segunda parte tomo 11

Friedrich Engels
Der Krimkrieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4411 vom 8.Juni 1855, Leitartikel] Während wir schreiben, müssen die Feldoperationen in der Krim begonnen haben, von denen wir vor einigen Tagen als in Vorbereitung stehend sprachen.1 Mit diesen Operationen tritt der Krieg, soweit er auf die Halbinsel beschränkt ist, in ein neues und wahrscheinlich entscheidendes Entwicklungsstadium. Die rasche Ankunft der piemontesischen und französischen Reserven und besonders die plötzliche Veränderung, in deren Resultat Canrobert sein Kommando mit dem über ein einziges Korps vertauschte, während P6lissier den Oberbefehl übernimmt, sind sichere Anzeichen dafür, daß die Zeit gekommen ist für eine Änderung in der Taktik der Alliierten. Was eine allgemeine Beschreibung des Geländes angeht, auf das der Schauplatz der Operationen verlegt werden soll, und eine allgemeine Übersicht über die Kräfte, die jetzt engagiert werden, so verweisen wir auf unseren vorigen Artikel. Man wird sich erinnern, daß die Hauptposition der russischen Observationsarmee, die die Verbindung mit der Nordseite Sewastopols aufrechterhält, auf dem Plateau zwischen Inkerman und der Stelle liegt, wo die Straße von Balaklawa nach Simferopol den Bergkamm kreuzt, der die Täler der Tschornaja und des Belbek voneinander trennt. Diese Position - von großer natürlicher Stärke - haben die Russen vollständig verschanzt. Sie dehnt sich ungefähr vier Meilen zwischen der Spitze der Bucht von Sewastopol und der unzugänglichen Gebirgskette aus, und die Russen werden in der Lage sein, dort mindestens 50000 oder 60000 Mann Infanterie und Artillerie zu konzentrieren, was für die Verteidigung vollauf genügt.
1 Siehe die deutsche Variante im vorl. Band, S. 213-216
Diese Position in der Front zu attackieren, würde eine große zahlenmäßige Überlegenheit erfordern und furchtbare Opfer mit sich bringen; indessen können sich die Alliierten weder das eine noch das andere leisten. Selbst wenn es ihnen gelänge, die Verschanzungen zu erobern, wären ihre Verluste so schwer, daß sie nicht imstande wären, die Kampagne energisch weiterzuführen. Sie müssen deshalb versuchen, eine Anzahl Russen von dort abzuziehen und Wege zu finden, sie zu umgehen. Zu diesem Zwecke war die mysteriöse Expedition nach Kertsch unternommen worden. Ungefähr 15000 Mann der Alliierten wurden eingeschifft, zogen vor den Augen der Russen an Jalta vorbei, segelten nach Kertsch und wieder zurück. Warum sie nicht den Versuch machten zu landen, wird mit einem telegraphischen Befehl aus Paris zu erklären versucht. Auf alle Fälle muß dieser bloße Ersatz für eine Demonstration als ein völliges Fiasko bezeichnet werden; keinen General, der bei Sinnen ist, würde man vereinlassen können, seine Truppen für die Durchführung einer Expedition zu teilen, die nicht einmal wagt, auch nur den Anschein eines Gefechtes zu liefern. Ein Angriff auf Kaffa, selbst wenn man ihn im Hauptquartier erwogen hatte, scheint schließlich auch aufgegeben worden zu sein. Truppen nach Eupatoria zu bringen, um von diesem Punkt aus vorzubrechen, konnte nicht in Frage stehen, denn sonst wären die piemontesischen und französischen Reserven sofort dort hingeschickt worden. Und da es weder ein der Küste zwischen Balaklawa und Kaffa noch zwischen Sewastopol und Eupatoria einen anderen Hafen oder eine gute Reede gibt, scheint man schließlich den Gedanken aufgegeben zu haben, die Russen zur See zu umgehen; es bleibt also nichts anderes übrig, als sie zu Lande zu umgehen, was sich - wie wir bereits festgestellt haben - als eine äußerst schwierige Operation erweisen muß. Es gibt außer der von den Russen besetzten Straße oberhalb von Inkerman nur noch eine andere Heerstraße, die von Balaklawa nach Simferopol führt. Sie verläuft längs der Südküste bis nach Aluschta, wo sie ins Landinnere einbiegt, führt in einer Höhe von 2800 Fuß über dem Meeresspiegel über die Berge östlich des Tschatyr-Dag oder des Zeltberges, des höchsten Berges auf der Krim, und steigt durch das Tal des Salgir, des Hauptflusses der Krim, nach Simferopol hinab. Von Balaklawa nach Aluschta sind es vier, von Aluschta nach Simferopol drei Tagemärsche - insgesamt etwa 95 englische Meilen. Da es aber keine Nebenstraßen gibt, auf denen die Truppen in mehreren parallelen Kolonnen marschieren könnten, müßte die ganze Armee auf dieser einen Straße in einer enorm auseinandergezogenen Kolonne vorrücken, wobei sie wenigstens vier oder fünf Tage lang in einem ununterbrochenen Strom marschieren müßte. In der Nähe von Aluschta und auf dem Paß gibt es
einige alte Befestigungen, und wir können sicher sein, daß man den Paß selbst stark verschanzt vorfinden wird. Statt sieben Tage würde die Armee vielleicht zwölf benötigen, ehe überhaupt der Paß des Tschatyr-Dag überquert werden könnte - Zeit genug für die Russen, das Korps anzugreifen, das für die Sicherung der Belagerung zurückbleibt, oder mit dem größeren Teil ihrer Streitkräfte gegen den Feind zu ziehen und von den Hügeln aus, wenn er aus dem Engpaß hervorbricht, mit überlegenen Kräften ihm zu begegnen, während leichte, bewegliche, auf den Fußpfaden an der Oberen Katscha und der Alma vorgeschickte Kolonnen sich auf seine Flanke und auf seine Nachhut werfen würden. Der größte Fehler einer Flankenbewegung über Aluschta würde jedoch das völlige Fehlen einer Operationsbasis sein. Die offene Reede von Aluschta läßt den Gedanken, diesen Ort auch nur in eine vorübergehende Basis zu verwandeln, nicht zu; so kann, sogar bevor Aluschta passiert wird, die russische leichte Infanterie, die auf den durch die Berge führenden Fußpfaden herabkommt, die Verbindung mit Balaklawa durchaus wirksam unterbrechen. Daher kann der Marsch über Aluschta schwerlich unternommen werden. Das Risiko überwiegt bei weitem die möglichen Vorteile. Es gibt jedoch einen anderen Weg, die Russen zu umgehen. Wenn beim Marsch über Aluschta alle Vorteile, die den Alliierten die große Straße bietet, in bedeutendem Maße dadurch aufgewogen werden, daß die Russen die Fußpfade für Attacken ausnutzen können, warum könnten den Alliierten dann nicht die gleichen Fußpfade zum gleichen Vorteil gereichen? Das würde ein völlig anderes Operieren mit sich bringen. In diesem Falle würden die Alliierten die Hauptmasse ihrer Feldtruppen, einschließlich des Korps, das dazu bestimmt ist, die Nordseite Sewastopols zu blockieren, direkt gegenüber dem russischen Lager oberhalb Inkermans aufstellen und damit ihre Gegner zwingen, die große Masse ihrer Truppen in den Verschanzungen festzuhalten. Inzwischen würden Zuaven, Chasseure, leichte Infanterie, britische Schützen und sogar die berittenen Chasseurs d'Afrique1, und auch was an Gebirgsartillerie aufzubringen ist, in ebenso viele Kolonnen formiert werden, wie es Fußpfade gibt, die vom Baidartal und von der Südküste in der Nähe Alupkas, 30 Meilen von Balaklawa, in die Täler des Belbek und der Katscha führen. Ein Nachtmarsch würde genügen, um die Truppen, die die äußerste linke Flanke der Russen umgehen müssen, über das Baidartal zur Südküste zu bringen, wo sie der Feind nicht mehr erreichen kann. Ein weiterer Tagemarsch würde sie nach Alupka bringen. Oberhalb von Alupka zieht sich die
1 für den Di enst in Afrika bestimmte leichte Reiterei
steile Gebirgskette des Jaila-Gebirges hin, das auf seinem nördlichen Abhang ungefähr 2000 Fuß über dem Meeresspiegel eine Hochebene bildet, die gutes Weideland für Schafe bietet; die Hochebene steigt über felsige Abgründe in die engen Täler der Flüßchen Bijuk Usen und Usen Bäsch herab, die bei ihrem Zusammenfließen den Fluß Belbek bilden. Drei Fußpfade führen zu diesem Plateau in der Nähe von Alupka hinauf und münden in die Täler der beiden Flüßchen Usen. Dieses ganze Gelände ist für eine Infanterie wie die Zuaven und Chasseure, die sich in Afrika an Gebirgskriegen weit schwierigerer Art gewöhnt haben, durchaus wegsam. Vom Tal der Oberen Tschornaja, besser bekannt unter dem Namen Baidartal, führen wenigstens zwei Fußpfade zum Tal des Oberen Belbek, und schließlich geht ein Pfad von der Straße nach Balaklawa und Simferopol kurz vor dem Bergpaß ab und überquert den Kamm drei Meilen südöstlich der Mackenzie-Pacht und führt unmittelbar zur linken Flanke der verschanzten Positionen der Russen. Wenn diese Pfade auch noch so beschwerlich sind, so müssen sie doch für die französischen leichten Truppen aus Afrika passierbar sein. „Wo eine Ziege gehen kann, kann auch ein Mensch gehen; wo ein Mensch, da auch ein ganzes Bataillon; wo ein ganzes Bataillon durchkommt, können mit einiger Mühe auch ein oder zwei Pferde durchkommen, und schließlich wird es auch vielleicht gelingen, ein Feldgeschütz durchzubringen." Wir sollten uns wirklich nicht wundern, wenn diese auf den Landkarten markierten, ausgetretenen Schafswege und Fußpfade sich sogar als Landstraßen erweisen, als schlechte zwar, aber doch als ganz brauchbar für eine Flankenbewegung, bei der sogar Artillerie die Kolonnen begleiten kann. In diesem Falle sollte die Umgehung mit möglichst starken Kräften durchgeführt werden, und dann werden die Russen, sogar ohne einen ernsthaften Frontalangriff, bald gezwungen sein, ihre Verschanzungen aufzugeben. Aber falls diese Pfade für Feldgeschütze nicht passierbar sind (Raketen und Gebirgshaubitzen kommen überall durch), werden die Umgehungsabteilungen sich in einfache bewegliche Kolonnen verwandeln, so weit sie können die russischen Truppen aus den oberen Tälern des Belbek hinausdrängen, ins Tal der Katscha eindringen, die Nachhut der Russen bedrohen, ihre Verbindungen unterbrechen, ihre Konvois vernichten, zuverlässige Nachrichten sammeln, das Land rekognoszieren und so viele russische Detachements wie möglich auf sich ziehen, bis die Straße, die die wenigsten Schwierigkeiten bietet, soweit wegsam gemacht worden ist, daß die Artillerie passieren kann. Dann könnte man ihnen starke Kräfte nachsenden und die russische Nachhut so ernstlich bedrohen, daß eine Räumimg der Verschanzungen erzwungen wird. Wir glauben nicht, daß ein Vordringen bloß von Infanterie und leichter Kavallerie über diese Berge an der linken Flanke und
im Rücken der Russen eine solche Wirkung erzielen kann, da sie die russischen Kommunikationen nicht ernsthaft bedrohen könnten, ohne in ein Gelände hinabzusteigen, wo die Artillerie ihre volle Wirkung wiedererlangt und dadurch jener Seite das Übergewicht sichert, die es in Besitz nimmt. Aber es besteht kein Zweifel darüber, daß mit einiger Findigkeit die Artillerie in die Lage versetzt werden kann, den Umgehungskolonnen zu folgen. Bei JenaL152] zeigte Napoleon, was man mit einem einfachen Fußpfad machen kann, der sich einen steilen Hügel hinaufwindet; innerhalb von fünf Stunden war der Weg für Kanonen breit genug gemacht, die Preußen wurden von der Flanke her attackiert, und der Sieg am nächsten Tag war gesichert. Und wo eine Krimarba1 durchkommt, kommt auch ein Feldgeschütz durch; einige der in Frage kommenden Fußpfade, besonders jene, die von der Tschornaja zu dem Belbek führen, scheinen solche alten Landwege für die Arbas zu sein. Aber um solch eine Bewegung auszuführen, ist die erste Bedingung, über genügend Kräfte zu verfügen. Die Russen werden sicherlich zahlenmäßig im Vorteil sein und das Gelände besser kennen. Ersteres kann durch ein kühnes Vorgehen Omer Paschas von Eupatoria nach der Alma wettgemacht werden. Wenn die russische Superiorität in der Kavallerie es ihm auch nicht gestatten wird, sich schnell oder weit vorwärtszubewegen, so kann er dennoch, wenn er gut manövriert und seine Kommunikationen gut sichert, den Fürsten Gortschakow zwingen, mehr Infanterie gegen ihn einzusetzen. Aber sich auf eine derartige Nebenoperation zu verlassen, wäre für die Alliierten eine zu unsichere Sache. Um also das Vorrücken von Balaklawa zu bewerkstelligen wäre es für sie am besten, ein oder zwei Tage vor dem wirklichen Angrif einige 20000 Türken nach dem Chersones zu überführen (was sie getan haben, wie wir vor einiger Zeit berichteten2), wo sie doppelt soviel wert wären als in Eupatoria. Das würde ihnen die Möglichkeit geben, einschließlich der etwa 6000 Mann starken Kavallerie mit nahezu 110000 Mann die Russen zu attackieren, ihnen ungefähr 65 000-75 000 Mann (einschließlich 15000 bis 20000 Mann von der Garnison der Nordseite) und 10000 Mann Kavallerie entgegenstellen zu können. Aber sobald das Umgehungskorps beginnt, die linke Flanke und die Nachhut der Russen zu bedrohen, werden die Kräfte, die man ihm entgegenstellen würde, verhältnismäßig schwach sein, da die Detachements von der Nordseite sich nicht der Gefahr aussetzen könnten, von ihrem um die Zitadelle gelegenen verschanzten Lager abgeschnitten zu werden; und daher würden die Alliierten, da sie in der Lage sind, ihre
1 Krimkarren - 2 dieser Satz wurde offensichtlich von der Redaktion der „New-York Daily Tribüne44 eingefügt.
ganze verfügbare Feldarmee überall dort, wosie wollen, einzusetzen,sehrüberlegen sein. In diesem Falle also könnten sie mit Sicherheit auf Erfolg rechnen; aber wenn sie ohne Hilfe die Russen attackieren und das zahlenmäßige Verhältnis beider Armeen, wie sie aus zuverlässiger Quelle angegeben werden, stimmt, haben sie nur geringe Chancen auf Erfolg. Ihr Flankenkorps wäre zu schwach und könnte von den Russen völlig unbeachtet bleiben, die ihrerseits durch einen kühnen Ausfall aus ihren Linien die geschwächten Alliierten den Abgrund hinunter in die Tschornaja treiben könnten. Man hält auch ein anderes Manöver der Alliierten für möglich: einen unmittelbaren Sturm auf die Südseite Sewastopols. Es heißt sogar, daß aus Paris ein unbedingter Befehl telegraphiert worden sei, diesen Sturm zu unternehmen, und daß Canrobert resignierte, weil er es nicht verantworten konnte, eine Bewegung auszuführen, die seiner Meinung nach den Verlust von 40000 Mann bedeutet hätte. Nach dem zu urteilen, was wir von den militärischen Ideen Louis Bonapartes kennengelernt haben, die er durch sein Eingreifen in die gegenwärtige Kampagne zur Schau stellt, ist es durchaus nicht unglaubhaft, daß ein solcher Befehl erteilt worden sein könnte. Aber es ist noch weniger wahrscheinlich, daß selbst ein so verwegener Sabreur wie Pelissier die Ausführung eines solchen Befehls auf sich genommen hätte. Im vergangenen Monat müssen die französischen Soldaten eine recht gute Vorstellung davon erhalten haben, auf welchen Widerstand sie bei einem Sturm stoßen werden. Und eine Operation, die nicht ohne den Verlust von etlichen 40000 Mann ausgeführt werden kann, das sind mehr als ein Drittel der gesamten für den Sturm verfügbaren Armee, hat gewiß sehr wenig Aussicht auf Erfolg. Pelissier mag zwar darauf erpicht sein, den Marschallstab aufzuheben, der den Händen Canroberts entglitten ist, aber wir zweifeln sehr, ob er Bonapartist genug ist, sein Glück und seinen Ruf gegen eine solche Übermacht aufs Spiel zu setzen. Aber selbst wenn wir annehmen, daß der Sturm erfolgreich war, daß nicht nur die erste Verteidigungslinie, sondern auch die zweite Linie genommen wurde, daß selbst die Barrikaden, die mit Schießscharten versehenen Häuser und die Baracken der Verteidiger, die den Zugang zu den Küstenforts versperren, daß auch diese Küstenforts genommen worden sind und die ganze Südseite in die Hände der Alliierten gefallen ist, bei einem Verlust von, sagen wir, nur 30000 gegenüber einem Verlust von 20000 Rul tri was dann? Die Alliierten würden 10000 Mann mehr als die Russen verloren haben, der befestigte Platz müßte augenblicklich aufgegeben werden, und der Feldzug würde sogar noch schwieriger werden als vorher. Aber es gibt ein Moment, das sogleich den Gedanken an einen unmittelbaren Generalsturm ausschließt. Auf Grund halbamtlicher Berichte hatten wir
uns nur um der Polemik willen in einem früheren Artikel über die Belagerung1 veranlaßt gesehen, einzuräumen, daß die Russen aus ihren neuen Außenwerken vor Sewastopol vertrieben worden seien. Gleichzeitig wiesen wir darauf hin, daß wir allen Grund hätten, die Richtigkeit solcher Berichte anzuzweifeln, da die Alliierten jeden Erfolg dieser Art laut und unmißverständlich verkündet hätten. Jetzt wissen wir positiv von russischer Seite, daß die Kamtschatka- (der Mamelon), Selenginsk- und Wolhynsk-Redouten noch in ihrem Besitz sind, während Berichte aus dem Lager der Alliierten das nicht nur bestätigen, sondern auch zugeben, daß die Belagerten weitere Außenwerke aufgeworfen haben. Das Übergewicht, das die Alliierten gewonnen haben, indem sie ihre vorgeschobenen Approchen näher an die Festung heranschoben, ist also von den Konterapprochen der Russen völlig aufgewogen worden, und die Linie, auf der die beiden Seiten mit gleichen Kräften einander begegnen können, ist noch weit vom Hauptgraben entfernt. Ein Sturm ist aber nur ratsam, wenn die Linie, an der die Stärke des Angreifers bei üblichen Belagerungsoperationen der* des Verteidigers gleich ist, im Hauptgraben verläuft. Es ist klar, daß sonst die Sturmkolonnen niedergeworfen und aufgerieben würden, ehe sie noch den Rand der Brustwehr erreichen könnten. Solange also die Russen nicht über den Hauptgraben zurückgetrieben werden können, wird es unmöglich sein, den hinter diesem Hauptgraben gelegenen Hauptwall zu stürmen. Was die zweite hinter diesem Graben errichtete Linie anbelangt, kann gegenwärtig überhaupt keine Rede davon sein, sie zu nehmen. Es ist möglich, daß eine Chance besteht für den Erfolg eines Teilangriffes auf die linke oder Stadtseite auf dem Abschnitt der Quarantäne-Bastion bis zur Flagstaff-Bastion, wo die Hauptattacke der Franzosen vorgetragen wird. Aber in dieser Hinsicht hält uns die Politik der französischen Regierung völlig im dunkeln, soweit es die Ausdehnung und Stärke der russischen Außenwerke angeht, und die neuesten russischen Nachrichten, die in letzter Zeit alle durch den Telegraphen übermittelt wurden, enthalten keine bestimmte und detaillierte Darstellung. Die Russen geben jedoch selbst zu, daß die französischen Werke bei der Flagstaff-Bastion dicht am Hauptwall liegen und dort eine Mine hochgegangen ist, wenn auch ohne irgendwelche bedeutenden Resultate. Hier könnte also ein lokaler Sturm von Erfolg sein, aber auf Grund der hervorspringenden Lage dieser Bastion und des beherrschenden Geländes dahinter (die russische Jasonowski-Redoute2) ist es sehr zweifelhaft, ob irgend etwas durch die Eroberung dieser Bastion gewonnen würde,
1 Siehe vorl. Band, S. 203 - 2 im englischen Text: „the Russian Garden Battery" (die russische Gartenbatterie)
die von den übrigen Befestigungswerken durch ein oder zwei Querwälle in ihrem Rücken isoliert worden sein muß, wodurch die stürmenden Kolonnen daran gehindert werden, sich dort festzusetzen, oder wenigstens daran, weiter vorzudringen. Ob nun der Sturm versucht wird oder Feldoperationen unternommen werden, die Alliierten werden mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Aber auf jeden Fall nähert sich die schläfrige Art der Kriegführung ihrem Ende, die seit der Ankunft der Alliierten vor Sewastopol betrieben wird, und aufregende Ereignisse sowie Operationen von wirklichem militärischem Interesse können jetzt erwartet werden.
Geschrieben am 21. Mai 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Zur Reformbewegung
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.237 vom 24. Mai 1855] London, 21. Mai. Sämtliche Londoner Blätter veröffentlichen heute .eine Adresse der Cityreformer oder vielmehr ihres Verwaltungsausschusses an das „Volk von England". Der Stil des Aktenstücks ist trocken, geschäftsmäßig, nicht ganz so hochfliegend wie die Handelszirkulare, die periodisch von derselben Stelle ausgehn und Kaffee, Tee, Zucker, Gewürze und andere Produkte der Tropenländer in mehr oder minder geschmackvoll arrangierten Phrasengeflechten der Welt zum Verkauf auslegen. Die Assoziation verspricht, Materialien zu einer förmlichen Physiologie der verschiedenen Regierungsdepartements zu liefern und sämdiche Mysterien von Downing Street[153J, der erbweisheitlichen Downing Street, zu enthüllen. Das ist, was sie verspricht. Sie verlangt ihrerseits, daß die Wahlkörper von England, statt wie bisher von den aristokratischen Klubs aufgedrängte, frei nach ihrem Herzen gewählte und nur durch ihr Verdienst empfohlene Kandidaten in das Parlament senden. Sie erkennt also die bestehenden privilegierten Wahlkörper als normal an, dieselben Wahlkörper, von denen sie gesteht, daß ihre Bestechlichkeit, ihre Abhängigkeit von ein paar Klubs, ihre Unselbständigkeit die Geburtsstätte des jetzigen Unterhauses und darum der jetzigen Regierung sind. Sie will diese exklusiven Körperschaften nicht auflösen, nicht einmal erweitern, sondern nur moralisieren. Warum dann nicht gleich der Oligarchie selbst ins Gewissen reden, statt sie mit Abschaffung ihrer Privilegien zu bedrohen ? Es muß jedenfalls eine leichtere Arbeit sein, die oligarchischen Häupter zu bekehren als die oligarchischen Wahlkörper. Die Cityassoziation möchte offenbar eine antiaristokratische Bewegung hervorrufen, aber eine Bewegung innerhalb der Grenzen des legalen (wie Guizot es nannte), des offiziellen England. Und wie gedenken sie den faulen Sumpf
dieser Wahlkörper äufzus türmen? Wie sie zur Emanzipation von Interessen und Gewohnheiten zu treiben, die sie zu Vasallen von ein paar vornehmen Klubs machen und zu Grundpfeilern der regierenden Oligarchie? Durch eine Physiologie von Downing Street? Nicht ganz so. Sondern auch durch Druck von außen, durch Massenmeetings und dergleichen. Und wie wollen sie die nichtoffizielle, die nicht wahlfähige Volksmasse in Bewegung setzen, um auf den privilegierten Kreis der Wahlkörper zu wirken? Dadurch, daß sie sie einladen, auf die Volks-Charte1771 (die im Grund nichts enthält als die Forderung des allgemeinen Wahlrechts und die Bedingungen, worunter es allein in England eine Wahrheit werden kann) zu verzichten und die Privilegien dieser nach dem Geständnis der Cityreformer selbst in der Verwesung begriffenen Körperschaften anzuerkennen. Die Cityassoziation hat das Beispiel der „finanziellen und parlamentarischen Reformer" vor sich. Sie weiß, daß diese Bewegung, an deren Spitze Hume, Bright, Cobden, Walmsley, Thompson standen, gescheitert ist, weil sie an die Stelle der Volks-Charte die sogenannte „Kleine Charte"[78] setzten, weil sie bloß Konzessionen an die Volksmasse machen, bloß ein Kompromiß mit ihr schließen wollten. Und sie bilden sich ein, ohne Konzession zu erreichen, was jene trotz der Konzession nicht erreichen konnten? Oder folgern sie aus der Antikorngesetzbewegung, daß es möglich ist, das englische Volk für partielle Reformen in Bewegung zu setzen? Aber der Gegenstand jener Bewegung war sehr allgemein, sehr populär, sehr handgreiflich. Das Symbol der Anti-Corn-Law League[13?1 war bekanntlich ein großes und breites Laib Brot im Gegensatz zum Diminutivbrot der Protektionisten. Ein Laib Brot, namentlich im Hungerjahre 1846, spricht natürlich einen ganz andern Volksdialekt als eine „Physiologie von Downing Street". Wir brauchen nicht an ein bekanntes Büchlein zu erinnern - „Die Physiologie der City"E1541. Hier wird haarscharf gezeigt, daß, so gut die Herren ihr eignes Geschäft treiben mögen, sie in der Verwaltung gemeinschaftlicher Geschäfte, wie aller Assekuranzgesellschaften, mehr oder minder das Muster der offiziellen Downing Street treu befolgen. Ihre Verwaltung der Eisenhahnen mit den schreienden Prellereien, Schwindeleien und der totalen Vernachlässigung für Sicherheitsvorkehrung, ist so berüchtigt, daß mehr als einmal in der Presse, im Parlament und außerhalb des Parlaments die Frage aufgeworfen wurde, ob die Eisenbahnen nicht unter direkte Staatskontfolie zu stellen und den Händen der Privatkapitalisten zu entziehen [seien]! Die Physiologie der Downing Street wird also nichts „tun", wie die Engländer sagen. „This will not do, sir!"
Karl Marx
Zur Kritik der Krimschen Angelegenheiten Aus dem Parlamente
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr. 241 vom 26.Mai 1855] London, 23. Mai. Die bedrohliche Unzufriedenheit, die der Rückruf der Expedition nach Kertsch in der alliierten Armee und Flotte vor Sewastopol hervorgerufen, hat ein Echo, wenn auch ein schwaches, mattes, in der Londoner Presse gefunden. Man beginnt zu fürchten, daß Einheit und künstlerischer Verlauf des Kriegsdramas in der Krim weniger noch von den Russen bedroht sind als von anmaßlicher und launiger Intervention eines Deus ex machina1, des militärischen Genies Napoleons III. Die Proben dieses Genies in dem bekannten kriegswissenschaftlich-didaktischen „Versuch" des „Moniteur"11551 sind in der Tat alles andere als tröstlich und beruhigend. Bisher aber bot die Entfernung des Kriegsschauplatzes von den Tuilerien eine gewisse Garantie gegen die praktischen Eingriffe des militärischen Dilettantismus zu Paris. Unterdes hat der submarine Telegraph die Distanzen und mit den Distanzen die Garantie vernichtet, und John Bull, der sich selbst „the most thinking people of the world"2 zu nennen pflegt, beginnt nachdenklich zu werden und zu murren und zu klagen, daß die englische Marine und Flotte das corpus vile8 abgeben sollen, woran der erblich überkommene und providentiell vorhandene „militärische Genius" experimentiere. Der heutige „Morning Herald" versichert positiv, daß die Expedition zurückberufen, weil Bonaparte die mißliche Idee, Sewastopol von der Südseite zu stürmen, wiederaufgenommen habe. Wir zweifeln keinen Augenblick, daß der militärische Genius der Tuilerien von dieser fixen Idee besessen ist, aber wir können uns nicht überreden, daß selbst ein einfacher „Sabreur" wie
1 unerwarteten und plötzlichen Eintretens einer Person (im antiken Theater der Gott aus dem Maschinenwerk des Theaters, der plötzlich auf der Bühne erscheint) - 2 „das klügste Volk der Welt" - 8 den wertlosen Körper
16 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
Plissier zur Ausführung eines so sinnlos ruinierenden Plans fähig ist. Wir glauben daher, daß der Übergang en masse über die Tschornaja beschlossen ist, und daß man es bedenklich fand, die Gesamtkraft durch Detachierung eines Korps von 12000 Mann zu zersplittern. In der Tat, statt diese 12000 Mann zu detachieren, sollten umgekehrt, direkt vor dem Aufbruch der Armee, 15000-20000 Mann Türken in Eupatoria eingeschifft und der Hauptarmee einverleibt werden, so daß nur die zur Behauptung jenes Platzes unentbehrliche Besatzung zurückbliebe. Wie in einem früheren Brief nachgewiesen1, hängt der ganze Erfolg des Feldzugs von der Stärke der Armee ab, die die Tschornaja überschreitet. Wie dem auch sei, der Rückruf der Expedition nach Kertsch ist ein neuer Beweis des unsichern Schwankens, der hin- und hertappenden Pfuscherei, die heutzutage für „idees napol6oniennes"t11712 ausgegeben werden. Unterdes nutzen sich die zum Behuf des Coup d'£tat improvisierten Helden mit unerhörter Schnelligkeit ab. Die Reihe wurde eröffnet mit Espinasse, der nach seinem schmählichen Zuge in die Dobrudscha[156] von den Zuaven gezwungen wurde, Hals über Kopf nach Paris zu retirieren. Dieser Espmasse war derselbe Mann, der, mit der Bewachung des Gebäudes der Nationalversammlung betraut, sie ihren Feinden auslieferte.[157 ^ Der zweite in der absteigenden Linie war Leroy, alias Sfain]t~Arnaud, der Kriegsminister des zweiten Dezember. Ihm folgte Forey, so tapfer in der Hetzjagd gegen die unglücklichen Bauern des südöstlichen Frankreichs und so rücksichtsvoll-human gegen die Moskowiter. Der Verdacht der Armee, daß er den Russen die Geheimnisse des französischen Kriegsrats ausplaudere, zwang, ihn von der Krim nach Afrika wegzuspedieren. Endlich Canrobert wegen notorischer Unfähigkeit degradiert. Die Ironie der Geschichte hat Pelissier zu seinem Nachfolger und daher mehr oder minder zum Oberfeldherrn der englisch-französischen Armee ernannt - denselben Pelissier, von dem 1841 innerhalb des Parlaments, in Londoner Offizierklubs un d in country-meetings3, in der „Times" und im „Punch" wieder und wieder beteuert ward, daß nie ein englischer Offizier von Ehre mit diesem „Ungeheuer" („that feröcious monster") zusammen dienen könne. Und jetzt dient die englische Armee nicht nur mit, sondern unter ihm, die ganze englische Armee! Nachdem die Whigs und ihr auswärtiger Minister Palmerston eben von den Tories gestürzt waren, rief Palmerston seine Wähler zu Tiverton zusammen und bewies sein Recht, die englisch-französische Allianz aufzubrechen und sich mit Rußland zu verbinden, daraus, daß die französische Regierung, daß Louis-Philippe einen
1 Siehe vorl. Band, S. 174 - 2 „napoleonische Ideen*4 - 3 Landmeetings
Zur Kritik der Krimschen Angelegenheiten - Aus dem Parlamente 243
„Unmenschen" wie Pelissier in seinem Dienst verwende! Man muß gestehen, daß, wenn die französische Armee ihre Revolte vom Dezember teuer zahlt, auch für England nicht alles „Rose" ist in der Allianz mit dem restaurierten Kaisertum. Das Ministerium erlebte gestern im Unterhause eine Niederlage, die weiter nichts beweist, als daß das Parlament sich von Zeit zu Zeit an den Ministern rächt für die Verachtung, die es „out of doors"1 genießt. Ein gewisser Herr Wise brachte die Motion ein,
„daß es die Meinung dieses Hauses ist, daß die vollständige Revision unserer diplomatischen Etablissements, wie sie im Bericht des auserwählten Komitees von 1850 über Beamtengehalte empfohlen ist, ausgeführt werde44.
Herr Wise ist ein Freund Palmerstons. Seine Motion treibt sich vielleicht seit zwei Jahren auf der Tagesordnung des Hauses herum, ohne zu Worte zu kommen. Der Zufall warf sie gestern den mißvergnügten Gemeinen vor. Wise hielt seine Rede und glaubte dann, auf einige Bemerkungen Palmerstons hin, das gewohnte Spiel treiben und seine Motion zurückziehen' zu dürfen. Ganz gegen die Verabredung nahm aber Herr Baillie den Antrag auf, den Wise fallenließ, und brachte ihn durch gegen Wise und Palmerston mit einer Majorität von 112 gegen 57. Diese Niederlage beunruhigte einen alten erfahrenen Taktiker wie Palmerston keineswegs, da er weiß, daß das Haus, um den Schein der Selbständigkeit zu retten, von Zeit zu Zeit eine ministerielle Motion zum Tode und eine antiministerielle zum Leben verurteilen muß. Gleich einem elektrischen Schlag dagegen wirkte auf die ministeriellen Bänke Disraelis Motion.11581 Palmerston selbst, Meister der parlamentarischen Komödie, gratulierte „den Dichtern und Schauspielern dieser unvergleichlichen Szene". Das war nicht Ironie. Es war die unwillkürliche Huldigung, die ein Künstler dem Rivalen zollt, der ihn im eignen Fach schlägt. Palmerston hatte in der Montagsitzung mit Milner Gibson und Gladstone und Herbert und Bright und Lord Vane so geschickt gespielt, daß bis nach denPfingstferien alle Debatte über auswärtige Politik vertagt, Ministerium und Haus zum bestimmten Verhalten verpflichtet, eine mehrwöchentliche Diktatur dem edlen Vicomte selbst gesichert schien. Der einzige Tag, an dem noch debattiert werden konnte, Donnerstag, war für Layards Reformmotion mit Beschlag belegt. So konnte niemand Palmerston hindern, während der Pfingstferien Frieden zu schließen und, wie er mehr als einmal getan, das wieder versammelte Haus mit einem seiner berüchtigten Verträge zu überraschen. Das
1 „außerhalb der Tore (des Parlaments)"
Haus seinerseits hätte sich vielleicht nicht unwillig diesem Geschick der Überraschung unterzogen. Frieden, hinter seinem Rücken geschlossen, selbst Frieden k tout prix, war annehmbar mit einigen postfestum Protestaktionen, des Anstands halber. Von dem Augenblick aber, wo Haus und Ministerium gezwungen, sich auszusprechen vor der Vertagung, konnte das eine nicht mehr überraschen, das andre sich nicht mehr überraschen lassen. Daher die Bestürzung, als sich Disraeli erhob und seine Motion stellte und Layard seinen Tag an Disraeli abtrat. Diese „Verschwörung zwischen Layard und Disraeli", wie die „Post" das Ding nannte, vereitelte so alles geschickte Manövrieren seit dem „Schlüsse" der noch nicht abgebrochenen Wiener Konferenz^17'.
Karl Marx/Friedrich Engels
Das Vorspiel bei Lord Palmerston Verlauf der letzten Ereignisse in der Krim[159]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.243 vom 29.Mai 1855] London, 24. Mai. Sobald Disraelis Motion eine regelmäßige Schlacht zwischen den Ins und Oufs1 des Unterhauses in Aussicht gestellt hatte, ließ Palmerston den Alarmruf erschallen und beschied, einige Stunden vor Eröffnung der Sitzung, das ministerielle Gefolge nebst Peeliten1111, Manchesterschule1451 und sog. „Independenten" in seine Amtswohnung nach Downing Street11531.202 Parlamentler erschienen, mit Einschluß des Herrn Layard, der sich unfähig fühlte, dem ministeriellen Sirenenruf zu widerstehen. Palmerston diplomatisierte, beichtete, bereute, beschwichtigte, beschwatzte. Er nahm lächelnd die schulmeisterlichen Zurechtweisungen der Herren Bright, Lowe und Layard hin. Er überließ Lord Robert Grosvenor und Sir James Graham zu vermitteln mit den „Aufgeregten". Von dem Augenblicke, wo er die Malkontenten um sich geschart sah in seiner Amtswohnung, gemischt mit seinen Getreuen, war er ihrer sicher. Sie waren verstimmt, aber aussöhnungsbedürftig. Das Resultat der Unterhaussitzung war somit antizipiert; es blieb nichts mehr übrig als die parlamentarische Aufführung der Komödie vor dem Publikum. Die Pointe war abgebrochen. Eine kurze Skizze dieser Komödie werden wir geben, sobald ihr Schlußakt gespielt hat. Die Rückkehr des warmen und feuchten Wetters hat die Krankheitsformen, die der Frühlings- und Sommerjahreszeit in der Krim eigen, neubelebt. Cholera und kaltes Fieber sind im alliierten Feldlager wieder erschienen, bisher noch nicht mit großer Gewaltsamkeit, aber hinreichend, eine Warnung zu geben für die Zukunft. Das Miasma, das von der Masse verwesender animalischer Materie ausströmt, die über der ganzen Oberfläche des Chersones nur ein paar Zoll unter der Erddecke begraben liegt, hat sich
1 (denen, die im AmU im Ministerium» und denen» die nicht im Amt sind) Regierung und Opposition
bemerkbar gemacht. Gleichzeitig ist der moralische Zustand der Belagerungsarmee nichts weniger als befriedigend.1 Nachdem sie die Härten und Gefahren eines beispiellosen Winterfeldzugs überdauert, wurden die Soldaten einigermaßen in Ordnung und bei gutem Mut erhalten durch die Rückkehr des Frühlings und die stets wiederholten Versprechen einer schleunigen und glorreichen Beendigung der Belagerung; aber Tag auf Tag ging vorüber, ohne daß sie einen Fortschritt machten, während die Russen über ihre Linien hinausavancierten und Redouten auf dem zwischen beiden Parteien bestrittenen Boden aufführten. Die Zuaven wurden undisziplinierbar und wurden infolgedessen zur Schlachterei auf den Berg Sapun, am 23. Februar, geleitet.2 Etwas mehr Beweglichkeit - man kann es nicht Tätigkeit nennen - zeigte sich dann auf Seite der alliierten Generale; aber kein sichres Ziel, kein bestimmter Plan wurde konsequent befolgt. Der Geist der Meuterei unter den Franzosen wurde wieder niedergehalten durch die beständigen Ausfälle der Russen, die ihnen etwas zu tun gaben, und durch die Eröffnung des zweiten Bombardements, das diesmal aber sicher mit dem Spektakelstück des großen Sturms enden sollte. Ein klägliches Fiasko folgte.3 Dann kommen Ingenieuroperationen, träge, schwierig, unfruchtbar an Erfolgen, wie sie den Geist von Soldaten aufrechterhalten. Sie wurden bald satt dieser nächtlichen Kämpfe in den Laufgräben, wo Hunderte fielen, ohne daß ein Fortschritt sichtbar. Wieder wurde der Sturm verlangt und wieder Canrobert zu Verheißungen getrieben, deren Erfüllung er unmöglich wußte. Pelissier rettete ihn vor einer Erneuerung meuterischer Szenen durch die Nachtattacke vom 1 .Mai. Es heißt, daß er sie trotz eines Gegenbefehls von Canrobert ausführte, der im Augenblick eintraf, wo die Truppen vorwärts lanciert waren. Diese erfolgreiche Affäre soll den Mut der Truppen wiederbelebt haben. In der Zwischenzeit langte die piemontesische Reserve an, der Chersones füllte sich. Die Truppen glaubten sich durch diese Verstärkungen zu unmittelbarer Aktion befähigt. Es mußte etwas geschehen. Die Expedition nach Kertsch wurde beschlossen und segelte ab. Aber bevor sie die Reede jener Stadt erreicht, veranlaßt eine Depesche von
1 In der „New-York Daily Tribüne" Nr. 4414 vom 12. Juni 1855 beginnt der Artikel an Stelle des obenstellenden Textes mit den Worten: „Es ist sicher, daß die Resignierung des Generals Canrobert auf das Kommando der französischen Armee in der Krim keinen Augenblick zu früh erfolgte. Die Moral der Armee befand sich bereits in einem sehr unbefriedigenden und zweifelhaften Zustand." - 2 An Stelle dieses Satzes heißt es in der „New-York Daily Tribüne": „Dies fachte den Geist der französischen Soldaten an, die Zuaven meuterten und wurden infolgedessen am 23. Februar zur Schlachterei auf den Berg Sapun geleitet." -3 An Stelle dieses Satzes heißt es in der „New-York Daily Tribüne": „Indessen wurde das Feuer fortgeführt, schwächer und immer schwächer werdend, und hörte endlich auf, ohne daß ein Versuch zu einem Sturm unternommen wurde."
Verlauf der letzten Ereignisse in der Krim 247
Paris den Canrobert, sie zurückzurufen. Raglan willigte natürlich ein. Brown und Lyons, die Kommandanten der britischen Land- und Seekräfte auf dieser Expedition, flehten ihre französischen Kollegen an, den Platz trotz der Kontreordre anzugreifen. Vergeblich. Die Expedition mußte zurücksegeln1. Diesmal war die Entrüstung der Truppen nicht länger zu meistern. Selbst die Engländer sprachen eine Sprache, die keiner Mißdeutung fähig war; die Franzosen befanden sich in einem Zustande, der an Meuterei streifte. Es blieb also nichts übrig für Canrobert, als auf das Kommando einer Armee zu resignieren, über die er allen Einfluß und Kontrolle verloren hatte. Pelissier war der einzig mögliche Nachfolger, da die Soldaten, der im Treibhaus des Bonapartismus aufgeschossenen Generale lange müde, wiederholt einen Führer aus der alten afrikanischen Schule verlangt hatten.2 Pelissier genießt das Vertrauen der Soldaten, aber er übernimmt den Oberbefehl unter schwierigen Umständen. Er muß handeln, und zwar rasch3. Da der Sturm unmöglich ist, bleibt nichts übrig, als ins Feld den Russen entgegenrücken, und zwar nicht auf dem früher von uns beschriebenen Wege, wo die ganze Armee auf einer einzigen, dazu noch stark von den Russen verschanzten Straße zu marschieren hätte, sondern durch Verteilung der Armee über die vielen kleinen Bergpfade und meist nur von Schafen und ihren Hirten betretenen Stege, die es möglich machen, die russische Position zu flankieren. Hier bietet sich eine Schwierigkeit.4 Die Franzosen besitzen nicht mehr Transportmittel als für
1 In der „New-York Daily Tribüne" heißt es weiter: „und es ist sogar mitgeteilt worden, daß Canrobert in seiner Übereilung den Befehl, der nur bedingt war, falsch ausgelegt hat.* — 2 Diese Stelle lautet in der „New-York Daily Tribüne* folgendermaßen: „Pelissier war der einzig mögliche Nachfolger. Die Soldaten waren dieser jungen Generale müde, die in dem munteren Treibhaus des Bonapartismus zu den höchsten Ehrenstellen avancierten. Sie hatten wiederholt nach einem Führer geschrien, der lange in der alten afrikanischen Schule gestanden hat, nach einem Mann, der in den algerischen Kriegen ein verantwortliches Kommando innehatte und es mit Ehren innehatte. Pelissier war beinahe der einzige Mann dieser Art unter der Herrschaft des Kaisers; dieser hatte ihn mit der offenbaren Absicht dort hingesandt, um ihn früher oder später zum Nachfolger Canroberts zu machen. Welches auch immer seine Fähigkeiten sein mochten, er hatte das Vertrauen der Truppen, und das ist sehr viel." - 3 Dieser Satz wird in der „New-York Daily Tribüne" wie folgt fortgesetzt: „bevor die Leute die Frische des Enthusiasmus verlieren, die die Gewißheit der unmittelbaren Aktion ihnen eingeflößt haben muß." - 4 Die beiden vorhergehenden Sätze lauten in der „New-York Daily Tribüne" folgendermaßen: „Da der Sturm unmöglich ist, bleibt nichts übrig, als ins Feld den Russen entgegenrücken, und das kann nur geschehen, indem die russische Position in der Weise umgangen wird, wie wir es vorhergehend geschildert haben. Tatsächlich finden wir unsere Ansicht darüber von einem britischen Offizier bestätigt, der im Londoner ,Morning Herald4 sagt, es sei die allgemeine Ansicht der kompetenten Leute, daß es keinen anderen Weg gäbe, den Kampf mit Erfolg aufzunehmen. Jedoch herrscht eine sehr ernste Schwierigkeit, diesen Plan auszuführen.44
ungefähr 30000 Mann auf sehr kurze Entfernung von der Küste. Die Transportmittel der Engländer würden erschöpft sein, wenn sie eine einzige Division nicht weiter als beiTschorgun an der Tschornaja placierten. Wie ins Feld rücken, die Nordseite im Falle des Erfolges einschließen, den Feind nach Bachtschissarai verfolgen und eine Verbindung mit Omer Pascha bewerkstelligen, ist bei diesem Mangel an Transportmitteln schwer zu erraten. Um so mehr, da die Russen ihrer Gewohnheit gemäß Sorge tragen werden, nichts als Ruinen hinter sich zu lassen, so daß eine Zufuhr von Karren, Pferden, Kamelen usw. nur zu erhalten, nachdem die Alliierten ihnen eine völlige Niederlage beigebracht. Wir werden sehen, wie Pelissier sich aus diesen Schwierigkeiten herauswindet. Wir haben schon früher auf einige sonderbare, mit Pelissiers Ernennung zusammenhängende Umstände hingewiesen.1 Es ist hier indes noch ein Gesichtspunkt wahrzunehmen. Als der Krieg begann, wurde der Oberbefehl dem bonapartistischen General par excellence, S[ain]t-Arnaud, anvertraut. Er tat seinem Kaiser den Dienst, sofort zu sterben. Dann wurde keiner der Bonapartisten ersten Ranges ernannt, weder Magnan noch Castellane, noch Roguet, noch Baraguay d'Hilliers. Zu Canrobert wurde Zuflucht genommen, einem Manne von weniger tiefer und nicht so alter bonapartistischer Tinktur, aber von mehr afrikanischer Erfahrung. Jetzt, wo das Kommando wieder wechselt, werden die Bonapartisten du lendemain2 ebenso ausgeschlossen wie die de la veille3, und der Posten wird einem simplen afrikanischen General übergeben, ohne irgend ausgeprägte politische Färbung, aber von langem Dienstalter und in der Armee bekannt. Muß diese absteigende Linie nicht notwendig zu Changarnier, Lamoricihre oder Cavaignac führen, d.h. aus dem Bonapartismus heraus? „Undichtigkeit für den Frieden wie für den Krieg, das ist unsere Situation!" bemerkte vor einigen Tagen ein französischer Staatsmann, für den alles mit dem imperatorischen4 Regime auf dem Spiel steht. Daß er recht hatte, beweist jeder Akt des restaurierten Kaisertums, bis auf die Ernennung von Pelissier.
1 Siehe vorl. Band, S. 242/243 - 2 von morgen - 3 von gestern - 4 in der »Neuen OderZeitung" : imperialistischen
Karl Marx
Die Parlamentsreform Abbruch und Fortdauer der Wiener Konferenzen — Der sogenannte Vernichtungskrieg
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.245 vom 30. Mai 1855] London, 26. Mai. Nähere Details über das vorgestern vor Eröffnung des Unterhauses von Lord Palmerston zusammenberufene Comit6 du Salut Minist^riel1 haben verlautet, charakteristisch für den parlamentarischen Mechanismus und die Stellung der verschiedenen Fraktionen, die dem Ministerium eine Majorität von 100 Stimmen zugeführt haben. Palmerston drohte gleich am Beginn mit Resignation, wenn Disraelis Motion durchgehe. Er drohte mit der Aussicht eines Tory~Ministeriums. Die sogenannten radikalen Parlamentler, poor fellows2, genießen das Privilegium, diese große und letzte Drohung über sich verhängt zu sehen seit 1830, so oft sie in Meuterei ausbrechen. Sie bringt sie jedesmal zur Disziplin zurück. Und warum? Weil sie die Massenbewegung fürchten, die unter einem Tory-Ministerium unvermeidlich ist. Wie buchstäblich richtig diese Ansicht ist, mag man aus dem Bekenntnis eines Radikalen sehen, der in diesem Augenblick selbst Minister ist, wenn auch nur Minister der königlichen Waldungen, des Sir William Molesworth. Die Stellung paßt für den Mann, der von jeher das Talent besaß, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. Deputierter von Southwark,. einem Stadtteil von London, erhielt er die Einladung von seinen Kommittenten, einem vergangenen Mittwoch abgehaltenen öffentlichen Meeting für Southwark beizuwohnen. (NB. Auf diesem Meeting, wie in der Mehrzahl der bisher in verschiedenen Provinzen abgehaltenen, wurde die Resolution gefaßt, daß Administrativreform ohne vorhergehende Parlamentsreform sham3 und Humbüg sei.) Molesworth erschien nicht, aber er sandte einen Brief, und in diesem Brief erklärt er, der Radikale und Kabinettsminister: „Wenn Herrn
1 Komitee zur Rettung des Ministeriums - 2 [die] armen Kerle - 3 Schwindel
Disraelis Motion durchgeht, wird die Notwendigkeit administrativer Reform offenbarer werden." Das heißt „offenbar": Wenn die Tories ins Ministerium kommen, wird die Reformbewegung ernsthaft. Die Drohung mit der Resignation war indes nicht die große Kanone, die Palmerston abfeuerte. Er spielte auf Auflösung des Parlaments an und das Schicksal der vielen Unglücklichen, die sich vor kaum drei Jahren mit ungeheuren Opfern in das „ehrenwerte Haus" einkauften. Dies Argument war unwiderstehlich. Es handelte sich nicht mehr um seine Resignation. Es handelte sich um ihre Resignation. Obgleich Palmerston so eine Majorität von 100 Stimmen gegen Disraelis Motion sicherte, indem er den einen mit seiner Resignation drohte, den andern mit ihrer Verjagung aus dem Unterhaus, den einen Aussicht auf Frieden und den andern Aussicht auf Krieg eröffnete - brach die neubegründete Koalition sofort wieder zusammen, und zwar während der Öffentlichen Aufführung der verabredeten Komödie. Die Erklärungen, wozu die Minister im Laufe der Debatte verleitet wurden, neutralisierten die Erklärungen, die sie en petit Görnitz1 gegeben hatten. Der Kitt, der die widerstrebenden Fraktionen lose zusammenhielt, bröckelte zusammen nicht vor einem Orkan, sondern vor parlamentarischem Wind. In der gestrigen Sitzung interpellierte nämlich Roebuck den Premier über das Gerücht einer Wiedereröffnung der Wiener Konferenzen*1'Er verlangte zu wissen, ob der englische Gesandte in Wien an diesen Konferenzen teilzunehmen beauftragt? Nun hatte bekanntlich Palmerston, seit Russells, des unglücklichen Diplomaten, Rückkehr von Wien jede Debatte über Krieg und Diplomatie abgelehnt unter dem Vorwand, die „zwar unterbrochenen, aber keineswegs geschlossenen Wiener Konferenzen" nicht zu stören. Milner Gibson hatte vergangenen Montag seine Motion zurückgenommen oder vertagt, weil nach der Erklärung des edlen Lords die „Konferenzen noch schwebten". Palmerston hatte bei der Gelegenheit ausdrücklich hervorgehoben, daß das englische Ministerium Österreich, „unserem Alliierten innerhalb gewisser Grenzen", überlassen, neue Anknüpfungspunkte zu Friedensunterhandlungen auszuhecken. Die Fortexistenz der Wiener Konferenz, sagte er, ist über jeden Zweifel erhaben. Russell hat zwar Wien verlassen, aber Westmoreland fährt fort, in Wien zu residieren, wo außerdem Gesandte sämdicher Großmächte tagen, also alle Elemente einer permanenten Konferenz vorhanden sind. Seit Montag, dem Tage, wo Palmerston das Parlament mit diesen Enthüllungen begnadigt, war indes ein großer Umschwung eingetreten. Disraelis Antrag und ein Tag Debatte über diesen Antrag standen zwischen dem
1 im kleinen Komitee
Die Parlamentsreform - Abbruch und Fortdauer der Wiener Konferenzen 251
Palmerston vom Montag und dem Palmerston vom Freitag, und Disraeli hatte seinen Antrag motiviert durch das Bedenken, daß das Ministerium während der Vertagung des Hauses in einen „schmählichen Frieden treiben** möge, wie es unter den Auspizien Aberdeens in einen schmählichen Krieg „getrieben" war. An Palmerstons Antwort auf Roebucks Interpellation hing also das Schicksal der Abstimmung. Er durfte das Gespenst der Wiener Konferenz in diesem Augenblick nicht heraufbeschwören und dem Hause erklären, daß man in Wien beschließe, während man in den Hallen von St. Stephen's[1601 debattiere; daß man hier proponiere, aber dort disponiere. Er konnte das um so weniger, als Russell den Abend vorher Österreich verleugnet hatte und die Friedensprojekte und die Wiener Konferenz. Er antwortete Roebuck daher: die Wiener Konferenz sei nicht wiedereröffnet, und der englische Gesandte habe keine Erlaubnis, ohne speziellen Befehl von Downing Street[153] einer neuen Konferenz beizuwohnen. Nun erhob sich Milner Gibson, sittlich entrüstet. Wenige Tage vorher habe der edle Lord erklärt, die Konferenz sei nur suspendiert, und Westmoreland besitze absolute Vollmacht, in ihr zu negoziieren. Sei diese Vollmacht ihm entzogen worden und wann? - Vollmacht! antwortete Palmerston, seine Vollmacht ist so völlig wie je, aber er hat nicht die Macht, sie anzuwenden. Eine Vollmacht besitzen und sie gebrauchen dürfen, das ist zweierlei. Diese Antwort auf Roebucks Interpellation löste das Band zwischen dem Ministerium und der durch die Peelitenverstärkten Friedenspartei a tout prix. Das war indessen weder das einzige noch das wichtigste „Mißverständnis". Russell war vorgestern von Disraeli stundenlang auf die Tortur gespannt und gefoltert und mit glühenden Stecknadeln gezwickt worden. In der einen Hand zeigte Disraeli das rhetorische Löwenfell, worin der WhigAztekzu prangen pflegt, in der andern das Guttapercha-Diminutiv-Männlein, das hinter diesem Fell steckt. Russell, obgleich durch seine lange parlamentarische Erfahrung und Abenteuer so gewappnet gegen harte Worte wie der gehörnte Siegfried gegen Wunden, wußte seine Fassung gegenüber dieser rücksichtslosen, nackten Ausstellung seines eigentlichen Selbst nicht zu behaupten. Er schnitt Gesichter, während Disraeli sprach. Er wandte und drehte sich unruhig und haltlos auf seinem Sitze, während Gladstone mit seiner Predigt folgte. Als Gladstone eine rhetorische Pause machte, erhob sich Russell and wurde nur durch das Gelächter des Hauses erinnert, daß die Reihe noch nicht an ihn gekommen sei. Endlich war Gladstone definitiv verstummt. Endlich konnte Russell dem gepreßten Herzen Luft machen. Er erzählte dem Hause nun alles, was er dem Fürsten Gortschakow und dem Herrn von Titow gegenüber weislich verschwiegen hatte. Rußland, dessen „Ehre und Würde er bef ürwortete auf der Wiener Konferenz, erschien ihm nun als eine Macht,
die rücksichtslos der Weltherrschaft zustrebt, Verträge machend, um Voirwände zu Eroberungskriegen zu gewinnen, Krieg führend, um mit Verträgen zu vergiften. Nicht nur England, Europa schien ihm bedroht, nichts zulässig als ein Vernichtungskrieg. Auch auf Polen spielte er an. Kurz, der Wiener Diplomat war plötzlich in einen „Straßeridemagog" (einer seiner Lieblingsausdrücke) metamorphosiert. Disraeli hatte ihn schlau berechnend in diesen Odenstil lanciert. Aber gleich nach der Abstimmung erhob sich Sir James Graham, der Peelit. Solle er seinen Ohren trauen ? Russell habe einen „neuen Krieg" gegen Rußland verkündet, einen Kreuzzug, einen Krieg auf Leben und Tod, einen Krieg der Nationalitäten. Die Sache sei zu ernsthaft, um die Debatte zu schließen. Man sei unklarer über die Absichten der Minister als je zuvor. Russell glaubte, nach der Abstimmung die Löwenhaut gewohnterweise abwerfen zu können. Er machte also keine Umstände. Graham habe ihn „mißverstanden". Er wolle nur „Sicherheit für die Türkei". Da seht ihr, rief Disraeli, ihr, die ihr das Ministerium von dem Vorwurf „zweideutiger Sprache" durch Verwerfung meiner Motion freigesprochen, ihr hört seine Aufrichtigkeit! Dieser Russell widerruft nach der Abstimmung die ganze Rede, die er vor der Abstimmung gehalten! Ich gratuliere euch zu eurer Abstimmung! Das Haus vermochte dieser Demonstratio ad oculos1 nicht zu widerstehen; die Debatte wurde vertagt bis nach den Pfingstferien; der Sieg, den das Ministerium errungen, war in einem Moment wieder verlorengegangen. Die Komödie sollte aus nur zwei Akten bestehen und mit der Abstimmung enden. Es ist jetzt ein Nachspiel hinzugekommen, das ernsthafter zu werden droht als die Haupt- und Staatsaktionen. Die Ferien des Parlaments werden uns unterdes erlauben, die ersten zwei Akte näher zu analysieren. Unerhört in den Annalen des Parlaments bleibt es, daß nach der Abstimmung die Debatte erst ernsthaft wird. Parlamentarische Schlachten pflegten bisher zu enden mit der Abstimmung, wie Liebesromane mit der Heirat.
1 [diesem] klaren Beweis
s
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Disraelis Antrag
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 247 vom 31. Mai 1855] London, 28. Mai. Ein „reicher Speisezettel", wie der elegante Gladstone sagt, bot dem Unterhaus die Wahl zwischen Disraelis Motion und Barings Amendement zu Disraelis Motion, zwischen Sir W[illiam] Heathcotes Sousamendement zu Barings Amendement und Herrn Lowes Contre-Sousamendement gegen Disraeli, Baring und Sir W.Heathcote. Disraelis Motion enthält eine Zensur der Minister und eine Kriegsadresse an die Krone, die erste bestimmt, die zweite dehnbar, beide durch eine vor dem parlamentarischen Denkprozeß zugängliche Kopula miteinander verbunden. Die schwächliche Form, worin die Kriegsadresse gehüllt, war bald aufgeklärt. Disraeli hatte Meuterei im eigenen Heerlager zu befürchten. Ein Tory, der Marquis von Granby, sprach gegen, ein anderer, Lord Stanley, sprach für ihn, aber beide im Sinne des Friedens. Barings Amendement war ministeriell. Es unterdrückt das Tadelsvotum gegen das Kabinett und adoptiert den kriegerischen Teil der Motion mit Disraelis eigener Terminologie, nur vorherschickend, daß das Haus „mit Bedauern gesehen hat, daß die Wiener Konferenzen1[17] nicht zum Schlüsse der Feindseligkeiten geführt haben". Er bläst kalt und warm aus einem Odem. Das „Bedauern" für die Friedenspartei, die „Fortführung des Kriegs" für die Kriegspartei, bestimmte Verpflichtung des Kabinetts gegen keine Partei - ein shell-trap1 für Stimmen, schwarze und weiße, Text für die Flöte und Text für die Posaune. Heathcotes Sousamendement schließt Barings doppelzüngiges Amendement in rein idyllischer Wendung ab durch Zufügung der Worte: „daß das Haus immer noch den Wunsch warmhält" (cherishing ist ein durchaus gemütlicher Ausdruck), „daß die fortdauernden
1 Falle
Kommunikationen zu einem erfolgreichen Ende führen". Lowes Amendement erklärt umgekehrt die Friedensverhandlungen mit der Verwerfung des dritten Punktes durch Rußland abgefertigt und motiviert so die Kriegsadresse an die Krone. Man sieht: Das eklektische Amendement des Ministeriums hat beide Seiten, die es zu vertuschen und zu neutralisieren suchte, selbständig und friedlich gegenüberstehen. Fortdauer der Wiener Konferenzen! ruft Heathcote. Keine Wiener Konferenz! antwortet Lowe. Wiener Konferenz und Kriegführung! zischelt Baring. Wir werden die Themata dieses Terzetts heute über 8 Tage durchführen hören und kehren für jetzt zur Debatte über Disraelis Motion zurück, deren erster Abend nur drei Haupt- und Staatspersonen figurieren sah, Disraeli, Gladstone und Russell, der erste pointiert und drastisch, der zweite glatt und kasuistisch, der dritte platt und polternd. Wir stimmen nicht in den Vorwurf ein, daß Disraeli über seiner persönlichen Wendung gegen Russell die „Sache selbst" aus den Augen verlor. Die Geheimnisse des russisch-englischen Krieges sind nicht auf dem Kriegstheater zu suchen, sondern in Downing Street. Russell, Minister des Auswärtigen zur Zeit der geheimen Mitteilungen des Petersburger Kabinetts, Russell, außerordentlicher Gesandter zur Zeit der letzten Wiener Konferenz, Russell, gleichzeitig Leader1 des Hauses der Gemeinen, er ist die wandelnde Downing Street, er ist ihr enthülltes Geheimnis. Nicht, weil er die Seele des Ministeriums, sondern weil er dessen Maultrommel ist. Gegen Ende 1854, erzählt Disraeli, stieß Russell in die Kriegsposaune und erklärte in vollem Parlament und unter den lauten cheers2 des Hauses:
„England könne seine Waffen nicht niederlegen, bis materielle Garantien erhalten seien, die Rußlands Macht zu Europa unschädlichen Verhältnissen zurückführten und so volle Sicherheit für die Zukunft gewährten." Derselbe Mann war Mitglied eines Kabinetts, das das Wiener Protokoll vom 5. Dezember 1853t30J genehmigte, worin die französischen und englischen Bevollmächtigten stipulierten, der Krieg dürfe nicht zu einer Verminderung oder Veränderung der „materiellen Verhältnisse" des Russischen Reichs führen. Clarendon, von Lyndhurst über dieses Protokoll interpelliert, erklärte im Namen des Ministeriums:
„Es möchte der Wunsch Preußens und Österreichs sein, aber es sei weder der Wunsch Frankreichs noch Englands, daß eine Verkleinerung der russischen Macht in Europa bewirkt werde."
1 Führer - 2 Beifall
Disraelis Antrag 255
Russell denunzierte dem Unterhause das Betragen des Kaisers Nikolaus als „falsch und fraudulent". Juli 1854 kündigte er vorlaut die Invasion der Krim an, er erklärte die Zerstörung Sewastopols für eine europäische Notwendigkeit. Er stürzte endlich Aberdeen, weil dieser in seiner Meinung den Krieg zu schwach führe. Soweit die Löwenhaut, nun der Löwe. Russell war Minister der auswärtigen Angelegenheiten während zwei oder drei Monaten im Jahre 1853, zur Zeit, als England die „geheime und vertrauliche Korrespondenz" von Petersburg erhielt, worin Nikolaus offen die Teilung der Türkei verlangt, hauptsächlich zu erreichen durch sein vorgeschütztes Protektorat über die christlichen Untertanen der Türkei, ein Protektorat, von dem Nesselrode in seiner letzten Depesche gesteht, daß es nie bestanden hat. Was tat Russell? Er richtete an den englischen Gesandten in Petersburg eine Depesche, worin es wörtlich heißt: „Je mehr die türkische Regierung die Regeln unparteiischen Gesetzes und billiger Administration annimmt, desto weniger wird der Kaiser von Rußland es nötig finden, die ausnahmsweise Protektion, die er so schwierig und störend gefunden hat, auszuüben, obgleich sie ihm zweifelsohne durch Pflicht vorgeschrieben und durch Vertrag geheiligt ist."
So gesteht Russell von vornherein den Streitpunkt zu. Er erklärt das Protektorat nicht nur für legal, sondern für obligatorisch. Er leitet es her aus dem Vertrag von Kainardschi.[119] Und was erklärt der „4. Punkt" des Wiener Kongresses? „Daß die irrige Auslegung des Vertrags von Kütschük-Kainardschi die Hauptursache des gegenwärtigen Krieges sei." Wenn wir Russell so vor dem Ausbruch des Kriegs als den Advokat von Rußlands Recht jetzt selbst von Nesselrode aufgegeben - [sehen], erblicken wir ihn am Schlüsse der ersten Periode des Kriegs, auf dem Wiener Kongreß, als den Vertreter von Rußlands Ehre. Sobald das wirkliche Geschäft begann, am 26. März, die Diskussion über den 3. Punkt, erhebt sich der russenfressende Russell und erklärt feierlichst:
„In den Augen Englands und seiner Alliierten seien die besten und einzig zulässigen Friedensbedingungen die, die am meisten in Harmonie mit der Ehre und Würde Rußlands, zugleich Europa sicherten etc." Am 17. April schlugen die russischen Bevollmächtigten daher ab, die Initiative der Vorschläge über den 3. Punkt zu ergreifen, nach Russells Erklärung überzeugt, daß die Bedingungen, die die alliierten Bevollmächtigten m anzubieten, mehr im russischen Geist gefaßt sein würden als die, die Rußland selbst aushecken könne. War aber die Einschränkung der russischen Seemacht „am meisten in Harmonie mit Rußlands Ehre"? Nesselrode in
seinem neuesten Zirkular halt daher fest an Russells Zugeständnis vom 26. März. Er zitiert Russell. Er interpelliert ihn, ob die Vorschläge vom 19.April „die besten und einzig zulässigen" seien? Russell erscheint als der Patron Rußlands an der Schwelle des Kriegs. Er erscheint als sein Patron am Schluß der ersten Kriegsperiode, am grünen Tisch in Graf Buols Palaste. Soweit Disraeli gegen Russell. Er leitete dann sowohl die Unglücksfälle auf dem Kriegstheater als die Verstimmung im eigenen Land von der widersprechenden Aktion des Ministeriums ab, das in der Krim am Krieg und in Wien am Frieden arbeite, kriegerische Diplomatie mit diplomatisierendem Krieg verbindend.
„Ich leugne", rief er aus, „daß es zur Kriegführung genügt, Steuern zu erheben und Expeditionen auszurüsten. Ihr müßt den Geist des Volkes aufrechterhalten. Das könnt ihr nicht, wenn ihr beständig dem Lande einprägt, daß Frieden bezweckt wird, daß der ganze Punkt, um den sich die Kontroverse dreht, schließlich von einem vergleichungsweis kleinlichen Charakter ist. Man unterzieht sich großen Opfern, wenn man einem kolossalen Feind zu begegnen zu haben glaubt. Man unterzieht sich großen Opfern, wenn man glaubt, in einen Kampf verwickelt zu sein, wo es sich um des Landes Ruf, seine Existenz und seine Macht handelt. Aber wenn ihr die Einkommensteuer verdoppelt oder verdreifacht, wenn ihr Männer von ihren Heimstätten weg in den Kriegsdienst schleppt, wenn ihr die Herzen Englands verdüstert mit blutigen Unglücksfällen, wenn ihr alles das tut, so muß das Volk nicht hören, daß die Frage ist, ob Rußland 3 oder 8 Fregatten im Schwarzen Meere halten soll... Um den Krieg wirksam zu führen, ist es nicht nur notwendig, den Geist des Landes, sondern auch den Geist fremder Mächte aufrechtzuerhalten. Seid versichert, daß, solang ihr an eine fremde Macht appelliert, als Vermittler zu handeln, diese Macht nie als euer Verbündeter handeln wird... Lord Palmerston versichert, daß er keinen schmählichen Frieden schließen wird. Der edle Lordzeugt für sich selbst; aber wer zeugt für den edlen Lord?... Ihr könnt euch euren Schwierigkeiten nicht entwinden durch die Wiener Konferenzen; ihr werdet Schwierigkeiten und Gefahren nur vermehren durch Diplomatie. Eure Position ist durchaus falsch; und ihr könnt nie einen Angriffskrieg mit Erfolg führen, ohne unterstützt zu sein von einem enthusiastischen Volke und von Alliierten, die von eurer Entschiedenheit überzeugt sind. Ich wünsche, daß das Haus diese Nacht durch seine Abstimmung diesem fehlerhaften doppelten System, einem System gleichzeitig des Kriegs und der Diplomatie ein Ende macht, daß es in offner, unzweideutiger Sprache die Zeit zu Negotiationen vorüber erklärt. Ich denke, niemand, der Nesselrodes Zirkular gelesen, kann das bezweifeln."
Karl Marx
Aus dem Parlamente [- Debatte über Disraelis Antrag]
[„Neue Oder-ZeitungNr.249 vom I.Juni 1855] London, 29. Mai. Gladstones Art von Beredsamkeit hat nie einen vollständigeren, erschöpfenderen Ausdruck gefunden als in seinem „Speech** von Donnerstag abend. Gefeilte Glätte, leere Tiefe, Salbung nicht ohne giftige Ingredienz, Samtpfote nicht ohne Kralle, scholastische Distinktionen und Distinktiönchen, questions1 und quaestioniculae2, das ganze Arsenal des Probabilismus mit seinem kasuistischen Gewissen und seinen gewissenlosen Reservationen, seinen unbedenklichen Motiven und seinen moti- / vierten Bedenken, demütige Überlegenheitsprätention, tugendhafte Intrige, verklausulierte Einfachheit, Byzanz und Liverpool. Gladstones Rede drehte sich minder um die Frage des Krieges oder Friedens zwischen England und Rußland als vielmehr um die Untersuchung, warum Gladstone, noch vor kurzem Mitglied eines kriegführenden Ministeriums, nun der Gladstone der Friedenspartei um jeden Preis geworden ist? Er analysierte, er tüftelte aus nach allen Richtungen die Grenzen seines eigenen Gewissens, und er verlangte aus charakteristischer Bescheidenheit, daß das Britische Reich sich innerhalb der Grenzen des Gladstoneschen Gewissens bewege. Seine Rede hatte daher eine diplomatisch-psychologische Färbung, die, wenn sie Gewissen in die Diplomatie, noch mehr Diplomatie in das Gewissen brachte. Der Krieg gegen Rußland war ursprünglich gerecht, aber wir sind jetzt auf dem Punkte angelangt, wo seine Fortsetzung sündhaft wird. Seit dem Beginn der orientalischen Wirren haben wir unsere Forderungen nach und nach aufgeschraubt. Wir bewegten uns in einer aufsteigenden Linie mit unsern Bedingungen, während Rußland sich von der Höhe seiner Unnachgiebigkeit herab bewegt hat. Erst beanspruchte Rußland nicht nur ein
1 Fragen - 2 kleine Fragen
17 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
geistliches, sondern auch ein weltliches Protektorat über die griechischen Christen der Türkei. Es wollte keinen der alten Verträge aufgeben, ja selbst die Donauprovinzen nur eventuell räumen. Es verweigerte, jedem Kongreß der Mächte in Wien beizuwohnen, und entbot den türkischen Gesandten nach St. Petersburg oder ins russische Hauptquartier. Das war die Sprache Rußlands noch am 2. Februar 1854. Welche Distanz von den damaligen Forderungen der Westmächte bis zu den 4 Punkten! Und noch am 26. August 1854 erklärte Rußland, es werde niemals die 4 Punkte annehmen außer nach einem langen und verzweifelten und unheilvollen Kampf. Welche Distanz wieder von dieser Sprache Rußlands im August 1854 zu seiner Sprache vom Dezember 1854, worin es die 4 Punkte181 „ohne Reserve" anzunehmen versprach! Diese 4 Punkte bilden den Knotenpunkt, bis wohin unsere Forderungen hinauf und die Konzessionen Rußlands hinabsteigen können. Was jenseits dieser 4 Punkte liegt, liegt jenseits der christlichen Moral. Nun! Rußland hat den 1. Punkt angenommen; es hat den 2. Punkt angenommen, es hat den 4. Punkt nicht abgeschlagen, weil er nicht diskutiert worden ist. Bleibt also nur der 3. Punkt, also nur V4» und auch nicht der ganze 3. Punkt, sondern nur der halbe 3. Punkt, also nur Vs Differenz übrig. Der 3. Punkt besteht nämlich aus zwei Teilen: Nr. 1, die Garantie des türkischen Territoriums; Nr. 2, die Verminderung der russischen Macht im Schwarzen Meere. Zu Nr. 1 erklärt sich Rußland mehr oder minder willig. Bleibt also nur die zweite Hälfte des 3. Punktes. Und auch hier erklärt sich Rußland nicht gegen die Einschränkung seiner Superiorität zur See; es erklärt sich nur gegen unsre Methode, sie ins Werk zu setzen. Die Westmächte haben eine Methode vorgeschlagen, Rußland schlägt nicht nur eine, sondern zwei andre Methoden vor, also auch hier wieder im Vorsprung gegen die Westmächte. Was die von den Westmächten vorgeschlagene Methode betrifft, so verletzt sie die Ehre des Russischen Reichs. Man muß aber die Ehre eines Reiches nicht verletzen, ohne seine Macht zu vermindern. Andrerseits muß man seine Macht nicht vermindern, weil man dadurch seine Ehre verletzt. Verschiedene Ansichten über die „Methode", 1/8 Differenzpunkt, in Erwägung der „Methoden" zu 1/32 anzuschlagen, dafür soll eine halbe Million Menschen mehr geopfert werden? Es muß umgekehrt erklärt werden, daß wir die Zwecke des Krieges erreicht haben. Sollen wir ihn daher fortführen für bloßes Prestige, für militärischen Ruhm? Unsre Soldaten haben sich mit Ruhm bedeckt. Wenn England trotzdem auf dem Kontinent in Mißkredit geraten, „um Gottes willen", rief der ehrenwerte Gentleman aus, „rächt diesen Mißkredit nicht durch Menschenblut, sondern löscht ihn aus, indem ihr richtigere Information ins Ausland schickt".
Und in der Tat, warum nicht die Zeitungen des Auslands „berichtigen"? Weitere Erfolge auf seiten der alliierten Waffen, wozu führen sie? Sie zwingen Rußland zu hartnäckigerem Widerstand. Niederlagen auf Seiten der Alliierten ? Sie hetzen die Londoner und Pariser auf und zwingen zu kühnerem Angriff. Wozu führt es also, den Krieg um des Kriegs willen führen? Ursprünglich waren Preußen, Österreich, Frankreich und England vereint in ihren Forderungen gegen Rußland. Preußen hat sich schon zurückgezogen. Geht man noch weiter, so wird sich auch Österreich zurückziehen. England wäre auf Frankreich isoliert. Führt England den Krieg fort auf Gründe hin, die keine andre Macht teilt außer Frankreich, so würde „die moralische Autorität seiner Position sehr geschwächt und unterminiert werden". Dagegen durch einen Frieden mit Rußland, wenn er das Prestige einbüßt, das von dieser Welt ist, stärkt es seine „moralische Autorität", die weder die Motten noch der Rost.fressen. Und zudem, was will man, wenn man Rußlands Methode, die 2. Hälfte des 3. Punktes auszuführen, nicht will? Will man das Russische Reich dismembrieren? Unmöglich, ohne einen „Krieg der Nationalitäten" hervorzurufen. Will Österreich, kann Frankreich einen Krieg der Nationalitäten unterstützen? Unternimmt England einen „Krieg der Nationalitäten", so muß es ihn allein unternehmen, d. h., „es wird ihn gar nicht unternehmen". Es ist also nichts möglich, außer nichts zu verlangen, was Rußland nicht zugestanden hat. Das war Gladstones Rede, wenn nicht dem Buchstaben, doch dem Geiste nach. Rußland hat seine Sprache gewechselt; Beweis, daß es in der Sache nachgegeben hat. Für den ehrenwertenPuseyten[141 ist die Sprache die einzige Sache. Auch er hat seine Sprache gewechselt. Er spricht jetzt Jeremiaden über den Krieg; der Menschheit ganzes Leiden faßt ihn an. Er sprach Apologien, als er gegen das Untersuchungskomitee eiferte und es in der Ordnung fand, eine englische Armee allen Leiden des Hungertodes und der Pest preiszugeben. Allerdings! Die Armee wurde damals für den Frieden geopfert. Die Sünde beginnt, wo sie für den Krieg geopfert wird. Er ist indes glücklich in seinem Nachweis, daß es der englischen Regierung nie ernst mit dem Kriege gegen Rußland war, glücklich in dem Nachweis, daß weder die jetzige englische noch die jetzige französische Regierung einen ernsten Krieg gegen Rußland führen könne und wolle; glücklich in dem Nachweis, daß die Vorwände des Krieges keinen Schuß Pulver wert sind. Er vergißt nur, daß diese „Vorwände" ihm und seinen ehemaligen] Kollegengehören, der „Krieg" selbst aber vom englischen Volke ihnen aufgezwungen ward. Die Leitung des Krieges war für sie nur ein Vorwand, ihn zu paralysieren und ihre Stellen 17*
zu behaupten. Und aus der Geschichte und Metamorphose der falschen Vorwände, worunter sie Krieg führten, schließt er erfolgreich, daß sie unter ebenso falschen Vorwänden Frieden schließen können. Nur über einen Punkt befindet er sich im Zwist mit seinen alten Kollegen. Er ist Out1, sie sind In2. Falscher Vorwand, gut für den Exminister, ist nicht falscher Vorwand gut für den Minister, obgleich Sauce für die Gans Sauce für den Gänserich ist. Diese furchtbare Begriffsverwechselung Gladstones gab Russell das langersehnte Signal. Er erhob sich und malte Rußland schwarz, wo Gladstone es weiß gemalt hatte. Aber Gladstone war „Out" und Russell war „In". Nachdem er alle bekannten und trotz ihrer Trivialität wahren Gemeinplätze über Rußlands Welteroberungspläne herausgepoltert, kam er zur Sache, zur Sache Russells. Niemals, erklärte er, sei eine so große nationale Frage so völlig degradiert worden, wie das von Disraeli geschehen sei. Und in der Tat, kann man eine große nationale, ja eine weltgeschichtliche Frage tiefer degradieren, als sie mit little3 Johnny, mit Johnny Russell identifizieren? Nur war es in der Tat nicht der Fehler Disraelis, daß Europa contra Rußland beim Beginn und am Schluß dieser ersten Kriegsperiode als Russell contra Nesselrode figuriert. Sonderbar drehte sich der kleine Mann, als er auf die vier Punkte kam. Einerseits mußte er zeigen, daß seine Friedensbedingungen in einem Verhältnis zu den frisch von ihm aufgerollten russischen Schrecken standen. Andererseits mußte er zeigen, daß er, seinem freiwilligen, unprovozierten Versprechen an Titow und Gortschakow getreu, „die am besten mit Rußlands Ehre harmonierenden" Bedingungen vorgeschlagen. Er bewies daher einerseits, daß Rußland als Seemacht nur nominell existiert, also sehr wohl eine Einschränkung dieser nur eingebildeten Macht erlauben kann. Er bewies andererseits, daß die von Rußland selbst versenkte Marine für die Türkei, daher für das europäische Gleichgewicht, fürchterlich ist, also „die zweite Hälfte des 3. Punktes" ein großes Ganzes bildete. Mancher wird von seinem Gegner zwischen zwei Hörnern eines Dilemmas eingerannt. Russell spießte sich selbst auf beide Hörner fest. Von seinem diplomatischen Talent gab er neue Proben. Von Österreichs aktiver Allianz sei nichts zu erwarten, weil eine verlorene Schlacht die Russen nach Wien bringen müsse. So ermutigt er den einen Alliierten.
„Unser Gefühl ist", fuhr er fort, „daß es die Intention Rußlands ist, Besitz von Konstantinopel zu ergreifen und dort zu regieren, da die Türkei sich offenbar auf dem
1 (nicht im Amt, im Ministerium) Opposition - 2 (im Amt, im Ministerium) Regierung 8 [dem] kleinen
Weg zum Verfall befindet; und ich zweifle nicht, Rußland unterhält dieselbe Meinung über die Absichten Frankreichs und Englands beim Aufbruch jenes Landes." Es fehlte nur noch, daß er hinzusetzte: „Es täuscht sich indes. Nicht England und Frankreich, sondern England allein muß Besitz von Konstantinopel ergreifen." So feuerte der große Diplomat Österreich an, Partei zu ergreifen; so verriet er der Türkei, welcher Meinung, und zwar „offenbar" seine ReWer, seine Parteifreunde sind. Einen Fortschritt jedoch hat er als parlamentarischer Taktiker gemacht. Im Juli 1854, als er rodomontisierte über die Wegnahme der Krim, ließ er sich von Disraeli soweit verblüffen, daß er seine heroischen Worte vor der Abstimmung des Hauses eigenmündig aufaß. Diesmal verschob er diesen Selbstverzehrungsprozeß - den Widerruf seines angekündigten Weltkampfes gegen Rußland - bis nach vollbrachter Abstimmung. Ein großer Fortschritt dies! Seine Rede enthält noch zwei historische Illustrationen, seine hochkomische Schilderung der Verhandlungen mit Kaiser Nikolaus über den Vertrag von Kainardschifll9]; eine Skizze der deutschen Verhältnisse. Beide verdienen auszugsweise Erwähnung. Russell, wie sich der Leser erinnern wird, , hatte von vornherein Rußlands Protektorat, gestützt auf den Vertrag von Kainardschi, zugestanden. Der englische Gesandte zu Petersburg, Sir Hamilton Seymour, zeigte sich schwieriger, skeptischer. Er stellte bei der russischen Regierung Forschungen an, deren Geschichte Russell so naiv ist zu erzählen, wie folgt: „Sir Hamilton Seymour forderte den verstorbenen Kaiser von Rußland auf, so gütig zu sein, ihm den Teil des Vertrages zu zeigen, worauf sich seine Ansprüche gründeten. Se[ine] kaiserliche Majestät sagte: ,Ich will Ihnen nicht den besonderen Artikel des Vertrages zeigen, worauf sich mein Anspruch (des Protektorats) gründet. Gehen Sie zu Graf Nesselrode, der wird es tun.4 Hamilton Seymour ging daher mit seinem Anliegen zu Graf Nesselrode. Graf Nesselrode antwortete, er sei nicht vertraut mit den Artikeln des Vertrages, und forderte Hamilton auf, zu BaronBrunnow zu gehen oder seine Regierung zu ihm zu schicken, und der Baron würde ihnen sagen, auf welchen Teil des Vertrages der Anspruch des Kaisers sich gründe. Ich glaube, daß Baron Brunnow niemals versucht, einen solchen Artikel in dem Vertrag zu zeigen." Von Deutschland erzählte der edle Lord: „In Deutschland ist Rußland durch Heirat mit vielen der kleinen Fürsten verbunden. Viele dieser Fürsten, ich bedauere es sagen zu müssen, regieren mit großer Furcht vor der vorausgesetzten revolutionären Disposition ihrer Untertanen. Und sie verlassen sich daher auf den Schutz ihrer Armeen. Aber wer sind diese bewaffneten Kräfte? Ihre Offiziere sind verführt und verdorben vom russischen Hofe. Der russische Hof verteilt Orden, Auszeichnungen und Belohnungen unter sie, und in gewissen
Fällen gibt Rußland regelmäßig Geld, um ihre Schulden zu zahlen, so daß Deutschland - das der Sitz der Unabhängigkeit sein sollte, das zum Schutz Europas gegen russische Herrschaft voranstehen sollte - seit Jahren unterminiert und aus seiner Unabhängigkeit durch russische Künste und russisches Geld herausgeschmeichelt worden ist." Und um Deutschland als Feuersäule voranzuwandeln und es für den „kategorischen Imperativ", das Sollen, wachzurufen, erklärte sich Russell auf der Wiener Konferenz zum Vorsprecher „der Ehre und Würde Rußlands" und ließ es die stolze Sprache des freien und unabhängigen Engländers hören.
y Karl Marx
Zur Kritik der letzten Rede Palmerstons
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 253 vom 4. Juni 1855] London, I Juni. Wenn Gladstone durch den Schein der Tiefe, täuscht Palmerston durch den Schein der Oberfläche, Seine wirkliche Absicht weiß er künstlerisch zu verstecken unter lose zusammengefügten Effektphrasen und gemeinplätzlichen Konzessionen an die Meinung des Augenblicks. Seine Kabinettsrede liegt nun 8 Tage dem Publikum vor. Tages- und Wochenpresse haben sie ventiliert, perlustriert, kritisiert. Seine Feinde sagen, daß, nachdem er monatelang die Sprache des alten Aberdeen geführt, er es nun wieder passend fand, einen Abend die Sprache des alten Palmerston zu reden. Sie sagen: der edle Lord zeugt für sich selbst; aber wer zeugt für den edlen Lord? Sie erklären seine Rede für ein Kunststück, insofern er es erreicht, jede bestimmte Erklärung über seine Politik zu umgehen und eine solche elastische Luftform anzunehmen, daß es unmöglich ist, ihn irgendwo festzuhalten. Seine Freunde umgekehrt stehen nicht an, den Wind, den er bei seinem rhetorischen Orgelspiel aufwandte, für die Musik selbst zu erklären. Er faßte von vornherein richtig die Situation auf, worin er sich selbst dem Hause und dem Lande vorzuführen habe. Wen habe ich mir gegenüber? Auf der einen Seite die, welche glauben, daß wir nicht hinreichend energisch in der Führung des Kriegs waren, aber auf der andern Seite die, die das Land zu schmählichen Friedensbedingungen zu treiben suchen; auf der einen Seite die, die uns vorwerfen, in nutzlose und den Krieg paralysierende Negotiationen mit Österreich eingegangen zu sein, aber auf der andern die, die glauben, daß wir in diesen Negotiationen nicht weit genug gegangen und sie durch übertriebene Forderungen vereitelt haben. So postierte er sich selbst als den Mann der richtigen Mitte. Die Angriffe der Kriegsmänner wies er zurück, indem er sie auf die Kriegsmänner hinwies. Die Wendung gegen die absoluten Friedensmänner gab dann Gelegenheit zu
wohlberechneten Ausbrüchen patriotischer Wärme, hochbeteuernder Energie und all der tapfern Worte, womit er so oft die „Niais" übertölpelte. Er schmeichelte dem Nationalstolz, indem er die großen Mittel aufzählte, worüber England zu verfügen - seine einzige Antwort dies auf die Anschuldigung, daß er unfähig, große Mittel zu handhaben.
„Der edle Lord", sagte Disraeli, „erinnere ihn an den Parvenü, der sich seiner Mätresse durch seinen Reichtum empfehlen wollte: Ich habe ein Landhaus, ich habe ein Haus in der Stadt, ich habe eine Gemäldegalerie, ich habe einen schönen Weinkeller."
So habe England eine Baltische Flotte und eine Flotte im Schwarzen Meer und ein jährliches Staatseinkommen von 80 Millionen] Pfd. St. usw. Indes unter all den rhetorischen Nichtigkeiten, worin sich Palmerstons Rede verlief, gelang es ihm, eine bestimmte Erklärung mit einfließen zu lassen, worauf er später, bei passender Gelegenheit, zurückkommen und sie als vom Hause sanktionierte Regel seiner Politik proklamieren kann. Kein englisches Blatt hat sie hervorgehoben, aber die Kunst Palmerstonscher Rede bestand von jeher eben darin, ihre eigne Pointe zu verstecken und im glatten und seichten Strom seiner Phraseologie aus dem Gedächtnis der Zuhörer wegzuschwemmen. Da es ihm aber nicht, wie einem Russell, bloß um den augenblicklichen Erfolg zu tun, da er die Zukunft berechnet, so begnügt er sich nicht nur mit den oratorischen Notbehelfen des Augenblicks, sondern legt sorgsam die Grundlage für seine spätem Operationen. Die oben angedeutete Erklärung lautet wörtlich:
„Wir sind engagiert in großen Operationen in dem Schwarzen Meere - wir glauben und hoffen, wir werden erfolgreich sein, und wir glauben, Erfolg wird uns dahin leiten, die Bedingungen zu erhalten, die England, Frankreich und Österreich in dem gegenwärtigen Stande des Zwistes, Recht geglaubt haben zu verlangen*
Also, wie immer die Operationen im Schwarzen Meer sich ausdehnen mögen, die diplomatische Grundlage des Kriegs bleibt dieselbe. Welches immer der militärische Erfolg sei, der schließliche Erfolgist im voraus bestimmt und beschränkt auf die sog. „vier Punkte"[8J. Und dies erklärt Palmerston, nachdem Layard wenige Stunden vorher den 4 Punkten die russenfreundliche Maske abgerissen hatte. Aber Palmerston lenkte die Aufmerksamkeit von Layards Kritik, er vermied es, auf die wirkliche Frage, auf den Wert der ostensiblen Zwecke und Gegenstände des Krieges einzugehen, indem er die zweite Hälfte des dritten Punktes gegen Gladstone in Schutz nahm und den halben Punkt als Ganzes pries.
Zur Kritik der letzten Rede Palmerstons 265
Ein Inzident, der Palmerstons Rede unterbrach, verdient Erwähnung. Ein englischer Mucker, Lord Robert Grosvenor, bußpredigte nämlich gegen ihn, weil er von Waffenerfolgen sprach und die Chancen des Krieges diskutiere, ohne die Gunst und Gnade des Allerhöchsten in Anschlag zu bringen, ohne auch nur „den Namen Gottes zu erwähnen". Er beschwöre so ein himmlisches Strafgericht auf seine Nation herab. Palmerston tat sofort Buße, schlug sich an die Brust und bewies, daß auch er im Notfalle predigen und die Augen verdrehen könne so gut wie Lord Robert Grosvenor. Aber der parlamentarische Inzident erhielt eine populäre Ergänzung. Die Bürger von Marylebone (ein Stadtteil von London) hatten nämlich ein großes Meeting in der Cowper Street im Schöol Room zusammenberufen, um gegen die „Bill zur Unterdrückung des Handels an Sonntagen" zu protestieren. Da es sich hier um Konstituenten handelte, erschienen Lord Ebrington und Lord Robert Grosvenor als Verteidiger der Bill, die sie selbst ins Parlament gebracht hatten. Statt sich indes auf den Schutz und die Gnade Gottes zu verlassen, hatten sie vorsorglich ein Dutzend bezahlter Claqueure und Unruhestifter an verschiedenen Plätzen des Meetings postiert. Das Geheimnis war bald ausgefunden, und die gedungenen Agenten der Bigotterie wurden von den Bürgern sofort ergriffen und auf die Straße expediert. Die „edlen Lords", unfähig, dem nun ausbrechenden Zischen, Grunzen und Pfeifen die Stirn zu bieten,' nahmen verlegen ihre Sitze wieder ein. Sobald sie die Versammlung verließen, folgte ein „unbezahlter" Mob ihren Wagen mit unzweideutigen Kundgebungen von sündhaftem Hohne und von des Herzens Hartigkeit.
