborgne Gesetze beherrscht, und es kommt nur darauf an, diese Gesetze zu entdecken. Die Menschen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eignen, bewußt gewollten Zwecke verfolgt, und die Resultante dieser vielen in verschiedenen Richtungen agierenden Willen und ihrer mannigfachen Einwirkung auf die Außenwelt ist eben die Geschichte. Es kommt also auch darauf an, was die vielen einzelnen wollen. Der Wille wird bestimmt durch Leidenschaft oder Überlegung. Aber die Hebel, die wieder die Leidenschaft oder die Überlegung unmittelbar bestimmen, sind sehr verschiedener Art. Teils können es äußere Gegenstände sein, teils ideelle Beweggründe, Ehrgeiz, „Begeisterung für Wahrheit und Recht", persönlicher Haß oder auch rein individuelle Schrullen aller Art. Aber einerseits haben wir gesehn, daß die in der Geschichte tätigen vielen Einzelwillen meist ganz andre als die gewollten - oft geradezu die entgegengesetzten - Resultate hervorbringen, ihre Beweggründe also ebenfalls für das Gesamtergebnis nur von untergeordneter Bedeutung sind. Andrerseits fragt es sich weiter, welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehn, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der Handelnden zu solchen Beweggründen umformen? Diese Frage hat sich der alte Materialismus nie vorgelegt. Seine Geschichtsauffassung, soweit er überhaupt eine hat, ist daher auch wesentlich pragmatisch, beurteilt alles nach den Motiven der Handlung, teilt die geschichtlich handelnden Menschen in edle und unedle und findet dann in der Regel, daß die edlen die Geprellten und die unedlen die Sieger sind, woraus dann folgt für den alten Materialismus, daß beim Geschichtsstudium nicht viel Erbauliches herauskommt, und für uns, daß auf dem geschichtlichen Gebiet der alte Materialismus sich selbst untreu wird, weil er die dort wirksamen ideellen Triebkräfte als letzte Ursachen hinnimmt, statt zu unter
suchen, was denn hinter ihnen steht, was die Triebkräfte dieser Triebkräfte sind. Nicht darin liegt die Inkonsequenz, daß ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern darin, daß von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden Ursachen. Die Geschichtsphilosophie dagegen, wie sie namentlich durch Hegel vertreten wird, erkennt an, daß die ostensiblen und auch die wirklich tätigen Beweggründe der geschichtlich handelnden Menschen keineswegs die letzten Ursachen der geschichtlichen Ereignisse sind, daß hinter diesen Beweggründen andre bewegende Mächte stehn, die es zu erforschen gilt; aber sie sucht diese Mächte nicht in der Geschichte selbst auf, sie importiert sie vielmehr von außen, aus der philosophischen Ideologie, in die Geschichte hinein. Statt die Geschichte des alten Griechenlands aus ihrem eignen, innern Zusammenhang zu erklären, behauptet Hegel z.B. einfach, sie sei weiter nichts als die Herausarbeitung der „Gestaltungen der schönen Individualität", die Realisation des „Kunstwerks"[Z65) als solches. Er sagt viel Schönes und Tiefes bei dieser Gelegenheit über die alten Griechen, aber das hindert nicht, daß wir uns heute nicht mehr abspeisen lassen mit einer solchen Erklärung, die eine bloße Redensart ist. Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die - bewußt oder unbewußt, und zwar sehr häufig unbewußt - hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehn und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Menschen handeln, als um diejenigen, welche große Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in Bewegung setzen; und auch dies nicht momentan zu einem vorübergehenden Aufschnellen und rasch verlodernden Strohfeuer, sondern zu dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion. Die treibenden Ursachen zu ergründen, die sich hier in den Köpfen der handelnden Massen und ihrer Führer - der sogenannten großen Männer - als bewußte Beweggründe klar oder unklar, unmittelbar oder in ideologischer, selbst in verhimmelter Form widerspiegeln - das ist der einzige Weg, der uns auf die Spur der die Geschichte im ganzen und großen wie in den einzelnen Perioden und Ländern beherrschenden Gesetze führen kann. Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab. Die Arbeiter haben sich keineswegs mit dem kapitalistischen Maschinenbetrieb versöhnt, seitdem sie die Maschinen nicht mehr, wie noch 1848 am Rhein, einfach in Stücke schlagen. Während aber in allen früheren Perioden die Erforschung dieser trei
benden Ursachen der Geschichte fast unmöglich war - wegen der verwikkelten und verdeckten Zusammenhänge mit ihren Wirkungen -, hat unsre gegenwärtige Periode diese Zusammenhänge so weit vereinfacht, daß das Rätsel gelöst werden konnte. Seit der Durchführung der großen Industrie, also mindestens seit dem europäischen Frieden von 1815, war es keinem Menschen in England ein Geheimnis mehr, daß dort der ganze politische Kampf sich drehte um die Herrschaftsansprüche zweier Klassen, der grundbesitzenden Aristokratie (landed aristocracy) und der Bourgeoisie (middle class). In Frankreich kam mit der Rückkehr der Bourbonen dieselbe Tatsache zum Bewußtsein; die Geschichtsschreiber der Restaurationszeit von Thierry bis Guizot, Mignet und Thiers sprechen sie überall aus als den Schlüssel zum Verständnis der französischen Geschichte seit dem Mittelalter. Und seit 1830 wurde als dritter Kämpfer um die Herrschaft in beiden Ländern die Arbeiterklasse, das Proletariat, anerkannt. Die Verhältnisse hatten sich so vereinfacht, daß man die Augen absichtlich verschließen mußte, um nicht im Kampf dieser drei großen Klassen und im Widerstreit ihrer Interessen die treibende Kraft der modernen Geschichte zu sehn wenigstens in den beiden fortgeschrittensten Ländern. Wie aber waren diese Klassen entstanden? Konnte man auf den ersten Blick dem großen, ehemals feudalen Grundbesitz noch einen Ursprung aus - wenigstens zunächst - politischen Ursachen, aus gewaltsamer Besitzergreifung zuschreiben, so ging das bei der Bourgeoisie und dem Proletariat nicht mehr an. Hier lag der Ursprung und die Entwicklung zweier großer Klassen aus rein ökonomischen Ursachen klar und handgreiflich zutage. Und ebenso klar war es, daß in dem Kampf zwischen Grundbesitz und Bourgeoisie, nicht minder als in dem zwischen Bourgeoisie und Proletariat, es sich in erster Linie um ökonomische Interessen handelte, zu deren Durchführung die politische Macht als bloßes Mittel dienen sollte. Bourgeoisie und Proletariat waren beide entstanden infolge einer Veränderung der ökonomischen Verhältnisse, genauer gesprochen der Produktionsweise. Der Übergang zuerst vom zünftigen Handwerk zur Manufaktur, dann von der Manufaktur zur großen Industrie mit Dampf- und Maschinenbetrieb, hatte diese beiden Klassen entwickelt. Auf einer gewissen Stufe wurden die von der Bourgeoisie in Bewegung gesetzten neuen Produktionskräfte - zunächst die Teilung der Arbeit und die Vereinigung vieler Teilarbeiter in einer Gesamtmanufaktur - und die durch sie entwickelten Austauschbedingungen und Austauschbedürfnisse unverträglich mit der bestehenden, geschichtlich überlieferten und durch Gesetz geheiligten Produktionsordnung, d.h. den zünftigen und den zahllosen andern persönlichen und lokalen Privi
legien (die für die nichtpriviligierten Stände ebenso viele Fesseln waren) der feudalen Gesellschaftsverfassung. Die Produktionskräfte, vertreten durch die Bourgeoisie, rebellierten gegen die Produktionsordnung, vertreten durch die feudalen Grundbesitzer und die Zunftmeister; das Ergebnis ist bekannt, die feudalen Fesseln wurden zerschlagen, in England allmählich, in Frankreich mit einem Schlag, in Deutschland ist man noch nicht damit fertig. Wie aber die Manufaktur auf einer bestimmten Entwicklungsstufe in Konflikt kam mit der feudalen, so ist jetzt schon die große Industrie in Konflikt geraten mit der an ihre Stelle gesetzten bürgerlichen Produktionsordnung. Gebunden durch diese Ordnung, durch die engen Schranken der kapitalistischen Produktionsweise, produziert sie einerseits eine sich immer steigernde Proletarisierung der gesamten großen Volksmasse, andrerseits eine immer größere Masse unabsetzbarer Produkte. Überproduktion und Massenelend, jedes die Ursache des andern, das ist der absurde Widerspruch, worin sie ausläuft und der eine Entfesselung der Produktivkräfte durch Änderung der Produktionsweise mit Notwendigkeit fordert. In der modernen Geschichte wenigstens ist also bewiesen, daß alle politischen Kämpfe Klassenkämpfe, und alle Emanzipationskämpfe von Klassen, trotz ihrer notwendig politischen Form - denn jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf - sich schließlich um ökonomische Emanzipation drehen. Hier wenigstens ist also der Staat, die politische Ordnung, das Untergeordnete, die bürgerliche Gesellschaft, das Reich der ökonomischen Beziehungen, das entscheidende Element. Die althergebrachte Anschauung, der auch Hegel huldigt, sah im Staat das bestimmende, in der bürgerlichen Gesellschaft das durch ihn bestimmte Element. Der Schein entspricht dem. Wie beim einzelnen Menschen alle Triebkräfte seiner Handlungen durch seinen Kopf hindurchgehn, sich in Beweggründe seines Willens verwandeln müssen, um ihn zum Handeln zu bringen, so müssen auch alle Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft - gleichviel, welche Klasse gerade herrscht durch den Staatswillen hindurchgehn, um allgemeine Geltung in Form von Gesetzen zu erhalten. Das ist die formelle Seite der Sache, die sich von selbst versteht; es fragt sich nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Wille des einzelnen wie des Staats - hat, und woher dieser Inhalt kommt, warum grade dies und nichts andres gewollt wird. Und wenn wir hiernach fragen, so finden wir, daß in der modernen Geschichte der Staatswille im ganzen und großen bestimmt wird durch die wechselnden Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Übermacht dieser oder jener Klasse, in letzter Instanz durch die Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhältnisse .
Wenn aber schon in unsrer modernen Zeit mit ihren riesigen Produktions- und Verkehrsmitteln der Staat nicht ein selbständiges Gebiet mit selbständiger Entwicklung ist, sondern sein Bestand wie seine Entwicklung in letzter Instanz zu erklären ist aus den ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft, so muß dies noch viel mehr gelten für alle früheren Zeiten, wo die Produktion des materiellen Lebens der Menschen noch nicht mit diesen reichen Hülfsmitteln betrieben wurde, wo also die Notwendigkeit dieser Produktion eine noch größere Herrschaft über die Menschen ausüben mußte. Ist der Staat noch heute, zur Zeit der großen Industrie und der Eisenbahnen, im ganzen und großen nur der Reflex, in zusammenfassender Form, der ökonomischen Bedürfnisse der die Produktion beherrschenden Klasse, so mußte er dies noch viel mehr sein zu einer Epoche, wo eine Menschengeneration einen weit größeren Teil ihrer Gesamtlebenszeit auf die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse verwenden mußte, also weit abhängiger von ihnen war, als wir heute sind. Die Untersuchung der Geschichte früherer Epochen, sobald sie ernstlich auf diese Seite eingeht, bestätigt dies im reichlichsten Maße; hier kann dies aber selbstredend nicht verhandelt werden. Wird der Staat und das Staatsrecht durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt, so selbstverständlich auch das Privatrecht, das ja wesentlich nur die bestehenden, unter den gegebnen Umständen normalen ökonomischen Beziehungen zwischen den einzelnen sanktioniert. Die Form, in der dies geschieht, kann aber sehr verschieden sein. Man kann, wie in England im Einklang mit der ganzen nationalen Entwicklung geschah, die Formen des alten feudalen Rechts großenteils beibehalten und ihnen einen bürgerlichen Inhalt geben, ja, dem feudalen Namen direkt einen bürgerlichen Sinn unterschieben; man kann aber auch, wie im kontinentalen Westeuropa, das erste Weltrecht einer Waren produzierenden Gesellschaft, das römische, mit seiner unübertrefflich scharfen Ausarbeitung aller wesentlichen Rechtsbeziehungen einfacher Warenbesitzer (Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner, Vertrag, Obligation usw.) zugrunde legen. Wobei man es zu Nutz und Frommen einer noch kleinbürgerlichen und halbfeudalen Gesellschaft entweder einfach durch die gerichtliche Praxis auf den Stand dieser Gesellschaft herunterbringen kann (gemeines Recht), oder aber mit Hülfe angeblich aufgeklärter, moralisierender Juristen es in ein, diesem gesellschaftlichen Stand entsprechendes, apartes Gesetzbuch verarbeiten kann, welches unter diesen Umständen auch juristisch schlecht sein wird (preußisches Landrecht); wobei man aber auch, nach einer großen bürgerlichen Revolution, auf Grundlage eben dieses römischen Rechts, ein so klassisches
Gesetzbuch der Bourgeoisgesellschaft herausarbeiten kann wie der französische Code civil. Wenn also die bürgerlichen Rechtsbestimmungen nur die ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft in Rechtsform ausdrücken, so kann dies je nach Umständen gut oder schlecht geschehen. Im Staate stellt sich uns die erste ideologische Macht über den Menschen dar. Die Gesellschaft schafft sich ein Organ zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber inneren und äußeren Angriffen. Dies Organ ist die Staatsgewalt. Kaum entstanden, verselbständigt sich dies Organ gegenüber der Gesellschaft, und zwar um so mehr, je mehr es Organ einer bestimmten Klasse wird, die Herrschaft dieser Klasse direkt zur Geltung bringt. Der Kampf der unterdrückten gegen die herrschende Klasse wird notwendig ein politischer, ein Kampf zunächst gegen die politische Herrschaft dieser Klasse; das Bewußtsein des Zusammenhangs dieses politischen Kampfes mit seiner ökonomischen Unterlage wird dumpfer und kann ganz verlorengehen. Wo dies auch nicht bei den Beteiligten vollständig der Fall ist, geschieht es fast immer bei den Geschichtschreibern. Von den alten Quellen über die Kämpfe innerhalb der römischen Republik sagt uns nur Appian klar und deutlich, um was es sich schließlich handelte - nämlich um das Grundeigentum. Der Staat aber, einmal eine selbständige Macht geworden gegenüber der Gesellschaft, erzeugt alsbald eine weitere Ideologie. Bei den Politikern von Profession, bei den Theoretikern des Staatsrechts und den Juristen des Privatrechts nämlich geht der Zusammenhang mit den ökonomischen Tatsachen erst recht verloren. Weil in jedem einzelnen Falle die ökonomischen Tatsachen die Form juristischer Motive annehmen müssen, um in Gesetzesform sanktioniert zu werden, und weil dabei auch selbstverständlich Rücksicht zu nehmen ist auf das ganze schon geltende Rechtssystem, deswegen soll nun die juristische Form alles sein und der ökonomische Inhalt nichts. Staatsrecht und Privatrecht werden als selbständige Gebiete behandelt, die ihre unabhängige geschichtliche Entwicklung haben, die in sich selbst einer systematischen Darstellung fähig sind und ihrer bedürfen durch konsequente Ausrottung aller inneren Widersprüche. Noch höhere, d.h. noch mehr von der materiellen, ökonomischen Grundlage sich entfernende Ideologien nehmen die Form der Philosophie und der Religion an. Hier wird der Zusammenhang der Vorstellungen mit ihren materiellen Daseinsbedingungen immer verwickelter, immer mehr durch Zwischenglieder verdunkelt. Aber er existiert. Wie die ganze Renaissancezeit, seit Mitte des 15. Jahrhunderts, ein wesentliches Produkt der Städte, also des Bürgertums war, so auch die seitdem neuerwachte Philosophie; ihr
Inhalt war wesentlich nur der philosophische Ausdruck der der Entwicklung des Klein- und Mittelbürgertums zur großen Bourgeoisie entsprechenden Gedanken. Bei den Engländern und Franzosen des vorigen Jahrhun1 derts, die vielfach ebensowohl politische Ökonomen wie Philosophen waren, tritt dies klar hervor, und bei der Hegelschen Schule haben wir es oben nachgewiesen. Gehn wir indes nur noch kurz auf die Religion ein, weil diese dem materiellen Leben am fernsten steht und am fremdesten zu sein scheint. Die Religion ist entstanden zu einer sehr waldursprünglichen Zeit aus mißverständlichen, waldursprünglichen Vorstellungen der Menschen über ihre eigne und die sie umgebende äußere Natur. Jede Ideologie entwickelt sich aber, sobald sie einmal vorhanden, im Anschluß an den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet ihn weiter aus; sie wäre sonst keine Ideologie, d.h. Beschäftigung mit Gedanken als mit selbständigen, sich unabhängig entwickelnden, nur ihren eignen Gesetzen unterworfnen Wesenheiten. Daß die materiellen Lebensbedingungen der Menschen, in deren Köpfen dieser Gedankenprozeß vor sich geht, den Verlauf dieses Prozesses schließlich bestimmen, bleibt diesen Menschen notwendig unbewußt, denn sonst wäre es mit der ganzen Ideologie am Ende. Diese ursprünglichen religiösen Vorstellungen also, die meist für jede verwandte Völkergruppe gemeinsam sind, entwickeln sich, nach der Trennung der Gruppe, bei jedem Volk eigentümlich, je nach den ihm beschiednen Lebensbedingungen, und dieser Prozeß ist für eine Reihe von Völkergruppen, namentlich für die arische (sog. indoeuropäische) im einzelnen nachgewiesen durch die vergleichende Mythologie. Die so bei jedem Volk herausgearbeiteten Götter waren Nationalgötter, deren Reich nicht weiter ging als das von ihnen zu schützende nationale Gebiet, jenseits dessen Grenzen andre Götter unbestritten das große Wort führten. Sie konnten nur in der Vorstellung fortleben, solange die Nation bestand; sie fielen mit deren Untergang. Diesen Untergang der alten Nationalitäten brachte das römische Weltreich, dessen ökonomische Entstehungsbedingungen wir hier nicht zu untersuchen haben. Die alten Nationalgötter kamen in Verfall, selbst die römischen, die eben auch nur auf den engen Kreis der Stadt Rom zugeschnitten waren; das Bedürfnis, das Weltreich zu ergänzen durch eine Weltreligion, tritt klar hervor in den Versuchen, allen irgendwie respektablen fremden Göttern neben den einheimischen in Rom Anerkennung und Altäre zu schaffen. Aber eine neue Weltreligion macht sich nicht in dieser Art durch kaiserliche Dekrete. Die neue Weltreligion, das Christentum, war im stillen bereits entstanden aus einer Mischung verallgemeinerter orientalischer, namentlich jüdischer