Karl Marx
Die^Administrativreform-Assoziation [- Die Charte]
[„Neue Oder-Zeitung14 Nr. 261 vom 8. Juni 1855] London, S.Juni. Die Adminis trat i vreform-As soziat ion1140J  hat einen Sieg in Bath davongetragen. Ihr Kandidat, Herr Tite, ist mit großer Majorität zum Parlamentsmitglied erwählt worden gegen den Tory-Kandidaten. Dieser Sieg, auf dem Terrain des „legalen" Landes erfochten, wird heute von den liberalen Blättern als großes Ereignis gefeiert. Die Bulletins über den „Poll"1 werden mit nicht geringerer Ostentation veröffentlicht als die Bulletins über die unblutigen Erfolge im Asowschen Meer. Bath und Kertsch! ist die Tagesparole. Was die Presse verschweigt, Reformblätter wie Antireformblätter, Ministerielle und Opposition, Tories, Whigs und Radikale, sind die Niederlagen und Enttäuschungen, die die Administrativreform-Assoziation in den letzten Tagen erlebt, in London, in Birmingham und in Worcester. Allerdings ereignete sich der Kampf diesmal nicht auf dem abgemessenen Terrain einer privilegierten Wahlkörperschaft. Noch waren seine Resultate geeignet, Triumphruf auf Seite der Gegner der Cityreformer hervorzurufen. Das erste wirklich öffentliche Meeting (d. h. Meeting ohne Einlaßkarten), das die Reform-Assoziation zu London abhielt, fand vergangnen Mittwoch in Marylebone statt. Gegen die Resolutionen der Cityreformer wurde von einem Chartisten das Amendement gestellt, „daß die von den Citymen vertretene Geldaristokratie ebenso schlecht sei wie die Grundaristokratie; daß sie unter dem Vorwand von Reformen nur anstrebe, auf den Rücken des Volks in Downing Street zu klimmen, dort Amter, Gehalte und Würden mit den Oligarchen zu teilen; daß die Charte mit ihren 5 Punkten1771 das einzige Programm der Volksbewegung sei". Der Vorsitzende des Meetings, einer von den City-Illuminaten, brachte eine Reihe von Bedenklichkeiten vor, erst, ob er überhaupt das Amendement
1 „Wahl44
Die Administrativreform-Assoziation - Die Charte 267
zur Abstimmung bringen, dann, ob er erst über die Resolution oder das Amendement stimmen lassen, schließlich wie er stimmen lassen solle. Das Auditorium, müde seiner Unschlüssigkeiten, taktischen Erwägungen und mißliebigen Manöver, erklärte ihn unfähig, weiter zu präsidieren, rief Ernest Jones statt seiner auf den Chair\ und stimmte dann mit ungeheurer Majorität gegen die Resolution und für das Amendement. Zu Birmingham hatte die Cityassoziation ein öffentliches Meeting in der Stadthalle unter Vorsitz des Mayor veranstaltet. Gegen ihre Resolution wurde ein ähnliches Amendement gestellt wie in London. Der Mayor verweigerte indes definitiv, das Amendement zur Abstimmung zu bringen, falls nicht das Wort „Charte" durch ein minder anstößiges ersetzt werde. Oder er werde den Präsidentenstuhl verlassen. An die Stelle des Wortes „Charte" wurde daher substituiert: „Allgemeines Wahlrecht und Abstimmen durch Ballot". In dieser veränderten Fassung ging das Amendement durch mit einer Majorität von 10 Stimmen. Zu Worcester, wo die Cityreformers ein öffentliches Meeting veranstaltet, war der Sieg der Chartisten und die Niederlage der Administrativen noch vollständiger. Die „Charte" wurde hier ohne weiteres proklamiert. Der höchst mißliche Erfolg dieser großen Meetings zu London, Birmingham und Worcester hat die Administrativen bestimmt, in allen größeren und volksreicheren Städten Petitionen zur Unterschrift bei Gesinnungsverwandten zirkulieren zu lassen, statt der öffentlichen Appelle an die vox populi. Die vielseitige Verbindung der Citynotabilitäten mit den Handelsherren im Vereinigten Königreich und der Einfluß dieser Herren über ihre Kommis, Warehousemen2 und „kleineren" Handelsfreunde wird sie zweifelsohne befähigen, ganz im stillen hinter dem Rücken der Welt diese Petitionen mit Namen zu füllen und sie dann an das „ehrenwerte Haus" zu senden mit der Etikette: Stimme des Volkes von England. Ihr Irrtum besteht nur darin, wann sie die Regierung einzuschüchtern denken, mit so zusammengebettelten, zusammenintrigierten, zusammengeschlichenen Unterschriften. Die Regierung hat mit ironischer Selbstgenugtuung gesehen, wie die Administrativen vom iheatrum rnundi3 weggepfiffen worden sind. Ihre Organe schweigen einstweilen, teils weil sie sonst die Erfolge des Chartismus registrieren müßten, teils weil die regierende Klasse sich bereits mit dem Gedanken trägt, an die Spitze der „Administrativen" zu treten, sollte die Volksbewegung zudringlich werden. Sie behalten sich ein „Mißverständnis" vor für den Augenblick solcher Gefahr: das Mißverständnis, die Administrativen künftig einmal als die Wortführer der Massen zu betrachten. Solche Mißverständnisse bilden
1 Stuhl des Vorsitzenden - 2 Magazinverwalter - 3 Welttheater
den Hauptwitz der „historischen" Entwickelung Englands, und niemand ist vertrauter mit ihrer Handhabung als die freisinnigen Whigs. Die Charte ist ein sehr lakonisches Aktenstück und enthält außer der Forderung des allgemeinen Wahlrechts nur folgende 5 Punkte, ebensoviel Bedingungen seiner Ausübung: 1. Abstimmen durch Ballot (Kugelung); 2. &eme Eigentumsqualifikation für Parlamentsmitglieder; 3. Zahlung der Parlamentsmitglieder; 4. jährliche Parlamente; 5. gleiche Wahlbezirke. Nach den Experimenten, die das allgemeine Wahlrecht 1848 in Frankreich untergrabentl61], sind Kontinentale leicht geneigt, die Wichtigkeit und Bedeutung der englischen Charte zu unterschätzen. Sie übersehen, daß die Gesellschaft in Frankreich zu zwei Dritteln aus Bauern und über ein Drittel aus Städtern besteht, während in England mehr als zwei Drittel in den Städten und weniger als ein Drittel auf dem Lande haust. In England müssen die Resultate des allgemeinen Wahlrechts also in demselben umgekehrten Verhältnisse zu seinen Resultaten in Frankreich stehen wie Stadt und Land in den beiden Reichen. Hieraus ist erklärlich der diametral entgegengesetzte Charakter, den die Forderung des allgemeinen Wahlrechts in Frankreich und England angenommen hat. Dort war es die Forderung der politischen Ideologen, woran jeder „Gebildete" sich mehr oder minder, je nach seinen Überzeugungen, beteiligen konnte. Hier bildet es die breite Unterscheidungslinie zwischen Aristokratie und Bourgeoisie auf der einen und den Volksklassen auf der andern Seite. Dort gilt es als eine politische, hier gilt es als eine soziale Frage. In England hat die Agitation des allgemeinen Wahlrechts eine geschichtliche Entwickelung durchlaufen, bevor es zum Schibboleth der Masse wurde. In Frankreich wurde es erst eingeführt und begani» dann seinen geschichtlichen Kursus. In Frankreich scheiterte die Praxis, in England die Ideologie des allgemeinen Wahlrechts. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, mit Sir Francis Burdett, mit Major Cartwright, mit Cobbett, hatte das allgemeine Wahlrecht noch ganz den unbestimmten idealistischen Charakter, der es zum frommen Wunsche aller Teile der Bevölkerung machte, die nicht direkt zu den regierenden Klassen gehörten. Für die Bourgeoisie war es in der Tat nur ein exzentrischer verallgemeinender Ausdruck für das, was sie in der Parlamentsreform von 1831 erlangt hat. Nach 1838 hatte die Forderung des allgemeinen Wahlrechts in England nicht ihren realen, spezifischen Chan ter angenommen. Beweis: Hume und O'Connell waren Mitunterzeichner der Charte. 1842 verschwanden die letzten Illusionen. Lovett machte damals einen letzten, aber vergeblichen Versuch, das allgemeine Wahlrecht als gemeinsame Forderung der sogenannten Radikalen und der Volksmassen zu formulieren.t1623 Seit diesem Momente existiert kein Zweifel mehr über den
Sinn des allgemeinen Wahlrechts. Ebensowenig über seinen Namen. Es ist die Charte der Volksklassen und bedeutet Aneignung der politischen Macht als Mittel zur Verwirklichung ihrer sozialen Bedürfnisse. Das allgemeine Wahlrecht, in Frankreich 1848 als Losungswort allgemeiner Verbrüderung, ist in England daher als Kriegsparole verstanden. Dort war der nächste Inhalt der Revolution das allgemeine Wahlrecht; hier ist der nächste Inhalt des allgemeinen Wahlrechts die Revolution. Wenn man die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in England durchläuft, wird man finden, daß es in demselben Maße seinen idealistischen Charakter abstreift, wie sich hier die moderne Gesellschaft mit ihren unendlichen Gegensätzen entwickelt, Gegensätze, wie sie der Fortschritt der Industrie erzeugt. Neben den ganz- und halboffiziellen Parteien, wie neben den Chartisten, macht sich in England noch eine Clique von „Weisen" bemerkbar, ebenso unzufrieden mit der Regierung und den herrschenden Klassen wie mit den Chartisten. Was wollen die Chartisten? rufen sie aus. Die parlamentarische Allmacht erhöhen und erweitern, indem sie sie zur Volksmacht erheben. Sie brechen nicht den Parlamentarismus, sie erheben ihn zu einer höhern Potenz. Das Wahre ist, das Repräsentativwesen zu brechen! Ein Weiser aus dem Morgenlande, David Urquhart, steht an der Spitze dieser Clique. David will zum Common Law (gemeinen Recht) von England zurückkehren. Er will das Statute Law (das geschriebene Gesetz) in seine Grenzen zurückweisen. Er will lokalisieren, statt zu zentralisieren. Er will „die alten echten Rechtsquellen angelsächsischer Zeit" aus dem Schutt wieder hervorgraben. Dann werden sie von selbst springen und das umliegende Land bewässern und befruchten. Aber David ist wenigstens konsequent. David will auch die moderne Teilung der Arbeit und die Konzentration des Kapitals auf den alten angelsächsischen oder noch lieber orientalischen Stand zurückführen. Geborner Hochschotte, adoptierter Tscherkesse und Türke aus freier Wahl, ist er fähig, die Zivilisation mit allen ihren Geschwüren zu verurteilen und von Zeit zu Zeit selbst zu beurteilen. Aber er ist nicht fade wie die Sublimen, die die modernen Staatsformen von der modernen Gesellschaft trennen, die von lokaler Selbständigkeit fabeln, zusammen mit Konzentration der Kapitalien, von individueller Einzigkeit zusammen mit anti-individualisierender Teilung der Arbeit. David ist ein rückwärts gewandter Prophet, antiquarisch verzückt im Hinblick von Alt-England. Er muß es daher in der Ordnung finden, daß Neu-England vorübergeht und ihn stehenläßt, wie dringend überzeugt er auch rufen mag: „David Urquhart ist der einzige Mann, der euch retten kann!" So noch vor einigen Tagen auf einem Meeting in Stafford.
Karl Marx
Parlamentarisches [Zur Frage Krieg oder Frieden]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 263 vom 9. Juni 1855] London, 6. Juni. Palmerston hat wieder seine alte Meisterschaft bewährt, die Diplomatie durch das Parlament und das Parlament durch die Diplomatie zu handhaben. Die Politik des Ministeriums sollte diskutiert werden auf Grundlage der Amendements von Baring, Heathcote und Lowe. Die Amendements ruhten sämtlich auf der Grundlage der Wiener Konferenz117 K Während der Pfingstwoche eskamotiert Palmerston die Wiener Konferenz weg, sich Österreich gegenüber auf die vergangene Parlamentsdebatte berufend, und dem wieder versammelten Parlament gegenüber eskamotiert er die Debatte weg, sich auf die vergangene Konferenz berufend, die nur noch in der Sage existiere. Mit der Wiener Konferenz fallen die auf ihrer Voraussetzung ruhenden Amendements, mit den Amendements fällt die Diskussion über die Politik des Ministeriums, mit dieser Diskussion die Notwendigkeit für das Ministerium, sich über Tendenz,Zweck Gegenstand des »neuen* Kriegs zu erklären. Dieser Zweck, so versichert David Urquhart, alias David Bey, sei kein anderer, als die alliierten Truppen mit den Sommerkrankheiten der Krim vertraut zu machen, nachdem sie die Winterkrankheiten der Krim erprobt haben. Und wenn Urquhart nicht alles versteht, so versteht er seinen Palmerston. Nur täuscht er sich in der Macht der geheimen Absicht über die öffentliche Geschichte. Palmerston also erklärt dem wiederversammelten Parlament, es liege kein Gegenstand mehr zur Beratung vor, und das Haus könne nun nichts Besseres tun, als eine Kriegsadresse an die Krone richten, d.h. dem Ministerium ein Vertrauensvotum geben. Er scheitert einstweilen an dem Eigensinn der Parlamentler, die lange Reden über die Amendements einstudiert haben und ihre Ware an den Mann bringen wollen. Allein durch
Parlamentarisches - Zur Frage Krieg oder Frieden 271
die Auflösung der Konferenz hat er diesen Reden die Pointe abgebrochen, und der Horror vacui, die Langeweile, wird das Parlament zur Annahme seiner Adresse treiben. Um sich vor den Reden zu retten, wird es zur Adresse greifen. Lowes Amendement hatte mit der veränderten Situation seinen Sinn verändert. Ursprünglich bedeutete es Abbruch der Wiener Konferenz. Jetzt bedeutet es Sanktion der Wiener Konferenz und der ministeriellen Diplomatie, sofern es die von Russell formulierte Verminderung der russischen Seemacht im Euxin1 zum letzten Zweck» zum eigentlichen Gegenstand des Krieges erhebt. Stein des Anstoßes für die Friedenspartei, sofern es zu viel, für die Kriegspartei, sofern es zuwenig,ist es Stein des Anstoßes für das Ministerium, sofern es überhaupt einen Gegenstand, einen eingestandenen Gegenstand des Krieges verlangt. Daher das Phänomen, daß Friedensmänner und Tories nun für und das Ministerium gegen die Fortführung der Dehatte über das Amendement Lowes waren; daher der Versuch Palmerstons, es über Bord zu werfen. Der Versuch mißlang. Er vertagte daher die Debatte bis Donnerstagabend. Ein Tag Zeit gewonnen. In der Zwischenzeit ist das Wiener Abschiedsprotokoll gedruckt. Es wird dem Hause vorgelegt. Ein neuer Inzidenzpunkt erhebt sich, und Palmerston kann hoffen, mit seinen dissolving views2 den eigentlichen Gegenstand, um den es sich handelt, aus dem Auge der Debatte zu entrücken. Die zweitägige parlamentarische Diskussion war so langweilig, schleppend, konfus, wie nur von Reden zu verlangen, deren Pointe im voraus abgebrochen. Sie bot jedoch das charakteristische Schauspiel, daß, wenn vor dem Votum über Disraelis Resolution die Friedensmänner mit dem Ministerium, sie jetzt mit der Opposition, wir meinen die Opposition vom Fach, kokettierten. Sie zeigte ferner die Entente cordiale zwischen den Peeliten1111 und der Manchesterschule1451. Die Peeliten schmeicheln sich offenbar, nach dem Frieden England zu beherrschen, an der Spitze der industriellen Bourgeoisie. So hätten die Peeliten nach langen Wanderungen endlich eine wirkliche Partei hinter sich und die Industriellen endlich professionelle Staatsmänner gefunden. Wenn die Friedensmänner so Gladstone, Graham und Komp. gewonnen, haben sie den „radikalen" Sir William Molesworth, einen mehr als zwanzigjährigen Freund, verloren. Molesworth muß in dem Hobbes, den er herausgegeben, gelesen haben, „daß der Verstand durch die Ohren kommt". Er appellierte darum nicht an den Verstand, sondern an die Ohren. Er tat,
1 (eigentlich: Euxinus) altgriechische Bezeichnung für das Schwarze Meer -2 Nebelbildern
w<is Hamlet dem Schauspieler zu tun verbietet *1631. Er übertyrannisierte den Tyrannen, war mehr Russell als Russell selbst. Er hatte auch in seinem Hobbes gelesen, daß alle Menschen gleich sind, weil jeder dem andern das Leben nehmen kann. Da es ihm nun darum zu tun ist, sein ministerielles Leben zu fristen, sprach er im Sinne der Menschen, die es ihm nehmen können. Sonderbar blieb es, diese Rechenmaschine dithyrambisieren zu sehen. Das hatte selbst Babbage nicht geahnt in seiner „Philosophie der Maschinen"1164Milner Gibson, der Baronet aus der Umgegend von Manchester, war eintönig, einschläfernd, eingetrocknet und eintrocknend. Er hat von der benachbarten Metropole englischer Industrie offenbar gelernt, möglichst viel zu möglichst wenig Produktionskosten zu liefern. Er ist ein Mann, dessen ganze Erscheinung verrät, daß er sich langweilt. Warum sollte er seinen Nebenmenschen zu amüsieren suchen? Wie du mir, so ich dir! Außerdem rechnet er klärlich Geist, Witz, Leben zu den faux frais de produetion1, und es ist das erste Gesetz der ökonomischen Schule, der er angehört, die „falschen Kosten " zu vermeiden. Bulwer schwebte zwischen der heroischen Stimmung seines „Königsmacher" und der kontemplativen seines „Eugene Aram"[165J. In der ersten warf er Rußland den Fehdehandschuh hin, und in der zweiten flocht er einen Myrtenkranz um das Haupt Metternichs. Milner Gibson, Molesworth und Bulwer waren die Koryphäen des ersten, Cobden, Graham und Russell die des zweiten Abends. Cobdens Rede allein verdient eine Analyse, die Raum und Zeit in diesem Augenblicke nicht gestatten. Bemerken wir nur, daß er behauptet, Bonaparte sei bereit gewesen, die letzten österreichischen Vorschläge anzunehmen. Des verstorbenen Sir Robert Peels dirty boy2j der sich in der letzten Zeit auf „sentiments"3, „gebrochene Herzen", und „Wahrheitsliebe" verlegt hat, sprach eine Selbstapologie seines Nächsten, nämlich des Sir James Graham. Er hatte Napier verboten, im Baltischen Meere zu handeln, bis die Jahreszeit eingetreten, wo jede Aktion ruinierend für die englische Flotte ist. Er hatte Dundas verboten, Odessa zu bombardieren. Er hatte so die englische Flotte neutralisiert im Baltischen wie im Schwarzen Meere. Er rechtfertigt sich mit der Größe der Flotten, die er ausgerüstet. Die bloße Existenz dieser Flotten war der Beweis englischer Macht. Ihre Aktion war daher überflüssig. Napier hat vor einigen Tagen einen lakonischen Brief an einen Freund Urquharts gerichtet, den Urquhart im Stafford-Meeting vorlas. Dieser Brief lautet wörtlich: „Mein Herr! Ich halte Sir J[ames] Graham jeder Niederträchtigkeit fähig. Chfarles] Napier."
1 Nebenkosten der Produktion - 2 schmutziger Bube - 3 „Gefühle"
Parlamentarisches-Zur Frage Krieg oder Frieden 273
Russell endlich übertraf sich selbst. Er erklärte im Beginn seiner Rede, die große Frage, die vorliege, sei folgende: „Wenn wir Frieden schließen wollen, welche Friedensbedingungen können wir erhalten? Wenn wir den Krieg fortsetzen wollen, für welche Zwecke setzen wir ihn fort?" Was die erste Frage betreffe, so finde man seine Antwort in den Wiener Protokollen. Was die zweite betreffe, den Gegenstand des Krieges, so müsse seine Antwort eine sehr allgemeine sein, nämlich gar keine. Wenn man die Phrase „Sicherheit für die Türkei" als eine Antwort nehmen wolle, so habe er nichts dagegen. Eine Interpretation dieser „Sicherheit" war gegeben in der Wiener Note; eine andere in den vier PunkterP\ eine dritte zu finden sei die Sache nicht Russells, sondern des Krieges. Es war Napoleons Prinzip, daß der Krieg seine Kosten selbst decken, es ist Russells Prinzip, daß der Krieg seinen Gegenstand selbst finden muß.
Friedrich Engels
Von der Krim[166]
[„New-York Daily TribüneNr.4424 vom 23.Juni 1855, Leitartikel] Die Post, die am Donnerstag in den späten Abendstunden mit der „Asia" angekommen ist, machte es uns möglich, gestern General Pelissiers Depesche über den am 22. Mai abends vor Sewastopol stattgefundenen Kampf sowie einen authentischen Bericht zu veröffentlichen über den Vormarsch der Alliierten nach dem Ort Tschorgun, der am 25. erreicht wurde. Etwa 25000 Mann unter Canrobert überschritten die Tschornaja und besetzten, nachdem sie die russischen Vorposten aus ihren Stellungen von den Höhen, die unmittelbar über dem rechten Ufer hervorragen, vertrieben hatten, die an diesem Flüßchen verlaufende Linie. Da die Russen nicht beabsichtigten, hier eine Schlacht zu liefern, wichen sie natürlich zurück, um alle ihre Streitkräfte auf der starken Linie zwischen Inkerman und der östlich davon gelegenen Felsenkette zu konzentrieren. Durch'diesen Vormarsch konnten die Alliierten den Umfang des von ihnen besetzten Territoriums fast verdoppeln - wodurch sie den Raum gewannen, den ihre verstärkten Streitkräfte dringend benötigten - und sich den Weg Öffnen in das Baidartal, was sich als sehr nützlich erweisen mag. Der erste Schritt zur Wiederaufnahme der Feldoperationen war erfolgreich, und ihm müßten Aktionen von größerer Bedeutung folgen. Was das Gefecht vom 22. Mai anbetrifft, so war der Schauplatz des Kampfes der Abschnitt zwischen der Quarantäne-Bucht und der Zentralbastion, der Bastion Nr. 5 der Russen. Der Kampf war sehr heftig und blutig. Wie wir jetzt aus Pelissiers Bericht erfahren, haben die Russen den ganzen Raum von der Spitze der Quarantäne-Bucht bis zum Friedhof und von da bis zur Zentralbastion mit detachierten Werken und Schützengräben versehen, obwohl nach dem von der britischen Admiralität herausgegebenen offiziellen Plan der Befestigungsanlagen dieses wichtige Gelände völlig mitTrancheen durch
zogen ist. Doch stellt es sich jetzt heraus, daß, sobald die Flagstaff-Bastion und die Zentralbastion ernsthaft bedroht und die sie verteidigenden Außenwerke von den Franzosen erobert waren, die Russen dieses Stück Boden in ein einziges großes Befestigungswerk verwandelt haben. In wenigen Nächten wurden lange Linien von miteinanderverbundenenBrustwehren aufgeworfen, die das ganze Gebiet einschlössen, und so ein großer place d* armes oder Verteidigungsraum geschaffen, in dem Truppen gefahrlos konzentriert werden konnten, um jeder französischen Attacke in die Flanke zu fallen oder sogar starke Ausfälle gegen die Flanken der vorgeschobenen französischen Werke zu wagen. Pelissier kannte aus Erfahrung die Schnelligkeit, mit der die Russen solche Bauwerke ausführen, und die Zähigkeit, mit der sie ihre einmal vollendeten Befestigungen verteidigen. Er überfiel sie sofort. Am 22.Mai abends wurde eine Attacke in zwei Kolonnen vorgetragen. Die linke Kolonne setzte sich in den russischen Trancheen an der Spitze der Quarantäne-Bucht fest und befestigte den eroberten Platz; auch die rechte Kolonne gelangte in den Besitz der vorgeschobenen Trancheen, war aber unter dem heftigen Feuer des Feindes nicht imstande, sich festzusetzen, und mußte sich bei Tagesanbruch zurückziehen. In der darauffolgenden Nacht wurde der Versuch mit stärkeren Kolonnen wiederholt und ein voller Erfolg erzielt. Der ganze befestigte Abschnitt wurde erobert und durch das Hinübertragen der Schanzkörbe von der einen Seite des Laufgrabens nach der anderen gegen die Russen gesichert. Wie es scheint, haben die Franzosen in dieser Aktion mit der größten Tapferkeit gekämpft und so etwas wie ein Wiedererwachen jener alten furia francese1 gezeigt, die sie in vergangenen Zeiten so berühmt machte, obwohl man zugeben muß, daß die Behauptung des Generals Pelissier, sie hätten gegen eine Übermacht ankämpfen müssen, etwas nach Prahlerei aussieht. Hinsichtlich der dritten Bombardierung der Stadt, die nach einer Mitteilung, die wir aus Halifax erhalten haben, am 6. begonnen haben soll und der am 7. die Erstürmung und Eroberung des Mamelon und der Weißen Zitadelle2 folgte, enthält die Post, die die „Asia" gebracht hat, keine neuen Nachrichten, und wir können unseren Bemerkungen vom vergangenen Mittwoch nichts hinzufügen. Jedoch wurde uns bekannt, daß aus dem Heere Omer Paschas 25000 Mann von Eupatoria nach dem Chersones transportiert wurden; offensichtlich beabsichtigen die Alliierten Feldoperationen, da man, wäre eine weitere Bombardierung und ein Sturm geplant, diese Türken besser in ihren früheren Stellungen gelassen hätte. Er scheint aber auch, daß die alliierte Armee für einen Feldzug in das Innere der Halbinsel sehr unzu
1 kriegerischen Ungestüms der Franzosen — 2 die Redouten Selenginsk und Wolhynsk
reichend mit Transportmitteln und Vorräten ausgerüstet ist. Es ist möglich, daß Pelissier, in der Erwartung dieser Hindernisse, beschlossen hat, die Truppen zu beschäftigen, indem er die aktiven Operationen zur Belagerung der Stadt nicht dazu erneuert, um jetzt tatsächlich Sewastopol zu stürmen, sondern um die Moral der Soldaten aufrechtzuerhalten. Nach dem Verhalten Pelissiers seit der Übernahme des Kommandos scheint es sicher zu sein, daß er entschlossen ist, sich ausschließlich von seinem eigenen Urteil leiten zu lassen und von all den Plänen und Projekten keine Notiz zu nehmen, die Louis Bonapartes Phantasie ausbrüten möchte. In Paris scheint jetzt das Plänemachen für Krimfeldzüge eine moderne Beschäftigung zu sein. Sogar der alte Marschall Vaillant hat einen oder zwei Pläne geschickt, aber Pelissier telegraphierte sofort, wenn Vaillant seine Pläne für so gut halte, so solle er doch lieber nach der Krim kommen und sie selber ausführen. Wie dieser energische, aber starrköpfige und brutale Kommandeur vorgehen wird, werden wir sehr bald sehen. Jedenfalls wird er im alliierten Lager sehr bald ein schönes Gezänk hervorrufen, wenn es wahr ist, was wir angedeutet sehen, daß er den britischen, türkischen und sardinischen Stabschefs „Befehle" geschickt hat, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die betreffenden Kommandeure von ihrem Inhalt zu informieren. Denn bisher wurde nicht ein einzelner General, sondern der aus allen Befehlshabern bestehende Kriegsrat als oberste Macht betrachtet. Stellen Sie sich den alten Feldmarschall Lord Raglan unter dem Kommando eines einfachen französischen Generalleutnants vor! In der Zwischenzeit sind die Russen nicht müßig. Die „abwartende" Position, in die Österreich zurückgefallen ist, und die Ankunft von Reserven und neuen Aushebungen aus dem Inneren des Landes haben Rußland die Möglichkeit gegeben, neue Truppen nach der Krim zu senden. Außer mehreren Kavalleriedivisionen befinden sich bereits das 3., 4., 5. und 6. Infanteriekorps dort. Jetzt ist das 2. Infanteriekorps, das schon vor sechs Wochen auf der Krim gewesen sein soll, wirklich aus Wolhynien nach dem Kriegsschauplatz abgegangen, gefolgt von der dem Grenadierkorps beigegebenen 7. leichten Kavalleriedivision. Das ist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, daß die Infanterie und Artillerie des Grenadierkorps die nächsten sein werden, die nach der Krim marschieren; und in der Tat, sie sind bereits auf dem Wege nach Wolhynien und Podolien, um dort das 2. Korps zu ersetzen. Mit diesem 2. Korps, das unter dem Befehl des Generals Panjutin steht, der in Ungarn die russische Division befehligte, die der Armee Haynaus beigegeben war, werden außer Artillerie und leichter Infanterie 49 Infanteriebataillone auf die Krim gebracht werden - insgesamt etwa 50000-60000Mann-, denn zweifeis
ohne ist dieses Korps, das noch nicht eingesetzt war, auf volle Kriegsstärke gebracht worden. Die Truppenteile des 2. Korps werden nacheinander vom 15. Juni bis zum 15. Juli auf dem Kriegsschauplatz ankommen, in einer Zeit, in der sehr wahrscheinlich entscheidende Operationen durchgeführt werden, und sie können somit in der bevorstehenden Krimkampagne eine sehr wichtige Rolle spielen. Der Monat Juni muß irgendeine Entscheidung in diesem Krimkrieg bringen. Ehe der Juni oder höchstens der Juli vergangen ist, wird entweder die russische Feldarmee die Krim verlassen haben, oder die Alliierten werden gezwungen sein, ihren eigenen Rückzug vorzubereiten.
Geschrieben um den 8. Juni 1855. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Zur Kritik der Vorgänge in der Krim
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr.265 vom II.Juni 1855] London, 8.Juni. Die Ankunft von drei französischen Reservedivisionen zu den zwei sardinischen Divisionen machte es den Alliierten unmöglich, sich länger in die engen Grenzen des Herakleatischen Chersones festzubannen. Am 25. Mai, kurz nach Übernahme des Kommandos durch General Pelissier, sandten sie daher 20000-25000 Mann nach der Tschornaja, besetzten die Linie dieses Flusses und verjagten die russischen Vorposten von ihren Positionen auf den Höhen, die das rechte Ufer des Flusses überhangen. Man wird sich erinnern, daß wir vor länger als einem Monat darauf hinwiesen1, daß diese vorgeschobenste Verteidigungslinie der Russen nicht ihr wahres Schlachtfeld sei und daß sie daher, statt diesen Grund zu behaupten und eine Schlacht auf dieser Linie anzunehmen, ihn wahrscheinlich beim ersten ernsthaften Angriff aufgeben würden, um alle ihre Kräfte zu konzentrieren auf der starken Linie zwischen Inkerman und der Hügelreihe im Osten dieses Platzes. Dies ist nun geschehen. Durch dies Vorrücken haben die Alliierten die Ausdehnung des Von ihnen besetzten Areals beinahe verdoppelt und sich ein Tor zum reichen Tal von Baidar eröffnet, was sehr nützlich für die Folge werden kann. Indes ist bisher der erlangte Vorteil nicht rasch und tätig verfolgt worden. Nach der ersten Bewegung trat sofort wieder Stockung ein. Mangel an Transportmitteln mag hierzu gezwungen haben. Uneinigkeit zwischen alliierten Heerführern wird als eine Ursache angeführt. Das am 6. Juni wieder eröffnete Bombardement von Sewastopol, das Bombardement Nr. 3, erregt den Verdacht, als sei bezweckt, nach einer
1 Siehe vorl. Band. S. 215/216
Zur Kritik der Vorgange in der Krim 279
Episode wieder zum alten Schlendrian zurückzukehren. Doch mag das Bombardement mit Feldoperationen kombiniert sein. Eine notwendige Maßregel (vgl. Nr. 241 der N.O-Z.1) ist jedenfalls endlich ergriffen worden - der Transport einiger 20000 Türken unter Omer Paschas persönlichem Kommando von Eupatoria nach dem Chersones. Die alliierte Armee ist so zu vollen 200000 Mann angeschwellt. Mit solcher Streitkraft können die aktiven Operationen sicher begonnen werden, sobald die Organisation der Zufuhren und Transportmittel das Feld zu ergreifen erlaubt. Hier aber scheinen große Schwierigkeiten zu überwinden. Die zweite Affare, die in der Geschichte der Hauptarmee zu erwähnen, ist der Kampf zwischen der Quarantäne-Bai und der Zentralbastion (Nr. 5 der Russen). Er war hartnäckig und blutig. Die Russen, wie wir jetzt aus General Pelissiers Bericht sehen, hielten allen Grund und Boden von dem Kopfe der Quarantäne-Bai bis zum Kirchhof und von da bis zur Zentralbastion vermittelst detachierter Werke und Schützengruben, obgleich selbst der offizielle britische Admiralitätsplan der Belagerungswerke über diesen ganzen wichtigen Raum hin französische Befestigungswerke hinphantasiert. Sobald die Flagstaff- und Zentralbastionen ernsthaft bedroht und die sie beschützenden Außenwerke von den Franzosen genommen waren, verwandelten die Russen diese weitläufige Strecke in ein einziges großes Werk. In einigen Nächten wurden lange Linien miteinander verbunden, Brustwerke aufgeworfen, die den ganzen Grund einschlössen und so einen geräumigen place d* armes bilden sollten, d. h. einen beschützten Platz, wo die Truppen in Sicherheit konzentriert werden konnten, um auf den Flügeln irgendeiner französischen Attacke zu agieren oder auch starke Ausfälle auf die Flanken der vorgeschobenen französischen Werke zu unternehmen. Pelissier, um den Russen nicht Zeit zu lassen, ihren Plan auszuführen, beschloß, sofort über sie herzufallen, während ihre Erdarbeiten noch nicht vollendet. Am Abend des 22. Mai wurde ein Angriff in zwei Kolonnen gemacht. Die linke Kolonne etablierte sich in den russischen Laufgräben am Kopfe der Quarantäne-Bai und bewirkte hier eine Logierung; die rechte Kolonne bemächtigte sich auch der vorgeschobenen Laufgräben, mußte aber vor dem heftigen Feuer des Feindes sich bei Tagesanbruch wieder zurückziehen. Am folgenden Abend wurde der Versuch erneut mit stärkeren Kolonnen und vollständigem Erfolg. Das ganze Werk wurde weggenommen und gegen die Russen gekehrt durch Übersiedelung der Schanzkörbe von der einen Seite des Laufgrabens nach der entgegengesetzten. In dieser Aktion scheinen die Franzosen wieder mit der
1 Siehe vorl. Band, S. 242
bekannten furia francese1 gefochten zu haben, obgleich zu gestehen, daß die Art, wie Pelissier die zu überwindenden Schwierigkeiten schildert, nicht ohne Anflug von Marktschreierei ist. Die Expedition nach dem Asowschen Meere ist bekanntlich mit dem vollständigsten Erfolg gekrönt worden. Eine Flottille, zumeist bestehend aus den leichten Kriegsdampfschiffen beider Flotten, bemannt mit 15000 britischen, französischen und türkischen Soldaten, ergriff, ohne Widerstand zu Anden, Besitz von Kertsch, Jenikale und der Seestraße, die in das Asowsche Meer führt. In diesen Binnensee vordringend, erschienen die Dampfschiffe vor Berdjansk, Genitschesk und Arabat und zerstörten oder zwangen die Russen zu zerstören große Vorräte von Getreide und Munition, eine Anzahl von Dampfschiffen und nahe an 200 Transportschiffe. Es glückte ihnen, bei Kertsch Gortschakows Briefe an den Kommandeur dieses Platzes aufzufangen. Der russische Oberfeldherr klagt über Mangel an Provisionen in Sewastopol und dringt auf rasche Sendung frischer Zufuhren. Es zeigt sich nun, daß der Asowsche See während dieses ganzen Feldzuges der Hauptkanal war, auf welchem die Russen in der Krim ihre Vorräte erhielten, und daß 500 Segelschiffe zu ihrem Transport verwandt wurden. Da die Alliierten bisher nur 200 Segelschiffe gefunden und zerstört haben, müssen die 300 übrigen sich höher oben bei Taganrog oder Asow befinden. Eine Schwadron von Dampfern ist daher nach ihnen ausgeschickt worden. Der Erfolg der Alliierten ist um so wichtiger, als er die Russen zwingt, alle Vorräte auf langsamer und unsicherer Landfuhre über Perekop zu schicken oder über das Innere des Faulen Sees, und ihre Hauptniederlagen bei Cherson oder Berislaw am Dnepr zu bilden, in Positionen, bei weitem ausgesetzter als die am Kopfe des Asowschen Meeres. Der beinahe widerstandslose Erfolg dieser Expedition ist der größte Vorwurf für die Kriegführung der Alliierten. Wenn solche Resultate jetzt zu erreichen in 4 Tagen, warum wurde die Expedition nicht im September oder Oktober des vergangenen Jahres entsendet, zu einer Zeit, wo ähnliche Unterbrechungen der russischen Verbindungslinie den Rückzug ihrer Armee von der Krim und die Übergabe Sewastopols herbeiführen konnten? Die Landtruppen, die diese Expedition begleiten, sind bestimmt, die Dampfer im Notfalle zu beschützen, die weggenommenen Plätze mit Garnisonen zu versehen und gegen die russischen Kommunikationen zu agieren. Ihr Hauptkorps scheint bestimmt, im Feld zu handeln als bloßes fliegendes Korps, ausfallend, wenn immer Gelegenheit ist, einen raschen Schlag zu
1 kriegerischen Ungestüm der Franzosen
Zur Kritik der Vorgänge in der Kr im 281
führen, in seine Verschanzungen retirierend, unter den Schutz der Schiffskanonen, und selbst sich wieder einschiffend im schlimmsten Fall, wenn von einer weit überlegenen feindlichen Streitkraft bedroht. Wenn dies sein Zweck, so kann es wichtige Dienste leisten, und 15000 Mann sind nicht zu viel für solchen Dienst. Ist es dagegen bestimmt, als selbständiges Korps mit eigner Operationsbasis zu handeln, eine ernsthafte Flankenbewegung gegen die Russen zu unternehmen und zu versuchen, ernsthaft das Innere der Krim zu bedrohen, so sind 15000 Mann, geschwächt durch Detachements, für solche Operation viel zu wenig und laufen große Gefahr abgeschnitten, von überlegenen Streitkräften umringt und vernichtet zu werden. Gegenwärtig wissen wir nur, daß sie bei Kertsch gelandet und damit beschäftigt, es nach der Landseite hin in Verteidigungszustand zu setzen. Nachdem die Russen Sudschuk Kaie freiwillig geräumt, bleibt Anapa die einzige Festung in ihren Händen an der zirkassischen Küste. Es ist von Natur ein sehr starker Platz und jetzt außerdem gut befestigt. Wir zweifeln, daß die Alliierten^ für diesen Augenblick einen Angriff darauf unternehmen. Sollten sie es tun, so begehen sie einen großen Fehler, wenn nicht schleunigen Erfolgs gewiß. Sie würden Truppen zerstreuen, die der größten Konzentration bedürfen, und Kräfte an neuen Angriffsgegenständen verschwenden, bevor die alten gesichert.
Karl Marx
Die große parlamentarische Debatte
(„Neue Oder-Zeitung44 Nr.267 vom 12. Juni 1855] London, 9. Juni. Die große parlamentarische Debatte hat geendet oder ist vielmehr verendet - am Speichelfluß. Barings Motion passierte ohne Widerspruch „unter dem allgemeinen Gelächter des Hauses". Die Motion, so fade wie sie ist, schließt mit einer Kriegsadresse an die Krone. Erklärte das Haus den Krieg „une guerre pour rire"1? oder erklärte es sich selbst „un Parlament pour rire"2? Jedenfalls lag der wirkliche Schluß der zweiwöchigen Debatte nicht in der Annahme von Barings Motion - einer bloßen Formalität -, sondern in dem allgemeinen Lachen, dem spontanen, unreglementsmäßigen Muskelkrampf, dem indiskreten Naturschrei, worin das „ehrenwerte Haus" Motionen und Contre-Motionen, Amendements und Sousamendements, Ministerium und Opposition, Reden, Gegenreden, Predigten, Deduktionen, gellenden Sarkasmus und pathetische Beschwörung, Friedensgebet und Kriegsgeschrei, Taktik und Taktlosigkeit, sich selbst und sein Votum begrub. Das Haus rettete sich aus der lächerlichen Situation, indem es sich selbst auslachte. So gestand es, daß in seinem parlamentarischen Medium welthistorischer Ernst erst in konventionellen Ernst sich verdreht, bis der gemachte Ernst in natürlichen Spaß umschlägt. Jeder Versuch, Palmerston zu einer Formulierung der ministeriellen Politik, zu einer Erklärung über Gegenstand, Tendenz, Zweck des Krieges zu treiben, scheiterte vollständig. Er erklärte geradezu: „Es sei unmöglich, einen Minister, ja irgendeinen beliebigen Bekannten, über den Gegenstand des Krieges zu befragen." Was ihm vor allem diente, waren die Friedensmänner. Ihr wollt wissen, wozu wir Krieg führen? Da ist Richard Cobden, der Frieden zu jedem Preis will. Zieht ihr nicht Krieg ohne irgendwelchen Preis dem
1 „als einen Krieg zum Lachcnw - 8 „als ein Parlament zum Lachen*4
Die große parlamentarische Debatte 283
Frieden zu jedem Preis vor? Schlagt auf den Richard Cobden! So schob er beständig zwischen sich und seinen Antagonisten Cobden oder Bright oder Graham oder Gladstone. Die Heroen der Baumwolle dienten ihm nicht nur zum Futter, womit er seinen Waffenrock wattierte. Noch mehr. Er fabrizierte Pulver aus der Baumwolle. Es zeigte sich zugleich während der Debatte, daß Palmerston jetzt in Russell, wie früher in Aberdeen, einen Blitzableiter, einen dem Kabinett selbst angehörigen Blitzahleiter für seine sakrosankte Person besitzt. Zu die" sem Behufe hatte er Russell nach Wien gesandt, zu dem Behufe, ihn in seinen Blitzableiter zu verwandeln. Und wie früher Layard und Komp. den Aberdeen, so erklärt jetzt Roebuck den Russell verantwortlich für die „shortcomings"1 des heroischen Palmerston. Wie damals durch die Peelitenist er jetzt durch die Russelliten im „Flügelschlag" seiner „freien Seele"fl67J verhindert. Er hat diese-Gewichtsteine an sich hängen, nicht, wie die Schwarzwälder Uhren, um gehen, sondern um falsch schlagen zu können. Alle Cliquen des Unterhauses sind beschädigt aus dem konventionellen Scheingefecht hervorgegangen. Die Peeliten haben endlich eingestanden, daß sie bisher Offiziere ohne Armeen waren. Sie haben den Anspruch aufgegeben, eine eigene Fraktion zu bilden, und sich offen an die Manchesterschulet453 angeschlossen. Sie, mit der Leitung der Armeen und der Marine während des ersten Kriegsjahrs betraut, haben durch das Bekenntnis des Glaubens an den ewigen Frieden albernerweise sich selbst als die Verräter innerhalb der Koalition denunziert zur freudigen Verwunderung von Palmerston-Russell. Sie haben sich unmöglich gemacht. Die Manchesterschule will in der Tat den Frieden, um industriell Krieg führen zu können, nach außen und nach innen. Sie will die Herrschaft der englischen Bourgeoisie auf dem Weltmarkt, wo bloß mit ihren Waffen, Baumwollballen, gekämpft werden soll, und in England selbst, wo der Aristokrat, als überflüssig für die moderne Produktion beseitigt, und der Proletarier, als bloßes Werkzeug dieser Produktion, unterjocht werden, sie selbst aber, als Leiterin der Produktion, auch den Staat leiten und die Staatswürden sich aneignen soll. Und nun denunziert Cobden einen Pfarrer, Dr. Griffiths, weil er das Haus der Lords für überflüssig erklärte in einem öffentlichen Meeting. Und Bright weint über das Schicksal der königlichen Kinder, die der mit dem Krieg verbundene Ruin zwingen werde, ihre eignen Hemden zu waschen. Beide denunzieren die Volksagitation. Das sind die Heroen der Anti-CornLaw League[1371, die, auf den Wogen der Volksagitation in die Höhe getragen,
1 „Mängel"
den „barbarischen Glanz der Krone", Lords, Grundaristokratie usw. als „falsche Produktionskosten" denunzierten? Ihre ganze Pointe bestand im Kampfe gegen die Aristokratie, die Friedenshomilie nicht ausgenommen. Und jetzt denunzieren sie die Masse bei der Aristokratie! Et propter vitam vivendi perdere causas.1 Die Manchesterschule hat in dieser Debatte auf ihren Existenzgrund verzichtet. Die Tories haben ihrerseits eine Friedenspartei im eignen Schoß aufgedeckt und bewiesen, daß sie die Tradition, Vertreter des englischen Nationalismus zu sein, so wenig konserviert haben als ihren Haß gegen die „Bonapartes". Die Ministeriellen endlich? Nichts charakterisiert sie besser als das krampfhafte Anklammern an eine Motion, die Palmerston eine Woche vorher selbst ablehnen mußte, die der Antragsteller fallenlassen wollte, die Walpole im Namen der Tories, Gladstone im Namen der Friedensmänner, das Haus im Namen „allgemeiner Heiterkeit" annahm. Der „Morning Herald" hat folgendes Schreiben aus dem Finnischen Meerbusen erhalten: „Sechzehn Meilen von Kronstadt, 28. Mai. Der ,Orion4 hat eine Rekognoszierung gemacht. Er meldet, daß das russische Geschwader zu Kronstadt aus 6 seetüchtigen Linienschiffen, ebensoviel beinahe abgetakelten Linienschiffen, 13 Linienschiffen, die ihrem Aussehen nach in schwimmende Batterien verwandelt worden sind, 8 großen Dampfern und einer großen Anzahl von Kanonenbooten - es gelang nicht, dieselben zu zählen - besteht. Bei einem Besuche von Bomarsund haben wir dort alles in dem Zustande gefunden, in welchem wir es verlassen hatten; die Russen haben nichts getan, um die Befestigungen wiederaufzubauen. Kein Bewohner ließ sich blicken. Die Strafen, welche über diejenigen verhängt wurden, die im vorigen Jahre mit den verbündeten Geschwadern Handel trieben, haben die Bevölkerung sehr vorsichtig gemacht."
1 Und um leben zu können, die Gründe des Lebens zu missen. (Juvenal, Satira VIII, 85)
Friedrich Engels
Sewastopol11683
[„New-York Daily Tribüne44 Nr. 4429 vom 29. Juni 1855, Leitartikel] Durch die Post der „Baltic" sind wir in den Besitz der offiziellen Dokumente über die letzten Ereignisse bei Sewastopol gelangt. Gestern veröffentlichten wir die Depeschen des Generals Pelissier und des Lords Raglan, und jetzt fahren wir fort, die Tatsachen zu veröffentlichen, so wie sie durch diese und andere Beweise festgestellt wurden: Am 6. Juni eröffneten die alliierten Batterien der rechten Attacke wieder ihr Feuer auf die Stadt. Diesmal jedoch war es kein allgemeines Bombardement. Es handelte sich nur um eine Kanonade auf bestimmte Punkte, mit dem Zweck, sie sofort zu nehmen. Die Außenwerke, am 23. Februar und 12. März von den Russen auf diesem Verteidigungsabschnitt konstruiert - die Selenginsk-, Wolhynsk- und Kamtschatka-Redouten -, hatten bisher die Belagerer und ihre Batterien ferngehalten. Auf der westlichen Front, der linken Attacke der Alliierten, existierten keine solchen Außenwerke, und die Franzosen hatten sich hier beinahe am Rande des Grabens oder des bedeckten Ganges (falls einer da ist) der Verteidigungswerke festgesetzt, und damit hatte der auf dieser Seite gemachte Fortschritt die viel langsamere Vorwärtsbewegung der rechten Attacke weit hinter sich gelassen. Da der Belagerungsplan der Alliierten die zwei großen Abschnitte der Linien - die Stadt westlich vom inneren Hafen1 und die Vorstadt Karabelnaja auf seiner östlichen Seite - als zwei getrennte Festungen betrachtet, die gleichzeitig angegriffen werden sollen, war die rechte Attacke mit mehr Energie vorwärtszuschieben und mußten die Außenwerke forciert werden, um die Alliierten auf dieser Seite wieder in eine Linie zu bringen mit ihren vorgeschobenen Parallelen
1 Südbucht
auf der linken Attacke. Um dies zu bewerkstelligen, waren die obengenannten Redouten und einige unbedeutendere Verschanzur gen in einem Steinbruch, der die Mamelon- (Kamtschatka-) Redoute auf der rechten Seite flankiert, wegzunehmen. Folglich, nach 36stündiger Kanonade, am Abend des 7. Juni, stürmten die Franzosen die zwei Redouten Selenginsk und Wolhynsk über die Kilen-balka und die Mamelon-Redoute, während die Briten den Steinbruch stürmten. Nach einstündigem heftigen Kampf waren die Alliierten im Besitz der Werke. Eine Anzahl Kanonen wurde erbeutet, auch 400 Gefangene gemacht, unter ihnen 13 Offiziere. Der Verlust war auf beiden Seiten sehr schwer. So befindet sich jetzt auf dieser Seite alles ungefähr in demselben Zustande wie vor dem 22. Februar. Von den durch die Alliierten gestürmten Redouten ist die Mamelon-Redoute (von den Russen,Kamtschatka-Redoute genannt1) die wichtigste. Sie wurde konstruiert am 12. März und den folgenden Tagen. Schon damals wiesen wir auf die große Bedeutung dieses Werkes und auf die beachtliche Rolle hin, die es in dem Kampf spielen würde.ll69] Das Ereignis hat unsere Ansichten vollauf gerechtfertigt. Dies hastig aufgeworfene Feldwerk hemmte den Fortschritt der Belagerer auf der einen Hälfte der gesamten Angriffslinie für 88 Tage, eine Periode, doppelt so groß, als in gewöhnlichen Belagerungen zur Wegnahme einer gut gelegenen Festung erheischt wird. Woher dies außerordentliche Phänomen, das in der Geschichte der Belagerungen nur zwei Parallelen hat: die eine in der Verteidigung Kolbergs durch die Preußen (1807) und die andere in der Verteidigung Danzigs durch die Franzosen (1813/1814). Mit der Vergrößerung der Armeen im freien Felde verloren die alten und im allgemeinen kleinen Befestigungen aus der Zeit Vaubans ihre Bedeutung. Sie wurden ungestraft von siegreichen Heeren im Rücken liegengelassen und kaum von fliegenden Korps beobachtet, bis die Reserve der Armee heranrückte und Zeit fand, sie zu nehmen. Stießen aber diese bedeutenden Armeen bei ihrem Marsche auf große Festungen, so wurden sie unveränderlich aufgehalten. Dies war der Fall mit Napoleon zu Mantua 1797 und zu Danzig 1807. Der Grund ist Idar. Wenn eine Armee von 150000 Mann in ein feindliches Land vorrückte, so boten die kleinen Festungen im Rücken keine Gefahr: all ihre Garnisonen zusammengenommen waren nicht stark genug, den Verstärkungen und Reserven zu begegnen, die von den Depots abkommandiert wurden, um die aktive Armee aufzufüllen. So ldeine Garnisonen konnten außerdem kein mehr oder minder starkes Truppenkorps
1 Gemeint ist die Kamtschatka-Lünette
detachieren, um das Feld zu säubern und die Kommunikationslinien der feindlichen Armee zu unterbrechen. Aber begegnete eine Armee einer Festung von bedeutender Stärke mit einer Garnison von 15000-25000 Mann, dann stand die Sache anders. Solch eine Festung bildete den Knotenpunkt der Verteidigung für eine ganze Provinz, konnte nach jeder Richtung und in beträchtlicher Entfernung ein starkes Truppenkorps detachieren, das zu Feldoperationen fähig und immer im Falle einer überlegenen Attacke eines sichern Rückzugs zur Festung gewiß war. Eine solche Festung zu beobachten war beinahe so schwierig als sie zu nehmen. Es war also vorzuziehen, sie zu nehmen. Die alten Festungen nun, in der Art Vaubans und Cormontaignes, konzentrierten alle ihre Verteidigungsmittel um den Hauptwall und im Hauptgraben. Alle ihre Tenailles, Lünetten, contre-guardes1, Turmredouten sind so akkumuliert, daß sie nur eine Verteidigungslinie bilden, die, sobald es gelang, einmal in sie einzudringen, in wenigen Tagen durchbrochen war, und war einmal die Verteidigungslinie durchbrochen, fiel auch die Festung. Solches System war offenbar unpassend für große Festungen, die allein große Invasionsarmeen in ihrem Fortschritt aufhalten konnten; dieses System beizubehalten wäre einer Opferung der Garnison gleichgekommen, denn ein gelungener Durchbruch hätte das Festungswerk schutzlos gemacht. Man mußte zu einem andern System seine Zuflucht nehmen - dem der vorgeschobenen Werke. Der französische General Montalembert, Carnots Lehrer, erklärte sich zuerst, den lauten Vorurteilen seiner Profession zum Trotz, für detachierte Forts; aber die Methode, große Festungen mit detachierten Forts so zu erbauen, daß sie zusammen ein völliges Verteidigungssystem bilden, ist zu ihrer jetzigen Vollkommenheit in Deutschland, namentlich vom preußischen General Aster, ausgearbeitet worden. Die glänzenden Verteidigungswerke von Köln, Koblenz, Posen, Königsberg und teilweise von Mainz sind sein Werk, und sie bezeichnen eine neue Ära in der Geschichte des Befestigungswesens. Die Franzosen erkannten schließlich die Notwendigkeit an, zu diesem System überzugehen, und erbauten die Verteidigungswerke von Paris mit detachierten Forts, die in erstklassigem Stil geplant und ausgeführt wurden. Mit dem System der detachierten Forts änderte sich die Verteidigungsart der Festungen. Die Garnisonen großer Festungen mußten so vergrößert werden, daß keine Notwendigkeit bestand, eine bloß passive Verteidigung aufrechtzuerhalten, bis der Feind, bis zum Glacis vordringend, in die Reichweite
1 (Kontergarden, d.h.:) Vor-, Gegenwälle
kam, die Ausfälle erlaubte. Eine Garnison von 20000 oder 25000 Mann war stark genug, den Feind auf eigenem Boden zu attackieren. Die Festung und der Raum um sie, soweit er geschützt war durch detachierte Forts, verwandelte sich in ein verschanztes Lager oder in eine Basis für die Feldoperation der Garnison, die selbst in eine kleine Armee verwandelt wurde. Die bisher mehr passive Verteidigung wurde aktiv und nahm einen offensiven Charakter an. Die Notwendigkeit eines solchen Verteidigungssystems wurde so augenscheinlich, daß, als im Jahre 1807 die Franzosen Danzig belagerten, die 20000 Mann zählende preußische Garnison gerade solche detachierten Forts errichtete, die es dort nicht gab, die aber sofort als notwendig erachtet wurden, um die Ressourcen dieser großen Garnison für eine wirkliche Verteidigung des Platzes einzusetzen. Als die Franzosen Danzig 1813/1814 gegen die Alliierten verteidigten, wandten sie das gleiche Prinzip mit noch größerem Erfolg an. Eine Belagerung, seit Vauban eine kurz dauernde Operation, deren Ende fast mit Gewißheit in einer vorher festgesetzten Frist zu erreichen, wenn das Verfahren keine Störung von außen erlitt, wurde nun zu einer allen Chancen des Feldkriegs unterworfenen Operation. Die Artillerie auf den Wällen war nur noch von sekundärem Interesse, und Feldartillerie nahm den Vorrang vor ihr ein, selbst in der Verteidigung eines Platzes. Das Geschick des Ingenieurs war nicht länger einzig darauf angewiesen, den während der Belagerung angerichteten Schaden gutzumachen; er hatte nun wie im Felde vor den Forts gelegene Positionen zu wählen und zu befestigen, Laufgräben zu den Laufgräben des Gegners zu ziehen, die feindlichen Werke in die Flanke zu nehmen durch Gegenwerke, die Front der Verteidigung plötzlich zu wechseln und so den Feind zu zwingen, die Front des Angriffes zu wechseln. Infanterie wurde der Eckstein in Belagerungskriegen wie im Felde, und Kavallerie wurde ein unentbehrliches Ingredienz fast jeder Garnison. Es war daher nicht mehr länger möglich, die Zeitdauer einer Belagerung im voraus zu bestimmen, und'Vaubans Regeln für den Angriff eines Platzes, obgleich sie im ganzen richtig blieben für die Details der Artillerieattacke, wurden gänzlich unanwendbar für das Ensemble einer Belagerung. Die Russen zu Sewastopol hatten keine Zeit, detachierte Werke aufzuwerfen. Sie waren zunächst gezwungen, nach der alten Methode der Befestigung eines Platzes zu verfahren. Sie errichteten einen Hauptwall als erste Verteidigung, und dies war in der Tat das dringlichste. Hinter diesem Wall errichteten sie eine zweite und dritte Verteidigungslinie und fuhren unterdes fort, die erste zu verstärken. Dann, als sie allmählich ihre Überlegenheit sogar bei einer gewissen Entfernung vom Hauptwall fühlten, drangen sie vor und
erbauten die Selenginsk- und Wolhynsk-Redouten und schließlich das Werk auf dem Mamelon und eine lange Reihe von Schützengräben, während sie auf der westlichen Front, wo die Hauptmasse der Franzosen aufgestellt war, nur einige wenige Lünetten dicht am Hauptgraben aufwerfen konnten und einige Schützengräben, die auch nicht viel weiter vorgeschoben waren. So war die östliche Front von dem Moment an, da der Mamelon von den Russen befestigt war, verhältnismäßig sicher, während an der westlichen Front, wo solche schützenden Außenwerke nicht bestanden, die Belagerer allmählich direkt bis zum Rand des Hauptgrabens vorrückten. Um sich auf der rechten Attacke der beherrschenden und entscheidenden Position der Malachow-Bastion zu nähern, mußten daher die Belagerer erst den Mamelon nehmen; aber der Mamelon, während er den Malachow verteidigte, war selbst wieder verteidigt durch alle Werke in seinem eigenen Rücken. Welcher Art diese Verteidigung war, sah man im zweiten Bombardement, wo Canrobert ihn nicht ernsthaft anzugreifen wagte. Sogar jetzt kann es keinen Zweifel darüber geben, daßi der Verlust der Franzosen beim Erstürmen dieses Werkes sehr groß gewesen sein muß. Die Wiedereröffnung des Feuers durch die Alliierten und die Energie, womit General Pelissier, unbekümmert um das Leben seiner Soldaten, jede günstige Chance verfolgt gegen die Verteidigung, sind begleitet von völliger Stagnation der Operationen an der Tschornaja. Diese Verfahrungsart zeigt uns den Charakter Pelissiers ganz seinem frühern Renommee gemäß, hartnäckig, eigensinnig und rücksichtslos. Es standen ihm zwei Wege offen: entweder das Feld zu ergreifen, Sewastopol auch auf der Nordseite einzuschließen und dann mit verdoppelter Energie und vierfacher Chance des Erfolgs die Belagerung wiederaufzunehmen. Oder er mußte auf dem alten Irrweg der letzten 8 Monate sich weiterschleppen, verbissen an der Südseite festhalten, jeden Stein derselben zerstören, und die Russen aus einem Platze vertreiben, den, selbst wenn er aufgegeben wird, Pelissier mit seinen eignen Truppen nicht halten kann wegen der Batterien auf der Nordseite. Es gibt keinen vernünftigen Soldaten auf der Welt, der bei der Nachricht von Pelissiers Ernennung zum Kommandeur und der großen Verstärkung der Alliierten nicht erwartete, daß er sofort den ersten Weg einschlagen würde. Besonders nachdem Omer Pascha mit 25000 Türken in Balaklawa eingetroffen, gab es keinen Zweifel darüber, daß die Alliierten stark genug waren, die Belagerung weiterzuführen, 15 000 Mann nach Kertsch zu schicken und außerdem mit mehr Leuten ins Feld zu rücken, als die Russen ihnen entgegenstellen konnten. Warum haben sie das nicht getan? Fehlt es ihnen immer noch an Transportmitteln? Haben sie kein Vertrauen in ihre
19 Marx/En?eis» Werke. Bd. 11
Fähigkeit, einen Feldzug auf der Krim durchzuführen? Wir wissen es nicht. Aber eins ist gewiß: falls Pelissier nicht sehr zwingende Gründe hat, von Feldoperationen Abstand zu nehmen, so verfolgt er aus bloßer Hartnäckigkeit und Eigenwilligkeit einen äußerst falschen Weg. Mit denselben Verlusten, denen Pelissier jetzt fortwährend seine Armee im Sturmlaufen aussetzt, könnte er im Felde unvergleichlich größere und entscheidendere Resultate gewinnen. Die Südseite nehmen, ohne die Nordseite, von der sie beherrscht ist, auch nur eingeschlossen zu haben1, bedeutet, allen Regeln der Kriegführung zu trotzen, und wenn Pelissier darauf aus ist, kann er noch die große Armee ruinieren, die er befehligt. Wir wollen jedoch jede zweifelhafte Handlung zugunsten des neuen Befehlshabers auslegen. Es mag sein, daß die Kämpfe auf der linken Attacke unvermeidlich und durch die Konterapprochen der Russen provoziert waren. Eis mag sein, daß es nötig war, die Russen in ihre ursprünglichen Linien zurückzuweisen - sie durch ein paar harte, unwiderstehliche Schläge die Überlegenheit der Belagerer fühlen zu lassen bevor eine Trennung der Armee in ein Belagerungskorps und ein Feldkorps gewagt werden könnte. Aber sogar wenn wir edles dies zugeben, müssen wir jetzt sagen, daß es so nicht weitergehen kann und jeder weitere ernsthafte Versuch, den Platz zu nehmen, ein direkter Fehler wäre, wenn nicht vorher die Kräfte der russischen Feldarmee zermürbt werden im Kampfe mit all den Kräften, die hierzu zur Verfügung stehen.
Geschrieben um den 12. Juni 1855. Aus dem Englischen.
1 In der „Neuen Oder-Zeitung" Nr. 273 vom 15. Juni 1855 wird der Text folgendermaßen fortgesetzt und der Artikel abgeschlossen: „ist ein unbegreifliches Verfahren. Es mag Pelissier noch an Transportmitteln für Operationen im freien Felde fehlen. Oder die Contre-Approchen der Russen mögen es nötig gemacht haben, sie in ihre ursprünglichen Linien zurückzuweisen und vor dem Unternehmen von Feldoperationen die Überlegenheit der Belagerer fühlen zu lassen. Aber jedenfalls hört mit der Wegnahme von Malachow der letzte Grund auf. Sollte Pelissier verstockt genug sein, ernsthafte Angriffe auf den Hauptkörper des Platzes fortzusetzen, statt die Stärke der russischen Armee im Felde mit allen verfügbaren Kräften zu brechen, so ist der Ruin der von ihm kommandierten Armee durchaus nicht unwahrscheinlich, um so mehr, als der Platz, worauf so große Menschenmassen eingeschlossen, ein einziger Kirchhof ist, dessen tödliche Miasmen die erste Sommerglut wachrufen wird."
Friedrich Engels
Napoleons Kriegspläne
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4431 vom 2.Juli 1855, Leitartikel] Die französische Regienmg hat es wiederum für richtig befunden, in den Spalten des Pariser „Constitutionnel"11701 der Weltöffentlichkeit eine weitere Andeutung zu geben über die Art, wie der Krieg in den nächsten Monaten fortgeführt werden soll. Diese Exposes werden jetzt nicht nur modern, sondern auch periodisch; und obwohl sie einander widersprechen, geben sie dennoch eine ziemlich gute Vorstellung von den günstigen Möglichkeiten, die im gegebenen Moment der französischen Regierung offenstehen. Alles in allem bilden sie eine Sammlung aller möglichen Feldzugspläne Louis Bonapartes gegen Rußland. Als solche verdienen sie einige Aufmerksamkeit, weil mit ihnen das Schicksal des Zweiten Kaiserreiches und die Möglichkeit einer nationalen Wiedergeburt Frankreichs verbunden ist. Es scheint also, daß es mit 500000 Österreichern und 100000 Franzosen an der Weichsel und am Dnepr keinen „grande guerre"1 geben soll und auch keine allgemeine Erhebung jener „unterdrückten Minderheiten", die ständig nach dem Westen schauen. Ungarische, italienische und polnische Armeen erscheinen nicht auf den Zauberruf des Mannes, der die Römische Republik [1711 zu Fall gebracht hatte. Das alles gehört der Vergangenheit an. Österreich hat gegenüber dem Westen seine Pflicht getan. Auch Preußen. Auch die ganze Welt. Jeder ist mit jedem zufrieden. Dieser Krieg ist alles andere als ein großer Krieg. Er ist nicht bestimmt, die Glorie der alten Kämpfe der Franzosen gegen die Russen zu erneuern, obwohl das gerade P6lissier in einer seiner Depeschen beiläufig sagt. Die französischen Truppen werden nicht nach der Krim geschickt, um höchsten Siegesruhm einzuheimsen, sie sind
1 „großen Krieg"
einfach dort, um Polizeidienste zu tun. Die Frage, die eine Entscheidung erheischt, ist von einer rein lokalen Bedeutung: die Suprematie über das Schwarze Meer - und sie wird gerade in dem betreffenden Raum gelöst werden. Es wäre töricht, dem Krieg irgendwelche größeren Dimensionen zu geben. „Ehrerbietig, aber bestimmt" werden die Alliierten jeden Versuch der Russen, auf dem Schwarzen Meer und an seinen Küsten Widerstand zu leisten, niederschlagen; und wenn das geschehen ist - ja, dann werden sie oder Rußland oder alle beide selbstverständlich Frieden schließen. Somit ist wieder eine der bonapartistischen Selbsttäuschungen zerstört worden. Die Träume vom Rhein als der Grenze Frankreichs, von der Erwerbung Belgiens und Savoyens sind verflogen, und eine nüchterne Bescheidenheit von ungewöhnlichem Ausmaß ist an ihre Stelle getreten. Wir kämpfen nicht darum, Frankreich wieder in die Stellung einzusetzen, die ihm in Europa zukommt. Weit davon entfernt. Wir kämpfen nicht einmal für Zivilisation, wie wir noch vor kurzem zu sagen pflegten. Wir sind zu bescheiden, um etwas von solcher Größe anzustreben. Wir kämpfen um - nun ja, wir kämpfen um nichts weiter als die Auslegung des dritten Punktes des Wiener Protokolls! Dieser Sprache bedient sich jetzt Seine Kaiserliche Majestät Napoleon III., durch die Huld des Heeres und dank der Toleranz Europas Kaiser der Franzosen. Und worauf läuft dies alles hinaus? Man sagt uns, der Krieg würde zwecks Lösung einer Frage von rein lokaler Bedeutung geführt und könnte durch rein lokale Mittel zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden. Nehmt Rußland die tatsächliche Suprematie über das Schwarze Meer, und das Ziel wird erreicht sein. Seid ihr einmal der Beherrscher des Schwarzen Meeres und seiner Küsten, haltet fest, was ihr erobert habt, und Rußland wird sehr bald nachgeben. Das ist der letzte von all den vielen vom Hauptquartier in Paris entworfenen Feldzugsplänen. Wir gehen dazu über, ihn ein wenig näher zu betrachten. Wir wollen die Dinge so nehmen, wie sie zur Zeit stehen. Die ganze Küste von Konstantinopel bis zur Donau auf der einen Seite und rund um die tscherkessische Küste, Anapa, Kertsch, Balaklawa bis Eupatoria auf der anderen Seite, ist den Russen entrissen worden. Kaffa und Sewastopol sind die einzigen Punkte, die sich noch behaupten; der eine schwer bedrängt, der andere so gelegen, daß er aufgegeben werden muß, sobald er ernsthaft bedroht wird. Das ist noch nicht alles: Die alliierten Flotten durchfurchen das Asowsche Meer; ihre leichten Schiffe sind bis nach Taganrog gekommen und haben jeden bedeutenden Ort angegriffen. Von keinem Teil der Küste kann man sagen, daß er in den Händen der Russen vfirbleibt, ausgenommen
der Landstrich vom Perekop bis zur Donau oder ungefähr der fünfzehnte Teil ihrer Besitzungen an dieser Küste. Nun wollen wir sogar annehmen, daß Kaffa und Sewastopol gefallen sind und sich die Krim in den Händen der Alliierten befindet. Was dann? Daß Rußland in dieser Situation keinen Frieden schließen wird, hat es bereits laut verkündet. Es wäre wahnsinnig, wenn es das täte. Es hieße die Schlacht aufgeben, nachdem ihre Avantgarde genau in dem Moment zurückgeworfen wurde, da ihre Hauptkräfte herankommen. Was können die Alliierten also tun, nachdem sie sich um einen ungeheuren Preis diese Vorteile gesichert haben? Sie können, sagt man uns, Odessa, Cherson, Nikolajew zerstören; sie können sogar eine große Armee in Odessa landen, sich dort so befestigen, daß sie sich gegen jede beliebige Anzahl Russen behaupten können, um dann entsprechend den Umständen zu handeln. Ferner können sie Truppen nach dem Kaukasus detachieren und fast die ganze russische Armee vernichten, die unter General Murawjow Georgien und die anderen transkaukasischen Länder verteidigt. Nehmen wir an, alle diese Dinge werden vollbracht; und wiederum fragen wir, was soll werden, wenn Rußland auch danach sich weigert, was es bestimmt tun wird, unter diesen Umständen Frieden zu schließen? Man darf nicht vergessen, daß Rußland sich nicht in der gleichen Lage befindet wie Frankreich oder England. England kann es sich leisten, einen schäbigen Frieden zu schließen. In der Tat, sobald John Bull der Aufregungen und der Kriegssteuern überdrüssig ist, wird er nur darauf aus sein, aus dieser Klemme herauszukriechen und seine teuren Alliierten sich selbst zu überlassen. Englands wirkliche Macht und Kraftquelle liegen nicht gerade in dieser Richtung. Auch Louis Bonaparte mag sich in einer Lage befinden, wo er einen ruhmlosen Frieden einem Krieg bis aufs Messer vorziehen dürfte. Denn man darf nicht vergessen, daß in einer hoffnungslosen Sache bei solch einem Abenteurer die Chance, seine Herrschaft um weitere sechs Monate zu verlängern, jede andere Rücksicht überwiegt. Es ist sicher, daß im entscheidenden Moment die Türkei und Sardinien mit ihren eigenen kläglichen Ressourcen sich selber überlassen sind. Soviel wenigstens ist gewiß. Jedoch kann Rußland, ähnlich wie das alte Rom, fernen Frieden schließen, solange sich der Feind auf seinem Territorium befindet. Rußland hat in den vergangenen hündertfünfzig Jahren niemals Frieden geschlossen, bei dem es Land verlor. Sogar Tilsit vergrößerte sein Gebiet, und der Friede von Tilsittl72] wurde geschlossen, noch bevor auch nur ein einziger Franzose seinen Fuß auf russischen Boden gesetzt hatte. Frieden zu schließen, während eine große Armee auf russischem Boden vordringt, einen Frieden, der einen Gebietsverlust mit sich bringt oder zumindest eine Beschränkung der
Souveränität des Zaren in seinem eigenen Herrschaftsbereich, würde zugleich den Bruch mit einer hundertfünfzigjährigen Tradition bedeuten. Einen solchen Schritt kann man nicht von einem Zaren erwarten, der neu auf dem Thron und neu für das Volk ist und dessen Handlungen von einer mächtigen nationalen Partei besorgt bewacht werden. Ein solcher Frieden könnte nicht geschlossen werden, bevor nicht alle Offensiv- und (vor allem) Defehsivkräite Rußlands eingesetzt und zu leicht befunden worden sind. Dieser Tag wird ohne Zweifel kommen, und Rußland wird genötigt sein, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern; aber das wird durch andere Feinde als Louis Bonaparte und Palmerston geschehen und im Ergebnis weit entscheidenderer Kämpfe als der „lokalen" Exekution, die in seinen Schwarzmeer-Besitzungen betrieben wird. Doch nehmen wir an, die Krim sei erobert und von 50000 Alliierten besetzt, der Kaukasus und alles, was weiter südlich liegt, von russischen Truppen gesäubert, eine alliierte Armee halte die Russen am Kuban und am Terek in Schach, Odessa sei genommen und in ein befestigtes Lager verwandelt, in dem sich - sagen wir - 100000 englisch-französische Soldaten befinden, und Nikolajew, Cherson, Ismail seien vernichtet oder von den Alliierten besetzt. Wir wollen sogar annehmen, daß außer diesen „lokalen" Kämpfen irgendwelche mehr oder minder wichtigen Resultate in der Ostsee erzielt worden seien, obwohl auf Grund der uns zur Verfügung stehenden Information es schwer zu sagen ist, worin diese bestehen könnten. Weis dann? Werden sich die Alliierten darauf beschränken, ihre Positionen zu halten und die Kräfte der Russen zu zermürben? Ihre Soldaten werden auf der Krim und im Kaukasus durch Krankheit schneller dahinschwinden, als sie ersetzt werden können. Ihre Hauptarmee, z. B. bei Odessa, wird durch die Flotte versorgt werden müssen, da das Land hundert Meilen weit um Odessa nichts hervorbringt. Die russische Armee mit ihren Kosakenabteilungen, die in diesen Steppen brauchbarer sind als irgendwo anders, wird, wenn sie nicht irgendwo in der Umgebung der Stadt eine dauernde Stellung beziehen kann, die Alliierten immerzu behelligen, sobald sie sich außerhalb ihrer Verschanzungen zeigen. Unter solchen Umständen ist es nicht möglich, die Russen zu zwingen, eine Schlacht zu liefern; ihr großer Vorteil wird immer darin bestehen, daß sie die Alliierten in das Innere des Landes locken können. Auf jeden Vormarsch der Alliierten antworten sie mit einem langsamen Rückzug. Dennoch kann man keine große Armee für eine längere Zeit in Untätigkeit in einem befestigten Lager halten. Die allmähliche Zunahme von Unordnung und Demoralisierung würde die Alliierten zu irgendeiner entschlossenen Handlung zwingen. Auch Krankheiten würden ihnen den Boden zu heiß werden lassen. Mit einem Wort: Die Hauptpunkte an der Küste zu
besetzen und dort den Augenblick abzuwarten, bis Rußland es für nötig halten wird, zu kapitulieren, ist ein Spiel, das niemals aufgeht. Drei Chancen stehen gegen eine, daß die Alliierten als erste dieses Spiels überdrüssig und die Gräber ihrer Soldaten an den Küsten des Schwarzen Meeres bald in die Hunderttausende gehen werden. Es wäre auch ein militärischer Fehler. Um eine Küste zu beherrschen, genügt es nicht, ihre Hauptpunkte zu besitzen. Allein der Besitz des inneren Landes sichert die Beherrschung der Küste. Wie wir gesehen haben, zwingen gerade Umstände, die sich aus- ihrer Festsetzung an der Küste Südrußlands ergeben, die Alliierten, in das Innere des Landes vorzudringen. Und hier beginnen die Schwierigkeiten. Bis zu den Grenzen der Gouvernements von Podolien, Kiew, Poltawa, Charkow bildet das Land eine fast unangebaute, sehr dürftig bewässerte Ebene, auf der nur Gras wächst, und nach der Sommerglut nicht einmal das. Angenommen, Odessa, Nikolajew, Cherson werden zur Operationsbasis gemacht, auf welches Objekt der Operation könnten dann die Alliierten ihre Anstrengungen richten? Es gibt nur wenige Städte, und diese liegen weit auseinander, keine von so erheblicher Bedeutung, daß ihre Besetzung der Operation einen entscheidenden Charakter verleihen wird. Bis Moskau gibt es keinen solchen entscheidenden Punkt, und Moskau ist 700 Meilen entfernt. Für einen Marsch nach Moskau würden 500000 Mann benötigt, aber wo sollten sie herkommen? Die Sachlage ist natürlich die, daß auf diese Weise der „lokale" Krieg niemals ein entscheidendes Resultat erzielen kann; und wir trauen dem Louis Bonaparte nicht zu, mit seiner ganzen üppigen strategischen Phantasie einen anderen Weg zu finden. All diese Pläne setzen jedoch nicht nur die strikte Neutralität, sondern auch die moralische Unterstützung Österreichs voraus. Aber auf wessen Seite steht diese Macht im gegenwärtigen Augenblick? 1854 erklärten Österreich und Preußen, sie würden ein Vordringen der russischen Armee auf dem Balkan als einen Casus belli gegen Rußland betrachten11731. Wo ist die Garantie, daß sie 1856 einen französischen Vormarsch auf Moskau oder sogar auf Charkow nicht als einen Grund zum Krieg gegen die Westmächte ansehen? Wir dürfen nicht vergessen, daß jede Armee, die vom Schwarzen Meer in das Innere Rußlands vordringt, eine ebenso ungedeckte Flanke gegenüber Österreich haben wird wie eine russische Armee, die von der Donau her in die Türkei eindringt, und daher wird bei einer bestimmten Entfernung ihre Verbindung mit der Operationsbasis, d. h. ihre Existenz selbst, von der Gnade Österreichs abhängen. Um Österreich zu beruhigen, wenn auch nur auf einige Zeit, muß es gekauft werden durch die Übergabe
Bessarabiens an seine Truppen. Einmal am Dnestr, wird Odessa von der österreichischen Armee so vollkommen beherrscht werden, als wäre diese Stadt von den Österreichern besetzt. Könnte unter solchen Umständen die alliierte Armee eine so törichte Verfolgung der Russen in das Innere ihres Landes wagen? Das wäre Unsinn! Aber - erinnern wir uns - dieser Unsinn ist die logische Folge von Louis Bonapartes letztem Plan einer „lokalen Kriegführung". Der erste Plan für den Feldzug war der „grande guerre" im Bündnis mit den Österreichern. Er hätte die französische Armee gegenüber der österreichischen ebenso zahlenmäßig unterlegen und faktisch abhängig gemacht, wie das jetzt bei dem englischen Heer gegenüber dem französischen der Fall ist. Er hätte die revolutionäre Initiative an Rußland gegeben. Louis Bonaparte konnte keines von beiden tun. Österreich weigerte sich zu handeln, der Plan wurde fallengelassen. Der zweite Plan war der „Krieg der Nationalitäten". Dieser würde einen Sturm zwischen den Deutschen, Italienern, Ungarn auf der einen Seite und die slawische Erhebung auf der anderen hervorgerufen haben, was sofort auf Frankreich zurückgewirkt haben müßte und das Lower Empire11741 Louis Bonapartes in kürzerer Zeit zerstört hätte, als man zu seiner Errichtung gebraucht hatte. Der falsche „eiserne Mann", der sich für Napoleon ausgibt, schreckte davor zurück. Der dritte und bescheidenste von allen Plänen ist der „lokale Krieg um lokale Ziele". Seine Absurdität fällt sofort in die Augen. Wieder müssen wir fragen: Was nun? Übrigens ist es viel leichter, Kaiser der Franzosen zu werden, wobei alle Begleitumstände dies begünstigen, als als solcher zu handeln, auch wenn sich Seine Majestät durch langes Einstudieren vor dem Spiegel mit der theatralischen Seite der Angelegenheit vollkommen vertraut gemacht hat.
Geschrieben um den 15. Juni 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Briefe von Napier - Roebucks Komitee
[„Neue Oder-Zeitung* Nr.277 vom 18. Juni 1855] London, 15. Juni. Sir Charles Napier eröffnet eine Reihe von Briefen über die Baltische Flotte mit folgender Nr. 1[175]: „Man fragt, warum unser Geschwader in der Ostsee das letzte Jahr nichts Nennenswertes tat, dieses Jahr wahrscheinlich wieder nichts tun wird? Die Frage ist leicht beantwortet, nämlich dahin, weil -Sir James Graham sich nicht um die Pläne bekümmerte, die ich ihm vergangenen Juni einsandte, und von denen er nichts zu wissen vorgab; ferner, weil die Admiralität ihre Aufmerksamkeit den Plänen versagte, die ich ihr letzten September einsandte. Wäre Admiral Dundas ausgerüstet worden mit den , Vorrichtungen, auf die ich hinwies, so hätte Sweaborg jetzt schon bombardiert und wahrscheinlich zerstört sein können. Statt das zu tun, verschwendeten sie ungefähr eine Million in eisernen, fliegenden Batterien, die nur mühsam schwimmen und, wenn in die Ostsee geschickt, wahrscheinlich nie zurückkehren werden; und dies, nachdem zu Portsmouth der Beweis geliefert war, daß 68pfünder sie auf die Entfernung von 400 Yards zerstören würden, während jeder weiß, daß sie auf 800 Yards Entfernung Granitwälle nicht beschädigen können. Wäre dasselbe Geld in Mörserschiffen ausgelegt worden, so stände etwas zu erwarten; oder wäre nur die Hälfte des Geldes verbraucht worden zur Ausführung der Plane Lord Dundonalds, die er mir mitgeteilt hat, so zweifle ich nicht, sie würden zum Erfolge geführt haben im Baltischen wie im Schwarzen Meer. Meine Zeit wird kommen, und bald, wo ich imstande sein werde, das ganze Betragen des Sir James Graham gegen mich bloßzulegen. Er ist überführt worden durch Herrn Duncombe" (in der Bandiera-Angelegenheit12fl8l)( „Privatbriefe geöffnet zu haben. Er versuchte den Makel für den Tod des armen Kapitäns Christie auf Herrn Layard zu werfen, und ich habe ihn angeklagt, meine Briefe verdreht zu haben. Den Beweis zu führen, hindert man mich unter dem Vorwand, daß die Veröffentlichung dem Feinde Information verschaffen würde. Dieser Vorwand wird bald verschwinden, und das Land soll erfahren, welche Mittel der ehrenwerte Baronet gebrauchte, um Admiral Berkeley und Admiral Richards zu verleiten, Instruktionen zu unterzeichnen,
die, wenn ausgeführt, den Verlust der königlichen Flotte verursacht haben würden. Das Land soll kennenlernen, ob der Erste Lord der Admiralität die Macht hat, Privatbriefe eines Offiziers in öffentliche zu verdrehen, und ihn dann zu verhindern, dasselbe mit den Briefen des Ersten Lords zu tun. Sir Ch. Napier " Roebucks Komitee versammelte sich gestern wieder, zum 49. Male, um zu einem Beschluß über den dem Unterhause abzustattenden Bericht zu kommen. Nach vierstündiger Debatte vermochten seine Mitglieder ebensowenig ihre Ansichten auszugleichen wie in den früheren Sitzungen. Sie vertagten sich wieder bis Montag, in der „Hoffnung", endlich den Schluß ihrer Prozedur anzeigen zu können. Die „Administrativreform-Assoziation"[ 1401 hielt gestern ein großes Meeting im Drury-Lane-Theater,* aber, wohlgemerkt, kein öffentliches, sondern ein Ticketmeeting, ein Meeting, wozu nur die mit Einlaßkarten Begnadeten Zutritt hatten. Die Herren waren also vollständig ungeniert, „au sein de leur famille"1. Sie waren eingestandenermaßen versammelt, um der „öffentlichen Meinung" Luft zu machen. Um aber die öffentliche Meinung vor Luftzug von außen zu schützen, war eine halbe Kompanie Konstabier aufgestellt an den Toren des Drury-Lane. Welche delikat organisierte öffentliche Meinung, die nur unter dem Schutze von Konstablern und Einlaßkarten öffentlich zu sein wagt! Das Meeting, vor allen anderen, war eine Demonstration für Layard, der heute abend endlich seinen Reformantrag ins Haus bringt. In einem vorgestern abgehaltenen öffentlichen Meeting zu Newcastleupon-Tyne denunzierte David Urquhart „das verräterische Ministerium und das schwachsinnige Parlament". Über die von den Chartisten nun in den Provinzen vorbereiteten Meetings ein andermal.11761 Während so von verschiedenen Seiten und verschiedenen Standpunkten die Kritik des Bestehenden ausgeübt wird, hat Prinz Albert die Gelegenheit eines Essens im Trinity~House[177J an den Haaren ergriffen, um die Stellung des Hofes der allgemeinen Fermentation gegenüber auszusprechen. Auch er hat eine Panazee für die Krisis. Sie heißt: „patriotisches, selbstverleugnendes Vertrauen in das Kabinett !u Der Despotismus des Kabinetts könne, meint Prinz Albert, das konstitutionelle England allein befähigen, Rußland ein Paroli zu bieten und mit dem nordischen Despotismus Krieg zu führen. Die Kontraste, die er zwischen England und Rußland zog, waren weder schlagend noch glücklich. Zum Beispiel: Die Königin habe nicht die Macht, Truppen auszuheben, noch habe sie irgendwelche Truppen zur Verfügung,
1 „im Schöße ihrer Familie"
außer denen, die ihren freiwilligen Dienst anböten! Prinz Albert vergißt, daß die Königin ungefähr 30 Millionen Pfd. St. zur Verfügung hat, um Truppen zu kaufen. Seit wann ist die Zwangsarbeit produktiver als die Lohnarbeit? Was würde man von einem Manchester Fabrikanten sagen, der sich über die Konkurrenz der Moskowiter Fabrikanten beklagte, weil er selbst nur Arbeiter zur Verfügung habe, die ihren Dienst freiwillig anböten! Statt hervorzuheben, daß der Kaiser von Rußland klar und bestimmt den Zweck seines „heiligen" Kriegs seinem Volk von den Kanzeln verkünden läßt, während England seit zwei Jahren einen Krieg führt, von dem der Premierminister im Parlament gesteht, „niemand könne seinen Gegenstand angeben", klagt Prinz Albert, daß
„die Regierung der Königin keine Maßregel für die Fortsetzung des Krieges ergreifen könne, worüber sie sich nicht vorher im Parlament erklärt habe*4!
Als wenn Roebucks Komitee nicht erst eingesetzt worden, nachdem zwei Dritteil der englischen Armee geopfert waren! Als wenn die Wiener Konferenzen^71 nicht erst debattiert worden, nachdem sie geschlossen waren! Faktisch fand keine einzige Erklärung über keine einzige Kriegsmaßregel im Parlament statt, außer Russells polternder und unprovozierter Ankündigung der Sewastopolexpedition, die offenbar nur bezweckte, dem Petersburger Kabinett zeitgemäße Warnung zu geben! Und wenn die Blockade debattiert wurde, geschah es nicht, weil das Ministerium diese Maßregel ergriff, sondern weil es sie proklamierte, ohne sie zu ergreifen. Prinz Albert, statt zu klagen, daß die Krone durch parlamentarische Intrigen gezwungen worden, sich in einem Krieg gegen Rußland die Diktatur eines eingestandenermaßen russenfreundlichen und notorisch friedlichen Kabinetts aufbürden zu lassen, klagte umgekehrt, daß eine ungünstige Abstimmung im Parlament die Königin „zwinge, ihre konfidentiellen Diener zu entlassen". Statt mit Recht zu klagen, daß Fehler, Schwächen, Niederträchtigkeiten, die in Rußland Generale, Minister und Diplomaten für Sibirien reif machen würden, in England höchstens einiges gleichgültiges Geschwätz in der Presse und im Parlament nach sich ziehen, klagt Prinz Albert umgekehrt, daß
„kein Mißgriff, wie unbedeutend auch immer, stattfinden, kein Mangel, keine Schwäche existieren kann, die nicht sofort denunziert, manchmal selbst übertrieben würde, mit einer Art von krankhafter Genugtuung".
Diese krankhaft gereizten Expektorationen placierte Prinz Albert in einem Toast auf seinen langjährigen Feind, Lord Palmerston. Aber Palmerston versteht sich nicht auf Großmut. Er benutzte sofort die falsche
Stellung, die der Prinz eingenommen, um sich ihm gegenüber auf die Brust zu schlagen und laut zu beteuern: „Ich bin gezwungen, zu erklären, daß das englische Volk uns die großmütigste Unterstützung hat angedeihen lassen." Er ging weiter. Er erklärte geradezu, er besitze „das Vertrauen" des englischen Volkes. Er wies die zudringlichen Ermahnungen des Prinzen an das Volk ab. Er machte dem Volk den Hof, nachdem der Prinz ihm den Hof gemacht hatte. Er hielt es nicht einmal der Mühe wert, mit einem Kompliment an die Krone zu antworten. Prinz Albert hatte sich zum Protektor des Ministeriums aufwerfen wollen und darum die „Unabhängigkeit" des Kabinetts vom Parlament und Volk proklamiert; Palmerston antwortet, indem er die „Abhängigkeit* der Krone vom Kabinett konstatiert.
Karl Marx/Friedrich Engels
Zur Debatte über Layards Antrag Der Krieg in der Krim
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr.279 vom 19. Juni 1855] London, 16. Juni. Die Debatte über Layards Antrag ward gestern nicht zum Schluß gebracht, sondern auf Montag abend vertagt. So vertagen wir einstweilen die Charakteristik derselben. Ein Inzident in der Sitzung des Unterhauses verdient Erwähnung. Während der Verhandlungen über die Wiener Konferenz11'1 hatte Palmerston fallenlassen, daß die Peeliten[ 11 ] die Feststellung gewisser Friedensbedingungen zur Bedingung ihres Eintritts in sein Kabinett gemacht. Russell hat eben diese Bedingungen in Wien verteidigt. Otway forderte nun gestern eine Erklärung von Palmerston, ob er an Friedensbedingungen festhalte, die von den Peeliten ausgegangen, also von einer Partei, geständig, im Interesse Rußlands zu handeln? Gladstone erhob sich und verlangte, daß der Redner, der ihn und seine Freunde des Verrats anklage, zur Ordnung gerufen werde. Der Ordnungsruf erfolgte. Otway jedoch wiederholte seine Charakteristik der Peeliten und seine Interpellation an Palmerston. Palmerston, wie hergebracht, lehnte jede Antwort ab. Die Friedensbedingungen hingen natürlich von den Kriegsereignissen ab. Was die Peeliten angehe, so hätten sie namentlich mit ihm ausgedungen, daß eine „gewisse" Bedingung, die er verschweigen müsse, nicht zur conditio sine qua non des Friedens gemacht werde. Gladstone, in Antwort auf Palmerston, leugnete seinerseits, je mit Palmerston über die Friedensbedingungen unterhandelt zu haben. Anders vielleicht sein Freund Graham. Übrigens protestiere er gegen Palmerstons System, auf der einen Seite affektierter offizieller Zurückhaltung, auf der andern versteckter Andeutung, zweideutiger Anspielung und halber Mitteilung. Das Ministerium möge offen heraussprechen oder ganz schweigen. Gladstone administrierte Palmerston diese Lektion mit gebenedeiter Bitterkeit. Die französische Regierung hat im „Constitutionnel" ein neues Expose
über die Kriegführung in den nächsten Monaten gegeben. Diese Exposes sind jetzt nicht nur modisch, sondern auch periodisch geworden. Obgleich in innigem Widerspruch mit sich selbst, sind sie wertvoll als Enthüllung über „alle möglichen" Feldzugspläne Louis Bonapartes gegen Rußland. Sie sind wertvoll, sofern sie das Verschwinden einer bonapartistischen Illusion nach der andern dokumentieren. Der erste Plan war der des „großen Kriegs" vermittelst der österreichischen Allianz, mit 500000 Österreichern und 100000 Franzosen an der Weichsel und dem Dnepr. Der Plan würde der französischen Armee dasselbe numerisch untergeordnete Verhältnis zur österreichischen angewiesen haben, das die Engländer in der Krim neben den Franzosen einnehmen. Es würde Rußland die revolutionäre Initiative eingeräumt haben. Österreich verweigerte zu handeln. Der Plan fiel. Der zweite Plan war der „Krieg der Nationalitäten", die allgemeine Erhebung der „Unterdrückten, die beständig nach dem Westen blicken". Er würde einen Sturm heraufbeschworen haben zwischen Deutschen, Italienern, Ungarn auf der einen und der slawischen Insurrektion auf der anderen Seite. Er würde, auf Frankreich zurückschlagend, dem „zweiten" Kaiserreich sein Ende gedroht haben. Der nachgemachte „Mann von Eisen" bebte zurück. Der Plan fiel. Alles dies ist nun vorbei. Österreich hat seine Pflicht getan, Preußen hat seine Pflicht getan, alle Welt hat ihre Pflicht getan, und Bonaparte ist bei dem dritten und bescheidensten Plane angelangt. „Lokaler Krieg für lokale Zwecke." Die französischen Truppen in der Krim kämpfen nicht für Ruhm, sie erfüllen bloßen Polizeidienst. Die schwebende Frage ist rein lokal: Überlegenheit im Schwarzen Meer, und hier an Ort und Stelle ist sie zu erledigen. Dem Kriege weitere Dimensionen zu geben, wäre Torheit. „Respektvoll, aber fest" werden die Alliierten jeden Versuch der Russen, im Schwarzen Meer zu widerstehen, niederschlagen, und dann werden sie oder die Russen oder beide von ihnen Frieden machen. Von den großen Redensarten ist nichts zurückgeblieben, nicht einmal die Phrase der Zivilisation, nichts als der Kampf für den dritten Punkt des Wiener Protokolls^3. Krieg mit nur lokalem Zweck* bemerkt das imperatorische1 Orakel, könne mit nur lokalen Mitteln geführt werden. Nehmt den Russen nur die Überlegenheit im Schwarzen Meer! Wir werden im nächsten Briefe nachweisen, daß, nachdem Bonaparte vom „großen Krieg" auf den „Krieg der Nationalitäten" und vom »Krieg der Nationalitäten" auf den „lokalen Krieg für lokalen Zweck mit lokalen Mitteln" herabgekommen, der letztere Krieg beim „Absurden" ankommt.
1 In der „Neuen Oder-Zeitung": imperialistische
Karl Marx
Prinz Alberts Toast - Zeitungsstempel
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.283 vom 21. Juni 1855] London, 18.Juni. Mit der Veröffentlichung der Rede Prinz Alberts und der Gegenrede Palmerstons waren einige auffällige Umstände verbunden. Die Reden wurden gehalten in Trinity-House1177\ Sonnabend, den 9. Juni. Die Tagesblätter erwähnten am folgenden Montag nur im Vorbeigehen das jährliche Essen der Trinity-Brüderschaft, ohne beim Toast des Prinzen Albert zu verweilen. Erst Mittwoch, den 13. Juni, brachte die „Daily News44 und Donnerstag, den 14. Juni, die „Times" den Toast und den Dank für den Toast. Es stellt sich jetzt heraus, daß die Veröffentlichung ein Streich Lord Palmerstons war, der auf Kosten seines königlichen Beglückwünschers die eigene Popularität herzustellen denkt. Prinz Albert gewahrt nun auf eigene Unkosten, wohin das „selbstaufopfernde Vertrauen" in den edelen Vicomte führt, ein Vertrauen, das er dem Lande so zudringlich anempfahl. Der folgende Auszug aus „Reynolds Wochenblatt"[178- mag zeigen, wie der Toast des Prinzen Albert von der Mehrheit der Wochenpresse aufgenommen wird. Reynolds Blatt, wohlgemerkt, besitzt eine Zirkulation von 2496256 Kopien. Nach einer ausführlichen Kritik heißt es u.a.: „Der königliche Zensor behauptet, daß jede Schwäche, jeder Mangel denunziert und oft selbst übertrieben wird mit einer Art von krankhafter Genugtuung! Die Geduld des englischen Volkes ist sprichwörtlich. Gleich Isaschar mag es verglichen werden mit einem Esel, niedergedrückt unter zwei Lasten - Wucher und Landmonopol; aber dieser Tadel des Prinzengemahls ist der insolenteste und tödlichste Insult, den selbst Engländer zu ertragen haben. Krankhafte Genugtuung! Das heißt, das englische Volk hätte eine krankhafte Genugtuung in der Betrachtung der fürchterlichen Leiden, denen Verrat und aristokratischer Schwachsinn unsere heroischen Soldaten ausgesetzt haben - krankhafte Genugtuung, von Österreich düpiert worden zu sein - krankhafte Genugtuung in der Verschwendung von 40000000 Pfd.St. und dem Verluste von 40000 der bravsten Krieger - krankhafte Genugtuung, das Mißtrauen des Alliierten, dem wir zu helfen vorgaben, und die Verachtung des Feindes, den wir zu züchtigen
wünschen, hervorgerufen zu haben! Aber die Anklage ist nicht nur insolent und insultierend, sie ist zugleich falsch und verleumderisch im höchsten Grade. Was immer die Fehler des englischen Volkes sein mögen, und der Himmel weiß, sie sind zahlreich, sie schöpfen keine Genugtuung aus dem Elend ihrer Soldaten und Matrosen und der Schmach, die auf den Charakter der Nation gehäuft worden. Ausnahmen bilden allerdings prinzliche Deutsche, aristokratische Verräter und ihre verabscheuungswürdigen und ekelhaften Parasiten... Wir sind indes willig zuzugestehen, daß es sehr schwierig ist für einen trägen und fleischigen Sybariten und Federbettsoldaten, etwas von den Leiden und Prüfungen wirklicher Soldaten und Matrosen zu verstehen... In einem Punkt jedoch stimmen wir mit dem königlichen Krieger überein: Der Konstitutionali$~ mus ist ein enormer sham1 - eine durchaus schwerfällige, stümperhafte, unfugige und nachteilige Regierungsform. Aber der Prinz irrt in seiner Voraussetzung, daß es außer demDespotismus keine andere Alternative gibt. Wir ersuchen ihn, sich zu erinnern, daß so ein Ding wie der Republikanismus existiert - eine Alternative, zu der diese Nation möglicherweise flüchten kann und in deren Richtung, wie wir glauben, der Strom der öffentlichen Meinung hinstrebt, statt zum unbeschrankten Despotismus, den der martialische Prinz herbeiwünscht." Soweit „Reynolds [Weekly Newspaper]". Der neue Akt für die Abschaffung des Zeitungsstempels hat letzten Sonntag die königliche Bestätigung erhalten und wird am 30. Juni in Kraft treten. Danach ist der Zeitungsstempel nur noch erheischt für Kopien, die frei per Post übersandt werden sollen. Von den Londoner Tagesblättern ist der „Morning Herald" das einzige, das angezeigt hat, daß es seinen Preis von 5 auf 4 d. heruntersetzt. Von den Wochenblättern dagegen haben schon eine größere Anzahl, wie „Lloyd's"[1791, „Reynolds", „People's Paper" usw., eine Herabsetzung von 3 auf 2 d. angezeigt. Ein neues Londoner Tageblatt, der „Courier and Telegraph", in dem Format der „Times", kündigt sich zu 2 d. an. Von neuen Wochenblättern zu 2d. sind bisher in London ausgegeben worden: „The Pilot" (katholisches Blatt); die „Illustrated Times" und Mr. Charles Knighfs: „Town and Country Paper". Endlich haben die Herren Willet und Ledger ein wöchentliches Londoner Pennypaper (1 d.) angekündigt. Bedeutender jedoch ist die Revolution, die die Abschaffung der Stempelsteuer in der Provinzialpresse hervorgerufen. Zu Glasgow allein werden 4 neue tägliche Pennypapers erscheinen. Zu Liverpool und Manchester werden sich die bisher nur wöchentlich oder halbwöchentlich erscheinenden Blätter in Tageblätter zu 3, 2 und 1 d. verwandeln. Die Emanzipation der Provinzialpresse von London, die Dezentralisation des Journalismus war in der Tat der Hauptzweck der Manchesterschule[453 in ihrem zähen und langjährigen Feldzuge gegen den Zeitungsstempel.
1 Schwindel
Karl Marx
Eine sonderbare Politik
[„New-York Daily Tribüne*4 Nr.4437 vom lO.Juli 1855, Leitartikel] In seinem Buch über den „Congrfcs de Vienne" klagt der Abb6 de Pradt mit Recht diesen tanzenden Kongreß, wie er von dem Fürsten de Ligne genannt wurde, an, die Grundlage für die russische Suprematie in Europa gelegt und dazu noch seine Sanktion gegeben zu haben.
„So aber", ruft er aus, „ist geschehen, daß der Krieg der Unabhängigkeit Europas gegen Frankreich mit der Unterwerfung Europas durch Rußland schloß. Das war der Mühe nicht wert, sich für ein solches Ergebnis so anzustrengteu^180' Da der Krieg gegen Frankreich zugleich ein Krieg gegen die Revolution, ein antijakobinischer Krieg war, führte er natürlich zu einer Verschiebung des politischen Einflusses vom Westen nach dem Osten, von Frankreich nach Rußland. Der Wiener Kongreß war der natürliche Sproß des antijakobinischen Krieges, der Wiener Vertrag das legitime Produkt des Wiener Kongresses und die russische Suprematie das natürliche Kind des Wiener Vertrages. Deshalb kann man der Masse der englischen, französischen und deutschen Schriftsteller nicht gestatten, alle Schuld den Preußen zuzuschreiben, weil Friedrich Wilhelm III. durch seine blinde Ergebenheit gegenüber dem Kaiser Alexander und durch die kategorischen Weisungen an seine Botschafter, in allen wichtigen Fragen mit Rußland zusammenzugehen, die schlau angelegten Pläne des schändlichen Triumvirats - Castlereagh, Metternich und Talleyrand - durchkreuzte, gegen russische Eingriffe in die Rechte anderer gesicherte territoriale Barrieren zu errichten und dadurch die unliebsamen, aber unvermeidlichen Konsequenzen des Systems abzuwehren, das sie dem Kontinent so beflissen auferlegt haben. Selbst solch einem skrupellosen Konklave war es nicht gegeben, die Logik der Ereignisse zu verfälschen.
20 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
Da Rußlands Übergewicht in Europa nicht von dem Wiener Vertrag zu trennen ist, kann ein Krieg gegen diese Macht, wenn nicht von Anfang an die Aufhebung des Vertrages verkündet wird, nichts anderes sein als eine bloße Verknüpfung von Betrug, Spitzbüberei und geheimem Einverständnis. Der gegenwärtige Krieg wird jedoch nicht mit dem Ziel unternommen, den Wiener Vertrag aufzuheben; er wird vielmehr geführt, ihn durch die zusätzliche Einbeziehung der Türkei in das Protokoll von 1815 zu konsolidieren. Davon erhofft man, daß das konservative Tausendjährige Reich anbrechen und die vereinigte Anstrengung der Regierungen es erlauben wird, sich ausschließlich der „Beruhigung" der europäischen Meinung zu widmen. Aus den folgenden bemerkenswerten Stellen, aus dem Pamphlet des preußischen Marschalls Knesebeck übersetzt, „betreffend die Gleichgewichtslage Europa's beim Zusammentritt des Wiener Congresses"11811 wird man ersehen, daß selbst zur Zeit dieses Kongresses die Hauptakteure sich vollkommen bewußt waren, daß die Erhaltung der Türkei ein ebensolcher integrierender Bestandteil ihres „Systems" ist wie die Teilung Polens.
„Die Türken in Europa! Was haben euch denn die Türken getan? Sie sind ein kräftiges biederes Volk. Seit Jahrhunderten ruhig bei sich, wenn ihr sie nur ungestört laßt. Es ist Vertrauen auf sie; haben sie je euch hintergangen, sind sie nicht redlich, offen in ihrer Politik? Tapfer und kriegerisch zwar; ja, aber aus mehr denn einer Ursache ist dies heilsam und gut. Sie sind die beste Vormauer gegen das Andringen der asiatischen Übervölkerung; und gerade dadurch, daß sie einen Fuß in Europa haben, halten sie jenes Andringen ab. Würden sie weggetrieben, würden sie selbst drängen. Denkt sie euch einmal fort. Was würde entstehen? Entweder würde Rußland oder Österreich jene Lander bekommen oder ein besonderer griechischer Staat dort gegründet werden. Wollt ihr also Rußland noch mächtiger machen, auch von dieser Seite euch den Koloß auf den Hals ziehen? Seid ihr noch nicht zufrieden, daß es seinen Fuß von der Wolga zum Nemen, vom Nemen zur Weichsel vorgeschoben hat und jetzt ihn wahrscheinlich bis zur Warthe setzen wird! Und wenn dies nicht ist, wollt ihr Österreichs Kraft die Richtung nach Asien geben und es dadurch für die Erhaltung des Zentrums, für den Andrang von Westen schwach oder gleichgültig machen? Ruft euch nur die Lage der Vorzeit, Johann Sobieskis, Eugen Savoyens und Montecucculis Zeiten zurück. Wodurch hat Frankreich zuerst Feld über Deutschland gewonnen als dadurch, daß Österreichs Kraft immer gegen das Andringen von Asien Front machen mußte? Wollt ihr diesen Zustand wieder herbeiführen und noch vermehren dadurch, daß ihr es Asien näher bringt? Einen eigenen griechischen oder byzantinischen1 Staat also gründen! Würde dies die Lage Europas bessern? Würde nicht bei der Schlaffheit, in die dies Volk" (die Griechen) „Versunken ist, Europa im Gegenteil immer unter den Waffen sein müssen,
1 Bei Knesebeck fehlen die Worte: oder byzantinischen
um es gegen die wiederkommenden Türken zu schützen? Würde Rußlands Einfluß auf diesen Staat durch Religion, Handelsverkehr und Interesse nicht immer Griechenland nur zu Rußlands Kolonie machen? Laßt die Türken also lieber, wo sie sind, und erweckt die unruhige Kraft nicht, wenn sie ruht. Aber, ruft ein wohlmeinender Philanthrop, dieMenschheitwird dort gemißhandelt! der schönste Teil der Erde, das alte Athen und Sparta, ist von Barbaren bewohnt! Es ist wahr, mein Freund; die Menschheit wird jetzt oder wurde bis vor kurzem1 dort stranguliert; aber sie wird auch anderwärts noch gekantschut, geprügelt, gegeißelt und verkauft. Ehe du änderst, bedenke, ob du auch bessern würdest, ob Kantschu, Korporalstock und griechische Falschheit leichter in ihren Streichen sein werden als die seidene Schnur und ein Ferman von den Türken2? Schaffe mir also erst jene Dinge und den Sklavenhandel aus Europa und beruhige dich über die Rauheit des Türken. Seine Rauheit hat Kraft, sein Glaube gibt Mut, und wir brauchen Kraft und Mut, um ruhig den Moskowiter bis zur Warthe sich vorschieben zu sehen. Die Türken also sollen erhalten werden, die Polen aber untergehen als Nation? Ja, nichts anders. Was Kraft zu stehen hat, besteht, wo alles morsch ist, das vergeht. Und so ist es. Man frage sich nur, was würde bestehen, wenn die polnische Nation in ihrem natürlichen Charakter3 selbständig erhalten würde? Sauferei, Völlerei, Kriecherei, Verachtung alles Besseren und jedes anderen Volkes, hohnsprechender Dünkel aller Ordnung und Sitte, Verschwendung, Liederlichkeit, Verkauflichkeit, Pfiffigkeit, Falschheit, wüstes Leben vom Palast bis zur Hütte - das ist das Element, darin der Pole besteht. Dafür singt er sein Lied, spielt Geige und Gitarre, küßt sein Mädchen und säuft aus ihrem Schuh, zieht seinen Säbel, streicht seinen Knebelbart, besteigt sein Roß, zieht in den Krieg mit Dumouriez und Bonaparte oder mit irgend jemand anderem auf Erden4, übernimmt sich in Branntwein und Punsch, rauft sich mutig mit Freund und Feind, mißhandelt sein Weib und seinen Bauern, verkauft seine Güter, zieht ins Ausland, bringt die halbe Welt in Aufruhr und schwört bei Kosciouszko undPoniatowski: dies solle nicht untergehen, so wahr er ein Pole ist. Hier habt ihr, was ihr erhalten wollt, wenn ihr davon sprecht: Polen muß wiederhergestellt werden. Ist eine solche Nation5 wert zu bestehen? Ist ein solches Volk reif zu einer Verfassung? Eine Verfassung setzt Ordnungssinn voraus, denn sie tut nichts als ordnen, als jedem Gliede der Gesellschaft seinen Platz anweisen, wohin es gehört. Darum bestimmt sie die Stände, aus denen der Staat bestehen soll, und jedes Standes Platz, Rang, Ordnung, Rechte und Pflichten, sowie den Gang der Staatsmaschine und die Hauptzüge seiner Verwaltung. Ordne nun einmal jemand an, wo niemand Ordnung will. Schon ein polnischer König (Stefan Bäthory) rief aus: »Polen! - nicht der Ordnung,
1 Bei Knesebeck: jetzt dort gespießt - 2 bei Knesebeck fehlen die Worte: von den Türken 8 bei Knesebeck: als polnisches Wesen - 4 bei Knesebeck: und allen Aventuriers der Erde 5 bei Knesebeck: ein solches Wesen
- ihr kennt keine; nicht der Regierung, - ihr ehret keine; einem bloßen Glücke habt ihr eure Erhaltung zu danken. Und so ist es noch. Unordnung, wüstes Leben, ist des Polen Element. Nein, laßt diese Menschen den Durchgang unter dem Kantschu machen, die Vorsehung will es so, und der Himmel weiß, was dem Menschen frommt! Für jetzt also, kein Polen mehr!" So sollen also die Ansichten des alten Marschalls Knesebeck durch den gegenwärtigen Krieg verwirklicht werden, durch einen Krieg, der für die Erweiterung und Konsolidierung des WienerVertrages von 1815 geführt wird. Während der ganzen Restaurationsperiode und der Julimonarchie in Frankreich war der Wahn verbreitet, Napoleonismus bedeute die Aufhebung des Wiener Vertrages, der Europa unter die offizielle Vormundschaft Rußlands und Frankreich unter die „surveillance publique"1 Europas gestellt hatte. Jetzt beweist der gegenwärtige Imitator seines Onkels, verfolgt von der unerbittlichen Ironie seiner fatalen Lage, der Welt, daß Napoleonismus Krieg bedeutet, nicht um Frankreich von dem Wiener Vertrag zu befreien, sondern um auch die Türkei dem Vertrag zu unterwerfen. Krieg im Interesse des Wiener Vertrages und unter dem Vorwand, die Macht Rußlands in Schach zu halten 1 Das ist die wahre „idee napoleonienne"111712 in der Interpretation der Resurrektionisten in Paris. Da die Engländer stolze Alliierte des zweiten Napoleons sind, fühlen sie sich natürlich befugt, mit den Aussprüchen des alten Napoleon so umzugehen wie sein Neffe mit seinen Ideen. Wir sollten deshalb nicht erstaunt sein, bei einem neueren englischen Autor (Dunlop)[182] zu lesen, Napoleon habe vorhergesagt, daß der nächste Kampf mit Rußland die große Frage mit einschließen würde, ob Europa „konstitutionell oder kosakisch" sein soll. Vor den Tagen des Lower Empire11741 soll Napoleon gesagt haben: „republikanisch oder kosakisch". Die Welt jedoch lebt und lernt. Und weil die „Tribüne" die Glorie des Wiener Vertrages und des europäischen „Systems", das darauf fußt, zu würdigen weiß, wird sie der Untreue an der Sache des Menschenrechtes und der Freiheit bezichtigt!
Geschrieben am 19. Juni 1855. Aus dem Englischen.
1 „öffentliche Aufsicht" - 2 „napoleonische Idee"
Karl Marx/Friedrich Engels
Der lokale Krieg - Debatte der Administrativreform Bericht des Roebuck-Komitees usw.
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.287 vom 23. Juni 1855] London, 20. Juni. Der lokale Krieg, den Bonaparte im „Constitutionnel" proklamiert, ist ein Krieg im Schwarzen Meer, und sein Zweck ist die Vernichtung der angeblich russischen Suprematie im Schwarzen Meer - eine Suprematie, die sich, wohlgemerkt, zur See hie bewährt hat, selbst nicht gegen die Türken. Wie steht die Sache in diesem Augenblick? Von Konstantinopel bis zur Donau auf der einen Seite und rings um die zirkassischen Ufer bis nach Balaklawa und Eupatoria ist die ganze Küste den Händen der Russen entrissen. Nur noch Kaffa und Sewastopol halten aus, das eine hart bedrängt, das andere so gelegen, daß es nachgeben muß, sobald es ernsthaft bedroht wird. Noch mehr. Die Flotten schäumen den Binnensee von Asow ab, ihre leichten Schiffe dringen vor bis Taganrog, und jeder wichtige Platz wird von ihnen bombardiert. Kein Teil der Küste bleibt in den Händen der Russen, außer der Strich von Perekop nach der Donau, ungefähr a/i5 ihrer Besitzungen an dieser Küste. Gesetzt, Kaffa und Sewastopol seien nun auch gefallen, die Krim im Besitz der Alliierten, was dann? Rußland wird nicht den Frieden schließen, wie es bereits proklamiert hat. Es wäre Tollheit. Es hieße die Schlacht aufgeben, nachdem die Avantgarde zurückgeworfen ist, in dem Augenblicke, wo das Hauptkorps auf dem Kampfplatz erscheint. Was bleibt den Alliierten ihrerseits zu tun? Man sagt uns, sie können Odessa, Cherson, Nikolajew zerstören. Sie können weitergehen, eine starke Armee bei Odessa landen, es befestigen gegen jede beliebige Zahl von Russen und dann je nach den Umständen handeln. Sie können außerdem Truppen nach dem Kaukasus detachieren, die russische Armee in Georgien und den andern transkaukasischen Besitzungen (unter General Murawjow) aufreiben und das Russische Reich von seinen südasiatischen Besitzungen abschneiden. Und
wenn Rußland noch immer nicht Frieden schließt? Rußland kann keinen Frieden schließen, solange sich der Feind auf seinem Grund und Boden befindet. Seit 150 Jahren hat es nicht einen Frieden geschlossen, wodurch es verloren hätte. Selbst Tilsit verschaffte ihm einen Zuwachs an Territorium, und dieser Friede ward geschlossen, bevor noch ein Franzose den russischen Boden betrat. Alexander II., eben erst auf den Thron gelangt, kann nicht einmal versuchen, was selbst für Nikolaus gefahrdrohend gewesen wäre. Er kann nicht plötzlich mit der Reichstradition brechen. Gesetzt, die Krim sei erobert und mit 50000 Alliierten garnisoniert, der Kaukasus und alle Besitzungen im Süden seien von Russen reingefegt, eine alliierte Armee halte die Russen im Schach am Kuban und am Terek, Odessa sei genommen und in ein verschanztes Lager mit einer Armee von 100000 Mann verwandelt, Nikolajew, Cherson, Ismail zerstört oder von den Alliierten besetzt - wollen die Alliierten sich dann darauf beschränken, ihre Positionen zu halten und es auf die Ermüdung der Russen ankommen zu lassen? Ihre Mannschaften in der Krim und dem Kaukasus werden rascher vor Krankheiten wegschmelzen, als sie ersetzt werden können. Ihre Hauptarmee zu Odessa müßte von den Flotten genährt werden, denn das Land hundert Meilen um Odessa produziert nichts. Wo sie sich außer ihrem Lager herauswagten, wären sie den Neckereien der Russen und namentlich der Kosaken ausgesetzt. Letztere zur Schlacht zu zwingen, wäre unmöglich. Ihr Vorteil wäre stets, die Alliierten in das Innere des Landes nach sich zu ziehen. Jedes Vorrücken der Alliierten würden sie beantworten mit einem langsamen Rückzug. Zudem können große Armeen nicht lange untätig in einem verschanzten Lager gehalten werden. Krankheit und stufenweiser Fortschritt von Indisziplin und Demoralisation würden die Alliierten zu einem entscheidenden Schritte zwingen. Es geht also nicht an, die Hauptpunkte der Küste zu besetzen und abzuwarten, bis die Russen es nötig finden, nachzugeben. Es wäre auch militärisch falsch. Zur Beherrschung einer Küste genügt es nicht, die Hauptpunkte zu halten. Nur der Besitz des Binnenlandes garantiert den Besitz der Küste. Ein Etablissement auf der Südküste von Rußland würde Umstände hervorrufen, die die alliierten Streitkräfte zwängen, ins Innere des Landes vorzurücken. Aber hier beginnen die Schwierigkeiten. Bis zu den Grenzen der Gouvernements von Podolien, Kiew, Poltawa, Charkow ist das Land meist unbebaute Steppe, sehr dürftig bewässert, nichts liefernd als Gras, und selbst das nicht, nachdem die Sonnenhitze es aufgetrocknet hat. Werden Odessa, Nikolajew und Cherson als Operationsbasis genommen, wo ist der Gegenstand, wogegen die Alliierten ihre Anstrengungen zu richten [haben]? Es zeigt sich keiner als Moskau, 700 Meilen entfernt und 500000 Mann erheischend ,um darauf loszumarschie
ren. Aber alles das unterstellt nicht nur strenge Neutralität, sondern selbst moralische Unterstützung von Seiten Österreichs. Und wo ist die? Preußen und Österreich erklärten 1854 das Vorrücken der Russen über den Balkan für einen Casus belli. Warum nicht 1856 ein Vorrücken der Franzosen auf Moskau oder selbst Charkow? Man muß keinen Augenblick vergessen, daß jede Armee, die vom Schwarzen Meer nach dem Innern von Rußland marschierte, ihre Flanke ebensosehr Österreich aussetzt wie eine russische Armee, die von der Donau aus in die Türkei vordrängt und daher, auf eine gegebene Entfernung, ihre Kommunikationslinien und ihre Operationsbasis, d.h. ihre Existenz selbst, von der Gnade Österreichs abhängig macht. Und unter solchen Umständen sollten die alliierten Armeen in wilder Gänsejagd den Russen ins Innere nachtreiben? Es ist Unsinn, reiner Unsinn, aber die notwendige Konsequenz von Bonapartes letztem Plan „lokaler Kriegführung". Eine unerbittliche Dialektik treibt den „lokalen Krieg" in allen Punkten über die vorgesetzte örtliche Schranke hinaus und verwandelt ihn in „großen" Krieg, aber ohne die Voraussetzungen, die Bedingungen und die Mittel des großen Krieges. Indes bleibt der letzte „Plan" Bonapartes wichtig. Er ist das Eingeständnis, daß andere Mächte auf den Schauplatz treten müssen, um den Krieg gegen Rußland zu führen, und daß das restaurierte Kaisertum sich zur Ohnmacht verdammt sieht, einen Krieg gegen Rußland, der nur in europäischem Maßstab geführt werden kann, in lokalem Maßstab zu führen. Alle grotesken Metamorphosen, die [wie] die „idees napoleoniennes"111171 in dem restaurierten Kaisertum untergingen, werden überboten von der Verwandlung des napoleonischen Kriegs gegen Rußland in einen „lokalen Krieg". In der Debatte über die Administrativreform, die heute abend wieder aufgenommen wird, bot das Amendement, das Bulwer im Namen der Tories stellte, der Regierung Gelegenheit, die „Administrativen"^401 mit einer Majorität von 7 gegen 1 zu schlagen. Was die Debatte durchgängig charakterisierte, war der Subalternbeamtencharakter y über den sie sich keinen Augenblick erhob. Details über Favoritismus und Nepotismus, Untersuchungen über das „beste Examen", Grollen über zurückgesetztes Verdienst - edles war klein und kleinlich. Man glaubte die Beschwerdeschrift eines Unterförsters an ein hochlöbliches Regierungskollegium zu hören. Auch Aberdeen hatte seine Reform der Bürokratie in petto, versicherte Gladstone. Auch Derby, versicherte Disraeli. Nicht minder mein Ministerium, versicherte Palmerston. Die Gtyherren brauchen sich also nicht in Bewegung zu setzen, um unsere Büros zu reformieren, zu informieren, zu reorganisieren. Gar zu gütig!
1 „napoleonischen Ideen"
In ihren frühern Agitationen überrumpelte die englische Bourgeoisie die regierende Kaste und zog die Masse als Chor nach sich, weil sie in ihrem Programm weit über ihren wirklichen Zweck hinausging. Diesmal wagt sich das Programm nicht einmal zu der Höhe des wirklichen Zwecks hinauf. Ihr versichert der Reihe nach, daß ihr nicht den Sturz der Aristokratie, sondern nur freundschaftlich mit uns die Regierungsmaschine ausflicken wollt! Very well! Freundschaft für Freundschaft! Wir wollen für euch die Administration reformieren - natürlich innerhalb ihrer traditionellen Grenzen. Die „Administrativreform" ist kein Streitpunkt zwischen Klasse und Klasse, wie ihr beteuert. Es handelt sich nur um die „Sache", um „wohlgemeinte" Reformen. Als ersten Beweis eurer guten Meinung verlangen wir, daß ihr uns selbst die Details überlaßt, und es handelt sich nur um Details. Wir selbst müssen am besten wissen, wie weit wir gehen können, ohne unsere Klasse zu gefährden, ohne daß die Administrativreform aus Versehen ein Streitpunkt zwischen Klasse und Klasse wird und ihren menschenfreundlichen Charakter einbüßt. Die reformierende Bourgeoisie ist genötigt, auf diese ironische Sprache aristokratischer Bonhomie einzugehen, weil sie selbst eine falsche Sprache zu den Massen spricht. Die Aristokratie, Ministerium und Opposition, Whigs und Tories täuschten sich keinen Augenblick über das Verhältnis der Administrativreformer zur Masse. Sie wußten, daß die Agitation gescheitert war, ehe sie sich noch im Parlamente zu produzieren Gelegenheit fand. Und wie sollten sie sich täuschen? Obgleich die Reform-Assoziation nur Auserwählte zu ihrem Meeting im Drury-Lane[-Theater] zuließ, obgleich ihre Audienz zwei- und dreifach gesichtet war, blieb ihre Furcht vor einem populären Antrag oder auch nur einer unreglementsmäßigen Rede so übermäßig, daß der Präsident bei Eröffnung des Meetings erklärte, die Audienz sei nur da, um' die „Anreden der im Programm angekündigten Redner zu hören", keine „Anträge" würden zur Abstimmung vorgeschlagen, es könnten „daher auch keine Amendements eingebracht werden" und es könne „keine Zufügung zur Liste der eingeschriebenen Redner" stattfinden. Eine solche Agitation ist in der Tat nicht geeignet, der zähen englischen Oligarchie zu imponieren und Zugeständnisse abzupressen. Der Bericht des Roebuck-Komitees, der vorgestern im Unterhaus verlesen wurde, hüllt seine Pointen in breiten und schwächlichen Wortschwall. Er enthält ängstlich formulierten Tadel der verschiedenen Detachements, wie der Ordonnanz, des Kommissariats, des medizinischen Departements usw. Es verdammt Palmerston wegen seiner Verwaltung der Miliz und das ganze Koalitionsministerium wegen des bedachtlosen Leichtsinns, womit es die Expedition von Sewastopol unternahm. Da das Komitee während des Zeugen
verhörs überall vermied, die letzten Gründe der ungeheuren Mißgeschicke zu erfahren, ist es natürlich auch im Bericht gezwungen, zwischen ganz allgemeinem Tadel der politischen Häupter und ins einzelne sich verlierendem Makel der administrativen Werkzeuge die Schwebe zu halten. Im ganzen hat das Komitee seinen Zweck erfüllt, als Sicherheitsventil gegen den Hochdruck der öffentlichen Leidenschaft dienen. Die Tagespresse stößt einen Schrei der Entrüstung gegen den russischen „Meuchelmord" bei Hangö aus. Daß indes Schiffe mit der Friedensflagge zum Sondieren mit dem Senkblei und zum Ausspionieren russischer Positionen von den Engländern mißbraucht worden sind, z.B. bei Sewastopol und Odessa, gesteht der „Morning Chronicle" zu.
Karl Marx
Anzeige über die Einnahme Sewastopols Von der Pariser Börse Über die Massacre bei Hangö im Oberhaus11833
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 289 und 290 vom 25.und 26. Juni 1855] London, 22. Juni. Der zweite Akt der „Nachtwandlerin"[1841 war eben beendet, der Vorhang des Drury-Lane-Theaters fiel, als plötzlich ein ungeheurer Paukenschlag das Publikum, das sich zu Erfrischungen drängte, zurückrief. Der Vorhang rollte wieder auf, der Theaterdirektor trat vor und hielt in melodramatischer Exaltation folgende Anrede:
„Ladies und Gentlemen! Ich bin so glücklich, Ihnen ein großes Ereignis anzeigen zu können. Die Alliierten haben Sewastopol genommen."
Enthusiastischer Triumphschrei, Hurras, Vivats, Regen von Blumensträußen. Das Orchester spielte und das Publikum sang: „God save the Queen", „Rule Britannia" und „Partant pour la Syrie".[185] Eine Stimme aus den oberen Regionen rief: „La Marseillaise!", verhalhe aber ohne Echo. Die Improvisation des Theaterdirektors basierte auf einer telegraphischen Depesche, die zwar nicht die Einnahme von Sewastopol meldet, wohl aber, daß die Franzosen in ihrem Sturm auf Malachow und die Engländer in ihrem Sturm auf den Redan, am 18. Juni, mit bedeutendem Verlust zurückgeschlagen wurden. Der Mime kopierte gestern abend auf den Brettern von Drury-Lane einen andern Schauspieldirektor, der vor beinahe einem Jahre mitten in einem großen militärischen Spektakelstück[186) die unerwarteten, unvergeßlichen Worte improvisierte: „Messieurs, Sevastopol est pris!"1 Die unbegreifliche Verstocktheit, womit Pelissier fortfährt, die Kräfte der alliierten Armee aufzureiben in einseitigen Angriffen auf die Südseite, soll ihren Erklärungsgrund finden nicht in militärischen, sondern in finanziellen
1 „Meine Herren, Sewastopol ist genommen!"
Motiven. Bonaparte hat bekanntlich schon Milliarden auf die Einnahme von Sewastopol gezogen und von der französischen Nation diskontieren lassen. Er steht im Begriff, wieder 800 Millionen oder ungefähr so zuziehn. Eine Abschlagszahlung auf die schon zirkulierenden Wechsel schien also unerläßlich, und wenn der Übergang über die Tschornaja wirkliche Resultate hat, verspricht der Angriff auf die Südseite von Sewastopol blendenden Scheinerfolg. „Fall von Sewastopol" würde wohltun im Prospektus der neuen Anleihe, und wenn eine Anleihe für den Krieg, warum sollte nicht ein Krieg für die Anleihe gemacht werden! Vor diesem Standpunkt muß alle kriegswissenschaftliche Kritik verstummen. Es existiert überhaupt ein mysteriöser Zusammenhang zwischen dem Krieg in der Krim und der Börse zu Paris. Wie alle Wege nach Rom führen, so laufen bekanntlich alle elektrischen Drähte in den Tuilerien zusammen, wo sie in ein „Kabinettsekret" münden. Nun ist bemerkt worden, daß die wichtigsten telegraphischen Depeschen Stunden später in Paris als in London veröffentlicht werden. Während dieser Stunden soll ein gewisser Korse, mit Namen Orsi, unendlich geschäftig auf der Pariser Börse tun. Dieser Orsi, wie in London allgemein bekannt, war in vergangnen Zeiten der „providentielle" Agent des damals Verbannten1 auf dem Londoner Stock-Exchange2. Bewiesen nicht schon die vom englischen Kabinett veröffentlichten Depeschen des Admirals Dundas, daß das russische Massacre bei Hangö keinen Vorwand fand in irgendeinem Mißbrauch der Parlamentärflagge auf Seiten der Offiziere oder Mannschaft des vom „Cossack" abgeordneten Bootes, so würde die Erzählung des „Invalide Russe"11871 jeden Zweifel über diesen Punkt niederschlagen. Die Russen ahnten offenbar nicht, daß ein Matrose, John Brown, lebendig davongekommen und Zeugnis gegen sie ablegen würde. Der „Invalide" hielt es also für überflüssig, das englische Boot der Spionage, des Sondierens usw. anzuklagen, und fabrizierte seine Historia aus dem Stegreif, mit dem Abbe Sieyfcs überzeugt, daß „die Toten nicht sprechen". Die Affäre kam gestern im Oberhaus zur Sprache. Wir können indes nicht mit der „Times" übereinstimmen, daß „dieser sonst aus Gewohnheit und Prinzip so kaltvornehme Senat44 diesmal von den unverfälschten Lauten wahrer Leidenschaft erbebt sei. Wir finden affektierte Entrüstung in der Phrase, in der Sache zärtliche Sorgfalt für die „russische Ehre" und ängstliche Abwehr der Nationalrache. Der auswärtige Minister der Tories, Graf Malmesbury, erhob sich, setzte den Tatbestand kurz auseinander und rief dann aus:
1 Louis Bonaparte - 2 Börse
„ Ich habe die englische Geschichte durchwühlt und kann kein Beispiel einer ähnliehen abscheulichen Handlung finden. Welche Maßregel denkt die Regierung unter diesen Umstanden zu ergreifen? Es ist ein Gegenstand von der höchsten Wichtigkeit für jeden Offizier und jede Armee in Europa, daß diese Angelegenheit ergründet werde und angemessene Strafe auf die Vollbringer der Schandtat falle*"
Clarendon, der auswärtige Minister der Whigs, erklärte, die „Entrüstung" seines Kollegen zu teilen. Es ist eine so schreckliche und unvergleichliche Gewalttat, so sehr im Widerspruch mit den Gebräuchen und Gewohnheiten zivilisierter Nationen, daß man unterstellen muß, daß die Vollbringer derselben nicht gehandelt haben können im Auftrag oder mit der Bewilligung ihrer Vorgesetzten. Es sei möglich, daß der Befehlshaber der 500 Russen kein commissioned officer1 Qeder englische Offizier bis zum Leutnantsrang hinab besitzt eine commission2, nicht aber die Sergeanten und Unteroffiziere) gewesen sei. Es sei daher glaublich, daß die russische Regierung diesen Akt mißbillige. Er habe daher dem englischen Gesandten in Kopenhagen aufgetragen, durch den dänischen Gesandten in Petersburg der russischen Regierung vorzustellen, daß das englische Kabinett mit der höchsten Spannung erwarte, welche Schritte die russische Regierung genommen habe oder zu nehmen beabsichtige, um ihre Denkweise über einen Akt zu konstatieren, der vielleicht keine Überraschung hervorgerufen, wenn er in einer wilden Insel der Südsee vorgefallen, aber nicht im zivilisierten Europa erwartet werde und, wenn nicht streng und entsprechend bestraft von der russischen Regierung, die härteste Repressalie verdienen würde. Das englische Kabinett, schloß Clarendon, erwarte die russische Erklärung, um demgemäß weitere Schritte zu ergreifen. Lord Colchester glaubt,
„daß es in jedem solchen Falle die Pflicht des Kommandierenden war, unmittelbar sich mit der höchsten russischen Behörde, die er erreichen konnte, durch einen Parlamentär unter der Friedensflagge in Verbindung zu setzen, die Umstände darzustellen und zu verlangen, daß die Untat verleugnet werde".
Lord Malmeshury erhebt sich wieder, erklärt sich im ganzen mit dem Verfahren der Regierung einverstanden, schaudert aber, von Clarendon das Wort „Repressalie" vernommen zu haben. England dürfe nicht auch auf russischen Standpunkt herabsinken. Moralisch müsse es sich am Zaren rächen, alle Hofe Europas zu einem Protest am Petersburger Hof vermögen und so ein internationales Urteil über Rußland verhängen. Alles in der Art von „Rache" würde den öffentlichen „Ekel" nur steigern. Der nominelle
1 durch königliches Patent bestallter Offizier - 2 Patent
Präsident des englischen Kabinetts, Graf Granville, greift des Torys Worte gierig auf und betet christlich: „Keine Wiedervergeltung!" Was zeigt uns nun dieser, wie die „Times" behauptet, Leidenschaftsausbruch im Oberhaus? Der Tory, voll sittlicher Entrüstung, interpelliert. Der Whig überbietet ihn an Entrüstung, administriert aber selbst unter der Hand der russischen Regierung Entschuldigungsgründe und zeigt ihr den Ausweg, einen Subalternen zu desavouieren und zu opfern. Er deckt seinen Rückzug, indem er „eventualiter" etwas von Repressalien "munkelt. Lord Colchester will die Russen für mörderisches Attentat auf Parlamentäre unter Friedensflagge züchtigen, indem er ihnen einen neuen Parlamentär unter Friedensflagge zuschickt. Der Tory erhebt sich wieder und appelliert von Repressalien an die Moral. Der Whig, froh die Repressalie los zu sein, selbst eventualiter, stimmt ein: „No retaliation!"1 Nichts als Komödie. Das Oberhaus stellt sich zwischen die Volksleidenschaft und Rußland, um Rußland zu decken. Der einzige Pair, der aus der Rolle fiel, war Brougham. „Wenn", sagte er, „wenn das Land je nach Blut schrie, so ist es jetzt." Was die englische Sensibilität gegen „Repressalien", gegen das „Jus talionis"2 betrifft, hat Lord Malmesbury die Blätter der englischen Geschichte durchwühlt, ohne ein irisches Blatt zu finden, ein indisches, ein nordamerikanisches! Wann war die englische Oligarchie je sentimental, außer gegen Rußland! In dem Bericht des Roebuck-Komitees, der dem Hause verlesen wurde, ist sonderbarerweise der Schlußparagraph unterdrückt worden, ein Paragraph, den Roebuck vorgeschlagen und der nach einer Abstimmung vom Komitee angenommen war. Er lautet wie folgt: „Was mit ungenügender Information entworfen und unternommen war, ist ohne hinreichende Vorsorge und Vorsicht ausgeführt worden. Dies Betragen der Regierung war die erste und Hauptursache der Unglücksfälle, die unsre Armee in der Krim befielen."
1 „Keine Wiedervergeltung!- - 2 „Vergeltungsrecht14
Karl Marx
Der Unfall des 18, Juni - Verstärkungen
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 291 vom 26. Juni 1855] London, 23. Juni. Der 18. Juni, der Jahrestag der Schlacht von Waterloo[188 \ wurde diesmal natürlich nicht in London gefeiert. Er sollte in der Krim gefeiert werden durch einen Sieg, nicht gegen die Franzosen, sondern mit den Franzosen. Das Ereignis schien um so pikanter, als Raglan, Wellingtons Famulus, mehr oder minder unter den Ordres eines Generals Napoleons III. kommandierte. Die Inschrift war fertig; nur ließ das Ereignis in Stich, das sie verewigen sollte. Man wird in der Geschichtetes restaurierten Kaisertums die fatalistische Vorliebe nicht verkennen, womit die großen Daten des Empire ins Leben zurückgerufen werden, Erfolg bejahend, Mißgeschick verneinend durch eine zweite verbesserte Auflage. Diese glorreiche Resurrektioi napoleonischer Data, bisher glücklich in den Schlägen gegen die Republik, scheitert in den Schlägen gegen den auswärtigen Feind. Und das Empire ohne die Siege des Empire erinnert an die Bearbeitung des Shakespeareschen Hamlet, worin nicht nur die Melancholie des dänischen Prinzen fehlt, sondern der dänische Prinz selbst.11891 Am 2. Dezember 1854 war eine große Waffentat in der Krim von Paris aus bestellt. Sie wurde zu Wasser durch Überfluß an Regen und Mangel an Munition. Am 18. Juni 1855 sollte die Schlacht in verbesserter Ausgabe und mit umgekehrter Pointe vor Sewastopol aufgeführt werden. Statt dessen ereignet sich die erste ernsthafte Niederlage der französisch-englischen Armee. London ist düster; die Fonds sind gefallen, und Palmerston hat in einem Tage wieder eingebüßt, was er durch feinste Taktik in Monaten gesichert hatte. Die Niederlagen ereigneten sich am 18. Juni; die telegraphische Nachricht verkündet sie erst am 22. Vergangenen Donnerstag zeigt der offizielle „Globe" t1901 auf Palmerstons Geheiß an: „es habe sich nichts Ernsthaftes ereignet". In der Nachtsitzung des Unterhauses vom selben Datum wiederholt
Palmerston feierlich dieselbe Versicherung. Und nun ist konstatiert, daß er die telegraphische Depesche schon 4 Uhr nachmittags, Mittwoch, den 20. Juni, erhalten hatte. Der „Leader" behauptet, es sei dies auf dringendes Verlangen von Paris aus geschehn, wo man das Mißgeschick im Feld in Geschick auf der Börse verkehrt habe. Wie dem auch sei, der Cockney1 grollt Palmerston ernsthaft. Geschlagen zu werden ist schlimm genug. Aber im Drury-Lane- und Coventgarden-Theater durch die Hinterlist der Minister sich zu lächerlichen Sewastopol-Einnahme-Ovationen hinreißen zu lassen - this is too bad, Sir!2 Wir hatten unsere Leser hinreichend darauf vorbereitet, daß Pelissiers verstocktes Festhalten am Sturm auf die Südseite den alliierten Armeen Unheil ankünde. Wir machten zugleich bei seiner Übernahme des Kommandos auf den mildernden Umstand aufmerksam, daß Mangel an Transportmitteln ihm große Schwierigkeiten für Operationen im freien Feld auftürme.0®13 Beides ist jetzt durch die englische Presse bestätigt. So sagt z.B. der „Morning Herald" von heute: „Die Armee kann nicht ins freie Feld rücken, wie sie allen Regeln der Strategie gemäß tun müßte, um die Hilfsarmee bei Simferopol zu schlagen. Sie kann nicht, weil die obrigkeitlichen Totengräber, Nachlässigkeit und Aufschub, wieder an ihrem mörderischen Werk waren und von 28000 Stück Zugvieh, deren wir bedürfen, nur 4000 bis 5000 zu unserer Verfügung stehen; und all dies, während Krankheit wieder durch ein Lager schleicht, das jedes Reizmittel für Fieber, Cholera und Pest in sich birgt. Dies Unvermögen der Fortbewegung, ähnlich wie zu Varna und im Tal des Todes, ist die Ursache, warum Tag auf Tag unsere Generale gezwungen sind, das Leben unserer Truppen in verzweifelten Angriffen auf fast uneinnehmbare Erdwerke zu verwüsten, während die hochherzige Armee, die das Feld ergreifen sollte, müßig an der Tschornaja liegt, ohne Kavallerie oder Transportmittel."
Mit welcher raffinierten Nachlässigkeit das Kabinett von Anfang des Kriegs die ihm zur Verfügung gestellten Mittel handhabte, ist von neuem durch eben veröffentlichte Finanzberichte bewiesen. Nach diesem offiziellen Bericht betrug der Kassenbestand der für die Armee bewilligten Gelder am I.Januar 1854: 1835882Pfd.St. und die für die Armee am I.April 1854 verausgabte Summe nur 2270000 Pfd.St., so daß weniger als 3/4 der vom Parlament votierten Summe für Aushebung von Truppen verwandt wurde. Und woran ging die Armee, dem Bericht des Roebuck-Komitees gemäß, zugrunde? An Überarbeit. Und woher die Überarbeit? Aus numerischer Schwäche. Die numerische Schwäche aber, wie der Finanzbericht zeigt, war
1 Spottname der Londoner - 2 das ist zu arg, mein Herrl
das Resultat einer Kabinettsintrige. Und Prinz Albert klagt, daß die Königin keine Truppen zur Verfügung Habe! Und daß dem Kabinett die Hände gebunden seienl Wie dasselbe Kabinett, das, während es über Mangel an Transportmitteln klagte, Transportschiffe nachPortsmouth sendet über Newcastle-on-Tyne, um dort Kohlen einzunehmen, oder von dem Clyde nach Liverpool und von Deptford nach Woolwich, um vom Surveyor1 inspiziert zu werden, hat sich in der Layard-Debatte herausgestellt. Die Unfälle des 18. Juni haben sofortige Verstärkung nötig gemacht. Demgemäß sind gestern Befehle erteilt worden, unmittelbar einzuschiffen: das 15. Infanterieregiment, neulich von Ceylon zurückgekehrt; das 51. leichte Infanterieregiment des Königs, das 80. und 94. Infanterieregiment, alle Indiendetachierungen von den verschiedenen Depotkompanien und 1200 Mann Kavallerie sollen sofort nach dem Kriegsschauplatz abgehen. Telegraphische Ordres sind nach Marseille abgegangen, um von dort Extradampfschiffe an die Gouverneure von Malta und Gibraltar und den Lord High Commissioner2 de* Ionischen Inseln zu senden, mit dem Auftrage, alle dienstfähige Mannschaft nicht nur der Garnisonen, sondern auch der Reserve der Household-Brigade und edle zu entbehrenden Reservebataillons vor dem Eintreffen der Ablösungsregimenter und -miliz zu verschiffen. Es werden sofort absegeln: das leichte 13. Infanterieregiment von Gibraltar, das 31. Infanterieregiment von den Ionischen Inseln, das 48. von Korfu, das 54. von Gibraltar, das 66. von Gibraltar, das 92. Hochschottenregiment von Gibraltar. Die britische Streitkraft in der Krim wird so um mehr als 13000 Mann vermehrt werden. Dazu kommen 4 Feldbatterien, eine Schar von reitender Artillerie und eine Verstärkung des Belagerungstrains, die alle bereit sind und nur auf Transportschiffe harren. England befindet sich übrigens in derselben Situation wie 1854. Keine Reservearmee. Und noch schlimmer. 1854, wie der Roebuck-Bericht gesteht, verhinderte und verzögerte Palmerston die Bildung der Miliz; aber 1855 ist es ihm gelungen, die schon gebildete Miliz so gut wie aufzulösen. Die Verstärkungen, wie man aus obiger Aufzählung sieht, absorbieren nicht nur das Gros der Armee; sie verschlingen die Depotbataillons und lösen die Cadres auf. England gleicht so dem Montesquieuschen Wilden, der den Baum fällt, um seiner Früchte habhaft zu werden. Das ökonomische Land par excellence verausgabt sein militärisches Kapital statt der Zinsen. Es ist dies Resultat der manoeuvres des Kabinetts, in das Prinz Albert unbedingtes Vertrauen erheischt! Nichts falscher als die Vorstellung des Kontinents, daß England zu menschenarm, um Armeen zu stellen^ 1815, nach
1 Kontrolleur der ankommenden und abgehenden Schiffe - 2 Lord Oberkommissar
22jährigem Kriege, hatte England auf den Beinen mehr als 350000 Mann! Aber das Kabinett vernachlässigt absichtlich beide Mittel, Erhöhung des Prämiums für die stehende Armee, Kugelung für die Miliz! Was anders erwarten von dem Premier, dem die Fürstin Lieven 1827 seine Schulden bezahlt und den sie 1830 zum Minister des Auswärtigen ernennt, der Rußland durch den Vertrag von Hunlaar-Iskelessi[631 eine achtjährige Diktatur über die Türkei verschafft und 8 Tage, bevor der Vertrag von Hunkiar- Iskelessi ablief, ihn erneuerte im Dardanellenvertrag11921? Roebuck zeigte gestern im Unterhaus an, er werde den 3. Juli (Dienstag über 8 Tage) folgenden Antrag stellen: „Daß dieses Haus, tief beklagend die Leiden der Armee in der Krim während des Winterfeldzugs und übereinstimmend mit dem Bericht seines Komitees, daß das Betragen der Regierung die erste und Hauptursache der Unglücksfälle war, die diese Armee heimsuchten, hiermit seinen strengen Tadel verhängt über jedes Glied dieses Kabinetts, dessen Ratschläge zu so unheüvollen Resultaten führten."
Roebucks Antrag schließt also absichtlich ein: Palmerston, Russell, Clarendon, Granville und Lansdowne, zugleich Mitglieder des jetzigen und des letzten Kabinetts. Der kleine giftige, Thersites-ähnliche, aber geriebene und in parlamentarischer Taktik vollendete Advokat sah sich zu diesem Antrage gezwungen, weil seine Wähler von Sheffield drohten, ihn, der am Dienstag Palmerston denunzierte und am Donnerstag sein Vertrauen in denselben Palmerston stimmte, in einem öffentlichen Meeting mit einem Mißtrauensvotum heimzusuchen. Prinz Alberts unglückliche Einmischung zwischen Kabinett und Parlament, seine Provokation der parlamentarischen Machtvollkommenheit war ein andres Motiv für diesen Antrag, der die Königin „ihrer konfidentiellen Diener*4 wieder zu berauben droht. Über die letzten Taten und Schicksale der Administrativen wie über die Pfaffenumtriebe das nächste Mal.
Karl Marx
Kirchliche Agitation [Eine Demonstration im Hyde Park]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 295 vorn 28. Juni 1855] London, 25. Juni. Alt und historisch ist die Lehre, daß überlebte gesellschaftliche Mächte nominell noch im Besitz aller Attribute der Gewalt, nachdem ihr Daseinsgrund längst unter ihren Füßen weggemodert - fortvegetierend, weil unter den Erben schon Hader über den Antritt der Hinterlassenschaft ausgebrochen, bevor der Totenzettel gedruckt Und das Testament eröffnet ist sich vor dem letzten Todeskampf noch einmal zusammenfassen, aus der Defensive in die Offensive übergehen, herausfordern statt auszuweichen, und extremste Schlüsse aus Prämissen zu ziehen suchen, die nicht nur in Freige gestellt, sondern schon verurteilt sind. So jetzt die englische Oligarchie. So die Kirche, ihre Zwillingsschwester. Unzählig sind die Versuche innerhalb der Staatskirche, der hohen und der niedern, sich zu reorganisieren, die Versuche, sich mit den Dissidenten[193] auszugleichen und so der profeinen Masse der Nation gegenüber eine kompakte Macht herzustellen, rasch aufeinanderfolgend die religiösen Zwangsmaßregeln - der fromme Graf Shaftesbury, früher bekannt als Lord Ashley, konstatierte jammernd im Oberhaus, daß in England allein 5 Millionen durchaus nicht nur der Kirche, sondern dem Christentum entfremdet seien. „Compelle intrare"1, antwortet die Staatskirche. Sie überläßt es Lord Ashley und ähnlichen dissentierenden, sektiererischen und überreizten Frömmlern, die Kastanien aus dem Feuer zu ziehen, die sie zu essen gedenkt. Erstes religiöses Zwangsmittel war die Beer Bill2, die alle öffentlichen Vergnügungsorte an Sonntagen schloß, mit Ausnahme von 6 bis 10 Uhr abends. Sie wurde in einem dünnen Hause am Schluß der Sitzung durchgeschmuggelt, nachdem die Frommen die Unterstützung der großen Bierwirte von London
1 „Nötige sie, hereinzukommen" -2 Bierhill
dadurch erkauft, daß sie ihnen die Fortdauer des Patentsystems, d.h. des Monopols der großen Kapitalien, garantiert hatten. Dann kam die Sunday Trading Bill1, die jetzt in dritter Lesung durch die Gemeinen gegangen und deren einzelne Klauseln eben im Komitee des ganzen Hauses debattiert worden.[194] In dieser neuen Zwangsmaßregel war wieder die Stimme des großen Kapitals gesichert, weil nur Kleinkrämer am Sonntag handeln und das große Warenhaus durchaus bereit ist, die Sonntagskonkurrenz der kleinen Butike parlamentarisch aus dem Wege zu räumen. In beiden Fällen Verschwörung der Kirche mit dem Monopol des Kapitals, aber in beiden Fällen religiöse Strafgesetze gegen die niedern Klassen zur Beruhigung des Gewissens der vornehmen Klassen. Die Beer Bill traf ebensowenig die aristokratischen Klubs, wie die Sunday Trading Bill vornehme Sonntagsbeschäftigungen trifft. Die Arbeiterklasse empfängt ihren Arbeitslohn spät am Sonnabend; nur für sie existiert daher der Sonntagshandel. Nur sie ist gezwungen, am Sonntag ihre kleinen Einkäufe zu machen. Nur gegen sie ist daher die neue Bill gerichtet. Im 18.Jahrhundert sagte die französische Aristokratie: Für uns Voltaire, für das Volk die Messe und der Zehnte. Im 19. Jahrhundert sagt die englische Aristokratie: Für uns die frömmelnde Phrase, für das Volk die christliche Praxis. Die klassischen Heiligen des Christentums kasteiten ihren Leib für das Seelenheil der Masse; die modernen, gebildeten Heiligen kasteien den Leib der Masse für ihr eignes Seelenheil. Dieses Bündnis einer liederlichen, verfallenden und genußsüchtigen Aristokratie mit der Kirche, gestützt auf schmutzige Profit-Kalküls von Biermagnaten und monopolisierenden Großkrämern, rief gestern eine Massendemonstration im Hyde Park hervor, wie London sie seit dem Tode Georgs IV., des „ersten Gentleman von Europa", nicht mehr erlebt hat. Wir waren Zuschauer von Beginn bis zum Schlüsse, und wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir versichern, daß gestern imHydeParfc die englische Revolution begonnen hat. Die letzten Nachrichten aus der Krim bildeten ein wesentliches Ferment dieser „unparlamentarischen", „außerparlamentarischen * und „antiparlamentauschen' Demonstratioh. Lord Robert Grosvenor, der Urheber der Sonntagshandelsbill, hatte dem Einwurf, sein Gesetz sei nur gegen die armen, nicht gegen die reichen Klassen gerichtet, mit den Worten geantwortet:
„Die Aristokratie enthalte sich, in großem Maßstab ihre Diener und ihre Pferde sonntags zu beschäftigen."
1 Bill über den Sonntagshandel
In den letzten Tagen der vergangenen Woche war an allen Mauern Londons folgendes großgedruckte, von den Chartisten ausgehende Plakat zu lesen: „Neue Sonntagsbill zur Beseitigung von Zeitungen, Rasieren, Rauchen, Essen und Trinken und aller Arten von Nahrung und Erholung, leiblicher oder geistiger, die augenblicklich noch vom armen Volk genossen werden. Ein Meeting in freier Luft von Handwerkern, Arbeitern und den ,niederen Ständen der Hauptstadt wird im Hyde Park abgehalten werden, am Sonntag nachmittag, um zu sehen, wie religiös die Aristokratie den Sabbat beobachtet und wie ängstlich sie ist, ihre Diener und Pferde an diesem Tage nicht ins Werk zu setzen. Siehe Lord Robert Grosvenors Rede. Das Meeting ist zusammenberufen für 3 Uhr an der rechten Seite der Serpentine (Flüßchen im Hyde Park) nach den Kensington Gärten zu. Kommt! Und bringt eure Weiber und Familien mit euch! Damit sie profitieren von dem Beispiel, das ihre »Besseren* geben!" Man muß närrilich wissen, daß, was Longchamps für die Pariser, der Weg im Hyde Park längs der Serpentine für die englische Hautevolee ist - der Platz, wo sie am Nachmittage, namentlich sonntags, ihre Prunkkarossen und ihren Putz Revue passieren lassen und ihre Rosse tummeln, gefolgt von Lakaienschwärmen. Man wird aus dem obigen Plakat ersehen, wie der Kampf gegen Pfäfferei denselben Charakter annimmt wie jeder ernstliche Kampf in England, den Charakter des Klassenkampfes von arm gegen reich, Volk gegen Aristokratie, der „niederen" gegen die „besseren" Ränge. Um 3 Uhr waren auf dem angesagten Platze, auf dem rechten Ufer der Serpentine, auf den ungeheuern Wiesen des Hyde Park, ungefähr 50000 Menschen versammelt, die nach und nach durch Zugänge auch vom linken Ufer zu wenigstens 200000 anschwollen. Man sah kleinere Menschenknäuel von einem Punkt auf den andern fortgeschoben. Die zahlreich aufgestellten Konstabler suchten offenbar den Urhebern des Meetings zu entziehen, was Archimedes verlangte, um die Welt aus den Angeln zu heben, einen festen Standpunkt. Endlich faßte ein größerer HaufenPosto, und Bligh, der Chartist, konstituierte sich als Präsident auf einer kleinen Anhöhe in der Mitte des Haufens. Er hatte kaum seine Harangue begonnen, als Polizeiinspektor Banks an der Spitze von 40 knüttelschwingenden Konstablern ihm erklärte, der Park sei königliches Privateigentum, und man dürfe hier kein Meeting abhalten. Nach einigen Pourparlers, worin Bligh ihm zu demonstrieren suchte, die Parks seien Eigentum des Publikums, und worin Banks erwiderte, er habe gemessenen Befehl, ihn zu arretieren, wenn er auf seinem Vorhaben beharre, unter ungeheurem Gebrüll der umstehenden Masse, rief Bligh:
„ Ihrer Majestät Polizei erklären, daß der Hyde Park königliches Privateigentum und daß Ihre Majestät dem Volke ihren Grund und Boden nicht zu seinen Meetings leihen will. Vertagen wir uns daher nach Oxford Market."
Unter dem ironischen Ruf: „God save the Queen!44 entstrahlte sich der Knäuel, um nach Oxford Market zu pilgern. Unterdes aber war Firden, Mitglied des Zentralchartistenkomitees11951, an einen fernstehenden Baum gestürzt, Massen folgten ihm, umschlossen ihn in einem Nu in einem so engen und dichten Zirkel, daß die Polizei den Versuch aufgab, bis zu ihm vorzudringen.
„Wir sind 6 Tage in der Woche geknechtet, das Parlament will uns noch das bißchen Freiheit am siebenten rauben. Buße wollen sie tun, nicht an sich, sondern an uns, diese mit augenverdrehenden Pfaffen koalitionierten Oligarchen und Kapitalisten, für den gewissenlosen Mord, womit sie die Kinder des Volks in der Krim geopfert haben.14
Wir verließen die Gruppe, um uns eiiier andern zu nähern, wo ein Redner, der Länge nach auf den Boden gestreckt, in dieser horizontalen Situation seine Audienz harangierte. Plötzlich erscholl es von allen Seiten: „Hin zum Fahrweg, hin zu den Karossen!" Unterdes hatte der Insult auf Equipagen und Reiter schon begonnen. Die Konstabier, die beständig Zuzüge aus der Stadt erhielten, trieben die Spaziergänger weg von dem Fahrweg. Sie trugen so dazu bei, auf beiden Seiten des Wegs dichte Menschenspaliere zu bilden, von Apsley-House Rotten-Row hinauf der Serpentine entlang bis nach Kensington Garden, mehr als eine Viertelstunde in der Ausdehnung. Das Publikum bestand zu etwa 2/3 aus Arbeitern, zu a/3 aus Mitgliedern der Mittelklasse, alle mit Weibern und Kindern. Die Schauspieler wider Willen, elegante Herrn und Damen, „Gemeine und Lords" in hohen Staatskarossen, galonierte Dienerschaft vorn und hinten, einzelne ältliche, von Portwein erhitzte Herrn zu Pferde, passierten diesmal nicht Revue. Sie liefen Spießruten. Ein Babylon aller höhnenden, provozierenden, übelklingenden Laute, an denen keine Sprache so reich wie die englische, umwogte sie bald von beiden Seiten. Da das Konzert improvisiert war, fehlte es an Instrumenten. Der Chor mußte daher von seinen eignen Organen Gebrauch machen und sich auf Vokalmusik beschränken. Und ein diabolisches Konzert war es von grunzenden, zischenden, pfeifenden, schnarrenden, knurrenden, murrenden, quäkenden, gellenden, ächzenden, rasselnden, quirksenden, knirschenden Tönen. Eine Musik, Menschen rasend zu machen und Steine zum Bewußtsein zu bringen. Sonderbares Gemisch dazu von Ausbrüchen echten altenglischen Humors und lang verhaltener kochender Wut. „Go to the church!" (Geht zur Kirche!) war der einzige artikulierte Laut, der sich unterscheiden ließ. Eine Lady streckte beschwichtigend -ein orthodox-eingebundenes Prayerbook (Gebetbuch) aus der Equipage hervor. „Give it to read to your
horses!" (Gebt es euren Pferden zu lesen!), donnerte das tausendstimmige Echo zurück. Wenn die Pferde scheu wurden, bäumten, bockten, ausrissen, Lebensgefahr ihrer eleganten Last drohte, erhob sich das Hohngeschrei lauter, drohender, unerbittlicher. Edle Lords und Ladies, u.a. die Gräfin Granville, Frau des Ministers und Präsidenten des Geheimen Rates, wurden gezwungen, auszusteigen und Gebrauch von ihren eigenen Füßen zu machen. Wenn ältliche Gentlemen vorbeiritten, deren Tracht, namentlich der Hut mit breiten Krempen, besondere Ansprüche auf Vollkommenheit im Glauben kundgab, erlöschten alle Wuttöne, wie auf ein Kommando, in unauslöschlichem Gelächter. Einem dieser Gentlemen riß die Geduld aus. Er machte, wie Mephistopheles, eine unanständige Gebärde, er streckte die Zunge dem Feinde entgegen. „He is a wordcatcher! a parliamentary man! He fights with his own weapons!" (Er ist ein Wortdrescher, ein Parlamentler, er kämpft mit seinen eigenen Waffen!) erscholl es von der einen Seite des Weges. „He is a Saint! he is psalm singing!" (Er ist ein Heiliger, er singt Psalmen!) war die Antistrophe von der andern Seite. Unterdes hatte der metropolitane1 elektrische Telegraph allen Polizeistationen angekündigt, eine Erneute im Hyde Park stehe bevor, und sie auf das Kriegstheater verordnet. In kurzen Zwischenräumen marschierte daher eine Polizeiabteilung nach der andern durch das doppelte Menschenspalier von Apsley-House nach Kensington Garden durch, jedesmal empfangen mit dem Volkslieder „Where are gone the geese? Ask the police!" (Wo sind die Gänse hin? Fragt die Polizei!),
mit Anspielung auf einen notorischen Gänsediebstahl, den ein Konstabier vor kurzem in Clerkenwell verübt. Drei Stunden währte dieser Spektakel. Nur englische Lungen sind einer solchen Parforcetour fähig. Während der Aufführung hörte man in den verschiedenen Gruppen: „Dies ist nur der Anfang!" „Das ist der erste Schritt!" „Wir hassen sie!" usw. Während auf den Gesichtern der Arbeiter Wut zu lesen war, sahen wir nie vorher in den Physiognomien der Mittelklassen ein so wohlgefälliges, selbstzufriedenes Lächeln sich abspiegeln. Kurz vor Schluß steigerte sich die Heftigkeit der Demonstration. Stöcke wurden gegen die Karossen geschwungen, und die unendliche Lautdissonanz kam zu Wort in dem Ausruf: „You rascals!" (Ihr
1 hauptstädtische
Schurken!). Eifrige Chartisten und Chartistinnen durchwühlten während der drei Stunden die Massen und teilten ihnen Druckzettel aus, worauf in großen Buchstaben zu lesen: „Reorganisation des Chartismus! Ein großes öffendiches Meeting wird in dem literarischen und wissenschaftlichen Institut Friar Street, Doktor Commons, nächsten Dienstag, den 26. Juni, abgehalten werden zur Wahl von Abgeordneten zu einer Konferenz für die Reorganisation des Chartismus in der Hauptstadt. Keine Eintrittskarten."
Die Londoner Presse bringt heute im Durchschnitt nur einen kurzen Bericht über das Ereignis im Hyde Park. Noch keine Leitartikel, mit Ausnahme von Lord Palmerstons „Morning Post". „Ein Schauspiel", sagt sie, „im höchsten Grad schmählich und gefährlich, hat im Hyde Park stattgefunden, eine offene Verletzung des Gesetzes und des Anstandes eine illegale Einmischung durch physische Gewalt, mit der freien Aktion der gesetzgebenden Gewalt. Die Szene darf sich nächsten Sonntag nicht wiederholen, wie gedroht worden ist."
Zugleich aber erklärt sie den „fanatischen" Lord Grosvenor für den einzig „verantwortlichen" Urheber des Unfugs und den Herausforderer der „gerechten Erbitterung des Volkes"! Als ob das Parlament nicht Lord Grosvenors Bill in drei Lesungen angenommen! Hat er etwa auch „durch physische Gewalt auf die freie Aktion der Legislatur" eingewirkt?
Karl Marx
Mitteilungen verschiedenen Inhalts
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 297 vom 29.Juni 1855] London, 26.Juni. In der gestrigen Unterhaussitzung erhob sich Herr Otway: „Bezweckt Lord Palmerston irgendwelche Maßregeln zu ergreifen, um Lord Grosvenor zur Zurücknahme seiner Sunday Trading Bill zu veranlassen?" (Allgemeine cheers1.) Lord Palmerston: „Wenn mein edler Freund" (Grosvenor) „diese allgemeinen cheers gehört hat, denke ich, wird er geneigt sein, sich nach ihnen zu richten." (Cheers.) Man sieht, die Massendemonstration im Hyde Park hat das Unterhaus eingeschüchtert. Es läßt die Bill fallen und macht bonne mine k mauvais jeu2. Die „Times" nennt die Sonntagsszene im Hyde Park „einen großen Akt vergeltender Justiz", die Bill ein Produkt der „Klassengesetzgebung", „eine Maßregel organisierter Heuchelei" und erlustigt sich über „die parlamentarische Theologie". Mit Bezug auf das Hangö-Massacre zeigt der Erste Lord der Admiralität, Sir Charles Wood, an, er habe heute Depeschen vom Admiral Dundas erhalten. Dadurch seien durch das Feuer der Russen getötet worden 5 Seeleute und der finnische Kapitän, verwundet und gefangengenommen 4 Seeleute und 2 Finnen, gefangengenommen ohne Verwundung 3 Offiziere, 4 Seeleute und 2 Finnen. Admiral Dundas habe einen Brief an den Gouverneur von Helsingfors gerichtet, die Tatsachen konstatiert und in entschiedenster Weise remonstriert gegen den abscheulichen Akt, auf ein Boot
1 Beifall - 2 gute Miene zum bösen Spiel
unter Friedensflagge zu feuern. Er habe eine Antwort erhalten, worin der Gouverneur den Akt entschuldige und gewissermaßen rechtfertige. Er erkläre, ihrer eignen Aussage gemäß hätten Offiziere und Soldaten die Friedensflagge nicht gesehen. Sie seien erbittert gewesen, weil bei verschiedenen anderen Gelegenheiten Schiffe die russische Flagge aufgezogen hätten und in Zeitungen berichtet stehe, wie englische Schiffe anderswo die Friedensflagge benutzt hätten, um mit dem Senkblei zu sondieren. Die ganze Rechtfertigung beschränkt sich also auf die Kurzsichtigkeit der russischen Soldaten und Offiziere. Jedenfalls ist es ein Zeichen der Zivilisation, daß russische Soldaten Zeitungen lesen und von Zeitungsberichten „erbittert" werden. Die Administrativen^1^ haben ein neues Meeting im Drury-Lane [-Theater] für morgen angekündigt. Wie früher: Meeting mit Einlaßkarten und vor herbestellten Rednern. Pontius Pilatus fragte: Was ist Wahrheit? Palmerston fragte: Was ist Verdienst? Die Administrativen haben geantwortet: Verdienst ist, was ein Mann jährlich verdient. Demgemäß haben diese Reformer eine Umwandlung in ihrer innern Organisation vorgenommen. Früher wurden die Mitglieder des Generalkomitees - in der Tat selbsterwählt - einer Scheinwahl durch allgemeine Abstimmung der Assoziation unterworfen. Nun wird selbstredend Mitglied des Generalkomitees, wer 50 und mehr Pfund Sterling jährliche Subskription zahlt. Früher wurde die Zehn-Guineen- und die Eine-Guinee-Klausel für hinreichend erachtet, um die „Bewegung" gegen plebejische Zudringlichkeit zu schützen. Jetzt werden die Zehn-GuineenHerren nicht mehr für hinreichend „respektabel", und die Ein-GuineePersonen völlig als „Mob" betrachtet. Es heißt wörtlich in den Plakaten, die das Meeting anzeigen:
„Zulassung nur auf Eintrittskarte, die von Mitgliedern erhalten werden kann. Subskribenten von 50 Pfund und mehr sind Mitglieder des Generalkomitees, Subskribenten von zehn Guineen und einer Guinee sind Mitglieder der Assoziation."
Die Rechte der Mitglieder innerhalb der Assoziation sind also durch eine gleitende Skala von Guineen äuskalkuliert. Die nackte, unverbrämte Herrschaft der Guineen ist brutal proklamiert. Die Cityreformer haben ihr Geheimnis ausgeplaudert. Welche Agitatoren! Die letzten Zeiten waren ihnen zudem nicht günstig. Drummond warf ihnen offen im Parlament „systematische Immoralität" und „Korruption" vor. Und welche Illustrationen der Reinheit ihrer Klasse folgten sich Schlag auf Schlag, wie auf ein Kommandowort! Erst bringt das „Lancet" (medizinische Zeitschrift) Beweise, daß die Verfälschung und Vergiftung aller Waren und Lebensmittel sich keineswegs auf Kleinkrämer beschränkt, sondern vom Großhandel prinzipiell betrieben
wird. Dann verlautet, daß „respektable" Cityfirmen falsche dockwarrants1 zirkuliert haben. Endlich der große fraudulente, mit direktem Diebstahl an deponierten Sicherheiten verbundene Bankrutt der Privatbank von Strahan, Sir Jones Paul und Bates. In letzterem Falle hat die Aristokratie dem „administrativen" Talent der Cityherren huldigen gelernt, denn die Bank „administrierte" vor allen aristokratische Guineen. Palmerston ist Dulder, so der Marquis von Clanricarde, und Admiral Napier hat beinahe sein ganzes Vermögen eingebüßt. Die Kirche ist auch um viel irdisches Hab gekommen, da die Herren Strahan, Paul und Bates in einem besonderen Geruch der Heiligkeit standen, Meetings zur „Heidenbekehrung" in Exeter Hall gelegentlich präsidierten, unter den ersten Subskribenten der Gesellschaft für „die Verbreitung der Bibel" figurierten und sich im Vorstande des „Vereins zur Reform von Verbrechern" befanden. Ihr Glaube hatte ihnen Kredit verschafft. Sie waren die Lieblingsbank geistlicher Herren und freier Stiftungen. Aber ihr „administratives" Talent hat nichts verschont, von Witwen- und Waisengeldern bis zu den Sparpfennigen von Matrosen hinab. Warum sie nicht zur Administration der „Staatsgelder" zulassen, nach der sie jetzt die Hand ausstrecken?
„Es zeigen sich jetzt", ruft wehmütig die „Daily News", das Organ par excellence der Cityreformer, „Symptome unter uns, die beweisen, daß keine Zeit zu verlieren, um einen Fall von dem hohen unmoralischen Tone unter den industriellen Klassen vorzubringen." Die Krise der Herren Strahan und Komp. hat natürlich einen „Run" des Publikums auf die Kassen der City-Privatbanken hervorgerufen, die bis dahin für ungleich respektabler galten als die Aktienbanken. Schon sehen sich die großen Privatbankiers genötigt, „öffentlich" sich zur wechselseitigen periodischen Einsicht in den Bestand der bei ihnen deponierten Sicherheiten aufzumuntern und ebenso ihre Kunden zur augenscheinlichen Besichtigung der ihnen anvertrauten Effekten durch die „Times" einzuladen. Ein andrer Umstand, der den reformierenden Cityherrn durchaus ungelegen kommt, ist folgender: Einer ihrer Könige, Rothschild, steht bekanntlich als ihr erwählter Repräsentant an der Schwelle des Unterhauses, ohne in das Allerheiligste zugelassen zu werden, weil er nicht den „Eid eines wahren Christen"[33] schwören und Lord John Russell, sein Kollege, die Judenbill nicht „realisieren" will. Nun erhebt sich gestern Duncombe, hat ausgespürt, daß einem Parlamentsakt von 1782 gemäß jeder Deputierte, der einen Lieferungskontrakt mit der
1 Lagerschein«
Regierung nach seiner Wahl geschlossen, seines Sitzes im Unterhause verlustig geht, daß Rothschild die letzte Anleihe von 16 Millionen Pfd.St. übernommen, und zeigt daher an, daß er morgen abend die Ausschreibung einer neuen Citywahl beantragen werde. Noch mehr. Malins folgt Duncombe auf dem Fuße nach und kündigt einen ähnlichen Antrag gegen Lindsay an, der in der Reformdebatte von Sir Charles Wood offen angeklagt sei, Lieferungskontrakte für Schiffe mit der Regierung geschlossen zu haben, während er als Parlamentsmitglied sitzt und saß. Der Inzident ist nicht nur wichtig wegen der kompromittierten Personen, ein Citymagnat und ein Gtyreformmagnat! Er ist wichtig, weil er dem Publikum ins Gedächtnis ruft, daß Pitt, Perceval und Liverpool, die sich über den Akt von 1782 hinwegsetzten, gerade in den Großwürdenträgern der City, den Kontrahenten von Anleihen und Lieferungen für die Regierung in und außerhalb des Parlaments ihre Grundpfeiler fanden. Diese Finanzaristokratie - damals korrupter wie unter Louis-Philippe - war die Seele des Antijakobinerkriegs. Während sie seine goldenen Hesperidenäpfel pflückte, demonstrierte sie der Nation in berüchtigten Citymeetings, daß
„sie Geld und Blut opfern müsse, um die gebenedeiten Komforts unsrer heiligen Religion vor den altarschänderischen Franzosen und sich selbst vor der düstern Verzweiflung des Atheismus zu retten". So, zur ungelegensten Zeit, wird die Nation erinnert, daß die gegen die Oligarchie rebellierende City das Treibhaus war, worin dieselbe Oligarchie großwuchs und ihre üppigsten Blüten trieb.
Friedrich Engels
Aus SewastopolE19ö]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4439 vom 12. Juli 1855] Im Gegensatz zu den Erwartungen der Öffentlichkeit bringt die Post der „Pacific", die gestern morgen angekommen ist, keinen detaillierten Bericht über die Niederlage der Alliierten bei Sewastopol am 18. Juni. Wir haben, das ist wahr, einige nackte Aufstellungen über die Zahl der Toten und Verwundeten in dieser Schlacht, die wir unten kurz kommentieren. Doch statt der erwarteten Depeschen haben wir wenigstens den detaillierten Bericht des Generals Pelissier über die Eroberung des Mamelons und der Steinbrüche. Doch selbst dieser ist nicht derart, daß er die Linie der Militärpolitik des Mannes sehr genau nachweist, der jetzt faktisch die 200000 alliierten Truppen auf der Krim kommandiert. Wir müssen eher den negativen als den positiven Beweisen glauben, wenn wir zu einem Schluß über diesen Gegenstand kommen wollen. Um zu erraten, was P6lissier zu tun gedenkt, müssen wir nicht so sehr auf das sehen, was er tut, sondern auf das, was er zu tun unterläßt. Doch lassen Sie uns wieder der Einnahme des Mamelons zuwenden; sie weist einige Züge auf, die der Untersuchung wert sind. Der 6. und 7. Juni waren einer Kanonade auf der ganzen Linie der alliierten Batterien gewidmet. Aber während auf der linken Attacke (FlagstaffBastion bis zu der Quarantäne-Bastion) diese Kanonade bloße Demonstration blieb, war sie ernst gemeint auf der rechten Attacke (Redan bis Berg Sapun). Hier wurden die russischen Außenwerke einem besonders heftigen Feuer unterworfen. Als ihr Feuer hinreichend zum Schweigen gebracht schien und ihre Verteidiger hinreichend geschwächt, wurde am Abend des 7. der Sturm befohlen. DieFranzosen hatten zwei verschiedenePositionen zu nehmen,zwei Plateaus bildend, voneinander getrennt durch einen Hohlweg; die Engländer ein Plateau mit einem Hohlweg auf jeder Seite. Die Weise, wie die beiden Armeen sich zum Sturm vorbereiteten, war charakteristisch für ihre eigentümlichen Befähigungen und Traditionen. Die Franzose^ setzten ins Werk
vier Divisionen, zwei für jede besondere Attacke. So wurden zwei Divisionen gegen den Grünen Mamelon (Kamtschatka-Redoute) konzentriert und zwei andere gegen den Berg Sapun; jede Attacke mit zwei Brigaden in getrennten Kolonnen in der Front für den Angriff und zwei Brigaden in Reserve. Achtzehn Bataillone hatten daher zu chargieren und achtzehn zu unterstützen insgesamt wenigstens 28000-30000 Mann. Diese Disposition stimmt ganz mit den Regulationen und Traditionen der französischen Armee, die bei großen Chargen immer in Kolonnen angreift und manchmal in etwas zu unfügigen. Die Engländer, wenn ebenso formiert, würden zwei Divisionen für den ihnen zufallenden Teil der Arbeit erheischt haben; zwei Brigaden für den Angriff und zwei für die Reserve. Aber treu ihrem eigenen System, detachierten sie. für die Charge ungefähr 1000 Mann oder ungefähr zwei Bataillone - kaum die Hälfte einer französischen Brigade. Sie hatten zweifelsohne starke Reserven, wandten aber trotzdem nur einen Mann an, wo die Franzosen drei Mann verbraucht hätten. Dies ist eine Konsequenz teils des britischen Systems, in Linien statt in Kolonnen anzugreifen, und teils der großen Zähigkeit des britischen Soldaten in Defensivpositionen. Diese 1000 britischen Soldaten wurden selbst nicht alle auf einmal losgelassen; erst chargierten 200 und nahmen die russischen Werke; dann wurden weitere 200 als Verstärkung ausgeschickt; der Rest folgte in derselben Weise; und dann hielten 1000 britische Soldaten, einmal etabliert in der russischen Position, sie gegen sechs aufeinanderfolgende Angriffe und unter dem fortwährenden Front- und Enfilierfeuer der russischen Werke. Als der Morgen anbrach, war über die Hälfte ihrer Zahl tot oder verwundet; aber der Platz gehörte ihnen, und einige von ihnen hatten hier und da die Russen bis in den Redan verfolgt. Dies war eine Waffentat, wie sie keine 1000 Franzosen erreicht haben konnten. Aber die passive Ausdauer des britischen Soldaten unter Feuer kennt kaum eine Grenze, und wenn, wie in dieser Nacht, das Handgemenge die Form seines Lieblingsvergnügens, der Straßenboxerei, annimmt, dann ist er in seinem eigenen Element und wird zu eins gegen sechs mit dem größten Vergnügen der Welt loshauen.
Was die französische Attacke betrifft, >gibt uns General Pelissier lange Aufzählungen der in ihr engagierten Brigaden und Regimenter, und er hat für jedes von ihnen ein anerkennendes Wort; aber seine Darlegungen über die respektiven Positionen und Linien der Attacke jeder Kolonne sind durchaus undeutlich, während sein Bericht über den Fortgang der Aktion fast unverständlich ist, und eine Angabe der Verluste fehlt ganz. Durch Vergleichung dieses offiziellen Bulletins mit anderen Berichten können wir entnehmen, daß die Franzosen den Mamelon beim ersten Ausfall nahmen, den sich zurück
ziehenden Russen bis nach der Malachow-Bastion nachfolgten, hier und dort eindrangen, von den Russen zurückgeworfen wurden, den Mamelon wieder verloren, sich hinter ihm in einem Halbzirkel aufstellten und nach einem neuen Angriff schließlich Besitz davon ergriffen- Auf der anderen Seite der Kilen-balka wurde die Wolhynsk-Redoute mit geringem Verlust weggenommen; der Kampf um die Selenginsk-Redoute, die hinter ihr liegt, war ernsthafter, aber nicht zu vergleichen mit dem um den Mamelon. Infolge der übertriebenen Zahl von Truppen, die Pelissier auf die angegriffenen Punkte warf, und der unfügigen Kolonnen, die die Franzosen so gebildet haben müssen, muß ihr Verlust sehr bedeutend gewesen sein. Die Tatsache, daß darüber kein offizieller Bericht gegeben wurde, genügt, um das zu beweisen. Wir sollten annehmen, daß 1500-2000 Mann nicht übertriebene Zahlen sind. Die Russen waren in eigentümliche Umstände geraten. Sie konnten diese Außenwerke nicht mit zahlreicher Mannschaft garnisonieren, da dies sie sicherer Vernichtung durch die feindliche Artillerie ausgesetzt hätte, selbst bevor der Sturm versucht worden wäre. So konrten sie nur ein Minimum von Verteidigern in diesen Redouten halten und mußten sich auf das beherrschende Feuer ihrer Artillerie vom Malachow und Redan verlassen, ebenso wie auf die Aktion ihrer Reserven in der Festung. Sie hatten zwei Bataillone - ungefähr 800 Mann - im Mamelon. Doch die Redouten einmal genommen, kamen sie nie wieder in diese zurück, um sich richtig darin festzusetzen. Sie entdeckten, daß eine belagerte Armee sehr schnell eine Position verlieren, aber nicht einfach wiedergewinnen kann. Die Mamelon-Redoute war zudem so kompliziert in ihrer Konstruktion - durch Traversen und Blenden, die eine Art von Impromptu-Kasematten bildeten daß, obgleich wohlgedeckt gegen Artillerie, ihre Garnison beinahe hilflos war gegen einen Sturm, indem jede Abteilung kaum hinreichte, eine Kanone zu beherbergen und einen Mann zum Dienst derselben. Sobald daher das Geschütz demontiert war, hatte die Infanterie, bestimmt zur Verteidigung des Werkes gegen einen Sturm, keinen Raum für eine Position, von wo sie wirken konnte auf die Sturmkolonnen durch gleichzeitiges Feuern in Masse. Aufgebrochen in kleine Detachements, unterlag sie dem Ungestüm der Angreifenden und bewies von neuem, daß, wo sie nicht in großen Massen fechten kann, die russische Infanterie weder den Franzosen an Intelligenz oder raschem Blick noch den Engländern an verzweifeltem Bulldoggenmut gleichkommt. Dem Engagement des 7. folgte eine zehntägige Pause, während welcher Laufgräben vollendet und verbunden, Positionen der Batterien abgesteckt und Kanonen und Munition herbeigebracht wurden. Zugleich wurden zwei Reconnaissancen in das Innere des Landes vorgenommen. Die erste nach
Baidar, 12 Meilen von Balaklawa, auf dem Wege nach der Südküste, war nur eine vorläufige; die zweite gegen Aitodor, 6 Meilen über Tschorgun an der Tschornaja, wurde in der rechten Richtung vorgenommen. Aitodor liegtauf dem erhobenen Landstrich, der nach dem Tal des oberen Belbek führt, wo allein, wie wir lange zuvor konstatiert1, die russische Position bei Inkerman wirksam umgangen werden kann. Aber eine Kolonne zur Reconnaissance dahin zu senden und diesem Schritt nicht auf dem Fuße nachzufolgen durch Besetzung des Landstrichs mit Gewalt und sofort Operationen zu beginnen was heißt das, außer dem Feind Warnung zu geben, von welcher Seite er bedroht ist. Nun kann es sein, daß das Land um Aitodor sich unzugänglich erwies - doch wir bezweifeln es; und selbst in diesem Falle wäre die Intention eines Flankenmarsches zur Umgehung des Feindes zu Idar durch dies Manöver angedeutet. Wenn dieser Flankenmarsch lediglich als Scheinangriff dienen könnte, wäre es gut so; doch wir sind überzeugt, daß er zur Hauptbewegung gemacht werden muß, und deshalb sollte darauf nicht hingewiesen werden, bevor nicht die Alliierten wirklich die Absicht haben, ihn zu unternehmen. Statt jedoch diese schwache Demonstration im Felde weiter zu verfolgen, versuchte General Pelissier etwas ganz anderes. Der 18. Juni, der Tag von Waterloo11881, sah die englischen und französischen Truppen Schulter an Schulter marschierend, um die russischen Linien auf der rechten Attacke zu stürmen. Die Engländer attackierten den Redan, die Franzosen den Malachow. So sollte Waterloo gerächt werden; doch unglücklicherweise ging die Sache schief. Sie wurden beide nach einem fürchterlichen Blutbad zurückgeschlagen. Die offiziellen Listen geben ihre Verluste mit ungefähr 5000 an, doch wegen des bekannten Mangels an Wahrhaftigkeit in den französischen Angaben neigen wir dazu, sie um 50 Prozent höher anzuschlagen. Da keine Einzelheiten bekannt geworden sind, müssen die taktischen Züge dieser Schlacht für jetzt völlig beiseite gelassen werden. Was wir jetzt in Betracht ziehen können, ist ihre strategische und politische Natur. Pelissier wird von der gesamten Presse Europas als ein Mann angesehen, der nicht durch den Telegraphen aus Paris kommandiert werden will, sondern der fest entschlossen seinem eigenen Urteil gemäß handelt. Wir haben Gründe gehabt, diese besondere Art der Hartnäckigkeit zu bezweifeln; und die Tatsache seines Versuches, Waterloo „edelmütig" zu rächen, d.h. durch einen gemeinsamen Sieg der Franzosen und der Engländer, bestätigt unseren Zweifel vollständig. Der Gedanke einer solchen Tat konnte nur von Seiner Majestät, dem Kaiser der Franzosen, kommen - dem großen Anhänger der Jahres
1 Siehe vorl. Band, S. 231-235
tage, dem Manne, der in keinem Jahr den 2.Dezember[49] vorübergehen lassen kann, ohne irgendeinen außerordentlichen Trick zu versuchen; dem Manne, der vor der Pairskammer erklärt hat, es sei sein spezieller Beruf, Waterloo zu rächen. Es kann kein Zweifel darein bestehen, daß Pelissier die strengste Order hatte, die Schlacht von Waterloo durch einen glänzenden Jahrestag zu feiern. Die Art, in der er es ausgeführt, ist der einzige Teil der Angelegenheit, für den er verantwortlich ist. Der Sturm auf die Linien der Redoute von Karabelnaja muß, wie wir mehr als je überzeugt sind, als grober Fehler bewertet werden. Doch bevor wir den Mann gründlich kennen, werden wir fortfahren, Pelissier die Gunst aller Umstände zuzuschreiben, die bei dieser Entfernung von dem Kampfplatz einen Zweifel gestatten könnten. Nun kann es sein, daß die sanitären Verhältnisse auf dem Heraldeatischen Chersones - eine Sache, auf die wir seit langem die Aufmerksamkeit gelenkt haben - so schlecht sind, daß eine eilige Beendigung der Operationen auf diesem kleinen Stück Erde höchst wünschenswert wäre. Die Ausdünstungen der verwesenden Leichen von 25000 Menschen und 10000 Pferden sind solcherart, daß sie auf die Gesundheit der Armee während des Sommers gefährlich einwirken. Von den anderen dort angesammelten Abscheulichkeiten wollen wir gar nicht reden. Vielleicht denkt Pelissier, daß es in kurzer Zeit möglich sei, die Russen aus der Südseite zu vertreiben, den Platz vollkommen zu zerstören, nur wenige Leute zu seiner Bewachung zu belassen und das Feld dann mit einer starken Armee zu nehmen. Wir machen diese Unterstellung, weil wir es vorziehen, in den Handlungen eines alten Soldaten wenigstens einige vernünftige Motive zu sehen. Doch wenn das der Fall ist, dann hat er die Stärke des Platzes falsch eingeschätzt. Wir sagten vorhin, daß jeder Versuch, den Erfolg des 7. gegen die Stadt selbst entschieden zu verfolgen, vereitelt werden würde1; unsere Meinung ist durch die Ereignisse bestätigt worden. Wir sagten, daß der Schlüssel zu Sewastopol im Norden Inkermans läge; das Engagement des 18. scheint es zu beweisen. Somit sind wir bereit, zuzugeben, daß General Pelissier sich von vollständig logischen Betrachtungen leiten ließ, als er einen Sturm auf Karabelnaja einem Vorrücken im Felde vorzog; doch wir müssen zur gleichen Zeit zugeben, daß die Menschen an Ort und Stelle sehr geneigt sind, geringere Fakten zu Prämissen ihrer Folgerungen zu machen, und daß Pelissier durch den Mißerfolg am 18. überführt zu sein scheint, dieser Schwäche nachgegeben zu haben; denn wenn es Charakterstärke zeigt, zähe an einer vorgenommenen Sache festzuhalten, so zeigt es doch zugleich eine Schwäche an Intellekt,
1 Siehe vorl. Band, S. 289/290
dieser Sache auf Umwegen zu folgen, nur weil sie einmal begonnen worden ist. Pelissier würde recht haben, wenn er versuchte, Sewastopol auf alle Fälle zu nehmen; doch er hat offensichtlich unrecht, wenn er nicht sieht, daß der nächste Weg nach Sewastopol über Inkerman führt und die dortige russische Armee diese Stellung verteidigt. Wenn die Alliierten nicht sehr darauf bedacht sind, aus ihrer Superiorität Nutzen zu ziehen, werden sie sich in kurzer Zeit in einer sehr unangenehmen Lage befinden. Die Notwendigkeit, ihre Kräfte in der Krim zu verstärken, ward seit langem von Rußland gefühlt. Die Komplettierung der Reservebataillone der regulären Armee und die Aushebung und Organisation der Opoltschenie in 200 Bataillonen, wie besonders die Reduktion der österreichischen Observationsarmee auf 180000 Mann - wobei der Rest entweder in den Urlaub entlassen oder im Innern des Imperiums stationiert wurde -, bieten nun hierzu Gelegenheit, das zu tun. Infolgedessen wurde zu Odessa eine Reservearmee gebildet, wovon ungefähr 25000 Mann bei Nikolajew stationiert sein sollen, 12-15 Tagemärsche von Sewastopol. Auch zwei Divisionen Grenadiere sollen sich auf dem Marsch von Wolhynien befinden. Um die Mitte Juli, und vielleicht früher, können daher die Russen ihre numerische Superiorität wiedergewonnen haben, falls nicht ihre jetzt vor den Alliierten stehenden Truppen entscheidende Niederlagen in der Zwischenzeit erleben. Wir sind in der Tat darüber informiert, daß weitere 50000 Franzosen nach Toulon undMarseille zur Verschiffung marschieren; aber diese kommensicher zu spät und können wenig mehr tun, als die Lücken ausfüllen, die Schlacht und Krankheit (jetzt wieder in dem alliierten Lager erscheinend) in den Reihen verursachen. Die Operationen in dem Asowschen Meer haben den Russen eine Versorgungsquelle zerstört; doch da der Dnepr weit mehr als der Don das natürliche Tor für die russischen Getreidebezirke ist, besteht kein Zweifel daran, daß große Mengen davon sich in Cherson befinden - mehr als die Russen in der Krim für ihre Ernährung brauchen. Daher ist der Transport nach Simferopol nicht sehr schwierig. Wer immer von der Asowexpedition eine ernste und sofortige Wirkung für die Versorgung Sewastopols erwartet, befindet sich in einem großen Irrtum. Obgleich sich die Waage seit einiger Zeit zugunsten der Alliierten geneigt hat, so kann sie jetzt wieder ins Gleichgewicht kommen oder sich sogar zu ihren Ungunsten senken. Der Krimfeldzug ist noch bei weitem nicht entschieden» wenn die Russen unverzüglich handeln.
Geschrieben um den 29. Juni 1855. Aus dem Englischen.
22 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
Karl Marx
Mitteilungen verschiedenen Inhalts
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.303 vom 3.Juli 1855] London, 30. Juni. Da Lord Grosvenor verweigert, seine Stmday Trading Bill freiwillig zurückzunehmen, so erscheinen heute in den besuchtesten Straßen Londons Mauerplakate mit Einladungen zu einer abermaligen Monsterdemonstration in Hyde Park1 für morgen nachmittag. Das Haus war kindisch genug, auf Grosvenors Frage, ob die plötzliche Sinneswandlung der Majorität von dem Mob in Hyde Park inspiriert sei, mit lebhaftem No! Nol zu antworten. Im Vorbeigehen, auf die Anfrage eines torystischen Pairs, ließ Panmure fallen, daß die Minister eine Proklamation im Namen der Königin an die Armee erlassen haben, worin sie bestimmten Korps und bestimmten Regimentern - den auf dem Kriegsschauplatz befindlichen - nicht nur für die Periode ihres gegenwärtigen Dienstes, sondern für mehrere Monate rückwärts, eine bedeutende Lohnzulage und eine Vermehrung der Pensionen ankündigen. Diese Ankündigung ist vor der Hand im Namen der Königin geschehen, während das Haus der Gemeinen tagte, und ohne daß die Minister ihm irgendeine Mitteilung machten. Die Minister maßen sich so ein Recht an, das konstitutionell dem Haus der Gemeinen ausschließlich zusteht, den Sold der Truppen festzusetzen. Sie müssen allerdings in wenigen Wochen oder Tagen vor das Haus kommen, um die versprochenen Zuschüsse votiert zu erhalten. Aber die Proklamation ist dem Votum des Hauses vorhergeeilt. Verwürfe das Haus die Forderung, so geriete es in Konflikt mit der Armee. Dies die Antwort auf das Urteil des Roebuck-Komitees, daß das Ministerium verantwortlich für die Leiden der Armee. Dies ein Schritt in der von Prinz Albert angegebenen Richtung.
1 Über die erste Demonstration siehe vorl. Band S. 324-327
Bouveries Bill, die gestern in zweiter Lesung das Unterhaus passiert hat, ist wichtig für die englische Handelsgesetzgebung. Bisher wurde in England jeder, der einen bestimmten Anteil an den Profiten eines Handlungshauses besaß, als Associe betrachtet und war daher mit seinem ganzen Vermögen für die kommerziellen Verbindlichkeiten des Hauses verantwortlich. Nach Bouveries im Namen des Ministeriums eingebrachter Bill soll diese gesetzliche Funktion aufgehoben werden. Wichtiger noch ist seine Bill über Aktiengesellschaften. Bisher war jedes Mitglied einer solchen Gesellschaft nicht nur für den Betrag seiner Aktie, sondern mit seinem ganzen Vermögen für die Gesamtverpflichtungen der Gesellschaft haftbar. Nach der einen Bill wird die Haftbarkeit auf den Betrag des Aktienbesitzes der einzelnen Teilnehmer beschränkt, jedoch nur in Gesellschaften, deren Gesamtkapital mindestens 20 000 Pfd. St., deren Kontrakt unterzeichnet ist von Besitzern von Aktien zu dem Belauf von mindestens 15 000 Pfd. St., und wo ein Einsatz von mindestens 20 p.c. auf das Gesamtkapital eingezahlt ist. Die bloße Notwendigkeit solcher Gesetze beweist, wie sehr die Legislatur bisher in den Händen der hohen Finanz, der es gelang, innerhalb der ersten Handelsnation der Welt die Handelskontrakte den absurdesten und willkürlichsten juristischen Beschränkungen zu unterwerfen. Die neue Bill prätendiert, es sei ihr Prinzip, „Arbeit und kleine Kapitalisten auf einen Fuß der Gleichheit (handelsgesetzlich) mit dem großen Kapital zu stellen". Und wie wird dies ausgeführt? Dadurch, daß Aktienkapitalien unter dem Betrage von 20000 Pfd.St. von der Wohltat des einen Gesetzes ausgeschlossen und den alten Beschränkungen unterworfen bleiben. Daß das große Kapital, nicht zufrieden mit den überlegenen ökonomischen Waffen, womit es die Konkurrenz des kleinen bekämpft, in England noch zudem zu juristischen Privilegien und Ausnahmegesetzen seine Zuflucht nimmt, beweist überhaupt nichts schlagender als die englische Gesetzgebung über Aktiengesellschaften und Handelsgesellschaften im allgemeinen. Bis vor wenigen Jahren durfte z.B. eine Bank nicht mehr als 6 Teilnehmer zählen. Es dauerte lange, bis Aktiengesellschaften das Recht erhielten, im Namen ihres Vorstandes klagbar oder verklagt werden zu können. Um aber dieses Privilegiums teilhaft zu werden, müssen sie registriert oder inkorporiert sein, und ein Gesetz von 1837 bestimmt, daß die Krone nur inkorporieren darf auf einen Bericht vom Board of Trade1, so daß es in der Tat der Gnade des Board of Trade anheimfällt, ob eine Gesellschaft inkorporiert wird oder nicht. Banken, Wohltätigkeits- und wechselseitige Hilfsgesellschaften usw. bleiben ganz ausgeschlossen von der Wirkung der neuen Bill.
1 Handels- und Verkehrsministerium
Ein Tageblatt bringt heute folgende parlamentarische Statistik: die Zahl der Wahlkörperschaften beträgt 327. Von diesen 327 stehen unter Abhängigkeit von Wahlmagnaten: 9 von 1 Magnaten, 8 von 4, 7 von 1, 6 von 3, 5 von 8, 4 von 26, 3 von 29, so daß 297 Wahlkörperschaften von 72 Magnaten beherrscht sind. Bleiben sog. „independente" Wahlkörperschaften 30. Das Haus der Gemeinen zählt 654 Mitglieder, wovon 594 von den 297 abhängigen Wahlkörperschaften gewählt werden. Unter diesen 594 zählt man 274 Personen, die direkt mit derPairie verwandt sind oder der Aristokratie angehören.