Theologie und vulgarisierter griechischer, namentlich stoischer Philosophie. Wie es ursprünglich aussah, müssen wir erst wieder mühsam erforschen, da seine uns überlieferte offizielle Gestalt nur diejenige ist, in der es Staatsreligion und diesem Zweck durch das Nicänische Konzil12661 angepaßt wurde. Genug, die Tatsache, daß es schon nach 250 Jahren Staatsreligion wurde, beweist, daß es die den Zeitumständen entsprechende Religion war. Im Mittelalter bildete es sich genau im Maß, wie der Feudalismus sich entwickelte, zu der diesem entsprechenden Religion aus, mit entsprechender feudaler Hierarchie. Und als das Bürgertum aufkam, entwickelte sich im Gegensatz zum feudalen Katholizismus die protestantische Ketzerei, zuerst in Südfrankreich bei den Albigensern12671, zur Zeit der höchsten Blüte der dortigen Städte. Das Mittelalter hatte alle übrigen Formen der Ideologie: Philosophie, Politik, Jurisprudenz, an die Theologie annektiert, zu Unterabteilungen der Theologie gemacht. Es zwang damit jede gesellschaftliche und politische Bewegung, eine theologische Form anzunehmen; den ausschließlich mit Religion gefütterten Gemütern der Massen mußten ihre eignen Interessen in religiöser Verkleidung vorgeführt werden, um einen großen Sturm zu erzeugen. Und wie das Bürgertum von Anfang an einen Anhang von besitzlosen, keinem anerkannten Stand angehörigen städtischen Plebejern, Tagelöhnern und Dienstleuten aller Art erzeugte, Vorläufern des spätem Proletariats, so teilt sich auch die Ketzerei schon früh in eine bürgerlich-gemäßigte und eine plebejisch-revolutionäre, auch von den bürgerlichen Ketzern verabscheute. Die Unvertilgbarkeit der protestantischen Ketzerei entsprach der Unbesiegbarkeit des aufkommenden Bürgertums; als dies Bürgertum hinreichend erstarkt war, begann sein bisher vorwiegend lokaler Kampf mit dem Feudaladel nationale Dimensionen anzunehmen. Die erste große Aktion fand in Deutschland statt - die sogenannte Reformation. Das Bürgertum war weder stark noch entwickelt genug, um die übrigen rebellischen Stände - die Plebejer der Städte, den niederen Adel und die Bauern auf dem Lande - unter seiner Fahne vereinigen zu können. Der Adel wurde zuerst geschlagen; die Bauern erhoben sich zu einem Aufstand, der den Gipfelpunkt dieser ganzen revolutionären Bewegung bildet; die Städte ließen sie im Stich, und so erlag die Revolution den Heeren der Landesfürsten, die den ganzen Gewinn einstrichen. Von da an verschwindet Deutschland auf drei Jahrhunderte aus der Reihe der selbständig in die Geschichte eingreifenden Länder. Aber neben dem Deutschen Luther hatte der Franzose Calvin gestanden; mit echt französischer Schärfe stellteer den bürgerlichen Charakter der Reformation in den Vordergrund, republikanisierte und de
mokratisierte die Kirche. Während die lutherische Reformation in Deutschland versumpfte und Deutschland zugrunde richtete, diente die calvinische den Republikanern in Genf, in Holland, in Schottland als Fahne, machte Holland von Spanien und vom Deutschen Reiche frei und lieferte das ideologische Kostüm zum zweiten Akt der bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging. Hier bewährte sich der Calvinismus als die echte religiöse Verkleidung der Interessen des damaligen Bürgertums und kam deshalb auch nicht zu voller Anerkennung, als die Revolution 1689 durch einen Kompromiß eines Teils des Adels mit den Bürgern vollendet wurde1268-1. Die englische Staatskirche wurde wiederhergestellt, aber nicht in ihrer frühern Gestalt, als Katholizismus mit dem König zum Papst, sondern stark calvinisiert. Die alte Staatskirche hatte den lustigen katholischen Sonntag gefeiert und den langweiligen calvinistischen bekämpft, die neue verbürgerte führte diesen ein, und er verschönert England noch jetzt. In Frankreich wurde die calvinistische Minorität 1685 unterdrückt, katholisiert oder weggejagt[2691; aber was half's? Schon damals war der Freigeist Pierre Bayle mitten in der Arbeit, und 1694 wurde Voltaire geboren. Die Gewaltmaßregel Ludwigs XIV. erleichterte nur dem französischen Bürgertum, daß es seine Revolution in der, der entwickelten Bourgeoisie allein angemessenen irreligiösen, ausschließlich politischen Form machen konnte. Statt Protestanten saßen Freigeister in den Nationalversammlungen. Dadurch war das Christentum in sein letztes Stadium getreten. Es war unfähig geworden, irgendeiner progressiven Klasse fernerhin als ideologische Verkleidung ihrer Strebungen zu dienen; es wurde mehr und mehr Alleinbesitz der herrschenden Klassen, und diese wenden es an als bloßes Regierungsmittel, womit die untern Klassen in Schranken gehalten werden. Wobei dann jede der verschiednen Klassen ihre eigne entsprechende Religion benutzt: die grundbesitzenden Junker die katholische Jesuiterei oder protestantische Orthodoxie, die liberalen und radikalen Bourgeois den Rationalismus; und wobei es keinen Unterschied macht, ob die Herren an ihre respektiven Religionen selbst glauben oder auch nicht. Wir sehn also: Die Religion, einmal gebildet, enthält stets einen überlieferten Stoff, wie denn auf allen ideologischen Gebieten die Tradition eine große konservative Macht ist. Aber die Veränderungen, die mit diesem Stoff vorgehn, entspringen aus den Klassenverhältnissen, also aus den ökonomischen Verhältnissen der Menschen, die diese Veränderungen vornehmen. Und das ist hier hinreichend. Es kann sich im Vorstehenden nur um einen allgemeinen Umriß der Marxschen Geschichtsauffassung handeln, höchstens noch um einige Illu
20 Mars/Engels, Werke, Bd. 21
strationen. Der Beweis ist an der Geschichte selbst zu liefern, und da darf ich wohl sagen, daß er in andern Schriften bereits hinreichend geliefert ist. Diese Auffassung macht aber der Philosophie auf dem Gebiet der Geschichte ebenso ein Ende, wie die dialektische Auffassung der Natur alle Naturphilosophie ebenso unnötig wie unmöglich macht. Es kommt überall nicht mehr darauf an, Zusammenhänge im Kopf auszudenken, sondern sie in den Tatsachen zu entdecken. Für die aus Natur und Geschichte vertriebne Philosophie bleibt dann nur noch das Reich des reinen Gedankens, soweit es noch übrig: die Lehre von den Gesetzen des Denkprozesses selbst, die Logik und Dialektik. *
Mit der Revolution von 1848 erteilte das „gebildete" Deutschland der Theorie den Absagebrief und ging über auf den Boden der Praxis. Das auf der Handarbeit beruhende Kleingewerbe und die Manufaktur wurden ersetzt durch eine wirkliche große Industrie; Deutschland erschien wieder auf dem Weltmarkt; das neue kleindeutsche Reich'2701 beseitigte wenigstens die schreiendsten Mißstände, die die Kleinstaaterei, die Reste des Feudalismus und die bürokratische Wirtschaft dieser Entwicklung in den Weg gelegt hatten. Aber in demselben Maß, wie die Spekulation aus der philosophischen Studierstube auszog, um ihren Tempel zu errichten auf der Fondsbörse, in demselben Maß ging auch dem gebildeten Deutschland jener große theoretische Sinn verloren, der der Ruhm Deutschlands während der Zeit seiner tiefsten politischen Erniedrigung gewesen war - der Sinn für rein wissenschaftliche Forschung, gleichviel, ob das erreichte Resultat praktisch verwertbar war oder nicht, polizeiwidrig oder nicht. Zwar hielt sich die deutsche offizielle Naturwissenschaft, namentlich auf dem Gebiet der Einzelforschung, auf der Höhe der Zeit, aber schon das amerikanische Journal „Science" bemerkt mit Recht, daß die entscheidenden Fortschritte auf dem Gebiet der großen Zusammenhänge zwischen den Einzeltatsachen, ihre Verallgemeinerung zu Gesetzen, jetzt weit mehr in England gemacht werden, statt wie früher in Deutschland. Und auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften, die Philosophie eingeschlossen, ist mit der klassischen Philosophie der alte theoretisch-rücksichtslose Geist erst recht verschwunden; gedankenloser Eklektizismus, ängstliche Rücksicht auf Karriere und Einkommen bis herab zum ordinärsten Strebertum sind an seine Stelle getreten. Die offiziellen Vertreter dieser Wissenschaft sind die unverhüllten Ideologen der Bourgeoisie und des bestehenden Staats geworden aber zu einer Zeit, wo beide im offnen Gegensatz stehn zur Arbeiterklasse.