Karl Marx Die Aufregung gegen die Verschärfung der Sonntagsfeier
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.307 vom 5. Juli 1855] London, 2. Juli. Die Anti-Sonntags-Bill-Demonstration wurde gestern im Hyde Park wiederholt, auf größerer Stufenleiter, unter drohenderen Auspizien, mit ernsteren Folgen. Die düstere Aufregung, die heute in London herrscht, ist des Zeuge. In den Plakaten, die zur Wiederholung des Meetings aufforderten, war gleichzeitig die Einladung enthalten, sich Sonntag um 10 Uhr morgens vor dem Hause des frommen Lörd Grosvenor zu versammeln und ihn auf seinem Kirchgang zu begleiten. Der fromme Herr hatte indes schon am Sonnabend London in einem Privatwagen - um inkognito zu reisen - verlassen. Wie er von Natur mehr dazu berufen ist, andere zu Märtyrern zu machen, als selbst Märtyrer zu werden, hatte schon sein Rundschreiben in allen Zeitungen Londons bewiesen, worin er einerseits an seiner Bill festhält, andererseits zu zeigen sich abmüht, daß sie sinn-, zweck- und bedeutungslos sei. Sein Haus blieb den ganzen Sonntag besetzt nicht mit Psalmsingern, sondern mit Konstablern, 200 an der Zahl. Ebenso das seines Bruders, des durch seinen Reichtum berühmten Marquis von Westminster. Sir Richard Mayne, der Chef der Londoner Polizei, hatte am Sonnabend die Mauern Londons mit Plakaten beklebt, worin er „verbot", nicht nur ein Meeting im Hyde Park abzuhalten, sondern auch sich in „großen Massen" dort zu versammeln und irgendwelche Zeichen des Beifalls oder Mißfallens kundzugeben. Resultat dieser Ukase war, daß selbst nach dem Bericht des Polizeizirkulars schon um halb 3 Uhr 150 000 Menschen aus allen Ständen und jeden Alters im Park auf- und abwogten und daß nach und nach die Menschenmasse zu Dimensionen anschwoll, die selbst für London riesenhaft und ungeheuerlich war. Nicht nur erschien London in Massenaufgebot; es bildete von neuem die Menschenspaliere an den beiden Seiten des Fahrwegs, längs der Serpentine, nur dichter und tiefer als am vergangenen Sonntag. Wer aber nicht erschien, war die Hautevolee. Im ganzen zeigten sich vielleicht 20 Wagen, davon die Mehrzahl kleine Gigs und Phaetons, die unbelästigt
passierten, während ihre stattlichem, weitbäuchigern, hochbockigern und mehr galonierten Brüder mit den alten Ausrufen begrüßt wurden und mit dem alten Tönebabylon, dessen Schallwellen diesmal die Luft auf eine Meile im Umkreis erzittern machten. Die Polizei-Ukase waren widerlegt durch die Massenversammlung und ihr tausendmündiges Lungenexerzitium. Die Hautevolee hatte den Kampfplatz vermieden und durch ihre Abwesenheit die Souveränität der vox populi anerkannt. Es war 4 Uhr geworden, und die Demonstration schien aus Mangel an Nahrungsstoff in harmlose Sonntagsvergnügung zu verpuffen. Aber das war nicht die Rechnung der Polizei. Sollte sie unter allgemeinem Gelächter abziehen, wehmütigen Scheideblick werfend auf ihre eignen Plakate, die am Portal des Parks in großen Buchstaben zu lesen waren? Zudem waren ihre Großwürdenträger zugegen, Sir Richard Mayne und die Oberintendanten Gibs und Walker hoch zu Roß, die Inspektoren Banks, Darkin, Brennan zu Fuß. 800 Konstabier waren strategisch verteilt, großenteils in Gebäuden und Ambuskaden versteckt. Stärkere Abteilungen waren stationsweise an benachbarten Orten zum Zuzug aufgestellt. Die Wohnung des Hauptaufsehers des Parks, das Pulvermagazin und die Gebäulichkeiten der Rettungsgesellschaften, alle gelegen an einem Punkte, wo der Fahrweg längs der Serpentine in einen Pfad nach Kensington Gardens übergeht, waren in improvisierte Blockhäuser verwandelt, mit starken Polizeibesatzungen, zur Unterbringung von Gefangenen und Verwundeten eingerichtet. Droschken standen aufgepflanzt an der Polizeistation von Vine Street, Piccadilly, um nach dem Kampfplatz zu fahren und von dort die Besiegten unter sicherem Geleit abzuholen. Kurz, die Polizei hatte einen Feldzugsplän entworfen, „energischer", wie die „Times" sagt, „als irgendeiner, von dem wir noch in der Krim gehört haben". Die Polizei bedurfte blutiger Köpfe und Verhaftungen, um nicht ohne Mittelglied aus dem Erhabenen in das Lächerliche zu fallen. Sobald sich daher die Menschenspaliere mehr gelichtet und die Massen ferner ab vom Fahrweg in verschiedenen Gruppen auf den ungeheuren Räumen des Parks verteilt waren, faßten ihre Chefs Posto in der Mitte des Fahrwegs, zwischen den beiden Spalieren, und erteilten von ihren Rossen herab wichtigtuende Befehle rechts und links. Angeblich zum Schutze der vorbeipassierenden Wagen und Reiter. Da aber Wagen und Reiter ausblieben, also nichts zu beschützen war, begannen sie „unter falschen Vorwänden" einzelne Individuen aus der Masse herausgreifen und verhaften zu lassen, nämlich unter dem Vorwand, sie seien pickpockets (Taschendiebe). Als diese Experimente zahlreicher wurden und der Vorwand nicht mehr Stich hielt, ein einziger Schrei durch die Massen lief, brachen die versteckten Konstablerkorps aus ihren
Ambuskaden hervor, ließen ihre Knüppel aus der Tasche springen, schlugen blutige Köpfe, rissen hier und da ein Individuum aus der Menge (im ganzen sind 104 so verhaftet worden) und schleppten sie nach den improvisierten Blockhäusern. Die linke Seite des Fahrwegs ist nur durch einen schmalen Strich vom Wasser der Serpentine getrennt. Durch ein Manöver drängte ein Polizeioffizier mit seiner Schar die Zuschauer hier dicht an den Rand des flüssigen Elements und drohte ihnen mit einem Kaltwasserbad. Ein Individuum, um dem Polizeiknüppel zu entrinnen, schwamm durch die Serpentine ans andre Ufer; ein Polizist setzte ihm aber mit einem Boot nach, erwischte ihn und brachte ihn triumphierend zurück. Wie hatte sich die Physiognomie der Szene verwandelt seit letztem Sonntag! Statt der Staatskarossen schmutzige Droschken, die von der Polizeistation zu Vine Street nach den improvisierten Gefängnissen im Hyde Park und von hier nach der Polizeistation auf- und abfuhren. Statt der Lakaien auf dem Bocke ein Konstabier neben dem versoffenen Droschkenkutscher. Statt der eleganten Herren und Damen im Innern der Wagen Gefangene mit blutenden Köpfen, zerzaustem Haar, entblößt, mit zerrissenen Kleidern, bewacht von konfiszierten Gestalten, aus dem irischen Lumpenproletariat in Londoner Polizisten gepreßt. Statt der wedelnden Fächer der sausende Lederknüttel (der Truncheon des Konstabiers). Die herrschenden Klassen hatten am vergangenen Sonntag ihre fashionable Physiognomie gezeigt, diesmal zeigten sie ihre Staatsphysiognomie. Der Hintergrund der freundlich grinsenden alten Herren, der modischen Stutzer, der vornehm-hinfälligen Witwen, der in Kaschmir, Straußfedern, in Diamant- und Blumengirlanden duftenden Schönen - war der Konstabier, mit dem wasserdichten Rock, dem schmierigen Ölhute und dem Truncheon. Es war die Kehrseite der Medaille. Die Masse hatte sich vergangenen Sonntag die herrschende Klasse in individueller Erscheinung gegenüber. Diesmal erschien sie als Staatsgewalt, Gesetz, Truncheon. Diesmal war Widerstand Insurrektion, und der Engländer muß lange und langsam geheizt werden, ehe er insurgiert. Daher im ganzen die Gegendemonstration beschränkt auf Auszischen, Ausgrunzen, Auspfeifen der Polizeifuhrwerke, auf isolierte und schwache Versuche zur Befreiung der Gefangenen, vor allem auf passiven Widerstand in phlegmatischer Behauptung des Kampfplatzes. Charakteristisch war die Rolle, die die Soldaten, teils der Garde, teils dem 66. Regiment angehörig, in diesem Schauspiel übernahmen. Sie waren zahlreich vertreten. Ihrer zwölf, Garden, einige mit Krimmedaillen dekoriert, befanden sich in einer Gruppe von Männern, Weibern und Kindern, worauf die Polizeiknüppel spielten. Ein alter Mann stürzte zu Boden, von einem
Schlag getroffen. „Die Londoner Stiflstaffs" (Schimpfnamen für die Polizei) „sind schlimmer, als die Russen bei Inkerman11111 waren", rief einer der Krimhelden. DiePolizei legte Hand an ihn. Er ward sofort befreit unter dem lauten Ruf der Menge: „3 cheers für die Armee!" DiePolizei hielt es für ratsam, sich zu entfernen. Unterdessen war eine Anzahl Grenadiere hinzugekommen, die Soldaten bildeten eine Truppe und, umwogt von der Masse, unter dem Ruf: „Es lebe die Armee, nieder mit der Polizei, nieder mit der Sonntagsbill!" stolzierte sie im Park auf und nieder. Die Polizei stand unschlüssig, als ein Sergeant von der Garde erschien, sie wegen ihrer Brutalität laut zur Rede stellte, die Soldaten beschwichtigte und einige von ihnen überredete, ihm zur Kaserne zu folgen, um ernstere Kollisionen zu vermeiden. Die Mehrzahl der Soldaten aber blieb zurück und machte mitten unter dem Volke in ungemessenen Ausdrücken ihrer Wut gegen die Polizei Luft. Der Gegensatz zwischen Polizei und Armee ist alt in England. Dieser Augenblick, wo die Armee das „pet child" (das verwöhnte Kind) der Massen, ist sicher nicht geeignet, ihn abzuschwächen. Ein alter Mann, namens Russell, soll infolge der erhaltenen Wunden heute gestorben sein; ein halbes Dutzend Verwundeter befindet sich im St. Lxeorge s Hospital. Während der Demonstration wurden wieder verschiedene Versuche zur Abhaltung partieller Meetings gemacht. In einem derselben, bei Albert Gate, außerhalb des von der Polizei ursprünglich besetzten Teils des Parks, harangierte ein Anonymus sein Publikum ungefähr wie folgt:
»Männer von Alt-England! Erwacht, erhebt euch von eurem Schlummer oder fallt für immer: Leistet jeden Sonntag Widerstand gegen die Regierung! Geht zur Kirchenbill, wie ihr heute getan habt. Fürchtet nicht, die euch zustehenden Rechte herauszufordern, schüttelt vielmehr die Fesseln oligarchischer Unterdrückung und Gewaltherrschaft ab. Wenn nicht, so werdet ihr unwiederbringlich niedergeworfen werden. Ist es nicht eine Schande, daß die Einwohner dieser großen Metropole, der größten in der zivilisierten Welt, ihre Freiheiten den Händen eines Lord Grosvenor oder eines Mannes wie Lord Ebrington überantworten sollen! Seine Herrlichkeit fühlt das Bedürfnis, uns in die Kirche zu treiben und uns durch Parlamentsakt religiös zu machen. Das ist ein vergeblich Unternehmen. Wer sind wir, und wer sind sie! Betrachtet den gegenwärtigen Krieg. Wird er nicht geführt auf Kosten und mit dem Blut der produktiven Klassen? Und was tun die unproduktiven? Sie verhunzen ihn.*4
Redner und Meeting ward natürlich von der Polizei unterbrochen. In Greenwich, in der Nähe des Observatoriums, hielten die Londoner ebenfalls ein Meeting von 10000-15000 Personen. Ebenfalls von der Polizei unterbrochen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Konflikte zwischen Polizei und Volk Uber die Ereignisse auf der KrimE197]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 313 vom 9. Juli 1855] London, 6. Juli. Seit Montag bis gestern abend war London Zeuge einer ununterbrochenen Reihe von Konflikten zwischen Polizei und „Mob", die erstere mit ihren Knüppeln herausfordernd, die zweite mit Steinen antwortend. Wir sahen Szenen in Marlborough Street und den umliegenden Straßen aufgeführt, die lebhaft an Paris erinnerten. Duncombe trug gestern abend im Unterhause auf Untersuchung der „schurkischen und brutalen" Aufführung der Polizei am vergangenen Sonntag an. Die Massen beabsichtigen, übermorgen die Klubhäuser in Pall Mall zu besuchen. Die Chartisten bezwecken eine bewaffnete (nicht mit Säbeln und Flinten, sondern mit Arbeitswerkzeugen und Stöcken) Prozession von Blackfriars Bridge nach dem Hyde Park mit Fahnen mit der Inschrift: „No Mayne law". (Kein Mayne-Gesetz. Dies ist absichtliche Zweideutigkeit. Maine law ist bekanntlich der Name des die Spirituosen Getränke exkommunizierenden amerikanischen PuritanerGesetzes. Mayne der Name des Chefs der Londoner Polizei.) Man hat aus früheren Berichten ersehen1, wie die Demonstrationen im Hyde Park vom Instinkt der Massen improvisiert wurden. Die Gärung wurde dann gesteigert und konsolidiert durch die herausfordernde Brutalität der Polizei, deren Chef, Sir Richard Mayne, sich des Ordens würdig zeigte, den er von Paris her erhalten. In diesem Augenblicke jedoch lassen sich schon verschiedene Parteien unterscheiden, die die Massenbewegung voranzutreiben, zu lenken und zu weitergehenden Zwecken zu benutzen suchen. Diese Parteien sind: Erstens die Regierung selbst. Während Bonapartes Anwesenheit zu London verschwand wie durch Zauber jeder gegen ihn gerichtete Maueranschlag. Jetzt läßt die Polizei die heftigsten Plakate ruhig an ihrem Platze haften. Alles
1 Siehe vorl. Band, S. 318-327 und 341-344
zeigt eine versteckte Absicht: die anbefohlene Brutalität der Konstabier, die herausfordernde Sprache der Regierungsadvokaten vor dem Marlborough court1, das ungesetzliche Anwenden der Verhafteten auf der treadmillfI9S], der insultierende.Ton der offiziellen Zeitungen, das schwankende Auftreten des Kabinetts im Parlament. Sollte Palmerston eines Coup d'etat im kleinen bedürfen, um sein Ministerium zu halten, oder großer innerer Wirren, um die Aufmerksamkeit von der Krim abzulenken ? Wenn wir diesen waghalsigen und unter dem Scheine frivoler Flachheit tiefe und unerbittliche Berechnung versteckenden Staatsmann kennen, halten wir ihn, wie Voltaire den Habakuk, „capable de tout"2. Zweitens die Administrativreformer[U0K Sie suchen die Massenbewegung teils zur Einschüchterung der Aristokratie, teils als Mittel zur Gewinnung eigener Popularität auszubeuten. Daher erschien Ballantine in ihrem Namen und auf ihre Rechnung vor dem police-court3 in Marlborough Street als Verteidiger der letzten Sonntag Inhaftierten. Daher kauften sie sämtliche Verurteilte gestern durch Hinterlegung der Strafgelder los. Daher verteidigen ihre Blätter dep „Mob" (wie der ministerielle „Globe" das Volk nennt) und greifen Polizei und Ministerium an. Drittens die Chartisten, deren Zwecke selbstredend sind. Die offiziellen und Privatberichte über den unglücklichen Angriff vom 18.Juni sind endlich erschienen. Die Veröffentlichung der offiziellen Depeschen wird mehrere Tage hindurch aufgeschoben, und dazu war sicher Grund vorhanden. Von allen Stümpereien in der orientalischen Angelegenheit ist dies sicher das vollkommenste Muster. Die französischen vorgeschobenen Laufgräben waren 400-500, die englischen 500-700 Yards von den russischen Batterien entfernt. Diese Distanzen bezeichnen die Länge des Wegs, den die Angriffskolonnen, ungedeckt gegen russisches Feuer und unterstützt von dem Feuer ihrer eigenen Artillerie, zu durcheilen hatten in einem Sturmlauf, der jede Spur von Ordnung vernichten mußte und sie dem Gewehrfeuer hilflos aussetzte während 3-5 Minuten - ein Zeitraum, durchaus hinreichend, um sie völlig zu desorganisieren. Diese Tatsache allein charakterisiert den ganzen Plan. Bevor das feindliche Feuer vollständig zum Schweigen gebracht und die Anhäufung großer Truppenmassen in den feindlichen Werken effektiv verhindert war durch heftiges vertikales Bombenfeuer, fehlte auch die schwächste Chance des Erfolgs. Die Russen scheinen die Pläne der Alliierten richtig beurteilt zu haben, wenn sie nicht, wie Pelissier unterstellte, vorher davon unterrichtet waren.
1 Gericht in der Marlborough Street - 2 „zu allem fähig" - 8 Polizei gericht
Sie erwiderten das Feuer der Alliierten nur schwach am 17., zogen ihre Kanonen während des Tags hinter die Brustwehren zurück und trafen überhaupt solche Vorkehrungen, daß kaum eine für das nächste Tagwerk nötig wurde. Während der Nacht wurden die Kanonen in ihre Positionen zurückgebracht und die zur Verteidigung bestimmten Kolonnen und Reserven postiert. Der ursprünglich zwischen Pelissier und Raglan verabredete Plan war, das Feuer wieder zu eröffnen bei Tagesanbruch des 18., es während einiger Stunden mit aller möglichen Heftigkeit fortzusetzen und dann plötzlich und gleichzeitig sieben Sturmkolonnen vorwärts zu lancieren - eine (französisch) gegen die Bastion dicht an der Kielholbay, 2 (französisch) gegen die MalachowBastion, 3 (englisch) gegen den Redan und eine (englisch) gegen den Knäuel von Häusern und den Kirchhof, zwischen dem Redan und dem Kopf des innern Hafens. Sollte einmal ein Sturm überhaupt stattfinden, so war dieser Plan verständig genug. Seine Ausführung würde das russische Feuer zum Schweigen gebracht und die zur Verteidigung konzentrierten russischen Massen zerstreut haben, bevor noch der eigentliche Angriff begann. Andrerseits würden die alliierten Truppen allerdings vom russischen Feuer zu leiden gehabt haben, wahrend sie sich in den Laufgräben drängten, und die Verteidiger würden wahrscheinlich die Gegenwart der zum Bajonettangriff der Position bestimmten Kolonnen bald entdeckt haben. Dies war jedoch das geringere Übel. Mit all seinen Fehlern blieb der Originalplan der beste unter einmal gegebenen Umständen. Wie er vereitelt, wie Pelissiers Vorschußlorbeerkronen verwittert, wie die alliierte Armee unter den schützenden Adlern des restaurierten Kaisertums ein „Balaklawa der Infanterie"[3] erlebt darüber morgen. Der jetzige Sommer scheint den „Heiligen" schwere Prüfungen aufzubewahren. Der erste Wechselhändler von London, das sichtbare Haupt der Quäker, der ebenso reiche als fromme Gurney (Bunsens Sohn hat eine seiner Töchter geheiratet) erscheint arg kompromittiert in dem fraudulösen Strand1Bankrutt. Er diskontierte dem Strahan und Komp. 37 000 Pfd. St. auf Wechsel, während er sie bankrutt wußte, befähigte sie so für einige Monate, das Publikum weiter zu beschwindeln, und verstand, sich selbst ohne Verlust herauszuziehn. Die profane Presse ergeht sich in schadenfrohen Betrachtungen über die Sündigkeit selbst der Auserwählten.
1 Stadtteil Londons
Friedrich Engels
Uber den Sturm vom 18. [Juni]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.317 vom 11.Juli 1855] London, 7. Juli. Wir haben gestern den Originalplan der Alliierten für den Sturm vom 18.Juni auseinandergesetzt. Sehr spät am Abend des 17. erfuhr Pelissier, daß die Russen einen großen neuen Angriff auf den Mamelon für den nächsten Tag beabsichtigten. Dies hätte er als einen wahren Glücksschlag betrachten müssen; denn die Verteidigung des Mamelon gegen jede Streitkraft, die die Russen darauf werfen konnten, mußte über jeden Zweifel erhaben sein. Wie hätte sonst der Mamelon (jetzt Brancion-Redoute getauft) als Operationsbasis für den Sturm auf Malachow dienen können? So würden die Russen, unterlegen in ihrem Angriff auf den Mamelon, sich in der fatalen Lage befunden haben, eine zweite Schlacht für Malachow zu schlagen, und unter diesen Umständen scheint der Erfolg der Operationen gegen die letzte Position so gut wie sicher gewesen zu sein. Pelissier aber verstand es anders. Er widerrief, spät in der Nacht, die Kanonade und vesordnete den Sturm für 3 Uhr morgens. Das Signal sollte durch drei Raketen gegeben werden. Die Engländer wurden ebenfalls unterrichtet von diesem Wechsel in der Disposition. Dies Verfahren endete, wie es enden mußte, in der Art, wie Napoleon, der echte Napoleon, das Schicksal schwankender und stümpernder Generale beschreibt: „Ordre, Contreordre, Desordre." Eine halbe Stunde vor der anberaumten Zeit wurde die äußerste rechte französische Kolonne mit dem Feind engagiert. Ob die Russen sie herauslockten durch einen Scheinausfall oder ob, wie Pelissier sagt, der General eine französische Bombe für die Signalraketen ansah, ist nicht ganz klar. Jedenfalls war Pelissier gezwungen, sein Signal zu überstürzen, und die Kolonnen, noch damit beschäftigt, die ihnen angewiesenen Plätze in den Laufgräben zu suchen, hatten sich in halber Ver
wirrung, und zum Teil von andern Angriffspunkten als den angewiesenen, in Bewegung zu setzen. Die mittlere französische Kolonne, bestimmt, die Flanke des Malachow zu umgehen, erreichte ihr Ziel und drang in die russischen Werke; aber die zwei andern Kolonnen konnten keine Bahn brechen in dem Hagel von Kartätschen- und Musketenfeuer, das sie empfing. Jede Kolonne bestand in einer Brigade von vier Bataillons; die zweite Brigade jeder Division befand sich in zweiter Linie, während die Garde die allgemeine Reserve bildete. So waren ungefähr vier Divisionen oder 20000 Mann disponibel. Die zweite Linie wurde vorgesandt zur Unterstützung der ersten Attacke, aber vergeblich; die Garde wurde endlich vorwärts kommandiert, aufgehalten und schließlich auch zurückgeworfen. Nur 2 Bataillons blieben disponibel. Es war halb 9 geworden. Die Brigade der mittleren Kolonne, die in die russischen Werke eingedrungen war, wurde herausgeworfen; auf jedem Punkte waren die Franzosen mit großem Verlust zurückgetrieben, und frische Truppen waren nicht zur Hand. Die Engländer waren ebensowenig erfolgreich. Pelissier gab Befehl zur Retirade, die, wie er sagt, „mit Würde" bewerkstelligt ward. Auf der englischen Seite zählten die leitenden Kolonnen jede nur 1800 Mann, 1000 Mann weniger als die französischen. Von diesen 1800 waren 1000 zum Kämpfen bestimmt, 800 zur Ausführung der nötigen Arbeiten. In zweiter Linie hinter jeder Kolonne stand der Rest der Brigade, der sie entlehnt war, 1200-1400 Mann. In dritter Linie die zweite Brigade jeder Division hinter ihrer ersten Brigade. Schließlich bildeten die Garden und Hochschotten (erste Division) die allgemeine Reserve. So waren von der ganzen auf dem Platze versammelten englischen Infanterie nur 7200 Mann im ersten Ausfall vorwärts zu lancieren, und von diesen sollten nur 4000 Mann wirklich am Kampf teilnehmen. Diese Dünne in den ersten Kolonnen war verursacht teils durch die Traditionen des britischen Dienstes, teils durch ihre Gewohnheit, in Linie anzugreifen. Alle Berichte lassen schließen, daß sie selbst bei dieser Gelegenheit in Linie angegriffen und so eine nutzlos ausgedehnte Zielscheibe den feindlichen Kugeln darboten. Die Verwickelung, verursacht durch die Aufstellung vier verschiedener Linien, eine hinter der andern, in engen und unregelmäßigen Laufgräben, schuf große Unordnung und Unheil vom Beginn und mußte äußerste Verwirrung hervorrufen, wäre der Kampf irgendwie ernsthaft geworden. Die erste und dritte Kolonne (von der Rechten zur Linken) sollten die Flanken des Redan umgehen, während die zweite seinen hervorspringenden Winkel angreifen sollte, sobald sie ihren Zweck erreicht hätten. Die vierte oder äußerst linke Kolonne sollte den Kopf des innern Hafens angreifen.
Sobald das Signal gegeben wurde, waren die Kolonnen, gerade wie die französischen, noch in Bewegung nach ihren respektiven Positionen. Die erste Kolonne jedoch übersprang die Brustwehr der Laufgräben und wurde sofort von einem mörderischen Kartätschenfeuer begrüßt. Die Truppen, durch das Klettern in Unordnung gebracht, konnten sich nicht formieren. Oberst Yea, ihr Kommandant, schrie bereits nach einem Trompeter, um den Rückmarsch blasen zu lassen; kein Trompeter war zu finden, und voran stürmten sie in großer Unordnung. Einige drangen vor in die Abattis, die den Redan umgeben, aber umsonst. Die Masse der Kolonne fiel plötzlich zurück und suchte den Schutz der Laufgräben. Die dritte Kolonne avancierte eine oder zwei Minuten spater. Sie verfehlte ihren Weg und stürmte auf die Fassade des Redan statt auf die Flanke. Sie taumelte vorwärts unter einem furchtbaren Hagel von Projektilen, wurde gebrochen und retirierte in völliger Auflösung nach einigen wenigen Minuten. So endete die Attacke auf den Redan, bevor irgendeine der komplizierten Reserven Lord Raglans Zeit fand, zu ihrer Unterstützung herbeizukommen. Die zweite Kolonne war so überrumpelt von diesem plötzlichen Zusammenbruch ihrer Flankenunterstützungen, daß sie nicht einmal ihre Laufgräben verließ. Der vierten Kolonne allein gelang es, sich in dem Kirchhofe und den umgebenden Häusern festzusetzen. Hier hielten ungefähr 1800 Mann während des ganzen Tages aus; sie konnten nicht retirieren, denn der Grund hinter ihnen war offen und unter dem Kreuzfeuer der Russen. So kämpften sie so gut sie konnten bis 9 Uhr abends, als sie ihren Rückweg im Dunkeln bewerkstelligten. Ihr Verlust betrug mehr als ein Drittel ihrer Anzahl. So endete Pelissiers große Attacke auf die Karabelnaja-Vorstadt. Es war ein Unternehmen, hastig beschlossen, hastiger verändert in seinen Hauptzügen kurz vor dem entscheidenden Augenblicke, und mit außerordentlicher Stümperhaftigkeit ausgeführt. Jener russische Offizier hatte recht, der einen englischen Offizier während des Waffenstillstands vom 19. fragte: „Waren eure Generale gestern betrunken, als sie den Sturm kommandierten?"
Karl Marx
Aus dem Parlamente [- Die Anträge Roebucks und Bulwers]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 323 vom 14. Juli 1855] London, 1 I.Juli. Roebucks Antrag auf Zensur sämtlicher Mitglieder des alten Koalitionskabinetts ist bekanntlich für nächsten Dienstag angezeigt. Während zahlreiche Meetings in Birmingham, Sheffield, Newcastle usw. zur Unterstützung seines Antrags abgehalten und gleichzeitig Petitionen dafür in allen Winkeln Londons öffentlich gezeichnet werden, flüchten sich die Parlamentsmitglieder nach Paris, Neapel, auf ihre Landhäuser, um der Abstimmung aus dem Wege zu laufen. Roebuck, um dies von Palmerston in jeder Weise unterstützte Ausreißen zu hemmen, verlangte gestern Ermächtigung, nächsten Dienstag einen „Call"1 an das Unterhaus zu erlassen. Der „Call" ist eine alte parlamentarische Formel, seit den Zeiten der katholischen Emanzipationsdebatte in Vergessenheit geraten. Bei Eröffnung der Sitzung werden nämlich die Namen aller Parlamentsmitglieder aufgerufen. Die Fehlenden verfallen der Verhaftung durch den parlamentarischen Serjeant-ofarms2, öffentlicher Abbitte vor dem versammelten Haus und der Erlegung gewisser Strafgelder. Das Unterhaus versagte jedoch Roebuck das Zwangsmittel des „Call" mit einer Majorität von 133 gegen 108 Stimmen. Nichts [ist] überhaupt charakteristischer für das britische Parlament und seine Organe in der Presse als das Verhalten zu Roebucks Motion. Die Motion geht von keinem Mitglied der „offiziellen" Opposition aus. Das ist ihr erster Makel. Sie ist gerichtet nicht nur gegen Mitglieder des bestehenden, sondern auch gegen Mitglieder des aufgelösten Kabinetts. Sie ist daher kein reines Parteimanöver. Sie erklärt die Sünden eines alten Ministeriums ungesühnt durch die Bildung eines neuen Ministeriums. Sie bildet die Brücke zu einem Antrage auf Versetzung in Anklagezustand. Das ist der andere große Makel dieser Motion. Die offizielle Opposition will den parlamentarischen Krieg natürlich nur
1 „Verlesen» Aufrufen nach einer Liste" - 2 (eigentlich:) bewaffneter Begleiter (ursprünglich des Königs); der Stabträger im Parlament
„innerhalb der Grenzen des Ministerwechsels" führen. Sie ist weit entfernt, gegen ministerielle Verantwortlichkeit Krieg zu führen. Die Clique der Outs1 ist nicht minder ängstlich um die Erhaltung der ministeriellen Allmacht bekümmert wie die Clique der Ins2. Das Geschick des parlamentarischen Kampfes besteht ja eben darin, daß im Handgemenge nie das Amt, sondern stets nur sein augenblicklicher Inhaber getroffen wird, und auch der Inhaber nur so weit, daß er fähig bleibt, als Ministerkandidat aufzustehen in demselben Augenblicke, wo er als Minister gefallen ist. Die Oligarchie verewigt sich nicht durch den beständigen Besitz der Gewalt in derselben Hand, sondern dadurch, daß sie die Gewalt abwechselnd aus ihrer einen Hand fallen läßt, um sie mit ihrer andern aufzufangen. Die Tories sind daher mit Roebucks Antrag so unzufrieden wie die Whigs. Was die Presse betrifft, so ist die „Times" hier entscheidend. Welches Blatt schrie lauter für die Niedersetzung des Roebuck-Komitees, solange es dienen sollte, einerseits einen Ministerwechsel herbeizuführen, andererseits einen Abzugskanal für die öffentliche Leidenschaft zu graben? Von dem Augenblicke aber, wo Roebuck vortritt und, gestützt auf die Resultate seines Komitees, alle Mitglieder der Koalition der ausdrücklichen Zensur des Parlaments preiszugeben droht, welches Blatt beobachtet eine hartnäckigere Totenstille als die „Times"? Roebucks Antrag existiert nicht für sie; der gestrige Zwischenvorfall im Parlament wegen des „Call" existiert nicht für sie; die Meetings von Birmingham, Sheffield usw. existieren nicht in ihren Spalten. Roebuck selbst ist natürlich kein Brutus. Einerseits sah er seine langjährigen Dienste elend von den Whigs belohnt. Andererseits stehen seine Kommittenten hinter ihm. Er ist der Repräsentant einer zahlreichen Wahlkörperschaft, die er in Popularität zahlen muß, da er sie nicht in barem Gelde zahlen kann. Endlich kann die Rolle des modernen Warwick, des parlamentarischen Königmachers, dem ehrgeizigen, aber bisher kaum erfolgreichen Advokaten wenig mißfallen. Die Tories, als Opposition, dürfen Roebucks Motion natürlich nicht in derselben Art bekämpfen wie die Whigs. Sie suchen ihr daher zuvorzukommen. Dies das Geheimnis von Bulwers Antrag auf ein Mißtrauensvotxxm gegen das Ministerium, gestützt auf Lord John Russells sonderliche Enthüllungen über die Wiener Konferenzen1171. Bulwers Antrag bewegt sich rein „innerhalb" der Grenzen des Ministerwechsels. Er nimmt das Schicksal des Ministeriums aus den Händen Roebucks heraus. Geht er durch, so sind es die Tories, die die Whigs gestürzt haben; und einmal mit
1 (jener, die nicht im Amt, im Ministerium sind) Opposition - 2 (jener, die im Amt, im Ministerium sind) Regierung
Aus dem Parlamente - Die Anträge Roebucks und Bulwers 353
dem Ministerium bekleidet, verböte konventionelle „Großmut", ihren Sieg zu verfolgen und Roebuck weiter zu unterstützen. Aber die Pfiffigkeit der Tories befähigt zugleich Palmerston, von den alten parlamentarischen Kunststücken Gebrauch zu machen. Russells Entlassung - freiwillig oder gezwungen das pariert Bulwers Antrag, wie Bulwer den Antrag Roebucks pariert hat. Russells Austritt würde das Palmerston-Kabinett unfehlbar stürzen, ereignete er sich nicht kurz vor Schluß der Session. Jetzt aber mag er umgekehrt sein Kabinett verlängern. Wenn so, so hat kein englischer Minister vor Palmerston mit gleichem Geschick und Glück das Volksgeschrei benutzt, um sich den parlamentarischen Parteien, und die kleinen parlamentarischen Interessen, Fraktionen, Formalitäten, um sich dem Volke aufzudrängen. Er gleicht dem verwünschten Greis, den Sindbad, der Seemann, unmöglich fand abzuschütteln, nachdem er ihm einmal erlaubt hatte, auf seine Schultern zu steigen.
Karl Marx
Aus dem Parlamente [- Bulwers Antrag - Die irische Frage]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 325 vom 16. Juli 1855] London, 13. Juli. In den Geheimnissen der Jurisprudenz Uneingeweihte begreifen schwer, wie in dem einfachsten Rechtshandel unerwartet Rechtsfragen auftauchen, die nicht der Natur des Rechtshandels, sondern- den ^Vorschriften und Formeln der Prozeßordnung ihr Dasein verdanken. Die Handhabung dieser Rechtszeremonien macht den Advokaten, wie die Handhabung der Kirchenzeremonien den Brahminen macht. Wie in der Fortentwickelung der Religion, so wird in der Fortentwickelung des Rechts die Form zum Inhalt. Was aber die Prozeßordnung für Gerichtshöfe, das ist die Tagesordnung und das Reglement für gesetzgebende Körper. Die Geschichte der agrarischen Gesetze beweist, daß die alten römischen Oligarchen, die Erfinder der Schikane im Rechtsverfahren, auch zuerst in die Gesetzgebung die Prozedur-Schikane einführten. Nach beiden Richtungen sind sie von England überboten worden* Die technischen Schwierigkeiten, einen Antrag auf die Teigesordnung zu bringen, die verschiedenen Metamorphosen, die eine Bill durchlaufen muß, um sich in ein Gesetz zu verwandeln; die Formeln, die dem Gegner eines Antrages oder einer Bill erlauben, den einen nicht in das Haus herein- und die andere nicht aus dem Hause herauszulassen, dies alles bildet ein unerschöpfliches Arsenal parlamentarischer Schikane, Rabulisterei und Taktik. Vor Palmerston jedoch hat kein anderer englischer Minister dem Hause der Gemeinen so völlig Aussehn, Ton und Charakter einer Court of Chancery11903 verliehen. Wo die Diplomatie nicht ausreicht, flüchtet er zur Schikane. Unter seiner Hand verwandelt sich jede Debatte über einen mißliebigen Antrag in eine vorläufige Debatte über den Tag, wann die Debatte wirklich stattfinden und der Kasus plädiert werden soll. So mit Milner Gibsons Motion, so mit Layards Motion, so jetzt mit der Motion Bulwers. Bei der überfüllten Tages
Aus dem Parlamente - Bulwers Antrag - Die irische Frage 355
Ordnung am Schlüsse der Session1 wußte Bulwer seinen Antrag nur vorzubringen an einem Tage, wo sich das Haus in ein Committee of Supply12001 verwandelt, d. h. wo das Ministerium Geldforderungen an das Haus der Gemeinen stellt. Freitag ist gewöhnlich für dies Geschäft bestimmt. Es hängt indes natürlich vom Ministerium ab, wann es Geld von den Gemeinen verlangt, und daher, wann das Haus sich in ein Committee of Supply verwandelt. Palmerston erklärte Bulwer sofort, er werde diesen Freitag nicht in Supply gehn, wie der technische Ausdruck ist, sondern mit der Bill über die beschränkte Verantwortlichkeit in Handelskompanien voranfahren. Bulwer möge sich selbst „seinen Tag" suchen. Disraeli zeigte daher vergangenen Dienstag an, er werde am nächsten Donnerstag (gestern) an das Haus appellieren, um diese Schikane zu beseitigen. Palmerston kam ihm zuvor. Er erhob sich in der gestrigen Sitzung und erklärte unter allgemeinem Gelächter des Hauses, es sei sicher nicht sein Zweck gewesen, die Debatte über Bulwers Mißtrauensvotum zu verzögern und das ehrenwerte Haus durch technische Schwierigkeiten an der Fällung seines Urteils zu verhindern. Aber die nachträglichen"'Aktenstücke über die Wiener Konferenz1171 hätten trotz aller Anstrengung vor dem morgigen Tage den Mitgliedern des Hauses nicht vorgelegt werden können, und wie sollten sie ein Urteil fällen ohne Einsicht in die Prozeßakten? Er sei bereit, Montag für die Diskussion des Bulwerschen Antrags einzuräumen. Disraeli hob hervor, daß „die nachträglichen Aktenstücke" mit Bulwers Antrag durchaus nicht zusammenhingen. Die Bill über die beschränkte Verantwortlichkeit in Handelskompanien sei in ihrer Art ganz wichtig. Was aber die Nation jetzt zu verlangen wisse, sei:
„ob das Kabinett solidarisch für seine Akte verantwortlich sei oder ob auch hier das Prinzip der beschränkten Verantwortlichkeit gelte? Sie wolle vor allem die Bedingungen kennen, unter denen die Associ£s der Firma von Downing Street ihr Geschäft führten?" Bulwer erklärte, Montag als Tag der Debatte anzunehmen. Russell seinerseits benutzte diesen Zwischenvorfall zu einem vergeblichen Versuch, den Sinn seiner Erklärung vom letzten Freitag abzuschwächen und zu verdrehen. Aber die zweite, verbesserte Ausgabe kommt zu spät, wie die heutige „Times" schlagend nachweist. Die „Times" bietet überhaupt seit mehreren Tagen alle Künste auf, um das Palmerston-Kabinett auf Kosten Russells zu retten, hierin ausdauernd unterstützt von dem einfältigen „Moming Advertiser", der jedesmal seinen ganzen Glauben an Palmerston wiedergewinnt, sooft das Parlament ihn zu verlieren droht. Palmerston hat unterdes einige Tage
1 In der „Neuen Oder-Zeitung": Motion
Frist zu einem Manöver gewonnen. Wie er jeden solchen Tag ausbeutet, bewies der irische row\ der gestern im Unterhause vorfiel. Seit zwei Jahren treiben sich bekanntlich 3 Bills durchs Parlament, die die Verhältnisse zwischen irischen Grundherren und Pächtern regulieren sollen. Eine dieser Bills bestimmt die Entschädigung, die der Pächter, falls ihm der Grundherr aufkündigt, für die auf dem Grund und Boden angebrachten Verbesserungen zu beanspruchen berechtigt sein soll. Bisher dienten die von irischen Pächtern (fast alle Zeitpächter für ein Jahr) angebrachten Verbesserungen des Bodens nur dazu, den Grundherrn zu höhern Rentfofderungen nach Ablauf der Pacht zu befähigen. Der Pächter verliert so entweder die Farm, wenn er den Kontrakt nicht zu ungünstigem Bedingungen erneuern will, und mit der Farm sein in den Verbesserungen angelegtes Kapital, oder er ist gezwungen, für die mit seinem Kapital gemachten Verbesserungen dem Landlord Zinsen zu zahlen über die ursprüngliche Rente hinaus. Die Unterstützung der oben erwähnten Bills war eine der Bedingungen, die dem Koalitionsministerium die Stimmen der Irischen Brigade1241 erkaufte. Sie passierten daher 1854 im Unterhause, wurden aber im Oberhause, unter geheimem Mitwirken der Minister, für die folgende Session (von 1855) vertagt, dann so umgemodelt, daß ihre Pointe abgebrochen war, und in dieser verstümmelten Form ins Unterhaus zurückgeschickt. Hier ward vergangenen Donnerstag die Hauptldausel der Entschädigungsbill auf dem Altar des Grundeigentums geopfert, und die Irländer fanden zu ihrer Verwunderung, daß teils dem Ministerium angehörige, teils direkt mit ihm verbundene Stimmen den Ausschlag gegen sie gegeben hatten. Serjeant2 Shees wütender Ausfall auf Palmerston drohte einen Riot im „irischen Viertel" des Parlaments, dessen Folgen gerade in diesem Augenblick bedenklich. Palmerston vermittelt daher durch Sadleir, Exmitglied der Koalition und Makler der Irischen Brigade, und veranlaßt eine Deputation von 18 irischen Parlamentlem, ihm vorgestern ihre Aufwartung zu machen mit der Anfrage, ob er seinen Einfluß aufbieten wolle, das Parlamentsvotum rückgängig zu machen und die Klausel bei einer neuen Abstimmung durchs Haus zu bringen? Er erklärte sich natürlich zu allem bereit, um die irischen Stimmen gegen das Mißtrauensvotum zu sichern. Die vorzeitige Explosion dieser Intrige im Unterhaus gab zu einer jener Skandalszenen Anlaß, die den Verfall des oligarchischen Parlaments charakterisieren. Die Irländer verfügen über 105 Stimmen. Es stellte sich indes heraus, daß die Mehrzahl der Deputation der 18 keine Vollmacht erteilt hat. Überhaupt kann Palmerston die
1 Prügelei — 2 hoher Anwalt des Gemeinen Rechts
Irländer nicht ganz mehr so benutzen in ministeriellen Krisen wie zur Zeit O'Connells. Mit der Auflösung aller alten parlamentarischen Fraktionen hat sich auch das irische Viertel zerklüftet, zersplittert. Jedenfalls beweist der Inzident, wie Palmerston die gewonnene Frist zur Bearbeitung der verschiedenen Koterien benutzt. Gleichzeitig erwartet er irgendeine günstige Nachricht vom Kriegsschauplatze, irgendein kleines Ereignis, das parlamentarisch - wenn nicht militärisch - ausgebeutet werden kann. Der submarine Telegraph hat die Leitung des Krieges den Händen der Generale entrissen und den dilettantischen astrologischen Einfällen Bonapartes wie den parlamentarisch-diplomatischen Intrigen untergeordnet. Daher der unerklärliche und ohne Parallele dastehende Charakter des zweiten Krimfeldzuges.
Karl Marx/Friedrich Engels
Russells Resignation Uber die Angelegenheiten in der Krim[201]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.327 vom 17.JuIi 1855] London, den 14. Juli. In unserer vorletzten Korrespondenz1 behandelten wir Lord John Russells Resignation, freiwillig oder gezwungen, als ein Fait accompli. Sie ist gestern nachmittag erfolgt, und zwar ist es eine synthetische Resignation, freiwillig und gezwungen zugleich. Palmerston nämlich trieb den stellenhungrigsten Teil der Whigs, unter der Führung Bouveries, zu einer subalternen Erneute. Sie erklärten, für Bulwers Antrag stimmen zu müssen, falls Lord John nicht resigniere. Dem war nicht zu widerstehen. Nicht zufrieden mit dieser Hochtat, sammelte der treulose Whig-Mob im Lobby2 des Unterhauses Unterschriften für eine Petition an Palmerston, er solle die Königin bestimmen, Russells schon eingereichte Resignation zu akzeptieren. Russell schöpft aus diesen niedrigen Manövern jedenfalls eine Genugtuung - eine Partei nach seinem Vorbilde geschaffen zu haben. Die Resignation des Mannes, der, wie Urquhart sagt, „seine Hände hinter dem Rücken zu halten pflegt, um sich selbst einen moralischen Halt zu geben würde kaum einen Einfluß auf die Fortdauer des Kabinetts ausüben, griffe die Majorität des Unterhauses nicht gierig nach jedem Vorwand, der ihr erlaubt, das Schicksal der Auflösung aufzuschieben. Und Auflösung des Hauses ist unzertrennlich von der Annahme des Bulwerschen Antrages. Bliebe Palmerston trotz des Mißtrauensvotums, so müßte er auflösen; folgte ihm Derby nach, so müßte der ebenfalls auflösen. Das Haus scheint kaum geneigt, sich auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern. Sir George Grey hat eine Kommission zur Untersuchung der Polizeibrutalitäten niedergesetzt. Sie besteht aus den Recorders3 von London, Liverpool und Manchester und wird nächsten Dienstag ihre Sitzung eröffnen.
1 Siehe vorl. Band, S. 352/353 - 2 Vorhalle, Foyer - 3 höchsten Kriminalrichtem
Wenn Zeit Geld ist im Handel, ist Zeit Sieg im Kriege. Den günstigen Augenblick entschlüpfen lassen, den Augenblick, wenn eine überlegene Macht auf den Feind geworfen werden kann, ist der größte Fehler, der in der Kriegführung möglich. Der Fehler wird verdoppelt, wenn nicht in der Defensive begangen, wo die Folgen der Vernachlässigung wieder gutzumachen, sondern in der Offensive, in einem Invasionskriege, wo solche Unaufmerksamkeit den Verlust der Armee nach sich ziehen mag. Dies alles sind Gemeinplätze, von denen jeder Fähndrich weiß, daß sie sich von selbst verstehen. Und dennoch wird gegen keine andere Regel der Strategie oder Taktik so oft gesündigt, und es scheint, als ob General Pelissier, der stürmische Mann der Tat, der „Marschall Vorwärts- der Krimarmee, dazu berufen sei, an seiner Person diese gemeinplätzliche Vernachlässigung von Gemeinplätzen zu veranschaulichen. Der Weg zu Sewastopol führt über Inkerman nach der Nordseite der Festung. Pelissier und sein Stab wissen das besser wie irgend jemand. Aber um die Nordseite zu gewinnen, muß die alliierte Armee mit ihrer Hauptkraft ins Feld rücken, die Russen schlagen, die Nordseite einschließen und ein Korps detachieren, um die russische Feldarmee sich fernzuhalten. Der günstige Augenblick hierzu war gekommen, als das sardinische Korps und die Türken unter Omer Pascha anlangten. Die Alliierten waren damals bedeutend stärker als die Russen. Aber nichts der Art geschah. Die Expedition nach Kertsch und dem Asowschen Meere ward unternommen und ein Sturm nach dem andern versucht. Die Feldoperationen beschränkten sich auf Rekognoszierungen und eine Ausdehnung des Lagers bis zur Öffnung in das Tal von Baidar. Jetzt endlich wird der angebliche Grund dieser Untätigkeit verraten: es fehle an Transportmitteln, und nach fünfzehnmonatlicher Kampagne seien die Alliierten so festgeschmiedet an die See, an Kamysch und Balaklawa, wie je zuvor! Das ist in der Tat unübertrefflich. Die Krim ist kein wüstes Eiland irgendwo am Südpol. Sie ist ein Land, dessen Nahrungsquellen sicher erschöpft werden können, das aber stets fähig bleibt, eine Masse von Viehfutter, Zugtieren und Karren zu liefern, wenn Geschick und Kühnheit vorhanden sind, sie zu nehmen. Ängstliche und träge Bewegungen vor- und rückwärts in dem Umkreis von einigen englischen Meilen um die Tschornaja sind natürlich nicht die Mittel, ihrer habhaft zu werden. Aber selbst, wenn wir die Kamele, Ponys und Arbas1 der Krim ganz außer acht lassen, bleibt eine Fülle von Transportmitteln an den europäischen und asiatischen Küsten des Schwarzen Meers, Dampfschiffen in zweitägiger Fahrt
1 Karren
zugänglich. Warum werden sie nicht requiriert für den Dienst der Alliierten?1 Die Russen haben ihnen in der Tat hinreichende Lektionen gegeben, wie sie agieren müßten. Das 3., 4. und 5. Armeekorps nebst verschiedenen Reservedivisionen wurden nach der Krim transportiert zu einer Zeit, wo die Alliierten daran verzweifelten, Proviant von Balaklawa nach den Laufgräben zu befördern. Die Truppen wurden zum Teil auf Wagen über die Steppen gefahren, und der Mangel an Nahrungsmitteln scheint ein schreiender unter ihnen gewesen zu sein. Und doch ist das Land um Perekop in einem Halbzirkel von 200 Meilen nur dünn bewohnt. Aber die Hilfsquellen der entfernteren Provinzen wurden in Kontribution gesetzt, und es ist sicher schwerer, Wagen von Jekaterinoslaw, Poltawa, Charkow etc. den Russen nach der Krim zu schicken, als Transportmittel von Anatolien und Rumelien für die Alliierten in der Krim zu beschaffen. Jedenfalls ließ man die Eroberung der Krim bis nach Simferopol unter dem Vorwand mangelnder Transportmittel sich entschlüpfen. Jetzt stehen die Sachen anders. Die Russen haben eine Reservearmee für die Krim zwischen Odessa und Cherson gebildet. Die Stärke dieser Armee können wir nur nach den Detachierungen von der Westarmee berechnen - bestehend aus dem ganzen 2. Armeekorps und zwei Divisionen Grenadiere. Dies macht zusammen 5 Divisionen Infanterie (82 Bataillons), 1 Division Kavallerie (32 Schwadronen) und 80 Kanonen. Infanterie und Kavalleriereserven kommen hinzu. Mit Berechnung aller Verluste während des Marsches kann daher die zwischen Odessa und Perekop versammelte und für die Krim bestimmte Armee auf ungefähr 70000 bis 80000 Mann angeschlagen werden. Die Avantgarden ihrer Kolonnen müssen
1 Die „New-York Daily Tribüne" Nr. 4452 vom 27. Juli 1855 bringt an Stelle dieses Satzes folgenden Text: „Warum werden sie nicht für den Dienst der Alliierten gepreßt? Wir sagen gepreßt, denn das Pressen, allgemein Requirierung genannt, ist die eigentliche Art, sie zu erlangen. Spanische Maultiertreiber und bulgarische Arbeiter zu einem hohen Preis zu beschäftigen, geht nicht an, und in einem Lande wie die Türkei schon gar nicht. Ein Regiment Kavallerie, das die Küsten Anatoliens säubert, würde sehr bald Hunderte von Fahrzeugen und Tausende von Tieren mit der notwendigen Fourage zusammenbringen. Der Krieg wird wegen der Türken fortgesetzt, und Transportmittel liefern ist das mindeste, was man von ihnen verlangen kann. In jedem kontinentalen Krieg erwartet man das gleiche von dem Land, in dem die Armeen operieren. Mit den Türken delikater umzugehen ist doppelt absurd; wenn die Türken nicht für ihre Alliierten zu arbeiten haben, werden sie für ihre Paschas arbeiten, die sie viel schlechter behandeln. Das mag ihnen nicht gefallen, aber es gefällt ihnen auch nicht, sich für ihre Paschas abzuplacken, und wenn sie sich nicht der Disziplin und der Ordnung fügen werden, so wird eine kleine Anwendung des Kriegsrechts sie bald auf die Beine bringen, da die Paschas sie immer unter einem ähnlichen Recht halten. Es ist vollkommen lächerlich, daß die alliierten Generale in der Reichweite solcher Ressourcen noch immer darüber klagen, daß sie sich aus Mangel an Transportmitteln nicht fortbewegen können.44
um diese Zeit schon Perekop passiert haben, und vor Ende Juli werden sie den Alliierten fühlbar werden. Was haben die Alliierten nun diesen Verstärkungen entgegenzusetzen? Ihre Reihen werden wieder gelichtet von Cholera und Fieber nicht minder als durch die verschiedenen Sturmversuche. Die britischen Verstärkungen kommen träg heran - sehr wenige Regimenter segeln in der Tat ab. Die 13000 Mann, die wir vor einiger Zeit abreisen ließen1, weisen sich als ministerieller Puff aus. Die französische Regierung ihrerseits erklärt, sie beabsichtige keine frischen Divisionen zu versenden, sondern nur Detachements von den Depots, um die auf dem Kriegsschauplatz verursachten Lücken auszufüllen. Kommen diese Verstärkungen rechtzeitig an, so reichen sie kaum hin, die alliierte Armee auf die Stärke zu bringen, die sie im Juni besaß, d. h. auf 200000 Mann, Türken und Sardinier eingeschlossen. Wahrscheinlich bringen sie es auf nicht mehr als 180000 Mann, denen Anfang August mindestens 200000 Russen gegenüberstehen werden, in guten Positionen, im Kommando des Landes in ihrem Rücken und im Besitze der Südseite von Sewastopol als eines Brückenkopfes. Würde die alliierte Armee unter diesen Umständen wieder auf das enge Plateau hinter der Tschornaja eingezwängt, so müßte letzteres sich unter der Wucht einer solchen Menschenmasse in einen Kirchhof verwandeln.2 Noch ist die Zeit für Ergreifung des Feldes nicht verloren. Der beste Moment ist zwar vorüber, aber trotzdem würde ein kühnes Vorrücken selbst jetzt noch der alliierten Armee einen weiteren Existenzraum sichern. Aber es scheint nicht, als ob sie diese Chance zu benutzen dächten. Zur Rechtfertigung Pelissiers mag schließlich angeführt werden, daß die öffentliche Meinung hier wie zu Paris in der Einmischung Louis Bonapartes, des Generals aus der Ferne, den Erklärungsgrund aller Misere des zweiten Krimfeldzugs sucht und findet.3 1 Siehe vorl. Band, S. 320 — 2 Die «New-York Daily Tribüne44 bringt an Stelle dieses Satzes folgenden Text: „Dann stehen die Chancen so, daß die Alliierten auf das Plateau hinter der Tschornaja zurückgetrieben werden, unfähig, sich vor- oder rückwärts zu bewegen und mit einer so zahlreichen Armee, daß sie dieses enge Stück Boden in eine Brutstätte für Krankheiten verwandeln würden. Und dann wird Pelissier seinen Mangel an Energie und Entschiedenheit in bezug auf den Vormarsch ins Feld bereuen und seinen Überschuß an Energie in bezug auf die Erstürmung der Festung." - 8 Die „New-York Daily Tribüne44 bringt an Stelle dieses Satzes den Absatz: „Zur Rechtfertigung Pelissiers muß jedoch angeführt werden, daß die öffentliche Meinung in Paris und allgemein in Europa die Hauptschuld Louis Bonaparte zur Last legt. Dieser unglückselige Möchtegern-General soll sich in alles und jedes eingemischt haben. Die Angelegenheit ist noch nicht ganz klar, aber in Kürze muß die Art der Einmischung dieses ehrgeizigen Abenteurers in die Krimschen militärischen Operationen geklärt sein, und wir werden dann wissen, wo die Schuld für diese ungeheuren Fehler zu suchen ist/
Karl Marx
Russells Entlassung
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.333 vom 20. Juli 1855] London, 17.Juli. Russells Entlassung, freiwillig oder gezwungen, das pariert Bulwers Antrag, wie Bulwer den Antrag Roebucks pariert bat. Diese Ansicht, die wir in unserer Korrespondenz vdm 11.Juli1 aussprachen, ist durch die gestrige Unterhaussitzung vollständig bestätigt worden. Es ist ein altes Whig-Axiom, daß „Parteien gleich Schnecken sind, bei denen der Schwanz den Kopf bewegt". Das jetzige Whig-Kabinett ist aber vielmehr ein Polypenkabinett; es scheint zu gedeihen durch Amputation. Es überlebt den Verlust seiner Glieder, seines Kopfes, jedes Dings, nur nicht den seines Schweifes. Russell war zwar nicht das Haupt des Kabinetts, aber er war der Kopf der Partei, die das Kabinett bildet und von ihm repräsentiert wird. Bouyerie, der Vizepräsident des Board of Trade2, repräsentiert den Schweif des Whig-Polyps. Er entdeckte, daß der Whig-Körper geköpft werden müsse, um den Whig-Rumpf am Leben zu erhalten, und teilte diese Entdeckung Palmerston mit im Namen und im Auftrage des Whig-Schweifes. Russell versicherte diesem Schweif gestern seine „Verachtung". Disraeli quälte Bouverie mit einer „Physiologie der Freundschaft" und einer Naturbeschreibung der verschiedenen Arten, worin das Gattungswesen, bekannt unter dem Namen „Freund*, sich absonderte. Bouveries Rechtfertigungsversuch endlich, er und der Schweif hätten Russell abgestoßen, um Russell zu retten, vollendet das Genrebild dieser Partei von Stellenjägern. Wenn so der naturgemäße Kopf der Whig-Partei amputiert ist, ist ihr usurpiertes Haupt, Lord Palmerston, desto fester an den Rumpf angewachsen. Nach Aberdeens und Newcastles Sturz benutzte er Gladstone, Graham und Herbert, um die Erbschaft des Koalitionskabinetts anzutreten. Nach Glad
1 Sehe vorl. Band S. 352/353 - 2 Handels- und Verkehrsministeriums
stones, Grahams und Herberts Austritt benutzte er Lord John Russell, um ein reines Whig-Kabinett zu bilden. Schließlich benutzt er den Whig-Schweif, um Russell zu eskamotieren und so Alleinherrscher im Kabinett zu werden. Alle diese Metamorphosen waren ebensoviel Stufen zur Bildung eines reinen Palmerston-Kabinetts. Wir ersahen aus Russells Erklärungen, daß er Palmerston wiederholt seine Resignation antrug, aber jedesmal von ihm überredet wurde, sie zurückzunehmen. Ganz in derselben Weise überredete Palmerston das Aberdeen-Kabinett, Roebucks Untersuchungskomitee zu widerstehen bis aufs äußerste. Beidemal mit demselben Erfolg und zu demselben Zwecke. Bulwers Antrag knüpfte er so direkt an Russell an, daß er von selbst ins Wasser fiel, sobald das Corpus delicti, Russell, aus dem Kabinett verschwand. Bulwer war daher gezwungen, zu erklären, er ziehe seihen Antrag zurück. Er konnte indes nicht der Versuchung widerstehen, die Rede zu halten, die seinen Antrag begründen sollte. Er vergaß, daß der Antrag fehlte, der seine Rede begründete. Palmerston benutzte diese unglückliche Situation. Er warf sich sofort in Gladiatorenstellung, nachdem der Kampf abgesagt war. Er wurde ungezogen, polternd, renommierend, zog sich aber dadurch eine Züchtigung von der Hand Disraelis zu, die, wie sein Mienenspiel zeigte, selbst ihn, den vollendeten Komödianten, die gewohnte zynische Fassung verlieren ließ. Das Wichtigste in Disraelis Replik war: jedoch folgende Erklärung: „Ich weiß, daß die Ansichten, die Lord Russell von Wien heimbrachte, günstig aufgenommen wurden, nicht nur von einer Majorität» sondern von der Gesamtheit seiner Kollegen, und daß nur Umstände, die sie nicht antizipiert hatten, die herzliche und einstimmige Annahme des Plans des edlen Lords verhinderten. Ich inache diese Erklärung nicht ohne genügende Autorität. Ich mache sie mit derselben Überzeugung, womit ich 6 Wochen früher von der zweideutigen Sprache und dem ungewissen Betragen derRegierung sprach, deren Richtigkeit nachfolgendeEreignisse bewiesen haben. Ich mache sie mit der Überzeugung, daß selbst vor dem Schlüsse dieser Session der Beweis für diese Behauptung sich in den Händen des Hauses befinden wird.*4 Die „Umstände", worauf Disraeli eben anspielt, waren, wie er inuVerlauf seiner Rede erklärt, „die Schwierigkeiten, die von französischer Seite gegenübergestellt wurden". Disraeli deutet an, daß die für parlamentarischen Gebrauch bestimmte Korrespondenz Ciarendons im Widerspruch steht mit den geheimen Instruktionen des Ministeriums. Er schloß seine Rede mit folgenden Worten: „Ein Glaube existiert im Lande, daß Schuld in der Leitung unserer Angelegenheiten vorherrscht. Ein auswärtiges Dokument erscheint" (Buols Rundschreiben), „die
Aufregung im Volke wächst, es denkt, es spricht, seine Repräsentanten im Hause stellen Fragen. Was geschieht? Der Hervorragendste eurer Staatsleute wagt nicht der Kontroverse zu begegnen, die solche Fragen aufwerfen. Er verschwindet in mysteriöser Weise. Aber wer wagt ihr zu begegnen? Der erste Minister der Krone, der das Haus heute nacht angeredet hat in Akzenten und in einer Sprache, die durchaus seiner Stellung und der Veranlassung unwürdig, die mich überzeugt haben, daß, wenn die Ehre und Interessen des Landes länger seiner Leitung anvertraut bleiben, es nur geschieht, um die erstere zu degradieren und die letzteren zu verraten
Roebuck überbot Disraeli in Heftigkeit der Sprache. „Ich verlange zu wissen, wer nun die Verräter im Kabinett sindP" Erst Aberdeen und Newcastle. Dann Graham und Gladstone und Herbert. Dann Russell. Wer ist der sequens1'? Unterdes ist die Stellung des Mannes, der die Koalition im geheimen beherrscht hat, wie er das Ministerium jetzt offiziell beherrscht, ziemlich gesichert. Sollte vor Schluß der Session noch irgendein Mißtrauensvotum passieren, was nicht wahrscheinlich, so löst er das Parlament auf. Unter allen Umständen hat er sechs Monate vor sich, um die auswärtige Politik Englands unumschränkt zu leiten, nicht einmal belästigt von dem Geräusch und den Scheingefechten des Unterhauses.
1 folgende
Karl Marx
Aus dem Parlamente
[„Neue Oder-Zeitungtt Nr. 335 vom 21. Juli 1855] London, 18.Juli. Auf die stürmische, lärmende, geräuschvolle Nachtsitzung des Unterhauses vom 16. Juli folgte notwendig eine Reaktion von Mattigkeit, Abspannung und Erschlaffung. Das Ministerium, mit den Geheimnissen parlamentarischer Pathologie vertraut, rechnete auf diese Verstimmung, um jede Abstimmung über Roebucks Motion zu verhindern, und nicht nur die Abstimmung, sondern die Debatte selbst. Kein Mitglied des Ministeriums sprach vor Mitternacht, kurz vor Schluß der Sitzung, obgleich einen Augenblick eine Pause im Hause eintrat, die die Minister zu Erklärungen einlud, und trotz wiederholter Aufforderung von allen Seiten des Hauses. Das Kabinett verharrte in stoischem Schweigen und überließ es den Repräsentanten des Marquis von Exeter, dem Repräsentanten des Lord Ward und ähnlichen Stellvertretern von Pairs unter den Gemeinen, das ehrenwerte Haus in jenen langweiligen Schlamm zu versenken, den Dante in seinem „Inferno" zur ewigen Residenz der Indolenten macht[202j. Es lagen zwei Amendements zu Roebucks Antrag vor, das Amendement General Peels und das des Obersten Adair, beide von Kriegern gestellt, beide in Flankenmärsche verlaufend. Peels Amendement verlangt, daß das Haus die „vorläufige Frage"[203] votiere, d. h. weder für noch gegen den Hauptantrag, jede Antwort auf Roebucks Frage ablehnend. Oberst Adair verlangt Billigung der „Politik, die die Expedition nach Sewastopol entworfen" und Aufforderung, „in dieser Politik auszuharren". Er pariert also Roebucks Zensur wegen der schlechten Ausführung mit einem Lobe für den guten Ursprung der Krimexpedition. Das Kabinett enthielt sich jeder Erklärung darüber, welches der Amendements es zum ministeriellen erhebe. Es schien dem Hause den Puls fühlen zu wollen, um sich entweder mit General Peel in eine Frage ohne Antwort
oder mit Oberst Adair in eine Antwort ohne Frage zu flüchten. Endlich schien das Haus in jenen Halbschlaf versenkt, dem Palmerston auflauerte. Nun sandte er das unbedeutendste Mitglied des Kabinetts vor, Sir Charles Wood, der Peels Amendement für das ministerielle erklärte. Palmerston, unterstützt von dem Schrei: „Abstimmung, Abstimmung!" auf den ihm befreundeten Bänken, erhob sich und „hoffte, daß das Haus sofort zur Entscheidung kommen werde". Er glaubte Roebuck geburkt1 und selbst der Ehre einer „großen Debatte Vernes parlamentarischen Turniers beraubt zu haben. Aber nicht nur Disraeli widersetzte sich der Abstimmung. Bright, mit jenem massiven Ernst, der ihn auszeichnet, erhob sich:
„Die Regierung habe offenbar gewünscht, die vorliegende Frage wegzueskamotieren und sich darum bis Mitternacht jeder Erklärung enthalten. Der Gegenstand sei der wichtigste, der je dem Hause der Gemeinen vorgelegen. Wenn die Debatte eine ganze Woche währe, könne das nur zum Vorteil des Landes gereichen."
Palmerston, so gezwungen, die Vertagung der Debatte anzunehmen, mußte seinen ursprünglichen Feldzugsplan aufgeben. Er hat eine Niederlage erlebt. Roebucks Rede hatte das große Verdienst der Kürze. Einfach und klar resümierte er, nicht als Advokat, sondern als Richter, wie ihm als Präsidenten des Untersuchüngskomitees geziemte, die Motive seines Urteilsspruchs. Er hatte offenbar mit derselben Schwierigkeit zu kämpfen, die der alliierten Flotte das Einlaufen in den Hafen von Sewastopol verbietet - mit den versunkenen Schiffen, den Aberdeens, Herberts, Gladstones, Grahams etc. Nur über sie weg konnte er zu Palmerston und den anderen überlebenden Mitgliedern des Koalitionskabinetts gelangen. Sie versperrten den Zugang zu dem jetzigen Kabinett. Roebuck suchte sich ihrer mit Komplimenten zu erledigen. Newcastle und Herbert seien ihres Amtseifers wegen zu beloben, ebenso Graham. Was sie im übrigen gesündigt aus mangelnder Einsicht, sei durch ihre Verjagung aus Downing Street[153] gezüchtigt. Es handelt sich nur darum, die unbestraften Sünder heimzusuchen. Das sei die eigentliche Tendenz seines Antrages. Palmerston speziell griff er an, nicht nur als Mitschuldigen, sondern im besonderen als Verwalter der Miliz. Roebuck, um seinen Antrag in die traditionell parlamentarischen Schranken einzuzwängen, brach ihm offenbar die Pointe ab. Die Argumente auf Seiten der ministeriellen Sekundanten waren so schwächlichen Gehalts, daß die einschläfernde Form, worin sie entwickelt wurden, förmlich wohltuend wirkte. Die Zeugenaussagen sind unvollständig, riefen die einen. Ihr bedroht uns mit Ostrazismus,
1 (von: to burke unterdrücken) unterdrückt
die anderen. Die Sache ist schon lange her, meinte Lord Cecil. Warum nicht nachträglich Sir R[obert] Peel verdammen? Jedes Mitglied des Kabinetts ist im allgemeinen für die Schritte des Kabinetts verantwortlich, aber keiner im besonderen. So der „liberale" Phillimore. Ihr gefährdet die französische Allianz, ihr konstituiert euch als Jury über den Kaiser der Franzosen! So Lowe (von der „Times") und in seinem Gefolge Sir James Graham. Graham, als der Mann des reinen Gewissens, erklärt sich selbst unzufrieden mit General Peels reiner Negative. Er besteht auf einem „Schuldig" oder „Unschuldig" des Hauses. Er begnügt sich nicht mit dem „not proven" (nicht bewiesen), womit schottische Gerichtshöfe zweideutige Kriminalfälle beseitigen. Wollt ihr in der Tat den überlebten und unparlamentarischen „Anklagezustand" (impeachment1204]) wiederherstellen? Die Presse, die öffentliche Meinung, ist ah allem schuld. Sie zwang die Minister zur Expedition, zur ungelegenen Zeit, mit unzureichenden Mitteln. Wenn ihr das Ministerium verurteilt, so verurteilt das Haus der Gemeinen, das hinter ihm stand! Endlich Sir Charles Woods Apologie. Wenn Roebuck selbst den Newcastle und Herbert und Graham entschuldigt, wie kann er ans anschuldigen? Wir waren nichts, und wir sind verantwortlich für nichts. So Wood in seinem „nichts durchbohrenden Gefühl".
Friedrich Engels
Perspektiven des Krieges
[„New-York Daily Tribüne* Nr. 4459 vom 4. August 1855, Leitartikel] Nach unseren letzten Meldungen war ein Stillstand in den Kriegsoperationen auf der F'riru. eingetreten. Keine Sturmversuche mehr; die Kanonen sind beinahe verstummt, und würde nicht das Büchsenfeuer beständig zwischen den zwei Verschanzungslinien gewechselt* schöben die Alliierten ihre Position durch Minieren und Sappen nicht auf den Malachowhügel vor und machten die Russen nicht gelegentliche Ausfälle, so könnte man die Feindseligkeiten für suspendiert halten. Es ist dies die Stille, die dem Sturm vorhergeht. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich bereits bei Sewastopol eine Schlacht abgespielt, wilder als bei Inkerman[111], dem Grünen Mamelon oder dem Sturme vom 18. Juni. Der Monat August muß zu einem gewissen Punkt den Ausgang der Kampagne entscheiden. Um diese Zeit wird der größte Teil, wenn nicht die gesamten russischen Verstärkungen, angelangt sein, während die Reihen der Alliierten durch Krankheit gelichtet sein müssen. Behaupten sie sich auf dem Plateau des Chersones, so wird das schon viel sein. Die Einnahme der Südseite von Sewastopol für dieses Jahr ist eine Vorstellung, die jetzt selbst von der englischen Presse aufgegeben wurde. Ihnen ist nur die Hoffnung geblieben, die Stadt Stück für Stück niederzuwerfen, und wenn sie es durchsetzen, mit derselben Eile vorzugehen wie bisher, wird die Belagerung in ihrer Dauer die von Troja erreichen. Es ist durchaus kein Grund für den Glauben vorhanden, daß sie ihr Werk in beschleunigter Geschwindigkeit vollbringen werden, denn wir sind jetzt so gut wie offiziell unterrichtet, daß das bisher befolgte fehlerhafte System hartnäckig fortgesetzt werden soll. Der Krim-Korrespondent des Pariser „Constitutionnel", ein Mann von hohem Rang in der französischen Armee - man glaubt, daß es General Regnault de
Saint-Jean-d'Angely, Kommandant der Garden ist -, hat klar ausgesprochen, das Publikum könne sich die Mühe sparen, sich in Spekulationen über eine Kampagne im freien Feld und die eventuelle Einschließung der Nordseite von Sewastopol zu ergehen. Unter den gegenwärtigen Umständen, sagt er, könne das nicht geschehen ohne Aufhebung der Belagerung und ohne Überlassung des ganzen Plateaus an die Russen. Es sei daher entschieden worden, so hart als möglich auf die einmal angegriffene Position loszuhämmern, bis zu ihrer völligen Zerstörung. Nun, auf die Ankündigungen dieses Briefes kann man sich stützen, da jeder Grund vorhanden ist,zu glauben, nicht nur, daß der französische Kaiser sie billigt', sondern selbst, daß er jeden Bericht aus dieser Quelle vor dem Drucke revidiert. Dabei ist Regnault einer seiner speziellen Günstlinge. Was die Folge von alledem sein muß, ist leicht vorherzusagen. Die russische Armee in und um Sewastopol besteht jetzt aus dem 3. und 4. Korps, aus zwei Divisionen des 5. und einer Division des 6. Korps, außer Seesoldaten, Matrosen, lokalen Truppen, Kosaken und Kavallerie, die eine bewaffnete Streitmacht von 180 Bataillonen bilden oder von 90000 Mann Infanterie und 30000 Mann Artillerie und Kavallerie, nebst etwa 40000 Kranken und Verwundeten. Selbst der französische „Moniteur" schätzt ihre Effektivkraft unter Waffen auf 110000 Mann. Nun befinden sich das ganze 2. Korps (50 Bataillone, 32 Schwadronen, 96 Kanonen) und zwei Grenadierdivisionen mit einer Division Kavallerie (24 Bataillone, 32 Schwadronen, 72 Kanonen) auf dem Marsch oder schon in der Nähe Sewastopols. Sie repräsentieren eine additionelle Streitkraft von 55000 Mann Infanterie, 10000 Mann Kavallerie und Kosaken und 5000 Mann Artillerie. Die Russen werden so bald eine Streitmacht von mindestens 175000 Mann konzentriert haben, oder beträchtlich mehr, als den Alliierten übrigbleiben kann nach ihren jüngsten Verlusten durch Kämpfe und Seuchen. Daß die Russen so fähig sein werden, wenigstens ihr bisheriges Terrain zu behaupten, ist sicher das mindeste, was man von ihnen erwarten kann, besonders da sie beständig die durch Anstrengungen erschöpften Truppen der Garnison durch frische ablösen können. Die Alliierten auf der anderen Seite haben keine Chance, ähnliche Verstärkungen zu erhalten. Sie zählen jetzt 21 Divisionen Infanterie (12 französische, 4 englische, 3 türkische und 2 piemontesische) oder ungefähr 190 Bataillone, 3 Divisionen Kavallerie (1 französische, 1 englische und 1 türkische) oder ungefähr 60 Schwadronen und eine entsprechende Zahl von Kanonen. Da aber ihre Bataillone und besonders ihre Schwadronen sehr stark gelichtet sind durch die Verluste der Kampagne, wird ihre Gesamt
24 Marx/Engels. Werke. Bd. 11
j
kraft nicht 110000 Mann Infanterie, 7500 Mann Kavallerie und 20000 bis 25 0001 Mann Artillerie, Train und Dienstunfähige überschreiten. Wenn die Kräfte der beiden kämpfenden Parteien jetzt, vor der Ankunft der russischen Verstärkungen, sich so nahe das Gleichgewicht halten, muß die Waage sich offenbar gegen die Alliierten neigen, sobald jene anlangen. Alle eingetroffenen Verstärkungen der Alliierten und die jetzt nachgeschickt werden, sind bloß Detachements von den Depots, um die engagierten Bataillone und Schwadronen aufzufüllen, und sind nicht sehr stark, wenn wir den Behauptungen der Presse Glauben schenken. Jedoch sollen drei Divisionen nach Marseille und Toulon marschieren, wo sich Dampfboote konzentrieren, während in England die für die Krim bestimmten Regimenter den Befehl erhalten haben, sich für die unmittelbare Verschiffung bereitzuhalten. Sie werden ungefähr eine Division Infanterie und eine Division Kavallerie zählen. So mögen während der Monate August und September nach und nach ungefähr 33000 Mann Infanterie mit vielleicht 2500 Mann Kavallerie und Artillerie auf der Krim anlangen; aber dies alles hängt sehr stark davon ab, wie schnell ihr Abtransport erfolgt. Auf jeden Fall werden die Alliierten wieder einmal zahlenmäßig unterlegen sein und können wieder auf dem Plateau eingezwängt werden, wo sie den letzten traurigen Winter verbrachten. Ob es den Russen diesmal gelingen wird, sie aus diesem festen Schlupfwinkel zu vertreiben, wagen wir nicht zu entscheiden. Aber ihr eigenes Terrain zu halten, ist offenbar alles, was die Alliierten erwarten können, außer wenn sie Verstärkungen in einem wirklich gigantischen Ausmaße erhielten. Somit verspricht der Krieg reduziert zu werden auf eine Reihe von ergebnislosen blutigen Treffen, in denen jede Seite Tag für Tag frische Truppenteile ausschicken wird, um dem Feind im Handgemenge zu begegnen, sei es auf den Wällen der Stadt, den Brustwehren der Laufgräben oder den eskarpierten Anhöhen um Inkerman und Balaklawa. Es kann keine Lage feindlicher Armeen ersonnen werden, wo größerer Blutverlust zu unwichtigeren Resultaten führt, als von solchen Kämpfen zu erwarten ist. Es gibt jedoch eine Chance, daß etwas Entscheidendes eintritt. Wenn es die Russen fertigbringen könnten, außer den schon herangebrachten Truppen nochweitere 50000 Mann heranzubringen, um so ihrer Armee ein unumstößliches Übergewicht zu sichern, könnten sie den Alliierten ernste Niederlagen beibringen und sie so zwingen, sich wieder einzuschiffen. Um diese Möglichkeit zu beurteilen, müssen wir die Kräfte betrachten, die die
1 In der „Neuen Oder-Zeitung" werden die Zahlen 30 000-35 000 angegeben (siehe vorl. Band, S. 375)
Russen an ihrer ganzen ausgedehnten Grenze unter Waffen halten. Die Krimarmee, einschließlich der obenerwähnten Verstärkungen, berechneten wir mit ungefähr 175000 Mann. Im Kaukasus, wo außer den lokalen Truppenteilen und den Kosaken die 16. und 17. Division engagiert sind, mögen sie etwa 60000 Mann haben. In Bessarabien haben sie, wie gesagt wird, 60000 Mann unter dem Befehl von Lüders; man kann annehmen, daß diese Truppen hauptsächlich aus kombinierten Bataillonen und Reserven bestehen, da sich nur eine Division Infanterie des 5. Korps dort befindet und niemals etwas mitgeteilt worden ist, daß Truppen des 1. oder 2. Korps dorthin marschiert wären. In Polen und Wolhynien würden zwei Gardedivisionen, eine Grenadierdivision, zwei Divisionen des 1. Armeekorps und verschiedene Reserven verbleiben - zusammen ungefähr 160000 Mann. Der größere Teil der Reserven und ein Teil der Garde sind an der Ostsee in folgender Weise konzentriert: 50000 Mann unter Sievers in den deutschen baltischen Provinzen, 30000 Mann unter Berg in Finnland und 50000 Mann unter Rüdiger als Reservearmee in und um St. Petersburg; alles zusammen ungefähr 585000 Mann. Der Rest der russischen Streitkräfte, ungefähr 65000 Mann, befindet sich im Innern des Landes; somit würde die gesamte bewaffnete Streitkraft 650000 Mann ausmachen. Berücksichtigt man die in Rußland durchgeführten gewaltigen Aushebungen, so erscheint diese Zahl keineswegs übertrieben. Nun, es ist klar, daß zu dieser vorgeschrittenen Jahreszeit die Russen keine ernsthafte Gefahr einer Landung an der Ostseeküste zu befürchten haben und daß eine allgemeine Verschiebung der hier befindlichen verschiedenen Abteilungen nach dem Süden erfolgen könnte, um so - sagen wir - 30000 Mann freizubekommen, die durch Opoltschenzen oder andere Truppen aus dem Innern des Landes ersetzt werden. Diese 30000 Mann würden, wenn sie nach Polen gingen, in diesem Lande eine gleiche Anzahl Truppen freisetzen, und wenn die Österreicher ihre Armee an der Grenze auf die harmlose Stärke von 70000 oder 80000 reduziert haben werden, was in der nächsten Zukunft geschehen soll, könnten weitere 30000-40000 Mann von der polnischen Armee eingespart werden. So könnten die Truppen für eine solche Verstärkung gefunden werden, die jede Möglichkeit ausschließen würde, daß die Alliierten jemals die Krim allein beherrschen, und diese Verstärkung könnte gegen Mitte Oktober auf den Kriegsschauplatz gebracht werden. Doch taucht die Frage auf, ob es der Regierung möglich sein wird, eine so große Truppenzahl während des Winters zu verpflegen, besonders jetzt, da das Asowsche Meer von russischen Schiffen geräumt worden ist. Was das anbetrifft, haben wir keine ausreichenden Daten, um eine Meinung
auszusprechen; aber wenn das getan werden kann und man griffe zu dieser Maßnahme, könnten die Alliierten genausogut die den Hafen von Balaklawa umgebenden Felsen beschießen als die Wälle von Sewastopol, die direkt und indirekt von einer Streitkraft von 250000 Mann verteidigt werden. Bisher haben 300000 Österreicher Rußland an der Flanke seiner Verbindungslinie mit der Krim in Schach gehalten. Laßt Rußland einmal diese Fessel loswerden, und die Alliierten werden bald gewahr werden, mit welch einer Macht sie es zu tun haben. Sie haben zugelassen, daß die Zeit verstrich, als sie, indirekt von Österreich unterstützt, Sewastopol hätten erobern können. Jetzt, da Rußland von dieser Seite sicher zu sein beginnt und es nur mit den Alliierten zu tun hat, ist es zu spät.
Geschrieben um den 20. Juli 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Aus dem Parlamente - Vom Kriegsschauplätze
[„Neue Oder-Zeitung* Nr.337 vom 23. Juli 1855] London, 20. Juli. Die Debatte über Roebucks Antrag ist keineswegs ausgefallen, wie das Ministerium sich geschmeichelt. Noch gestern morgen prophezeite es in seinen halboffiziellen Organen, Roebucks Antrag werde mit 5 gegen 1 Stimme verworfen werden. Gestern nacht schätzte es sich glücklich, die previous question[2031, d.h. die Ablehnung des Hauses, überhaupt über den Antrag zu entscheiden, mit 289 gegen 182 Stimmen durchzusetzen. Dasselbe Haus, das Aberdeen zur Resignation zwang, weil er ein Untersuchungskomitee verweigerte, rettet Palmerston, indem es zum Schlüsse über das Urteil seine eigenen Komitees zu kommen verweigert. Die Vertagung des Parlaments vertagt Palmerstons Kabinett bis zur neuen Session. Dann ist sein Lebenstermin abgelaufen. Auf die Sitzung selbst werden wir zurückkommen. In diesem Augenblick ist ein Stillstand in den Kriegsoperationen in der Krim eingetreten. Keine Sturmversuche mehr, die Kanonen sind beinahe verstummt; und würde nicht das Büchsenfeuer beständig zwischen den zwei Verschanzungslinien gewechselt, schöben die Alliierten ihre Position durch Minieren und Sappen nicht auf den Malachowhügel vor, machten die Russen nicht gelegentlich Ausfälle, so könnte man alle Feindseligkeiten für suspendiert halten. Es ist dies die Stille, die dem Sturm vorhergeht. In 2-3 Wochen wird ein Kampf, Mann gegen Mann, beginnen, wilder als bei Inkerman, dem Grünen Mamelon oder dem Sturme vom 18. Juni. Der Monat August muß zu einem gewissen Punkte entscheiden: die nun unterwegs begriffenen russischen Streitkräfte werden dann angelangt und die Reihen der Alliierten durch Krankheit gelichtet sein. Der Kampf auf Leben und Tod wird dann beginnen, und die Alliierten werden genug zu tun haben, ihren Grund und Boden auf dem Plateau zu behaupten. Die Einnahme der Südseite von Sewastopol für dieses Jahr ist eine Vorstellung, jetzt selbst von der englischen Presse aufgegeben. Sie sind auf die Hoffnung reduziert, Sewastopol Stück für Stück niederzuwerfen; und wenn
sie es durchsetzen, mit derselben Eile vorzugehen wie bisher, wird die Belagerung in ihrer Dauer die von Troja erreichen. Es ist durchaus kein Grund für den Glauben vorhanden, daß sie ihr Werk in beschleunigter Geschwindigkeit vollbringen werden, denn wir sind jetzt so gut wie offiziell unterrichtet, daß das bisher befolgte fehlerhafte System hartnäckig fortgesetzt werden soll. Der Krim-Korrespondent des „Constitutionner, ein Mann von hohem Range in der französischen Armee (es soll General Regnault de S[ain]t-Jeand'Angely sein, Kommandant der Garden), hat dem Publikum angekündigt, es könne sich die Mühe sparen, sich in Spekulationen über eine Kampagne im freien Felde und die eventuelle Einschließung der Nordseite von Sewastopol zu ergehen. Unter gegenwärtigen Umständen, sagt er, könne das nicht geschehen ohne Aufhebung der Belagerung und ohne Überlassung des ganzen Plateaus an die Russen. Es sei daher entschieden [worden], so hart als möglich auf die einmal angegriffene Position loszuhämmern, bis zu ihrer völligen Zerstörung. Die Ankündigungen dieses Briefes können als halboffiziell betrachtet werden, da jeder Grund vorhanden ist, zu glauben, nicht nur, daß Bonaparte sie billigt, sondern selbst,daß er jeden Berichtaus dieser Quelle vor demDrucke revidiert. Regnault ist einer seiner speziellen Günstlinge-der Kriegsminister, der zur Zeit der legislativen Nationalversammlung seine Unterschrift hergab zur Absetzung Changarn iers. Was die Folge von alledem sein muß, ist leicht vorherzusagen. Die russische Armee in und um Sewastopol bestand aus dem 3. und 4. Korps, 2 Divisionen des 5. und 1 des 6. Korps, außer Seesoldaten, Matrosen, lokalen Truppen, Kosaken und Kavallerie, zusammen eine Armee von 180 Bataillons oder 90000 Mann Infanterie mit 30000 Mann Artillerie, Kavallerie usw., nebst etwa 40000 Kranken und Verwundeten. Selbst der französische „Moniteur" schätzt ihre Effektivkraft unter Waffen auf 110000 Mann. Nun befinden sich das ganze 2. Korps (50 Bataillons, 32 Schwadronen und 96 Kanonen) und zwei Grenadierdivisionen mit einer Division Kavallerie (24 Bataillons, 2 Schwadronen, 72 Kanonen) auf dem Marsch oder schon in der Nähe Sewastopols. Sie repräsentieren eine additioneile Streitkraft von 55000 Mann Infanterie, 10000 Kavallerie und Kosaken und 5000 Artillerie. Die Russen werden so bald eine Armee von mindestens 175000 Mann konzentriert haben, beträchtlich mehr, als den Alliierten übrigbleiben kann nach ihren jüngsten Verlusten in den Ausfällen und durch Krankheit. Daß die Russen so fähig sein werden, mindestens ihr bisheriges Terrain zu behaupten, ist um so mehr zu erwarten, als sie beständig die durch Anstrengungen erschöpften Truppen der Garnison durch frische ablösen können. Die Alliierten auf der anderen Seite haben keine Chance, ähnliche Ver
Stärkungen zu erhalten. Sie zählen jetzt 21 Divisionen Infanterie (12 französische, 4 englische, 3 türkische, 2 piemontesische) oder ungefähr 190 Bataillons, 3 Divisionen Kavallerie (1 französische, I englische, 1 türkische) oder ungefähr^ 60 Schwadronen und eine entsprechende Zahl von Kanonen; aber da ihre Bataillons und besonders ihre Schwadronen sehr gelichtet sind durch die Verluste der Kampagne, wird ihre Gesamtkraft nicht 110000 Mann Infanterie, 7500 Kavallerie und 30000-35000 Artillerie, Train und Dienstunfähige überschreiten. Wenn daher die Kräfte der beiden kämpfenden Parteien sich so nahe das Gleichgewicht gehalten vor der Ankunft der russischen Verstärkungen, muß die Waage sich offenbar gegen die Alliierten neigen, sobald jene anlangen. Was bisher nachgeschickt worden ist, sind bloß Detachements von den Depots, um die engagierten Bataillons und Schwadronen wieder auszufüllen, und es kann sich nicht auf viel belaufen, wenn die Berichte der Presse zuverlässig. Unterdes sollen 3 Divisionen nach Marseille und Toulon marschieren, wo sich Dampfboote konzentrieren, während in England die für die Krim bestimmten Regimenter Befehl erhalten haben, sich für unmittelbare Verschiffung bereit zu halten. Letztere werden ungefähr eine Division Infanterie und eine Division Kavallerie zählen. So mögen ungefähr 33000 Mann Infanterie mit vielleicht 2500 Kavallerie und Artillerie nach und nach in der Krim anlangen während August und September. Dies hängt jedoch ganz von der Geschwindigkeit ihrer Einschiffung ab. Unter allen Umständen werden die Alliierten sich wieder in numerischer Unterordnung befinden und können wieder auf dem Plateau eingezwängt werden, wo sie den letzten traurigen Winter verkamen. Ob es den Russen diesmal gelingen wird, sie aus diesem festen Schlupfwinkel zu vertreiben, wagen wir nicht zu entscheiden. Aber ihr eigenes Terrain zu halten, ist offenbar alles, was die Alliierten erwarten können, außer wenn sie Verstärkungen auf gigantischem Maßstab erhielten; So könnte der Krieg reduziert werden auf eine Reihe von Treffen und Handgemengen, ebenso resultatlos wie blutig, worin jede Seite Tag nach Tag frische Truppenkörper vorschicken wird, um dem Feind im Handgemenge zu begegnen, sei es auf den Wällen der Stadt, den Brustwehren der Laufgräben oder den eskarpierten Anhöhen um Inkerman und Balaklawa. Von allen Ghancen ist es die wahrscheinlichste, daß die Sache sich so verlaufen wird. Es kann keine Lage feindlicher Armeen ersonnen werden, wo größerer Blutverlust zu unwichtigem Resultaten führt, als von solchen Gefechten zu erwarten. Und dies ist zuwege gebracht worden durch die Mittelmäßigkeit der Obergenerale auf beiden Seiten, durch ohnmächtigen Dilettantismus zu Paris und absichtlichen Verrat zu London.
Karl Marx
Palmerston - Physiologie der herrschenden Klassen Großbritanniens
[„Neue Oder-Zeitung4* Nr.343 vom 26.Juli 1855] London, 23. Juli. Sollte die Garantie der türkischen Anleihe[205] heute abend denselben Widerstand erfahren wie an vergangenem Freitag, so wird Palmerston sofort das Unterhaus auflösen. Dem Gewandten sind alle Umstände günstig. Auflösung des Unterhauses auf Bulwers Motion, Auflösung des Unterhauses auf Roebucks Antrag. Beides war gleich bedenklich. Die Diplomatie entwickelt in den Wiener Konferenzen[17], die Administration betätigt in dem Winterfeldzug - beides Standpunkte, wenig geeignet, um von ihnen aus vom Parlament an die Wahlkörper zu appellieren. Aber die „Garantie der türkischen Anleiheu! Die Szenerie, die Situation, das Motiv verwandelt sich wie auf einen Zauberschlag. Es ist nicht mehr das Parlament, das das Kabinett wegen Verrat oder Unfähigkeit verurteilte. Es ist das Kabinett, das das Parlament anklagt, die Kriegführung zu hemmen, die französische Allianz zu gefährden, die Türkei im Stich zu lassen. Das Kabinett appelliert nicht mehr an das Land, es von dem Verdammungsurteil des Parlaments freizusprechen. Es appellierte an das Land, das Parlament zu verurteilen. In der Tat ist die Anleihe so formuliert, daß die Türkei direkt kein Geld erhält, sondern unter den für ein Land entwürdigendsten Bedingungen, unter Kuratel gestellt, die ihr angeblich geliehene Summe von englischen Kommissionären verwalten und verausgaben lassen muß. Die englische Administration hat sich während des orientalischen Krieges so glänzend bewährt, daß sie in der Tat versucht sein muß, ihre Segnungen auf fremde Reiche auszudehnen. Die Westmächte haben sich des auswärtigen Ministeriums zu Konstantinopel bemächtigt und nicht nur des auswärtigen Ministeriums, sondern auch des Ministeriums des Innern. Seit Omer Paschas Verpflanzung von Bulgarien nach der Krim hat die Türkei aufgehört, über ihre eigene Armee zu verfügen. Die Westmächte strecken jetzt die Hand nach den türkischen Finanzen aus.
Palmerston - Physiologie der herrschenden Klassen Großbritanniens 377
Das Osmanenreich erhält zum ersten Male Staatsschulden, ohne Kredit zu erhalten. Es gerät in die Lage eines Gutsbesitzers, der auf Hypotheken nicht nur einen Vorschuß aufnimmt, sondern sich verpflichtet, dem Hypothekengläubiger die Verwaltung der vorgeschossenen Summe zu überlassen. Ihm das Gut selbst überlassen, ist der einzige Schritt, der übrigbleibt. Durch ein ähnliches Anleihesystem hat Palmerston Griechenland demoralisiert und Spanien paralysiert. Aber der Schein ist auf seiner Seite. Die Beteiligung der Friedenspartei an der Opposition gegen die Anleihe verstärkt den Schein. Durch eine Volte steht er wieder als Repräsentant des Kriegs der Gesamtopposition als Repräsentantin des Friedens gegenüber. Welchen Krieg er zu führen gedenkt, wissen wir. In der Ostsee durch nutzlose und resultatlose Mordbrennereien Finnland besser an Rußland ketten. In der Krim Schlächtereien verewigen, in denen nur die Niederlage, nicht der Sieg, zur Entscheidung führen kann. Seiner alten Gewohnheit gemäß wirft er auswärtige Allianzen in die parlamentarische Waagschale. Bonaparte hat die Anleihe bereits durch sein sog. „legislatives Korps" sanktionieren lassen. Das englische Parlament muß sich bequemen, zum Echo des „legislativen Korps" zum Echo eines Echos zu werden, oder die Allianz ist gefährdet. Während Palmerston die französische Allianz als Schild gebraucht, um jeden Schlag von sich abzuparieren, genießt er zugleich die Genugtuung, daß sie Schläge erhält. Zum Beweis, daß er „den rechten Mann an den rechten Platz setzt", hat Palmerston den Sir W[illiam] Molesworth zum Minister der Kolonien und den Sir B[enjamin] Hall, statt Molesworth, zum Minister der Waldungen und Domänen befördert. Molesworth gehört zur Kolonisationsschule Wakefields[2ßQ\ Ihr Prinzip ist, in den Kolonien das Land künstlich zu verteuern und die Arbeit künstlich zu verwohlfeilern, um die „nötige Kombination der Produktivkräfte" zu erzeugen. Die versuchsweise Anwendung dieser Theorie in Kanada vertrieb die Einwanderer von dort nach den Vereinigten Staaten und nach Australien.
In diesem Augenblick sitzen 3 Untersuchungskomitees in London, eins von dem Kabinett, die beiden anderen vom Parlament ernannt. Das erste, aus den Recorders1 von London, Manchester und Liverpool gebildet, über die Hyde-Park~Szenent sieht sich täglich überströmt von Beweisen, nicht nur, daß die Konstabier unerhört brutal, sondern daß sie vorbedächtlich und auf Ordre brutal waren. Wenn rücksichtslos, müßte die Untersuchung bei Sir George Grey und dem Kabinett als den Hauptschuldigen anfangen. Das zweite Komitee, unter dem Vorsitz von Berkeley, mit den Wirkungen der Akte
1 höchsten Kriminalrichtern
über den „Verkauf spirituöser Getränke an Sonntagen" beschäftigt, zeigt die scheinheilige Oberflächlichkeit sabbatarischer Gesellschafts-Verbesserungsexperimente. Statt abzunehmen, hat die Zahl der Exzesse aus Trunkenheit zugenommen. Nur sind sie teilweise von dem Sonntag auf den Montag verlegt. Das dritte Komitee, unter dem Vorsitz Scholefields, beschäftigt sich mit den Verfälschungen von Speisen, Getränken und aller zum Lebensunterhalt gehörigen Waren.12071 Die Verfälschung stellt sich als Regel, die Echtheit als Ausnahme dar. Die beigemischten Substanzen, um Farbe, Geruch, Geschmack wertlosen Substraten zu erteilen, sind großenteils giftig, alle gesundheitszerstörend. Der Handel erscheint hier als ein großes Laboratorium des Betrugs, die Warenliste als ein diabolischer Katalog von Scheinwesen, die freie Konkurrenz als die Freiheit zu vergiften und vergiftet zu werden. Der „Bericht der Fabrikinspektoren"12081 für das Halbjahr, endend den 30. April, ist beiden Häusern des Parlaments vorgelegt worden — ein unschätzbarer Beitrag zur Charakteristik der Manchester Friedensmänner11081 und der Klasse, die der Aristokratie das Regierungsmonopol bestreitet. Die „Unfälle, verursacht durch die Maschinerie" werden in dem Bericht klassifiziert unter die Rubriken:
1. „Todbewirkend", 2. „Verlust der rechten Hand oder des rechten Armes; Verlust eines Teils der rechten Hand; Verlust der linken Hand oder des linken Arms; Verlust eines Teils des linken Arms; Hand- und Beinbruch; Beschädigungen des Kopfs und des Gesichts" und 3. »Zerreißungen, Kontusionen und andre oben nicht aufgeführte Schäden".
Wir lesen von einer jungen Frau, „die ihre rechte Hand verlor", von einem Kinde, das „seine Nasenknochen eingestampft und auf beiden Augen die Sehkraft durch die Maschine zerstört hatte", von einem Manne, dem das „linke Bein abgesägt, der rechte Arm an drei oder vier Stellen gebrochen, der Kopf furchtbar verstümmelt wurde"; von einem Jüngling, dem „der linke Arm aus dem Schultergelenk gerissen, nebst anderen Beschädigungen" und von einem andern Jüngling, der „beide Arme aus den Schultergelenken gerissen, den Unterleib zerfetzt hatte, so daß die Eingeweide herausbrachen, beide Schenkel und den Kopf zerquetscht" etc. etc. Das Industriebulletin der Fabrikinspektoren ist furchtbarer, entsetzlicher als irgendeins der Schlachtbulletins von der Krim. Weiber und Kinder stellen ein regelmäßiges und bedeutendes Kontingent zur Liste der Verwundeten und Getöteten. Tod und Wunden sind nicht rühmlicher als die Farben, die die Peitsche des Plantagenbesitzers auf den Leib des Negers zeichnet. Sie sind beinahe ausschließlich verschuldet durch Versäumung der gesetzlich vorgeschriebenen Einfriedigungen der
Physiologie der herrschenden Klassen Großbritanniens 379
Maschinen. Man wird sich erinnern, daß die'Fabrikanten von Manchester dieser Metropole der Friedenspartei um jeden Preis - das Kabinett mit Deputationen bestürmten, mit Protesten gegen die Akte, die gewisse Sicherheitsvorkehrungen beim Gebrauch der Maschinerien befiehlt. Da sie das Gesetz zunächst nicht umwerfen konnten, suchten sie den Fabrikinspektor L[eonard] Horner zu beseitigen, wegzuintrigieren und einen gefügeren Gesetzeswächter an seine Stelle zu spielen. Bisher noch ohne Erfolg. Sie behaupteten, die Einführung der Sicherheitsapparate werde ihren Profit aufessen. Horner beweist jetzt, daß sich wenige Fabriken in seinem Distrikt befinden, die nicht zu dem Preise von 10 Pfd.St. sicher gemacht werden könnten. Die Gesamtzahl der aus der Maschinerie entspringenden Unfälle während der sechs Monate, die der Bericht einschließt, beträgt 1788, darunter 18 tödliche. Der Totalbetrag der den Fabrikanten auferlegten Geldstrafen, des von ihnen geleisteten Schadenersatzes usw. beläuft sich in derselben Periode auf 298 Pfd. St. Um diese Summe vollzumachen, sind eingeschlossen die Geldstrafen für „Arbeitenlassen während gesetzwidriger Stunden", für „Anwendung von Kindern unter 8 Jahren" usw., so daß die für 18 Todesfalle und 1770 Verstümmelungen verhängten Geldstrafen noch lange nicht 298 Pfd. St. erreichen. 298 Pfd. St.! Es ist weniger als der Preis eines Rennpferdes dritter Klasse! Das Roebuck-Komitee und die britische Oligarchie! Scholefields Komitee und die britische Handelsklasse! Der Bericht der Fabrikinspektoren und die britischen Fabrikherren - unter diese drei Rubriken läßt sich die Physiologie der jetzt in Großbritannien herrschenden Klassen anschaulich gruppieren.

KARL MARX
Lord John Russell12091
Geschrieben vom 25. Juli bis 12. August 1855.
1
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.347 vom 28.JuIi 1855] London> 25, Juli. Es ist ein altes Whig-Axiom, das Lord John Russell zu zitieren liebte, daß „Parteien den Schnecken gleichen, bei denen es der Schwanz ist, der den Kopf bewegt". Schwerlich ahnte ihm, daß der Schweif, um sich zu retten, das Haupt abschlagen werde. Wenn nicht das Haupt des „iletzten der Whig-Kabinetts", war er unstreitig das Haupt der Whig-Partei. Burke sagte einmal: „Die Zahl der Güter, Landsitze, Schlosser, Waldungen usw., die dem englischen Volke von den Russells abgepreßt worden, sei völlig unglaublich" (quite incredible).t210l Unglaublicher würde der Ruf sein, den Lord John Russell genießt, und die hervorragende Rolle, die er seit länger als einem Vierteljahrhundert zu spielen gewagt, böte nicht die „Zahl der Güter", die seine Familie usurpiert hat, den Schlüssel zum Rätsel. Während seines ganzen Lebens schien Lord John nur nach Stellen zu jagen und an den erjagten Stellen so verstockt festzuhalten, um jeden Anspruchs auf Macht verlustig zu gehen. So 1836-1841, wenn ihm die Stelle des Führers der Gemeinen zugefallen war. So 1846 bis 1852, als er sich Premierminister nannte. Der Schein von Gewalt, der ihn als Leiter einer staatsschatzstürmerischen Opposition umgab, verschwand jedesmal mit dem Tage, wo er zur Macht kam. Sobald er aus einem Out1 ein In2 wurde, war es am mit ihm. Bei keinem anderen englischen Staatsmanne ward je in demselben Grade die Macht zur Ohnmacht. Aber kein anderer wußte auch je so seine Ohnmacht zur Macht zu erheben.
1 (der nicht im Amt, nicht im Ministerium ist) Oppositionellen - 2 (im Amt, im Ministerium befindlicher) Regierungsmitglied
Außer vom Einfluß der herzoglich Bedfordschen Familie, deren jüngerer 4 Sohn Lord John, war die Scheingewalt, über die er periodisch verfügte, unterstützt von dem Mangel aller Eigenschaften, die im allgemeinen einen Menschen befähigen, über andere Menschen zu herrschen. Seine diminutive Ansicht von allen Dingen teilte sich wie durch Ansteckung andern mit und trug mehr dazu bei, das Urteil seiner Hörer zu verwirren, als die genialste Verdrehung vermocht hätte. Sein wahres Talent besteht in der Fähigkeit, alles, was er berührt, auf seine eigenen zwergartigen Dimensionen zu reduzieren, die Außenwelt auf einen infinitesimal kleinen Maßstab zusammenzuziehen und in einen vulgären Mikrokosmos von seiner eigenen Erfindung zu verwandeln. Sein Instinkt, das Großartige zu verkleinern, wird nur übertroffen von seiner Kunst, das Kleinliche groß aussehn zu machen. Lord John. Russells ganzes Leben war ein Leben auf falsche Vorwände falsche Vorwände von Parlamentsreform, falsche Vorwände von Religionsfreiheit, falsche Vorwände von Freihandel. So aufrichtig war sein Glauben in das Genüge falscher Vorwände, daß er es für durchaus tunlich hielt, nicht nur britischer Staatsmann auf falsche Vorwände zu werden, sondern auch Dichter, Denker und Geschichtschreiber auf falsche Vorwände. Nur so ist es möglich, Rechenschaft abzulegen von der Existenz solcher Lappalien wie seine Tragödie „Don Carlos, oder die Verfolgung" oder sein „Versuch einer Geschichte der englischen Regierung und Konstitution von der Herrschaft Heinrichs VII. bis zur Jetztzeit" oder seine „Memoiren über die Angelegenheiten Europas seit dem Frieden von Utrecht"I2U]. Der egoistischen Enge seines Gemüts bietet jeder Gegenstand nichts als eine Tabula rasa1, worauf es ifim freisteht, seinen eigenen Namen zu schreiben. Seine Meinungen hingen nie von der Realität der Tatsachen ab, sondern für ihn hängen die Tatsachen selbst von der Ordnung ab, worin er sie in Redensarten rangiert. Als Redner hat er nicht einen erwähnenswerten Einfall hinterlassen, nicht eine tiefe Maxime, keine solide Beobachtung, keine gewaltige Beschreibung, keinen schönen Gedanken, keine lebendige Anspielung, kein humoristisches Gemälde, keine wahre Empfindung. Die „jzahmste Mittelmäßigkeit** wie Roebuck in seiner Geschichte des Reformministeriums gesteht[2123, überraschte seine Zuhörer, selbst als er den größten Akt seines öffentlichen Lebens beging, als er seine sogenannte Reformbill ins Haus der Gemeinen brachte. Er besitzt eine eigentümliche Manier, seinen trocknen, schleppenden, monotonen, auktionärartigen Vortrag zu verbinden mit schülerhaften Illustrationen aus der Historie und mit einem gewissen feierlichen Kauderwelsch über „die
1 unbeschriebenes Blatt
Schönheiten der Konstitution", die „allgemeinen Freiheiten des Landes", die „Zivilisation" und den „Fortschritt". In wirkliche Wärme fällt er nur, wenn nicht persönlich gereizt oder von seinen Gegnern aus der geheuchelten Haltung von Arroganz und Selbstgenüge in alle Symptome leidenschaftlicher Schwäche hineingestachelt. Man ist in England allgemein übereingekommen, seine zahllosen Fehlsprünge aus einer gewissen instinktiven Raschheit zu erklären. In der Tat ist auch diese Raschheit nur falscher Vorwand. Sie reduziert sich auf die unvermeidliche Reibung von Ausflüchten und Notmitteln, die nur für die gegenwärtige Stunde berechnet sind, mit der ungünstigen Konstellation der folgenden Stunde. Russell ist nicht instinktiv, sondern berechnend; aber klein, wie der Mann, ist seine Berechnung - stets nur Behelf für die nächste Stunde. Daher beständige Schwankungen und Winkelzüge, rasche Avancen, schmähliche Retiraden, herausfordernde Worte, weislich wieder verschluckt, stolze Pfänder schäbig ausgelöst und, wenn sonst nichts helfen will, Tränen und Schluchzen, um die Welt zu erweichen. Daher kann sein ganzes Leben betrachtet werden entweder als ein systematischer sham1 oder als ein ununterbrochener Schnitzer. Es mag wunderbar erscheinen, daß irgendein öffentlicher Charakter solche Armeen von totgebornen Maßregeln, erschlagenen Projekten und abortierten Schemas überlebt hat. Aber wie der Polyp durch Amputation gedeiht, so Lord John Russell durch Abortion. Die Mehrzahl seiner Pläne wurde nur vorgebracht zu dem Behuf, den Mißmut seiner Alliierten, der sog. Radikalen, zu besänftigen, während ein Einverständnis mit seinen Gegnern, den Konservativen, ihm das „Bürgen112 dieser Pläne sicherte. Seit den Tagen des reformierten Parlaments, wer könnte eine einzige seiner „weiten und liberalen Maßregeln", seiner „großen Reform-Abschlagzahlungen" nennen, von deren Schicksal er das Schicksal seines Kabinetts abhängig gemacht hätte? Umgekehrt. Was mehr als alles andere beitrug, sein Ministerium zu halten und zu verlängern, war das Vorschlagen von Maßregeln zur Befriedigung der Liberalen und ihre Zurücknahme zur Befriedigung der Konservativen. Es gibt Perioden in seinem Leben, wo Peel ihn absichtlich am Ruder hielt, um nicht gezwungen zu sein, Dinge zu tun, von denen er wußte, daß Russell nur schwatzen werde. In solchen Epochen geheimen Einverständnisses mit dem offiziellen Gegner entwickelte Russell Frechheit gegen seine offiziellen Verbündeten. Er ward tapfer - auf falsche Vorwände. Wir werden auf seine Leistungen von 1830 bis jetzt einen Rückblick werfen. Das verdient dieses Genie der Alltäglichkeit.
1 Schwindel - 2 „ Unterdrücken"
25 Marx/Engels. Werke» Bd. TT
II
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 359 vom 4. August 1855]
London, I.August. „Wenn ich ein Maler wäre", sagte Cobbett, „dort würde ich die englische Konstitution hinstellen, unter demBild einer alten Eiche, verfault an der Wurzel, ihre Wurzel tot, ihr Stamm hohl, wackelnd an der Grundlage, hin- und hergeworfen von jedem Windstoß, und hier würde ich Lord John Russell hinsetzen, in der Person eines Zaunkönigs, bemüht, alles in Ordnung zu bringen, indem er * ^h einem Rest von Insektchen auf der halbvermoderten Rinde eines der niedrigsten Zweige pickt. Einige vermuten sogar, daß er an den Knospen nagt, unter dem Vorwand, die Rinde von schädlichen Insekten zu säubern." So diminutiv waren Russells Reformversuche in seiner antediluvianischen Periode von 1813-1830, aber diminutiv, wie sie waren, waren sie nicht einmal aufrichtig. Er schwankte keinen Augenblick, sie zu verleugnen, auf den bloßen Geruch eines Ministerpostens. Seit 1807 hatten die Whigs vergeblich nach Teilnahme an der steuerverzehrenden Funktion geschmachtet, als 1827 die Bildung von Cannings Kabinett, mit dem sie in bezug auf Gegenstände des Handels und der auswärtigen Politik zu sympathisieren vorschützten, ihnen die lang gesuchte Gelegenheit zu bieten schien. Russell hatte damals eine seiner ZaunkönigMotionen für parlamentarische Reform auf der Tagesordnung stehen, als Canning seinen festen Entschluß erklärte, bis zum Ende seines Lebens jeder Parlamentsreform zu widerstehen. Aufstand Lord John, seine Motion zurückzuziehen. „Parlamentsreform", sagte er, „sei eine Frage, worüber große Verschiedenheit der Ansicht unter denen herrsche, die sie verteidigten, und die Führer der Whigs seien stets unwillig gewesen, sie als Parteifrage anzuerkennen. Es sei nun das letztanal, daß er diese Frage vorbringe." Er endete seine Rede mit der insolenten Erklärimg: „Das Volk wünsche die Parlamentsreform nicht länger." Er, der stets renommiert hatte mit seiner geräuschvollen Opposition gegen Castlereaghs berüchtigte 6 Zwangsakte von 1819Im], enthielt sich nun aller Abstimmung über einen Antrag Humes für den Widerruf einer dieser Akte, die einen Mann lebenslänglicher Transportation aussetzte für jede Druckschrift, worin auch nur die Tendenz gefunden werde, eines der Häuser des Parlaments der Verachtung auszusetzen.
So, am Schlüsse der ersten Periode seines parlamentarischen Lebens, finden wir Lord John Russell seine mehr als zehnjährigen Reformbekenntnisse Lügen strafend und völlig übereinstimmend mit Horace Walpoles, dieses Prototyps der Whigs, Äußerung gegenüber Conway: „Populäre Bills werden nie ernsthaft vorgeschlagen, sondern stets nur als Parteiinstrument, aber nicht als ein Pfand für die Verwirklichung solcher extravaganten Ideen!* Es war also keinenfalls Russells Fehler, wenn er, statt die Reformmotion im Mai 1827 zum letzten Male vorzubringen, sie 4 Jahre später, am I.März 1831, in der Gestalt der berühmten Reformbill zu wiederholen hatte. Diese Bill, worauf er noch immer seinen Anspruch auf die Bewunderung der Welt im allgemeinen und Englands im besondern gründet, hatte ihn keineswegs zum Verfasser. In ihren Hauptzügen, dem Aufbrechen des größern Teiles der Wahl-Boroughs1, der Zufügung der Grafschaftsmitglieder, dem Wahlrecht für Copyholders, Leaseholders12141 und 24 der bedeutendsten englischen Handels- und Fabrikstädte, war sie eine Kopie der Bill, die Graf Grey (der Chef des Reformministeriums von 1830) 1797, wenn in der Opposition, dem Hause der Gemeinen vorgelegt, aber weislich vergessen hatte, als er sich 1806 im Kabinett befand. Es ist dieselbe Bill, oberflächlich modifiziert. Wellingtons Vertreibung aus dem Kabinett, weil er sich gegen Parlamentsreform erklärt, die französische Julirevolution, die drohenden großen politischen Unionen, von den Mittel- und Arbeiterklassen in Birmingham, Manchester, London usw. gebildet, der Bauernkrieg in den Ackerbaugrafschaften, der rote Hahn, der in den fruchtbarsten Distrikten Englands sein Feuer umhertnig[2i5] _ ajje dJese Umstände zwangen die Whigs, irgendeine Reformbill vorzuschlagen. Sie gaben nach, verdrießlich, zögernd, nach vergeblich wiederholten Versuchen, ihre Stellen durch ein Kompromiß mit den Tories zu sichern. Sie wurden daran verhindert zugleich durch die furchtbare Haltung des Volks und die starre Unversöhnlichkeit der Tories. Kaum war indes die Reformbill zum Gesetz erhoben und in Praxis getreten, als, um Brights Worte zu gebrauchen (vom 6. Juni 1849), das Volk „zu fühlen begann, daß es geprellt war". Nie vielleicht hat eine mächtige und allem Anschein nach erfolgreiche Volksbewegung sich in winzigere Scheinresultate verlaufen. Nicht nur wurden die Arbeiterklassen von allem politischen Einfluß ausgeschlossen, die Mittelklassen selbst entdeckten bald, daß es nicht Redefigur war, wenn Lord Althorp, die Seele des Reformkabinetts, seinen Tory-Gegnern zurief:
1 Wahlflecken
„Die Reformbill sei die aristokratischste Maßregel, die jemals der Nation geboten worden." Die neue Landrepräsentation überwog weit den den Städten eingeräumten Zuwachs von Stimmen. Dies Stimmrecht, das den Pächtern1 auf Kündigung gegeben wurde, machte die Grafschaften noch vollständiger zu Werkzeugen der Aristokratie. Die Unterschiebung von Hausbesitzern, deren Haus jährlich 10 Pfd.St. trägt für die Zahler von Schoß und Zoll, entzog einem großen Teil der städtischen Bevölkerung ihr Stimmrecht. Die Verleihung und Entziehung des Wahlrechts war im ganzen berechnet nicht auf Vermehrung des Einflusses der Mittelklassen, sondern auf Ausschließung des Tory- und Förderung des Whig-Einflusses. Durch eine Reihe der außerordentlichsten Winkelzüge, Pfiffe und Betrügereien wurde die Ungleichheit der Wahlbezirke erhalten, das ungeheure Mißverhältnis zwischen Zahl der Repräsentanten und Bevölkerung und Wichtigkeit der Wahlkörperschaften wiederhergestellt. Wenn ungefähr 56 faule Flecken, jeder mit einer Handvoll Einwohnern, aufgehoben, wurden ganze Grafschaften und volkreiche Städte in faule Flecken verwandelt. John Russell gesteht selbst in einem Briefe an seine Wähler von Stroud „über diePrinzipien der Reformbill" (1839), daß das „10-Pfund-Stimmrecht durch Regulationen aller Art gefesselt und die jährliche Registration der Wahlfähigen zu einer Quelle von Schikanen und Unkosten gemacht" ward. Wo Einschüchterung und traditioneller Einfluß nicht verewigt werden konnten, wurden sie ersetzt durch Bestechung, die, seit dem Durchgehn der Reformbill, der Eckstein der britischen Konstitution wurde. Dieses war die Reformbill, deren Trompete Russell war, ohne ihr Urheber zu sein. Die einzigen Klauseln, die erwiesenermaßen seiner Erfindung geschuldet werden, sind die Klausel, die von allen Freeholders[216], mit Ausnahme der Geistlichen, einjährigen Besitz ihres Grundstücks erheischt, und die andere Klausel, wodurch Tavistock, der „faule Flecken" der Familie Russell, seine Privilegien unversehrt erhält. Russell war nur subalternes Mitglied des Reformministeriums (von 1830 bis November 1834), nämlich Zahlmeister der Armee ohne Stimme im Kabinett. Er war vielleicht der unbedeutendste unter seinen Kollegen, aber trotz alledem der jüngste Sohn des einflußreichen Herzogs von Bedford. Man kam daher überein, ihm die Ehre der Einführung der Reformbill in das Haus der Gemeinen zu überlassen. Ein Hindernis stand diesem Familienarrangement im Wege. Während der Reformbewegung vor 1830 hatte Russell stets
1 In der „New-York Daily Tribüne" Nr. 4479 vom 28.August 1855 folgen hier die Worte: „die jährlich einen Pachtvertrag von 50 Pfd. St. zahlen"
figuriert als „Henry Broughams little man" (Heinrich Broughams kleiner Mann). Russell konnte die Reformbill nicht zum Vortrag überlassen werden, solange Brougham neben ihm im Unterhause saß. Das Hindernis wurde beseitigt, indem man den eitlen Plebejer ins Haus der Lords auf den Wollsack12171 warf. Da die bedeutendem Mitglieder des ursprünglichen Reformkabinetts bald ins Oberhaus traten (so Althorp 1834), ausstarben oder zu den Tories übergingen, fiel Russell nicht nur das Gesamterbe des Reformministeriums zu, sondern er galt bald für den Vater des Kindes, bei dem er zur Taufe gestanden hatte. Er gedieh auf den falschen Vorwand, der Verfasser einer Reformbill zu sein, die selbst eine Verfälschung und eine Eskamotage war. Sonst zeichnete er sich während der Jahre 1830-1834 nur durch die ärgerliche Bitterkeit aus, womit er jeder Untersuchung der Pensionsliste widerstand.
III
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 363 vom 7. August 1855] London, 3.August. Wir kdfiren zur Charakteristik Russells zurück. Wir werden länger bei ihm verweilen, einmal weil er der klassische Repräsentant des modernen Whiggismus, dann, weil seine Geschichte, wenigstens nach einer Seite hin, die Geschichte des reformierten Parlaments bis zur Jetztzeit einschließt. In seiner Bevorwortung der Reformbill machte Russell in bezug auf das Ballot (Wahl durch Kugelung) und kurze Parlamente - die Whigs haben bekanntlich die einjährigen Parlamente Englands 1694 in dreijährige und 1717 in siebenjährige verwandelt - folgende Erklärung:
»Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Ballot viel Empfehlungswertes für sich hat. Die zu seinen Gunsten vorgebrachten Gründe sind so scharfsinnig und schlagend wie irgendwelche, die ich je in bezug auf irgendeinen Streitpunkt vorbringen hörte. Indes muß das Haus sich hüten, zu einem übereilten Beschluß zu kommen... Die Frage der kurzen Parlamente ist von der äußersten Wichtigkeit. Ich überlasse es einem andern Mitglied des Hauses, sie künftig vorzubringen, da ich meinen großen Vorwurf nicht mit Details überhäufen darf."
Am 6. Juni 1833 behauptete er,
„sich enthalten zu haben der Beantragung dieser zwei Maßregeln, um eine Kollision mit dem Hause der Lords zu vermeiden, obgleich Meinungen (!) tief in seiner Brust
wurzelnd. Er sei überzeugt, daß sie wesentlich für das Glück, den Wohlstand und die Wohlfahrt des Landes seien." (Man hat hier zugleich ein Beispiel von seiner Art Rhetorik.)
Infolge dieser „tiefgewurzelten Überzeugung" zeigte er sich während seiner ganzen ministeriellen Laufbahn als beständigen und unerbittlichen Feind des Bailots und kurzer Parlamente. Zur Zeit, wo diese Erklärungen gemacht wurden, dienten sie als doppelter Notbehelf. Sie beschwichtigten die mißtrauischen Demokraten des Unterhauses; sie verschüchterten die widerspenstigen Aristokraten des Oberhauses. Sobald sich indes Russell des neuen Hofes der Königin Victoria versichert hatte (siehe Broughams Antwort auf Russells Brief an die Wähler von Stroud, 1839) und sich nun einen unsterblichen Stelleneigentümer dünkte, trat er hervor mit seiner Erklärung vom November 1837, worin er „die extreme Länge, wozu die Reformbill fortgegangen", damit rechtfertigte, daß sie die Möglichkeit jeden Weitergehens absperre.
„Der Zweck der Reformbill", sagte er, „war, das Übergewicht des GrundeigentumsInteresses zu vermehren, und sie war gemeint als die permanente Lösung einer großen konstitutionellen Frage." • Kurz, er trat hervor mit seiner Abschlußerklärung, die ihm den Titel „Finality-John" eintrug. Es war ihm indes nicht mehr Ernst mit der „Finality"1, dem Stehenbleiben, als mit dem Weitergehen. Es ist wahr. Er widersetzte sich 1848 Humes Parlamentsreform-Antrag. Mit der vereinten Macht der Whigs, Tories und Peeliten1111 schlug er Hume wieder, als dieser 1849 eine ähnliche Motion stellte, mit einer Majorität von 268 gegen 82. Kühn gemacht durch die konservative Reserve, forderte er trotzig heraus:
„Als wir die Reformbill entwarfen und vorschlugen, wünschten wir die Repräsentation dieses Hauses den andern Staatsgewalten anzupassen und es in Harmonie mit der Konstitution zu halten. Herr Bright und seine Meinungsgenossen sind so außerordentlich enggeistig, ihre Urteilskraft und ihr Verstand sind in so enge Schranken gebannt, daß es förmlich unmöglich ist, ihnen die großen Prinzipien begreiflich zu machen, worauf unsere Vorfahren die Konstitution des Landes begründet haben, und die wir, ihre Nachfolger, in Demut bewundern und nachzuahmen suchen. Das Haus der Gemeinen, in den 17 Jahren, die seit der Reformbill verflossen, hat alle gerechten Erwartungen befriedigt. Das bestehende System, obgleich einigermaßen unregelmäßig, wirkt gut und gerade wegen seiner Regelwidrigkeit gut."
1 „Abschluß44
Da Russell indes 1851 eine Niederlage erlitt bei Gelegenheit von Locke Kings Motion, das Wahlrecht in den Grafschaften auf Besitzer zu einem Jahresertrag von 10 Pfd. St. auszudehnen da er sich selbst gezwungen sah, für einige Tage zu resignieren, leuchtete seinem „weitgeistigen" Verstände plötzlich die Notwendigkeit einer neuen Reformbill ein. Er verpfändete sich dem Hause, sie einzubringen. Er verschwieg, worin seine „Maßregel" bestehen sollte, aber er stellte einen Wechsel auf sie aus, zahlbar in der nächsten Sitzung des Parlaments.
„Der Anspruch des gegenwärtigen Ministeriums auf die Stelle, die es einnimmt", erklärte damals die „Westminister Review", das Organ der mit Russell verbündeten sog. Radikalen, „war zum Stichwort des Hohnes und des Vorwurfs geworden, und schließlich, als sein Sturz und die Vernichtung seiner Partei unvermeidlich schien, rückte Lord John heraus mit dem Versprechen einer neuen Reformbill für 1852. Haltet euch am Posten, ruft er, bis zu jener Frist, und ich werde eure Sehnsucht durch eine breite und liberale Reformmaßregel befriedigen."
1852 schlug er in der Tat eine Reformbill vor, diesmal seiner eigensten Erfindung, aber von so wunderlich liliputanischen Umrissen, daß weder die Konservativen es der Mühe wert hielten, sie anzugreifen, noch die Liberalen, sie zu verteidigen. Jedenfalls bot der Reformabort dem kleinen Mann den Vorwand, als er endlich vom Ministerium scheiden mußte, seinem siegreichen Nachfolger, dem Grafen Derby, einen skythischen Pfeil im Fliehen zuzuschleudern. Er machte seinen Exit mit der pomphaften Drohung, daß er „auf der Ausdehnung des Wahlrechts bestehen werde \ Die Ausdehnung des Wahlrechts war ihm nun zur „Herzenssache" geworden. Kaum aus dem Kabinett herausgeworfen, lud dieses Kind des Notbehelfs, jetzt von seinen eigenen Anhängern „Foul weather Jack" (Schlecht-Wetter-Hans) benamst, zu seiner Privatresidenz in Chesham Place die verschiedenen Fraktionen ein, aus deren Ehe das schwächliche Ungeheuer der Koalition entsprang. Er vergaß nicht, nach den „außerordentlich enggeistigen" Brights und Cobdens zu schicken, in feierlicher Versammlung vor ihnen seine eigene Weitgeistigkeit abzubitten, und ihnen einen neuen Wechsel auf einen „größern" Reformbetrag auszustellen. Als Mitglied des Koalitionskabinetts, 1854, belustigte er die Gemeinen mit einem abermaligen Reformprojekt, wovon er wußte, daß es bestimmt sei, eine andere Iphigenie, von ihm, einem anderen Agamemnon, zum Frommen eines andern Trojazuges geopfert zu werden. Er vollführte das Opfer in dem melodramatischen Stile Metastasios, die Augen gefüllt mit Tränen, die indes trockneten, sobald der „gehaltlose" Sitz, den er im Kabinett einnahm, durch eine armselige Intrige gegen Herrn Strutt, einen seiner
eigenen Parteigänger, vertauscht war mit der Kabinettspräsidentenschaft, Gehalt 2000 Pfd. St. Der zweite Reformplan sollte sein fallendes Kabinett stützen, der dritte das Tory-Kabinett fällen. Der zweite war eine Ausflucht, der dritte eine Schikane. Den zweiten richtete er so ein, daß niemand zugreifen wollte; den dritten brachte er vor in einem Augenblick, wo niemand zugreifen konnte. In beiden bewies er, daß, wenn ihn das Schicksal zum Minister, die Natur ihn zum Kesselflicker bestimmt hat, wie den Christopher Sly[21SI. Selbst von der ersten und allein verwirklichten Reformbill begriff er nur den oligarchischen Kniff, nicht den historischen Pfiff.
IV
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.365 vom 8. August 1855] London, 4. August. Mit dem Ausbruch des Anti-Jakobinerkrieges begann der Einfluß der Whigs in England in eine Periode der Ebbe zu treten, die tiefer und tiefer fiel. Sie wandten daher ihre Augen nach Irland, beschlossen, es in die Waagschale zu werfen, und schrieben auf ihr Parteibanner: Irische Emanzipation. Als sie 1806 für einen Augenblick zur Regierung kamen, legten sie in der Tat eine kleine irische Emanzipationsbill dem Hause der Gemeinen vor, brachten sie durch die zweite Lesung und zogen sie dann freiwillig wieder zurück, um dem bigotten Idiotismus Georgs III. zu schmeicheln. 1812 suchten sie sich dem Prinzregenten (später Georg IV.), wenn auch umsonst, als die einzig möglichen Werkzeuge der Aussöhnung mit Irland aufzudrängen. Vor und während der Reformagitation krochen sie vor und um O'Connell, und die „Hoffnungen Irlands*4 dienten ihnen als mächtige Kriegsmaschine. Dennoch, bei der ersten Versammlung des ersten reformierten Parlaments, bestand der erste Akt des Reformministeriums in einer Kriegserklärung gegen Irland, in der „brutalen und blutigen" Maßregel der „Zwangsbill", die Irland dem Standrecht unterwarf1. Die Whigs erfüllten ihre alten Versprechen „mit Feuer, Gefängnis, Transportation und selbst mit Tod". O'Connell wurde verfolgt und verurteilt wegen Aufstandes. Indessen hatten die Whigs die
1 In der „New-York Daily Tribüne" wird das Ende dieses Satzes so gebracht: „... in einer Erklärung des Bürgerkrieges gegen Irland, in einer ,brutalen und blutigen Maßregel', der Zwangsbill, der »Bill über das Tribunal der Roten Röcke*, nach der in Irland an Stelle der Richter und Geschworenen Offiziere eingesetzt wurden."
Zwangsbill gegen Irland nur eingebracht und nur durchgebracht auf die ausdrückliche Verpflichtung hin, eine andere Bill, eine Bill über die englische Staatskirche in Irland vorzulegen. Diese Bill - hatten sie sich weiter verpflichtet - solle eine Klausel enthalten, die gewisse Überschüsse aus den Einkünften der Staatskirche in Irland zur Verfügung des Parlaments stelle. Das Parlament seinerseits solle über sie verfügen im Interesse Irlands. Die Wichtigkeit dieser Klausel bestand in der Anerkennung des Prinzips, daß das Parlament die Macht zur Expropriation der Staatskirche besitzt-ein Prinzip, wovon Lord John Russell um so sicherer überzeugt sein sollte, als das ganze ungeheure Vermögen seiner Familie aus ehemaligen Kirchengütern besteht. Die Whigs versprachen, mit jener Kirchenbill zu stehen oder zu fallen. Sobald aber die Zwangsbill votiert war, zogen sie unter dem Vorwande, eine Kollision mit dem Hause der Lords zu vermeiden, die obenerwähnte Klausel, die einzige, die ihrer Kirchenbill Wert gab, zurück. Sie überstimmten und schlugen ihren eigenen Vorschlag. Dies geschah 1834. Gegen Ende desselben Jahres jedoch schien ein elektrischer Stoß die irischen Sympathien der Whigs neu belebt zu haben. Sie hatten nämlich vor Sir Robert Peel im Herbst 1834 das Kabinett räumen müssen. Sie waren auf die Oppositionsbänke zurückgeschleudert. Und sofort finden wir unsern John Russell eifrig tätig am Aussöhnungswerk mit Irland. Er war Hauptagent in den Negotiationen zum Lichfield-House-Vertrag[971, der Januar 1835 abgeschlossen wurde. Die Whigs überlassen darin dem O'Connell diePatronage (Vergebung von Amtern etc.) in Irland, während O'Connell ihnen die irischen Stimmen innerhalb und außerhalb des Parlaments sichert. Aber ein Vorwand war nötig zur Vertreibung der Tories aus Downing Street[1531. Russell, mit charakteristischer „Unverschämtheit", wählte die Kircheneinkünfte Irlands als Schlachtfeld, und als Kampfparole dieselbe Klausel - unter dem Namen Appropriationsklausel berüchtigt geworden die er und seine Kollegen vom Reformministerium selbst kurz vorher zurückgezogen und aufgeopfert hatten. Peel wurde in der Tat geschlagen unter der Parole der „Appropriationsklausel". Das Melbourne-Kabinett ward gebildet, und Lord John Russell installierte sich als Minister des Innern und Führer des Hauses der Gemeinen. Jetzt pries er sich selbst, einerseits wegen seiner geistigen Festigkeit, weil er, obgleich nun im Amte, fortfahre, an seinen Meinungen über die Appropriationsklausel festzuhalten; andrerseits wegen seiner moralischen Mäßigung, weil er davon abstehe, auf diese Meinungen hin zu handeln. Niemals hat er sie aus Worten in Handlungen übersetzt. Als Premierminister, 1846, siegte seine moralische Mäßigung so weit über seine geistige Festigkeit, daß er auch die „Meinung" verleugnete. Er kenne, rief er aus, keine fataleren
Maßregeln als solche, die die Staatskirche in ihrer substantiellen Wurzel, ihren Einnahmen, bedrohten. Im Februar 1833 denunzierte John Russell im Namen des Reformministeriums die irische Repealagitation[981. „Ihr wirklicher Zweck", rief er den Gemeinen zu, „sei, das vereinigte Parlament ohne Umstände über den Haufen zu werfen und an die Stelle von König, Lords und Gemeinen des Vereinigten Königreichs ein Parlament zu setzen, dessen Leiter und Haupt O'Connell wäre." Im Februar 1834 wurde die Repealagitation abermals in der Thronrede denunziert, und das Reformministerium schlug eine Adresse vor, um
„in der feierlichsten Weise zu erklären, daß es der unwiderrufliche Beschluß des Parlaments sei, die legislative Union der drei Königreiche unverletzt und ungestört aufrechtzuerhalten". Kaum aber auf die Oppositions-Sandbänke verschlagen, erklärte John Russell: „Was die Repeal der Union betreffe, so unterliege dieser Gegenstand dem Amendement und der Frage wie jeder andere Akt der Legislatur", also nicht mehr noch minder als jede Bierbill. Im März 1846 stürzt John Russell Peels Verwaltung durch eine Koalition mit den Tories, die die Abtrünnigkeit ihres Führers von den Korngesetzen zu züchtigen brannten. Den Vorwand lieh Peels irische „Waffenbill", gegen die Russell, sittlich entrüstet, unbedingten Protest einlegte. Er wird Premier. Sein erster Akt besteht darin, dieselbe „Waffenbill" zu beantragen. Er blamiert sich indes nutzlos. O'Connell hatte eben Monstermeetings gegen Peels Bill heraufbeschworen, er hatte Petitionen von 50000 Unterschriften zeichnen lassen; er befand sich zu Dublin, von wo er alle Springfedern der Agitation spielen ließ. King Dan (König Dan, der populäre Titel Daniel O'Connells) verlor Reich und Rente, wenn er in diesem Augenblicke als Russells Mitschuldiger erschien. Er gab daher dem kleinen Mann drohend Notiz, seine Waffenbill sofort zurückzuziehen. Russell zog sie zurück. O'Connell, wie er trotz seines geheimen Spiels mit den Whigs meisterhaft verstand, fügte ihrer Niederlage die Demütigung hinzu. Damit kein Zweifel übrigbleibe, auf wessen Geheiß der Rückzug geblasen werde, zeigte er zu Dublin den Repealern in der Conciliation-Hall die Rücknahme der Waffenbill am 17. August an, an demselben Tage, wo John Russell sie dem Hause der Gemeinen anzeigte. 1844 denunzierte Russell den Sir Robert Peel, weil er „Irland mit Truppen gefüllt und das Land nicht regiere, sondern militärisch besetze".
1848 besetzte Russell Irland militärisch, verhing die Hochverratsakte über es, proklamierte die Suspension der Habeaskorpusakte12191 und renommierte mit den „energischen Maßregeln" Ciarendons. Auch diese Energie war falscher Vorwand. In Irland standen auf der einen Seite die O'Connelliten und die Pfaffen, im geheimen Einverständnis mit den Whigs; auf der andern Smith O'Brien und seine Anhänger. Letztere waren einfach dupes\ die das Repealspiel für ernst hielten und darum ein spaßhaftes Ende nahmen. Die von Russells Regierung ergriffnen „energischen Maßregeln" und ins Werk gesetzten Brutalitäten waren daher nicht durch die Umstände geboten. Sie bezweckten, statt der Behauptung der englischen Herrschaft in Irland, die Verlängerung des Whig-Regimes in England.
V
[„Neue Oder-Zeitungw Nr. 369 vom 10. August 18551 London, 6. August. Die Korngesetze wurden 1815 in England eingeführt, weil Tories und Whigs übereingekommen waren, ihre Grundrente durch eine Steuer auf die Nation zu erhöhen. Es wurde dies nicht nur dadurch erreicht, daß die Korngesetze - die Gesetze gegen Korneinfuhr vom Ausland - in manchen Jahren die Getreidepreise künstlich steigerten. Die Durchschnittsperiode von 1815-1846 betrachtet, war vielleicht noch wichtiger die Illusion der Pächter, Korngesetze seien imstande, die Getreidepreise unter allen Umständen auf einer a priori bestimmten Höhe zu halten. Diese Illusion wirkte auf die Pachtkontrakte. Um sie beständig aufzufrischen, finden wir das Parlament beständig mit neuen und verbesserten Ausgaben des Korngesetzes von 1815 beschäftigt. Zeigten sich die Kornpreise widerspenstig, fielen sie trotz der Diktate der Korngesetze, so wurden parlamentarische Komitees ernannt, um die Ursachen der „agricultural distress" (der Not in den Agrikulturdistrikten) zu erforschen. Die „agricultural distress" beschränkte sich, soweit sie Gegenstand der Parlamentsuntersuchungen war, in der Tat nur auf das Mißverhältnis zwischen den Preisen, die der Pächter für den Boden dem Grundeigentümer zahlte, und den Preisen, wozu er seine Bodenprodukte dem Publikum verkaufte - auf das Mißverhältnis zwischen Grundrente und Getreidepreisen. Sie war also einfach zu lösen durch Herabsetzung der Grundrente, der Einnahmequelle der Grundaristokratie. Statt
1 Betrogene; Angeführte
dessen zog letztere natürlich vor, auf legislativem Wege die Getreidepreise „herabzusetzen"; ein Korngesetz wurde verdrängt durch ein anderes leicht modifiziertes; die Fehlwirlcung ward aus unwesentlichen Details erklärt, die ein neuer Parlamentsakt korrigieren könne. Wenn so der Preis des Getreides unter gewissen Umständen, ward der Preis der Grundrente unter allen Umständen über dem natürlichen Niveau erhalten. Da es sich hier um „die heiligsten Interessen" der Grundaristokratie handelte, um die bare Einnahme, waren ihre beiden Fraktionen, Tories und Whigs, gleich willig, „die Korngesetze" als über ihren Parteikampf erhabene Fixsterne zu verehren. Die Whigs widerstanden sogar der Versuchung, liberale „Ansichten" über diesen Gegenstand zu hegen, um so mehr, als damals die Aussicht fern schien, durch Wiedergewinnung der Erbpacht auf den Regierungsposten allenfallsige Ausfälle in der Grundpacht zu decken. Beide Fraktionen, um sich die Stimme der Finanzaristokratie zu sichern, votierten das Bankgesetz von 1819, wodurch Staatsschulden, die in depreziiertem Gelde kontrahiert waren, in vollgültigem verzinst werden mußten. Die Nation, die vielleicht 50 Pfd.St. geliehen erhalten, hatte 100 wieder zu zahlen. So wurde die Zustimmung der Finanzaristokratie zu den Korngesetzen erhandelt. Fraudulöse Steigerung der Staatsrente für fraudulöse Steigerung der Grundrente so lautete das Abkommen zwischen Finanzaristokratie und Grundaristokratie. Man wird dann nicht erstaunt sein, wenn Lord John Russell in den Parlamentswahlen von 1835 und 1837 alle Korngesetzreform als schädlich, absurd, unpraktisch und unnötig verketzert. Von Anbeginn seiner ministeriellen Karriere verwarf er jeden solchen Vorschlag, erst vornehm, dann leidenschaftlich. In seiner Verteidigung hoher Kornzölle ließ er Sir Robert Peel weit hinter sich. Die Aussicht auf Hungersnot in den Jahren 1838 und 1839 vermochte weder ihn noch die übrigen Mitglieder des MelbourneKabinetts zu erschüttern. Was nicht der Notzustand der Nation, vermochte der Notzustand des Kabinetts. Ein Defizit im Staatsschatze von 7 500000 Pfd. St. und Palmerstons auswärtige Politik, die einen Krieg mit Frankreich herbeizuführen drohte, veranlaßten das Haus der Gemeinen, auf Peels Antrag ein Mißtrauensvotum über das Melbourne-Kabinett zu verhängen. Dies ereignete sich am 4. Juni 1841. Die Whigs, stets ebenso gierig, nach Stellen zu haschen, als unfähig, sie auszufüllen, und unwillig, sie aufzugeben, versuchten, obgleich vergeblich, ihrem Schicksal durch eine Auflösung des Parlaments zu entrinnen. Da erwachte in John Russells tiefer Seele die Idee, die Anti-Korngesetz-Agitation zu eskamotieren, wie er geholfen hatte, die Reformbewegung zu eskamotieren. Er erklärte sich daher plötzlich zugunsten eines „mäßigen fixen Zolles" statt der gleitenden Zollskala - Freund, wie er
ist, von „mäßiger" politischer Keuschheit und von „mäßigen" Reformen. Er entblödete sich nicht, durch die Straßen Londons zu paradieren in einer Prozession der Regierungs-Wahlkaiididaten, von Standartenträgern begleitet, die auf ihren Stangen zwei Brote aufgespießt hatten, in schreiendem Kontrast miteinander, das eine ein ZweiJPence-Brot mit der Überschrift „Peel Laib", und das andere Ein-Shilling-Brot mit der Überschrift „Russell Laib". Die Nation ließ sich indes diesmal nicht täuschen. Sie wußte aus Erfahrung, daß die Whigs Brote versprachen und Steine zahlten. Trotz Russells lächerlichem Faschingszug gab die Neuwahl der- Whig-Regierung eine Minorität von 76. Sie mußte endlich ihr Lager aufbrechen. Russell rächte sich an dem schlechten Dienst, den ihm der 'mäßige fixe Zoll 1841 geleistet, dadurch, daß er im Jahre 1842 Peels „gleitende Skala" ruhig zum Gesetz kristallisieren ließ. Er verachtete nun den „mäßigen fixen Zoll"; er drehte ihm den Rücken; er ließ ihn fallen, ohne ein Wort über ihn fallenzulassen. Während der Jahre 1841-1845 wuchs die Anti-Corn-Law League[1Z7] zu kolossalen Dimensionen. Der alte Vertrag zwischen Grundaristokratie und Finanzaristokratie sicherte die Korngesetze nicht länger, da die industrielle Bourgeoisie mehr und mehr, statt der Finanzaristokratie, zum leitenden Bestandteil der Mittelklassen geworden war. Für die industrielle Bourgeoisie aber war die Abschaffung der Korngesetze Lebensfrage. Verminderung der Produktionskosten, Erweiterung des auswärtigen Handels, Vermehrung des Profits, Verminderung der Haupteinnahmequelle und darum der Macht der Grundaristokratie, Steigen der eignen politischen Macht - die KorngesetzRepeal der industriellen Bourgeoisie. Im Herbst 1845 fand sie furchtbare Verbündete in der Kartoffelkrankheit in Irland, der Getreideteuerung in England und einer Mißernte im größten Teil von Europa. Sir Robert Peel, eingeschüchtert von den drohenden Konjunkturen, hielt daher Ende Oktober und in den ersten Wochen des November 1845 eine Reihe von Kabinettssitzungen, worin er die Suspension der Korngesetze vorschlug und selbst auf die Notwendigkeit ihres definitiven Widerrufs anspielte. Ein Verzug in den Entschließungen des Kabinetts ward durch den hartnäckigen Widerstand seines Kollegen Stanley (jetzt Lord Derby) verursacht. John Russell, damals, zur Zeit der Parlamentsferien auf einer Vergnügungsreise in Edinburgh, erhielt Wind von den Vorgängen in Peels Kabinett. Er beschloß, den durch Stanley verursachten Verzug zu benutzen, Peel in einer populären Position zu antizipieren, sich selbst den Schein zu geben, als habe er Peel bestimmt, und so dessen voraussichtliche Tat allen moralischen Gewichts zu berauben. Demgemäß richtete er den 22. November 1845 von Edinburgh aus an seine Citywähler einen Brief voll ärgerlicher und bös
artiger Anspielungen auf Peel, unter dem Vorwand, die Minister säumten zu lange, zu einem Entschluß über den irischen Notstand zu kommen. Die periodische Hungersnot Irlands in den Jahren 1831,[ 18]35, [ 18]37 und [ 18]39 hatte nie vermocht, Russells und seiner Kollegen Glauben an die Korngesetze zu erschüttern. Aber jetzt war er ganz Feuer. Selbst ein so ungeheurer Unstern wie die Hungersnot zweier Nationen beschwor vor die Augen des kleinen Mannes nichts als Visionen von Mausefallen für den Rivalen „am Posten". In seinem Briefe suchte er das wirkliche Motiv seiner plötzlichen Bekehrung zum Freihandel unter folgendem Armensünderbekenntnis zu verstecken:
„Ich gestehe, daß über den Gegenstand im allgemeinen meine Ansichten im Laufe von 20 Jahren eine große Veränderung erfahren haben. Ich pflegte der Ansicht zu sein, daß Korn eine Ausnahme bilde zu den allgemeinen Regeln der politischen Ökonomie; aber Beobachtung und Erfahrung haben mich überzeugt, daß wir uns jeder Einmischung in die Zufuhr von Nahrungsmitteln zu enthalten haben."
In demselben Brief warf er Peel vor, sich noch nicht in die Zufuhr von Nahrungsmitteln nach Irland eingemischt zu haben. Peel fing den kleinen Mann in seiner eigenen Falle. Er resignierte, hinterließ der Königin aber ein Billett, worin er Russell seine Unterstützung versprach, falls dieser die Abschaffung der Korngesetze durchzuführen übernehme. Die Königin entbot Russell zu sich und forderte ihn zur Bildung eines neuen Kabinetts auf. Er kam,sahund erklärte sich unfähig selbst mit der Unterstützung seines Rivalen. So hatte er die Sache nicht gemeint. Für ihn war sie nur falscher Vorwand, und man drohte, ihn beim Worte zu nehmen! Peel trat wieder ein und schaffte die Korngesetze ab. Die Tory-Partei ward durch seinen Akt zerbrochen und aufgelöst. Russell verband sich mit ihr, um Peel zu stürzen. Dies seine Ansprüche auf den Titel „Freihandelsminister", womit er noch vor einigen Tagen im Parlament prunkte.
VI
[ „Neue Oder-Zeitung" Nr.377 vom !5.August 1855] London, 12. August. Wir kehren noch einmal zu Lord John Russell zurück, um seine Charakteristik abzuschließen. Im Beginn seiner Laufbahn erwarb er eine Art von Namen auf den Vorwand der Toleranz und am Ende seiner Laufbahn auf den Vorwand der Bigotterie; das eine Mal durch seine Motion für „Repeal der Test- und Korporationsakte", das andere Mal durch seine
„Ecclesiastical Titles Bill" (Bill über geistliche Titel)[220]. Die Test- und Korporationsakte hinderte Dissenter an der Übernahme von Staatsämtern. Sie war längst toter Buchstabe geworden, als Russell im Jahre 1828 seinen bekannten Repealantrag stellte. Er verteidigte ihn auf den Grund, daß er überzeugt sei, „der Widerruf der Akte werde die Sicherheit der Staatskirche vermehren". Ein gleichzeitiger Schriftsteller berichtet uns: „Niemand war mehr erstaunt über das Durchgehen des Antrags, als der Antragsteller selbst." Das Rätsel löst sich einfach durch die Bemerkung, daß das Tory-Ministerium ein Jahr später (1829) selbst die katholische Emanzipationsbill vorschlug, also durchaus wünschen mußte, vorläufig der „Test- und Korporationsakte" entledigt zu sein. Im übrigen haben die Dissenter nichts von Lord John erhalten außer Versprechen, sooft er sich in der Opposition befand. Im Ministerium widersetzte er sich selbst der Aufhebung der Kirchensteuer (church rates). Sein Antipapstgeschrei ist indes noch charakteristischer für die Hohlheit des Mannes und die Kleinheit seiner Motive. Wir haben gesehen, daß er in den Jahren 1848 und 1849 die Reformanträge seiner eignen Alliierten durch eine Vereinigung der Whigs mit den Peeliten und Tories niederschlug. So abhängig von der konservativen Opposition, war sein Ministerium sehr hinfällig, schwankend geworden im Jahre 1850, als die päpstliche Bulle zur Errichtung einer römisch-katholischen Hierarchie in England und die Ernennung des Kardinals Wiseman zum Erzbischof von Westminster eine oberflächliche Aufregung unter dem heuchlerischsten und albernsten Teil des englischen Volks hervorrief. Russell, auf jeden Fall, war durch die Schritte des Papstes nicht überrascht. Sein Schwiegervater, Lord Minto, befand sich zu Rom, als die „Römische Zeitung"1 1848 die Ernennung Wisemans veröffentlichte. Ja, wir ersehen aus Kardinal Wisemans „Brief an das englische Volk", daß der Papst schon 1848 dem Lord Minto die Bulle zur Errichtung der Hierarchie in England mitgeteilt hatte. Russell selbst tat einige vorbereitende Schritte, indem er in Irland und den Kolonien die Titel der katholischen Geistlichkeit von Clarendon und Grey offiziell anerkennen ließ. Jetzt jedoch, in Anbetracht der Schwäche seines Kabinetts, beunruhigt von der historischen Erinnerung, daß das Antipapstgeschrei die Whigs 1807 aus der Regierung warf, fürchtend, daß Stanley dem Perceval nachahmen und ihn selbst während der Abwesenheit des Parlaments antizipieren möge, wie er Sir Robert Peel mit der Korngesetz-Repeal zu antizipieren gesucht hatte von all diesen Ahnungen und Gespenstern verfolgt, sprang der kleine Mann mit einem Salto mortale in zügellose protestantische Leidenschaft. Am
1 „Gazzetta di Roma"
4. November 1850 veröffentlichte er den berüchtigten „Briefen den Bischof von Durham", worin er dem Bischof beteuert: „Ich stimme mit Ihnen dahin überein, den letzten Angriff des Papstes auf unsern Protestantismus als insolent und heimtückisch zu betrachten, und ich fühle mich daher ebenso entrüstet, wie Sie es nur sein können, über diese Angelegenheit."
Er spricht von „den tätigen Versuchen, die in diesem Moment auf Beschränkung des Geistes und Knechtung der Seele hinarbeiten". Er nennt die katholischen Zeremonien „Mummenschanz des Aberglaubens, auf den die große Masse der Nation mit Verachtung blickt", und er verspricht schließlich dem Bischof, neue Gesetze gegen die päpstliche Usurpation zu veranlassen, sollten die alten unzureichend sein. Derselbe Lord John hatte 1845, damals allerdings außer Amt, erklärt: „ Ich glaube, daß wir jene Klauseln aufheben können, die einen römisch-katholischen Bischof verhindern, sich Titel beizulegen, die Bischöfe der Staatskirche führen. Nichts kann absurder und kindischer sein, als solche Unterscheidungen aufrechtzuerhalten."
1851 brachte er seine Geistliche-Titel-Bill ein zur Behauptung dieser „absurden und kindischen Unterscheidungen ". Da er aber während dieses Jahres durch eine Kombination der Irischen Brigade1241 mit Peeliten, ManchestermenE45] usw. geschlagen ward - bei Gelegenheit von Locke Kings Motion für Ausdehnung des Wahlrechts verdunstete sein protestantischer Eifer, er versprach eine Abänderung der Bill, die in der Tat totgeboren zur Welt kam. Wie sein Antipapsteifer falscher Vorwand, so sein Eifer für die Judenemanzipation. Alle Welt weiß, daß seine Jewish Disabilities Bill1 eine jährliche Farce ist - Köder für die Wahlstimmen, worüber der österreichische Baron Rothschild in der City verfügt. Falscher Vorwand seine AntisklavereiDeklarationen. „Ihre Opposition", schreibt ihm Lord Brougham, „gegen alle Anträge zugunsten der Neger und Ihr Widerstand selbst gegen den bloßen Versuch, den neuerrichteten Sklavenhandel zu hemmen, erweiterte den Bruch zwischen Ihnen und dem Lande. Die Einbildung, daß Sie, die Gegner aller Antisklaverei-Motionen im Jahre 1838, die Feinde jeder Einmischung mit den aus Sklavenhaltern bestehenden AssembUes der Kolonien, daß Sie plötzlich sich so sehr in die Neger verliebt, um auf eine Bill zu deren Frommen Ihre Posten im Jahi, i839 zu riskieren, würde eine merkwürdige Anlage zur Selbstprellerei verraten."
Falscher Vorwand seine Gesetzreformen. Als das Parlament 1841 ein Mißtrauensvotum über das Whig-Kabinett verhängte und die bevorstehende
1 Bill über die Aufhebung der Rechtsunfähigkeit der Juden
Auflösung des Unterhauses wenig Erfolg versprach, versuchte Russell eine Chancery Bill1 durch das Haus zu jagen, um „eins der drängendsten Übel unseres Systems zu heilen, die Verschleppung in den Courts of Equity2, vermittelst der Schöpfung von zwei neuen judges of equity" (Richter, die nicht das strenge Recht, sondern die Billigkeit zur Richtschnur nehmen).
Russell nannte dieseseine Bill „eine große Gesetzreformabschlagszahlung". Sein wirklicher Zweck war, zwei Whig-Freunde in die neugeschaffenen Posten zu schmuggeln, vor der voraussichtlichen Bildung eines Tory-Kabinetts. Sir Edward Sugden (jetzt Baron St. Leonards), der ihn durchschaute, stellte das Amendement, daß die Bill erst am 10. Oktober (also nacA der Versammlung des neuerwählten Hauses) in Gesetzeskraft treten solle. Obgleich nicht die geringste Änderung im Inhalt der Bill, die Russell für so „dringend" hielt, vorgenommen wurde, zog er sie sofort zurück nach Annahme des Amendements. Sie war eine „Farce" geworden und hatte ihr Salz eingebüßt. Kolonialreformen, Erziehungsschemata, „Freiheiten der Untertanen", Öffentliche Presse und öffentliche Meetings, Kriegsenthusiasmus und Friedenssehnsucht - alles falsche Vorwände für Lord John Russell. Der ganze Mann ist ein falscher Vorwand, sein ganzes Leben eine Lüge, seine ganze Tätigkeit eine fortlaufende Kette kleinlicher Intrigen zur Erreichung schäbiger Zwecke - des Verschlingens öffentlicher Gelder und der Usurpation des bloßen Scheines der Macht. Niemand hat je so schlagend den Bibelspruch bewahrheitet, daß kein Mensch seiner Größe einen Zoll zusetzen kann. Durch Geburt, Verbindungen, gesellschaftliche Zufälle auf ein ungeheures Piedestal gestellt, blieb er stets derselbe Homunkulus - ein Zwerg, tanzend auf der Spitze einer Pyramide. Die Geschichte hat vielleicht nie einen andern Mann zur Schau gestellt - so groß im Kleinsein.
1 Bill über das Kanzleigericht - 2 Billigkeitsgerichten für Zivilklagen
26 Maix/Engels. Werke, Bd. 11
Karl Marx
Birminghamer Konferenz - Die dänische Erbfolge Die vier Garantien[221]
I
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.349 vom 30.Juli 1855] London, 27.Juli. Im Gegensatz zur Administrativreform-Assoziation11401 hat sich zu London eine „Staatsreform-Assoziation"12221 gebildet. Sie hat in ihr Komitee Ernest Jones und einige andere Chartistenführer zugezogen. Auf dem öffentlichen Meeting, das sie vorgestern abhielt, wurde Reform des Parlaments auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts als Haupttendenz proklamiert. Die Birminghamer Konferenz schloß ihre Sitzungen am 23. Juli. Sie bestand aus Delegierten von Huddersfield, Newcastle-upon-Tyne, London, Halifax, Sheffield, Leeds, Derby, Bradford, Nottingham und Birmingham, alle zu Birmingham versammelt, um zu einem Urteil über die auswärtige Politik der regierenden Klasse und ihrer Repräsentanten in Kabinett und Parlament zu gelangen. Die Chartisten, wie die „Birmingham Daily Pres$u bemerkt, „hatten seit Jahren jede beabsichtigte Bewegung unterbrochen, nicht so diese. Sie beteiligten sich daran mit Herz und Seele, weil sie fühlten, daß sie kein ihnen feindliches oder fremdes, überhaupt kein Klasseninteresse verfolge." Urquharts Anwesenheit in den Fabrikdistrikten gab unstreitig den Anstoß zu dieser merkwürdigen Konferenz, deren Sitzungen er bis zum Schlüsse beiwohnte. Durch Zeitmangel verhindert, der Einladung zur Teilnahme an diesen Konferenzen zu folgen, können wir erst jetzt aus dem uns übersandten gedruckten Bericht der Konferenz einige interessante Aktenstücke im Auszug mitteilen[223J. Die käufliche Londoner Presse verschweigt oder entstellt. Folgende Korrespondenz fand zwischen Graf Malmesbury und dem Sekretär des von der Konferenz niedergesetzten Komitees statt1:
1 Die „New-York Daily Tribüne" Nr. 4464 vom 10. August 1855 bringt an Stelle obiger AbsätzefolgendenText: „Es ist ein großer Fehler, die Bewegung in England nach den Berichten
Birminghamer Konferenz - Die dänische Erbfolge - Die vier Garantien 403
„Mein Herr! Ich hatte die Ehre, Ihre Einladung zur Teilnahme an der Birminghamer Konferenz zu erhalten. Es steht nicht in meiner Macht, sie anzunehmen. Ich beeile mich indes, Ihnen die gewünschten Aufschlüsse über den dänischen Vertrag vom 8. Mai 1852 zu geben. Sie irren sich über die Tendenz dieses Vertrages. Es ist nicht wahr, daß ,durch den Vertrag Rußland die Thronfolge in Dänemark und SchleswigHolstein gesichert wird*. Rußland hat kein Recht erhalten, gegenwärtiges oder eventuelles, das es nicht vor dem Vertrage besessen. Gegenwärtig leben vier männliche Erben der Krone Dänemarks. Der Vertrag schreibt vor, daß, sollten alle verscheiden, die hohen Kontrahenten - nämlich Österreich, Preußen, Rußland, England, Frankreich und Schweden - sich verpflichten, jeden weitern Vorschlag in Betracht zu ziehen» der vom König von Dänemark zur Sicherung der Nachfolge auf dem Prinzip der Integrität der dänischen Monarchie gemacht würde. Sollte dies entfernte Ereignis eintreffen, so würden die kontrahierenden Mächte sich versammeln, um die dänische Erbfolge zu regulieren, und ich überlasse es Ihrem Urteil, ob die fünf Mächte, die den Vertrag vom 8. Mai mit Rußland unterzeichnet, in solchem Falle geneigt sein werden, ihm, als dem Haupte des Hauses Holstein-Gottorp, die Annexation der gesamten dänischen Monarchie zu seinen Besitzungen zu gewähren."
So Lord Malmesbury. Auf diesen Brief antwortet der Sekretär der Konferenz: „Mylord! Ich bin von der Birminghamer Konferenz beauftragt, Eurer Lordschaft für die Mitteilung über den dänischen Vertrag zu danken. Wir entnehmen daraus, daß für den erwarteten Todesfall der vier Erbberechtigten England und Rußland verpflichtet sind» zwischen dem König von Dänemark einerseits und den verschiedenen Staaten
in der Londoner Presse zu beurteilen. Nehmen wir zum Beispiel die kürzlich stattgefundene Birminghamer Konferenz. Die Mehrzahl der Londoner Zeitungen nahm nicht einmal Notiz von ihr, während die übrigen sich mit der mageren Nachricht begnügten, daß sie stattgefunden hat. Doch was stellte diese Konferenz dar? Sie war ein öffentlicher Kongreß mit Delegierten aus Birmingham, London, Huddersfield, Newcastle, Halifax, Sheffield Leeds, Derby, Bradford, Nottingham und anderen Orten, einberufen, um die Diskussion über die wichtigste Tagesfrage - die Außenpolitik Englands - einem unfähigen und zusammenbrechenden Parlament aus den Händen zu nehmen. Zweifelsohne wurde diese Bewegung angetrieben durch die Meetings in den Fabrikdistrikten, auf denen Herr Urquhart sprach, und das hervorstechende Merkmal der in Birmingham gerade stattgefundenen Konferenz war die harmonische Zusammenarbeit von Vertretern der Mittel- und der Arbeiterklasse. Die Konferenz teilte sich in verschiedene Komitees auf, die beauftragt waren, über die wichtigsten Fragen der britischen Außenpolitik zu berichten. Es gelang mir, einen ausführlichen Bericht über die Verhandlungen und die damit verbundenen Dokumente zu erhalten, von denen ich die charakteristischsten den Lesern der «Tribüne* hiermit unterbreite. Das erste ist eine Korrespondenz zwischen dem Sekretär der Konferenz und dem Lord Malmesbury, dem Außenminister der Regierung des Lords Derby, und betrifft den Vertrag über die dänische Erbfolge vom 8. Mai 1852. Lord Malmesbury schreibt:"
Dänemark, Schleswig und Holstein andererseits zu intervenieren. Wir begreifen nicht, auf welchen Rechtsanspruch solche Intervention fußt, und können nur dafür halten, daß die Tatsache des Kriegs mit Rußland benutzt werden sollte, um uns zu befähigen, von einer so unmoralischen und ungesetzlichen Handlung abzustehen. Sie deuten uns an, daß in Ihrer Ansicht der Charakter der sechs Mächte gegen die Zulassung Rußlands Bürgschaft leistet. Wir sind sehr begierig, von Ihrer Lordschaft zu erfahren, wer für die Gesamtmonarchie eintreten soll, wenn nicht Rußland. Wenn England nicht bezweckte, Rußland als Universalerben einzusetzen, warum machte es Rußlands Verzichtleistung auf Holstein-Gottorp nicht zur Bedingung des Vertrags? Da Eure Lordschaft den fraglichen Vertrag unterzeichnet haben, ist vorauszusehen, daß diese Fragen unbeantwortlich, oder daß Sie, mehr als jede andere Person, fähig zu antworten. Ich bin daher beauftragt, Eure Lordschaft zu ersuchen, diese Frage beantworten und so eine Quelle großer Unruhe abschneiden zu wollen."
An diesem Punkte bricht die Korrespondenz natürlich ab, obgleich die Lordschaft erklären konnte, daß Seine Herrlichkeit nur formell an der Sache beteiligt. Palmerston hatte bereits mit Baron Brunnow das Protokoll unterzeichnet, das Paragraphen und Prinzip des späteren Vertrags feststellte.1 Die Konferenz hatte verschiedene Ausschüsse zur Untersuchung und Berichterstattung über verschiedene Fragen niedergesetzt. Am bedeutendsten ist unstreitig das Memoire des Ausschusses über die vier Punkte[S\ wovon wir die charakteristischen Stellen mitteilen:
„Bei der Untersuchung über den Charakter der vier Punkte als Friedensgrundlagen hat Euer Komitee die Entwicklung betrachtet, die sie auf der Wiener Konferenz[ 17]  erhalten; die Unterstützung oder Opposition, die jeder Vorschlag für solche Entwickelung von den respektiven Mächten empfing; die Zeit, wann, und die Manier, worin die Punkte zuerst von den Kabinetten von Frankreich und England niedergelegt wurden; die Quelle, woraus sie ursprünglich herflossen, und ihr Verhältnis zum eingestandnen Gegenstand des Krieges - zur Unabhängigkeit und Integrität des Osmanischen Reichs. Wir finden di? Urquelle der vier Punkte in folgendem Vorschlag, niedergelegt in der Depesche des Grafen Nesselrode vom 29. Juni 1854 und betitelt,Konsolidation der Rechte der Christen in der Türkei': .Ausgehend von der Idee, daß die für alle christlichen Untertanen der Pforte zu erhaltenden bürgerlichen Rechte von den religiösen Rechten unzertrennlich, haben wir bereits erklärt, daß, wenn dies der Fall, die vom Kaiser an die Pforte gemachten Forderungen erfüllt wären, die Streitfrage wegfallen und Seine
1 Die „New-York Daily Tribüne" bringt an Stelle dieses Absatzes folgenden Text: „Damit bricht die Korrespondenz ab, da Lord Malmesbury keine Neigung fühlte, sie fortzusetzen. Das Unvermögen Seiner Lordschaft, diese Fragen zu beantworten, hat jedoch eine gewisse Rechtfertigung - der edle Lord fand alle Punkte, die die dänische Erbfolge betreffen, durch Lord Palmerstons Protokoll vom 8. Juli 1850 so gut geordnet, daß der. Vertrag in der Tat nur seine Unterschrift benötigte."
Majestät bereit sein würde, seine Mitwirkung zu einer europäischen Garantie für diese Privilegien zu geben * Dieser Vorschlag, ein Vorschlag für die beständige Einmischung nicht von einer, sondern von 5 Mächten in die inneren Angelegenheiten der Türkei, wurde von England und Frankreich in der Form des 4. Punktes angenommen und von Drouyn de Lhuys folgendermaßen eingekleidet in seiner Antwortsdepesche an Graf Nesselrode vom 22. Juli 1854, ,daß keine Macht das Recht beanspruchen soll, irgendein offizielles Protektorat über die Untertanen der Pforte, welchem Ritus sie immer angehören mögen, auszuüben, sondern daß Frankreich, Österreich, Großbritannien, Preußen und Rußland ihre wechselseitige Kooperation leihe, um von der Initiative der osmanischen Regierung die Sanktion und Beobachtung der religiösen Privilegien der verschiedenen christlichen Gemeinden zu erhalten, und die hochherzigen Absichten Seiner Majestät des Sultans zum Nutzen ihrer verschiedenen Religionsgenossen zu lenken, so daß daraus keine Verletzung der Würde und Unabhängigkeit seiner Krone entspringen soll*. Die Wirkung dieses 4. Punktes ist, die Unabhängigkeit des Osmanischen Reichs zu zerstören, die zu verteidigen der eingestandene Zweck des Krieges ist; aber seine Ungesetzlichkeit besteht in der Tatsache, daß diese vorgeschlagene Übergabe von Frankreich und England ohne Zustimmung der Türkei geschah, und daß sie darauf bestanden, trotz der Weigerung der Türkei, den Punkt auf der Wiener Konferenz zu diskutieren. Um Sidney Herberts Worte zu brauchen: ,Die Sache ist verwickelt durch den Umstand, daß wir mit unsrem Feinde übereinstimmen, aber nicht mit unsrem Alliierten.'' Wenn wir im Kriege von Rußland geschlagen und gezwungen werden, um Frieden zu bitten, so dürften wir keinen solchen Vorschlag für eine dritte Macht machen. Um diese Illegalität zu entfernen, war es für England und Frankreich nötig, erst offen zu Rußland überzugehn und der Türkei den Krieg zu erklären. Wie der 4. Punkt die Übergabe der Unabhängigkeit, ist der 1. Punkt die Ubergabe der Integrität der Türkei; und, wie im 4.Punkt, geschieht die Übergabe ohne Einwilligung der betreffenden Partei, indem solche Zustimmung zur Entwickelung des 1. Punktes ausdrücklich vom türkischen Bevollmächtigten vorbehalten blieb. Wir finden, daß die Trennung der Moldau, der Walachei und Serbiens von der Türkei versteckt wird unter der Versicherung, daß sie fortfahren sollen, der Türkei Untertan zu sein. Die Phrase: »Keine exklusive Protektion soll künftig über diese Provinzen ausgeübt werden4, wird in 5 Artikeln entwickelt, die den 5 Mächten dieselbe Stellung anweisen wie der Pforte als gemeinschaftlichem Oberherrn. Sie erhält ihre letzte Vollendung in dem Vorschlage Frankreichs und Englands, in der sechsten Zusammenkunft der Wiener Konferenz, die Walachei und Moldau in einen einzigen Staat zu vereinen, unter einem erblichen Prinzen, gewählt aus einer der herrschenden Familien Europas. Aber die Infamie dieses Aufgebens sowohl der eingestandenen Zwecke Englands als der Rechte unseres Alliierten, der Türkei, wird erhöht durch den Umstand, daß es zu einer Zeit geschah, wo die Armeen Rußlands gezwungen waren, das türkische Gebiet zu räumen, ohne die geringste Hilfsleistung der Streitkräfte Frankreichs und Englands. Da die Übergabe der Integrität und Unabhängigkeit des Osmanischen Reichs so vor der Expedition nach Sewastopol stattfand, folgt von selbst, daß diese Expedition
unternommen war mit dem Zweck, die Übergabe zu erzwingen, sie der Türkei aufzuzwingen durch Erschöpfung ihrer Hilfsquellen, und England, indem man ihr den Schein eines Triumphs über Rußland gab."
ii
[„Neue Oder-Zeitungu Nr. 351 vom 31. Juli 1855] London, 28. Juli. In bezug auf den 2. Punkt fährt das Birminghamer Dokument fort: „Der zweite Punkt war die freie Schiffahrt der Donau. Die Unterbrechung der Donauschiffahrt datiert von der Zession des Donaudeltas an Rußland, der Türkei im Frieden von Adrianopel I829[l0j auferlegt. Diese Zession stand im Widerspruch mit dem Londoner Vertrag vom 6. Juli 1827, der Rußland verbot, türkisches Territorium zu erwerben. Englands ursprüngliches Schweigen zu dieser ungesetzlichen Erwerbung und seine spätere Unterstützung und Anerkennung derselben waren eine fortwährende Verletzung des öffentlichen Rechts. Vorwand dafür bot der Wunsch, den Frieden zu erhalten, ein Vorwand, der in dem bestehenden Kriegszustand natürlich von selbst wegfällt. Die Zession des Donaudeltas an die Türkei war eine unerläßliche Forderung in jedem wirklichen Krieg Englands gegen Rußland. Während aber jede Bezugnahme auf das Donaudelta in den englischen Vorschlägen an Rußland fehlt, machte es aus dieser Frage ein Mittel, Österreich zu beleidigen, dessen Interesse in der freien Donauschiffahrt bloß dem der Türkei selbst nachsteht. In der vierten Zusammenkunft der Wiener Konferenz vom 21. Marz 1855 beantragte Baron Prokesch, der österreichische Bevollmächtigte, daß Rußland die Neutralität des Donaudeltas zugestehe. Der russische Bevollmächtigte antwortete, ,er werde seine Zustimmung einem Übereinkommen versagen, das den Schein einer indirekten Expropriation habe*. Lord John Russell unterstützte nicht den sehr gemäßigten Vorschlag Österreichs, und die Frage wurde am 23. Marz zugunsten des fortdauernden Besitzes Rußlands am Donaudelta entschieden. Nachdem Russell diesen Punkt Rußland völlig überlassen hatte, schreibt er am 12. April an Lord Clarendon: ,Graf Buol sagte mir, er hätte nicht auf der Neutralität der Inseln an den Donaumündungen bestanden, weil er sicher gewesen, Rußland würde in solchem Falle die Konferenz abbrechen/ Am 16. April telegraphiert Lord John Russell an Lord Clarendon, daß ,Österreich keine Forderung irgendeiner Zession von Territorium unterstützen will'. Nachdem er erst vernachlässigt, Österreich in der halben Maßregel der Neutralität des Deltas zu unterstützen, nachdem er sich dann versichert, daß es die ganze Maßregel nicht unterstützen werde, nämlich die Zession des Deltas an die Türkei, die von selbst durch Lord Johns Unterwerfung unter Rußland am 23. März fortfiel, schlägt er nun dem Lord Clarendon vor, ,die Zession der an den Donaumündungen gelegenen und durch den Vertrag von Adrianopel überlieferten Inseln an die Türkei zu verlangen*.
Der 3. Punkt lautet: Daß der Vertrag vom Juli 1841 durch die kontrahierenden Mächte im Interesse des europäischen Gleichgewichts und im Sinne der Beschränkung der russischen Macht im Schwarzen Meere revidiert werden soll! Wäre dieser Punkt ehrlich gemeint, so würde er lauten: Erstens Beschränkung der Macht Rußlands; zweitens Wiederherstellung der Rechte der Türkei in der Dardanellenstraße und dem Bosporus. Für die Wiederherstellung der ausschließlichen Kontrolle des Sultans über die Meerenge war keine Stipulation erheischt. Sie fällt an ihn zurück mit der durch die Tatsache des.Kriegs gegebenen Abschaffung der Verträge, die sie zeitweilig suspendierten. Diese einfache Ansicht der Sache ist in der Wiener Konferenz nicht einmal angedeutet worden. Was die Beschränkung der Macht Rußlands betrifft, so bemerkte Graf Buol in seinem Briefe vom 20. Mai 1855 mit Recht:, In unsrer Meinung sollten die gemeinschaftlichen Anstrengungen der Alliierten darauf gerichtet sein, die politische Macht Rußlands so zu beschränken, daß der Mißbrauch seiner materiellen Hilfsquellen, wenn nicht unmöglich, mindestens im höchsten Grade schwierig wird. Die Verminderung, ja selbst die totale Zerstörung der russischen Flotte im Schwarzen Meere würde für sich selbst nicht hinreichen, Rußland der Vorteile zu berauben, die es von seiner geographischen Lage gegen die Türkei herleitet.* Von allen Täuschungen, worin die englische Regierung das Parlament gefangenzunehmen suchte, war die einzige, die fehlschlug, der Vorschlag zur Beschränkung der Seemacht Rußlands im Schwarzen Meere. Hätte der Krieg in der Tat seine angeblichen Gegenstände bezweckt, so würden, nachdem einmal bei seinem Beginn die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches garantiert war, folgende Friedensbedingungen gestellt worden sein: 1. Zession des Donaudeltas an die Türkei, in dessen Besitz es sich noch de jure befindet. 2. Rußlands Verpflichtung, die Kriegskosten zu decken.4*
Nach einigen andern Bemerkungen schließt das Dokument mit folgenden Worten: „Euer Komitee glaubt nicht, daß die Schuld allen Mitgliedern des Kabinetts gleich bewußt war. Es kann nicht die ausnahmsweise Stellung der vier auswärtigen Minister übersehen, Ciarendons, Russells, Aberdeens und vor allem Palmerstons, des Mannes, der die Anerkennung des Friedens von Adrianopel sicherstellte, Rußland selbst in Kriegszeiten eine längst ungiltig gewordne Schuld abzahlt, die Verträge von HunkiärIskelessi[t3J, der Dardanellen, von Balta-Limant60], das dänische Protokoll von 1850 entwarf oder genehmigte und dessen Perfidie gegen Polen, Sizilien, die Lombardei, nicht minder als sein Verrat an Frankreich, Persien, Spanien und Dänemark, ihn als den unversöhnlichen Feind nicht nur der Türkei, sondern aller Nationen von Europa bezeichnen. Er [ist] im englischen Kabinett der Meister aller andern, die er erst zur Mitwirkung zu Verbrechen hinriß, die sie zu schwach waren zu durchschauen, um sie dann widerstandslos beherrschen zu können. Nur die Verhängung der Strafe, die das englische Gesetz gegen Hochverrat ausspricht, kann das Volk von den Verschwörern befreien, die es an eine fremde Macht verraten haben.

FRIEDRICH ENGELS
Die Armeen Europas12243
Geschrieben von Ende Juni bis September 1855. Aus dem Englischen.
Aus: „Putnam's Monthly. A Magazine of Literatur, Science and Art" August 1855 Die französische Armee Die englische Armee Die österreichische Armee September 1855 Die preußische Armee Die russische Armee Die kleineren Armeen Deutschlands Dezember 1855 Die türkische Armee Die sardinische Armee Die kleineren italienischen Armeen Die Schweizer Armee Die skandinavischen Armeen Die holländische Armee Die belgische Armee Die portugiesische Armee Die spanische Armee
Erster Artikel
[„Putnam's Monthly* Nr. XXXII, August 1855] Der Krieg, der seit zwei Jahren an der Küste des Schwarzen Meeres tobt, hat die besondere Aufmerksamkeit auf die zwei Millionen Soldaten unter Waffen gelenkt, die Europa sogar mitten im Frieden unterhält und deren Zahl vielleicht sehr bald verdoppelt werden soll. Falls der Krieg andauert, was so gut wie gewiß ist, dann können wir damit rechnen, diese vier Millionen in aktive Operationen auf einem Kriegsschauplatz verwickelt zu sehen, der sich von Meer zu Meer über die ganze Breite des europäischen Kontinents erstreckt. Aus diesem Grunde dürfte eine Einschätzung nicht nur der Armeen, die bisher in den östlichen Konflikt einbezogen sind, sondern auch der bedeutenderen übrigen Armeen Europas für unsere Leser nicht uninteressant sein, besonders da sich diesseits des Atlantiks glücklicherweise nichts gezeigt hat, was in irgendeinem Maße selbst an die Größe der zweitrangigen Armeen Europas heranreicht; deshalb ist die Organisation solcher Truppenkörper den Laien bei uns nur ungenügend bekannt. Das Mißtrauen, aus dem heraus jeder Staat seine Armee früher mit mysteriöser Geheimhaltung umgab, existiert nicht mehr. Es ist seltsam, selbst in den Staaten, die kaum eine Veröffentlichung zulassen, wo alle Zweige der Zivilverwaltung bis heute in das Dunkel gehüllt sind, dessen der Absolutismus bedurfte, ist die Organisation der Armee der Allgemeinheit völlig zugänglich. Armeelisten werden veröffentlicht, die nicht nur die Untergliederung der bewaffneten Kräfte in Korps, Divisionen, Brigaden, Regimenter, Bataillone und Eskadronen angeben, sondern auch die Standortverteilung dieser Truppen, deren Zahl und die Namen der sie befehligenden Offiziere. Immer wenn große Militärparaden stattfinden, wird die Anwesenheit ausländischer
Offiziere nicht nur geduldet, sondern sogar gewünscht, Kritik wird erbeten, Beobachtungen werden ausgetauscht, die spezifischen Institutionen und Einrichtungen jeder Armee werden ernsthaft diskutiert, und es herrscht eine Publizität, die mit vielen anderen charakteristischen Merkmalen desselben Systems in allzu seltsamem Widerspruch steht. Die eigentlichen Geheimnisse, die ein europäisches Kriegsministerium für sich zu behalten vermag, sind einige Rezepte chemischer Zusammensetzungen, zum Beispiel für Raketen oder Zünder, und selbst diese werden sehr bald publik oder durch den Fortschritt an Erfindungen überholt, wie zum Beispiel die Zusammensetzung der britischen Congrevischen Rakete durch Herrn Haies Kriegsraketen, die von der USA-Armee und jetzt auch von der britischen Armee übernommen wurden. Diese Publizität veranlaßt die verschiedenen Kriegsministerien der zivilisierten Welt, in Friedenszeiten sozusagen ein großes Militärkomitee zu bilden, um die Vorzüge aller vorgeschlagenen Neuerungen zu diskutieren und jedem Mitglied die Möglichkeit zu geben, die Erfahrungen der anderen auszunützen. So kam es, daß der Aufbau, die Organisation und die allgemeine Ökonomie in fast allen europäischen Armeen nahezu gleich sind, und in diesem Sinne kann man sagen, daß eine Armee ungefähr so gut wie die andere ist. Aber Nationalcharakter, historische Traditionen und vor allem der unterschiedliche Grad der Zivilisation verursachen ebenso viele Unterschiede und bilden bei jeder Armee deren starke und schwache Seiten. Der Franzose und der Ungar, der Engländer und der Italiener, der Russe und der Deutsche mögen unter gewissen Umständen gleich gute und tüchtige Soldaten sein, aber trotz eines gleichen Ausbildungssystems, das alle Unterschiede zu nivellieren scheint, wird jeder auf seine Weise gut sein, da jeder besondere, von seinem Rivalen unterschiedliche Qualitäten besitzt. Das bringt uns auf eine Frage, die nur zu oft unter militärischen Patrioten der verschiedenen Nationalitäten diskutiert wurde: Welches Volk hat die besten Soldaten? Natürlich ist jedes Volk ängstlich auf seinen eigenen Ruf bedacht, und nach der allgemeinen öffentlichen Meinung - genährt von Erzählungen, die, was immer ihnen an kritischer Exaktheit fehlen mag, durch patriotische Schönfärberei reichlich ausgeschmückt sind - kann ein Regiment der eigenen Nation beliebig zwei oder drei Regimenter einer anderen „dreschen". Kriegsgeschichte als Wissenschaft, in der eine korrekte Würdigung der Tatsachen das einzige und höchste Kriterium darstellt, ist noch sehr jung und hat bis jetzt nur eine sehr geringe Literatur aufzuweisen. Sie ist jedoch ein anerkannter Zweig der Wissenschaft und fegt immer mehr, wie der Wind die Spreu, das unverschämte und dumme Prahlen hinweg, das
allzu lange für Werke charakteristisch war, die als historische Werke galten, weil sie die Aufgabe hatten, jede von ihnen angeführte Tatsache zu verdrehen. Die Zeit ist vorbei, da Leute, während sie die Geschichte eines Krieges schreiben, diesen Krieg sozusagen auf eigene Faust fortsetzen und den ehemaligen Gegner ungestraft mit Schmutz bewerfen können, nachdem der Friedensschluß ihnen verbietet, ihn mit Eisen zu beschießen. Und obwohl manche weniger wichtige Frage in der Kriegsgeschichte noch geklärt werden muß, so ist doch so viel sicher, daß es keine zivilisierte Nation gibt, die sich nicht rühmen könnte, in der einen oder anderen Periode die besten Soldaten ihrer Zeit hervorgebracht zu haben. Die deutschen Landsknechte1 des späten Mittelalters, die Schweizer Soldaten des 16. Jahrhunderts waren eine Zeitlang ebenso unbesiegbar wie die großartigen spanischen Soldaten, die ihnen den Rang abliefen, die „beste Infanterie der Welt" zu sein; die Franzosen Ludwigs XIV. und die Österreicher Eugens stritten miteinander um diesen Ehrenplatz, bis die Preußen Friedrichs des Großen diese Frage entschieden, indem sie beide besiegten; diese wiederum wurden durch einen einzigen Schlag bei Jena in äußersten Mißkredit gebracht, und wieder einmal waren die Franzosen als die besten Soldaten Europas allgemein anerkannt. Zur gleichen Zeit konnten sie die Engländer nicht daran hindern, sich ihnen in Spanien unter gewissen Umständen und in bestimmten Momenten einer Schlacht als überlegen zu erweisen. Ohne Zweifel waren die Legionen, die Napoleon im Jahre 1805 aus dem Lager von Boulogne nach Austerlitz[2251 führte, die besten Truppen ihrer Zeit; zweifellos wußte Wellington, was er sagte, als er seine Soldaten bei der Beendigung des Krieges auf der Pyrenäenhalbinsel[226] „eine Armee" nannte, „mit der er überall hingehen und alles unternehmen könnte". Und doch wurde die Blüte dieser britischen PyrenäenArmee bei New Orleans[227] lediglich durch Milizmannschaften und Freiwillige geschlagen, die weder ausgebildet waren noch eine richtige Organisation besaßen.
Die Erfahrung aller Feldzüge der Vergangenheit führt uns also zu dem gleichen Ergebnis, und jeder einsichtige langgediente Soldat, der von Vorurteilen frei ist, wird es bestätigen: Militärische Qualitäten, sowohl in bezug auf Tapferkeit als auch auf Kampffähigkeit, sind im allgemeinen ziemlich gleichmäßig unter die verschiedenen Nationen der Welt verteilt; die Soldaten der verschiedenen Nationalitäten unterscheiden sich nicht so sehr durch den Grad der Qualifikation, sondern vielmehr durch deren spezielle Art; und auf Grund der Publizität, die sich heutzutage in militärischen Dingen durch
1 Landsknechte: in „Putnam's Monthly" deutsch
gesetzt hat, kommt es darauf an, wie beharrlich Ideen, Verbesserungen und Erfindungen für die militärischen Einrichtungen und Hilfsmittel eines Staates genutzt und wie die militärischen Qualitäten entwickelt werden, die eine Nation besonders auszeichnen -allein dadurch kann eine Armee dazu gebracht werden, eine Zeitlang an der Spitze ihrer Rivalen zu rangieren. Daher erkennen wir sofort, was für ein Vorteil im militärischen Sinne einem Lande durch die höhere Entwicklung der Zivilisation gegenüber seinen weniger entwickelten Nachbarn erwächst. Als Beispiel können wir anführen, daß sich die russische Armee, obwohl sie sich durch viele erstklassige soldatische Qualitäten auszeichnet, niemals einer anderen Armee des zivilisierten Europas überlegen erweisen konnte. Bei gleichen Möglichkeiten würden die Russen verzweifelt kämpfen; aber zumindest bis zum gegenwärtigen Krieg wurden sie mit Sicherheit geschlagen, gleichviel, ob ihre Gegner Franzosen, Preußen, Polen oder Engländer waren. Bevor wir die verschiedenen Armeen gesondert betrachten, sind ein paar allgemeine Bemerkungen nötig, die sie alle betreffen: Eine Armee, besonders eine große von 300000 bis 500000 Mann und mehr, mit all den notwendigen Unterteilungen, ihren verschiedenen Waffen und ihren Erfordernissen an Mannschaften, Material und Organisation, ist ein so komplizierter Körper, daß die höchstmögliche Vereinfachung unentbehrlich ist. Es gibt so viele unvermeidliche Verschiedenheiten, daß man erwarten könnte, sie würden durch künstliche und nichtssagende Vielfarbigkeit nicht noch vergrößert werden. Nichtsdestoweniger haben Gewohnheit und jener Geist des Gepränges und der Paraden, das Verderben der alten Armeen, die Dinge in fast jeder europäischen Armee unglaublich kompliziert. Die Unterschiede in Größe, Stärke und Temperament, die sowohl bei den Menschen als auch bei den Pferden in jedem Lande vorhanden sind, verlangen eine Trennung der leichten Infanterie und Kavallerie von der schweren Infanterie und Kavallerie. Der Versuch, dieses Trennende vollständig zu verwischen, hieße Individuen zu einem Ganzen zusammenzubringen^ deren militärische Eigenschaften von Natur aus entgegengesetzt sind und die sich daher in einem gewissen Grade gegenseitig neutralisieren würden, wodurch die Leistungsfähigkeit des Ganzen geschwächt wird. So zerfällt jede der beiden Waffengattungen natürlicherweise in zwei gesonderte Teile - der eine umfaßt die schwereren und plumperen Männer (und die entsprechenden Pferde) und ist hauptsächlich für große, entscheidende Angriffe und für den Kampf in geschlossener Ordnung bestimmt; der andere wird aus den leichteren, behenderen Leuten gebildet, die besonders für Geplänkel, für den Vorposten- und Vorhutdienst, für schnelle Manöver und dergleichen geeignet
sind. Soweit ist die Unterteilung völlig berechtigt. Aber zusätzlich zu dieser natürlichen Einteilung ist in fast jeder Armee jeder Teil wieder in Zweige gegliedert, welche sich durch nichts als durch phantasievolle Unterschiede in der Bekleidung und durch theoretische Sophisterei auszeichnen, die ständig durch die Praxis und die Erfahrung widerlegt werden. So gibt es in jeder europäischen Armee ein Korps, das Garde genannt wird und vorgibt, die elite der Armee zu sein, aber das in Wirklichkeit lediglich aus den größten Kerlen besteht, deren man habhaft werden kann. Die russischen und die englischen Garden zeichnen sich in dieser Hinsicht besonders aus, obwohl es keinen Beweis dafür gibt, daß sie an Tapferkeit und Leistungsfähigkeit die anderen Regimenter beider Heere übertreffen. Napoleons Alte Garde war eine ganz andere Einrichtung; sie war die wirkliche elite der Armee, und die Körpergröße hatte nichts mit ihrer Formierung zu tun. Aber selbst diese Garde schwächte den anderen Teil der Armee, indem sie die besten Elemente absorbierte. Die Rücksicht auf solche, mit anderen nicht zu vergleichenden Truppen verleitete Napoleon manchmal zu Fehlern, wie bei Borodino[228], wo er seine Garde nicht im entscheidenden Moment vorwärtsführte und dadurch die Gelegenheit verpaßte, die russischen Kräfte an ihrem geordneten Rückzug zu hindern. Die Franzosen haben außer ihrer Kaisergarde noch in jedem Bataillon eine Art elite, die aus zwei Kompanien besteht - eine Grenadier- und eine Voltigeurkompanie; dadurch werden die taktischen Evolutionen des Bataillons unnötig kompliziert. Bei anderen Nationen ist es ähnlich. Alle diese auserlesenen Truppen erhalten neben ihrer besonderen Formation und Kleidung höhere Löhnung. Man sagt, daß ein solches System das Streben des gemeinen Soldaten ansporne, besonders bei heißblütigen Nationen, wie die Franzosen und Italiener es sind. Aber man würde dasselbe erreichen und vielleicht noch vollkommener, wenn die Soldaten, die eine derartige Auszeichnung verdient haben, in den Reihen ihrer entsprechenden Kompanien blieben und nicht als Entschuldigung für die gestörte Einheit und Symmetrie der taktischen Bewegungen des Bataillons benutzt würden. Noch auffälliger ist der Humbug bei der Kavallerie. Hier bildet die Unterscheidung zwischen leichter und schwerer Reiterei einen Vorwand für Unterteilungen aller Art - Kürassiere, Dragoner, Karabiniere, Ulanen, Jäger, Husaren usw. All diese Unterteilungen sind nicht nur wertlos, sie sind völlig widersinnig, denn sie rufen Komplikationen hervor. Husaren und Ulanen sind den Ungarn und Polen nachgeahmt; doch in Ungarn und Polen haben diese Truppen ihren Sinn - sie waren die Nationaltruppe, und die Kleidung, die sie trugen, war die Nationaltracht des Landes. Solche Eigenheiten in
anderen Ländern zu kopieren, wo der Nationalgeist fehlt, der ihnen Leben gab, ist, gelinde gesagt, lächerlich; und so mag der ungarische Husar aus dem Jahre 1814, wenn er von einem russischen Husaren mit „Kamerad" angesprochen wurde, sehr wohl geantwortet haben: „Nix Kamerad - ich Husar, du Hanswurst!"1 Ein anderes, ebenso lächerliches Gebilde in fast allen Armeen sind die Kürassiere - Männer, die durch das Gewicht ihrer Kürasse für den wirklichen Kampf unbrauchbar sind und auch ihre Pferde dadurch in Mitleidenschaft ziehen (ein französischer Küraß wiegt 22 Pfund); bei all dem schützen die Kürasse sie nicht einmal vor der Wirkung einer Gewehrkugel, die aus 150 Yards Entfernung abgefeuert wird! Den Küraß war man in fast allen europäischen Armeen losgeworden, bis Napoleons Liebe für Gepränge und monarchische Tradition ihn bei den Franzosen wieder einführte, und diesem Beispiel folgten bald alle Nationen Europas. Neben unserer eigenen kleinen Armee ist die sardinische die einzige unter denen der zivilisierten Nationen, in der die Kavallerie ohne jede weitere Unterteilung aus leichter und schwerer Reiterei besteht und wo der Küraß vollständig abgeschafft worden ist. Bei der Feldartillerie findet man in jeder Armee einen Wirrwarr verschiedener Kaliber. Theoretisch gesehen herrscht bei den Engländern die größte Mannigfaltigkeit, denn sie haben 8 Kaliber und 12 verschiedene Geschützmodelle; doch in der Praxis können sie durch ihr umfangreiches Material die Artillerie auf die größte Einfachheit beschränken. In der Krim zum Beispiel sind fast ausschließlich die Neunpfünder und die vierundzwanzigpfündigen Haubitzen in Gebrauch. Die Franzosen haben während der letzten paar Jahre ihre Artillerie soweit als möglich vereinfacht, indem sie die 4 verschiedenen Kaliber durch eines ersetzten, durch die leichte zwölfpfündige Haubitze, von der wir an gegebener Stelle sprechen werden. In den meisten anderen Armeen gibt es noch 3 bis 4 Kaliber, von der Verschiedenartigkeit der Lafetten, Munitionswagen, Räder und dergleichen abgesehen. Die technischen Truppen der verschiedenen Armeen, die Genietruppen usw., den Stab mag man noch mit hinzunehmen, sind in allen Armeen auf ziemlich gleiche Weise organisiert, außer daß bei den Briten, zu ihrem großen Nachteil, der Stab überhaupt kein gesondertes Korps bildet. Andere kleine Unterschiede werden an gegebener Stelle erwähnt werden. Wir beginnen mit jener Armee, die durch ihre Organisation während der Revolution und unter Napoleon als eine Art Muster für alle europäischen Armeen seit Anfang dieses Jahrhunderts gedient hat.