Und nur bei der Arbeiterfeiasse besteht der deutsche theoretische Sinn un verkümmert fort. Hier ist er nicht auszurotten; hier finden keine Rücksichten statt auf Karriere, auf Profitmacherei, auf gnädige Protektion von oben; im Gegenteil, je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter. Die neue Richtung, die in der Entwicklungsgeschichte der Arbeit den Schlüssel erkannte zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft, wandte sich von vornherein vorzugsweise an die Arbeiterfeiasse und fand hier die Empfänglichkeit, die sie bei der offiziellen Wissenschaft weder suchte noch erwartete. Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie.
Eine Erklärung an die Redaktion der „New Yorker Volkszeitung"127"
[„New Yorker Volkszeitung" Nr. 162 vom 8. Juli 1886] Da im „Missouri Republican" von St.Louis ein Bericht über ein Interview eines Korrespondenten dieses Blattes mit mir erschienen, so habe ich darauf folgendes zu bemerken: Allerdings hat ein Herr McEnnis als Repräsentant dieses Blattes mich besucht und mich über Verschiedenes ausgefragt, aber unter dem Versprechen auf Ehrenwort, keine Zeile zum Druck abzuschicken, ohne sie mir vorher vorzulegen. Statt dessen hat er sich nicht wieder bei mir sehen lassen. Ich erkläre daher hiermit, daß ich alle und jede Verantwortlichkeit für seine Publikation ablehnen muß, um so mehr, als ich Gelegenheit hatte, mich zu überzeugen, daß Herr McEnnis aus Mangel an den nötigen Vorkenntnissen selbst beim besten Willen kaum imstande sein dürfte, meine Äußerungen richtig zu verstehen.
London.
Friedrich Engels
Geschrieben am 29. April 1886.
[Über den Streik der Arbeiter der Glasfabrik in Lyon]
Die französische republikanische . Regierung1272' scheint entschlossen, auf jede mögliche Art und Weise zu zeigen, daß sie ganz genauso die Regierung der Kapitalisten ist wie jede ihrer Vorgängerinnen. Nicht genug damit, daß sie für die Bergwerksgesellschaft in Decazeville'2731 Partei nimmt, tritt sie jetzt in Lyon noch gewalttätiger auf. Dort ist ein Streik in einer Glashütte ausgebrochen; einige Streikbrecher arbeiten weiter und werden zu ihrer Sicherheit in der Fabrik untergebracht. Als der Hausrat eines von ihnen - eines deutschen Anarchisten namens Litner - dorthin geschafft wurde, folgten die Streikenden und pfiffen ihn aus. Kaum war der Karren mit dem Hausrat drinnen und die Tore geschlossen, als aus den Fenstern Schüsse auf die Menschen draußen abgegeben wurden - Revolverkugeln und Schrotkugeln flogen in alle Richtungen und verwundeten etwa dreißig Leute. Die Menge lief natürlich auseinander. Jetzt mischten sich die Polizei und die Justizstellen ein. Aber nicht etwa, um den Kapitalisten und seine Söldlinge, die gefeuert hatten, zu verhaften - oh nein! sie verhafteten eine Anzahl der Streikenden, weil sie die Freiheit der Arbeit gestört hatten! Diese Affäre, die gerade in diesem Augenblick bekannt geworden ist, hat in Paris eine ungeheure Erregung hervorgerufen. Decazeville hat die für die Sozialisten abgegebenen Stimmen in Paris von 30 000 auf über 100 000[274] ansteigen lassen, und die Wirkung dieser Bluttat in La Mulatiere bei Lyon wird noch größer sein. F.E.
Geschrieben zwischen 8. und 14. Mai 1886. Nach: „The Commonweal", Vol. II, Nr. 18 vom 15. Mai 1886. Aus dem Englischen.
Die politische Lage Europas'2751
[„Le Socialiste" Nr.63 vom 6. November 1886] Im März 1878 schickte Disraeli vier Panzerschiffe nach dem Bosporus; ihre Gegenwart allein genügte, um den Siegeszug der Russen auf Konstantinopel zum Stillstand zu bringen und den Vertrag von San Stefano zu zerreißen. Der Frieden von Berlin regelte für einige Zeit die Lage im Orient.1376* Es gelang Bismarck, zwischen der russischen und der österreichischen Regierung ein Übereinkommen zu erreichen. Österreich sollte unter der Hand die Herrschaft über Serbien ausüben, während Bulgarien und Rumelien vorwiegend dem Einfluß Rußlands überlassen sein sollten. Dies ließ vermuten, daß Bismarck, wenn er später den Russen gestattete, von Konstantinopel Besitz zu ergreifen, Saloniki und Makedonien den Österreichern reservieren würde. Außerdem aber gab man Österreich Bosnien, so wie Rußland im Jahre 1794 den Preußen und Österreichern den größeren Teil des eigentlichen Polens überlassen hatte, um ihn 1814 wieder zurückzunehmen.[277] Bosnien war ein ständiger Aderlaß für Österreich, ein Zankapfel zwischen Ungarn und dem westlichen Österreich, und vor edlem der Beweis für die Türkei, daß die Österreicher ebenso wie die Russen ihr das Schicksal Polens bereiteten. Von nun an konnte die Türkei kein Vertrauen mehr zu Österreich haben: ein wichtiger Sieg der Politik der russischen Regierung. Serbien hatte zwar slawophile und folglich russophile Neigungen, schöpft aber seit seiner Emanzipation alle Mittel seiner bürgerlichen Entwicklung aus Österreich. Die jungen Leute studieren an österreichischen Universitäten; das bürokratische System, die Gesetze, das Gerichtswesen, die Schulen - alles ist nach österreichischen Vorbildern kopiert worden. Das war ganz natürlich. Aber Rußland mußte diese Nachahmung in Bul
garien verhindern; es wollte nicht für Österreich die Kastanien aus dem Feuer holen. Bulgarien wurde daher zu einer russischen Satrapie gemacht. Die Verwaltung, die Offiziere und Unteroffiziere, die Beamten, kurz, das ganze System wurde russisch: Battenberg, den man Bulgarien oktroyiert hatte, war ein Vetter Alexanders III. Die zuerst direkte, dann indirekte Herrschaft der russischen Regierung genügte, um in weniger als vier Jahren jegliche Sympathie der Bulgaren für Rußland zu ersticken, obwohl sie groß und herzlich gewesen war. Die Bevölkerung widersetzte sich mehr und mehr der Unverschämtheit der „Befreier"; und sogar Battenberg, ein Mann ohne politische Ideen und von weichem Charakter, der nach nichts anderem Verlangen trug, als dem Zaren zu dienen, dabei aber Achtung für sich beanspruchte, wurde immer widerspenstiger. Inzwischen gingen die Dinge in Rußland ihren Gang; der Regierung gelang es durch Gewaltmaßnahmen, die Nihilisten für einige Zeit zu zerstreuen und zu desorganisieren. Aber das genügte nicht, sie bedurfte einer Stütze in der öffentlichen Meinung, sie mußte die Aufmerksamkeit von der wachsenden sozialen und politischen Misere im Innern ablenken; kurz, sie brauchte ein wenig patriotische Phantasmagorie. Unter Napoleon III. hatte das linke Rheinufer dazu gedient, die revolutionären Leidenschaften nach außen abzulenken; in genau derselben Weise präsentierte die russische Regierung dem beunruhigten und erregten Volke die Eroberung Konstantinopels, die „Befreiung" der von den Türken unterdrückten Slawen und ihre Vereinigung in einer großen Föderation unter der Ägide Rußlands. Aber es genügte nicht, diese Phantasmagorie hervorzurufen, man mußte auch etwas tun, um sie in den Bereich der Realität zu rücken. Die Umstände waren günstig. Die Annexion von Elsaß und Lothringen hatte zwischen Frankreich und Deutschland Samen der Zwietracht gesät, die - so schien es - diese beiden Mächte neutralisieren mußten. Österreich allein konnte nicht gegen Rußland kämpfen, da seine wirksamste Angriffswaffe, der Appell an die Polen, durch Preußen stets zunichte gemacht werden würde. Und die Besetzung Bosniens, dieser Raub, war ein Elsaß zwischen Österreich und der Türkei. Italien stand dem Meistbietenden, nämlich Rußland, zu Gebot, das ihm Triest und Istrien mit Dalmatien und Tripolis offerierte. Und England? Der friedliche russophile Gladstone hatte Rußlands verführerischen Worten Gehör geschenkt; mitten im Frieden hatte er Ägypten besetzt[278], was England einen ständigen Streit mit Frankreich einbrachte und außerdem die Unmöglichkeit einer Allianz der Türken mit den Engländern nach sich zog, die jene soeben beraubt hatten: sie hatten