1 Diese Antwort in „Putnam's Monthly" englisch und deutsch
I. Die französische Armee
Als der gegenwärtige Krieg ausbrach, hatte Frankreich 100 Regimenter Linieninfanterie (das 76. bis 100. wurde bis vor kurzem als „leichte Infanterie" bezeichnet, doch ihre Ausbildung und Organisation unterschied sich in keiner Weise von den Linienregimentern). Jedes Regiment besteht aus 3 Bataillonen, 2 Feldbataillonen und das dritte als Reserve. In Kriegszeiten kann das dritte Bataillon jedoch sehr schnell für den Felddienst organisiert werden, und ein viertes Bataillon, das durch die besondere Depotkompanie eines jeden der 3 Bataillone gebildet wird, übernimmt den Depotdienst. So war es während der Kriege Napoleons, der sogar fünfte und in manchen Fällen sechste Bataillone bildete. Gegenwärtig können wir jedoch nur 3 Bataillone pro Regiment rechnen. Jedes Bataillon hat 8 Kompanien (I Grenadier- und 1 Voltigeurkompanie, 6 Füsilierkompanien) und jede Kompanie bei Kriegsstärke 3 Offiziere sowie 1 i5 Unteroffiziere und Soldaten. Deshalb umfaßt ein französisches Linienbataillon bei Kriegsstärke ungefähr 960 Mann, von denen ein Achtel (dieVoltigeurkompanie) besonders für den Einsatz als leichte Infanterie vorgesehen ist. Die für den Dienst als.leichte Infanterie bestimmten speziellen Truppen bestehen aus den chasseurs-ä-pied1 und den Afrikanischen Truppen. Die Jäger, vor dem Krieg nur 10 Bataillone, wurden im Jahre 1853 auf 20 Bataillone verstärkt, so daß beinahe jede Infanteriedivision der Armee (4 Regimenter) bei ihrer Formierung ein Jägerbataillon erhalten kann. Diese Bataillone bestehen aus 10 Kompanien bzw. nahezu 1300 Mann. Die speziell für den Afrikadienst bestimmten Truppen sind gebildet aus: 3 Regimentern mit 9 Bataillonen Zuaven, 2 Regimentern oder 6 Bataillonen der Fremdenlegion, 6 Bataillonen leichter Infanterie (davon 3 Bataillone einheimische Jäger), insgesamt 21 Bataillone oder ungefähr 22000 Mann. Die Kavallerie besteht aus vier unterschiedlichen Teilen: 1. schwere oder Reservekavallerie: 12 Regimenter - davon 2 Regimenter Karabiniers (mit Gewehren bewaffnete Kürassiere), 10 Regimenter Kürassiere = 72 Eskadronen; 2. Linienkavallerie: 20 Regimenter - 12 Regimenter Dragoner, 8 Regimenter Lanciers = 120 Eskadronen; 3. leichte Kavallerie: 21 Regimenter - 12 Regimenter chasseurs-k-cheval2, 9 Regimenter Husaren = 126 Eskadronen; 4. afrikanische leichte Kavallerie: 7 Regimenter - 4 Regimenter Chasseurs d'Afrique3, 3 Regimenter Spahis = 42 Eskadronen. 1 Jägern zu Fuß - 2 Jäger zu Pferd - 8 für den Dienst in Afrika bestimmte leichte Reiterei
27 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
Die Eskadronen der Reserve- und Linienkavallerie bestehen - bei Kriegsstärke - aus 190 Mann und die der leichten Kavallerie aus 200 Mann. In Friedenszeiten sind kaum 4 Eskadronen von je 120 Mann voll ausgerüstet, so daß bei jeder Mobilmachung der Armee eine große Anzahl beurlaubter Soldaten einberufen und Pferde für sie aufgebracht werden müssen, was in einem an Pferden so armen Lande wie Frankreich ohne umfangreiche Einfuhr aus dem Ausland niemals erreicht werden kann. Die kürzlich reorganisierte Artillerie ist in 17 Regimentern formiert: 5 Regimenter Fußartillerie für den Garnison- und Belagerungsdienst, 7 .Linienregimenter (den Infanteriedivisionen zugeteilt), 4 Regimenter reitende Artillerie und 1 Regiment Pontoniere. Die Fußartillerie ist wahrscheinlich nur in Notfällen für den Kampf im Felde bestimmt. Bei der Linienartillerie sind die Geschützlafetten undProtzen so konstruiert, daß die Kanoniere während schneller Bewegungen aufsitzen können. Die reitende Artillerie ist wie in anderen Heeren organisiert. Die Linien- und die reitende Artillerie umfassen 137 Batterien zu je 6 Geschützen, zu denen 60 Batterien Fußartillerie als Reserve hinzukommen, insgesamt 1182 Geschütze. Außerdem gehören zur Artillerie 13 Kompanien Handwerker. Die Sonderabteilungen der Armee umfassen: den Generalstab mit 560 Offizieren; Stäbe für die Festungen, die Artillerie und das Geniekorps mit ungefähr 1200 Offizieren; 3 Regimenter Sappeure und Mineure, 5 Packeskadronen, 5 Traineskadronen; 1187 Sanitätsoffiziere usw. Die Gesamtzahlen sind folgende: Infanterie Linie, 300 Bataillone und 300 Depotkompanien 335000 Jäger, 20 Bataillone 26000. Afrikanische Truppen, 21 Bataillone 22000 383000 Kavallerie Reserve, 72 Eskadronen und 12 Depoteskadronen 16300 Linie, 120 Eskadronen und 20 Depoteskadronen 28400 Leichte, 126 Eskadronen und 21 Depoteskadronen 31 300 Afrikanische, 42 Eskadronen - 10000 86000 Artillerie tmd Spezialkorps 1200 Geschütze und 70000 1200 Geschütze und 539000
Zu diesen müssen hinzugerechnet werden die neuformierte Garde in der Stärke einer Infanteriedivision (2 Grenadierregimenter, 2 Voltigeurregimen
ter), 1 Brigade Kavallerie (1 Regiment Kürassiere, 1 Regiment Guiden), I Bataillon Jäger und 4 oder 5 Batterien Artillerie sowie 25000 Mann Gendarmerie, von denen 14000 Berittene sind. 2 weitere Infanterieregimenter, das 101. und das 102., sind kürzlich gebildet worden, und eine neue Brigade der Fremdenlegion (Schweizer) wird gerade gebildet. Also besitzt die französische Armee bei ihrer gegenwärtigen Organisation in ihrem Gesamtbestand rund 600000 Mann; das wird eine ziemlich genaue Schätzung der augenblicklichen Stärke sein. Die Armee wird durch Auslosung unter allen jungen Männern rekrutiert, die das 20. Lebensjahr erreicht haben. Man kann annehmen, daß jährlich ungefähr 140000 Mann zur Verfügung stehen; davon werden jedoch in Friedenszeiten nur 60000-80000 in den Heeresdienst übernommen. Die übrigen können während der 8 Jahre, die ihrer Auslosung folgen, jederzeit einberufen werden. Eine große Anzahl Soldaten wird außerdem in Friedenszeiten für lange Zeit beurlaubt, so daß die eigentliche Dienstzeit, selbst der Einberufenen, 4 oder 5 Jahre nicht übersteigt. Durch dieses System stehen keine ausgebildeten Reserven für den Notfall bereit, während die wirklich diensttuenden Truppen einen hohen Grad der Leistungsfähigkeit erhalten. Ein großer kontinentaler Krieg, in dem Frankreich mit zwei oder drei großen Armeen kämpfen müßte, würde es dazu zwingen, schon in der zweiten Kampagne viele unausgebildete Rekruten ins Feld zu schicken, und in der dritten Kampagne würde sich die Armee offensichtlich verschlechtern. Tatsache ist: daß die Franzosen das Soldatenhandwerk sehr leicht erlernen; warum wird aber dann die lange Dienstzeit beibehalten, die den größeren Teil der zur Verfügung stehenden jungen Männer von dem Vorteil einer Schule der militärischen Erziehung ausschließt? Wo immer der Militärdienst obligatorisch und von langer Dauer ist, führten die Lebensbedürfnisse der europäischen Gesellschaft für die wohlhabenden Klassen zu dem Privileg, sich durch eine Geldzahlung in der einen oder anderen Form von der persönlichen Dienstpflicht freizukaufen. So ist in Frankreich das System, einen Ersatzmann zu stellen, rechtlich anerkannt, und in der französischen Armee dienen ständig ungefähr 80000 dieser Ersatzleute. Sie kommen zumeist aus den sogenannten „gefährlichen Klassen" und sind ziemlich schwierig zu behandeln, doch wenn sie einmal eingewöhnt sind, geben sie großartige Soldaten ab. Sie können nur durch eine strenge Disziplin im Zaume gehalten werden, und ihre Ansichten über Ordnung und Unterordnung sind manchmal ziemlich ungewöhnlich. Wo immer eine große Anzahl von ihnen in einem Regiment ist, werden sie bestimmt Schwierigkeiten in der Garnison verursachen. Deshalb ist man der Meinung, daß sie vor
dem Feind am besten aufgehoben sind, und daher werden die leichten Truppen Afrikas speziell aus ihnen rekrutiert; zum Beispiel traten beinahe alle Zuaven der Armee als „Remplagants"1 bei. Der Krimfeldzug hat im vollen Umfange bewiesen, daß die Zuaven ihre afrikanischen Gewohnheiten überall mit hinnehmen - sowohl ihre Liebe zum Plündern als auch ihr disziplinloses Verhalten bei Fehlschlägen; und möglicherweise spricht der gleiche Geist aus den Worten einer verwandten Seele, nämlich des verstorbenen Marschalls Saint-Arnaud, wenn er in seinem Bericht über die Schlacht an der Alma sagt: „Die Zuaven sind die besten Soldaten der Welt!" Die Ausrüstung der französischen Armee ist im allgemeinen erstklassig. Die Waffen sind gut konstruiert, und besonders der Kavalleriesäbel ist ein sehr gutes Modell, obwohl er vielleicht ein bißchen zu lang ist. Die Infanterie ist dem neuen System entsprechend ausgerüstet, das in Frankreich und in Preußen zur gleichen Zeit eingeführt wurde; dadurch wurde das kreuzweise getragene Bandelier für Patronentasche und Säbel oder Bajonett abgeschafft; beide werden an einem Leibriemen, unterstützt durch zwei Lederriemen über den Schultern, getragen, der Tornister hingegen wird locker an zwei über die Schultern gehende Riemen getragen, ohne den altmodischen Verbindungsriemen quer über der Brust. Auf dieseWeise wird die Brust völlig frei gelassen, und der Soldat wird ein ganz und gar anderer Mensch als der unglückliche Mann, der in einen Lederküraß eingeschnürt und geschnallt ist, in den ihn das alte System zwängte. Die Uniform ist einfach,aber geschmackvoll; man muß wirklich anerkennen, daß die Franzosen sowohl in militärischen wie in zivilen Moden mehr Geschmack gezeigt haben als irgendeine andere Nation. Ein blauer Waffenrock oder Überrock, die Oberschenkel bis zu den Knien bedeckend, mit einem vorn ausgeschnittenen, niedrigen Stehkragen; scharlachfarbene, mäßig weite Hosen; ein leichtes Käppi, die soldatischste Kopfbedeckung, die bisher erfunden wurde; Schuhe, Gamaschen und ein bequemer grauer Mantel; sie bilden zusammen eine so einfache und zweckentsprechende Ausstattung, wie sie in keiner anderen europäischen Armee bekannt ist. In Afrika ist der Kopf gegen die Sonnenstrahlen durch eine weiße Flanellkapuze geschützt; auch Flanellunterkleidung wird an die Truppen ausgegeben. In der Krim wurden während des letzten Winters Kapuzen aus schwerem Tuch getragen, die Kopf, Hals und Schultern bedeckten. Die chasseurs-k-pied sind ganz in Grau mit grünen Einfassungen gekleidet; die Zuaven tragen eine Art türkisches Phantasiekostüm, das dem Klima und ihrem Dienst gut angepaßt zu sein scheint. Die Jäger und einige andere
1 Ersatzleute
afrikanische Bataillone sind mit Minie-Gewehren bewaffnet, der übrige Teil der Infanterie mit einfachen Perkussionsgewehren. Es scheint jedoch die Absicht zu bestehen, den Anteil der mit gezogenen Gewehren ausgerüsteten Truppen zu erhöhen. Die Kavallerie ist eine gut aussehende Truppe, leichter im Gewicht als in vielen anderen Armeen, aber darum nicht schlechter. In Friedenszeiten ist sie im ganzen recht gut mit Pferden versorgt, die im Ausland beschafft wurden oder aus den staatlichen Gestüten und den Bezirken stammen, in denen man erfolgreich die einheimische Zucht verbessern konnte, um die es bis vor kurzem sehr schlecht bestellt war. Doch im Kriegsfall, wenn die Anzahl der Pferde plötzlich verdoppelt werden muß, sind die Ressourcen des Landes völlig ungenügend, und Tausende von Pferden müssen im Ausland gekauft werden, von denen viele für den Kavalleriedienst kaum tauglich sind. So wird die französische Kavallerie in jedem langen Krieg bald nichts mehr taugen, wenn die Regierung ihre Hand nicht auf die Ressourcen von Ländern legen kann, die reich an Pferden sind, wie sie es in den Jahren 1805, 1806 und 1807 getan hat. Die Artillerie ist jetzt ausschließlich mit dem neuen leichten Zwölfpfünder ausgerüstet, der sogenannten Erfindung Louis-Napoleons. Doch da der leichte, für eine Ladung von einem Viertel des Kugelgewichts eingerichtete Zwölfpfünder bereits in der englischen und der holländischen Armee existierte, da die Belgier bereits bei ihren Haubitzen dje Kammer abgeschafft hatten und da Preußen und Österreicher in gewissen Fällen Granaten aus gewöhnlichen Zwölf- und Vierundzwanzigpfündern zu feuern pflegen, so reduziert sich die angebliche Erfindung darauf, diesen leichten Zwölfpfünder der gewöhnlichen französischen Achtpfünderlafette angepaßt zu haben. Die französische Artillerie hat jedoch durch den Wandel offensichtlich an Einfachheit und Wirksamkeit gewonnen; ob ihre Beweglichkeit gelitten hat, muß sich erst herausstellen, ebenso, ob der Zwölfpfünder bei Hohlgeschossen wirksam genug ist. Zumindest haben wir schon Hinweise gefunden, daß es bereits als notwendig erachtet wurde, Haubitzen eines schwereren Kalibers zur Armee im Osten zu schicken. Das Exerzierreglement der französischen Armee ist eine sonderbare Mischung von soldatischer Vernunft und altmodischen Traditionen. Es gibt schwerlich eine andere Sprache, die besser für die knappen, bestimmten und gebieterischen militärischen Kommandos geeignet wäre als die französische; das Kommando wird jedoch im allgemeinen mit außerordentlicher Weitschweifigkeit gegeben - wo zwei oder drei Worte genügen würden, muß der Offizier einen ganzen Satz ausrufen oder sogar zwei. Die Manöver sind
kompliziert, und das Exerzieren enthält ein gut Teil altmodischen, mit dem heutigen Stand der Taktik überhaupt nicht zu vereinbarenden Unsinns. Im Tiraillieren, was den Franzosen geradezu angeboren zu sein scheint, werden die Leute mit einer Pedanterie gedrillt, die in Rußland kaum übertroffen wird. Dasselbe gilt für manche Kavallerie- und Artilleriebewegungen. Doch immer, wenn die Franzosen in den Krieg ziehen müssen, enthebt sie die sich aus der Lage ergebende Notwendigkeit dieser veralteten und pedantischen Bewegungen. Neue taktische Methoden, die sich neuen Situationen anpassen, werden von keinem so schnell festgelegt und eingeführt wie von den Franzosen. Insgesamt gesehen ist der Dienst als leichte Truppe die forte1 der Franzosen. Sie sind buchstäblich die leichtesten Truppen in Europa. Nirgendwo ist die durchschnittliche Körpergröße der Armee so gering wie in Frankreich. Im Jahre 1836 waren von rund 80000 Mann in der französischen Armee nur 743 Mann 5 Fuß 8 Zoll groß oder darüber, und nur sieben maßen 6 Fuß, während volle 38000 Mann 4 Fuß IOV2 Zoll bis 5 Fuß 2 Zoll groß waren. Trotzdem kämpfen diese kleinen Männer nicht nur außerordentlich gut, sondern halten auch den schwersten Strapazen stand und übertreffen an Beweglichkeit fast jede andere Armee. General Napier behauptet, daß der britische Soldat das am schwersten beladene Kampftier der Welt sei; aber er hat niemals diese französisch-afrikanischen Feldzugteilnehmer gesehen, die außer ihren Waffen und dem persönlichen Gepäck Zelte, Feuerholz und Lebensmittel auf ihrem Rücken so aufgehäuft tragen, daß diese Last ihre Tschakos überragt,und die damit 30 oder 40 Meilen am Tag in tropischer Hitze marschieren. Und dann vergleiche man den großen, schwerfälligen britischen Soldaten, der in Friedenszeiten wenigstens 5 Fuß 6 Zoll mißt, mit dem winzigen, kurzbeinigen Franzosen von 4 Fuß 10 Zoll, der dem Schneider im Märchen gleicht! Dabei bleibt der kleine Franzose unter seiner ganzen Last ein großartiger leichter Infanterist; er schwärmt aus, trabt, rennt, legt sich hin., springt auf, während er zur gleichen Zeit ladet, feuert, vormarschiert, sich zurückzieht, sich zerstreut, sich sammelt, sich neu formiert. Er zeigt sich nicht nur doppelt so behend, sondern auch doppelt so intelligent wie sein knochiger Konkurrent von der Insel des „rosbif "2. Dieser Dienst als leichte Infanterie wurde in den 20 Bataillonen der chasseurs-ä-pied zu hoher Vollendung gebracht. Diese unvergleichliche Truppe, unvergleichlich im Bereich ihres besonderen Dienstes, wird darin geübt, in Reichweite des Feindes jede Bewegung in einer Art leichtem Trott auszuführen, der pas
1 Stärke - 2 „Roastbeef"
gymnastique1 genannt wird, wobei sie 160-180 Schritte in der Minute machen. Aber sie können nicht nur, mit kurzen Pausen, eine halbe Stunde und länger laufen, sondern auch kriechen, springen, klettern und schwimmen; jede Bewegungsart, die möglicherweise verlangt werden kann, ist ihnen gleichermaßen geläufig, wobei sie erstklassige Schützen sind. Wer kann unter gleichen Bedingungen im Tirailleurkampf diesen sicheren Schützen standhalten, die hinter der geringsten Unebenheit des Bodens Deckung finden? Beim Masseneinsatz der französischen Infanterie erwachsen den Franzosen aus ihrem leidenschaftlichen Charakter sowohl große Vorteile als auch große Nachteile. Allgemein wird ihr erster Angriff durchdacht, schnell, entschlossen, wenn nicht gar heftig sein. Ist er erfolgreich, so kann ihnen nichts widerstehen. Wird er zurückgeschlagen, so werden sie sich schnell sammeln und in der Lage sein, wieder vorzugehen; doch in einem unglücklichen oder selbst in einem wechselvollen Kampf wird die französische Infanterie bald ihre Festigkeit verlieren. Erfolg brauchen alle Armeen, doch besonders jene der romanisch-keltischen Völker. Die Teutonen sind ihnen in dieser Hinsicht entschieden überlegen. Nachdem Napoleon die französische Armee einmal in Marsch gesetzt hatte, vermochten die Franzosen 15 Jahre lang alles auf ihrem Wege niederzuwerfen, bis Rückschläge sie niederzwangen; doch ein Siebenjähriger Kriegt229], wie ihn Friedrich der Große führte, ein Krieg, in dem er oft genug dem Ruin nahe, oft geschlagen und schließlich doch siegreich war - ein solcher Krieg hätte niemals mit französischen Truppen gewonnen werden können. Der Krieg in Spanien 1809-1814 gibt dafür ein aufschlußreiches Beispiel. Unter Napoleon war die französische Kavallerie, im Gegensatz zur Infanterie, wegen ihres Einsatzes in Massen weit angesehener als wegen ihres Dienstes als leichte Truppe. Sie wurde für unbesiegbar gehalten, und selbst Napier gibt ihre Überlegenheit über die englische Kavallerie jener Zeit zu. Wellington tat bis zu einem gewissen Grade dasselbe. Und seltsam, diese unwiderstehliche Kavallerie bestand aus solch miserablen Reitern, daß alle ihre Angriffe im Trab gemacht wurden oder allerhöchstens in einem leichten Galopp! Aber sie ritten dicht beieinander und wurden nie eingesetzt, ohne daß die Artillerie ihnen durch ein schweres Feuer den Weg bereitet hatte, und dann nur in großen Massen. Tapferkeit und der Siegestaumel taten das übrige. Die heutige französische Kavallerie, besonders die algerischen Regimenter, sind eine sehr gute Truppe, sie können im allgemeinen gut reiten und wissen sich noch besser zu schlagen, obwohl sie den Briten, Preußen und
1 gymnastischer Schritt
besonders den Österreichern an reiterlichem Können noch unterlegen sind. Aber da die Armee, wenn sie auf den Kriegsfuß gebracht wird, ihre Kavallerie verdoppeln muß, besteht kein Zweifel, daß die Qualität absinken wird. Es ist jedoch eine Tatsache, daß die Franzosen in hohem Maße die notwendige Eigenschaft eines Reitersoldaten besitzen, die wir Schneid nennen und die eine ganze Reihe Mängel wieder wettmacht. Andrerseits geht kein anderer Soldat so sorglos mit seinen Pferden um wie der Franzose. Die französische Artillerie stand immer in sehr hohem Ansehen. Beinahe alle Verbesserungen, die während der letzten drei oder vier Jahrhunderte in der Geschützkunst gemacht wurden, stammen von Franzosen. Während der napoleonischen Kriege war die französische Artillerie besonders gefürchtet, denn sie war außerordentlich geschickt in der Wahl der Stellungen für ihre Geschütze, eine Kunst, die damals in anderen Armeen nur sehr unvollkommen beherrscht wurde. Alle Zeugnisse stimmen überein, daß niemand den Franzosen darin gleichkommt, die Geschütze so aufzustellen, daß das Gelände vor ihnen sie vor dem Feuer des Feindes deckt, während es die Wirkung des eigenen Feuers begünstigt. Auch war der theoretische Zweig der Artillerie schon immer eine von den Franzosen bevorzugte Wissenschaft; ihr Sinn für Mathematik begünstigt das; Genauigkeit der Sprache, wissenschaftliche Methode, Gediegenheit der Ansichten charakterisieren ihre artilleristische Literatur und zeigen, wie sehr dieser Zweig der Wissenschaft ihrer nationalen Eigenart entspricht. Von den Spezialtruppen, dem Geniekorps, dem Stab, dem Sanitätspersonal und denTraintruppen können wir nur sagen, daß sie höchst leistungsfähig sind. Die Militärschulen sind Vorbilder ihrer Art. Von dem französischen Offizier wird nicht die gleiche Allgemeinbildung verlangt wie in Preußen, doch geben ihm die Schulen, die er absolvieren muß, eine erstklassige Ausbildung für seinen Beruf, einschließlich gründlicher Kenntnisse in den Hilfswissenschaften und einer gewissen Fertigkeit in zumindest einer lebenden Sprache. Es gibt jedoch eine andere Gruppe von Offizieren in der französischen Armee, nämlich die, die aus den Reihen der alten Unteroffiziere hervorgegangen ist. Diese letzteren avancieren selten höher als bis zum Hauptmann, so daß die Franzosen oft junge Generale und alte Hauptleute haben; dieses System bewährt sich außerordentlich gut. Im großen und ganzen zeigt die französische Armee in all ihren Teilen, daß sie einer kriegerischen und temperamentvollen Nation angehört, die auf ihre Verteidiger stolz ist. Daß die Disziplin und die Leistungsfähigkeit dieser Armee den Verführungen Louis Bonapartes widerstanden hat und daß diePrätorianer des Dezember 1851[491 so schnell in die Helden der Krim verwandelt
werden konnten, spricht gewiß sehr für sie. Niemals wurde einer Armee durch eine Regierung mehr geschmeichelt und mehr gehuldigt, wurde sie offener zu aller Art Ausschweifungen aufgefordert als die französische Armee im Herbst 1851. Niemals wurde ihr solche Zügellosigkeit erlaubt wie während des Bürgerkrieges im Dezember, doch die Soldaten haben sich zur Disziplin zurückgefunden und versehen ihren Dienst sehr gut. Zugegeben, das prätorianische Element ist in der Krim mehrmals an die Oberfläche gekommen, doch Canrobert konnte es immer wieder unterdrücken.
II. Die englische Armee[230]
Die britische Armee bildet einen vollständigen Gegensatz zur französischen. Nicht zwei Berührungspunkte existieren zwischen beiden. Wo die Franzosen stark sind, sind die Briten schwach und vice versa1. Wie AltEngland selbst eine Masse schleichender Mißbräuche, ist die Organisation der englischen Armee faul bis zum Herzen. Alles scheint so geordnet, um jede Möglichkeit abzuschneiden, daß es seinen Zweck erfülle. Durch einen unerklärlichen Glücksfall nehmen die kühnsten Neuerungen - nicht zahlreich in der Tat - ihren Platz ein mitten unter den Ruinen überjährigen Blödsinns; und dennoch, sooft die schwerfällige, knarrende Maschine ins Werk gesetzt wird, vollbringt sie in der einen oder andern Weise ihre Arbeit. Die Organisation der britischen Armee ist bald beschrieben. Die Infanterie besteht aus 3 Regimentern Garde, 85 Linienregimentern, 13 Regimentern leichte Infanterie, 2 Regimentern Schützen. Während des gegenwärtigen Kriegs zählen die Garden, die Schützen und einige andere Regimenter 3 Bataillone, der Rest hat nur 2. Ein Depot wird in jedem durch eine Kompanie gebildet. Die Rekrutierung reicht jedoch kaum hin, die durch den Krieg verursachten Lücken zu füllen, und deshalb kann von der Existenz der zweiten Bataillone kaum die Rede sein. Die gegenwärtige Effektivkraft der britischen Armee überbietet sicher nicht 120000 Mann. Neben den regelmäßigen Truppen bildet die Miliz einen Bestandteil der Infanterie, als eine Art von Reserve oder Zuchtschule für die Armee. Ihre Zahl, gemäß einem Parlamentsbeschluß, darf bis zu 80000 Mann betragen, zählt aber augenblicklich kaum 60000, obwohl in Lancashire allein 6 Bataillone ausgehoben wurden. Nach den Bestimmungen des Gesetzes kann die Miliz freiwilligen Dienst nehmen in den Kolonien, aber nicht auf ausländische
1 umgekehrt
Kriegstheater geführt werden. Sie kann also nur benutzt werden zur Freisetzung der Liniensoldaten in den Garnisonen von Korfu, Malta und Gibraltar oder vielleicht später von entlegenen britischen Niederlassungen. Die Kavallerie hat 3 Regimenter Garde (Kürassiere), 6 Regimenter Gardedragoner (schwere), 4 schwere sowie 4 leichte Dragonerregimenter, 5 Husaren- und 4 Ulanenregimenter. Jedes Regiment, auf dem Kriegsfuß, ist zu 1000 Säbeln zu erheben (4 Eskadronen von 250 Mann nebst einem Depot). Einige Regimenter hatten diese Stärke, als sie England verließen, aber die Unglücksfälle in der Krim während des Winters, die sinnlose Attacke bei Balaklawaund der Rekrutenmangel haben im ganzen den alten Friedensfuß wiederhergestellt. Wir glauben nicht, daß die Gesamtzahl der 26 Regimenter in diesem Augenblick 10000 Säbel beträgt, das heißt 400 Säbel im Durchschnitt pro Regiment. Die Artillerie besteht aus einem Regiment Fußartillerie (12 Bataillone mit 96 Batterien) und einer Brigade reitender Artillerie (7 Batterien und 1 Raketenbatterie). Jede Batterie hat 5 Kanonen und 1 Haubitze; die Kaliber der Kanonen sind Drei-, Sechs-, Neun-, Zwölf- und Achtzehnpfünder, die der Haubitzen 42/5 Zoll, 4x/2 Zoll, 5ll2 Zoll und 8 Zoll. Jede Batterie hat außerdem auch 2 Modelle von Kanonen von fast jedem Kaliber, schwere und leichte. In der Tat jedoch bilden jetzt der leichte Neun- und Zwölfpfünder sowie die viereinhalb- und fünfeinhalbzöllige Haubitze das Feldkaliber, und im ganzen kann der Neunpfünder nun als die allgemein gebräuchliche Kanone der britischen Artillerie betrachtet werden, mit der viereinhalbzölligen (vierundzwanzigpfündigen) Haubitze zur Unterstützung. Neben diesen sind Sechs- und Zwölfpfünderraketen in Gebrauch. Da die englische Armee auf Friedensfuß nur eine Kaderarmee für den Kriegsfuß bildet und gänzlich durch freiwillige Rekrutierung ergänzt wird, kann ihre wirkliche Stärke für einen gegebenen Moment nie exakt angegeben werden. Wir glauben jedoch, wir können ihre jetzige Stärke ungefähr schätzen auf 120000 Mann Infanterie, 10000 Mann Kavallerie und 12000 Mann Artillerie mit 600 Kanonen (davon ist nicht einmal der fünfte Teil bespannt). Von diesen 142000 Mann befinden sich etwa 32000 auf der Krim, etwa 50000 in Indien und den Kolonien und die übrigbleibenden 60000 (eine Hälfte davon Rekruten, die andere Exerziermeister der Rekruten) in der Heimat. Zu diesen kommen etwa 60000 Milizleute hinzu. Die Pensionäre, Yeomanry-cavalry1 und andere nutzlose und für den auswärtigen Dienst nicht verwendbare Korps lassen wir natürlich ganz außer Rechnung.
1 berittene Freiwillige (oder Landmiliz)
Das Rekrutiersystem durch freiwillige Werbung macht es in Kriegszeiten sehr schwer, die Armee vollzählig zu halten, wie die Engländer jetzt erneut erfahren. Wir sehen wieder, wie unter Wellington, daß 30000 bis 40000 Mann das Maximum ist, was sie auf einem bestimmten Kriegstheater konzentrieren und vollzählig halten können, und da sie jetzt nicht Spanier zu Alliierten haben, sondern Franzosen, verschwindet „die heroische kleine Bande" der Briten fast ganz in der Mitte der alliierten Armee. Eine einzige Institution der britischen Armee reicht völlig hin zur Charakteristik der Klasse, woraus der britische Soldat rekrutiert wird. Wir meinen die Strafe des Auspeitschens. Körperliche Züchtigung existiert nicht mehr in der französischen und preußischen Armee sowie in mehreren kleineren Armeen. Selbst in Österreich, wo der größere Teil der Rekruten aus Halbbarbaren besteht, strebt man offenbar nach ihrer Beseitigung; so wurde neulich die Strafe des Spießrutenlaufens aus dem Österreichischen Militärgesetz ausgemerzt. In England dagegen ist die neunschwänzige Katze in voller Wirksamkeit erhalten - ein Torturinstrument ganz ebenbürtig der russischen Knute in ihrer Glanzzeit. Seltsam, sooft eine Reform der Kriegsgesetzgebung im Parlament angeregt wurde, ereiferten sich alle alten Martinets3 für die „Katze" und keiner leidenschaftlicher als der alte Wellington. Für sie war ein ungepeitschter Soldat ein unbegreifliches Wesen. Tapferkeit, Disziplin und Unbesiegbarkeit waren in ihren Augen die ausschließlichen Attribute von Männern, die die Narben von mindestens 50 Hieben auf ihren Rücken tragen. Die neunschwänzige Katze, das darf nicht vergessen werden, ist nicht nur ein Peinigungsinstrument, sie läßt unvergängliche Narben zurück, sie brandmarkt einen Mann für Lebenszeit. Selbst in der englischen Armee ist eine solche körperliche Strafe, eine solche Brandmarkung, eine ewige Schmach. Der ausgepeitschte Soldat verliert bei seinen Kameraden an Ansehen. Aber gemäß dem britischen Militärkodex besteht die Strafe vor dem Feinde fast ausschließlich in der Auspeitschung, und so ist die Strafe, die von ihren Verteidigern als das einzige Mittel zum Aufrechterhalten der Disziplin im entscheidenden Augenblick gerühmt wird, das sicherste Mittel zur Zerstörung der Disziplin, indem es die Moral und den Point d'honneur2 des Soldaten bricht. Dies erklärt zwei sehr sonderbare Tatsachen. Erstens: Die große Zahl der englischen Deserteure vor Sewastopol. Im Winter, als die britischen Soldaten
1 (nach dem Namen des französischen Generals Martinet, der zur Zeit Ludwigs XIV. lebte und als „strenger Vorgesetzter" berüchtigt war; hier im Sinne von:) Zuchtmeister 2 Ehrgefühl .
übermenschliche Anstrengungen zu machen hatten, um die Gräben zu bewachen, wurden diejenigen, welche sich nicht 48-60 Stunden hintereinander wachhalten konnten, ausgepeitscht. Man denke nur, solche Heroen wie die britischen Soldaten, die sich bewährt hatten in den Laufgräben vor Sewastopol und die Schlacht bei Inkerman11111 trotz ihrer Generale gewonnen hatten, auszupeitschen! Aber die Kriegsartikel ließen keine Wahl. Die besten Männer in der Armee, wenn von Ermüdung überwältigt, wurden ausgepeitscht, und entehrt, wie sie waren, desertierten sie zu den Russen. Wahrlich, es kann kein schärferes Verdammungsurteil für dieses System geben als das. In keinem früheren Krieg sind Truppen irgendeiner Nation in nennenswerter Anzahl zu den Russen desertiert; sie wußten, daß sie schlechter behandelt werden würden als in der eigenen Armee. Es war der englischen Armee vorbehalten, das erste starke Kontingent solcher Deserteure zu stellen, und nach dem Zeugnis der Engländer selbst war es das Auspeitschen, das die Soldaten desertieren ließ. Die andere Tatsache ist die Schwierigkeit, worauf England bei jedem Versuch zur Bildung von Fremdenlegionen im Rahmen der britischen Kriegsgesetzgebung stößt. Die Festlandbewohner sind in bezug auf ihre Rücken sehr eigenartig. Die Aussicht, geprügelt zu werden, hat die Versuchung, die große Beute und gute Löhnung darstellen, überwunden. Bis Ende Juni hatten sich nicht mehr als 1000 Mann gemeldet, wo 15000 gebraucht wurden, und soviel ist gewiß, wenn die Behörden versuchen, selbst unter diesen 1000 Anwärtern das Prügeln einzuführen, dann werden sie einen Sturm erleben, der sie dazu zwingen wird, entweder nachzugeben oder die Fremdenlegion sofort aufzulösen. Uniformierung und Equipierung des britischen Soldaten sind ein Beispiel dafür, wie sie nicht sein sollten. Bis heute ist die Uniform, wie sie die Armeen bis 1815 zutragen pflegten, die gleiche geblieben. Eine Verbesserung wurde nicht zugelassen. Der alte, kurze Schwalbenschwanzrock, entstellt durch häßliche Aufschläge, unterscheidet den britischen immer noch von jedem anderen Soldaten. Die Hosen sind eng und unbequem. Das alte System des kreuzweise getragenen Bandeliers zum Befestigen von Bajonettscheide, Patronentasche und Tornister herrscht uneingeschränkt in fast allen Regimentern. Die Bekleidung der Kavallerie hat einen besseren Sitz und ist auch sonst weit besser als die der Infanterie; aber sie ist trotz allem viel zu eng und unbequem. England allein hat in seiner Armee den roten Waffenrock, den „stolzen roten Rock", wie ihn Napier nennt, beibehalten. Dieser Rock, der den Soldaten das Aussehen von dressierten Affen gibt, soll durch seinen Glanz unter den Feinden Schrecken hervorrufen. Doch ach! Wer je einen der ziegelfarbenen britischen Infanteristen gesehen hat, muß zugeben, daß ihre
Rocke nach vierwöchigem Tragen in jedem Beobachter unbestreitbar nicht den Gedanken der Furcht, sondern der Schäbigkeit erregen und daß jede andere Farbe weit furchterregender sein würde, wenn sie nur Staub, Schmutz und Nässe widerstehen könnte! Die Dänen und die Hannoveraner haben einmal den roten Rock getragen, aber sie ließen ihn sehr bald fallen. Die erste Kampagne in Schleswig zeigte den Dänen, was für ein großartiges Ziel dem Feind durch den roten Rock und die weißen Kreuzbandeliers geboten wird. Die neue Bekleidungsordnung hat einen roten Rock vom Schnitt des preußischen herausgebracht. Die Infanterie trägt den österreichischenTschako oder das Käppi, die Kavallerie den preußischen Helm. Die Kreuzbandelierausrüstung, die rote Farbe, die engen Hosen sind mehr oder weniger geblieben. So kommt die Neuerung auf ein Nichts heraus; der britische Soldat wird sich so seltsam wie bisher unter den anderen europäischen Armeen ausnehmen, die ein wenig mehr dem gesunden Menschenverstand entsprechend gekleidet und ausgerüstet sind. Trotzdem ist in der britischen Armee eine Verbesserung eingeführt worden, die alles, was in anderen Ländern getan wurde, weit hinter sich zurückläßt. Das ist die Bewaffnung der gesamten Infanterie mit dem durch Pritchett verbesserten Minie-Gewehr. Wie die alten Männer an der Spitze der Armee, Männer, die in ihren Vorurteilen gewöhnlich so hartnäckig sind, zu einem solch kühnen Entschluß kommen konnten, kann man sich schwer vorstellen; doch haben sie es getan und damit die Wirksamkeit ihrer Infanterie verdoppelt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Minie-Gewehr durch die außerordentliche Zielsicherheit und große Durchschlagskraft den Tag von Inkerman zugunsten der Engländer entschied. Wann immer eine englische Infanterielinie ihr Feuer eröffnet, muß ihre Wirkung auf jeden mit der gewöhnlichen Muskete bewaffneten Feind überwältigend sein, da das englische Minie-Gewehr so schnell geladen wird wie nur irgendein glattläufiges Gewehr. Die Kavallerie besteht aus prächtigen Leuten, sie ist gut beritten und mit Säbeln von ausgezeichnetem Muster versehen; was sie leisten kann, hat sie bei Balaklawa gezeigt. Aber im Durchschnitt sind die Leute zu schwer für ihre Pferde, und einige Monate aktiver Kampfhandlungen müssen die britische Kavallerie auf ein Nichts reduzieren. Die Krim hat davon ein neues Beispiel geliefert. Wenn das durchschnittliche Maß für die schwere Kavallerie auf 5 Fuß 6 Zoll herabgesetzt würde und für die leichte Kavallerie auf 5 Fuß 4 oder gar 2 Zoll, wie es unseres Wissens jetzt der Infanterie entspricht, so könnte ein Mannschaftskörper gebildet werden, der für den eigentlichen Felddienst der Kavallerie weit geeigneter wäre. Da die Pferde zu schwer
belastet sind, müssen sie zusammenbrechen, bevor sie mit Erfolg gegen den Feind gebraucht werden können. Die Artillerie besteht ebenfalls aus zu großen Leuten. Die durchschnittliche Größe eines Artilleristen sollte so sein, daß er in der Lage ist, einen Zwölfpfünder abzuprotzen; und 5 Fuß 2 Zoll bis 5 Fuß 6 Zoll sind für diesen Zweck mehr als genug, wie wir aus reicher persönlicher Erfahrung und Beobachtung wissen. In der Tat sind Männer von ungefähr 5 Fuß 5 oder auch 6 Zoll, wenn sie kräftig gebaut sind, im allgemeinen die besten Kanoniere. Doch wollen die Briten ein Paradekorps, und deshalb haben ihre Männer, obwohl sie groß sind und gut aussehen, nicht jenen kräftigen Körperbau, der für einen wirklich brauchbaren Artilleristen so notwendig ist. Das Artilleriematerial ist erstklassig. Die Kanonen sind die besten in Europa, das Pulver ist anerkannt das stärkste in der Welt, die Kugeln und Granaten besitzen eine Glattheit der Oberfläche wie nirgendwo sonst. Doch bei alledem haben keine Geschütze der Welt eine derartige Streuung, und das zeigt, welche Männer sie bedienen. Es gibt kaum eine Artillerie in Europa, die von Männern mit einer so unzureichenden fachlichen Ausbildung wie die Briten befehligt wird. Ihre Ausbildung geht selten über die Grundelemente der Artilleriewissenschaft hinaus, und in der Praxis handhaben sie die Feldgeschütze, so gut sie es verstehen,und das nur unvollkommen. Zwei Eigenschaften zeichnen die britische Artillerie aus, Gemeine wie Offiziere: ungewöhnlich scharfes Auge und große Ruhe während des Kampfes. Im ganzen ist die Wirksamkeit der britischen Armee wesentlich beeinträchtigt durch die theoretische und praktische Unwissenheit der Offiziere. Die Examination, der sie sich neuerdings unterwerfen müssen, ist in der Tat lächerlich - ein Kapitän examiniert in den drei ersten Büchern des Euklid t2311! Aber die britische Armee ist hauptsächlich dazu da, die jüngern Söhne der Aristokratie und der Gentry in respektablen Stellungen unterzubringen. Daher kann das Maß der Ausbildung für ihre Offiziere nicht den Erfordernissen des Dienstes entsprechen, sondern muß dem geringen Wissen angepaßt werden, das man durchschnittlich von einem englischen „Gentleman" erwarten kann. Was die praktischen militärischen Kenntnisse des Offiziers betrifft, so sind sie ebenso ungenügend. Der britische Offizier kennt nur eine Pflicht: seine Leute am Tage der Schlacht direkt gegen den Feind zu führen und ihnen ein Beispiel an Bravour zu geben. Geschick in der Führung der Truppen, Ergreifen günstiger Gelegenheiten und dergleichen wird nicht von ihm erwartet, und nun gar nach seinen Leuten und ihren Bedürfnissen sich umschauen, solche Idee würde ihm kaum jemals in den Sinn kommen. Die Hälfte des Mißgeschicks der britischen Armee in der Krim entsprang dieser
allgemeinen Unfähigkeit der Offiziere. Sie haben jedoch eine Eigenschaft, die sie für ihre Funktionen befähigt: Meist leidenschaftliche Jäger, besitzen sie jene instinktive und rasche Auffassung der Terrainvorteile, die die Praxis der Jagd mehr oder minder mit sich bringt. Die Unfähigkeit der Offiziere bringt nirgendwo größeren Schaden als im Stabe. Da kein regelrecht ausgebildetes Stabskorps existiert, bildet jeder General seinen eigenen Stab aus Regimentsoffizieren, und diese sind auf allen Gebieten ihres Dienstes Ignoranten. Ein solcher Stab ist übler als gar kein Stab. Insbesondere der Aufklärungsdienst muß daher stets mangelhaft bleiben, wie es nicht anders sein.kann bei Menschen, die kaum wissen, was von ihnen erwartet wird. Die Ausbildung der anderen Spezialkorps ist etwas besser, aber tief unter dem Niveau anderer Nationen; im allgemeinen würde ein englischer Offizier in jedem andern Lande unter Leuten seines Standes als Ignorant gelten. Zeuge ist die britische Militärliteratur. Die meisten Werke sind voll von groben Schnitzern, die anderswo einem Kandidaten für den Leutnantsgrad nicht verziehen werden würden. Jede Darstellung von Tatsachen wird in einer schludrigen, unsachlichen und unsoldatischen Art gegeben, wobei die wichtigsten Punkte ausgelassen werden und es sich sofort zeigt, daß der Schreiber sein Fach nicht beherrscht. Den lächerlichsten Behauptungen ausländischer Bücher wird daher ohne weiteres Glauben geschenkt.* Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß es einige ehrenwerte Ausnahmen gibt, unter denen W[illiam] Napiers „Krieg auf der Pyrenäenhalbinsel44 und Howard Douglas' „Seeartillerie" an erster Stelle stehen12331. Die Verwaltungs-, Sanitats-, Kommissariats-, Transport- und anderen Nebendepartements sind in einem jämmerlichen Zustand und haben einen gründlichen Zusammenbruch erlitten, als sie in der Krim ausprobiert wurden. Es werden Anstrengungen gemacht, diese zu verbessern und ebenso die Administration zu zentralisieren, aber es kann wenig Gutes erwartet werden, solange die Ziviladministration oder vielmehr die gesamte Regierungsgewalt überhaupt die gleiche bleibt. Mit all diesen ungeheuren Mängeln erreicht es die britische Armee, sich recht und schlecht durch jede Kampagne zu schlagen, wenn nicht mit Erfolg, mindestens ohne Schmach. Wir finden Verluste an Menschenleben, ein gut Teil von Mißverwaltung, ein Konglomerat von Irrtümern und Schnitzern, die uns in Erstaunen setzen, wenn wir sie mit dem Stand anderer Armeen
* Als ein Beispiel beziehen wir uns auf das Werk über Feuerwaffen von Oberst Chesneyt232!, der als einer der besten Artillerieoffiziere in Großbritannien gilt.
unter denselben Umstanden vergleichen; aber keinen Verlust an militärischer Ehre, seltenes Zurückgeschlagenwerden, gänzliche Niederlage fast nie. Es ist die große persönliche Tapferkeit und Zähigkeit der Truppen, ihre Disziplin und ihr unbedingter Gehorsam, denen dieses Resultat geschuldet wird. Schwerfällig, verlegen und hilflos, wie der britische Soldat ist, wenn er auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen ist oder wenn er den Dienst leichter Truppen verrichten soll, übertrifft ihn niemand in einer regulären Schlacht, wo er in Massen agiert. Seine forte1 ist der Kampf in Linie. Eine englische Schlachtlinie tut, was kaum von einer anderen Infanterie je geleistet worden ist: Kavallerie in Linie empfangen, ihre Musketen bis zum letzten Augenblick geladen halten und erst einen Kugelregen abfeuern, wenn sich der Feind auf 30 Yards genähert hat, und fast immer mit dem größten Erfolg. Die britische Infanterie feuert mit einer solchen Kaltblütigkeit selbst im kritischsten Augenblick so, daß ihr Feuer in seiner Wirkung das aller andern Truppen übertrifft. So trieben die Hochländer, in Linie formiert, die russische Kavallerie bei Balaklawa zurück. Die unbezwingbare Zähigkeit dieser Infanterie zeigte sich niemals in höherem Glänze als bei Inkerman, wo die Franzosen unter denselben Umständen sicher überwältigt worden wären; aber andrerseits würden die Franzosen nie zugelassen haben, daß man sie ohne Sicherung in einer solchen Position überrascht. Diese Festigkeit und Zähigkeit in Angriff und Verteidigung bilden die große ausgleichende Eigenschaft der britischen Armee, und sie allein rettete sie vor mancher Niederlage, die wohlverdient und beinahe absichtlich provoziert war durch die Unfähigkeit ihrer Offiziere, die Absurdität ihrer Führung und die Schwerfälligkeit ihrer Bewegungen.
III. Die österreichische Armee
Österreich nutzte die erste Zeit der Ruhe nach den schweren Prüfungen der Jahre 1848 und 1849, seine Armee auf einen modernen Stand zu bringen. Beinahe jedes Ressort ist vollständig umgeformt worden, und die Armee ist jetzt weit leistungsfähiger denn je. Zuerst wollen wir uns mit der Infanterie beschäftigen. Die Linie besteht aus 62 Regimentern, daneben gibt es 1 Regiment und 25 Bataillone Schützen sowie 14 Regimenter und I Bataillon Grenzinfanterie. Letztere bilden zusammen mit den Schützen die leichte Infanterie. Ein Infanterieregiment der Linie besteht aus 5 Feldbataillonen und 1 Depotbataillon - zusammen 32 Kompanien -, jede Feldkompanie 220 Mann
1 Starke
stark und die Depotkompanien je 130 Mann. So umfaßt das Feldbataillon ungefähr 1300 und das ganze Regiment nahezu 6000 Mann oder soviel wie eine britische Division. Die ganze Linie hat daher bei Kriegsstärke ungefähr 370000 Mann. Die Grenzinfanterie hat pro Regiment 2 Feldbataillone und 1 Depotbataillon, zusammen 16 Kompanien; insgesamt 3850 Mann; die gesamte Grenzinfanterie umfaßt 55000 Mann. Die Jäger oder Schützen sind insgesamt 32 Bataillone stark von ungefähr je 1000 Mann; insgesamt 32000 Mann. Die schwere Kavallerie der Armee besteht aus 8 Kürassier- und 8 Dragonerregimentern, die leichte aus 12 Husaren-und 12 Ulanenregimentern (7 davon waren früher leichte Dragoner oder Chevauxl^gers1, wurden neuerdings jedoch in Ulanenregimenter umgewandelt). Die schweren Regimenter bestehen aus 6 Eskadronen und 1 Depoteskadron - die leichten aüs 8 Eskadronen und 1 Depoteskadron. Die schweren Regimenter haben 1200 Mann, die leichten 1600 Mann. Die gesamte Kavallerie beträgt bei Kriegsstärke ungefähr 67000 Mann. Die Artillerie hat 12 Regimenter Feldartillerie, von denen jedes aus 4 Fußbatterien Sechspfünder und 3 Fußbatterien Zwölfpfünder sowie 6 Kavalleriebatterien und 1 Haubitzenbatterie besteht, insgesamt 1344 Geschütze bei Kriegsstärke; 1 Küstenregiment und 1 Regiment von 20 Raketenbatterien mit 160 Rohren. Insgesamt 1500 Geschütze und Raketenrohre sowie 53 000 Mann. Das ergibt bei Kriegsstärke einen Effektivbestand von insgesamt 522000 Soldaten. Diesen müssen ungefähr 16000 Sappeure, Mineure und Pontoniere hinzugezählt werden, 20000 Gendarmen, der Person albestanddes Transportdienstes und dergleichen, was die Gesamtsumme auf ungefähr 590000 Mann erhöht. Durch die Einberufung der Reserve kann die Armee um 100000 bis 120000 Mann erhöht, und durch die Inanspruchnahme der Hilfsquellen der Grenztruppen bis zum äußersten können weitere 100000-120000 Mann zur Verfügung gestellt werden. Aber da diese Kräfte nicht zu einem gegebenen Zeitpunkt zusammengebracht werden können und nur nach und nach eintreffen, dienen sie deshalb hauptsächlich dazu, die Reihen der Mannschaften aufzufüllen. Mehr als 650000 Mann auf einmal kann Österreich kaum aufbieten. Die Armee ist in zwei ganz unterschiedliche Truppenkörper geteilt, die reguläre Armee und die Grenztruppen. Bei der Armee beträgt die Dienstzeit 8 Jahre, danach bleiben die Leute 2 weitere Jahre in der Reserve. Jedoch
1 leichte Reiter
28 Marx/Engels. Werke, Bd. 11
werden die Soldaten auf lange Zeit beurlaubt - wie in Frankreich -, und 5 Jahre dürften der Zeit eher entsprechen, in der die Männer wirklich unter Waffen stehen. Für die Grenztruppen gilt ein ganz anderes Prinzip. Sie sind die Nachkommen südslawischer (Kroaten oder Serben), walachischer und teilweise deutscher Siedler, die ihr Land als militärisches Lehen von der Krone besitzen und die früher zum Schutz der Grenze von Dalmatien bis Transsylvanien gegen die Einfälle der Türken eingesetzt waren. Dieser Dienst ist jetzt zu einer leeren Formalität herabgesunken, doch dessenungeachtet ist die österreichische Regierung nicht geneigt, diese großartige Soldatenzuchtschule zu opfern. Es war die bestehende Organisation der Grenztruppen, die 1848 Radetzkys Armee in Italien rettete und 1849 die erste Invasion Ungarns unter Windischgrätz ermöglichte. Franz Joseph verdankt seinen Thron nach Rußland den südslawischen Grenzregimentern. In dem langen von ihnen besetzten Landstreifen ist jeder Besitzer eines Kronlehens (das heißt fast jeder Einwohner) von seinem 20. bis zu seinem 50. Lebensjahr dienstpflichtig, wenn er einberufen wird. Natürlich füllen die jüngeren Männer die Regimenter auf; die älteren Leute wechseln sich im allgemeinen nur in den Grenzwachhäusern ab, bis sie zum Kriegsdienst aufgeboten werden. Das erklärt, wie eine Bevölkerung von ungefähr 1500000-2000000, wenn nötig, ein Kontingent von 150000-170000 Mann oder 10 bis 12 Prozent der Gesamtzahl stellen kann. Die österreichische Armee ähnelt in vielen Punkten der britischen Armee. In beiden Armeen sind viele Nationalitäten zusammen, obwohl sich im allgemeinen jedes Regiment aus Angehörigen nur einer Nation zusammensetzt. Der schottische Hochländer, der Waliser, der Ire und der Engländer unterscheiden sich voneinander kaum mehr als der Deutsche, der Italiener, der Kroate und der Magyar. In beiden Armeen gibt es Offiziere verschiedener Völker, und sogar sehr viele Ausländer sind dort zu finden. In beiden Armeen ist die theoretische Ausbildung der Offiziere höchst unzureichend. In beiden Armeen ist in der Taktik ein Großteil der alten Linearformation beibehalten und nur in einem begrenzten Maße die Kolonnentaktik und der Kampf in gelöster Ordnung übernommen worden. In beiden Armeen hat die Uniform eine ungewöhnliche Farbe: bei den Engländern rot, bei den Österreichern weiß. Doch hinsichtlich der Gesamtorganisation, der praktischen Erfahrung und der Fähigkeiten der Offiziere sowie der taktischen Beweglichkeit übertreffen die Österreicher die Briten bei weitem. Die Uniform der Soldaten, wenn wir von dem unsinnigen Weiß des Infanterierocks absehen, wurde im Schnitt dem modernen System angepaßt.
Ein kurzer Waffenrock wie bei den Preußen, himmelblaue Hosen, ein grauer Mantel, ein leichtes Käppi, dem französischen ähnlich, ergeben eine sehr gute und zweckdienliche Kleidung, von den engen Hosen der ungarischen und kroatischen Regimenter stets abgesehen, die zwar zur Nationaltracht gehören, doch bei alledem sehr unbequem sind. Die Ausrüstung ist nicht das, was sie sein sollte. Das System des kreuzweise getragenen Bandeliers ist beibehalten worden. Die Grenztruppen und die Artillerie tragen braune Röcke, die Kavallerie entweder weiße, braune oder blaue. Die Musketen sind ziemlich plump, und die Büchsen, mit denen sowohl die Jäger als auch ein bestimmter Teil jeder Kompanie bewaffnet sind, sind ziemlich veraltete Modelle und weit schlechter als das Mini^-Gewehr. Das übliche Gewehr ist die alte Flinte, die in unzureichender Weise in ein Perkussionsgewehr umgewandelt wurde und sehr oft versagt. Die Infanterie, und in dieser Hinsicht ähnelt sie der englischen, zeichnet sich mehr durch ihren Kampf in geschlossener Ordnung als durch die Beweglichkeit der leichten Infanterie aus. Wir müssen jedoch die Grenztruppen und die Jäger ausnehmen. Die ersten .sind zum größten Teil sehr tüchtig beim Scharmützeln, besonders die Serben, die es bevorzugen, aus dem Hinterhalt heraus anzugreifen. Die Jäger sind hauptsächlich Tiroler und erstklassige Scharfschützen. Die deutsche und die ungarische Infanterie jedoch imponieren gewöhnlich durch ihre Standhaftigkeit, und während der napoleonischen Kriege bewiesen sie oft, daß sie in dieser Hinsicht in eine Reihe mit den Briten gestellt werden müssen. Auch sie haben mehr als einmal Kavallerie in Linie empfangen, ohne erst noch Karrees zu bilden, und wo sie Karrees gebildet haben, konnte die feindliche Kavallerie diese selten durchbrechen der Beweis dafür ist Asperntx03). Die Kavallerie ist ausgezeichnet. Die schwere oder „deutsche*4 Kavallerie, die aus Deutschen und Böhmen besteht, ist gut beritten, gut bewaffnet und immer kampffähig. Die leichte Kavallerie hat vielleicht dadurch verloren, daß die deutschen Chevauxlegers mit den polnischen Ulanen vereinigt wurden, doch die ungarischen Husaren werden immer das Vorbild jeder leichten Kavallerie bleiben. Die Artillerie, die größtenteils aus den deutschen Provinzen rekrutiert wurde, hatte immer einen guten Ruf, nicht so sehr, weil sie früh und einsichtig Neuerungen übernahm, als durch die praktische Leistungsfähigkeit der Leute. Besonders die Unteroffiziere werden mit großer Sorgfalt ausgebildet und sind denen jeder anderen Armee überlegen. Was die Offiziere anbetrifft, so ist die Aneignung theoretischer Kenntnisse viel zu sehr ihnen selbst überlassen geblieben, jedoch hat Österreich einige der besten Militar28*
schriftsteller hervorgebracht. In Österreich ist das Studium zumindest bei den Subalternen die Regel, während in England ein Offizier, der sein Fach studiert, als eine Schande für sein Regiment betrachtet wird. Die Spezialkorps, der Stab und das Geniekorps sind ausgezeichnet, wie die guten Karten beweisen, die sie durch ihre Aufnahmen, besonders der Lombardei, gemacht haben. Die britischen Generalstabskarten sind, obwohl gut, nicht damit zu vergleichen. Das große Durcheinander der Nationalitäten ist ein ernsthaftes Übel. In der britischen Armee kann jeder Mann zumindest englisch sprechen, aber bei den Österreichern können selbst die Unteroffiziere der nichtdeutschen Regimenter kaum deutsch sprechen. Das bringt natürlich sehr viel Verwechslungen, Schwierigkeiten im Verstehen selbst zwischen Offizier und Soldat mit sich. Das wird teilweise dadurch überwunden, daß die Offiziere durch den häufigen Quartierwechsel wenigstens etwas von jeder Sprache lernen müssen, die in Österreich gesprochen wird. Aber trotzdem ist der Schwierigkeit damit nicht abgeholfen. Die strenge Disziplin, die den Männern durch ständige Anwendung eines Haselstockes auf ihrem Hintern eingebleut wird, und die lange Dienstzeit verhindert den Ausbruch ernsthaften Streites zwischen den verschiedenen Nationalitäten innerhalb der Armee, wenigstens in Friedenszeiten. Doch das Jahr 1848 zeigte, wie wenig innere Festigkeit dieser Truppenkörper besitzt. Bei Wien weigerten sich die deutschen Truppen, gegen die Revolution zu kämpfen. In Italien und Ungarn gingen die Nationaltruppen kampflos auf die Seite der Aufständischen über. Hier liegt der schwache Punkt dieser Armee. Niemand kann sagen, wie weit und wie lange sie zusammenhalten wird oder wie viele Regimenter sie in irgendeinem besonderen Falle verlassen werden, um gegen ihre früheren Kameraden zu kämpfen. Sechs verschiedene Nationen und zwei oder drei verschiedene Glaubensbekenntnisse sind in dieser einen Armee vertreten, und in einer Zeit wie der heutigen, in der die Nationen selbst über ihre Kräfte verfügen wollen, müssen die in der Armee vorhandenen unterschiedlichen Sympathien notwendigerweise aufeinanderstoßen. Würde in einem Krieg mit Rußland der griechisch-katholische Serbe, durch panslawistische Agitation beeinflußt, gegen die Russen, seine Bluts- und Glaubensbrüder kämpfen? Würden die Italiener und Ungarn in einem Revolutionskrieg ihr Vaterland verlassen, um für einen Kaiser zu kämpfen, der ihnen in Sprache und Nationalitätfremd ist? Das istnicht zu erwarten,unddeshalb, wie starkdie österreichische Armee auch sein mag, sind ganz besondere Umstände notwendig, um ihre ganze Kraft aufzubieten.
Zweiter Artikel
[„Putnam's Monthly44 Nr. XXXIII, September 1855]
I. Die preußische Armee
Die preußische Armee verdient wegen der ihr eigenen Organisation besondere Beachtung. Während in jeder anderen Armee der Friedensbestand für die Gesamtstärke des Heeres die Grundlage bildet und keine Kader für die neuen Formationen vorgesehen sind, die bei einem großen Krieg sofort notwendig sind, heißt es, daß in Preußen alles bis in die kleinsten Einzelheiten auf den Kriegsfuß ausgerichtet ist. So stellt das Friedensheer bloß eine Schule dar, in der die Bevölkerung an den Waffen und für taktische Bewegungen ausgebildet wird. Dieses System, das, wie behauptet wird, im Falle eines Krieges sämtliche kriegstauglichen Männer in d[e Reihen der Armee einbezieht, würde das Land, das dieses System anwendet, scheinbar vor jedem Angriff sichern; aber das ist keineswegs der Fall. Man hat nur erreicht, daß das Land militärisch um ungefähr 50 Prozent stärker ist als durch das französische oder österreichische Rekrutierungssystem. Dadurch ist es für ein Agrarland mit etwa 17 Millionen Einwohnern, einem kleinen Territorium, ohne eine Flotte oder unmittelbaren Überseehandel und mit verhältnismäßig wenig Industrie in gewissem Maße möglich, die Stellung einer europäischen Großmacht zu behaupten. Die preußische Armee besteht aus zwei großen Teilen: den Soldaten im stehenden Heer, der Linie, und den ausgebildeten Soldaten, die sozusagen für unbestimmte Zeit auf Urlaub geschickt worden sind, der Landwehr1. Die Dienstzeit in der Linie beträgt 5 Jahre, und zwar vom 20. bis zum
1 Landwehr: in „PutnenTs Monthly" deutsch
25. Lebensjahr. Man halt allerdings 3 Jahre aktiven Dienst für ausreichend; danach wird der Soldat nach Hause entlassen und für die restlichen 2 Jahre in die sogenannte Kriegsreserve eingestuft. Während dieser Zeit bleibt er in den Reservelisten seines Bataillons oder seiner Eskadron und kann jederzeit einberufen werden. Nach 2 Jahren in der Reserve kommt er in das erste Aufgebot der Landwehr1, wo er bis zu seinem 32. Lebensjahr verbleibt. Während dieser Zeit kann er jedes zweite Jahr zu den Truppenübungen seines Korps einberufen werden, die gewöhnlich in ziemlich großem Umfang und zusammen mit den Linientruppen stattfinden. Die Manöver dauern meistens einen Monat, und sehr oft werden zu diesem Zweck 50000-60000 Mann zusammengezogen. Die Landwehr ersten Aufgebots ist dazu bestimmt, im Feld zusammen mit den Linientruppen zu kämpfen. Sie bildet eigene, mit der Linie übereinstimmende Regimenter, Bataillone und Eskadronen, welche die gleichen Regimentsnummern tragen. Die Artillerie jedoch bleibt bei den entsprechenden Regimentern der Linie. Vom 32. bis einschließlich 39. Lebensjahr gehört der Soldat zum zweiten Aufgebot der Landwehr2; während dieser Zeit wird er nicht mehr zumaktiven Dienst einberufen, ausgenommen im Kriegsfall; dann hat das zweite Aufgebot Garnisondienst in den Festungen zu leisten; dadurch werden alle Linientruppen und das erste Aufgebot für Feldoperationen frei. Nach dem 40. Lebensjahr wird er nicht mehr einberufen, wenn nicht jene mysteriöse Einrichtung, genannt Landsturm3 oder Aufgebot en masse, zu den Waffen gerufen wird. Zum Landsturm gehören alle Männer vom 16. bis zum 60. Lebensjahr, die nicht unter die genannten Kategorien fedlen, einschließlich derjenigen, die zu klein oder zu schwach oder aus anderen Gründen vom Dienst befreit sind. Aber man kann nicht einmal davon sprechen, daß dieser Landsturm auf dem Papier besteht, denn für ihn sind nicht die geringsten organisatorischen Maßnahmen getroffen, weder Waffen noch andere Ausrüstungsgegenstände sind vorhanden, und wenn er jemals zusammentreten sollte, würde er sich für nichts anderes als für den Polizeidienst im Innern und für reichlichsten Alkoholgenuß tauglich erweisen. Da in Preußen nach dem Gesetz jeder Bürger vom 20. bis zum 40. Lebensjahr Soldat ist, so kann man von einer Bevölkerung von 17 Millionen erwarten, daß sie ein Truppenkontingent von mindestens eineinhalb Millionen Mann liefert. In Wirklichkeit wird nicht einmal die Hälfte davon auf
1 erste Aufgebot der Landwehr: in „Putnam's Monthly" deutsch-2 ebenso: zweiten Aufgebot [...] Landwehr - 3 ebenso: Landsturm
gebracht. Tatsache ist, daß die Ausbildung einer solche Masse bei dreijähriger Dienstzeit in den Regimentern ein stehen desHeer von wenigstens 300000Mann voraussetzt, während Preußen nur ungefähr 130000 unterhält. So wird auf verschiedene Art und Weise eine Anzahl von Leuten freigestellt, die sonst dienstpflichtig wären: Männer, die durchaus für den Militärdienst geeignet sind, werden für zu schwach erklärt; die untersuchenden Ärzte wählen entweder nur die besten aus oder lassen sich durch Bestechung in der Auswahl der Diensttauglichen beeinflussen usw. Früher war die Herabsetzung der aktiven Dienstzeit auf nur 2 Jahre bei der .Infanterie das Mittel, um die Friedensstärke auf etwa 100000 oder 110000 Mann zu verringern. Aber seit der Revolution, nachdem die Regierung dahintergekommen ist, was ein zusätzliches Dienstjahr bedeutet, damit die Soldaten ihren Offizieren gefügig und für den Fall eines Aufstandes zuverlässig werden, ist die dreijährige Dienstzeit wieder allgemein eingeführt worden. Das stehende Heer» das heißt die Linie, setzt sich aus 9 Armeekorps zusammen - 1 Gardekorps und 8 Linienkorps. Ihr besonderer Aufbau soll kurz erklärt werden. Sie umfassen im ganzen 36 Infanterieregimenter (Garde und Linie) von je 3 Bataillonen; 8 Reserveregimenter von je 2 Bataillonen; 8 kombinierte Reservebataillone und 10 Bataillone Chasseurs (Jäger1); insgesamt 142 Infanteriebataillone, das sind 150000 Mann. Die Kavallerie setzt sich aus 10 Kürassier-, 5 Dragoner-, 10 Ulanen- und 13 Husarenregimentern zusammen zu je 4 Eskadronen oder 800 Mann; insgesamt 30000 Mann. Die Artillerie besteht aus 9 Regimentern, von denen sich jedes bei Kriegsstärke zusammensetzt aus 4 Batterien Sechspfünder, 3 Batterien Zwölfpfünder und I Batterie Haubitzen, alle zu Fuß, und 3 reitenden Batterien sowie I Reservekompanie, die in eine zwölfte Batterie umgewandelt werden kann; außerdem gehören zum Regiment 4 Garnisonkompanien und I Handwerkskompanie. Aber da die ganze Kriegsreserve und das erste Aufgebot der Landwehr (Artillerie) erforderlich sind, um diese Geschütze zu bemannen und die Kompanien zu vervollständigen, kann man sagen, daß die Linienartillerie aus 9 Regimentern besteht, jedes aus ungefähr 2500 Mann mit etwa 30 Geschützen, voll bespannt und ausgerüstet. So würde sich die Gesamtzahl der preußischen Linientruppen auf rund 200000 Mann belaufen; aber 60000 bis 70000 Mann kann man ohne weiteres für die Kriegsreserven abziehen, die nach dreijähriger Dienstzeit nach Hause entlassen werden.
1 Jäger: in „Putnam's Monthly" deutsch
Beim ersten Aufgebot der Landwehr kommt auf jedes Garde- und Linienregiment, abgesehen von den 8 Reserveregimentern, ein Regiment der Landwehr; außerdem hat es 8 Reservebataillone; das ergibt eine Gesamtzahl von 116 Bataillonen oder run d 100000 Mann. Die Kavallerie besteht aus 2 Gardeund 32 Linienregimentern mit 8 Reserveeskadronen; insgesamt 136 Eskadronen oder rund 20000 Mann. Die Artillerie gehört, wie bereits erwähnt, zu den Linienregimentern. Das zweite Aufgebot zählt ebenfalls 116 Bataillone, 167 Eskadronen (die unter anderem mehrere Reserve- und Depoteskadronen umfassen, deren Aufgaben denen des zweiten Aufgebots entsprechen), hinzu kommt die Garnisonartillerie; insgesamt rund 150000 Mann. Zusammen mit den 9 Sappeurbataillonen in verschiedenen kleineren Abteilungen, etwa 30000 Pensionären und einem Armeetrain, der sich bei Kriegsstärke auf nicht weniger als 45000 Mann beläuft, wird die Gesamtzahl der preußischen Streitkräfte auf 580000 Mann geschätzt. Davon sind 300000 Mann für den Felddienst bestimmt, 54000 für die Depots, 170000 für die Garnisonen und als Reserve, dazu ungefähr 60000 Nichtkombattanten. Die Zahl der dieser Armee zugeteilten Feldgeschütze soll zwischen 800 und 850 liegen, aufgeteilt in Batterien mit je 8 Geschützen (6 Kanonen und 2 Haubitzen). Für alle diese Truppen sind nicht nur die Kader vollständig, sondern auch die Waffen und sonstigen Ausrüstungen gesichert worden, so daß im Falle einer Mobilmachung der Armee nur noch die Pferde herbeigeschafft werden müssen. Da Preußen reich an Pferden ist und sowohl die Tiere als auch die Männer jederzeit zum Kriegsdienst herangezogen werden können, entstehen daraus keine besonderen Schwierigkeiten. So steht es in der Verordnung. Aber wie die Dinge wirklich liegen, zeigte sich 1850, als die Armee mobilgemacht wurde. Das erste Aufgebot der Landwehr wurde ausgerüstet, wenn auch nicht ohne große Schwierigkeiten; aber für das zweite Aufgebot waren weder Kleidungsstücke noch Schuhe, noch Waffen vorhanden, und deshalb bot es das denkbar lächerlichste Schauspiel. Schon lange vorher hatten gute Kenner, die selbst in der preußischen Armee gedient hatten, dies vorausgesagt, und daß Preußen im Notfall tatsächlich nur mit den Linientruppen und einem Teil des ersten Aufgebots rechnen könne. Ihre Meinung wurde von den Ereignissen vollauf bestätigt. Zweifellos ist die Ausrüstung für das zweite Aufgebot inzwischen beschafft worden, und sollte es jetzt einberufen werden, dann würde sich dieser Truppenkörper in 4 bis 6 Wochen zu einer recht brauchbaren Truppe für den Garnisondienst und sogar für den Felddienst entwickeln . Dagegen hält man während des Krieges eine vierteljährige Ausbildung
für ausreichend, um einen Rekruten für das Feld auszubilden; und deshalb sichert diese umständliche in Preußen übliche Organisation keineswegs so große Vorteile, wie man meist annimmt. Außerdem wird in einigen Jahren die für das zweite Aufgebot reservierte Ausrüstung wieder auf die gleiche Art verschwunden sein wie die bestimmt einmal vorhanden gewesene, die aber nicht mehr aufzufinden war, als man sie 1850 brauchte. Als Preußen zu dem Prinzip überging, daß jeder Bürger Soldat werden müßte, blieb es auf halbem Wege stehen und verfälschte dieses Prinzip, wodurch es seine gesamte militärische Organisation entstellte. Nachdem das System der Konskription zugunsten der allgemeinen Dienstpflicht einmal aufgegeben worden war, hätte das stehende Heer als solches abgeschafft werden müssen. Man hätte nur die Offiziers- und Unteroffizierskader beibehalten sollen, in deren Händen die Ausbildung der jungen Leute liegt; die Ausbildungszeit sollte nicht länger dauern als notwendig. In diesem Falle hätte die Dienstzeit im Frieden auf ein Jahr herabgesetzt werden müssen, zumindest für die gesamte Infanterie. Aber das hätte weder der Regierung noch den militärischen Martinets der alten Schule gepaßt. Die Regierung wollte eine einsatzbereite und verläßliche Armee haben, die notfalls gegen Unruhen im Innern eingesetzt werden konnte; die Martinets wollten eine Armee, die sich aus altgedienten Soldaten zusammensetzte und die es hinsichtlich der Pedanterie des Drills, des allgemeinen äußeren Bildes und der Gediegenheit mit den anderen europäischen Armeen aufnehmen konnte. Junge Truppen, die nicht länger als ein Jahr dienen, wären weder für das eine noch für das andere brauchbar. Folglich wurde der Mittelweg eingeschlagen, die dreijährige Dienstzeit, und hieraus erklären sich alle Fehler und Schwächen der preußischen Armee. Wie wir gesehen haben, steht mindestens die Hälfte der verfügbaren Männer außerhalb der Armee. Sie werden sofort in die Listen des zweiten Aufgebots eingetragen; dieser Truppenkörper, der dadurch nominell enorm anschwillt, wird - welche Potenzen er auch haben mag - von einer Masse von Männern überlaufen, die noch nie eine Muskete in der Hand gehabt haben und nicht besser sind als unausgebildete Rekruten. Diese Reduzierung der wirklichen militärischen Stärke des Landes auf wenigstens die Hälfte ist die erste negative Auswirkung, die sich aus der verlängerten Dienstzeit ergibt. Aber selbst die Linientruppen und das erste Aufgebot der Landwehr leiden unter diesem System. Von jedem Regiment hat ein Drittel weniger als 3, ein weiteres Drittel weniger als 2 Jahre und das letzte Drittel weniger als 1 Jahr gedient. Nun kann nicht erwartet werden, daß eine derartig zusammen
gesetzte Armee jene militärischen Eigenschaften, jene strikte Unterordnung, jene Standhaftigkeit in den Reihen, jenen Esprit du corps1 besitzen kann, die die altgedienten Soldaten der englischen, Österreichischen, russischen und sogar der französischen Armee auszeichnen. Die Engländer können auf Grund der langen Zeit, die ihre Soldaten dienen müssen, in diesen Dingen sachkundig urteilen und sind der Meinung, daß es 3 Jahre dauert, um einen Rekruten voll und ganz abzurichten.* Da also in Friedenszeiten die preußische Armee aus Leuten zusammengesetzt ist, von denen keiner jemals 3 Jahre gedient hat, ist es unumgänglich, daß diese militärischen Eigenschaften des altgedienten Soldaten oder wenigstens etvfcs, das dem ähnlich ist, dem jungen preußischen Rekruten durch einen unerträglichen Kasernenhofdrill eingebleut werden. Da es dem preußischen Subalternoffizier und dem Sergeanten unmöglich ist, die ihnen übertragene Aufgabe zu lösen, behandeln sie ihre Untergebenen mit einer Roheit und Brutalität, die wegen des damit verbundenen pedantischen Geistes doppelt abstoßend wirken. Diese Pedanterie ist um so unsinniger, weil sie in krassem Gegensatz zu dem klaren und vernünftigen System der vorgeschriebenen Ausbildung steht und weil sich die Pedanten ständig auf die Traditionen Friedrichs des Großen berufen, der eine ganz andere Sorte von Männern für ein ganz anderes taktisches System zu drillen hatte. So wird die wirkliche Schlagkraft im Felde der Genauigkeit auf dem Paradeplatz geopfert; und die preußische Linie als Ganzes kann gegenüber den alten Bataillonen und Eskadronen, die jede europäische Großmacht ihnen beim ersten Ansturm entgegenstellen kann, als nicht gleichwertig betrachtet werden. Trotz einiger Vorzüge, die keine andere Armee besitzt, ist dies der Fall. Die Preußen wie die Deutschen überhaupt geben gute Soldaten ab. Ein Land, das aus ausgedehnten Ebenen, unterbrochen von langen Höhenzügen, besteht, liefert Material für jede beliebige Waffengattung in Hülle und Fülle. Die allgemeine körperliche Befähigung sowohl für den Dienst in der leichten als auch für den in der Linieninfanterie, die den meisten Deutschen gleichermaßen eigen ist, wird von anderen Nationen kaum erreicht. Das an Pferden reiche Land liefert viele Männer für die Kavallerie, die von Kindheit an im Sattel zu Hause sind. Überlegtes Handeln und Beharrlichkeit befähigen die Deutschen besonders für den Artilleriedienst. Außerdem gehören sie zu den kampflustigsten Völkern der Welt, sie lieben den Krieg um des Krieges willen
* Siehe Sir W[illiam] Napier, Krieg auf der Pyrenäenhalbinsel
1 Korpsgeist
und suchen ihn oft genug im Ausland, wenn sie ihn nicht im eigenen Lande haben können. Von den Landsknechten1 des Mittelalters bis zu den heutigen Fremdenlegionen Frankreichs und Englands haben die Deutschen immer die große Masse jener Söldner gestellt, die nur um des Kampfes willen kämpfen. Wenn die Franzosen die Deutschen an Behendigkeit und Lebhaftigkeit im Angriff übertreffen, die Engländer ihnen an Zähigkeit beim Widerstand überlegen sind, so übertreffen die Deutschen doch alle anderen europäischen Nationen in jener allgemeinen Tauglichkeit für den Militärdienst, die sie auf jeden Fall zu guten Soldaten macht. Die preußischen Offiziere geben bei weitem das am besten ausgebildete Offizierkorps der Welt ab. Die Prüfungen hinsichtlich des Allgemeinwissens, denen sie sich unterziehen müssen, haben eine weit höheres Niveau als die einer jeden anderen Armee. Brigade- und Divisionsschulen werden unterhalten, um ihre theoretische Ausbildung zu vervollkommnen; für gründliche und speziellere militärische Kenntnisse wird in zahlreichen Einrichtungen gesorgt. Die preußische Militärliteratur hat ein sehr hohes Niveau. Werke dieser Art aus den letzten 25 Jahren beweisen zur Genüge, daß ihre Verfasser nicht nur ihr eigenes Fach völlig beherrschen, sondern daß sie auf dem Gebiet allgemeiner wissenschaftlicher Kenntnisse die Offiziere jeder Armee herausfordern könnten. Eigentlich haben einige von ihnen fast zuviel oberflächliches Wissen in der Metaphysik; das erklärt sich daraus, daß man in Berlin, Breslau oder Königsberg an den Universitäten bei Vorlesungen Offiziere unter den Studenten findet. Clausewitz gehört auf seinem Gebiet ebenso zu den Klassikern der Welt wie Jomini, und die Werke des Ingenieurs Aster bedeuten eine neue Epoche in der Befestigungskunst. Doch der Ausdruck „preußischer Leutnant" ist in ganz Deutschland sprichwörtlich, und der lächerliche Esprit du corps, die Pedanterie und die impertinenten Manieren, die durch den üblichen Umgangston in der Armee geprägt wurden, rechtfertigen das vollauf; denn nirgends gibt es So viele alte, halsstarrige, schikanierende Martinets unter den Offizieren und Generalen wie in Preußen - im übrigen sind die meisten von ihnen Überbleibsel von 1813 und 1815. Nach alldem muß man feststellen, daß der absurde Versuch, das preußische Heer zu dem zu machen, was es niemals sein kann - eine Armee altgedienter Soldaten die Qualität des Offiziers ebenso verdirbt wie die des Soldaten und sogar noch mehr. Die Exerzierreglements der preußischen Armee sind zweifellos die weitaus besten in der Welt. Einfach, folgerichtig, basierend auf einigen Grund
1 Landsknechten: in „Putnam's Monthly** deutsch
sätzen des gesunden Menschenverstands,lassen sie wenig zu wünschen übrig. Sie sind von Scharnhorstschem Geiste; Scharnhorst war der vielleicht größte Militärorganisator seit Moritz von Nassau. Die Grundsätze für die Führung großer Truppenfcörper sind ebenfalls gut. Die wissenschaftlichen Handbücher für den Artilleriedienst jedoch, die den Offizieren offiziell empfohlen werden, sind veraltet und entsprechen keineswegs den Erfordernissen der Gegenwart. Aber dieser Mangel ist auf mehr oder weniger offizielle Werke beschränkt und bezieht sich durchaus nicht auf die preußische Artillerieliteratur im allgemeinen. Das Ingenieurkorps erfreut sich mit Recht eines sehr guten Rufes. Aus seinen Reihen ging Aster hervor, der bedeutendste Militäringenieur seit Montalembert. Die Preußen haben von Königsberg und Posen bis Köln und Koblenz eine Reihe von Festungen erbaut, welche die Bewunderung Europas hervorgerufen haben. Seit den 1843 und 1844 durchgeführten Veränderungen sieht die Ausrüstung der preußischen Truppen nicht gerade sehr ansprechend aus, aber sie ist für die Soldaten sehr bequem. Der Helm bietet einen recht wirksamen Schutz gegen Sonne und Regen, die Uniform sitzt locker und bequem; die Ausrüstimg ist besser aufeinander abgestimmt als bei den Franzosen. Die Gardetruppen und die leichten Bataillone (eins in jedem Regiment) sind mit dem Zündnadelgewehr bewaffnet; für den übrigen Teil der Linientruppen wurden die Musketen durch ein sehr einfaches Verfahren in gute MinieGewehre umgeändert. Auch die Landwehr wird in 2 bis 3 Jahren das MinieGewehr erhalten, aber vorläufig tragt sie noch Perkussionsgewehre. Der Säbel der Kavallerie ist zu breit und gekrümmt - die meisten Hiebe fallen flach. Das Material der Artillerie sowohl hinsichtlich der Geschütze als auch der Lafetten und Pferdegeschirre läßt viel zu wünschen übrig. Im ganzen stellt die preußische Armee, das heißt die Linientruppen und das erste Aufgebot, eine ansehnliche Truppe dar, die aber keineswegs den Ruhm verdient, mit dem preußische patriotische Autoren prahlen. Wenn die Linie erst auf dem Schlachtfeld ist, wird sie sehr bald die Fesseln des Paradeplatzes abstreifen und nach einigen Treffen ihren Gegnern gewachsen sein. Das erste Aufgebot der Landwehr wird, sobald der alte soldatische Kampfgeist wieder wach geworden und wenn der Krieg populär ist, den besten langgedienten Truppen in Europa ebenbürtig sein. Was Preußen zu fürchten hat, ist ein in der ersten Periode eines Krieges offensiv vorgehender Feind, der ihm besser organisierte Truppen mit längerer Erfahrung entgegenwerfen wird; aber bei einem länger andauernden Kampf wird Preußen mehr erfahrene Soldaten in seinen Armeen haben als irgendein anderer europäischer
Staat. Zu Beginn eines Feldzuges wird die Linie den Kern der Armee bilden, aber das erste Aufgebot wird sie bald durch die größere physische Kraft und die höheren militärischen Qualitäten der Leute in den Schatten stellen. Sie sind die wirklich erfahrenen Soldaten Preußens, nicht die bartlosen Jünglinge der Linie. Vom zweiten Aufgebot sprechen wir nicht; es muß erst zeigen, was es kann.
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II. Die russische Armee
Auch in Rußland ist in gewisser Hinsicht dafür gesorgt worden, Kader für den Fall des Kriegszustandes aufzustellen, und zwar durch ein dem preußischen Landwehrsystem in einigen Punkten ähnliches Reservesystem. Aber im allgemeinen umfaßt die russische Reserve 'eine so begrenzte Zahl von Mannschaften, und die Schwierigkeit, sie aus allen Teilen des unendlichen Reiches zusammenzubringen, ist so groß, daß es schon 6 Monate nach der englisch-französischen Kriegserklärung und noch ehe ein einziger Schuß in der Krim abgefeuert worden war, notwendig wurde, dieses System aufzugeben und neue Truppen zu formieren, denen dann weitere Formierungen folgten. Deshalb müssen wir in Rußland die Armee, wie sie bei Ausbruch des Krieges war, von der Armee, wie sie heute ist, unterscheiden. Die russische Armee ist in Friedenszeiten wie folgt gegliedert: 1. die aktive Armee - 6 Linienkorps, Nr. 1 bis 6; 2. die Reservearmee - 1 Gardekorps, 1 Korps Grenadiere, 2 Reservekorps der Kavallerie; 3. die Sonderkorps - das Kaukasische, das Finnländische, das Orenburger, das Sibirische; 4. die Truppen für den Dienst im Innern - Veteranen, innere Wache, Invaliden und so weiter; 5. die irregulären Truppen. Hinzu kommt die Reserve, Soldaten, die als beurlaubt entlassen wurden. Jedes der 6 Linienkorps setzt sich folgendermaßen zusammen: 3 Infanteriedivisionen, von denen jede aus 1 Linienbrigade und 1 Brigade leichte Infanterie besteht, jede Brigade wiederum hat 2 Regimenter und jedes Regiment 4 Linienbataillone; insgesamt 6 Brigaden oder 12 Regimenter, die 48 Bataillone umfassen, dazu 1 Schützenbataillon und 1 Bataillon Sappeure; insgesamt 50 Bataillone. Außerdem gehört dazu 1 Division leichte Kavallerie mit 1 Brigade Ulanen und 1 Brigade Husaren, von denen jede 2 Regimenter bzw. 16 Eskadronen umfaßt; insgesamt 32 Eskadronen. Die Artillerie besteht
aus 1 Division mit 3 Brigaden zu Fuß und 1 reitenden Brigade; insgesamt 14 Batterien oder 112 Geschütze; pro Korps insgesamt 50 Bataillone, 32 Eskadronen, 112 Geschütze; Gesamtsumme: 300 Bataillone, 192 Eskadronen, 672 Geschütze. Die Garden umfassen 3 Divisionen bzw. 6 Brigaden, das sind 12 Regimenter (9 Grenadier- und 3 Karabinierregimenter, das heißt leichte Infanterie); insgesamt 36 Bataillone, da die Garde- und Grenadierregimenter nur 3 Linienbataillone haben. Außerdem gibt es 1 Bataillon Schützen und 1 Bataillon Sappeure und Mineure neben 3 Kavalleriedivisionen (1 Kürassier-, 1 Ulanen-, 1 Husarendivision), die 6 Brigaden bzw. 12 Regimenter umfassen und insgesamt 72 Kavallerieeskadronen ausmachen. Hinzu kommt 1 Artilleriedivision mit 5 Brigaden bzw. 15 Batterien (9 Batterien Fußartillerie, 5 reitende und 1 Raketenbatterie); insgesamt 135 Geschütze. Das Grenadierkorps besteht aus 3 Divisionen bzw. 6 Brigaden, die 12 Regimenter bzw. 36 Bataillone Infanterie, 1 Bataillon Schützen sowie 1 Bataillon Sappeure und Mineure umfassen. Zu diesem Korps gehört auch 1 Division Kavallerie mit 2 Brigaden (Ulanen und Husaren), die aus 4Regimentern bzw. 32 Eskadronen zusammengesetzt sind. Die Artillerie besteht aus 3 Brigaden zu Fuß und 1 reitenden Brigade mit 14 Batterien; insgesamt 112 Geschütze. Die Reservekavallerie ist wie folgt organisiert: erstes Korps: 3 Divisionen (2 Kürassierdivisionen, 1 Ulanendivision), die 6 Brigaden bzw. 12 Regimenter umfassen; insgesamt 80 Eskadronen (48 Kürassier-, 32 Ulaneneskadronen). Dazu kommt 1 Division reitende Artillerie, bestehend aus 3 Brigaden mit 6 Batterien; insgesamt 48 Geschütze. Zweites Korps: 3 Divisionen (1 Ulanendivision, 2 Dragonerdivisionen) bzw. 6 Brigaden; das sind 12 Regimenter bzw. 112 Eskadronen (32 Ulanen-, 80 Dragonereskadronen). Außerdem gibt es 2Eskadronen reitende Sappeure und Pontoniere sowie 6Batterien reitende Artillerie mit 48 Geschützen. Das Kaukasische Korps setzt sich zusammen aus 1 Reservegrenadierbrigade mit 2 Regimentern bzw. 6 Bataillonen; aus 3 Divisionen Infanterie, die 12 Regimenter bzw. 48 Bataillone umfassen; dazu I Bataillon Schützen, 1 Bataillon Sappeure sowie 47 Bataillone Kaukasische Linie (Landwehr); insgesamt 103 Bataillone. Die Kavallerie besteht aus 1 Regiment Dragoner mit 10 Eskadronen. Die Artillerie ist 1 Division stark, 10 gewöhnliche und 6 Gebirgsbatterien, insgesamt 180 Geschütze. Das Finnländische Korps besteht aus 1 Division, die 2 Brigaden bzw. 12 Bataillone Infanterie umfaßt; das Orenburger aus 1 Division mit ebenfalls 2 Brigaden, aber nur 10 Bataillonen; das Sibirische aus 1 Division mit 3 Brigaden bzw. 15 Bataillonen.
Somit kann die Endsumme der regulären Truppen, die in Friedenszeiten tatsächlich unter Waffen stehen, wie folgt angegeben werden:
Bataillone Eskadronen Geschütze 6 Linienkorps 300 192 672 Garden 38 72 135 Grenadiere 38 32 112 Reservekavallerie — 194 96 Kaukasisches Korps 103 10 180 Finnländisches Korps 12 — — Orenburger Korps 10 — — Sibirisches Korps 15 — — 516 500 1195
Die Truppen für den Dienst im Innern bestehen aus 52 Bataillonen der inneren Wache, 800 Kompanien Veteranen und Invaliden, 11x/2 Eskadronen Gendarmen und 98 Kompanien Artillerie. Diese Truppen können bei einer Schätzung der verfügbaren Kräfte des Landes kaum mitgerechnet werden. Die irregulären Truppen, meist Kavallerie, bilden die folgenden Divisionen: 1. Donkosaken: 56 Regimenter, jedes 6 Sotnien1; insgesamt 336 Sotnien, 13 Batterien; 2. Schwarzmeerkosaken: 72 Sotnien, 9 Bataillone, 3 Batterien; 3. Kaukasische Linienkosaken (am Kuban und Terek): 120 Sotnien und 3 Batterien; 4. Astrachaner Kosaken: 18 Sotnien und 1 Batterie; 5. Orenburger Kosaken: 60 Sotnien, 3 Batterien; 6. Uralkosaken: 60 Sotnien; 7. Baschkirisches Aufgebot: 85 Sotnien, fast nur Baschkiren und Kalmücken; 8. Sibirische Kosaken: 24 Bataillone, 84 Sotnien, 3 Batterien, diese Truppen setzen sich teilweise aus Tungusen, Burjaten usw. zusammen; 9. Asowkösaken, die im Marinedienst stehen; 10. Donaukosaken in Bessarabien: 12 Sotnien; 11. Baikalsee-Kosaken, erst kürzlich gebildet, Gliederung und Stärke unbekannt. Die Gesamtsumme würde 847 Sotnien (Eskadronen von je 100 Mann, von sto, einhundert), 33 Bataillone und 26 Batterien betragen. Das waren
1 Hundertschaften
etwa 90000 Mann Kavallerie und 30000 Mann Infanterie. Aber für wirkliche Kriegszwecke sind an der Westgrenze vielleicht 40000 bis 50000 Mann Kavallerie und einige wenige Batterien verfügbar, aber keine Infanterie. So dürfte die russische Armee (mit Ausnahme der Truppen für den Dienst im Innern) in Friedenszeiten aus 360000 Mann Infanterie, 70000 Mann Kavallerie und90000 Mann Artillerie bestehen; insgesamt rund 500000Mann; außerdem Kosaken, deren Zahl je nach den Umständen verschieden groß ist. Doch von diesen 500000 Mann können die im Kaukasus, in Orenburg und in Sibirien stationierten Korps für einen Krieg an der Westgrenze des Reiches nicht frei gemacht werden, so daß gegen Westeuropa nicht mehr als 260000 Mann Infanterie, 70000 Mann Kavallerie und 50000 Mann Artillerie mit etwa 1000 Geschützen eingesetzt werden können, außer etwa 30000 Kosaken. Soviel über den Friedensbestand. Für den Fall eines Krieges sind folgende Vorkehrungen getroffen worden: Die volle Dienstzeit betrug je nach den Umständen 20, 22 oder 25 Jahre. Aber nach entweder 10 oder 15 Jahren, je nachdem, werden die Soldaten als beurlaubt entlassen und gehören dann zur Reserve. Die Organisation dieser Reserve war sehr unterschiedlich, aber es scheint jetzt, daß die beurlaubten Soldaten entsprechend ihrer jeweiligen Waffengattung während der ersten 5 Jahre einer Reserveeskadron, einer Reservebatterie oder einem Reservebataillon angehörten (dem 4. eines jeden Regiments in der Garde und bei den Grenadieren und dem 5. in der Linie), Nach Ablauf von 5 Jahren kamen sie zum Depotbataillon ihres Regiments (dem 5. bzw. 6.), zur Depoteskadron oder Depotbatterie. So würde die Einberufung der Reserve die Effektivstärke der Infanterie und Artillerie um ungefähr 50 Prozent steigern, die der Kavallerie um ungefähr 20 Prozent. Diese Reserven sollten von verabschiedeten Offizieren befehligt werden, und die Kader der Reserve waren, wenn auch nicht bis ins einzelne organisiert, dennoch bis zu einem gewissen Grade vorbereitet. Doch als der Krieg ausbrach, wurde das alles geändert. Obwohl die aktive Armee für den Kampf an der Westgrenze vorgesehen war, mußte sie 2 Divisionen in den Kaukasus schicken. Bevor sich die englisch-französischen Truppen nach dem Osten einschifften, kämpften 3 Korps der aktiven Armee (das 3., 4. und 5.) im Feldzug gegen die Türken. In dieser Zeit wurden die Reserven zwar zusammengezogen, aber es nahm ungeheuer viel Zeit in Anspruch, bis die Mannschaften aus allen Teilen des Reiches zu ihren entsprechenden Sammelpunkten gebracht werden konnten. Die Armeen und Flotten der Alliierten in der Ostsee und im Schwarzen Meer sowie die schwankende Politik Österreichs erforderten energischere Maßnahmen. Die Aushebungen wurden verdoppelt und verdreifacht, und die so zusammengeholte,
buntscheckige Masse der Rekruten wurde gemeinsam mit der Reserve zum 4., 5., 6., 7. und 8.Bataillon bei allen Infanterieregimentern formiert; gleichzeitig wurde in der Kavallerie eine ähnliche Verstärkung vorgenommen. So hatten die 8 Korps der Garde, der Grenadiere und der Linie statt 376 jetzt etwa 800 Bataillone, während für je 2 Eskadronen oder Batterien des Friedensbestandes mindestens 1 der Reserve hinzugefügt wurde. Alle diese Zahlen sehen jedoch auf dem Papier furchterregender aus als in Wirklichkeit, weil durch die Korruption der russischen Beamten, die Mißwirtschaft in der Armee und durch die enorm langen'Märsche von den Wohnorten der Mannschaften zu den Depots, von diesen zu den Konzentrationspunkten der Korps und von dort aus zum Kriegsgebiet ein großer Teil der Mannschaften ausfällt oder dienstunfähig wird, bevor sie auf den Feind stoßen. Außerdem waren während der beiden letzten Feldzüge die verheerenden Auswirkungen der Krankheiten und die Verluste in den Schlachten sehr ernst. All dieser Tatsachen wegen glauben wir nicht, daß die 1000 Bataillone, 800 Eskadronen und 200 Batterien der russischen Armee zur Zeit eine Stärke von 600000 Mann weit übersteigen können. Doch die Regierung gab sich damit nicht zufrieden. Mit einer Schnelligkeit, die zeigt, wie sehr sie sich der Schwierigkeit bewußt ist, Mannschaften in beträchtlicher Stärke aus den verschiedenen Teilen dieses gewaltigen Reiches zusammenzubringen, ordnete sie die Aushebung der Landwehr an, sobald die 7. und 8. Bataillone aufgestellt waren. Die Landwehr oder Opoltschenie sollte in Drushinas (Bataillonen) zu je 1000 Mann organisiert werden, und zwar im Verhältnis zur Bevölkerungszahl jeder Provinz; 23 Mann auf je 1000 männliche Personen, das heißt nahezu V4 Prozent der Bevölkerung, mußten dienen. Vorläufig wurde die Opoltschenie nur in den Westprovinzen aufgeboten. Dieses Aufgebot müßte bei einer Bevölkerung von 18000000, davon ungefähr 9000000 Männer, etwa 120000 Mann ergeben haben, und das stimmt mit den Berichten aus Rußland überein. Ohne Zweifel wird sich die Landwehr in jeder Hinsicht selbst der neugebildeten Reserve gegenüber als minderwertig erweisen, doch sie ist auf jeden Fall ein wertvoller Zuwachs der Kräfte Rußlands, und wenn sie für den Garnisondienst in Polen eingesetzt wird, können dadurch eine ganze Reihe Linienregimenter frei werden. Andrerseits sind nicht nur viele Kosaken, sondern selbst eine beträchtliche Zahl Baschkiren, Kalmücken, Kirgisen, Tungusen und andere mongolische Aufgebote an der Westgrenze eingetroffen. Das zeigt, wie frühzeitig sie westwärts dirigiert wurden, denn viele von ihnen mußten einen Marsch von über 12 Monaten zurücklegen, bevor sie in St.Petersburg oder an der Weichsel eintreffen konnten.
29 Marx/Engels» Werke. Bd. 11
So hat Rußland seine militärischen Hilfsquellen beinahe bis zum äußersten beansprucht, und nach zweijährigem Kampf, in dem es keine entscheidende Schlacht verloren hat, kann es mit nicht mehr als 600000 bis 650000 Mann regulärer Truppen sowie 100000 Mann Landwehr und vielleicht 50000 Mann irregulärer Kavallerie rechnen. Wir wollen damit nicht sagen, daß Rußland seine Kräfte ausgeschöpft habe, aber es besteht kein Zweifel darüber, daß ihm jetzt, nach 2 Jahren Krieg, nicht das möglich ist, was Frankreich nach 20 Jahren Krieg und nach dem völligen Verlust seiner besten Armee im Jahre 1812 möglich war: einen neuen Truppenkörper von 300000 Mann Stärke hervorzubringen und wenigstens für eine gewisse Zeit den Ansturm des Feindes aufzuhalten. Das zeigt, wie gewaltig der Unterschied zwischen der militärischen Stärke eines dichtbevölkerten und eines dünnbevölkerten Landes ist. Wenn Frankreich an Rußland grenzte, so wären die 66 Millionen Einwohner Rußlands schwächer als die 38 Millionen Franzosen. Daß die 44 Millionen Deutschen den 66 Millionen Untertanen des rechtgläubigen Zaren mehr als ebenbürtig sind, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Die russische Armee wird auf verschiedene Weise rekrutiert. Der größte Teil der Mannschaften wird durch die reguläre Aushebung gestellt, die in dem einen Jahr in den westlichen und das nächste in den östlichen Provinzen des europäischen Rußlands stattfindet. Der allgemeine Prozentsatz beträgt 4 oder 5 Mann auf je 1000 (männliche) „Seelen", denn in der russischen Volkszählung gilt nur die männliche Bevölkerung, da die Frauen, entsprechend dem orthodoxen Glauben des Ostens, keine „Seelen" sind. Die Soldaten aus der westlichen Hälfte des Reiches dienen 20, die aus der östlichen Hälfte des Reiches 25 Jahre. Die Garde dient 22 Jahre, junge Leute aus den militärischen Ansiedlungen 20 Jahre. Neben diesen Aushebungen sind die Söhne von Soldaten eine ergiebige Quelle für Rekruten. Jeder Sohn, der einem Soldaten während seiner Dienstzeit geboren wird, ist zum Militärdienst verpflichtet. Dieser Grundsatz geht so weit, daß der Staat die neugeborenen Kinder von der Frau eines Soldaten auch dann fordert, wenn dieser schon 5 oder 10 Jahre am anderen Ende des Reiches sein mag. Man nennt diese Soldatenkinder Kantonisten, und die meisten von ihnen werden auf Kosten des Staates erzogen; aus ihren Reihen gehen die meisten Unteroffiziere hervor. Schließlich werden Verbrecher, Vagabunden und andere Taugenichtse von den Gerichten dazu verurteilt, in der Armee zu dienen. Ein Adliger hat das Recht, einen Leibeigenen, wenn er nur diensttauglich ist, in die Armee zu schicken; und auch jeder Vater, der mit seinem Sohn unzufrieden ist, kann das tun. „S'bogom idi pod krasnuju schapku!" - Pack dich mit Gott und setz die rote Mütze
auf! - das heißt, geh in die Armee - ist eine gebräuchliche Redensart des russischen Bauern gegenüber einem ungehorsamen Sohn. Die Unteroffiziere werden, wie wir schon sagten, meistens aus den Soldatensöhnen rekrutiert, die in staatlichen Anstalten erzogen werden. Diese Jungen, die von frühester Kindheit an der militärischen Disziplin unterworfen sind, haben überhaupt nichts mit den Männern gemein, die sie später ausbilden und leiten sollen. Sie bilden eine vom Volk gesonderte Klasse. Sie gehören dem Staat, sie können ohne ihn nicht existieren; einmal auf sich selbst angewiesen, taugen sie zu nichts. Unter der Regierung vorwärtszukommen ist also ihr einziges Ziel. Was in der russischen Zivilverwaltung die unterste Klasse der Beamten ist, die sich aus Söhnen der Beamten zusammensetzt, das sind diese Männer in der Armee: eine Bande hinterlistiger, niedriggesinnter, engstirnig-egoistischer Untergebener mit einer oberflächlichen Schulbildung, die sie beinahe noch verabscheuungswürdiger macht; ehrgeizig aus Eitelkeit und Gewinnsucht, mit Leib und Seele dem Staate verkauft, versuchen sie dennoch täglich und stündlich, den Staat stückweise zu verkaufen, wann immer sie daraus Profit ziehen können. Ein schönes Exemplar dieser Klasse ist der Feldjäger1 oder Kurier, der Herrn de Custine während seiner Reisen in Rußland begleitete und der in dem Rußlandbericht dieses Herrn so treffend geschildert wird.[234] Diese Kategorie von Menschen ist es, die auf zivilem wie auf militärischem Gebiet in erster Linie die gewaltige Korruption schürt, die in diesem Lande alle Zweige des öffentlichen Dienstes durchdringt. Doch wie die Dinge liegen, besteht kein Zweifel, daß Rußland würde es auf dieses System der völligen Besitznahme der Kinder durch den Staat verzichten - nicht die genügende Anzahl ziviler Subalternbeamter und Unteroffiziere für die Armee finden könnte. Mit der Offiziersklasse steht es vielleicht noch schlimmer. Die Ausbildung für einen zukünftigen Korporal oder Feldwebel ist eine verhältnismäßig billige Sache; aber Offiziere für eine Armee von einer Million Mann auszubilden (das ist die Zahl, für die nach offiziellen Angaben die russischen Kader vorbereitet sein sollten), ist eine kostspielige Angelegenheit. Nichtöffentliche Einrichtungen unternehmen dafür nichts oder nur wenig. Wieder muß der Staat allein für alles aufkommen. Aber er kann offensichtlich nicht eine solche Menge junger Leute ausbilden, wie sie für diesen Zweck gebraucht wird. Infolgedessen sind die Söhne des Adels durch direkten moralischen Zwang verpflichtet, mindestens 5 oder 10 Jahre in der Armee oder in der Zivilverwaltung zu dienen, da jede Familie, in der drei aufeinander
1 Feldjäger: in „Putnam's Monthly" deutsch
folgende Generationen nicht „gedient" haben, ihr Adelsprivileg verliert und besonders das Recht, Leibeigene zu halten - ein Recht, ohne das ausgedehnter Landbesitz in Rußland mehr als wertlos ist. Dadurch wird eine Unmenge junger Männer mit dem Rang eines Fähnrichs oder Leutnants in die Armee aufgenommen, deren gesamte Bildung bestenfalls in einer gewissen Fertigkeit in französischer Konversation über die gewöhnlichsten Gemeinplätze und einigen oberflächlichen Allgemeinkenntnissen in der elementaren Mathematik, Geographie und Geschichte besteht - wobei ihnen das Ganze lediglich eingebleut wurde, um zu renommieren. Ihnen ist der Dienst eine widerwärtige Notwendigkeit, der man sich wie einer langwierigen ärztlichen Behandlung mit ungeheucheltem Abscheu unterziehen muß, und sobald die vorgeschriebene Dienstzeit vorbei oder der Rang eines Majors erreicht ist, ziehen sie sich zurück und werden in die Stammrollen der Depotbataillone eingetragen. Was die Zöglinge der Militärschulen anbelangt, so werden sie auch nur soweit vollgepfropft, daß sie gerade das Examen bestehen können, und selbst im reinen Fachwissen bleiben sie weit hinter den jungen Leuten der österreichischen, preußischen oder französischen Militärschulen zurück. Andrerseits sind junge Männer mit Talent, Hingabe und Liebe zu ihrer Fachrichtung in Rußland so selten, daß man sich auf sie stürzt, wo immer sie sich zeigen, ganz gleich, ob sie Ausländer oder Einheimische sind. Mit der größten Freizügigkeit versorgt sie der Staat mit allen Mitteln, damit sie ihr Studium abschließen, und läßt sie schnell aufrücken. Man braucht solche Männer, um Europa die russische Zivilisation vorzuführen. Wenn sie literarischen Neigungen nachgehen, so erhalten sie jegliche Ermunterung, solange sie nicht die Grenzen der russischen Staatsinteressen überschreiten, und sie sind es, die das Wenige hervorgebracht haben, das es an Wertvollem in der russischen Militärliteratur gibt. Aber bis zur heutigen Zeit sind die Russen aller Klassen viel zu barbarisch, um an wissenschaftlicher oder geistiger Tätigkeit irgendwelcher Art (außer Intrigen) Gefallen zu finden. Deshalb sind fast alle ihre hervorragenden Leute im Militärdienst entweder Ausländer oder, was beinahe auf dasselbe herauskommt, „Ostseiskije", Deutsche aus denbaltischenProvinzen. Der letzte hervorragende Vertreter dieser Klasse war General Todtieben, der Hauptingenieur von Sewastopol, der im Juli an den Folgen einer Verwundung starb12351. Er war gewiß während der ganzen Belagerung der tüchtigste Mann seines Faches, sowohl im russischen als auch im alliierten Lager, doch er war ein Baltendeutscher von preußischer Herkunft. Unter diesen Umständen besitzt die russische Armee unter ihren Offizieren die allerbesten und die allerschlechtesten Leute, nur daß erstere in einem unendlich kleineren Verhältnis vorhanden sind. Was die russische Regierung
von ihren Offizieren hält, hat sie klar und unmißverständlich in ihren eigenen taktischen Vorschriften gezeigt. Diese schreiben nicht nur vor, wie eine Brigade, eine Division oder ein Armeekorps generell für den Kampf aufgestellt wird, eine sogenannte „Normaldisposition", die der Befehlshaber dem Gelände und anderen Verhältnissen entsprechend abändern muß, sondern sie schreiben verschiedene Normaldispositionen für die verschiedensten Fälle vor, die auftreten könnten, dem General dadurch keinerlei Wahl lassend und ihn in einer Weise bindend, die ihn von einer Verantwortung fast völlig entbindet. Zum Beispiel kann ein Armeekorps den Vorschriften entsprechend in der Schlacht auf 5 verschiedene Arten aufgestelltwerden; an der Alma[46] waren die Russen tatsächlich nach einer von diesen - der dritten Disposition - aufgestellt und wurden verständlicherweise geschlagen. Dieser Wahnsinn, abstrakte Regeln für alle möglichen Fälle vorzuschreiben, läßt dem Kommandierenden so wenig Handlungsfreiheit und verbietet ihm in einem solchen Maße selbst die Ausnutzung der Geländevorteile, daß ein preußischer General kritisierend sagte:
»Ein solches System von Vorschriften kann nur in einer Armee geduldet werden, in der die meisten Generale so blöde sind, daß die Regierung ihnen weder ohne weiteres ein uneingeschränktes Kommando übertragen noch sie ihrem eigenen Urteilsvermögen überlassen kann.14
Der russische Soldat gehört zu den tapfersten Männern Europas. Seine Zähigkeit kommt fast der der Engländer und gewisser österreichischer Bataillone gleich. Auch er kann sich wie John Bull rühmen, nicht zu merken, wenn er geschlagen ist. Russische Infanteriekarrees haben, nachdem die Kavallerie sie gesprengt hatte, noch eine ganze Zeitlang im Kampf von Mann gegen Mann Widerstand geleistet, und es hat sich immer als leichter erwiesen, die russischen Soldaten niederzuschießen, als sie zurückzutreiben. Sir George Cathcart, der sie 1813 und 1814t2363 ^ Alliierte und 1854 in der Krim als Feinde kennenlernte, stellt ihnen das ehrenvolle Zeugnis aus, daß sie „zur Panik unfähig" sind. Außerdem ist der russische Soldat kräftig gebaut, gesund und ein guter Marschierer, ein genügsamer Mensch, der beinahe alles essen und trinken kann und seinen Offizieren gehorsamer ist als irgendein anderer Soldat auf der Welt. Dennoch ist die russische Armee nicht sehr rühmenswert. Niemals, seitdem von einem Rußland gesprochen werden kann, haben die Russen eine einzige Schlacht gegen die Deutschen, Franzosen, Polen oder Engländer gewonnen, ohne ihnen zahlenmäßig gewaltig überlegen gewesen zu sein. Bei gleicher Stärke wurden sie stets von jeder Armee geschlagen, außer von der türkischen oder der preußischen. Bei Cetate und
Silistria123'] wurden sie sogar von den Türken geschlagen, obwohl diese ihnen zahlenmäßig unterlegen waren. Die Russen sind vor allem die schwerfälligsten Soldaten der Welt. Sie sind weder für den Dienst in der leichten Infanterie noch für den der leichten Kavallerie geeignet. So hervorragend die Kosaken als leichte Kavallerie in mancher Beziehung sind, zeigen sie sich doch im allgemeinen als so unzuverlässig, daß vor dem Feind immer eine zweite Vorpostenlinie hinter der Vorpostenlinie der Kosaken aufgestellt wird. Außerdem sind die Kosaken zur Attacke völlig ungeeignet. Die regulären Truppen, sowohl die Infanterie als auch die Kavallerie, sind nicht fähig, in aufgelöster Ordnung zu kämpfen. Der Russe, der in allem nachahmt, wird immer das tun, was ihm befohlen wird oder wozu er gezwungen ist, aber er wird nichts tun, wenn er auf eigene Verantwortung handeln soll. In der Tat kann man das schwerlich von einem Menschen erwarten, der niemals wußte, was Verantwortung heißt, und der zu seiner Erschießung mit demselben passiven Gehorsam gehen würde, als wenn ihm befohlen wäre,Wasser zu pumpen oder einen Kameraden auszupeitschen. Den schnellen Blick des Franzosen oder den klaren Menschenverstand des Deutschen von dem russischen Soldaten zu erwarten, wenn er auf Vorposten steht oder in aufgelöster Ordnung kämpft, "hieße ihn verhöhnen. Er braucht den Befehl - einen klaren, eindeutigen Befehl -, und wenn er ihn nicht erhält, wird er vielleicht nicht zurückgehen, aber gewiß wird er nicht vorgehen oder seinen eigenen Verstand benutzen. Die Kavallerie war nie ausgezeichnet, obwohl beträchtliche Kosten und viel Sorgfalt für sie aufgewandt wurden. Weder in den Kriegen gegen die Franzosen noch in dem Krieg gegen Polen hat sich die Kavallerie hervorgetan. Der passive, geduldige, ausdauernde Gehorsam der Russen ist nicht das, was von der Kavallerie verlangt wird. Die hervorstechendste Eigenschaft eines Reiters, der „Schneid", ist gerade das, was den Russen meistenteils fehlt. So ritten die 600 englischen Dragoner mit all der Waghalsigkeit und all dem Mut wirklicher Reiter die russische Artillerie, die Kosaken, Husaren und Ulanen nieder, als sie die zahlenmäßig weit überlegenen Russen bei Balaklawa attakkierten, bis sie auf die festen Kolonnen der Infanterie stießen; dann mußten sie sich zurückziehen; doch es ist noch zweifelhaft, wer in dieser Kavallerieschlacht den Namen des Siegers verdient. Hätte man eine solch sinnlose Attacke gegen irgendeine andere Armee unternommen, nicht ein Mann wäre zurückgekehrt; der Feind wäre den Angreifern in die Flanke und in den Rücken gefallen und hätte sie einzeln niedergehauen. Doch die russischen Reiter rührten sich in Erwartung der Angreifer tatsächlich nicht vom Fleck, sie wurden niedergeritten, bevor sie daran dachten, ihre Pferde in Bewegung
zu setzen! Wenn irgend etwas das Urteil über die reguläre russische Kavallerie sprechen könnte, so ist es gewiß eine Tatsache wie diese. Die Artillerie ist mit einem Material unterschiedlicher Qualität ausgerüstet, aber da, wo sie gute Geschütze hat, wird sie ihre Aufgabe gut erfüllen. Sie wird im Felde große Tapferkeit beweisen, aber es wird ihr immer an Intelligenz fehlen. Eine russische Batterie, die ihre Offiziere verloren hat, taugt zu nichts; solange die Offiziere leben, kann sie nur solche Stellungen einnehmen, die durch das Reglement vorgeschrieben und damit oft unsinnig sind. In einer belagerten Festung, wo man geduldig ausharren und sich ständig der Gefahr aussetzen muß, wird sich die russische Artillerie hervortun, und zwar nicht so sehr durch genaues Zielen wie durch Pflichteifer und durch Standhaftigkeit im Feuer. Die gesamte Belagerung Sewastopols beweist das. Bei der Artillerie und im Geniewesen jedoch sind jene gut ausgebildeten Offiziere zu finden, mit denen Rußland vor Europa prahlt und die wirklich ermutigt werden, ihre Talente frei zu entfalten. Während zum Beispiel in Preußen den besten Leuten, sobald sie Subalterne sind, gewöhnlich von ihren Vorgesetzten derart viel Hindernisse in den Weg gelegt und während alle ihre vorgeschlagenen Verbesserungen als vermessene Versuche, Neuerungen einzuführen, abgetan worden sind, so daß viele von ihnen gezwungen waren, in der Türkei ihren Dienst zu suchen, wo sie die türkische reguläre Artillerie zu einer der besten Europas gemacht haben so werden in Rußland all diese Leute ermutigt und machen, wenn sie sich hervortun, eine schnelle und glänzende Karriere. Diebitsch und Paskewitsch waren im Alter von 29 bzw. 30 Jahren Generale, und Todtieben avancierte bei Sewastopol in weniger als 8 Monaten vom Hauptmann zum Generalmajor. Der große Stolz der Russen ist ihre Infanterie. Sie ist außerordentlich zuverlässig, und es wird immer unangenehm sein, sich mit ihr zu schlagen, wenn sie in Linie, in Kolonne oder hinter Brustwehren eingesetzt ist. Aber hier enden ihre gute Eigenschaften. Die Russen sind für den Dienst der leichten Infanterie fast völlig ungeeignet (die sogenannten Jäger sind nur dem Namen nach leichte Infanterie und die dem leichten Korps beigegebenen 8 Schützenbataillone die einzige wirkliche leichte Infanterie im Heer), sie sind gewöhnlich schlechte Scharfschützen, gute, aber langsame Marschierer, und ihre Kolonnen werden im allgemeinen so schlecht placiert, daß es immer*möglich sein wird, sie mit schwerem Artilleriefeuer wirkungsvoll zu belegen, bevor man sie angreift. Die „Normaldispositionen", von denen die Generale nicht abzuweichen wagen, tragen wesentlich dazu bei. An der Alma zum Beispiel richtete die britische Artillerie fürchterliche Verheerungen unter den russi
sehen Kolonnen an, lange bevor sich die gleichfalls schwerfällige britische Linie entwickelt, den Fluß überschritten und sich für den Angriff erneut formiert hatte. Aber selbst der Ruhm einer nicht zu erschütternden Hartnäckigkeit muß mit beträchtlichem Vorbehalt aufgenommen werden, seitdem bei Inkerman111118000 Mann britische Infanterie in einer nicht fertig ausgebauten und nur nachlässig besetzten Stellung überrascht, im Nahkampf den 15 000 Russen länger als 4 Stunden widerstanden und jeden erneuten Angriff zurückgewiesen hatten. Diese Schlacht muß den Russen gezeigt haben, daß sie auf ihrem ureigensten Gebiet ihren Meister gefunden hatten. Es waren die Tapferkeit der britischen Soldaten und die Intelligenz und Geistesgegenwart der Unteroffiziere und Soldaten, die alle Angriffe der Russen zurückschlugen, und dieser Schlacht wegen müssen wir anerkennen, daß die Briten mit Recht die Ehre für sich in Anspruch nehmen, die beste Linieninfanterie der Welt zu sein. Die Bekleidung der russischen Armee lehnt sich ziemlich stark an die preußische an. Ihre Ausrüstung ist sehr schlecht aufeinander abgestimmt; nicht nur das Lederzeug für das Bajonett und für die Patronentaschen ist über der Brust gekreuzt, sondern auch die Tragriemen für den Tornister. Allerdings werden gegenwärtig einige Änderungen vorgenommen, aber ob sie diesen Punkt betreffen, wissen wir nicht. Die Handfeuerwaffen sind sehr plump und sind lediglich vor kurzem mitPerkussionskappen versehen worden; das russische Gewehr ist das schwerste und unhandlichste Ding seiner Art. Das Modell des Kavalleriesäbels ist schlecht, und er ist auch schlecht gehärtet. Die neuen Geschütze, die in der Krim eingesetzt worden sind, sollen sehr gut und eine ausgezeichnete Arbeit sein; aber ob das für alle zutrifft, ist sehr zweifelhaft. Im Grunde trägt die russische Armee noch immer den Stempel einer Einrichtung, die dem allgemeinen Entwicklungsstand des Landes voraus ist, und hat alle Nachteile und Schattenseiten solcher Treibhausprodukte. Im Kleinkrieg sind die Kosaken die einzigen Truppen, die wegen ihrer Aktivität und Unermüdlichkeit gefürchtet werden müssen, aber wegen ihrer Vorliebe fürs Trinken und Plündern sind sie für ihre Befehlshaber sehr unzuverlässig. Bei großen kriegerischen Auseinandersetzungen sind durch die langsamen Bewegungen der Russen deren strategische Manöver wenig zu fürchten, es sei denn, daß sie es mit solch sorglosen Gegnern zu tun haben, wie es die Engländer im vergangenen Herbst gewesen sind. In einer regulären Schlacht werden die Russen den Soldaten hartnäckige Gegner sein, aber den Generalen, die einen Angriff gegen sie führen, keine großen Sorgen bereiten. Die russischen Aufstellungen sind im allgemeinen sehr einfach; sie beruhen auf den
vorgeschriebenen Normaldispositionen und sind leicht zu erraten, während der Mangel an Intelligenz sowohl bei Generalen als auch bei Feldoffizieren und die Schwerfälligkeit der Truppen schwierige Manöver auf dem Schlachtfeld zu einem großen Risiko für sie werden lassen.
III. Die kleineren Armeen Deutschlands
Bayern hat 2 Armeekorps mit je 2 Divisionen; jede Division umfaßt 2 Infanteriebrigaden (4 Infanterieregimenter und 1 Schützenbataillon), 1 Kavalleriebrigade mit 2 Regimentern, dazu 3 Brigaden zu Fuß und 1 reitende Batterie. Jedes Armeekorps hat außerdem eine allgemeine Artilleriereserve, bestehend aus 6 Fußbatterien, sowie 1 Abteilung Sappeure und Mineure. So besteht die ganze Armee aus 16 Regimentern mit je 3 Bataillonen, dazu 6 Bataillone Schützen, also insgesamt 54 Bataillone; 2 Kürassierregimenter und 6 Regimenter leichte Dragoner, insgesamt 48 Eskadronen; 2 Regimenter Fußartillerie (aus je 6 Sechspfünder- und 6 Zwölfpfünderbatterien) sowie 1 Regiment reitende Artillerie (4 Sechspfünderbatterien), insgesamt 28 Batterien mit je 8 Geschützen, macht 224 Geschütze neben 6 Kompanien Garnisonartillerie und 12 Trainkompanien; hinzu kommen 1 Ingenieurregiment mit 8 Kompanien sowie 2 Sanitätskompanien. Die gesamte Kriegsstärke beträgt 72000 Mann neben einer Reserve und Landwehr, die jedoch keine Kader besitzen. Für die Armee des Deutschen Bundest2381 stellt Österreich das 1., 2. und 3. Korps, Preußen das 4., 5. und 6., Bayern das 7. Das 8. Korps wird von Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt gestellt. Württemberg hat 8 Regimenter Infanterie (16 Bataillone), 4 Regimenter Kavallerie (16 Eskadronen), 1 Regiment Artillerie (4 Fuß- und 3 reitende Batterien mit 48 Geschützen); insgesamt etwa 19000 Mann bei Kriegsstärke. Baden unterhält 4 Regimenter (8 Bataillone), 2 Füsilierbataillone, 1 Schützenbataillon, insgesamt 11 Infanteriebataillone, 3 Regimenter oder 12 Eskadronen Kavallerie sowie 4 Fuß- und 5 reitende Batterien, die zusammen 40 Geschütze haben; insgesamt 15000 Mann bei Kriegsstärke. Hessen-Darmstadt hat 4 Regimenter oder 8 Bataillone Infanterie, 1 Regiment oder 6 Eskadronen leichte Reiterei und 3 Batterien Artillerie (1 reitende) mit 18 Geschützen; insgesamt 10000 Mann. Das einzig Besondere beim 7. und 8. Armeekorps ist, daß sie für die Artillerie die französischen Geschützlafetten übernommen haben. Das
9. Armeekorps des Bundes wird vom Königreich Sachsen, das eine Division stellt, und von Kurhessen und Nassau gebildet, die die zweite auf
Das Kontingent Sachsens beträgt 4 Brigaden Infanterie mit je 4 Bataillonen und 1 Brigade Schützen zu 4 Bataillonen; daneben 4 Linienbataillone und 1 Schützenbataillon als Reserve, die noch nicht aufgestellt sind; 4 Regimenter leichte Reiterei mit je 5 Eskadronen; 1 Artillerieregiment gleich 6 Fußund 2 reitende Batterien; insgesamt 20 Bataillone Infanterie, 20 Eskadronen und 50 Geschütze, also 24500 Mann bei Kriegsstärke. Kurhessen hat 4 Regimenter oder 8 Bataillone, dazu je 1 Bataillon Füsiliere und Schützen; 2 Eskadronen Kürassiere, 7 Eskadronen Husaren; 3 Batterien, davon 1 reitende. Insgesamt sind das 10 Bataillone, 9 Eskadronen, 19 Geschütze bzw. 12000 Mann bei Kriegsstärke. Nassau bringt bei Kriegsstärke 7 Bataillone, 2 Batterien oder 7000 Mann und 12 Geschütze auf. Hannover und Braunschweig stellen für das 10. Armeekorps die 1. und Mecklenburg, Holstein, Oldenburg sowie die Hansestädte die 2. Division. Hannover stellt 8 Regimenter bzw. 16 Bataillone sowie 4 Bataillone leichte Infanterie, 6 Regimenter mit 24 Eskadronen Kavallerie sowie 4 Fuß- und 2 reitende Batterien; insgesamt 22000 Mann und 36 Geschütze. Seine Artillerie entspricht der englischen. Braunschweig trägt 5 Bataillone bei, 4 Eskadronen und 12 Geschütze; insgesamt 5300 Mann. Die kleinen Staaten, die die 2. Division stellen, sind nicht erwähnenswert. Schließlich bilden die kleinsten der deutschen Duodezstaaten eine Reservedivision. Die gesamte Armee des Deutschen Bundes bei Kriegsstärke kann somit wie folgt in einer Tabelle zusammengefaßt werden: bringen.
I. Kontingente Infanterie Kavallerie Geschütze insgesamt Österreich 73501 13546 Preußen 61 629 11355 Bayern 27566 5086 8. Korps 23369 4308 9. Korps 19294 2 887 10. Korps 22246 3572 192 94822 160 79484 72 35600 60 30150 50 24254 58 28067 Reservedivision 11116 11116 insgesamt 238 721 40 754 592 303 493
II. Reservekontingente Infanterie Kavallerie Geschütze insgesamt Österreich 36750 6773 96 47411 Preußen 30834 5660 80 39742 Bayern 13793 2543 36 17800 8. Korps 11685 2154 32 15075 9. Korps 9702 1446 25 12136 10. Korps 11107 1788 29 14019 Reservedivision 5584 - • - 5584 insgesamt 119455 20364 298 151767
Das sind natürlich nicht die tatsächlichen bewaffneten Kräfte des Bundes, da Preußen, Österreich und Bayern im Notfall weit mehr als die oben angegebenen Kontingente bereitstellen würden. Die Truppen des 10. Korps und der Reservedivision, vielleicht auch des 9. Korps, würden die Garnisonen bilden, um nicht durch ihre mannigfaltigen Organisationsformen und Eigen-* heiten die Schnelligkeit der Feldoperationen zu beeinträchtigen. Die militärisehen Eigenschaften dieser Armeen sind mehr oder weniger die gleichen wie die der österreichischen und preußischen Soldaten; aber natürlich bieten diese kleinen Truppenkörper keine Gelegenheit, militärische Talente zu entwickeln, und es gibt eine Menge veralteter Einrichtungen. In einem dritten und abschließenden Artikel werden wir die spanischen, sardinischen, türkischen und anderen Armeen Europas behandeln.
Dritter Artikel
[„Putnam's Monthly" Nr. XXXVI, Dezember 1855]
I. Die türkische Armee
Die türkische Armee war zu Beginn des gegenwärtigen Krieges in einem Zustand der Kampffähigkeit, den sie nie vorher erreicht hatte. Die verschiedenen Reorganisations- und Reformversuche seit dem Regierungsantritt Machmuds, seit dem Massaker der Janitscharent239] und besonders seit dem Frieden von Adrianopel1191 waren zusammengefaßt und in ein System gebracht worden. Das erste und größte Hindernis - die Unabhängigkeit der Paschas, die entlegene Provinzen beherrschten - war weitgehend beseitigt, und im großen und ganzen waren die Paschas auf eine Stellung herabgedrückt worden, die etwa der eines militärischen Befehlshabers eines Bezirks entspricht. Doch ihre Ignoranz, Anmaßimg und Raubgier hatte sich in voller Lebenskraft erhalten wie in den besten Tagen der Herrschaft der asiatischen Satrapen. Wenn wir auch in den letzten 20 Jahren wenig von Revolten der Paschas gehört haben, so doch genug von solchen Provinzen, die gegen ihre habgierigen Gouverneure revoltierten, die aus den Reihen der niedrigsten Haussklaven und der „Männer für jede Arbeit4* stammten und die ihre neue Stellung dazu ausnutzten, sich durch Erpressungen, Bestechungsgelder und Riesenunterschlagungen öffentlicher Gelder Vermögen anzuhäufen. Es ist klar, daß bei einem solchen Stand der Dinge die Organisation der Armee zu einem großen Teil nur auf dem Papier stehen kann. ö Die türkische Armee besteht aus der regulären aktiven Armee (Nisam), der Reserve (Redif), den irregulären Truppen und den Hilfskorps der Vasallenstaaten.
Die Nisam besteht aus 6 Korps (Ordus), die in den Bezirken ausgehoben werden, in denen die Korps stationiert sind, ähnlich den Armeekorps in Preußen, die jeweils in der Provinz liegen, aus der sie rekrutiert werden. Insgesamt gesehen ist die Organisation der türkischen Nisam und Redif, wie wir sehen werden, dem preußischen Vorbild nachgeahmt. Die 6 Ordus haben ihre Hauptquartiere in Konstantinopel, Schumla, Toli-Monastir, Erzerum, Bagdad und Aleppo. Jedes sollte von einem Muschir (Feldmarschall) kommandiert werden und aus 2 Divisionen bzw. 6 Brigaden bestehen, die von 6 Infanterie-, 4 Kavallerieregimentern und 1 Artillerieregiment gebildet werden. Die Infanterie und Kavallerie sind nach dem französischen System organisiert, die Artillerie nach dem preußischen. Ein Infanterieregiment besteht aus 4 Bataillonen mit je 8 Kompanien und sollte bei voller Stärke, einschließlich der Offiziere und des Stabes, 3250 Mann betragen oder 800 Mann pro Bataillon. Vor dem Krieg jedoch überstieg die allgemeine Stärke selten 700 Mann, und in Asien war sie fast immer viel geringer. Ein Kavallerieregiment besteht aus 4 Eskadronen Ulanen und 2 Eskadronen Jäger, wobei jede Eskadron 151 Mann haben sollte. Im allgemeinen lag die Effektivstärke hier sogar noch weiter unter der Sollstärke als bei der Infanterie. Jedes Artillerieregiment besteht aus 6 reitenden und 9 Fußbatterien zu je 4 Geschützen, so daß es insgesamt 60 Geschütze besaß. Jedes Korps (Ordu) sollte also 19500 Mann Infanterie, 3700 Mann Kavallerie und 60 Geschütze stark sein. In Wirklichkeit sind jedoch 20000 bis 21000 Mann insgesamt das äußerste, was je erreicht worden war. Neben den 6 Ordus gibt es 4 Artillerieregimenter (I der Reserve und 3 der Festungsartillerie), 2 Regimenter Sappeure und Mineure und 3 Sonderdetachements der Infanterie, die nach Candia, Tunis und Tripolis geschickt wurden, mit einer Gesamtstärke von 16000 Mann. Die Gesamtstärke der Nisam oder des regulären stehenden Heeres müßte daher vor dem Kriege folgende gewesen sein:
36 Regimenter Infanterie mit durchschnitt!. 2500 Mann 90000 Mann 24 Regimenter Kavallerie mit durchschnittl. 660-670 Mann 16000 Mann 7 Regimenter Feldartillerie 9000 Mann 3 Regimenter Festungsartillerie 3400 Mann 2 Regimenter Sappeure und Mineure 1600 Mann Detachierte Truppen 16000 Mann 136000 Mann
Nachdem die Soldaten 5 Jahre in der Nisam gedient haben, werden sie nach Hause entlassen und bilden für die folgenden 7 Jahre die Redif oder Reserve. Diese Reserve zählt ebenso viele Ordus, Divisionen, Brigaden, Regimenter usw. wie das stehende Heer; in der Tat ist sie für die Nisam das, was in Preußen das erste Aufgebot der Landwehr für die Linie ist, mit der einzigen Ausnahme, daß in Preußen in größeren Truppenkörpern als der Brigade Linie und Landwehr immer zusammengehören, während sie in der türkischen Organisation getrennt gehalten werden. Die Offiziere und Unteroffiziere der Redif bleiben ständig in den Depots zusammen, und einmal im Jahr wird die Redif zur Übung einberufen, dabei erhält sie die gleiche Entlohnung und Verpflegung wie die Linie. Da aber eine solche Organisation eine gut eingespielte Zivilverwaltung und eine zivilisierte Stufe der Gesellschaft voraussetzt, von denen die Türkei weit entfernt ist, kann die Redif zum großen Teil nur auf dem Papier existieren, und wenn wir deshalb für sie die gleiche Stärke wie für die Nisam rechnen, so werden wir damit sicherlich die höchstmögliche Zahl annehmen. Die Hilfskontingente umfassen die Truppen aus:
1. den Donaufürstentümern 6000 Mann 2. Serbien 20000 Mann 3. Bosnien und der Herzegowina 30000 Mann 4. Oberalbanien 10000 Mann 5. Ägypten 40000 Mann 6. Tunis und Tripolis 10000 Mann insgesamt ungefähr: 116000 Mann
Diesen Truppen müssen die freiwilligen Baschi-Bosuks hinzugezählt werden, die Kleinasien, Kurdistan und Syrien in großer Anzahl aufbringen kann. Sie sind die letzten Überbleibsel jener Schwärme irregulärer Truppen, die in vergangenen Jahrhunderten Ungarn überfluteten und zweimal vor Wien erschienen I240]. Zumeist Reiterei, haben sie in 2 Jahrhunderten fast ständiger Niederlagen bewiesen, daß sie auch dem am schlechtesten ausgerüsteten europäischen Reiter unterlegen sind. Ihr Selbstvertrauen ist verschwunden, und jetzt sind sie zu nichts anderem zu gebrauchen als die Armee zu umschwärmen, wobei sie die Vorräte verzehren und verschwenden, die für die regulären Truppen bestimmt waren. Ihr Hang zum Plündern und ihre unzuverlässige Natur machen sie selbst für jenen aktiven Vorpostendienst unfähig, den die Russen von ihren Kosaken erwarten; denn die Baschi-Bosuks sind dann, wenn sie am dringendsten gebraucht werden, am wenigsten zu finden.
Im gegenwärtigen Kriege wurde es als zweckmäßig angesehen, ihre Stärke zu beschränken, und wir glauben nicht, daß jemals mehr als 50000 Mann zusammengefaßt wurden. So kann also die zahlenmäßige Stärke der türkischen Armee zu Beginn des Krieges wie folgt geschätzt werden:
Nisam 136000 Mann Redif 136000 Mann reguläre Hilfstruppen aus Ägypten und Tunis 50000 Mann irreguläre Hilfstruppen aus Bosnien und Albanien 40000 Mann Baschi-Bosuks 50000 Mann insgesamt: 412000 Mann
Von dieser Gesamtsumme muß jedoch wiederum einiges abgezogen werden. Daß die in Europa stationierten Ordus in ziemlich guter Verfassung waren und so vollzählig, wie man es in der Türkei eben erwarten kann, scheint ziemlich sicher zu sein; aber in Asien, in den entlegeneren Provinzen, wo die muselmanische Bevölkerungüberwiegt, mögen zwar die Mannschaften bereitstehen, während jedoch weder Waffen noch Ausrüstung, noch Munitionslager vorhanden sind. Die Donauarmee wurde hauptsächlich aus den 3 europäischen Ordus gebildet. Sie waren der Kern dieser Armee, zu dem die europäischen Redifs, das syrische Korps oder zumindest ein beträchtlicher Teil davon sowie eine Anzahl Arnauten12411, Bosniaken und Baschi-Bosuks hinzukamen. Dennoch ist die übermäßige Vorsicht Omer Paschas - seine noch heute vorhandene Abneigung, die Truppen im Felde zu exponieren - der beste Beweis dafür, daß er nur ein begrenztes Vertrauen in die Fähigkeiten dieser einzigen guten regulären Armee setzt, die die Türkei je besessen hat. In Asien jedoch, wo das alte türkische System der Unterschlagung und Trägheit noch in voller Blüte stand, konnten die 2 Ordus der Nisam, sämdiche Redifs und die Masse der Irregulären zusammengenommen nicht einmal einer russischen Armee widerstehen, die zahlenmäßig weit unterlegen war; sie wurden in jeder Schlacht geschlagen, so daß am Ende des Feldzuges von 1854 die asiatische Armee der Türkei fast aufgehört hatte zu existieren. Daraus geht hervor, daß nicht nur die Organisation in ihren Details, sondern auch ein großer Teil der Truppen selbst in Wirklichkeit nicht bestanden. Die ausländischen Offiziere und Zeitungskorrespondenten in Kars und Erzerum beanstandeten immer wieder den Mangel an Waffen, Ausrüstungsgegenständen, Munition und Lebensmitteln und erklärten unmißverständlich, daß die Ursache in nichts anderem als in der Trägheit, Unfähigkeit und Raubgier der Paschas
lag. Die Gelder wurden diesen regelmäßig zugewiesen, aber sie steckten sie stets in ihre eigene Tasche. Die gesamte Ausrüstung des türkischen regulären Soldaten ist von den westlichen Armeen entlehnt. Den einzigen Unterschied bildet der rote Fes oder das Käppchen, das vielleicht die am wenigsten geeignete Kopfbedeckung für dieses Klima ist, weil sie während der Sommerhitze häufig Sonnenstiche verursacht. Die Qualität der Ausrüstungsstücke ist schlecht, und die Bekleidung muß länger halten, als vorgesehen ist, da die Offiziere gewöhnlich das Geld einstecken, das für Neuanschaffungen bestimmt ist. Die Waffen sowohl für die Infanterie als auch für die Kavallerie sind minderwertig; nur die Artillerie hat sehr gute Feldgeschütze, die in Konstantinopel unter der Leitung europäischer Offiziere und Zivilingenieure gegossen worden sind. An sich ist der Türke kein schlechter Soldat. Er ist von Natur aus tapfer, außerordentlich abgehärtet, geduldig und unter gewissen Umständen auch gehorsam. Europäische Offiziere, die einmal sein Vertrauen gewonnen haben, können sich auf ihn verlassen, wie Grach und Butler bei Silistria und Iskender Beg (Ilinski) in der Walachei feststellten. Aber das sind Ausnahmen. Im allgemeinen ist der angeborene Haß des Türken gegen den „Giaur" so unauslöschlich und seine Gewohnheiten und Vorstellungen sind von denen eines Europäers so verschieden, daß er sich, solange er als herrschende Nation im Lande verbleibt, keinem Menschen unterwerfen wird, den er im Innersten als unermeßlich tiefer stehend verabscheut. Diesen Widerwillen haben die Türken auch auf die Armeeorganisation ausgedehnt, seitdem diese nach europäischem Vorbild umgestellt wurde. Der einfache Türke haßt die GiaurInstitutionen ebensosehr, wie er die Giaurs selbst haßt. Außerdem sind dem trägen, beschaulichen,fatalistischen Türken die strenge Disziplin, die geregelte Tätigkeit, die ständige Aufmerksamkeit, die in einer modernen Armee verlangt werden, äußerst verhaßte Dinge. Sogar die Offiziere werden eher zulassen, daß die Armee geschlagen wird, als daß sie sich anstrengen und ihren Verstand benutzen. Das ist einer der schlimmsten Charakterzüge der türkischen Armee und würde allein genügen, um sie für jeden offensiven Feldzug unbrauchbar zu machen. Die Gemeinen und Unteroffiziere werden aus Freiwilligen und durch das Los rekrutiert; für die unteren Dienstgrade der Offiziere werden manchmal Leute aus dem Mannschaftsstand befördert, doch in der Regel werden sie aus den Leibdienern und den Offiziersburschen der höheren Offiziere, den Tschibukschis und Kafeidschis, gewählt. Die Militärschulen in Konstantinopel, die nicht einmal sehr gut sind, können nicht genügend junge Leute für
die vakanten Stellen hervorbringen. Hinsichtlich der höheren Dienstgrade existiert eine Günstlingswirtschaft, von der die westlichen Nationen keine Vorstellung haben. Die meisten Generale sind ehemalige tscherkessische Sklaven, die Mignons irgendeines großen Mannes in den Tagen ihrer Jugend. Völlige Ignoranz, Unfähigkeit und Selbstzufriedenheit herrschen unumschränkt, und Hofintrigen sind das Hauptmittel, um zu avancieren. Im Heer wären selbst die wenigen europäischen Generale (Renegaten) nicht akzeptiert worden, wenn man sie nicht unbedingt gebraucht hätte, um zu verhüten, daß die ganze Maschinerie auseinanderfällt. So wie die Dinge liegen, wurden sie unterschiedslos angenommen, sowohl Männer mit wirklichen Verdiensten als auch reine Abenteurer. Gegenwärtig, nach drei Feldzügen, kann man sagen, daß von der Existenz einer türkischen Armee keine Rede sein kann, ausgenommen die 80000 Mann der eigentlichen Armee Omer 'Paschas, von der ein Teil an der Donau und der andere in der Krim steht. Die asiatische Armee besteht aus einem lärmenden Haufen von ungefähr 25000 Mann, für das Feld untauglich und durch Niederlagen demoralisiert. Der übrige Teil der 400000 Mann ist wer weiß wohin verschwunden: im Felde oder durch Krankheiten getötet, verwundet, verabschiedet oder zu Räubern geworden. Sehr wahrscheinlich wird dies überhaupt die letzte türkische Armee sein, denn sich von dem Schock zu erholen, den sie durch ihre Allianz mit England und Frankreich erlitten hat, ist mehr, als man von der Türkei erwarten kann. Die Zeit ist vorbei, da die Kämpfe von Oltenitza[2425 und Cetate eine übertriebene Begeisterung für die türkische Tapferkeit hervorriefen. Das untätige Verharren Omer Paschas genügte, um auch über weitere militärische Fähigkeiten der Türken Zweifel zu wecken, die nicht einmal die glänzende Verteidigung von Silistria völlig zerstreuen konnte. Die Niederlagen in Asien, die Flucht aus Balaklawa, die völlig defensive Haltung der Türken in Eupatoria und ihre absolute Untätigkeit im Lager von Sewastopol haben die allgemeine Einschätzung ihrer militärischen Fähigkeiten auf ein richtiges Maß gebracht. Der Zustand der türkischen Armee war derart, daß bis dahin ein Urteil über ihren allgemeinen Wert völlig unmöglich war. Es gab ohne Zweifel einige sehr tapfere und gutgeführte Regimenter, die zu jedem Dienst fähig waren, aber sie waren in beträchtlicher Minderheit. Der großen Masse der Infanterie fehlte der Zusammenhalt, und sie war deshalb zum Felddienst untauglich, obwohl sie hinter Verschanzungen ihren Mann stand. Die reguläre Kavallerie war der jeder europäischen Macht entschieden unterlegen. Die Artillerie war bei weitem der beste Teil des Heeres, und die Regimenter der Feldartillerie hatten einen hohen Stand der Leistungsfähigkeit erreicht,
30 Marx/Engels. Werke, Bd. 11
die Leute waren wie für ihre Aufgabe geboren, obwohl bei den Offizieren zweifellos vieles zu wünschen übrigblieb. Wie es scheint, haben die Redifs allgemein an organisatorischen Mängeln gelitten, obwohl die Leute ohne Zweifel willens waren, ihr Bestes zu tun. Von den Irregulären waren die Arnauten und Bosniaken großartige Guerillas, aber nichts weiter; sie eigneten sich am besten zur Verteidigung von Befestigungen, während die BaschiBosuks geradezu wertlos waren und sogar mehr als das. Das ägyptische Kontingent scheint ungefähr auf dem gleichen Niveau gewesen zu sein wie die türkische Nisam, das tunesische beinahe für alles unbrauchbar. Bei einer solch buntscheckigen Armee, die so schlecht geführt wurde und in der eine derartige Mißwirtschaft herrschte, ist es kein Wunder, daß sie in drei Feld' zügen fast zugrunde gerichtet wurde.
II. Die sardinische Armee
Diese Armee besteht aus 10 Brigaden Infanterie, 10 Bataillonen Schützen, 4 Brigaden Kavallerie, 3 Regimentern Artillerie, 1 Regiment Sappeure und Mineure, einem Korps Karabiniers (Polizeitruppen) und der leichten Reiterei auf der Insel Sardinien. Die 10 Infanteriebrigaden bestehen aus 1 Brigade Garde mit 4 Bataillonen Grenadiere und 2 Bataillonen Jäger sowie aus 9 Brigaden der Linie, das sind 18 Regimenter zu je 3 Bataillonen. Hinzu kommen 10 Bataillone Schützen (Bersaglieri), eines für jede Brigade; damit hat die sardinische Armee einen weit stärkeren Anteil gut ausgebildeter leichter Infanterie als jede andere Armee. Außerdem gehört zu jedem Regiment 1 Depotbataillon. Seit 1849 wurde die Stärke der Bataillone aus finanziellen Gründen sehr vermindert. Bei Kriegsstärke sollte ein Bataillon ungefähr 1000 Mann stark sein,,doch bei Friedensstärke hat es nicht mehr als 400 Mann. Die übrigen sind auf unbegrenzte Zeit beurlaubt worden. Die Kavallerie umfaßt 4 schwere und 5 leichte Regimenter. Jedes Regiment hat 4 Feldeskadronen und 1 Ersatzeskadron. Bei Kriegsstärke sollten die 4 Feldeskadronen eines Regiments ungefähr 800 Mann umfassen, doch bei Friedensstärke sind es kaum 600. Die 3 Regimenter Artillerie bestehen aus 1 Regiment Handwerkern und Artilleriespezialisten, 1 Regiment Garnisonartillerie (12 Kompanien) und 1 Feldartillerieregiment (6 Fuß-, 2 reitende und 2 schwere Batterien, jede zu 8 Geschützen). Die Kanonen der leichten Batterien sind Achtpfünder
und die Haubitzen Vierundzwanzigpfünder, die Kanonen der schweren Batterien Sechzehnpfünder; insgesamt 80 Geschütze. Das Sappeur- und Mineurregiment hat 10 Kompanien, das sind ungefähr 1100 Mann. Die Karabiniers (beritten und zu Fuß) sind für ein so kleines Königreich sehr zahlreich, sie betragen ungefähr 3200 Mann. Die für den Dienst als Polizeitruppe auf der Insel Sardinien eingesetzte leichte Reiterei ist ungefähr 1100 Mann stark. Die sardinische Armee erreichte in dem ersten Feldzug gegen Österreich im Jahre 1848 sicherlich eine Stärke von 70000 Mann. Im Jahre 1849 waren es nahezu 130000 Mann. Später wurde sie auf ungefähr 45000 Mann herabgesetzt. Wie stark sie heute ist, kann man unmöglich sagen, aber es besteht kein Zweifel, daß sie seit dem Abschluß des Vertrages mit England und Frankreich12431 wieder verstärkt wurde. Diese große Elastizität der piemontesischen Armee, die es ihr erlaubt, die Anzahl der unter Waffen stehenden Leute jederzeit zu erhöhen oder zu vermindern, ergibt sich aus einem Rekrutierungssystem, das dem preußischen sehr ähnlich ist, und Sardinien kann tatsächlich in vieler Beziehung das Preußen Italiens genannt werden. In den Ländern Sardiniens besteht eine ähnliche Verpflichtung für jeden Bürger, in der Armee zu dienen, wie in Preußen, wenn auch im Unterschied dazu Ersatzleute gestellt werden können. Die gesamte Dienstpflicht umfaßt wie in Preußen den aktiven Dienst und eine folgende Periode, in der der Soldat in die Reserve entlassen wird und dort verbleibt; im Kriegsfall kann er jederzeit wieder eingezogen werden. Das System ist ein Mittelding zwischen dem preußischen einerseits und dem Belgiens sowie der kleineren deutschen Staaten andrerseits. So kann bei Einberufung der Reserve die Infanterie von ungefähr 30000 Mann auf 80000 Mann und noch darüber erhöht werden. Die Kavallerie und Feldartillerie würde nur wenig verstärkt werden, da die Soldaten dieser Waffengattungen im allgemeinen während der gesamten Dienstzeit bei ihren Regimentern bleiben müssen. Die piemontesische Armee ist ebensogut und kampfstark wie jede andere europäische Armee. Die Piemontesen sind klein wie die Franzosen, besonders die Infanteristen. Die Gardesoldaten erreichen im Durchschnitt nicht einmal 5 Fuß 4 Zoll, aber durch ihre ansprechende Uniform, ihre militärische Haltung, ihre kräftigen, aber agilen Gestalten und durch ihre feinen italienischen Gesichtszüge machen sie einen besseren Eindruck als manche aus größeren Leuten bestehende Armee. Die Uniformierung und Equipierung der Linien- und Gardeinfanterie richtet sich nach dem französischen Vorbild, mit Ausnahme einiger weniger, von den Österreichern übernommener 30*
Details. Die Bersaglieri haben eine besondere Uniform - einen kleinen flachen Filzhut mit einem lang wallenden Federbusch aus Hahnenfedern und einen braunen Waffenrock. Die Kavallerie trägt kurze braune, bis zu den Hüften reichende Röcke. Die Infanterie ist zum größten Teil mit dem Perkussionsgewehr bewaffnet; die Bersaglieri haben kurze Tiroler Büchsen, das sind zwar gute und brauchbare Waffen, aber dem Minie-Gewehr in jeder Beziehung unterlegen. Das erste Glied der Kavallerie war mit Lanzen bewaffnet; ob das heute bei der leichten Kavallerie noch der Fall ist, können wir nicht sagen. Die reitenden Batterien und leichten Fußbatterien haben durch ihr Geschützkaliber von 8 Pfund den anderen europäischen Armeen gegenüber den gleichen Vorteil, den die Franzosen hatten, solange sie dieses Kaliber beibehielten; doch ihre schweren Sechzehn pfünderbatterien machten die sardinische Feldartillerie zur schwersten des Kontinents. Daß diese Geschütze, einmal in Stellung gebracht, ausgezeichnete Dienste leisten können, haben sie an der Tschornaja bewiesen, wo ihr exaktes Feuer beträchtlich zu dem Erfolg der Alliierten beitrug und überall bewundert wurde. Von allen italienischen Staaten ist Piemont am besten dazu in der Lage, eine gute Armee zu schaffen. Aus den Ebenen des Po und seiner Nebenflüsse kommen vorzügliche Pferde, und dort leben schöne, hochgewachsene Menschen, die größten aller Italiener, hervorragend für den Dienst in der Kavallerie und der schweren Artillerie geeignet. In den Bergen, die diese Ebenen von drei Seiten umgeben, im Norden, Westen und Süden, wohnt ein abgehärtetes Volk, das zwar kleiner an Körpergröße, aber kräftig und beweglich ist, fleißig und scharfsinnig wie alle Bergbewohner. Sie sind es, die die Masse der Infanterie und besonders der Bersaglieri bilden, einer Truppe, die den Vincenner Jägern im Grad der Ausbildung fast gleichkommt, sie aber an körperlicher Kraft und Ausdauer sicherlich übertrifft. Die Militäranstalten Piemonts sind im großen und ganzen sehr gut, und deshalb haben die Offiziere eine hohe Qualifikation. Noch 1846 hatten jedoch die Aristokratie und der Klerus einen großen Einfluß auf ihre Ernennung. Bis zu dieser Zeit kannte Karl Albert nur zwei Mittel des Regierens - den Klerus und die Armee. In anderen Teilen Italiens war es sogar eine allgemeine Redensart, daß von drei Leuten, denen man in Piemont auf der Straße begegnete, einer ein Soldat, der zweite ein Mönch und nur jeder dritte ein Zivilist war. Heute ist das natürlich vorbei, die Priester besitzen überhaupt keinen Einfluß; die Kriege von 1848 und 1849 haben der Armee gewisse demokratische Züge aufgeprägt, die nicht so leicht zerstört werden können, obwohl der Adel noch viele Offiziersstellen besetzt. Einige britische KrimKorrespondenten haben in den Zeitungen berichtet, daß die piemontesischen
Offiziere beinahe alle „geborene Gentlemen" seien, aber dies ist durchaus nicht der Fall, und wir kennen persönlich mehr als einen piemontesischen Offizier, der vom Gemeinen aufgestiegen ist, und können mit Sicherheit behaupten, daß sich die Masse der Hauptleute und Leutnants jetzt aus Leuten zusammensetzt, die ihre Epauletten entweder durch Tapferkeit im Kampf gegen die Österreicher erworben haben oder die zumindest nicht mit der Aristokratie verbunden sind. Das größte Kompliment, das nach unserer Auffassung der piemontesischen Armee gezollt werden kann, kommt in der Meinung zum Ausdruck, die einer ihrer ehemaligen Gegner, General Schönhals, Generalquartiermeister der österreichischen Armee in den Jahren 1848/49, ausgesprochen hat. In seinen „Erinnerungen aus dem italienischen Krieg" behandelt dieser General, einer der besten Offiziere der österreichischen Armee und ein heftiger Gegner all dessen, was in irgendeiner Weise nach italienischer Unabhängigkeit riecht, die piemontesische Armee durchweg mit dem höchsten Respekt.
„Ihre Artillerie", sagt er, „besteht aus gewählten Leuten, guten und unterrichteten Offizieren, hat ein gutes Material und ist im Kaliber der unsrigen überlegen... Die Kavallerie ist keine verächtliche Waffe. Ihr erstes Glied ist mit Lanzen bewaffnet Der Gebrauch dieser Waffe erfordert aber einen sehr gewandten Reiter, wir möchten daher nicht gerade sagen, daß diese Einführung direkt eine Verbesserung bedeutet. Ihre Schule der Equitation ist jedoch eine sehr gute... Bei Santa Lucia wurde von beiden Seiten mit großer Tapferkeit gefochten. Die Piemontesen griffen mit großer Lebhaftigkeit und Ungestüm an - sowohl Piemontesen als auch Österreicher vollbrachten viele Taten großen persönlichen Mutes... Die piemontesische Armee hat das Recht, den Tag von Novara in Erinnerung zu bringen, ohne erröten zu müssen", und so weiter I244l.
Auch der preußische General Willisen, der einige Zeit an dem Feldzug von 1848 teilnahm und kein Freund der italienischen Unabhängigkeit ist, spricht mit Achtung von der piemontesischen Armee. Schon seit 1848 hat eine gewisse Partei in Italien den König von Sardinien als das zukünftige Oberhaupt der gesamten Halbinsel angesehen. Obwohl wir weit davon entfernt sind, diese Meinung zu teilen, glauben wir doch, daß, wenn Italien einmal seine Freiheit wiedergewinnen wird, die piemontesischen Kräfte das bedeutendste militärische Instrument sein werden, um dieses Ziel zu erreichen, und daß sie zugleich den Kern der zukünftigen italienischen Armee bilden werden. Bevor das geschieht, wird die sardinische Armee wahrscheinlich mehr als eine innere Revolution durchmachen, doch ihre ausgezeichneten militärischen Elemente werden das alles überdauern und werden sogar noch gewinnen, wenn sie in einer wirklichen Nationalarmee aufgehen.
III. Die kleineren italienischen Armeen
Die päpstliche Armee existiert fast nur auf dem Papier. Die Bataillone und Eskadronen sind niemals vollständig und bilden nur eine schwache Division. Außer dieser gibt es ein Regiment Schweizer Garde, die einzigen Truppen, welchen der Staat einiges Vertrauen schenken kann. Die Armeen Toskanas, Parmas und Modenas sind zu unbedeutend, um hier erwähnt zu werden,* es möge genügen zu sagen, daß sie im ganzen gesehen nach österreichischem Muster organisiert sind. Außerdem existiert die neapolitanische Armee, für die es auch um so besser ist, je weniger man über sie spricht. Sie hat sich niemals vor dem Feind hervorgetan; ob sie für den König kämpfte wie 1799 oder für eine Verfassung wie 1821, sie hat sich immer dadurch ausgezeichnet, daß sie davongelaufen istt2451. Selbst in den Jahren 1848 und 1849 wurde der aus Einheimischen bestehende Teil der neapolitanischen Armee überall von den Aufständischen geschlagen, und wären die Schweizer nicht gewesen, so säße König Bomba heute nicht auf seinem Thron. Während der Belagerung Roms rückte Garibaldi mit einer Handvoll Leute gegen die neapolitanische Division vor und schlug sie zweimal[2461. Die Friedensstärke der Armee Neapels wird auf 26000-27000 Mann geschätzt, aber 1848 soll sie Berichten zufolge fast 49000 betragen haben, und bei voller Stärke sollte sie sich auf 64000 erhöhen. Von allen diesen Truppen sind allein die Schweizer erwähnenswert. Sie bilden 4 Regimenter zu je 2 Bataillonen, und ein vollständiges Bataillon sollte 600 Mann stark sein, das sind 4800 Mann insgesamt. Doch der Kaderbestand ist jetzt so angewachsen, daß jedes Bataillon ungefähr 1000 Mann stark ist (das 4. oder Berner Regiment hat allein 2150 Mann), und die Gesamtzahl kann auf nahezu 9000 Mann geschätzt werden. Das sind wirklich erstklassige Truppen, die von Offizieren ihres eigenen Landes befehligt werden und in ihrer inneren Organisation und Verwaltung von der neapolitanischen Regierung unabhängig sind. Sie wurden erstmals 1824 oder 1825 in Sold genommen, als der König der Armee, die kurz vorher revoltiert hatte, nicht länger vertraute und es für notwendig erachtete, sich mit einer starken Leibgarde zu umgeben. Die Verträge, „Kapitulationen44 genannt, wurden' mit den verschiedenen Kantonen auf 30 Jahre abgeschlossen; den Truppen wurden die Schweizer Kriegsgesetze sowie die Schweizer Militärorganisation zugebilligt. Der Sold war dreimal so hoch wie der eines einheimischen neapolitanischen Soldaten. Die Truppen rekrutierten sich aus ^Freiwilligen aller Kantone; dort waren Rekrutierungsbüros eingerichtet. Den ausscheidenden Offizieren, den Veteranen und den Verwundeten waren Pensionen sicher. Falls der Vertrag nach Ablauf von 30 Jahren nicht erneuert werden sollte,
waren die Regimenter aufzulösen. Die jetzige Schweizer Verfassung verbietet die Rekrutierungen für ausländische Dienste, und deshalb wurden die Kapitulationen nach 1848 aufgehoben; man stellte das Anwerben zumindest dem Schein nach in der Schweiz ein, aber in Chiasso und anderen Orten der Lombardei wurden Depots eingerichtet, und mancher Werbeagent setzte sein Geschäft heimlich auf Schweizer Boden fort. Der neapolitanische Staat war so auf Rekruten erpicht, daß er sich nicht scheute, den Abschaum der politischen Flüchtlinge aufzunehmen, die sich damals in der Schweiz aufhielten. Unter diesen Umständen bestätigte der König von Neapel die Privilegien, die den Schweizer Soldaten durch die Kapitulationen garantiert worden waren, und im August vergangenen Jahres, als die 30 Jahre abgelaufen waren, verlängerte er durch einen besonderen Erlaß diese Privilegien für die gesamte Zeit, in der die Schweizer in seinen Diensten stehen.
IV. Die Schweizer Armee
Die Schweiz hat kein stehendes nationales Heer. Jeder Schweizer muß, wenn er diensttauglich ist, in der Miliz dienen, und diese Masse ist dem Alter entsprechend in drei Aufgebote unterteilt (Auszug, erstes und zweites Aufgebot1). Die jungen Männer werden während der ersten Dienstjahre gesondert zur Ausbildung eingezogen und von Zeit zu Zeit in Lagern zusammengefaßt; aber jeder, der das unbeholfene Marschieren und das unerfreuliche Bild einer noch unausgebildeten Schweizer Abteilung gesehen oder sie mit ihrem Sergeanten während der Ausbildung Witze reißen gehört hat, wird gewiß sofort erkennen, daß die militärischen Qualitäten der Leute nur sehr schwach entwickelt sind. Um die soldatischen Eigenschaften dieser Miliz beurteilen zu können, haben wir nur ein Beispiel, den Sonderbundskrieg2 I847[2471, dessen Verlauf sich durch außerordentlich geringe Verluste im Verhältnis zu den beteiligten Kräften auszeichnete. Die Organisation der Miliz liegt fast völlig in den Händen der verschiedenen Kantonregierungen, und obwohl ihre allgemeine Organisationsform durch Bundesgesetze festgelegt ist und ein Bundesstab an der Spitze des Ganzen steht, kann bei diesem System ein gewisses Durcheinander und mangelnde Einheitlichkeit nicht ausbleiben, indem es fast unumgänglich verhindert, daß genügend Vorräte angelegt, Verbesserungen eingeführt und wichtige Punkte besonders an der schwachen schweizerisch-deutschen Grenze ständig befestigt werden.
1 Auszug, erstes und zweites Aufgebot: in „Putnam's Monthly44 deutsch - 2 ebenso: Sonderbund
Die militärisch ausgebildeten Schweizer sind wie alle Bergbewohner ausgezeichnete Soldaten, und wo sie auch als reguläre Truppen unter fremder Fahne gedient haben, kämpften sie außerordentlich gut. Da sie aber ziemlich schwer von Begriff sind, brauchen sie die Ausbildung wirklich weit nötiger als die Franzosen oder die Norddeutschen, um Selbstvertrauen und Zusammenhalt zu bekommen. Es ist möglich, daß im Falle eines ausländischen Angriffs auf die Schweiz das Nationalgefühl dies vielleicht wettmachen wird, aber selbst das ist sehr zweifelhaft. Eine reguläre Armee von 80000 Mann und weniger wäre einer Masse von 160000 und mehr gewachsen, die die Schweizer vorgeben aufstellen zu können. Im Jahre 1798 besiegten die Franzosen sie mit ein paar Regimentern[248J. Die Schweizer bilden sich auf ihre Scharfschützen viel ein. Sicherlich gibt es in der Schweiz verhältnismäßig mehr gute Schützen als in jedem anderen europäischen Land, die österreichischen alpinen Besitzungen ausgenommen. Aber wenn man sieht, daß diese sicheren Schützen, wenn sie einberufen werden, fast alle mit plumpen, gewöhnlichen Perkussionsgewehren bewaffnet sind, wird der Respekt vor den Schweizer Scharfschützen beträchtlich gemindert. Die wenigen Schützenbataillone mögen gute Schützen haben, aber ihre kurzen schweren Gewehre (Stutzen1) sind im Vergleich zum Mini6Gewehr veraltet und wertlos, und die unbeholfene, langsame Art, sie mit losem Pulver aus einem Horn zu laden, würde den Schweizern nur eine geringe Chance geben, wenn sie Truppen gegenüberstehen sollten, die mit moderneren Waffen ausgerüstet sind. Kurz gesagt: Waffen, Ausrüstung, Organisation und Ausbildung, alles ist bei den Schweizern altmodisch und wird es sehr wahrscheinlich solange bleiben, wie die Kantonregierungen in diesen Dingen etwas zu sagen haben.
V. Die skandinavischen Armeen
Obwohl unter einer Krone vereinigt, sind die schwedische und norwegische Armee so unabhängig voneinander wie die beiden Länder, zu denen sie gehören. Im Gegensatz zur Schweiz sind beide das Beispiel für ein alpines Land mit einem stehenden Heer; die skandinavische Halbinsel ist jedoch insgesamt durch den Charakter der Landschaft und die sich daraus ergebende Kargheit sowie durch die dünne Besiedlung des Gebietes der Schweiz so verwandt, daß selbst in der militärischen Organisation beider Länder das gleiche System, und zwar das Milizsystem, vorherrscht.
1 Stutzen: in „Putnam's Monthly" deutsch
Schweden hat drei Truppenarten, und zwar Regimenter, die durch Freiwilligenwerbung gebildet werden (värfvade truppar), Provinzialregimenter (indelta truppar) und die Reserve. Die värfvade bestehen aus 3 Regimentern Infanterie mit 6 Bataillonen, 2 Regimentern Kavallerie und 3 Regimentern Artillerie mit 13 Fuß- und 4 reitenden Batterien und zusammen 96 Sechspfündern, 24 Zwölfpfündern und 16 Vierundzwanzigpfündern. Das sind insgesamt 7700 Mann und 136 Geschütze. In diesen Truppen ist die Artillerie für die gesamte Armee enthalten. Die indelta bilden 20 Provinzregimenter mit je 2 Bataillonen, einschließlich 5 gesonderten Infanteriebataillonen, und 6 Regimenter, die in ihrer Stärke zwischen 1 und 8 Eskadronen variieren. Die indelta werden auf 33000 Mann geschätzt. Die Reserve bildet die Masse der Armee. Falls sie einberufen wird, soll sie eine Stärke von 95000 Mann erreichen. In der Provinz Gotland gibt es außerdem eine Art Miliz, die ständig unter Waffen steht und 7850 Mann stark ist. Sie hat 21 Kompanien und 16 Geschütze. Die gesamte schwedische Armee umfaßt also ungefähr 140000 Mann und 150 Feldgeschütze. Die Freiwilligen für die angeworbenen Regimenter werden im allgemeinen auf 14 Jahre verpflichtet, aber das Gesetz läßt auch Verpflichtungen auf 3 Jahre zu. Die indelta sind eine Art Miliz, die nach ihrer ersten Ausbildung auf den ihnen und ihren Familien zugeteilten Gehöften leben und nur einmal im Jahr für 4 Wochen zur Ausbildung einberufen werden. Ihre Löhnung besteht aus den Erträgen ihrer Gehöfte, aber wenn sie zusammengefaßt werden, erhalten sie eine besondere.Entschädigung. Die Offiziere bekommen in ihren Bezirken liegende Kronländereien als Lehen. Die Reserve setzt sich aus allen diensttauglichen Schweden im Alter von 20 bis zu 25 Jahren zusammen. Sie werden eine kurze Zeit ausgebildet und danach in jedem Jahr 14 Tage einberufen. So trägt also, mit Ausnahme der wenigen värfvade- und der Gotlandtruppen, der größte Teil der Armee - indelta und Reserve - in jeder Hinsicht den Charakter einer Miliz. Die Schweden spielen in der Kriegsgeschichte eine Rolle, die in gar keinem Verhältnis zu der geringen Bevölkerungszahl steht, aus der sich ihre berühmten Armeen rekrutierten. Gustav Adolf eröffnete durch seine Verbesserungen im Dreißigjährigen Krieg11421 eine neue Ära der Taktik; Karl XII., der mit seiner abenteuerlichen Tollkühnheit sein großes militärisches Talent verdarb, ließ diese Armeen direkt Wunder vollbringen - so zum Beispiel mit der Kavallerie Verschanzungen nehmen. . In den späteren Kriegen gegen Rußland bewährten sich die schwedischen Truppen sehr gut.
1813 ließ Bernadotte die Schweden soweit wie möglich die Gefahr meiden; sie waren kaum im Feuer, es sei denn ungewollt, eine Ausnahme war Leipzig, und dort machten sie nur einen unendlich kleinen Teil der Alliierten aus. Die värfvade und selbst die indelta werden zweifellos immer den Ruf des schwedischen Namens aufrechterhalten, doch die Reserve, wenn sie nicht lange vor ihrem Einsatz einberufen und ausgebildet wird, kann nur als eine Armee von Rekruten gelten. Norwegen hat 5 Brigaden Infanterie, die 22 Bataillone mit 12000 Mann umfassen, 1 Brigade Kavallerie, bestehend aus 3 Divisionen reitende Jäger mit 1070 Mann, und 1 Regiment Artillerie von ungefähr 1300 Mann, neben einer Milizreserve von 9000 Mann; insgesamt rund 24000 Mann. Der Charakter dieser Armee unterscheidet sich nicht sehr von dem der schwedischen; ihre einzige Besonderheit sind einige Kompanien Jäger, die mit flachen Schneeschuhen und mit Hilfe eines langen Stockes auf lappländische Art sehr schnell über den Schnee laufen. Die dänische Armee besteht aus 23 Bataillonen Infanterie (1 Gardebataillon, 12 Linien-, 5 leichte, 5 Jägerbataillone) in 4 Brigaden, jedes Bataillon hat einen Friedensbestand von ungefähr 700 Mann, 3 Brigaden Kavallerie (3 Gardeeskadronen, 6 Dragonerregimenter mit je 4 Eskadronen, wobei eine Eskadron in Friedenszeiten 140 Mann hat); 1 Brigade Artillerie (2 Regimenter bzw. 12 Batterien mit 80 Sechspfündern und 16 Zwölfpfündern) sowie 3 Kompanien Sappeure. Insgesamt sind das 16630 Mann Infanterie, 2900 Mann Kavallerie, 2900 Mann Artillerie und Sappeure sowie 96 Geschütze. Für den Kriegsstand wird jede Kompanie auf200, das heißt das Bataillon auf 800 und jede Eskadron auf 180 Mann erhöht, und die Linie wächst auf insgesamt 25500 Mann an. Außerdem können 32 Bataillone, 24 Eskadronen und 6 Batterien der Reserve einberufen werden, die eine Stärke von 31500 Mann repräsentieren und die Gesamtstärke auf ungefähr 56000 oder 57000 Mann bringen. Selbst diese können jedoch im Notfall noch verstärkt werden, so konnte das eigentliche Dänemark allein, ohne Holstein und Schleswig, während des letzten Krieges 50000-60000 Mann aufbringen, und jetzt sind die Herzogtümer wieder der Aushebung durch die Dänen unterworfen. Die Armee wird durch das Los aus den jungen Männern im Alter von 22 Jahren aufwärts rekrutiert. Die Dienstzeit beträgt 8 Jahre, aber in Wirklichkeit bleiben die Artilleristen 6 Jahre, die Infanteristen der Linie nur 4 Jahre beim Regiment, während sie für den Rest der Zeit zur Reserve gehören. Vom 30. bis zum 38. Lebensjahr bleiben die Soldaten im ersten und dann bis zum 45. Jahr im zweiten Aufgebot der Miliz. Das ist alles sehr schön
gedacht, aber in einem Krieg gegen Deutschland würde sich nahezu die Hälfte der Truppen - die aus den Herzogtümern - auflösen und die Waffen gegen ihre jetzigen Kameraden erheben. Gerade diese starke Durchsetzung mit Schleswig-Holsteinern schwächt die dänische Armee so sehr und macht sie bei Zusammenstößen mit Dänemarks mächtigstem Nachbar in Wirklichkeit beinahe null und nichtig. Die dänische Armee ist seit ihrer Reorganisation 1848/49 gut ausgerüstet, gut bewaffnet und insgesamt auf einen sehr respektablen Stand gebracht worden. Der Däne aus dem eigentlichen Dänemark ist ein guter Soldat und zeigte in fast jedem Treffen des dreijährigen Krieges eine sehr gute Haltung; doch der Schleswig-Holsteiner ist ihm entschieden überlegen. Das Offizierskorps ist im großen und ganzen gut, aber es hat zu viel Aristokratie und zu wenig wissenschaftliche Ausbildung. Ihre Berichte sind liederlich und ähneln denen der britischen Armee, der die dänischen Truppen auch in ihrer mangelnden Beweglichkeit verwandt zu sein scheinen; doch haben sie in letzter Zeit nicht bewiesen, daß sie solche unerschütterliche Standhaftigkeit besitzen wie die Sieger von Inkerman. Die Schleswig-Holsteiner gehören ohne Zweifel zu den besten Soldaten in Europa. Sie sind ausgezeichnete Artilleristen und so kaltblütig im Kampf wie die Engländer, ihre Vettern. Obwohl sie aus dem Flachland stammen, sind sie sehr gute leichte Infanteristen; ihr erstes Schützenbataillon hätte sich im Jahre 1850 mit jeder TruDDe seiner Art messen können.
VI. Die holländische Armee
Die holländische Armee umfaßt 36 Bataillone Infanterie in 9 Regimentern mit insgesamt 44000 Mann; 4 Regimenter Dragoner, aus 20 Eskadronen zusammengesetzt; 2 Eskadronen reitende Jäger sowie 2 Eskadronen Gendarmen, das sind insgesamt 24 Eskadronen Kavallerie mit 4400 Mann; 2 Regimenter Feldartillerie (5 Fußbatterien Sechspfünder, 6 Fußbatterien Zwölfpfünder, 2 reitende Batterien Sechspfünder und 2 reitende Batterien Zwölfpfünder mit insgesamt 120 Geschützen) und 1 Bataillon Sappeure, zusammen 58000 Mann, außerdem einige Regimenter in den Kolonien. Aber diese Stärke hat die Armee in Friedenszeiten nicht immer. Unter Waffen bleibt nur ein Stamm, der aus Offizieren, Subalternen und einigen wenigen Freiwilligen besteht. Die große Masse wird, trotz ihrer Verpflichtung, 5 Jahre zu dienen, in ein paar Monaten ausgebildet, dann entlassen und jedes Jahr nur für wenige Wochen einberufen. Außerdem gibt es eine Art Reserve in drei Aufgeboten, die alle dienstfähigen Männer im Alter von 20 bis 35 Jahren
umfaßt. Das erste Aufgebot besteht aus ungefähr 53 und das zweite aus 29 Bataillonen Infanterie und Artillerie. Aber diese Truppen sind überhaupt nicht organisiert und können selbst kaum als Miliz angesehen werden.
VII. Die belgische Armee
Die belgische Armee hat 16 Regimenter Infanterie, die außer I Reservebataillon für jedes Regiment 49 Bataillone umfassen; insgesamt 46000 Mann. Die Kavallerie besteht aus 2 Jäger-, 2 Ulanen-, 2 Kürassierregimentern und I Regiment Guiden1, das sind zusammen 38 Eskadronen, außer 7 Reserveeskadronen; insgesamt 5800 Mann. Die Artillerie umfaßt 4 Regimenter (4 reitende, 15 Fuß- und 4 Depotbatterien sowie 24 Garnisonkompanien) mit 152 Geschützen, und zwar Sechs- und Zwölfpfündern; die Sappeure und Mineure, 1 Regiment, sind 1700 Mann stark. Die Gesamtstärke ohne Reserve beträgt 62000 Mann; durch die Reserve kann sie, wie eine kürzliche Einberufung erwies, auf 100000 erhöht werden. Die Armee wird durch das Los rekrutiert, und die Dienstzeit beträgt 8 Jahre, aber ungefähr die Hälfte der Zeit wird der Soldat beurlaubt. Die wirkliche Friedensstärke wird deshalb kaum 30000 Mann erreichen.
VIII. Die portugiesische Armee
Die portugiesische Armee bestand im Jahre 1850 aus folgenden Truppen:
Friedensstärke Kriegsstärke Infanterie 18738 40401 Kavallerie 3508 4676 Artillerie 2707 4098 Genietruppen und Stab 728 495 25681 49670
Die Artillerie besteht aus 1 Feldregiment mit 1 reitenden Batterie und 7 Fußbatterien, 3 Regimentern Positions- und Festungsartillerie und 3 detachierten Bataillonen auf den Inseln. Sie hat ein Kaliber von 6 und 12 Pfund.
1 eine Art Feldjäger
IX. Die spanische Armee Von allen europäischen Armeen wird der spanischen aus besonderen Gründen von den Vereinigten Staaten großes Interesse entgegengebracht. Wir behandeln daher zum Abschluß dieser Übersicht der militärischen Kräfte Europas diese Armee detaillierter, als dies ihrer Bedeutung nach im Vergleich zur Armee ihrer Nachbarn auf der anderen Seite des Atlantik gerechtfertigt zu sein scheint. Die spanischen Streitkräfte bestehen aus der Festlandsarmee und den Kolonialarmeen. Die Festlandsarmee umfaßt 1 Regiment Grenadiere, 45 Regimenter der Linie mit je 3 Bataillonen, 2 Regimenter mit je 2 Bataillonen in Cduta und 18 Bataillone cazadores, das heißt Schützen. Alle diese 160 Bataillone hatten im Jahre 1852 eine Effektivstärke von 72670 Mann, die dem Staat jährlich 82692651 Realen oder 10336581 Dollar kosteten. Die Kavallerie bestand im Jahre 1851 aus 16 Regimentern Karabiniers oder Dragonern und Ulanen mit je 4 Eskadronen, dazu 11 Eskadronen cazadores oder leichte Reiterei. Insgesamt sind das 12000 Mann, die 17549562 Realen oder 2193695 Dollar kosten. Die Artillerie besteht aus 5 Regimentern Fußartillerie mit je 3 Brigaden, 1 für jeden Bezirk der Monarchie, außerdem 5 Brigaden schwere, 3 Brigaden reitende und 3 Brigaden Gebirgsartillerie, zusammen 26 Brigaden oder, wie sie jetzt genannt werden, Bataillone. Bei der reitenden Artillerie hat das Bataillon 2, bei der Gebirgs-und Fußartillerie 4 Batterien; insgesamt 92 Fußund 6 reitende Batterien mit 588 Feldgeschützen. Die Sappeure und Mineure bilden 1 Regiment von 1240 Mann. Die Reserve besteht aus einem Bataillon (Nr. 4) für jedes Infanterieregiment und einer Ersatzeskadron für jedes Kavallerieregiment. Die Gesamtstärke - wie sie auf dem Papier stand - betrug im Jahre 1851 103000 Mann; im Jahre 1843, als Espartero gestürzt wurde, erreichte sie nur 50000, aber Narväez vergrößerte sie einmal auf über 100000 Mann. Im Durchschnitt werden 90000 Mann unter Waffen das Höchste sein. Die Kolonialarmeen sind folgende: 1. Die Armee von Kuba: 16 Regimenter kampferprobte Infanterie, 4 Kompanien Freiwillige, 2 Regimenter Kavallerie, 2~Bataillone mit 4 Fußbatterien und 1 Bataillon mit 4 Batterien Gebirgsartillerie, 1 Bataillon reitende Artillerie mit 2 Batterien sowie 1 Bataillon Sappeure und Mineure. Außer diesen Linientruppen gibt es eine milicia disciplinada1 mit 4 Bataillonen und 4 Eska
1 Disziplinarmiliz (bestehend aus Strafabteilungen)
dronen sowie eine milicia urbana1 mit 8 Eskadronen, das sind zusammen 37 Bataillone, 20 Eskadronen und 84 Geschütze. Während der letzten Jahre wurde diese stehende kubanische Armee durch zahlreiche Truppen aus Spanien verstärkt, und wenn wir ihre ursprüngliche Stärke mit 16000 oder 18000 Mann annehmen, so werden jetzt vielleicht 25000 oder 28000 Mann in Kuba sein. Doch ist das lediglich eine Schätzung. 2. Die Armee von Portorico: 3 Bataillone kampferprobte Infanterie, 7 Bataillone Disziplinarmiliz, 2 Bataillone einheimische Freiwillige, 1 Eskadron dieser Freiwilligen und 4 Batterien Fußartillerie. Der vernachlässigte Zustand der meisten spanischen Kolonien erlaubt keine Schätzung der Stärke dieses Korps. 3. Die Philippinen haben 5 Regimenter Infanterie mit je 8 Kompanien; 1 Regiment Jäger von Luzon; 9 Fußbatterien, 1 reitende und 1 Gebirgsbatterie. 9 Abteilungen mit 5 Bataillonen einheimische Infanterie und andere Provinzialabteilungen, die vorher bestanden, wurden im Jahre 1851 aufgelöst. Die Armee wird durch das Los rekrutiert, und es ist erlaubt, Ersatzleute zu stellen. Jedes Jahr wird ein Kontingent von 25000 Mann ausgehoben, doch 1848 wurden drei Kontingente, das heißt 75000 Mann, einberufen. Die spanische Armee verdankt ihre jetzige Organisation vor allem Narväez, obwohl das Reglement Karls III. aus dem Jahre 1768 immer noch ihre Grundlage bildet. Narvaez hatte den Regimentern ihre alten Provinzialfahnen, die alle verschieden waren, weggenommen und die spanische Fahne in der Armee eingeführt! Auf dieselbe Weise hatte er die alte provinzielle Organisation zerstört, [die Annee] zentralisiert und die Einheit wiederhergestellt. Er wußte aus Erfahrung allzugut, daß in einer Armee, die beinahe nie bezahlt, sogar selten eingekleidet und verpflegt worden war, das Geld der Hauptangelpunkt ist, und deshalb versuchte er auch, eine größere Regelmäßigkeit in die Besoldung und finanzielle Verwaltung der Armee zu bringen. Ob er alles das erreichte, was ihm vorschwebte, ist unbekannt; aber jede Verbesserung, die von ihm in dieser Hinsicht durchgeführt wurde, ging unter der Verwaltung durch Sartorius und dessen Nachfolger schnell verloren. Der normale Zustand „keine Löhnung, keine Verpflegung, keine Bekleidung" wurde in seinem vollen Glanz wiederhergestellt, und die Soldaten liefen in Lumpen und ohne Schuhe herum, während die höheren und die Stabsoffiziere in Röcken einherstolzierten, die von Gold- und Silberlitzen strotzten, oder sogar Phantasieuniformen anlegten, die man in keinem Reglement finden konnte.
1 stadtische Miliz
Wie der Zustand dieser Armee vor 10 oder 12 Jahren war, beschreibt ein englischer Autor folgendermaßen12491: „Das Auftreten der spanischen Truppen ist im höchsten Grade unsoldatisch. Der Posten schlendert seine Runde auf und ab, und der Tschako fällt ihm beinahe vom Hinterkopf, das Gewehr nachlässig über die Schultern gehängt, singt er eine heitere Seguidilla1 mit der größten sans facon2 der Welt frei heraus. Ihm fehlen nicht selten ganze Uniformstücke, oder sein Regimentsrock und dessen untere Fortsetzung sind so hoffnungslos zerfetzt, daß der schieferfarbene Soldatenmantel selbst im schwülen Sommer als Hülle dienen muß; bei jedem Dritten lösen sich die Schuhe in ihre Bestandteile auf, und die nackten Zehen der Männer schauen hervor - so herrlich sieht in Spanien das vida militar3 aus."
Eine von Serrano erlassene Verordnung vom 9. September 1843 schreibt vor: „Alle Offiziere und Kommandeure der Armee haben sich künftig in der Öffentlichkeit in der Uniform ihres Regiments und mit dem dem Reglement entsprechenden Degen zu zeigen, wenn sie nicht in Zivilkleidern erscheinen. Alle Offiziere dürfen auch nur die entsprechenden Rangabzeichen tragen und keine anderen als die vorgeschriebenen und niemals wieder diese eigenmächtigen Auszeichnungen und den lächgrlichen Aufputz zur Schau stellen, mit dem sich einige auszuschmücken beliebten."
Soviel zu den Offizieren. Jetzt zu den Soldaten. „Brigadegeneral Cordova hat in Cadiz unter seinem Namen eine Geldsammlung begonnen, um einen Fonds zu schaffen, damit jedem der tapferen Soldaten des asturischen Regiments ein Paar Tuchhosen geschenkt werden kann!"
Diese finanzielle Unordnung erklärt, wie es möglich war,, daß die spanische Armee seit 1808 fast ununterbrochen rebelliert hat. Doch die wahren Ursachen liegen tiefer. Durch den langen und ohne Unterbrechung geführten Krieg mit Napoleon erlangten die verschiedenen Armeen und ihre Befehlshaber wirklichen politischen Einfluß, und das gab ihnen zunächst einen prätorianischen Zug. Aus der revolutionären Periode waren noch viele energische Männer in der Armee; die Einbeziehung der Guerillas in die regulären Streitkräfte verstärkte dieses Element sogar. So waren die Soldaten und die niedrigen Ränge durchaus noch von revolutionären Traditionen durchdrungen, während die Offiziere an ihren prätorianischen Ansprüchen festhielten. Unter diesen Umständen wurde der Aufstand 1819 bis 1823 regulär vorbereitet, und später, in den Jahren 1833 bis 1843[2503, brachte der Bürgerkrieg die Armee und ihre Führer erneut in den Vordergrund. Da die spanische Armee von
1 Tanzlied - 2 (ohne Umstände; hier:) Unbekümmertheit - 3 Leben des Soldaten
allen Parteien als Werkzeug benutzt worden war, wäre es nicht verwunderlich, würde sie selbst eine Zeitlang die Herrschaft übernehmen. „Die Spanier sind ein kriegerisches, aber kein soldatisches Volk", erklärte Abb£ de Pradt[251]. Von allen europäischen Nationen haben sicherlich sie die größte Abneigung gegen militärische Disziplin. Dennoch ist es möglich, daß die Nation, die mehr als hundert Jahre lang wegen ihrer Infanterie berühmt war, einmal wieder eine Armee haben wird, auf die sie stolz sein kann. Doch um das zu erreichen, muß nicht nur das militärische System, sondern mehr noch das öffentliche Leben reformiert werden.
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Karl Marx General Simpsons Abdankung Aus dem Parlamente
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 361 vom 6. August 1855] London, 3. August. Die vorgestrige „Morning Post" benachrichtigt das englische Publikum in sichtbar verlegener Phraseologie, daß General Simpson sein Kommando bald unter dem Vorwand geschwächter Gesundheit niederlegen und feinen Nachfolger erhalten wird. In andern Worten: die englische Armee soll unter französischen Oberbefehl gestellt werden. So würde das Ministerium die Verantwortlichkeit für die Kriegsführung von sich auf „unsern glorreichen und großen Alliierten" abwälzen. Das Parlament büßt den letzten Schein von Kontrolle ein. Zugleich wäre das unfehlbare Mittel entdeckt, die Allianz zwischen England und Frankreich in den gehässigsten Zwist der zwei Nationen zu verwandeln. Wir sehen dieselbe Meisterhandam Werk, unter deren allzu biderbem Druck die Entente cordiale 1839 zerbrach12521. Das Parlament endet seine Sitzung würdig - mit Skandalen. Erster Skandal: die Rücknahme der Bill für beschränkte Haftbarkeit in Privat(nicht Aktien-) Handelskompanien auf Geheiß der großen Kapitalisten, vor deren Stirnrunzeln selbst der olympische Palmerston zittert. Zweiter Skandal: Vertagung in infinitum der seit 4 Jahren durch beide Häuser des Parlaments irrwandernden Bills zur Regelung der irischen Pachtverhältnisse - feiges Kompromiß, worin das Unterhaus sich versteht, seine eigene Arbeit zurückzunehmen, das Kabinett, sein Wort zu brechen und das irische Viertel1241, die Frage für Ausbeutung auf den Hustings offenzuhalten. Schlußskandal: Major Reeds Motion, die das Kabinett verpflichten sollte, das Haus zusammenzurufen, im Falle der Frieden während seiner Ferien geschlossen würde. Reed ist ein Hanswurst, notorisch im Sold Palmerstons. Sein Zweck war, ein Vertrauensvotum des Hauses zu erschleichen durch seinen „mißtrauischen Antrag". Aber das Haus lachte seinen Antrag nieder, lachte Palmerston nieder und lachte sich selbst nieder. Eis ist auf der Stufe angelangt, wo die „Lache" die letzte Zuflucht der Verworfenheit bleibt, sich selbst zu verwerfen.
31 Man/Engels, Werke, Bd. 11
Karl Marx
Kommentar zu den Parlamentsverhandlungen
[„Neue Oder-Zeitung4* Nr.371 vom 1 I.August 1855] London, 8. August. Die Debatte über Indien im gestrigen Unterhause, veranlaßt durch Vernon Smiths (gegenwärtig Großmogul und Manu in einer Person) Finanzbericht über das britische Reich in Asien und durch Brights Antrag, diesen wichtigen Gegenstand künftig zu einer „debattierbaren" Zeit den Gemeinen vorzuführen - diese Debatte schieben wir einstweilen beiseite, da wir während der Parlamentsvertagung eine ausführliche Skizze ostindischer Verhältnisse zu geben gedenken. Den bevorstehenden Schluß der Parlamentssitzung dürfte Lord John Russell nicht herannahen lassen, ohne einen Versuch, aus seiner mißlichen Situation politisches Kapital zu schlagen. Er ist nicht mehr im Ministerium, er ist noch nicht in der Opposition - dies die mißliche Situation. In der ToryOpposition ist die Führerstelle besetzt, und Russell hat auf dieser Seite nichts zu finden. In der liberalen Opposition drängt sich Gladstone an die Spitze. Gladstone in seiner letzten von seinem Standpunkte aus musterhaften Rede bei Gelegenheit der türkischen Anleihe - plädierte geschickt den Frieden mit Rußland, indem er den Krieg nachwies als einen Krieg auf Kosten der Türkei und der ringenden Nationalitäten, besonders Italiens. Russell ahnt furchtbare Mißgeschicke während der Vertagung und darin Friedensgeschrei bei der Wiederversammlung des Parlaments. Er ahnt, daß der Friede auf liberale Vorwände hin erschrien werden muß, um so mehr, als die Tories sich in die Stellung der Kriegspartei par excellence verrannt haben. Italien - Vorwand zum Friedensschluß mit Rußland! Russell beneidet Gladstone um diesen Einfall, und da er ihn in dieser plausiblen Position nicht antizipieren kann, beschließt er, ihn zu absorbieren, indem er Gladstones Rede aus dem hohen Stil in den platten übersetzt. Der Umstand, daß er nicht mehr, wie Palmerston, im Ministerium und noch nicht, wie Gladstone, in der Opposition ist,
verspricht das Plagiat gewinnbringend zu machen. Russell erhob sich daher gestern abend und begann mit der Versicherung: „er wolle die Verantwortlichkeit des Ministeriums weder vermindern noch erschweren*4. Groß aber sei diese Verantwortlichkeit. Dieses Jahr allein seien 45000000 Pfd. St. für den Krieg votiert worden, und die Zeit der Rechenschaftsablegung über diese enorme Summe nahe heran. In der Ostsee habe die Flotte nichts getan und werde wahrscheinlich noch weniger tun. In dem Schwarzen Meer seien die Aussichten nicht versprechender. Österreichs veränderte Politik gestatte Rußland, seine Heere von Polen usw. nach der Krim zu wälzen. Auf der asiatischen Küste ständen der türkischen Armee Katastrophen bevor. Die Aussicht, eine Fremdenlegion ,yon 20000-30000 Mann dahin zum Ersatz zu senden, sei verschwunden. Er bedaure, daß seine Wiener Depeschen dem Parlament nicht vorgelegt wurden. Der türkische Gesandte habe ganz mit ihm übereingestimmt über die Zulässigkeit eines Friedens auf Grundlage der letzten österreichischen Vorlagen. Führe man den Krieg weiter gegen den Willen der Türkei, so handle es sich künftig nicht mehr um Garantien von Anleihen, sondern um Subsidien. Piemont habe sich den Westmächten angeschlossen, aber es verlange dafür auch mit Recht eine Änderung in den Zuständen Italiens. Rom sei von den Franzosen, der Kirchenstaat von den Österreichern besetzt, eine Besetzung, die die Despotie hier und in beiden Sizilien aufrechthalte und das italienische Volk hindere, dem Beispiele Spaniens zu folgen. Rußlands Besetzung der Donaufürstentümer sei Vorwand des jetzigen Krieges. Wie damit zu reimen die französisch-österreichische Besetzung Italiens? Die Unabhängigkeit des Papstes und damit das europäische Gleichgewicht sei gefährdet. Könne man sich nicht mit Österreich und Frankreich über Änderungen in der päpstlichen Regierungsform verständigen, die die Räumung des Kirchenstaates ermöglichen würden? Schließlich der gemeinplätzliche Rat: die Minister sollen keinen unehrenvollen Frieden schließen, aber auch keine Gelegenheit zu Friedensverhandlungen entschlüpfen lassen. Palmerston antwortete, „er sei nicht wie andere Leute, die die große Verantwortlichkeit übernähmen, einen Krieg zu erklären, und dann vor der Verantwortlichkeit zurückbebten, ihn zu führen. Solch ein Mann sei er nicht." (Er weiß in der Tat, was es mit der „Verantwortlichkeit" auf sich hat.) Die Friedensbedingungen hingen von Kriegsresultaten und die Kriegsresultate von allerlei Umständen, d.h. vom Zufall ab. (Der Zufall also ist verantwortlich für die Kriegsresultate, und die Kriegsresultate sind verantwortlich für die Friedensbedingungen.) Soviel er (Palmerston) wisse, stimme die Türkei ganz mit den Ansichten Frankreichs und Englands überein. Sei dem aber auch nicht so, so sei die Türkei bloß Mittel, nicht Zweck in dem Kampfe gegen
Rußland. Die „erleuchteten" Westmächte müßten besser wissen, was fromme, als die verfallende Ostmacht. (Ein trefflicher Kommentar dies zu der Kriegserklärung gegen Rußland, worin der Krieg als bloßer „Defensivkrieg" für die Türkei bezeichnet wird; zu der berüchtigten Wiener Note, die die „erleuchteten" Westmächte der Türkei aufdringen wollten usw.) Was Italien betreffe, so sei das ein delikater Punkt. In Neapel herrsche ein scheußlicher Zustand, aber warum? Weil es der Alliierte Rußlands sei, eines despotischen Staats. Was den Zustand des von Österreich und Frankreich (nicht despotischen Staaten?) besetzten Italiens betreffe, so „stimme die dortige Regierung zwar nicht mit den Gefühlen des Volkes überein", aber die Besatzung sei nötig, um „Ordnung" zu erhalten. Übrigens habe Frankreich die Truppenzahl in Rom vermindert und Österreich Toskana ganz geräumt. Schließlich gratulierte Palmerston zur Allianz mit Frankreich, die nun so innig sei, daß diesseits und jenseits des Kanals eigentlich nur „ein Kabinett" regiere. Und eben hatte er noch Neapel denunziert wegen seiner Allianz mit einem despotischen Staat! Und nun gratuliert er England dazu! Der Witz in Palmerstons Rede war, daß er mit Kriegstiraden eine Sitzung zu schließen verstand, die er von Kriegstaten so frei zu halten wußte. Russell kam es natürlich nicht darauf an, jetzt Italien zum falschen Vorwand des Friedens zu machen, wie er nach seiner Rückkehr von Wien Polen und Ungarn zum falschen Vorwand des Kriegs gemacht hatte. Er genierte sich nicht, zu vergessen, daß er als Premier 1847-1852 dem Palmerston erlaubt hatte, erst Italien durch falsche Versprechen aufrütteln zu helfen, um es dann an Bonaparte und König Ferdinand, an den Papst und den Kaiser zu überlassen. Das kümmerte ihn nicht. Was ihn kümmerte, war, den „italienischen Vorwand" dem Gladstone zu entreißen und sich anzueignen.