sich das türkische Lehen Ägypten angeeignet. Zudem waren die russischen Vorbereitungen in Asien genügend weit gediehen, um im Falle eines Krieges den Engländern in Indien viel zu schaffen zu machen. Niemals hatten sich den Russen so viele Chancen geboten: ihre Diplomatie triumphierte auf der ganzen Linie. Die Empörung der Bulgaren gegen den russischen Despotismus war der Vorwand, den Feldzug zu beginnen. Im Sommer 1885 gaukelte man den Bulgaren und den Rumeliern die Möglichkeit der im Frieden von San Stefano zugesagten und durch den Berliner Vertrag außer Kraft gesetzten Vereinigung vor. Wenn sie sich von neuem in die Arme Rußlands, des Befreiers, würfen, so sagte man ihnen, dann werde die russische Regierung ihre Mission erfüllen und diese Vereinigung vollziehen; um dies jedoch zu erreichen, müßten die Bulgaren zunächst Battenberg davonjagen. Letzterer war rechtzeitig gewarnt worden. Gegen seine Gewohnheit handelte er schnell und mit Energie; er vollzog, allerdings im eigenen Interesse, die Vereinigung, die Rußland gegen ihn hatte zustande bringen wollen. Seither datiert der unversöhnliche Kampf zwischen ihm und dem Zaren. Dieser Kampf wurde anfangs versteckt und indirekt geführt. Man brachte für die kleinen Balkanstaaten eine Neuauflage der schönen Doktrin Louis Bonapartes heraus: Wenn ein bisher getrenntes Volk, sagen wir Italien oder Deutschland, sich vereinigt und als Nation konstituiert, haben - dieser Doktrin zufolge - andere Staaten, sagen wir Frankreich, ein Recht auf Gebietskompensationen. Serbien fiel auf dieses Lockmittel herein und erklärte den Bulgaren den Krieg. Rußland aber triumphierte, daß dieser für seine Interessen entfachte Krieg sich vor der Welt unter den Auspizien Österreichs abspielte, das aus Furcht, die russische Partei in Serbien könnte ans Ruder gelangen, es nicht wagte, sich einzumischen. Rußland seinerseits desorganisierte die bulgarische Armee, es beorderte alle russischen Offiziere zurück, das heißt den gesamten Generalstab und alle höheren Offiziere, bis zu den Bataillonschefs. Aber wider alles Erwarten schlugen die Bulgaren ohne russische Offiziere und bei einem zahlenmäßigen Verhältnis von zwei zu drei die Serben aufs Haupt und gewannen so die Achtung und Bewunderung des erstaunten Europas. Diese Siege sind auf zwei Ursachen zurückzuführen. Zunächst war Alexander Battenberg zwar ein schwacher Politiker, aber ein guter Soldat; er führte Krieg, wie er es in der preußischen Schule gelernt hatte, während die Serben die Strategie und Taktik ihrer österreichischen Vorbilder befolgten. Es war also eine Neuauflage des Feldzugs von 1866 in Böhmen12791. Außerdem hatten die Serben seit sechzig Jahren unter dem
österreichischen bürokratischen Regime gelebt. Dieses Regime hatte - ohne ihnen eine starke Bourgeoisie und eine unabhängige Bauernschaft zu geben (alle Bauern sind mit Hypothekenschulden belastet) - die Reste des Gentilgemeinwesens zerstört und desorganisiert, das ihre Stärke in den Kämpfen gegen die Türken war. Bei den Bulgaren hingegen waren diese ursprünglichen Institutionen von den Türken nicht angetastet worden; das erklärt auch ihre außerordentliche Tapferkeit. Also eine neue Niederlage für Rußland; es hieß von neuem beginnen. Der slawophile Chauvinismus, angefacht als Gegengewicht gegen das revolutionäre Element, wuchs von Tag zu Tag und wurde bereits zu einer Gefahr für die Regierung. Der Zar begibt sich nach der Krim, und die russischen Zeitungen verkünden, daß er etwas Großes unternehme; er bemüht sich, den Sultan auf seine Seite zu ziehen, indem er ihm nachweist, daß seine ehemaligen Verbündeten (Österreich und England) ihn verraten und plündern, daß Frankreich im Schlepptau Rußlands segelt und auf dessen Gnade angewiesen ist. Der Sultan stellt sich jedoch taub, und die enormen Kriegsrüstungen im Westen und Süden Rußlands finden vorläufig keine Verwendung. Der Zar kehrt aus der Krim zurück (im vergangenen Juni). Inzwischen steigt die chauvinistische Flut, und die Regierung, unfähig, die sich ausbreitende Bewegung zu unterdrücken, wird mehr und mehr von ihr mitgerissen, so daß man es dem Stadtoberhaupt von Moskau1 gestatten muß, in seiner Ansprache an denZaren laut von der Eroberung Konstantinopels zu reden.'2801 Die unter dem Einfluß und der Protektion der Generale stehende Presse erklärt offen, daß sie vom Zaren eine energische Aktion gegen Österreich und Deutschland erwarte, da diese ihm Hindernisse in den Weg legen, und die Regierung wagt es nicht, der Presse Schweigen zu gebieten. Der slawophile Chauvinismus ist mächtiger als der Zar; letzterer ist gezwungen nachzugeben, aus Furcht vor einer Revolution, aus Furcht, die Slawophilen könnten sich mit den Konstitutionellen, den Nihilisten und schließlich mit allen Unzufriedenen vereinigen. Die finanziellen Schwierigkeiten komplizieren die Lage. Niemand will dieser Regierung etwas leihen, die sich von 1870 bis 1875 in London 1 Milliarde 750 000 Francs geborgt hat und den europäischen Frieden bedroht. Vor zwei oder drei Jahren verhalf ihr Bismarck in Deutschland zu einer Anleihe von 375 Millionen Francs; aber diese ist längst aufgezehrt, und ohne die Unterschrift Bismarcks geben die Deutschen keinen roten
Heller. Zudem ist diese Unterschrift nur noch zu erniedrigenden Bedingungen zu erhalten. Die Staatspapierfabrik hat zuviel produziert, der Silberrubel ist 4 frcs., der Papierrubel 2 frcs. 20 wert. Die Kriegsrüstungen verschlingen Unsummen. Kurz und gut, es gilt zu handeln. Entweder ein Erfolg in Richtung Konstantinopel oder die Revolution. Giers suchte Bismarck auf und erklärte ihm die Lage, die dieser sehr gut begriff. Aus Rücksicht auf Österreich hätte Bismarck gern den Appetit der zaristischen Regierung gemäßigt, deren Unersättlichkeit ihn beunruhigte. Aber die Revolution in Rußland bedeutet den Sturz des Bismarcksehen Regimes. Ohne Rußland, diese gewaltige Reservearmee der Reaktion, würde die Herrschaft der Krautjunker in Preußen keinen Tag lang dauern. Die Revolution in Rußland würde die Lage in Deutschland sofort verändern; sie würde mit einem Schlag jenen blinden Glauben an die Allmacht Bismarcks vernichten, der diesem die Unterstützung der herrschenden Klassen sichert; sie würde das Heranreifen der Revolution in Deutschland beschleunigen. Bismarck, der weiß, daß die Existenz des Zarismus die Grundlage seines ganzen Systems ist, begibt sich in aller Eile nach Wien, um seine Freunde davon zu benachrichtigen, daß es angesichts einer solchen Gefahr unangebracht ist, sich bei Fragen der Eigenliebe aufzuhalten, daß man dem Zaren einen Scheintriumph gestatten muß, und daß Österreich und Deutschland, in ihrem wohlverstandenen Interesse, sich vor Rußland zu beugen haben. Wenn übrigens die Herren Österreicher darauf bestehen sollten, sich in die Angelegenheiten Bulgariens einzumischen, so würde er sich die Hände in Unschuld waschen; sie würden ja sehen, wozu das führen werde. Kälnoky gibt nach, Alexander Battenberg wird geopfert, und Bismarck eilt, um Giers die Nachricht persönlich zu überbringen. Unglücklicherweise bewiesen die Bulgaren ein politisches Können und eine Energie, die niemand erwartet hatte und die unzulässig sind bei einer „vom heiligen Rußland befreiten" slawischen Nation. Battenberg wird nächtlicherweise festgenommen, die Bulgaren aber verhaften die Verschwörer und ernennen eine fähige, energische und unbestechliche Regierung, Eigenschaften, die völlig unzulässig sind bei einem eben erst emanzipierten Volk; sie rufen Battenberg zurück; dieser zeigt sich von seiner schwachen Seite und ergreift die Flucht. Aber die Bulgaren sind unverbesserlich. Mit oder ohne Battenberg setzen sie den souveränen Befehlen des Zaren Widerstand entgegen und zwingen den heldenmütigen Kaulbars, sich vor ganz Europa zu blamieren.'2811 Man stelle sich die Wut des Zaren vor. Bismarck für sich gewonnen, den
österreichischen Widerstand gebrochen, und nun sieht er sich aufgehalten durch dieses kleine Volk, ein Volk von gestern, das ihm oder seinem Vater seine „Unabhängigkeit" verdankt und nicht begreifen will, daß diese Unabhängigkeit nur blinden Gehorsam gegenüber den Befehlen des „Befreiers" bedeutet. Die Griechen und Serben waren schon undankbar; die Bulgaren aber überschreiten alle Grenzen. Ihre Unabhängigkeit ernst nehmen? Welch Verbrechen! Um sich vor der Revolution zu retten, ist der arme Zar gezwungen, einen neuen Schritt vorwärts zu tun. Aber jeder Schritt macht die Sache gefährlicher, denn er vergrößert nur das Risiko eines europäischen Krieges, den die russische Diplomatie immer zu vermeiden versucht hat. Es steht fest, daß bei einer direkten Einmischung der russischen Regierung in Bulgarien, falls dies zu äußersten Komplikationen führen sollte, der Augenblick eintritt, wo die Feindschaft zwischen den russischen und den österreichischen Interessen offen zum Ausbruch kommt. Eine Lokalisierung des Krieges ist dann unmöglich, er wird zu einem allgemeinen Krieg. Bei der Ehrenhaftigkeit der Spitzbuben, die Europa regieren, ist es unmöglich vorauszusehen, wie sich die beiden Lager gruppieren werden. Bismarck ist imstande, sich auf Seite der Russen gegen Österreich zu stellen, wenn er anders die Revolution in Rußland nicht aufhalten kann. Aber es ist wahrscheinlicher, daß, wenn ein Krieg zwischen Rußland und Österreich ausbricht, Deutschland letzterem zu Hilfe eilt, um es vor der vollständigen Vernichtung zu bewahren. Bis zum Frühjahr - denn im Winter, vor April werden sich die Russen in einen großen Feldzug an der Donau nicht einlassen können - arbeitet der Zar daran, die Türken in seine Netze zu ziehen, und der Verrat Österreichs und Englands an der Türkei erleichtert ihm diese Aufgabe. Sein Ziel ist es, die Dardanellen zu besetzen, das Schwarze Meer somit in einen russischen See zu verwandeln und diesen zu einem unzugänglichen Zufluchtsort für den Aufbau einer mächtigen Flotte zu machen; sie würden es verlassen, um das zu beherrschen, was Napoleon einen „französischen See" nannte, das Mittelländische Meer. Aber so weit hat er es noch nicht gebracht, obwohl seine Anhänger in Sofia diesen seinen geheimen Gedanken verraten haben. Das ist die Lage. Um einer Revolution in Rußland vorzubeugen, muß der Zar Konstantinopel haben. Bismarck zögert; er möchte gern das Mittel finden, um der einen wie der anderen Eventualität aus dem Wege zu gehen.
Und Frankreich? Die französischen Patrioten, die seit sechzehn Jahren von Revanche träumen, glauben, daß nichts natürlicher sei, als die sich ihnen vielleicht bietende Gelegenheit zu ergreifen. Für unsere Partei ist indes die Frage nicht so einfach, und ebensowenig ist sie es für die Herren Chauvinisten. Ein mit Hilfe Rußlands und unter seiner Ägide unternommener Revanchekrieg könnte entweder eine Revolution oder eine Konterrevolution in Frankreich zur Folge haben. Im Falle einer Revolution, die die Sozialisten an die Macht brächte, würde die russische Allianz in Stücke zerfallen. Zunächst würden die Russen sogleich mit Bismarck Frieden schließen, am sich mit den Deutschen auf das revolutionäre Frankreich zu stürzen. Sodann würden die Sozialisten, in Frankreich an die Macht gelangt, es nicht darauf ankommen lassen, durch einen Krieg die Revolution in Rußland zu verhindern. Dieser Fall aber wird kaum eintreten, wahrscheinlicher ist die monarchistische Konterrevolution. Der Zar wünscht die Restauration der Orleans, seiner intimen Freunde, der einzigen Regierung, die ihm die Bedingungen einer guten und dauerhaften Allianz bietet. Hat der Krieg einmal begonnen, so wird man zur Vorbereitung der Restauration guten Gebrauch von den monarchistischen Offizieren machen. Bei der geringsten Teilniederlage - und solche bleiben nicht aus wird man schreien, die Republik sei schuld daran; um Siege zu erringen und die vorbehaltlose Unterstützung Rußlands zu erlangen, sei eine stabile monarchistische Regierung, mit einem Wort, ein Philipp VII.1, notwendig; die monarchistischen Generale werden lässig handeln, um ihren Mangel an Erfolgen der republikanischen Regierung in die Schuhe schieben zu können; und siehe da, die Monarchie ist wiederhergestellt. Ist Philipp VII. wieder eingesetzt, werden die Könige und Kaiser sich sofort verständigen, werden, anstatt sich gegenseitig zu zerfleischen, Europa unter sich aufteilen und dabei die kleinen Staaten verschlingen. Ist die französische Republik tot, wird man einen neuen Wiener Kongreß abhalten, auf dem man vielleicht die republikanischen und sozialistischen Sünden Frankreichs zum Vorwand nehmen wird, um ihm Elsaß-Lothringen ganz oder teilweise zu verweigern. Und die Fürsten werden sich über die Republikaner lustig machen, die naiv genug waren, an die Möglichkeit einer aufrichtigen Allianz zwischen dem Zarismus und der Republik zu glauben. Ist es übrigens wahr, was General Boulanger jedem sagt, der es hören will: „Es ist ein Krieg nötig, um die soziale Revolution zu verhindern"? Wenn es wahr ist, so diene dies der sozialistischen Partei als Warnung. Der gute
Boulanger hat großsprecherische Allüren, die man einem Militär verzeihen kann, die aber ein recht kümmerliches Bild von seinem politischen Scharfsinn geben. Er wird die Republik jedenfalls nicht retten. Zwischen Sozialisten und Orleanisten gestellt, wird er sich möglicherweise mit letzteren einigen, sofern sie ihm die russische Allianz zusichern. In jedem Fall befinden sich die Bourgeoisrepublikaner Frankreichs in derselben Lage wie der Zar; sie sehen vor sich das Gespenst der sozialen Revolution und kennen nur ein Mittel zur Rettung: den Krieg. In Frankreich, Rußland und Deutschland wenden sich die Ereignisse so sehr zu unseren Gunsten, daß wir uns für den Augenblick nur die Fortsetzung des Status quo wünschen können. Wenn die Revolution in Rußland ausbricht, so würde sie ein Zusammenwirken von äußerst günstigen Bedingungen hervorrufen. Dagegen würde uns ein allgemeiner Krieg in den Bereich des Unvorhergesehenen zurückwerfen. Die Revolution in Rußland und Frankreich würde verzögert, unsere Partei in Deutschland das Schicksal der Kommune von 1871 erleiden. Ohne Zweifel werden sich die Ereignisse schließlich zu unseren Gunsten gestalten, aber wieviel Zeitverlust, wieviel Opfer und wieviel neue Hindernisse wären zu überwinden! Die in Europa zu einem Kriege drängende Kraft ist groß. Das überall übernommene preußische Militärsystem erfordert zu seiner vollständigen Entwicklung zwölf bis sechzehn Jahre; nach Ablauf dieser Zeit bestehen die Kader der Reserven aus Männern, die im Gebrauch der Waffen geübt sind. Diese zwölf bis sechzehn Jahre sind überall abgelaufen; überall hat man zwölf bis sechzehn Jahrgänge, die gedient haben. Man ist also überall bereit, und die Deutschen haben in dieser Hinsicht keinen besonderen Vorteil. Das heißt, daß der uns drohende Krieg zehn Millionen Soldaten auf das Schlachtfeld werfen würde. Sodann wird der alte Wilhelm wahrscheinlich sterben. Bismarck wird seine Stellung mehr oder weniger erschüttert sehen und vielleicht zum Kriege drängen, um sich zu halten. In der Tat glaubt die Börse überall an Krieg, sobald der Alte seine Augen geschlossen haben wird. Gibt es Krieg, so wird er nur zu dem Zweck geführt, die Revolution zu verhüten: in Rußland, um der gemeinsamen Aktion aller Unzufriedenen, Slawophilen, Konstitutionellen, Nihilisten und Bauern, zuvorzukommen; in Deutschland, um Bismarck zu halten; in Frankreich, um die siegreiche Bewegung der Sozialisten zurückzudrängen und die Monarchie wiederherzustellen. Zwischen den französischen und deutschen Sozialisten gibt es keine elsässische Frage. Die deutschen Sozialisten wissen nur zu gut, daß die Annexionen von 1871, gegen die sie stets protestiert haben, der Angelpunkt
der reaktionären Politik Bismarcks sowohl nach innen wie nach außen gewesen sind. Die Sozialisten beider Länder sind gleichermaßen an der Erhaltung des Friedens interessiert, weil sie es wären, die sämtliche Kriegskosten zu bezahlen hätten. F.Engels
Geschrieben am 25. Oktober 1886. Aus dem Französischen.
Johann Philipp Becker
[„Der Sozialdemokrat" Nr. 51 vom 17-Dezember 18861 Wiederum hat der Tod eine Lücke gerissen in den Reihen der Vorkämpfer für die proletarische Revolution. Johann Philipp Becker ist am 7. Dezember in Genf gestorben. Geboren 1809 zu Frankenthal in der bayrischen Pfalz, beteiligte er sich, kaum den Kinderschuhen entwachsen, schon in den zwanziger Jahren an der politischen Bewegung seiner Heimat. Als nach der Julirevolution, anfangs der dreißiger Jahre, diese Bewegung einen republikanischen Charakter annahm, war Becker einer der tätigsten und entschiedensten Teilnehmer. Mehrmals verhaftet, vor die Geschwornen gestellt, freigesprochen, mußte er endlich vor der siegenden Reaktion flüchten. Er ging in die Schweiz, ließ sich in Biel nieder, erwarb das Schweizer Bürgerrecht. Auch hier blieb er nicht untätig; nach der einen Seite beschäftigten ihn die Angelegenheiten der deutschen Arbeitervereine und die Revolutionsversuche der deutschen, italienischen, überhaupt europäischen Flüchtlinge; nach der andern der Kampf der Schweizer Demokratie um die Herrschaft in den einzelnen Kantonen. Man weiß, wie dieser Kampf, namentlich anfangs der vierziger Jahre, vermittelst einer Reihe von bewaffneten Einfällen in die aristokratischen und klerikalen Kantone geführt wurde. In die Mehrzahl dieser „Putsche" war Becker mehr oder weniger verwickelt und wurde schließlich deswegen zu zehnjähriger Verbannung aus seinem Heimatskanton Bern verurteilt. Diese kleinen Kriegszüge gipfelten endlich 1847 im Sonderbundskrieg[282]; Becker, der der schweizerischen Armee als Offizier angehörte, trat an seinen Posten und führte während des Marsches auf Luzern die Vorhut der Division, der er zugeteilt war. Die Februarrevolution 1848 brach aus; ihr folgten die Versuche, Baden durch Freischarenzüge zu republikanisieren. Als Hecker seinen Zug
machte'2831, bildete Becker eine Flüchtlingslegion, konnte aber erst an der Grenze erscheinen, nachdem Hecker schon wieder zurückgeschlagen war. Diese später großenteils in Frankreich internierte Legion lieferte 1849 den Kern für einige der besten Truppenteile der Pfälzer und badischen Armee. Als im Frühjahr 1849 in Rom die Republik proklamiert wurde, wollte Becker aus dieser Legion ein Hülfskorps für Rom organisieren. Er ging nach Marseille, bildete die Kadres und traf Anstalt, die Mannschaft zusammenzuziehen. Aber wie bekannt, schickte sich die französische Regierung an, die römische Republik zu erdrücken und den Papst1 zurückzuführen. Es verstand sich von selbst, daß sie die Überführung von Hülfstruppen für ihre römischen Gegner verhinderte. Becker, der schon ein Schiff gemietet, wurde kategorisch bedeutet, man werde sein Schiff in den Grund bohren, sobald es Miene mache, den Hafen zu verlassen. Da brach die Revolution in Deutschland los.'284' Becker eilte sofort nach Karlsruhe, die Legion folgte nach und nahm später unter Bönings Führung am Kampf teil, während ein anderes Stück der alten 1848er Legion, von Willich in Besan?on ausgebildet, dem Willichschen Freikorps als Kern diente. Becker wurde zum Chef der gesamten badischen Volkswehr, also aller Truppen außer der Linie, ernannt und ging sogleich an die Organisation. Hier stieß er sofort auf den Widerstand der von der reaktionären Bourgeoisie beherrschten Regierung und ihres Führers Brentano. Seine Befehle wurden durchkreuzt, seine Forderung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen unbeachtet gelassen oder direkt abgeschlagen. Der Versuch am 6. Juni, die Regierung durch die revolutionäre bewaffnete Macht zu intimidieren, ein Versuch, an dem Becker sehr stark beteiligt war, endigte unentschieden'2851; aber Becker und seine Truppen wurden nun schleunigst von Karlsruhe an den Neckar gegen den Feind .geschickt. Hier hatte der Kampf schon im Kleinen begonnen, und die Entscheidung nahte heran. Becker mit seinen Freischaren und Volkswehren besetzte den Odenwald. Ohne Geschütz und Reiterei mußte er seine wenigen Truppen zur Besetzung des ausgedehnten und schwierigen Gebiets verzetteln und behielt nicht genug in der Hand, um angreifend vorgehen zu können. Trotzdem befreite er am 15. Juni durch ein brillantes Gefecht seine im Schloß von Hirschhorn durch die Peuckerschen Reichstruppen umzingelten Hanauer Turner'286-1. Als Mieroslawski den Oberbefehl der Revolutionsarmee übernahm, erhielt Becker das Kommando über die 5.Division - lauter Volkswehr und
lauter Infanterie - mit dem Auftrag, dem Peuckerschen Korps, das ihm mindestens sechsmal überlegen war, Widerstand zu leisten. Aber gleich darauf kam der Rheinübergang der ersten preußischen Korps bei Germersheim, der Zug Mieroslawskis ihm entgegen, die Niederlage von Waghäusel am 2I.Juni. Becker hielt Heidelberg besetzt; von Norden drängte das zweite preußische Korps von Gröben, von Nordosten das Korps Peuckers, jedes über 20 000 Mann stark, im Südwesten standen Hirschfelds Preußen, ebenfalls über 20 000 Mann. Und nun wälzten sich die Flüchtlinge von Waghäusel, d.h. die ganze große Masse der badischen Armee, Linie und Volkswehr, nach Heidelberg, um durchs Gebirg auf einem enormen Umweg den ihnen in der Ebene verlegten Weg nach Karlsruhe und Rastatt zu finden. Diesen Rückzug sollte Becker decken - mit seinen eben ausgehobenen ungeübten Leuten und wie immer ohne Reiterei und Geschütz. Nachdem er den Flüchtlingen hinreichend Vorsprung gelassen, zog er am 22. abends 8 Uhr von Heidelberg nach Neckargemünd, wo er ein paar Stunden rastete, kam am 23. nach Sinsheim, wo er angesichts des Feindes in Schlachtordnung wieder einige Stunden ruhen ließ, und denselben Abend nach Eppingen, und am 24. über Bretten nach Durlach, wo er abends 8 Uhr ankam, um aufs neue in den ungeordneten Rückzug der jetzt vereinigten pfälzisch-badischen Armee verwickelt zu werden. Hier erhielt Becker auch noch den Befehl über die Trümmer der Pfälzer Truppen und sollte nun nicht nur den Rückzug Mieroslawskis decken, sondern auch Durlach solange halten, bis Karlsruhe geräumt war. Wie immer ließ man ihn auch jetzt wieder ohne Artillerie, denn die ihm zugewiesene war bereits abmarschiert. Becker verschanzte Durlach, so gut es in der Eile ging, und wurde gleich am nächsten Morgen (25. Juni) von zwei preußischen Divisionen und von den Peuckerschen Reichstruppen von drei Seiten her eingegriffen. Er wies nicht nur alle Angriffe ab, sondern ging wiederholt selbst zum Angriff über, trotzdem er das Geschützfeuer des Feindes nur durch Schützenfeuer erwidern konnte, und zog nach vierstündigem Kampfe, unbehelligt von den ausgesandten Umgehungskolonnen, erst dann in bester Ordnung ab, nachdem er die Nachricht erhalten, daß Karlsruhe geräumt und sein Auftrag erfüllt sei. Dies ist wohl die glänzendste Episode im ganzen badisch-pfälzischen Feldzug. Mit Leuten, die der Mehrzahl nach kaum 14 Tage bis 3 Wochen eingestellt, die, ganz rohe Rekruten, von improvisierten Offizieren und Unteroffizieren kaum notdürftig eingeübt waren und die von Disziplin kaum eine Spur besaßen, machte Becker als Nachhut der geschlagenen und
21 Man/Emels, Werlte, Bd. 21
halb aufgelösten Armeen in 48 Stunden einen Marsch von über 80 Kilometern oder 11 deutschen Meilen, der gleich mit einem Nachtmarsch begann, und brachte sie mitten durch den Feind nach Durlach in einer Verfassung, daß sie am nächsten Morgen den Preußen eines der wenigen Gefechte des Feldzugs liefern konnten, in denen der Gefechtszweck auf seiten der Revolutionsarmee vollständig erreicht wurde. Es ist das eine Leistung, die alten Truppen Ehre machen würde und die bei so jungen Soldaten im höchsten Grade selten und ehrenvoll ist. An der Murg angekommen, kam Becker mit seiner Division östlich von Rastatt zu stehen und nahm ehrenvollen Anteil an den Kämpfen des 29. und 30. Juni. Das Resultat ist bekannt; der sechsfach zahlreichere Feind umging die Stellung durch württembergisches Gebiet und rollte sie dann vom rechten Flügel an auf. Der Feldzug war nun auch formell entschieden und endigte notgedrungen mit dem Übertritt der revolutionären Armee auf Schweizer Gebiet. Bis dahin war Becker vorzugsweise als einfacher demokratischer Republikaner aufgetreten; aber von nun an geht er einen bedeutenden Schritt weiter. Die nähere Bekanntschaft mit den deutschen „reinen Republikanern", und namentlich mit den süddeutschen, und seine Erfahrungen in der 1849er Revolution bewiesen ihm, daß die Sache in Zukunft anders angefaßt werden müsse. Die starken Sympathien für das Proletariat, die Becker von Jugend an hegte, nahmen nun eine festere Gestalt an; es war ihm klar geworden, daß, wenn die Bourgeoisie überall den Kern der reaktionären Parteien bildete, so nur das Proletariat den Kern einer wirklich revolutionären Macht bilden könne. Der Gefühlskommunist wurde bewußter Kommunist. Noch einmal versuchte er die Bildung einer Freischar; es war 1860, nach dem siegreichen Zug Garibaldis nach Sizilien. Er ging von Genf nach Genua, um im Einverständnis mit Garibaldi die Vorbereitungen zu trejffen. Aber die raschen Fortschritte Garibaldis und die Einmischung der italienischen Armee, die die Früchte des Sieges für die Monarchie einheimsen sollte, brachten den Feldzug zum Abschluß. Indes erwartete man allgemein einen neuen Krieg mit Österreich im nächsten Jahr. Es ist bekannt, wie Rußland Louis-Napoleon und Italien benutzen wollte, um die 1859 unvollendet gebliebene russische Rache an Österreich zu vervollständigen. Die italienische Regierung schickte einen hohen Generalstabsoffizier zu Becker nach Genua und trug ihm den Oberstenrang in der italienischen Armee, glänzendes Gehalt und Diäten, und das Kommando über eine von ihm zu bildende Legion im erwarteten Kriege an, falls er in Deutschland Propaganda für Italien
gegen Österreich machen wollte. Aber der Proletarier Becker schlug rund ab; mit Fürstendienst wollte er nichts zu tun haben. Das war sein letzter Versuch als Freischärler. Bald darauf wurde die Internationale Arbeiter-Assoziation gegründet, und einer ihrer Gründer war Becker; er war gegenwärtig auf dem berühmten Meeting in St.Martin's Hall, von dem die Internationale datiert12871. Er organisierte die deutschen und eingebornen Arbeiter der romanischen Schweiz, gründete als Organ dieser Gruppe den „Vorboten"[2881, war auf allen Kongressen der Internationale gegenwärtig und stand im Vordertreffen des Kampfes gegen die bakunistischen Anarchisten der Alliance de la Democratic socialisteI2891und des Schweizer Jura. Nach dem Zerfall der Internationale bot sich Becker weniger Gelegenheit, öffentlich hervorzutreten. Aber er blieb dennoch stets mitten in der Arbeiterbewegung und übte durch seine ausgedehnte Korrespondenz und die häufigen Besuche, die ihm in Genf wurden, fortwährend seinen Einfluß auf ihren Gang aus. 1882 sah er Marx auf einen Tag bei sich, und noch im September dieses Jahres unternahm der Siebenundsiebzigjährige eine Reise durch die Pfalz und Belgien nach London und Paris, auf der ich die Freude hatte, ihn vierzehn Tage bei mir zu haben und über alte und neue Zeiten mit ihm zu sprechen. Und kaum zwei Monate später meldet der Telegraph seinen Tod! Becker war ein seltener Mann. Ein einziges Wort bezeichnet ihn ganz das Wort: kerngesund; an Körper und an Geist war er kerngesund bis zuletzt. Ein Hüne von Gestalt, von riesiger Körperkraft, dabei ein schöner Mann, hatte er seinen ungelehrten, aber keineswegs ungebildeten Geist, dank glücklicher Anlage und gesunder Tätigkeit, ebenso harmonisch entwickelt wie seinen Körper. Er war einer von den wenigen Menschen, die nur ihrer eigenen instinktiven Natur zu folgen brauchen, um richtig zu gehen. Daher wurde es ihm auch so leicht, mit jeder Entwicklung der revolutionären Bewegung Schritt zu halten und im achtundsiebzigsten Jahre noch ebenso frisch in der ersten Reihe zu stehen wie im achtzehnten. Der Knabe, der 1814 schon mit den durchziehenden Kosaken gespielt und 1820 Sand, den Erdolcher Kotzebues, hatte hinrichten sehen, entwickelte sich vom unbestimmten Oppositionsmann der zwanziger Jahre immer weiter und stand noch 1886 vollständig auf der Höhe der Bewegung. Dabei war er kein finsterer Gesinnungslümmel wie die meisten „ernschten" Republikaner von 1848, sondern ein echter Sohn der heitern Pfalz, lebenslustig, liebte Wein, Weib und Gesang trotz dem Besten. Erwachsen auf dem Boden des „Nibelungenliedes"[39], um Worms, sah er noch auf seine alten Tage aus
wie eine der Gestalten aus unserem alten Heldengedicht: heiter und spottvoll, den Gegner anrufend zwischen den Schwerteshieben, Volkslieder dichtend, wenn es nichts zu schlagen gab - so und nicht anders muß er ausgesehen haben, Volker der Fiedeler! Seine bedeutendste Befähigung war aber unbedingt seine militärische. In Baden hat er entschieden mehr geleistet als irgendein anderer. Während die übrigen Offiziere, in der Schule stehender Heere erzogen, hier einen wildfremden, für sie fast unlenkbaren Soldatenstoff vorfanden, hatte Becker seine ganze Organisationskunst, Taktik und Strategie in der hanebüchenen Schule der Schweizer Miliz gelernt. Ein Volksheer war ihm nichts Fremdes, seine notwendigen Mängel nichts Ungewohntes. Wo die anderen verzagten oder sich erbosten, blieb Becker ruhig und fand einen Ausweg über den andern, wußte seine Leute richtig zu behandeln, belebte sie wieder mit einem Witzwort und behielt sie schließlich in der Hand. Um den Marsch von Heidelberg nach Durlach mit einer Division von fast lauter ungeübten Rekruten, die aber dennoch fähig blieben, sofort ein gut unterhaltenes Gefecht aufzunehmen, kann ihn mancher preußische General von 1870 beneiden. Und in demselben Gefecht brachte er die ihm zugeteilten Pfälzer, mit denen niemand etwas machen gekonnt, ins Gefecht und sogar zum Angriff auf freiem Feld. In Becker haben wir den einzigen deutschen Revolutionsgeneral verloren, den wir hatten. Das war der Mann, der an den Freiheitskämpfen von drei Generationen ehrenvoll Teil genommen. Die Arbeiter aber werden sein Andenken treu bewahren als das eines ihrer Besten!
London, 9.Dezember 1886
Friedrich Engels

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