Karl Marx
Die Streitkräfte gegen Rußland
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr.375 vom M.August 18551 London, 11. August. Die Heerscharen, die die Alliierten in diesem Augenblick gegen Rußland entbieten, beschränken sich, außer ihren eigenen Truppen: 1. auf ein kleines piemontesisches Hilfskorps von 15000 Mann - ein Korps, das Piemont durch die gemeinschaftlichen Drohungen Englands, Frankreichs und Österreichs erpreßt wurde. Dieser Aderlaß Piemonts war eine der Bedingungen, unter denen Osterreich seinen Beitritt zum „Vertrag vom 2.Dezember"[7] verkaufte; 2. die wenig Tausende zählende Fremdenlegion - eine Olla podrida1 von abendländischen Söldnern, die tropfweise, verstohlen, polizeiwidrig ihren respektiven Vaterländern abgelockt werden; 3. eine in der Entstehung begriffene italienische Legion von 4000 bis 5000 Mann; 4. eine als Projekt existierende polnische Legion; 5. endlich, in weiter Perspektive, ein spanisches Hilfskorps, um die „blasse Finanznot" zu repräsentieren. Diese bunte Musterkarte von Freischaren und Diminutivarmeen ist die Karte des Europas, das England und Frankreich in diesem Augenblick in ihrem Gefolge führen. Kann man eine vollständigere Karikatur der Völkerarmee entwerfen, die der erste Napoleon gegen Rußland wälzte?
1 (eigentlich: fauler Topf; hier:) Mischmasch
Karl Marx
Polenmeeting
[„Neue Oder-Zeitung* Nr. 379 vom 16. August 1855] London, 13. August. Die wiederholten ärgerlichen Ausfälle der Regierungsblätter auf das große Polenmeeting, das vergangenen Mittwoch in St. Martins Hall abgehalten wurde12533, machen einige Randglossen nötig. Die Initiative des Meetings ging offenbar vom Ministerium selbst aus. Vorgeschoben war die „Literarische Gesellschaft der Freunde Polens"12541, eine Gesellschaft, gebildet aus Anhängern Czartoryskis einerseits und der polenfreundlichen englischen Aristokratie andererseits. Seit ihrem Entstehen war diese Gesellschaft ein blindes Werkzeug in der Hand Palmerstons, der sie vermittelst des kürzlich verstorbenen Lord Dudley Stuart handhabte und kontrollierte. Die Polenadressen und Deputationen, die sie jährlich Palmerston zusandte, waren eins der großen Mittel, seinen „antirussischen" Ruf am Leben zu erhalten. Die Anhänger Czartoryskis zogen ihrerseits aus dieser Verbindung wichtige Vorteile: Als die einzig respektablen, sozusagen „offiziellen" Repräsentanten der polnischen Auswanderung zu figurieren, die demokratische Partei der Emigration niederzuhalten und über die bedeutenden materiellen Hilfsmittel der Gesellschaft als Werbegelder für ihre eigne Partei zu verfügen. Heftig und langwährend ist der Zwist zwischen der Literarischen Gesellschaft und der „Zentralisation"12551 der demokratischen Polengesellschaft. Im Jahre 1839 hielt letztere ein großes öffentliches Meeting zu London, worin sie die Intrigen der „Literarischen" Gesellschaft enthüllte, die historische Vergangenheit der Czartoryskis entrollte (dies geschah von Ostrowski, Verfasser einer englisch geschriebenen Geschichte Polens[2561) und ihren Gegensatz zu den diplomatisch-aristokratischen „Wiederherstellern" Polens laut kundgab. Von diesem Augenblicke war die usurpierte Stellung der „Literarischen" Gesellschaft erschüttert. Im Vorbeigehen sei noch bemerkt, daß die Ereignisse der Jahre 1846 und 1848/184912571 ein drittes
Element der Polenemigration hinzufügten, eine sozialistische Fraktion, die indes mit der demokratischen gemeinschaftlich der Czartoryski-Partei entgegenwirkt. Der Zweck des von der Regierung veranlaßten Meetings war ein dreifacher: Bildung einer Polenlegion, um sich in der Krim eines Teils des „polnischen Auslandes" zu entledigen; Wiederauffrischung von Palmerstons Popularität; endlich Überlieferung jeder etwaigen Polenbewegung in seine und Bonapartes Hände. Die Regierungsblätter behaupten, eine tiefgelegte Konspiration, von russischen Agenten ausgehend, habe den Zweck des Meetings vereitelt. Nichts lächerlicher als diese Behauptung. Die Mehrzahl der Audienz in St. Martins Hall bestand aus Londoner Chartisten. Das regierungsfeindliche Amendement* wurde von einem Urquhartisten gestellt und von einem Urquhartisten unterstützt - von Collett und Hart.Die im Saale verteilten Druckzettel des Inhalts:
„Das Meeting sei von englischen Aristokraten berufen, die nur das alte britische Regierungssystem zu halten strebten usw.", „Polen verdamme jede Allianz mit den jetzigen Machthabern Europas, wolle von keiner der bestehenden Regierungen hergestellt sein, nicht zum Werkzeug diplomatischer Intrigen herabsinken usw.44
Diese Druckzettel waren unterzeichnet vom Präsidenten und Sekretär des „polnisch-demokratischen Komitees". Bedenkt man nun, daß zu London Chartisten, Urquhartisten und die eigentlich „demokratisch"-polnische Emigration, alle drei zueinander in nichts weniger, als freundschaftlichen Beziehungen stehen, so fällt jeder Verdacht einer „Verschwörung" weg. Die lärmenden Unterbrechungen des Meetings wurden ausschließlich hervorgerufen durch des Vorsitzenden, Lord Harringtons, unparlamentarische Weigerung, Colletts Amendement zu verlesen und zur Abstimmung vorzuschlagen. Sie wurden vermehrt durch den Einfall des Obersten Szulszewski, des Sekretärs der „Literarischen Gesellschaft der Polenfreunde", nach einem Konstabier zu rufen, um Collett verhaften zu lassen. Der Tumult erreichte
* Colletts vom Meeting adoptiertes Amendement lautete wörtlich: »Daß dies Meeting, herzlich die Wiederherstellung der polnischen Nationalität wünschend, nicht vergessen kann, daß die Zerstörung dieser Nationalität hauptsächlich dem perfiden Betragen Palmerstons von 1830-1846 geschuldet ist; daß, solange Palmerston ein Diener der Krone bleibt, jeder Vorschlag für die Herstellung Polens bloß Falle und Betrug sein kann. Daß die Wahrheit dieser Behauptung auch dadurch bewiesen, daß er den Krieg so führt, um Rußland möglichst wenig zu beschädigen, während die von ihm vorgeschlagenen Friedensbedingungen die Integrität und Unabhängigkeit der Türkei völlig vernichten würden.4*
natürlich seine Höhe, als Lord Harrington, Sir Robert Peel und ihre Freunde von der Plattform flohen und den Platz räumten. Sobald George Thompson an Harringtons Stelle zum Präsidenten ernannt, stellte sich die Ruhe augenblicklich wieder her. Die Exemplare der regierenden Klasse Englands, die auf diesem Polenmeeting hervorragten, waren keineswegs darauf berechnet, sonderlichen Respekt für das Patriziat einzuflößen. Graf Harrington ist vielleicht ein sehr guter Mann, aber er ist zweifelsohne ein sehr schlechter Redner. Es war unmöglich, einer peinlicheren Schaustellung beizuwohnen. Nur mit der höchsten Mühe vermochte Seine Lordschaft zwei zusammenhängende Worte herauszustammeln. Bis zu diesem Augenblick hat er nicht eine einzige Sentenz seiner Rede beendigt. Das ist unterdes für ihn geschehen - durch die Stenographen. Seine Lordschaft ist Militär und zweifelsohne tapfer, aber von seiner Führung des Polenmeetings zu schließen, zu allem mehr geschaffen als zum Führer. Als Redner ist Lord Ebrington, der Geburtshelfer der Sonntagsbill, dem Grafen Harrington nur wenig überlegen. Seine Physiognomie verrät Starrsinn, seine Schädelform ist die eines Mauerbrechers. Er hat ein unstreitiges Verdienst. Er kann nicht durch Argumente geschlagen werden. Napoleon erklärte einmal, die Engländer wüßten nicht, wann sie geschlagen seien. In dieser Hinsicht ist Ebrington ein Musterengländer. Nach den Lords kamen die Baronets. Lord Ebrington brachte die Regierungsmotion zur Wiederherstellung Polens vor; Sir Robert Peel folgte ihm und sprach als sein Sekundant. In vieler Rücksicht kein größerer Kontrast denkbar als der zwischen dem „Mitglied für Tamworth" (Peel) und dem „Mitglied für Marylebone" (Ebrington). Der erstere ist ein loser und natürlicher Humbug, der letztere ein verkünstelter und puritanischer Hasenfuß. Der eine amüsiert, der andere ekelt an. Sir Robert Peel macht den Eindruck eines in den Adelstand erhobenen Weinreisenden, Lord Ebrington eines zum Protestantismus bekehrten Inquisitors. Tony Lumpkins und Beau1 Brummell in eine Person zusammengerollt würden ungefähr eine Ungereimtheit ergeben, wie sie sich in der Person, Tracht und Manier Peels zur Schau stellt. Es ist ein außerordentliches Gemisch von Clown und Dandy. Palmerston ist sehr parteilich für die Tamworth-Sonderbarkeit. Er findet sie nutzbar. Wenn er wissen will, nach welcher Seite der Volkswind bläst, hißt er Sir Robert Peel als Wetterfahne auf. Als er zu wissen verlangte, ob die öffentliche Meinung Englands die Ausweisung Victor Hugos usw. sanktionieren werde, ließ er Sir Robert Peel sprechen, die Flüchtlinge denunzierend und Bonaparte
1 Stutzer
apologisierend[258]. So wieder in bezug auf Polen. Er vernutzt ihn als „Fühlhorn". Für diese nicht überwürdevolle Rolle ist Peel außerordentlich geeignet. Er ist, was die Engländer „a chartered libertine" nennen, ein patentierter Wildfang, ein privilegierter Sonderling, für dessen Ein- und Ausfälle, Kreuzund Querzüge, Worte und Taten kein Ministerium verantwortlich gehalten wird und keine Partei. Sir Robert kam zum Polenmeeting gepolstert und, wie es heißt, geschminkt in der artistischen Manier. Er schien geschnürt, trug eine hochrote Rose im Knopfloch, war parfümiert wie eine Putzmacherin und schwenkte in seiner Rechten einen ungeheuren Regenschirm, womit er den Takt zu seiner Rede schlug. Durch einen höchst ironischen Zufall folgte den Lords und Baronets direkt auf dem Fuß nach Herr Tite, Ex-Vizepräsident der Administrativreform-Assoziation[140 ]. Seit er durch den Einfluß dieser Assoziation zum Solon von Bath ernannt worden, hat er bekanntlich seine parlamentarische Laufbahn damit eröffnet, gegen Scullys Antrag für ein Stück Administrativreform und für Palmerstons türkische Anleihen zu stimmen, während er bei der Abstimmung über Roebucks Antrag mit großer Mäßigung sich des Abstimmens enthielt. Die Lords und Baronets schienen kichernd auf ihn hinzuweisen: Seht da unsern Ersatzmann! Es ist unnötig, Herrn Tite näher zu schildern. Shakespeare tat es, als er den unsterblichen Shallow erfand, den Falstaff vergleicht mit einem der Männlein, die man beim Nachtisch aus Käserinden schnitzelt[259]. Im Gegensatz zu all diesen Herren machte Hart, ein unbekannter junger Plebejer, gleich mit den ersten Worten den Eindruck, daß er ein Mann sei, berufen Massen hinzureißen und zu beherrschen. Mein begreift jetzt den Verdruß der Regierung über das Polenmeeting. Es war eine Niederlage nicht nur für Palmerston, sondern noch mehr für die Klasse, die er vertritt.
Karl Marx
Zur Kritik der österreichischen Politik im Krimfeldzuge
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.383 vom 18. August 1855] London, 15. August. Bratiano richtete neulich einen Brief an die „Daily News", worin er die Leiden der Bewohner der Donaufürstentümer unter dem Druck der österreichischen Okkupationsarmee schildert, auf die zweideutige Haltung der französischen und englischen Konsuls anspielt, und dann die Frage stellte: „Handelt Österreich in der Rolle eines Alliierten oder auch nur. eines Neutralen, wenn es eine Armee von 80000 Mann in den Fürstentümern unterhält, vermittelst deren es, wie in offiziellen Depeschen bewiesen, den Einmarsch der Türken in Bessarabien und die Bildung einer rumänischen Armee verhindert, die tätigen Anteil an dem Krieg genommen haben würde, während es von Galizien 200000 Mann zurückzieht und so Rußland befähigt, eine gleiche Anzahl nach der Krim zu senden?"
Österreichs zweideutige Stellung begann von dem Augenblick, wo es, weder neutral, noch alliiert, sich zum Vermittler aufwarf. Daß Englandes zum Teil in diese Rolle hineindrängte, scheint folgender Auszug aus einer an das Wiener Kabinett gerichteten Depesche Lord Ciarendons, datiert vom 14. Juni 1853, zu beweisen: „Wenn die russische Armee die Fürstentümer überschritte und andere Provinzen der Türkei invadiert würden, stände wahrscheinlich eine allgemeine Erhebung der christlichen Bevölkerung bevor, nicht zugunsten Rußlands, noch zur Unterstützung des Sultans, sondern für ihre eigene Unabhängigkeit; es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß eine solche Revolte sich bald über die Österreichischen Donauprovinzen erstrecken würde; aber es ist Sache der Österreichischen Regierung, die Wirkung zu beurteilen, die solche Ereignisse in Ungarn und Italien hervorrufen möchten, und die Ermutigung, so gegeben den europäischen Unruhstiftern, die Österreich zu fürchten Grund hat, und die eben jetzt den Moment für die Verwirklichung ihrer Pläne nahe zu glauben scheinen. Es sind diese Rücksichten, die die Regierung Ihrer Majestät wünschen lassen, sich mit
Österreich für einen Zweck zu vereinen, der so wesentlich für die besten Interessen der Gesellschaft ist, und mit ihm irgendeine Methode zu entdecken,, wodurch die gerechten Ansprüche Rußlands mit den souveränen Rechten des Sultans versöhnt werden können/ Eine andere Frage in bezug auf die österreichische Politik bleibt am Schlüsse der Parlamentssitzung ebenso unbeantwortet wie am Beginn derselben. Welche Stellung nahm Österreich zur Krimexpedition ein? Am 23. Juli dieses Jahres fragte Disraeli den Lord John Russell, auf welche Autorität hin er erklärt habe, daß „eine der Hauptursachen der Krimexpedition Österreichs Weigerung war, den Pruth zu überschreiten". Lord John Russell konnte sich nicht erinnern - d. h. er sagte, „seine Autorität sei eine unbestimmte Erinnerung, eine Erinnerung im allgemeinen". Disraeli richtete dann dieselbe Frage an Palmerston, der „keine derartige Fragen beantworten wollte, die bruchstückweis aus einer langen Reihe von Verhandlungen zwischen Ihrer Majestät Regierung und der Regierung eines der Souveräne, der zu einem gewissen Grade ein Alliierter Ihrer Majestät sei, herausgerissen wären14. Palmerston, mit dieser scheinbar ausweichenden Antwort, bestätigte offenbar Russells Behauptimg nur indirekt, Delikatesse für den „Alliierten zu einem gewissen Grade" vorschützend. Begeben wir uns jetzt aus dem Hause der Gemeinen in das Haus der Lords. Am 26.Juni dieses Jahres hielt Lord Lyndhurst seine Philippika gegen Österreich:
„Im Beginn des Juni44 (1854) »hätte Österreich sich entschlossen, Rußland zur Räumung der Fürstentümer aufzufordern. Die Aufforderung sei in sehr starken Ausdrücken erfolgt, die eine Art von Drohung einschlössen, zur Waffengewalt zu greifen, wenn der Forderung kein Genüge geschehe.44 Nach einigen historischen Bemerkungen fährt Lyndhurst fort:
»Nun wohl, setzte Österreich unmittelbar irgendeinen Angriff auf Rußland ins Werk? Versuchte es, in die Fürstentümer einzurücken? Weit entfernt. Es enthielt sich jeder Handlung mehre Wochen lang, und erst nachdem die Belagerung von Silistria aufgehoben und die russische Armee im Rückzug begriffen war, nachdem Rußland selbst erklärt hatte, es werde innerhalb einer bestimmten Zeit die Fürstentümer räumen und sich hinter den Pruth zurückziehen - erst dann erinnerte sich Österreich wieder seiner Verpflichtung.44 In Antwort auf diese Rede erklärte Lord Clarendon: „Als Österreich seine sukzessiven Verpflichtungen gegen England und Frankreich übernahm und seine ausgedehnten und kostspieligen Kriegsvorbereitungen traf, als es
ferner dringend vorschlug, daß Militärkommissare von Frankreich und England in das Hauptquartier des Generals Heß gesandt würden, beabsichtigte und erwartete es zweifelsohne Krieg. Aber es erwartete ebenfalls, daß, lange bevor die Jahreszeit für den Beginn von Kriegsoperationen eingetroffen, die alliierte Armee entscheidende Siege in der Krim erfochten haben, daß sie frei und fähig sein würde, andere Operationen im Bunde mit seinen eigenen Streitkräften zu unternehmen. Das war unglücklicherweise nicht der Fall, und hätte Österreich auf unsere Einladung den Krieg erklärt, so würde es ihn aller Wahrscheinlichkeit nach allein zu führen gehabt haben." Noch befremdlicher ist die spätere Erklärung EUenboroughs im Hause der Lords, die bis zu diesem Augenblicke von keinem Minister bestritten worden ist. „Bevor die Kriegsexpedition absegelte, machte Österreich den Vorschlag, sich mit den alliierten Mächten über künftige Kriegsoperationen zu beraten. Die Alliierten jedoch, nach vorgefaßten Meinungen handelnd, entsandten die Expedition, und nun erklärte Österreich sofort, es könne isoliert die Russen nicht angreifen und die Krimexpedition zwinge es, eine andere Verfahrungsart einzuschlagen. In einer späteren Periode, gerade beim Beginn der Wiener Konferenz^17', als es von der höchsten Wichtigkeit war, daß Österreich mit uns handeln sollte - zu dieser Zeit, stets noch ausschließlich beschäftigt mit dem Erfolg neuer Operationen in der Krim, entzogt ihr aus der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs 50000 gute türkische Truppen und beraubtet es so des einzigen Beistandes, worauf es im Falle einer Kriegsexpedition gegen Rußland rechnen konnte. Es ist daher klar, meine Lords, wie auch aus den neulichen Erklärungen des Grafen Clarendon folgt, daß es eure übelberatene Krimexpedition war, die Österreichs Politik lähmte und es in seine jetzige schwierige Position drängte. Ehe die Expedition nach der Krim segelte, warnte ich die Regierung. Ich warnte sie wegen der Wirkung, die diese Expedition auf Österreichs Politik hervorbringen müsse."
Hier denn haben wir direkten Widerspruch zwischen der Erklärung Ciarendons, des Ministers des Auswärtigen, zwischen der Erklärung Clarendons und der Erklärung Lord John Russells und der Erklärung Lord EUenboroughs. Russell sagt: Die Krimexpedition segelte ab, weil Österreich verweigerte, den Pruth zu überschreiten, d. h. Partei gegen Rußland, die Waffen in der Hand, zu ergreifen. Nein, sagt Clarendon. Österreich konnte nicht Partei gegen Rußland ergreifen, weil die Krimexpedition nicht nach Wunsch ausfiel. Endlich Lord EHenborough: Die Krimexpedition wurde gegen den Willen Österreichs unternommen und zwang es, vom Kriege mit Rußland abzustehen. Diese Widersprüche - wie man sie immer deuten mag - beweisen jedenfalls, daß die Zweideutigkeit nicht bloß auf österreichischer Seite stand.
Karl Marx/Friedrich Engels
Der englisch-französische Krieg gegen Rußland12601
I
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 385 vom 20. August 1855] London, 17. August. Der englisch-französische Krieg gegen Rußland wird unstreitig stets in der Kriegsgeschichte als „der unbegreifliche Krieg" figurieren. Großrederei verbunden mit winzigster Aktion, enorme Vorbereitungen und bedeutungslose Resultate, Vorsicht, streifend an Ängstlichkeit» gefolgt von Tollkühnheit, wie sie aus Unwissenheit entspringt, mehr als Mittelmäßigkeit in den Generalen gepaart mit mehr als Tapferkeit in den Truppen, gleichsam absichtliche Niederlagen auf dem Fuß von Siegen, die durch Mißverständnisse gewonnen, Armeen ruiniert durch Nachlässigkeit und wieder gerettet durch sonderbarsten Zufall - ein großes Ensemble von Widersprüchen und Inkonsequenzen. Und dies zeichnet die Russen beinahe ebensosehr wie ihre Feinde. Wenn die Engländer eine Musterarmee zerstört haben durch Mißverwaltung von Zivilbeamten und träge Unfähigkeit der Offiziere; wenn die Franzosen sich in nutzlose Gefahren begeben und enorme Verluste zu ertragen haben, nur weil Louis-Napoleon den Krieg von Paris aus zu leiten affektierte, so haben die Russen ähnliche Verluste erlitten infolge von Mißverwaltung und törichter, aber peremtorischer Befehle von Petersburg. Das militärische Talent des Kaisers Nikolaus ist seit dem Türkenkriege 1828/29 selbst von seinen servilsten Lobrednern sorglichst „verschwiegen" worden. Wenn die Russen Todtieben aufzuweisen haben, der kein Russe ist, so haben sie andererseits Gortschakow und [andere]... ows, die in keiner Hinsicht den S[ain]t-Arnauds und Raglans an Unfähigkeit nachstehn. Man sollte denken, daß mindestens jetzt, wo so viele Köpfe beschäftigt sind, plausible Pläne für Angriff und Verteidigung zu entwerfen, mit solchen täglich anwachsenden Massen von Truppen und Material, irgendeine über^ wältigende Idee zur Geburt kommen müsse. Aber nichts der Art. Der Krieg kriecht voran, aber seine größere Dauer hilft nur den Raum ausdehnen.
worauf er geführt wird. Je mehr neue Kriegstheater eröffnet werden, desto weniger geschieht auf jedem derselben. Wir haben nun ihrer sechs: das Weiße Meer, die Ostsee, die Donau, die Krim, den Kaukasus und Armenien. Was auf diesem erstaunlichen Flächenraum geschieht, läßt sich auf dem Raum einer Spalte sagen. Vom Weißen Meer sprechen die Anglo-Franzosen weislich gar nicht. Sie haben hier nur zwei mögliche militärische Zwecke: den Küsten- und sonstigen Handel der Russen in diesen Gewässern zu verhindern und womöglich Archangelsk zu nehmen. Das erstere ist versucht worden, aber nur teilweise; die alliierten Schwadronen, sowohl vergangenes Jahr als dieses, kamen stets zu spät an und segelten dann zu früh ab. Der zweite Gegenstand - die Wegnahme von Archangelsk—ist nie in Angriff genommen worden. Statt diese ihre eigentliche Aufgabe zu verfolgen, hat sich die Blockadeschwadron zerstreut mit liederlichen Attacken auf russische und lappische Dörfer und der Zerstörung der kleinen Habe dürftiger Fischer. Dies schmähliche Verfahren wird von englischen Korrespondenten entschuldigt mit der verdrießlichen Gereiztheit einer Schwadron, die sich unfähig fühle, etwas Ernsthaftes zu tun! Welche Verteidigung! An der Donau geschieht nichts. Das Delta dieses Flusses wird nicht einmal gesäubert von den Räubern, die es unsicher machen. Österreich hält den Schlüssel zum Tore, der von dieser Seite nach Rußland führt, und es scheint entschlossen, ihn festzuhalten. Im Kaukasus ist alles still. Die furchtbaren Zirkassier, gleich allen wilden und unabhängigen Bergbewohnern, scheinen vollständig befriedigt mit dem Rückzug der russischen mobilen Kolonne von ihren Tälern und kein Verlangen zu haben, in die Ebene herabzusteigen, außer für Plünderungszüge. Sie wissen nur auf ihrem eigenen Grund und Boden zu kämpfen, und zudem scheint die Aussicht auf Annexation an die Türkei sie keineswegs zu begeistern. In Asien erscheint die Türkei, wie sie wesentlich ist - ihre Armee spiegelt hier ganz den verfallenden Zustand des Reichs ab. Es war nötig, den fränkischen Giaur zu Hilfe zu rufen; aber die Franken konnten hier nichts tun, außer Feldwerke aufwerfen. Alle ihre Versuche, die Truppen zu zivilisierter Kriegsart zu zwingen, scheiterten durchaus. Die Russen haben Kars eingeschlossen und scheinen vorbereitet, es regelmäßig anzugreifen. Es ist schwer, eine Chance des Entsatzes für die Stadt zu entdecken, es sei denn, daß Omer Pascha mit 20000 Mann bei Batum lande und den Russen in die Flanke falle. Unbegreiflich bleibt es und keineswegs schmeichelhaft für die Russen, daß sie so zögernd und vorsichtig einem so schlecht disziplinierten Feind gegenüber agiert haben, während 20000-30000 gute Truppen zu ihrer
eigenen Verfügung standen. Welche Erfolge immer sie auf diesem Kriegstheater davontragen, Resultat kann höchstens die Einnahme von Kars und Erzerum sein, denn ein Marsch auf Konstantinopel durch Kleinasien ist ganz außer Frage. Der Krieg in Asien hat daher einstweilen ein mehr lokales Interesse, und da es kaum möglich, bei der Ungenauigkeit der existierenden Karten, von der Ferne ein richtiges taktisches oder strategisches Urteil zu fällen, gehen wir nicht näher darauf ein. Bleiben die zwei Hauptkriegstheater, die Krim und die Ostsee.
II
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.387 vom 21 .August 1855] London, 18. August. In der Krim schleppt die Belagerung sich schlaftrunken weiter. Während des ganzen Monats Juli haben die Franzosen und Engländer an ihren neuen Avancen gegen den Redan und Malachow gearbeitet, und obgleich wir fortwährend vernahmen, daß sie „ganz dicht" an die Russen herangerückt, lernen wir jetzt, daß am 4. August der Kopf der Sappe dem russischen Hauptgraben nicht näher war als 115 Metres, und vielleicht nicht einmal so nahe. Es ist sicher genugtuend, Heißsporn Pelissier zum Bekenntnis getrieben zu sehen, daß sein „System der Stürme" fehlgeschlagen, und daß reguläre Belagerungswerke seinen Kolonnen die Bahn brechen müssen. Nichtsdestoweniger bleibt es eine eigentümliche Kriegsart, 200000 Mann ruhig in ihren Zelten liegen und in Erwartung auf Vollendung der Trancheen einstweilen an Cholera und Fieber sterben zu lassen. Wenn die Tschornaja nicht überschreitbar ist, in Anbetracht der jenseits liegenden uneinnehmbaren russischen Position - wie die Pariser Blätter behaupten könnte eine Expedition nach Eupatoria zur See und ein Versuch, die Russen auf dieser Seite ins freie Feld zu zwingen und ihre reale Stärke und den Stand ihrer Hilfsmittel auszufinden, immerhin einiges Ersprießliches bewirken. Wie es jetzt steht, sind die türkischen, sardinischen und zur Hälfte die französischen und englischen Armeen reduziert auf die Rolle passiver Zuschauer. Ein großer Teil davon könnte daher zu Diversionen verwandt werden. Die einzigen Diversionen aber, von denen wir erfahren, werden in Astley's Amphitheater, in Surrey Gardens und Cremorne Gardens aufgeführt, wo die Russen jeden Abend, unter dem Beifallssturm der patriotischen Cockneys1, entsetzliche Schlappen erleben.
1 ein Spottname der Londoner
Die Russen müssen in diesem Augenblicke ihre sämtlichen Verstärkungen erhalten und, für die nächstkommende Zeit, das Maximum ihrer Stärke erreicht haben. Die Engländer entsenden einige Regimenter mehr, die Franzosen haben 10000-15000 Mann expediert, mehr folgen nach, und alles zusammen sollen 50000-60000 Mann frische Truppen den alliierten Streitkräften in der Krim zugefügt werden. Außerdem hat die französische Regierung eine große Zahl von Flußdampfschiffen registriert oder angekauft (verschieden angegeben von 50 zu 100), die alle zu einer Expedition im Schwarzen Meere verwandt werden sollen. Ob sie für das Asowsche Meer bestimmt sind oder für die Einfahrt in Dnepr und Bug, wo Otschakow, Kinburn, Cherson und Nikolajew die Angriffsgegenstände bieten würden, bleibt zu sehn. Wir haben früher darauf vorbereitet, daß es gegen Mitte August zu blutigen Schlägereien kommen werde, da um diese Zeit die Russen nach Empfang der Verstärkungen wieder die Initiative ergreifen würden.1 Sie haben in der Tat, unter General Liprandi, einen Ausfall auf die an der Tschornaja stehenden Franzosen und Sardinier gemacht und sind mit großem Verlust zurückgeschlagen worden. Der Verlust der Alliierten ist nicht angegeben und muß daher sehr bedeutend gewesen sein. Es bedarf mehr als telegraphischer Nachrichten, um näher auf diese Affäre einzugehn. In der Ostsee endlich ist „ein großer Schlag geführt worden". A great blow has been Struck! Sieh die englische Presse. Bombardement von Sweaborg! Zerstörung von Sweaborg! Alle Erd- und andere Werke liegen in Trümmern! In der Tat, Sweaborg hat aufgehört zu existieren! Glorreicher Triumph der Alliierten! Die Flotte befindet sich in einem unbeschreiblichen Zustand von Enthusiasmus! Und nun betrachte man die Tatsache selbst. Die alliierten Flotten, 6 Linienschiffe, 4 oder 5 große Fregatten (blockships) und ungefähr 30 Mörserschiffe und Kanonenboote segelten am 7. August von Reval nach Sweaborg. Am 8. nahmen sie ihre Positionen ein. Die niedrigergehenden Geschwader passierten die Sandbänke und Felsen westlich von der Festung, wo größere Schiffe nicht passieren können, und stellten sich, wie es scheint, in weiter Schußferne von den Inseln auf, worauf Sweaborg liegt. Die großen Schiffe blieben außerhalb und, soweit wir urteilen können, außer dem Schußrayon der Festungswerke. Dann eröffneten die Kanonenboote und Mörserschiffe ihr Feuer. Direktes Feuer scheint nicht versucht worden zu sein, sondern bloß Bombenwerfen in der höchsten Richtung, die die Kanonen zuließen. 45 Stunden währte das Bombardement. Ein gewisser Schaden ward angerichtet, den es jedoch unmöglich ist zu schätzen ohne detaillierte Berichte
1 Siehe vorl. Band, S. 373/374
von beiden Seiten. Das Arsenal und verschiedene Pulvermagazine (offenbar kleinere) wurden zerstört. Die „Stadt" Sweaborg (soviel wir wissen nur ein paar Häuser, bewohnt, von Leuten, die an der Flotte oder den Festungswerken beschäftigt) ward niedergebrannt. Der den Befestigungen selbst zugefügte Schaden kann nur unbedeutend sein, denn die Flotten, wie beide Admirale erklären, zählten kernen einzigen Toten, nur einige wenige Verwundete und gar keinen Verlust in ihrem Material. Bester Beweis, daß sie sich auf der sichern Seite hielten, und da dies der Fall, konnten sie zwar bombardieren, aber nicht durch direktes Feuer wirken, wodurch allein Festungswerke zerstört werden können. Dundas, bei weitem anständiger und gehaltener in seiner Depesche als der französische Admiral (wenigstens nach ihrem Wortlaut im „Moniteur", der vielleicht zu Paris koloriert worden) gesteht, daß der zugefügte Schaden sich von den 7 Inseln, die Sweaborg bilden, auf die 3 beschränkt, die westlich vom Haupteingangskanal zur Bucht von Helsingfors gelegen sind. Kein Angriff auf den Haupteingang scheint auch nur versucht worden zu sein. Die großen Schiffe scheinen untätig zugeschaut zu haben,und die entscheidende Tat in einer solchen Attacke, das Landen von Truppen zur Besitzergreifung und Zerstörung der Werke, kam gar nicht in Frage. So fällt der angerichtete Schaden ausschließlich auf Vorräte und Magazine, d. h. auf leicht wiederersetzbare Dinge. Wenn die Russen Zeit und Mittel anspannen, kann Sweaborg sich in 3 Wochen in so gutem Zustand befinden wie je zuvor. Militärisch zu sprechen, hat es gar nicht gelitten, und die ganze Geschichte beläuft sich auf einen Akt, dessen materielle Resultate kaum seine Produktionskosten wert sind und der nur unternommen wurde, teils weil die baltische Flotte irgend etwas getan haben muß, bevor sie heimkehrt, teils weil Palmerston die Parlamentssession mit einem Feuerwerk schließen wollte. Leider ereignete es sich für diesen Zweck 24 Stunden zu spät. Das ist die glorreiche Zerstörung Sweaborgs durch die alliierten Flotten. Wir kommen auf diesen Gegenstand zurück, sobald detaillierte Berichte vorliegen.
Karl Marx
Über die Ereignisse auf den Kriegsschauplätzen
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.395 vom 25. August 1855] London, 22.August. Die Berichte der Admirale Penaud und Dundas bestätigen das Urteil, das wir über die „glorreiche Zerstörung Sweaborgs, des Gibraltar des Nordens*4 („Times"-Terminologie) gefällt haben. Heute lesen wir denn auch in einem Londoner Tagesblatt:
„Derart ist das große Bombardement von Sweaborg beschaffen, daß nur davon gesagt werden kann, daß dem Feinde in der Ausbreitung des Brandes möglicherweise bedeutender Schaden erwachsen ist. Es scheint indes nicht, daß wir viel gewonnen haben. Der Erfolg war weder brillant noch solid. Nach wie vor bleibt alles zu tun in der Ostsee übrig."
Die „Times*4 allerdings, die während des Aufenthalts der Königin in Frankreich gutes Wetter und gute Neuigkeiten braucht, die seit einigen Tagen nur couleur de rose1 malt und an optimistischer Fallsucht zu leiden heuchelt, die „Times" besteht hartnäckig darauf, von einer Zerstörung der „Stadt" Sweaborg zu träumen. Was die Tschornaja-Affäre betrifft, bedarf es zu ihrer Würdigung vor allem näherer Berichte. Es kommt nämlich alles darauf an, inwiefern der Kampf sich um Defileepassagen der Tschornaja drehte und inwiefern der Wasserstand den Fluß zu einem wirklichen Hindernis machte. Fand die Schlacht ohne ein solches Hindernis vor der französischen Front statt, so wirft sie großen Makel auf die Russen. Handelt es sich dagegen um das Forcieren von Defileen, die nicht zu umgehen waren, so ist der große russische Verlust erklärt, und die Schlacht kann für beide Teile ehrenvoll sein. Immer jedoch bleibt es unklar, warum die Russen ihrerseits keine Umgehung
1 rosenfarbig
durchs Baidartal versuchten. Das aber ist sicher, daß, wenn die Alliierten nicht freiwillig weggehen, die Russen jetzt ihre Unfähigkeit bewiesen haben, sie vom Plateau und der Tschornajalinie zu vertreiben. So ist die alte Zwickmühle wiederhergestellt. Der Sturm auf Malachow kann jeden Tag erwartet werden. Mißlingt er, so befinden sich die Alliierten in einer schlimmen Lage. Gelingt er, was immerhin möglich, wenn auch mit ungeheuren Verlusten, so ist darum die Südseite noch nicht verloren, es sei denn, daß man sie räumen müßte aus Mangel an Lebensmitteln. Jedenfalls aber hätten die Alliierten dann die Aussicht gewonnen, die Russen vor dem Winter daraus zu vertreiben. Die Nachrichten über den Gesundheitszustand der englischen Armee in der Krim lauten widersprechend. Nach einem Berichte würden monatlich 1000 englische Soldaten in den Laufgräben dienstunfähig. Positiv ist, daß von einem einzigen Regiment, dem 10. Husarenregiment, 676 Mann stark, sich 161 krank befinden. Dr. Sutherland, Haupt der von der Regierung nach der Krim gesandten Gesundheitskommission, schreibt in einem an den Grafen Shaftesbury gerichteten Brief u. a.:
„Woche endend 7.Juli: Starke der englischen Armee 41593, Gesamt-Todesfälle 150, Tod an Cholera 71, an Fieber 17, an Diarrhoe 19, an der roten Ruhr 2. Woche endend 14. Juli: Stärke der Armee 42513, Gesamt-Todesfälle 123, Tod an Cholera 55, an Fieber 18, an Diarrhoe 10, an der roten Ruhr 5. An Wunden starben in der ersten Woche 44, in der zweiten 30, zusammen 74/
Die Todesfälle infolge von Krankheiten verhalten sich also zu den Todesfällen infolge von Wunden während der zwei ersten Wochen des Juli beinahe wie 4:1. Dr. Sutherland zieht folgenden Kontrast zwischen dem Gesundheitszustand der Armee im vergangenen Winter und im gegenwärtigen Sommer:
„Die Wintersterblichkeit hat einen ganz andern Charakter als die Sommersterblichkeit. Kaum eine der Ursachen - nämlich schlechte Nahrung, Mangel an Ruhe, Überarbeit, Mangel an Kleidung und Obdach, Unbeschütztheit gegen die Elemente, die fast in der ganzen Armee scorbutis hervorriefen - existiert jetzt. Damals waren alle Krankheitsfälle skorbutisch und daher die greuliche Sterblichkeit in den Spitälern zu Skutari; es war nur zu vergleichen mit der Hungerpest in Irland (1847); jetzt dagegen haben wir Fieber und Cholera, deren Intensivität in unserem Lager zweifelsohne durch große Sorgfalt für die Soldaten gemildert worden ist."
Der Gesundheitszustand der belagerten Armee ist in diesem Augenblick unstreitig schlechter als der der Belagerer. Dr. Sutherlands Brief kann indes um so weniger unbedingtes Vertrauen beanspruchen, als ein neulicher Vor
fall beweist, daß die Kritik im englischen Lager bestraft wird. Ungefähr vor sechs Wochen brachte die „Times" nämlich ein anonymes Schreiben, worin die unverzeihliche Behandlung der Verwundeten, nach dem blutigen Gemetzel vom 18. Juni, denunziert war. Das Kriegsdepartement verlangte, den Namen des Korrespondenten von der „Times" zu erhalten. Die Forderung ward abgeschlagen, es sei denn, daß Herr Friedrich Peel ausdrücklich verspreche, den Korrespondenten wegen seiner Enthüllungen nicht heimzusuchen. Peel ging auf diese Bedingung nicht ein, denunzierte aber die Weigerung der „Times" im Parlament. Herr Bakewell (Assistent-Surgeon1), der Verfasser des fraglichen Briefes, war unterdes krankheitshalber nach Skutari beurlaubt worden. Dies geschah Mitte Juli. Die Behörden im Lager entdeckten durch ein oder das andere Mittel seine Autorschaft. Hinter seinem Rücken und während seiner Abwesenheit wurde aus den höheren Medizinalbeamten, großenteils selbst durch Bakewells Brief kompromittiert, ein Untersuchungsgericht niedergesetzt, das ihn verurteilte, ohne Gelegenheit zur Selbstverteidigung oder zum Beweis seiner Anklage gewährt zu haben. Am 3. August ward seine Absetzung in einer allgemeinen Ordre du Jour2 der Armee bekanntgemacht. An diesem Vorfall ist die Glaubwürdigkeit der englischen offiziellen oder halboffiziellen Berichte über den Gesundheitszustand der Armee, Pflege der Verwundeten usw. zu messen.
1 Assistenzarzt - 2 Tagesbefehl
Karl Marx
Ein Brief Napiers
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 397 vom 27. August 1855] London, 24. August. Sir Charles Napier veröffentlicht in den heutigen Tagesblättem einen Brief126", worin unsere Ansicht über die SweaborgAffäre wesentlich bestätigt wird. Wir teilen daraus folgenden Auszug mit:
„Man ersieht aus dem, was ich selbst geschrieben habe, wie aus der Depesche des Admiral Dundas, daß, hätte man meinen Plan wörtlich befolgt, Sweaborg bereits vernichtet wäre. Es stellt sich heraus, daß die Alliierten nur 43 Kanonenboote und Mörserschiffe hatten und daß viele Mörserboote außer Stand gesetzt wurden. Sie hätten wenigstens 100 haben sollen. Sir James Graham, 1854, in einem Briefe an mich, schätzte ihren Bedarf auf 200. Wäre diese Zahl vorhanden gewesen, so hätte man das Bombardement fortsetzen können vermittels Ablösung der Leute, ähnlich wie sie in den Laufgräben abgelöst werden. Die Mörser hätten Zeit gehabt, abzukühlen, und das Bombardement konnte fortdauern, bis kein Stein mehr auf dem andern stand und eine Öffnung bewerkstelligt war für die Linienschiffe, um hineinzusegeln und das Werk zu endigen. Statt dessen scheint die Admiralität nicht vorhergesehen zu haben, daß Mörser nicht für ewig an ihrem Platze stehen können, obgleich Berichte von Sewastopol sie darüber belehrt haben mußten. So hatte eine Operation, die mit großem Urteil geleitet gewesen zu sein scheint, nur ganz teilweisen Erfolg, denn Admiral Dundas gibt in seinem Berichte zu, daß die russischen Seeverteidigungen kaum beschädigt worden sind. Wären die Mittel des Admirals Dundas größer geweseivso hätte er sein Bombardement so lange fortsetzen können, als das gute Wetter fortdauerte, und die Flotten, statt nach Nargen zurückzukehren, konnten in Sweaborg Anker werfen. Im ersten Jahr konnte die Admiralität wegen des Mangels an Mitteln vielleicht entschuldigt werden, sicher aber nicht im zweiten Jahr. Statt Kanonen- und Mörserboote zu bauen, baute sie schwimmende eiserne Batterien, die kaum zu schwimmen vermochten, und selbst, hätten sie schwimmen können, nutzlos gewesen wären, weil sie inner- • halb 400 Yards von Sweaborg der Vernichtung sicher waren ünd über 400 Yards hinaus keinen Schaden anrichten könnten.
Der erste Versuch mit Eisen kostete dem Lande eine Million, und wo ist sie hingekommen? Der zweite Versuch nicht viel weniger als eine halbe Million, und noch haben diese eisernen Batterien unsere Häfen nicht verlassen und werden sie wahrscheinlich nie verlassen. Das kommt davon, daß unfähige Menschen an der Spitze sind. Die Minister sind gezwungen worden, das Kriegsdepartement zu reformieren. Wann werden sie an Reformen der Admiralität denken? So lang sie es nicht tun, ist das Geld des Volkes weggeworfen. Die Admiralität scheint die Wirkung eines Bombardements nicht verstanden zu haben, obgleich ich ihr länger als ein Jahr voraussagte, was sich ereignen würde; und wenn sie Geschichte gelesen hätten, würden sie wissen, daß Martinique durch Morserschiffe genommen wurde, wo ebensowenig Kasematten für die ganze Garnison existierten wie zu Sweaborg. Admiral Dundas sagt, es habe keinen Teil seines Plans gebildet, einen allgemeinen Angriff der Linienschiffe auf die Verteidigungen zu versuchen, und seine Operationen hätten sich daher darauf beschränkt, Festung und Arsenale so weit zu zerstören, als durch Mörser möglich war. Hatte Admiral Dundas hinreichende Mittel zur Verfügung gehabt, so würde er einen Angriff auf die Verteidigungen in seinen Plan gezogen und seine Gesamtflotte konzentriert haben, bereit, den Schrecken und die Verwirrung zu benutzen, die die Kanonen- und Mörserboote verursachen müßten. Die Hitze des angestifteten Brandes allein würde die Garnison von den Kanonen ferngehalten, die Flotte würde sich in Sweaborg befunden und Festungswerke, Inseln usw. zum Teufel geblasen haben, statt bloß hölzerne Gebäude und Arsenale zu zerstören und die wirkliche Arbeit wieder für nächstes Jahr aufzuschieben.41
Napier endet seinen Brief wie folgt: „Sir James Graham war einer der Minister, die die britische Armee mitten im September nach Sewastopol sandten, ohne Mittel der Fortbewegung, ohne Nahrung, Zelte, Kleidung und Hospitale, um einen öden Winter zuzubringen und unterzugehen-, und er war der Minister, der mich bestimmen wollte, Ende Oktober eine britische Flotte zu nehmen und sie unter den Felsen von Sweaborg zerschellen zu lassen, und zu ihrer Schande fand er zwei Seeoffiziere, die seinen insultierenden Brief an mich unterschrieben, und diese Leute befinden sich noch in der Admiralität. Das ist die Art, wie die Marine dieses Landes geleitet wird. Die zwei Sommer in der Ostsee werden der Admiralität als Lektion dienen. Sie befindet sich im Besitz meiner Angriffspläne auf Kronstadt und wahrscheinlich ebenso der Pläne des Admiral Dundas. Sir James Graham und seine beiden Helfershelfer werden daher wohl nächsten Sommer sich aufmachen und diese Pläne selbst ausführen.**
Karl Marx
Österreich und der Krieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4493 vom 13.September 1855, Leitartikel] Wir bringen auf einer anderen Seite unseren Lesern den Bericht eines österreichischen Offiziers über eine Inspektionsreise Kaiser Franz Josephs zur galizischen Armee. Die vom Verfasser erzählten Begebenheiten dieser Reise und seine Bemerkungen über die Standorte der kaiserlichen Streitkräfte bestätigen unsere bei früheren Gelegenheiten dargelegte Meinung, daß Österreich, als es im vergangenen Jahr Kriegsvorbereitungen traf, keineswegs eine Komödie aufgeführt hat zur Täuschung der Westmächte. Es konnte sicherlich nicht auf ein solches Opfer eingehen, nur um der Welt Sand in die Augen zu streuen[2621. Es ist wahr, daß Österreich nur durch die äußerste Notwendigkeit dazu gebracht wurde, sich gegen Rußland zu bewaffnen; und tatsächlich klammerte sich Österreich, solange ein Aufschub möglich war, an den Spinnfaden eines in Aussicht gestellten Friedens, den die russische Diplomatie als Köder hinhielt. Schließlich war seine Geduld jedoch erschöpft, und St. Petersburg erfuhr überrascht und nicht ohne Schrecken, daß an der galizischen Grenze österreichische Kolonnen aufgestellt wurden. Das geschah zu einer Zeit, als die Russen nicht einmal die bloße Möglichkeit einer solchen Kriegsrüstung gelten ließen und es völlig außer Frage stand, eine Armee von gleicher Stärke auf russischer Seite in ebenso kurzer Zeit zu konzentrieren. Deshalb mußte wieder zur Kunst der Diplomatie gegriffen werden. Es braucht nicht wiederholt zu werden, auf welche Weise uftd mit welchem Erfolg das unternommen wurde. Die ganze gewaltige Armee, die noch unlängst an den galizischen Grenzen zusammengezogen worden war, wurde sofort aufgelöst[263] und damit die Befürchtungen Rußlands für diesen Raum teilweise zerstreut. Wir sagen teilweise, weil mit dieser Armee zwei wichtige Elemente in Erscheinung
getreten sind, die mit der Auflösung der Armee nicht verschwinden. Das sind die Befestigungen und Eisenbahnen, die während des Aufenthalts der Armee in Galizien errichtet, erneuert oder vervollständigt wurden. Während in allen anderen Teilen des Reiches die Regierung sich von dem Prinzip leiten ließ, Eisenbahnunternehmen privaten Spekulanten zu überlassen, während die Westeisenbahn, die Wien mit München verbinden sollte, sogar auffallend vernachlässigt wurde, beschäftigte Baron Heß, der Oberkommandierende in Galizien, tausende Soldaten bei dem Bau einer Linie, die, wie groß auch immer ihr strategischer Wert sein mag, wenigstens gegenwärtig von zweifelhaftem kommerziellen Nutzen ist. Das Projekt zum Bau dieser Linie hätte unter anderen Umständen auch noch in den nächsten dreißig Jahren in den Schreibtischen privater Ingenieure verbleiben können. Für Rußland konnte nichts unangenehmer sein als der Bau dieser Schienenwege, durch die Österreich jetzt in der Lage ist, die gerade aufgelöste Armee in nicht einmal dem fünften Teil der Zeit wieder zu sammeln, die Rußland brauchen würde, um eine ähnliche Armee aufzustellen. Wer immer sich die Mühe machen will, die Statistiken des österreichischen Eisenbahnuntemehmens zu durchforschen, und das, was zu rein politischen Zwecken im Osten getan wurde, vergleicht mit der geringen Aufmerksamkeit, die den Handelsinteressen im Westen gezollt wird, kann nicht daran glauben, daß der Bau dieser galizischen Schienenwege so beschleunigt wurde, um lediglich die Welt irrezuführen. Es ist in der Tat klar, daß eine schnelle Vollendung der westlichen Linien, die Österreich mit Bayern verbinden, einem solchen Zweck weit besser entsprochen hätte. Unsere Meinung bestätigt sich in noch höherem Maße durch die kürzlich vorgenommenen ausgedehnten Verbesserungen und die Vermehrung der Befestigungen in den östlichen Provinzen Österreichs. Wenn der Bau von Eisenbahnen erklärt werden kann aus strategischen oder aus anderen Erwägungen, so erlauben die Errichtung und Vollendung eines Befestigungssystems und die durch solche Werke entstehenden unproduktiven Ausgaben gewiß keine Erklärung, die über das unmittelbare Bedürfnis derselben hinausgeht. Was wir über die verhältnismäßige Ausdehnung der Eisenbahnbauten im Osten und Westen Österreichs gesagt haben, trifft in einem noch viel höheren Maße auf diese Befestigungen zu. Von den sechsunddreißig Festungen des Österreichischen Imperiums gehören sieben direkt und neun indirekt zu der Östlichen Verteidigungslinie, wovon die meisten erst kürzlich zu einer hohen Vollkommenheit entwickelt wurden, wie zum Beispiel Krakau, Przemysl und Zaleszczyki. Die beiden ersteren beherrschen gemeinsam mit Lemberg, das wegen seiner Lage nicht stärker befestigt werden kann, die
Straße nach Warschau; letztere liegt am östlichsten Ende Caliziens gegenüber der wichtigen russischen Festung Chotin. Krakau ist zu einer Festung erster Ordnung gemacht worden, und alle seine Werke, ebenso wie die der anderen galizischen Festungen, sind in völlige Kriegsbereitschaft versetzt worden. Es war einmal in der Österreichischen Armee Brauch, das Kommando der Festungen alten ausgedienten Generalen zu übertragen, als eine Art ehrenhafter Ruhestellung, und solche Plätze wurden als eine Art Exil für Offiziere angesehen, die beim Hof in Ungnade gefallen sind; doch jetzt finden wir im ganzen Osten und Nordosten wirklich fähige Männer, verdienstvolle Generale und hervorragende Stabsoffiziere beim Kommando der Festungen. Krakau wird von Feldmarschall Wolter kommandiert, Przemysl von Generalmajor Ebner, Zaleszczyki von Generalmajor Gläser, Karlsburg in Transsylvanien von General Sedlmayer und Olmütz, an der nordwestlichen Flanke, von General von Böhm. In derselben Zeit ist es im Westen gerade umgekehrt dort sind Männer und Dinge nahezu Ruinen, die ruhig weiterem Verfall überlassen werden. Wie aber würde sich das Bild dort verändern, würden die Westmächte sich herausnehmen, Österreichs Politik als zweideutig zu bezeichnen! Wie würde sich die österreichische Obrigkeit beeilen, Linz mit seinen vierzig Maximilian-Türmen, das jetzt kaum als Festung betrachtet wird, und Salzburg, einst eine Feste erster Ordnung, wiederherzustellen! Was sehen wir statt dessen? Völlige Tatenlosigkeit und völliges Fehlen irgendwelcher Kriegsvorbereitungen. Sogar die Soldaten, die vom Osten zurückkehren, wo sie erhofften, Lorbeeren zu ernten, verlieren ihren Kampfgeist, sobald sie sich der bayrischen Grenze nähern. Da das Tatsachen sind, die für sich selbst sprechen, bleibt nur noch eine Frage, die geklärt werden muß, nämlich: durch wessen Schuld wurde die österreichische Politik vereitelt und diesem Land eine gewaltige zusätzliche Schuld auferlegt, ohne unmittelbaren Vorteil für es selbst oder für seine offensichtlichen Alliierten? Wir wissen, daß in Wien die Meinung verbreitet ist und überall in Deutschland wiederholt wird, nach der Österreich zurückgewichen ist aus Furcht, in Preußen einen zweiten Gegner zu finden, und weil ein ohne die Hilfe Deutschlands unternommener Krieg keine Garantie für seine schnelle Beendigung geben würde, wie es die außergewöhnliche Lage des Reiches erheischt. Wir müssen jedoch auf der gegenteiligen Ansicht bestehen. Wir meinen, hätte Österreich die russische Armee kühn angegriffen, dann wäre Preußen und das übrige Deutschland, mehr oder weniger langsam oder zögernd, gezwungen gewesen, seinen Spuren zu folgen. Wer muß also für die gegenwärtige österreichische Politik verantwortlich gemacht werden? England unter der Führung jenes glänzenden Zauderers
und redseligen Aufschneiders Lord Palmerston. Um diese Behauptung zu beweisen, muß man das militärische Lager verlassen und sich in das diplomatische Labyrinth begeben. Am 23. Juli fragte Herr Disreali den Lord John Russell nach der Autorität seiner Erklärung, daß *eme der Hauptursachen der Krimexpedition Österreichs Weigerung war, den Pruth zu überschreiten". Lord John konnte sich nicht erinnern, das heißt, er sagte, seine „Autorität sei eine Erinnerung im allgemeinen". Herr Disreali richtete dann dieselbe Frage an Lord Palmerston, der
„keine derartigen Fragen beantworten wollte, die bruchstückweise aus einer langen Reihe von Verhandlungen zwischen Ihrer Majestät Regierung und der Regierung eines der Souveräne, der zu einem gewissen Grade ein Alliierter Ihrer Majestät sei, herausgerissen wären. Alles, was er in bezug auf sich selbst sagen könne, war, daß er immer der Ansicht gewissen sei, daß die Krim der Ort wäre, wo der wirksamste Schlag gegen das Ubergewicht Rußlands auf dem Schwarzen Meer geführt werden könne; und wenn es keinen andern Grund geben sollte, so wäre das nach seiner Meinung für einen Feldzug völlig ausreichend/ „Meine Meinung", erklärte er, „war, daß die Krimexpedition der beste Schritt war, der unternommen werden konnte."
So erfahren wir durch Lord Palmerston, daß der Krimfeldzug nicht durch Österreich, nicht durch Bonaparte, sondern durch ihn selbst begonnen habe. Am 26. Juni erklärte Lord Lyndhurst, als er einen heftigen Angriff gegen Österreich führte, daß Österreich
„zu Beginn des Juni sich entschlossen hätte, Rußland zur Räumung der Fürstentümer aufzufordern. Die Aufforderung sei in sehr harten Ausdrücken erfolgt, die eine Art von Drohung einschlössen, zur Waffengewalt zu greifen, wenn der Forderung keine Genüge geschehe." Nach einigen historischen Bemerkungen fuhr der gelehrte Lord fort: „Setzte Österreich unmittelbar irgendeinen Angriff auf Rußland ins Werk? Versuchte es, in die Fürstentümer einzurücken? Weit entfernt! Es enthielt sich jeder Handlung mehrere Wochen lang, bis die Belagerung von Silistria aufgehoben und die russische Armee im Rückzug begriffen war, und nachdem Rußland selbst erklärt hatte, es werde innerhalb einer bestimmten Zeit die Fürstentümer räumen und sich hinter den Pruth zurückziehen.*4 Damit wirft Lord Lyndhurst Österreich vor, eine Sache zu sagen und eine andere zu tun. Ihm folgte Lord Clarendon in der Debatte, und von ihm können wir einen Begriff von dem Genius bekommen, der das Österreich von Mai und Juni in das Österreich von Juli und August verwandelte. Er sagt,
„als Österreich seine sukzessiven Verpflichtungen gegen England und Frankreich übernahm und seine ausgedehnten und kostspieligen Kriegsvorbereitungen traf - als es
ferner vorschlug, daß Militärkommissionen von Frankreich und England in das Hauptquartier des Generals Heß gesandt würden, beabsichtigte und erwartete es ohne Zweifel den Krieg. Aber es erwartete ebenfalls, daß, lange bevor die Jahreszeit für den Beginn von Kriegsoperationen eingetroffen, die alliierten Armeen entscheidende Siege in der Krim erfochten haben, daß sie frei und fähig sein würden, andere Operationen im Bunde mit seinen eigenen Streitkräften zu unternehmen. Das war unglücklicherweise nicht der Fall, und hätte Österreich auf unsere Einladung den Krieg erklärt, so würde es ihn aller Wahrscheinlichkeit nach allein zu führen gehabt haben.u
Damit steht die Erklärung Lord John Russells im direkten Gegensatz zu der Darlegung Lord Ciarendons. Lord John erklärt, daß die Krimexpedition in See ging, weil Österreich sich weigerte, den Pruth zu überschreiten - das heißt, an dem Krieg gegen Rußland teilzunehmen. Lord Clarendon sagt uns, daß Österreich an dem Krieg gegen Rußland nicht teilnehmen konnte wegen der Krimexpedition. Als nächstes können wir mit Nutzen eine unwiderlegte Erklärung Lord Ellenboroughs in Erwägung ziehen:
„Bevor die Krimexpedition abgesandt wurde, machte Österreich den Vorschlag, mit den alliierten Mächten über zukünftige Kriegsoperationen Verbindung aufzunehmen; die Alliierten jedoch, nach vorgefaßten Meinungen handelnd, entsandten jene Expedition, und nun erklärte Österreich sofort, es könne isoliert die Russen nicht angreifen, und die Krimexpedition zwinge es, eine andere Verfahrungsart einzuschlagen. In einer späteren Periode, gerade beim Beginn der Wiener Konferenzen*171, als es von der höchsten Wichtigkeit war, daß Österreich mit uns handeln sollte - zu dieser Zeit, stets noch ausschließlich beschäftigt mit dem Erfolg Ihreir Operationen in der Krim, zogen Sie aus der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs 50000 gute türkische Truppen zurück und beraubten es so des einzigen Beistandes, worauf es im Falle einer Kriegsexpedition gegen Rußland rechnen konnte. Es ist daher klar, meine Herren Lords, wie auch aus den Erklärungen des edlen Grafen folgt, daß es unsere übelberatene Krimexpedition war, die Österreichs Politik lähmte und die es in eine solch schwierige Position drängte, daß es sofort daran gehindert wurde, einen Kurs zu verfolgen, der seiner Ehre, seiner Würde und seinen Interessen gemäß wäre. Ehe diese Expedition nach der Krim segelte, wagte ich es der Regierung anzuzeigen, welches seine notwendigen Folgen sein würden. Ich wies auf die Wirkung hin, die diese Expedition auf Österreichs Politik hervorbringen würde/
Der Rat Lord Ellenboroughs wurde nicht befolgt. Palmerston entsandte die Krimexpedition in dem gleichen Augenblick, als deren Abreise am besten geeignet war, Österreichs Feindseligkeiten gegen Rußland zu verhindern und zu verhüten. Es sieht beinahe so aus, als ob er beabsichtigt hätte, dem großen Feinde Englands Hilfe zu leisten, und als ob er absichtlich Österreich in seine
gegenwärtige zweideutige Lage in den Fürstentümern gebracht habe, um es der russischen Diplomatie auszuliefern und es noch näher an den Rand des Abgrundes zu drängen, in den es schließlich sinken muß. In dieser Angelegenheit, wie in so vielen anderen während seiner langen und unrühmlichen Laufbahn, hat Palmerston glänzende Erfolge gehabt in der Verteidigung der Interessen Rußlands, was auch immer sein wirklicher Vorsatz gewesen ist.
Geschrieben Ende August 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Züchtigung der Soldaten
[»Neue Oder-Zeitung" Nr.405 vom 31. August 1855] London, 28. August. Eine Institution der britischen Armee reicht hin zur Charakteristik der Klasse, woraus der britische Soldat rekrutiert wird. Wir meinen die Strafe des Atispeitschens. Körperliche Züchtigung existiert nicht mehr in der französischen, preußischen und mehreren kleineren Armeen. Selbst in Österreich, wo der größere Teil der Rekruten aus Halbbarbaren besteht, strebt man offenbar nach ihrer Beseitigung; so wurde neulich die Strafe des Spießrutenlaufens aus dem österreichischen Militärgesetz ausgemerzt. In England dagegen ist die „cat-o'-nine-tails" (die neunschwänzige Katze) in voller Wirksamkeit erhalten - ein Torturinstrument ganz ebenbürtig der russischen Knute. Sooft eine Reform der Kriegsgesetzgebung im Parlament angeregt wurde, ereiferten sich alle alten Federhüte für die „catw, und keiner leidenschaftlicher als der alte Wellington. Für sie war ein ungepeitschter Soldat ein unbegreifliches Wesen. Tapferkeit, Disziplin und Unbesiegbarkeit waren in ihren Augen die ausschließlichen Attribute von Männern, die die Narben von mindestens 50 Hieben auf ihren Hinterteilen tragen wie die alten Gefolgsmänner das Wappen. Die einzige Reform war die Beschränkung der Zahl der Peitschenhiebe auf 50. Die Wirksamkeit dieser Reform ist daraus zu entnehmen, daß vor ungefähr einer Woche in Aldershot ein Gemeiner kurz nach dem Empfange von 30 Peitschenhieben sein Leben aushauchte. Bei dieser Gelegenheit ward die beliebte Manier angewandt, die „cat-o'-nine-tails" in Urin zu tränken. Die Anwendung des Urins auf das rohe und blutende Fleisch ist ein unfehlbares Rezept, den Patienten zum Wahnsinn zu foltern. Die neunschwänzige Katze ist nicht nur ein Peinigungsinstrument, sie läßt unvergängliche Narben zurück, sie brandmarkt einen Mann für Lebenszeit. Selbst in der englischen
Armee ist eine solche Brandmarkung eine stets lastende Schmach. Der ausgepeitschte Soldat fällt unter das Niveau seiner Kameraden. Aber gemäß dem britischen Militärkodex besteht die Strafe vor dem Feinde fast ausschließlich in der Auspeitschung, und so ist die Strafe, die von ihren Verteidigern als das einzige Mittel zum Aufrechterhalten der Disziplin im entscheidenden Augenblick gerühmt wird, das sicherste Mittel zur Zerstörung der Disziplin, indem es die moralische Haltung und den Point d'honneur des Soldaten bricht. Dies erklärt zwei sonderbare Tatsachen. Erstens: Die große Zahl der englischen Deserteure vor Sewastopol. Im Winter, als die britischen Soldaten übermenschliche Anstrengungen zu machen hatten, um die Laufgräben zu bewachen, wurden diejenigen, welche sich nicht 48-60 Stunden wachzuhalten wußten, ausgepeitscht. Man denke nur! Heroen, wie die britischen Soldaten, [die] sich bewährt hatten in den Laufgräben vor Sewastopol und am Tage vor Inkerman11111, auszupeitschen! Aber die Kriegsartikel ließen keine Wahl. Die besten Männer in der Armee, wenn von Müdigkeit überwältigt, wurden ausgepeitscht, und entehrt wie sie waren, desertierten sie zu den Russen. Kein besser motiviertes Verdammungsurteil des Systems möglich als diese Tatsachen. In keinem früheren Krieg sind Truppen irgendeiner Nation in nennenswerter Anzahl zu den Russen desertiert. Sie wußten, daß sie schlechter behandelt werden würden als in den nationalen Reihen. Es war der englischen Armee vorbehalten, das erste starke Kontingent solcher Deserteure zu stellen,und nach dem Zeugnis der Engländer selbst war es die „cat-o*nine-tails", die diese Deserteure für Rußland warb. Die andere Tatsache ist die Schwierigkeit, worauf England bei jedem Versuch zur Bildung von Fremdenlegionen stößt. Schon während des Antijakobinerkriegs, obgleich die britischen Kriegsartikel nominell für die Fremdenkorps gelten, mußte die Prügelstrafe faktisch fallengelassen werden. Im Beginn dieses Jahrhunderts veröffentlichten einige heterodoxe englische Generale, unter andern Sir Robert Wilson, kritische Pamphlets gegen körperliche Züchtigung der Soldaten. Sir Francis Burdett, während mehr als zehn Jahren, donnerte im Parlament gegen die „cat-o'-nine-tails" und schalt die englische Nation „a flogged nation" (eine ausgepeitschte Nation). Er fand im Unterhaus energische Sekundanten in Lord Folkestone und dem berühmten Lord Cochrane (jetzt Admiral Graf Dundonald). In der Presse führte Cobbett eine furchtbare Polemik gegen die „cat", wofür er mit zwei Jahren Zuchthausstrafe büßte. Einen Augenblick, während der letzten Kriegsjahre gegen Napoleon, erreichte die Erbitterung in der Nation und der Armee eine solche Höhe, daß der durch sein bigottes Festhalten am Kamaschendienst, sein Ausreißen vor den Franzosen und seine Liebschaften mit Madame Clarke gleich
berüchtigte Herzog von York gezwungen wurde, einen Tagesbefehl zu erlassen, worin allen Offizieren angekündigt wurde, daß häufiges Vorkommen der Auspeitschung in ihren respektiven Kommandos ihnen beim Avancieren hinderlich sein werde. Wie denn zu erklären, daß die „cat-o'-nine-tails" alle diese Stürme eines halben Jahrhunderts siegreich überwintert hat? Sehr einfach. Sie ist das Instrument, wodurch der aristokratische Charakter der englischen Armee aufrechterhalten wird, wodurch alle höheren Stellen vom Fähndrich an als Apanage den jüngeren Söhnen der Aristokratie und Gentry gesichert bleiben. Mit dem Wegfallen der „cat-o'-nine-tails" fällt der ungemeine Abstand zwischen Gemeinen und Offizieren, der die Armee in zwei förmlich verschiedene Racen spaltet. Zugleich öffnen sich ihre Reihen höheren Volksbestandteilen als denen, woraus sie bisher rekrutiert worden ist. Es wäre dann um die alte Verfassung der englischen Armee geschehen. Sie würde von Grund aus "" revolutioniert. Die neunschwänzige Katze ist der Zerberus, der den Schatz der Aristokratie hütet.
Friedrich Engels
Die Schlacht an der TschomajaE264]
[„New-York Daily Tribüne* Nr. 4494 vom 14. September 1855, Leitartikel] Entgegen unserer Erwartung fand sich in der Post der „Africa", die wir am letzten Mittwoch abend erhielten, kein Bericht des Fürsten Gortschakow über die am 16. ult.1 geschlagene Schlacht an der Tschornaja. Dennoch geben die französischen und englischen Berichte, die wir gestern abdruckten, ausreichenden Aufschluß für eine ziemlich genaue Einschätzung dieser Affare. Der französische Bericht versetzt einen durch das Fehlen jener Tendenz zur Renommisterei in Erstaunen, die einem französischen Haudegen gar zu oft eigen ist, und die so auffällig inPelissiers ersten Bulletins war. Der alte General ist jetzt ungewöhnlich klar, geschäftsmäßig und sachlich; er erkennt selbst die bei dieser Gelegenheit entwickelte Bravour des Russen an, und sein Bericht kontrastiert sehr vorteilhaft mit General Simpsons ergötzlichen Berechnungen über die Zahl der engagierten Kräfte, denen zufolge etwa 15000 Franzosen und Sardinier ohne irgendwelche besonderen Anstrengungen 60000 Russen geschlagen hätten. Die Tatsachen scheinen etwa folgendermaßen ausgesehen zu haben: Am Morgen des 16. August vor Tagesanbruch stiegen die Russen von den Mackenzie-Höhen und nahmen eine Position am Saume der Hügel ein, die nach der Tschornaja herabsinken. Sie waren kommandiert von Fürst Gortschakow in Person, unter dem General Read den rechten Flügel (7. und 12. Division) kommandierte, während Liprandi mit der 5. Division das Zentrum eingenommen zu haben scheint und die 17. Division den russischen linken Flügel bildete. Teile der 4. und 6. Division waren ebenfalls gegenwärtig in der Rolle von Reserven, wie es scheint. Die 5. Division ebenso wie
1 (ultimo) vergangenen Monats
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Von Friedrich Engels gezeichnete Skizze der Schlacht an der Tschornaja am 16. August 1855

die zur 4. und 6. gehörigen Truppen sind Bestandteile des zweiten Korps (Panjutins), das eben erst auf der Krim angelangt war; den Rest bildeten alte Krimtruppen, die mit sehr geschwächter Effektivzahl agiert haben müssen. Der Boden auf der entgegengesetzten Seite der Tschornaja ist meist flach, eine Fortsetzung der Ebene von Balaklawa nach dem Flusse; aber dicht an seinen Ufern wird diese Ebene unterbrochen von zwei Gruppen von kleinen Hügeln, die stufenweise aufsteigen von der Balaklawaseite, aber nach der Tschornaja hin niedersinken und so eine gute Defensivposition gegen einen den Fluß überschreitenden Feind bilden. Zwischen diesen zwei Gruppen von Hügeln liegt das Tal, in welchem die britische leichte Kavallerie in der Schlacht von Balaklawa chargierte. Die östliche Hügelgruppe, die den rechten Flügel der Position bildet, war besetzt von La Marmora mit seinen zwei sardinischen Divisionen, die andere, von Nordwest, von drei französischen Divisionen, die so das Zentrum und den linken Flügel der Position bildeten. Die Franzosen waren kommandiert von General d'Herbillon, der Camous Division auf dem linken, seine eigene im Zentrum und Faucheux' Division auf dem rechten Flügel postiert hatte, wo sie sich mit der sardinischen Division von Trotti verband. Die Position gewann einen Zuwachs von Stärke durch zwei Hindernisse unmittelbar vor ihrer Front: erstens die Tschornaja, welcher Fluß zur Zeit zwar durchwatbar war, aber dennoch die Russen nötigte, ihn nur an gewissen Punkten und mit einer schmalen Front zu überschreiten; zweitens der Aquädukt, an den meisten Plätzen in den Felsen hereingehauen und so, selbst nach seiner Passage, einen steilen Felswall zum Erklimmen entgegenhaltend. An dem Rand der Hügel hatten die Franzosen und Piemontesen einige leichte Brustwerke aufgeworfen, grade hinreichend, ihre Artillerie zu bergen. Die zwei Hügelgruppen bildeten sozusagen verschiedene Bastionen, die sich wechselseitig mit ihrer Artillerie flankierten. Jenseits der Tschornaja, die überschritten wurde durch Brücken bei Tschorgun auf dem sardinischen äußersten rechten Flügel und bei einem Gasthaus (im Russischen Traktir genannt) in Front von dem französischen Zentrum, hatten die Piemontesen zwei Kompanien Vorposten, während die Brücke zum Traktir gedeckt war durch einen schwachen von den Franzosen besetzten Brückenkopf. Die französischen Vorposten standen weiter dahinter. Am Morgen des 16., nachdem die Russen ihre Artillerie in Position gebracht hatten auf den Höhen östlich von der Tschornaja, sandten sie ihre vorgeschobenen Truppen hinunter in das Tal. Der Tag war noch nicht angebrochen, und dichter Nebel erleichterte eine Überraschung wie bei Inkerman. Die alliierten Vorposten waren in einem Augenblick zurückgetrieben,
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und bei Tagesanbruch war der Brückenkopf und die ganze Ostseite des Flusses in ihren Händen, während sie mit zwei französischen Regimentern um den Brückenübergang fochten. Darauf stiegen die 7. und 12. russische Division, direkt gegenübergestellt den französischen Divisionen Camous und d'Herbillons, in zwei geschlossenen Kolonnen ins Tal hinab; und hier bildeten sie ihre Angriffskolonnen und avancierten in zwei unterschiedenen Massen die 7. Division überschritt den Fluß und den Aquädukt teils watend, teils in aller Eile konstruierte fliegende Brücken aufwerfend, und marschierte gegen Camou vor, während die 12. Division, wovon ein Teil als Reserve zurückblieb, avancierte gegen d'Herbillon über die Brücke vom Traktir, deren Verteidiger in einem Augenblick durch die überwältigenden Massen der Russen zurückgeworfen wurden. Sie avancierten mit mehr Raschheit und Feuer, als die Russen je zuvor gezeigt, durch den Aquädukt und die Hügelseiten herauf. Die 7. russische Division hatte ziemlich nahe den Rand des Hügels erreicht, als Camous Truppen, deployiert in Linie, eine Salve auf sie gaben und dann auf der Flanke und im Rücken mit solcher Heftigkeit angriffen, daß die Russen sofort umkehrten und den Fluß unter einem mörderischen Feuer wieder überschritten. Wenn wir Pelissier glauben, hat sich diese 7. Division während der Schlacht nicht wieder gezeigt. Im Zentrum gelang es der 12. Division, die Höhen zu ersteigen und verschiedene französische Regimenter zurückzutreiben. Das Schicksal der Schlacht schien einen Augenblick ungewiß, als d'Herbillon eine Brigade von Faucheux* Division zum Angriff auf die linke Flanke der russischen Kolonnen abordnete und nach kurzem Kampfe die Russen den Abhang hinuntergetrieben wurden, gefolgt von den Franzosen, die für kurze Zeit die Brücke wieder nahmen. Gortschakow jedoch hatte eine neue Attacke vorbereitet. Der Rest der 12. Division und die 5. Division waren in das Tal hinabgestiegen, sie unterstützten die Flüchtigen, die ihre Reihen von neuem formierten, und nun bewegten sich die ganze 12. und die 5. Division voran zu einem zweiten Angriff. Sie passierten die Brücke dicht zur Rechten und Linken derselben und avancierten mit großer Lebhaftigkeit gegen das alliierte Zentrum (d'Herbillons und Faucheux' Divisionen). Aber um diese Zeit hatten die Franzosen ihre ganze Artillerie in Position gebracht; sie feuerten in Front gegen die russischen Kolonnen, während die sardinische Artillerie sie in die Flanke nahm. Trotz dieses mörderischen Feuers avancierten sie stetig und rasch voran und erreichten wieder die Höhen. Hier fanden sie die Franzosen konzentriert, deployiert in Linie etwas hinter den Säumen des Hügels. Sobald die Köpfe der Kolonnen den Rand erreicht hatten, gaben die Franzosen ihnen eine Salve und griffen sie dann mit dem Bajonett an, in Front und Flanken.
Der Kampf war so kurz wie zuvor. Die Russen wichen und flohen in Unordnung über den Fluß, verfolgt vom Musketenfeuer und Artilleriefeuer der Alliierten. Diese zweite Niederlage der Russen entschied faktisch die Schlacht. Die Russen hatten drei Fünftel ihrer Infanterie engagiert und konnten nicht hoffen, frische Verstärkungen auf dem Schlachtfelde zu empfangen. Die Alliierten hatten zwar auch drei von ihren fünf Divisionen engagiert, aber frische Truppen eilten zu ihrer Unterstützung von dem Lager vor Sewastopol herbei. Pelissier hatte nach zwei weiteren Divisionen der Linie und einer Division Garden gesandt, und sie bewegten sich heran. Dies war ungefähr um 8 Uhr morgens. Gortschakow entschloß sich trotz dieser Rückschläge für einen erneuten Angriff. Die 17. Division wurde nun vorbeordert und hatte den Kern zu bilden für den Teil der geschlagenen Truppen, der noch fähig war, gegen den Feind geführt zu werden. Die Angriffslinie wurde wieder nach der Linken geschoben. Es war Faucheux* Division, auf die die Russen diesmal fielen. Aber vergeblich. Das Kreuzfeuer der französischen und sardinischen Artillerie dezimierte sie, ehe sie den Gipfel der Hügel erreichen konnten, wieder brachen die französischen Linien ihre Kolonnen und trieben sie nach der andern Seite des Flusses, während die Piemontesen (Trottis Division) sie in der Flanke angriffen und den Sieg vollendeten. Es blieben nur noch die Truppen von der 4. und 6. Division unversehrt, zusammen etwa von der Effektivkraft einer Division. Sie zu lancieren wäre durchaus nutzlos gewesen. Die Niederlage war unverkennbar; und demzufolge begannen die Russen - ihre Artillerie nach vorne bringend - den Rückzug. Ihre eigene Position war so stark, daß Pelissier einen Angriff auf sie für ausgeschlossen hielt; und daher wurden sie nur von der Artillerie und den Schützen behelligt. Die Verluste der Russen waren bei dieser Gelegenheit im Vergleich zu denen der Alliierten enorm. Die ersteren verloren ungefähr 5000 Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen; die letzteren nur etwa 1500. Der Grund dafür war darin zu suchen, daß die Russen beständig unter dem heftigen Artilleriefeuer der Alliierten alle ihre Attacken zu machen hatten und besonders unter dem der Piemontesen, deren löpfünder - ein Geschütz, das sehr schwer beweglich, aber, einmal in Position gebracht, von höchster Wirksamkeit ist. Die Russen machten hier einen einfachen Frontangriff. Den französischen linken Flügel bei Inkerman zu umgehen, schien unmöglich, weil die auf dem Gipfel des Bergrückens aufgepflanzten französischen Batterien jenen Raum beherrschten. Um die Alliierten von rechts zu umgehen, hätte das Gros der Russen in das Tal von Baidar hinabsteigen müssen, wo das Terrain für solche schwerfälligen Truppen offensichtlich zu schwierig ist. Deshalb zogen sie den
Frontangriff vor und handelten absolut richtig, eine Überraschung zu versuchen. Die Überraschung gelang teilweise, wurde aber nicht mit der gehörigen Energie ausgeführt. Als die Russen erst einmal die Übergänge der Tschornaja beherrschten, hätten sie ihre Truppen - so, wie sie gerade zur Stelle waren - vortreiben müssen, um den errungenen Vorteil auszubauen, ehe sich die Franzosen vom ersten Schlag erholen konnten. Statt dessen gaben sie ihren Gegnern die Zeit, die erheischt war, um ihre Truppen und Artillerie in Position zu stellen, und die Überraschung, die den Russen die französischen Höhen in die Hände spielen konnte, hörte in der Tat beinahe schon auf, sobald sie die Tschornaja erreicht hatten. Dies ist ein neuer Beweis dafür, wie schwer russische Truppen unter Umständen in Bewegung zu setzen sind, wo rasche Aktion und selbständiges Eingreifen der unteren Befehlshaber erheischt werden. Die Franzosen waren von je berüchtigt wegen einer gewissen Verachtung des Vorpostendienstes. Selbst in ihren besten Zeiten war es einem aktiven Feind möglich, jede Nacht ihre Vorposten zu überraschen und Alarm in ihre Lager zu werfen, ohne ein großes Risiko einzugehen. Bei dieser Gelegenheit bewiesen die Franzosen, daß selbst die sich langsam vorwärtsbewegenden Russen dazu in der Lage waren. Ihre Hauptposition lag so dicht an der Tschornaja, daß ihre vorgeschobenen Truppen entweder viel weiter hätten vorgerückt oder - wenn das Terrain dies nicht zuließ - in einem solchen Maße hätten verstärkt werden müssen, daß sie in der Lage gewesen wären, standzuhalten, bis das Lager unter Waffen stand. Die Franzosen aber hatten ihr Lager aufgeschlagen, ohne es durch eine angemessene Avantgarde zu sichern, und folglich konnten die Russen gegen ihre Hauptposition avancieren, bevor sie selbst befähigt waren, ihre volle Widerstandskraft ins Spiel zu bringen. Aktivere Gegner als die Russen hätten zahlenmäßig überlegene Truppen so schnell nach vorne geworfen, um die von den Franzosen besetzten Höhen zu stürmen, bevor irgendein regulärer und systematischer Widerstand hätte geleistet werden können. Aber die Russen selbst fürchteten sich, ein oder zwei Divisionen ihrer Truppen in einem Kampfe während des Zwielichtes zu riskieren, und so verloren sie alle Vorteile der Überraschung, die sie gewonnen hatten. Die entscheidenden und leicht errungenen Erfolge der Franzosen beim Zurückschlagen der russischen Kolonnen, als diese bereits die Höhen erklommen hatten, sind einem taktischen System zu verdanken, das sie bislang nicht oft angewandtliaben. Offensichtlich haben sie diese Art Kriegführung von den Engländern gelernt, die darin Meister sind. Bei der Verteidigung einer Reihe von Hügeln besteht der große Vorteil darin, daß man die Truppen direkt
hinter dem Hügelkamm verbergen kann, wo sie völlig geschützt in Linien aufgestellt sind und das Auftauchen der feindlichen Kolonnen erwarten. Sowie die Spitzen der Kolonnen über dem Hügelkamm auftauchen, feuert die Linie eine Salve auf sie ab, auf die diese nur mit etwas Musketenfeuer erwidern können, und greift sie dann von vorne und von der Flanke mit dem Bajonett an. So kämpften die Engländer bei Bussaco, Pamplona, Waterloo12651 und in anderen Schlachten mit ständigem Erfolg. Doch die Truppen des europäischen Kontinents scheinen diese durchaus unfehlbare Art, eine Hügelkette zu verteidigen, vergessen zu haben. In den Handbüchern der Taktik wird sie zwar dargestellt, aber in der Praxis war sie auf Grund der allgemeinen Vorliebe für von Tirailleuren gedeckte Kolonnen nahezu verschwunden. Es ist den Franzosen hoch anzurechnen, von ihren alten Gegnern dieses einfache und wirkungsvolle Manöver übernommen zu haben. Wären sie in Kolonnen postiert gewesen, so besteht kaum Zweifel, daß die Russen über sie größere Überlegenheit gehabt undSdelleicht sogar gesiegt hätten. Aber wie die Dinge standen, erwies sich das Feuer einer in Linien aufgestellten Infanterie, die gegen einen Feind agierte, der durch wirkungsvolles Artilleriefeuer desorganisiert und vom Erklimmen eines steilen Hügels ermüdet war, als überwältigend; und ein beherztes Vorrücken mit dem Bajonett genügte schon, um die Massen zurückzuwerfen, die schon ihren Mut verloren hatten, ehe noch der glitzernde Stahl dicht vor ihnen war. Dies ist die dritte regelrechte Schlacht dieses Krieges, die auf offenem Feld geschlagen wurde, und wie die an der Alma1461 und bei Inkerman11111 zeichnete auch sie sich durch ihre verhältnismäßig kurze Dauer aus. In den Kriegen Napoleons war ein charakteristisches Merkmal, daß viele Scharmützel eine Schlacht einleiteten; jede Seite suchte den Feind abzutasten, bevor sie mit ihm an entscheidenden Punkten und mit entscheidenden Massen in den Kampf trat; und erst nachdem jede Seite die Mehrzahl ihrer Truppen eingesetzt hatte, wurde der entscheidende Schlag geführt.1 Im Gegensatz dazu sehen wir hier, daß keine Zeit verloren wird, es gibt kein Fechten, um den
1 An Stelle des nachfolgenden Textes heißt es in der „Neuen Oder-Zeitung" Nr. 4M vom 4. September 1855: „Die Krimmanier sieht tapfrer aus, beweist in der Tat aber nur die Mittelmäßigkeit der Generale auf beiden Seiten und bestätigt unsere Ansicht, daß in modernen Zeiten die Kriegskunst sich im umgekehrten Verhältnis zum Kriegsmaterial entwickelt hat. Wenn die Schlacht an der Tschornaja keineswegs so entscheidend gegen die Russen zeugt wie die Schlacht bei Inkerman, beweist sie jedoch unstreitig von neuem die Überlegenheit der westlichen Armeen. Sie weist die Propheten, die unter dem Vorwand, ein »neues* Element in der Geschichte entdeckt zu haben, nur ihren alten Schülerinnerungen über den Untergang des Römischen Reiches moderne Farbe und Gestalt geben, darauf hin, die Ersatzmänner für die Goten anderswo zu suchen als bei den Moskowitern."
Feind zu ermüden; der Schlag wird sofort ausgeführt, und das Geschick der Schlacht hängt vom Ergebnis einer oder zweier Attacken ab. Das sieht weit kühner aus als Napoleons Art der Kriegführung; aber wenn eine Überlegenheit von zwei zu eins, wie sie die Alliierten an der Alma hatten, oder wenn die bekannte Schwerfälligkeit der Russen beim Manövrieren eine so unmittelbare Aktion zu rechtfertigen scheint, so ist doch Tatsache, daß es auf beiden Seiten sehr an Feldherrenkunst mangelt; und immer wenn Haudegen, die nach diesem Grundsatz handeln, einen General zum Gegner haben, der es wohl versteht, ihre Truppen zu beschäftigen, ihnen Fallen zu stellen und sie zu veranlassen, dort hineinzugehen, so werden sie sich sehr bald in einer nicht sehr beneidenswerten Lage befinden. Zum Schlüsse wiederholen wir, was wir oft gesagt haben: die entscheidenden Merkmale des gegenwärtigen Krieges sind auf beiden Seiten Tapferkeit bei den Soldaten und Mittelmäßigkeit bei den Generalen.
Geschrieben am 3I.August 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Eine neue Enthüllung in England
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4502 vom 24. September 1855] Seit der Veröffentlichung der nachgelassenen Papiere von Sir Alexander] Burnes, die sein Vater publizierte, um das Andenken des Sohnes von der von Lord Palmerston erhobenen falschen Anschuldigung zu reinigen, er sei der Initiator des unglückseligen und schmachvollen afghanischen Krieges gewesen, und um den unwiderleglichen Beweis zu liefern, daß die sog. Depeschen von Sir A. Burnes, wie Palmerston sie dem Parlament vorlegte, nicht nur bis zur gänzlichen Verdrehung ihres ursprünglichen Sinns verstümmelt, sondern tatsächlich, und zwar durch Einschiebungen, gefälscht waren, die eigens zu dem Zweck der Irreführung der Öffentlichen Meinung fabriziert waren12663 - seit dieser Veröffentlichung ist vielleicht niemals eine Reihe von Dokumenten erschienen, die das Ansehen der britischen Regierung und der Kaste, die sich des erblichen Besitzes der Amter dieses Landes erfreut, mehr schädigt als die Korrespondenz zwischen Sir James Graham und Sir Charles Napier, die der alte Admiral eben jetzt in der Absicht veröffentlicht, seinen guten Ruf zu verteidigen12671. In dieser Kontroverse hat Sir James Graham gegenüber seinem Gegner einen großen Vorteil - keine wie immer geartete Enthüllung ist geeignet, seinen Charakter in dem Urteil der Welt herabzusetzen. Der Mann, der sich laut rühmte, ein Mitschuldiger an der Ermordung der beiden Brüder Bandiera gewesen zu sein; den man überführt hat, auf dem Londoner Postamt Privatbriefe regelmäßig geöffnet und mißbraucht zu haben, nur um der Heiligen Allianz zu dienen12681; der wie ein unterwürfiger Hund dem Kaiser Nikolaus die Hände leckte, als dieser an der Küste Englands landete; der sogar die abscheuliche Grausamkeit der neuen englischen Armengesetze[331 noch verschärfte durch seine eigentümliche Art, sie anzuwenden; und der noch vor einigen Monaten vor dem vollen Hause vergeblich versucht hat, das
Odium der Beschimpfungen, die er selbst dem unglücklichen Kapitän Christie zugefügt hatte, auf Herrn Layard zu wälzen - solch ein Mann kann wirklich als Charakter gelten, dem niemand etwas anhaben kann. Seine politische Laufbahn hat etwas Geheimnisvolles. Weder besitzt er Palmerstons ungewöhnliche Talente, die diesem erlauben, gar keiner Partei anzugehören, noch Russells ererbten Einfluß auf eine Partei, der ihm erlaubt, auf ungewöhnliche Talente zu verzichten, und dennoch hat er es fertiggebracht, unter den britischen Staatsmännern eine hervorragende Rolle zu spielen. Den Schlüssel zu diesem Rätsel finden wir nicht in den Annalen der Weltgeschichte, sondern in denen des „Punch". Jahr für Jahr erscheint in dieser lehrreichen Zeitschrift ein nach dem Leben gezeichnetes Bild mit der lakonischen Inschrift: „Sir Robert Peels schmutziger Junge." Sir Robert Peel war ein ehrenhafter, wenn auch kein großer Mann; vor allem aber war er ein britischer Staatsmann, ein Parteiführer, der eben durch die Erfordernisse seiner Stellung gezwungen war, viel schmutzige Arbeit zu verrichten, die zu tun ihm recht zuwider war. Da erwies sich denn Sir James als eine wahre Gottesgabe, und so geschah es, daß Sir James ein unentbehrlicher Mann und damit auch ein großer Mann wurde. Sir Charles Napier gehört einer Familie an, die sich ebenso durch ihre Begabung wie durch ihre Exzentrizitäten auszeichnet. Inmitten der heutigen friedlichen Menschheit machen die Napiers den Eindruck irgendeines primitiven Stammes, der wohl die natürliche Begabung besitzt, sich die Errungenschaften der Zivilisation anzueignen, der sich aber nicht ihren Konventionalitäten beugen, nicht ihre Etikette respektieren oder sich ihrer Disziplin unterwerfen will. Haben die Napiers auch dem englischen Volk stets gute Dienste erwiesen, so haben sie doch ständig mit ihrer Regierung gestritten und sich gegen sie aufgelehnt. Und besitzen sie das Selbstbewußtsein der homerischen Helden, so ist ihnen auch etwas von deren prahlerischem Wesen gegeben. Der verstorbene General Charles Napier zum Beispiel - unzweifelhaft der begabteste Soldat, den England seit den Zeiten Marlboroughs besessen hat - war nicht weniger bekannt durch seine Eroberung von Sind[269] als durch seine Zänkereien mit der Ostindischen Kompanie, die von seiner Familie noch übers Grab hinaus fortgeführt wurden. Oder der General Sir W[illiam] Napier, bekannt als der beste Militärschriftsteller Englands, nicht weniger bekannt aber durch seine ewigen Zwistigkeiten mit dem britischen Kriegsministerium, der die engherzigen Vorurteile seiner Landsleute so wenig scheute, daß die britischen Buchbesprechungen seine berühmte Geschichte des Krieges auf der Pyrenäenhalbinsel[74] zuerst einstimmig bezeich
neten „als die beste französische Schilderung, die je von diesem Krieg erschienen sei". Und auch der Gegner des Sir James Graham, der alte Admiral Napier, hat sich einen Namen dadurch gemacht, daß er die Befehle seiner Vorgesetzten zunichte machte. Diesen letzten kräftigen Schößling der Napiers glaubte nun Sir James Graham in der eisernen Umklammerung einer Boa constrictor1 eingepreßt zu haben, aber schließlich entpuppt sie sich nur als bloßes konventionelles Spinngewebe. Sir James Graham, Erster Lord der Admiralität, entsetzte Charles Napier bei seiner Rückkehr nach England seines Kommandos; im Unterhaus bezeichnete er ihn als den verantwortlichen Urheber des baltischen Fehlschlags und zitierte zum Beweis dafür einige Stellen aus Napiers Privatbriefen; er klagte ihn an, nicht den Mut gehabt zu haben, die kühnen Befehle der Admiralität auszuführen; er sprach die Hoffnung aus, daß in Zukunft kein Lord der Admiralität je mehr so unvorsichtig sein werde, Sir Charles Napiers Flagge zu hissen; und er machte sich in den ihm zu Gebote stehenden Blättern über ihn lustig und bezeichnete ihn als den „kämpfenden Charly", der gleich dem mythologischen König von Frankreich „mit zwanzigtausend Mann den Hügel hinauf- und dann wieder heruntermarschiert sei". Sir Charles Napier wir zitieren dessen eigene Worte
„verlangte eine Untersuchung seines Verhaltens, sie wurde ihm verweigert; er appellierte an das Kabinett, bekam aber keine Antwort; endlich wandte er sich an das Unterhaus. Die Akten wurden ihm unter dem Vorwand verweigert, daß Ihrer Majestät Dienst dadurch geschädigt würde."
Nach dem Bombardement von Sweaborg war dieser Vorwand natürlich hinfällig. Sir James glaubte seiner Sache um so sicherer zu sein, als er die Vorsicht gebraucht hatte, alle jene Briefe als „private" zu bezeichnen, die geeignet waren, ihn bloßzustellen und sein auserkorenes Opfer zu rechtfertigen. Über die Bedeutung des sakramentalen Wortes „privat" äußerte Sir James selbst, als er vor der Sewastopol-Kommission seine Aussage machte: Ein britischer Erster Lord der Admiralität sei gewöhnt, öffentliche Instruktionen als „private" zu bezeichnen, wenn er seine guten Gründe habe, sie nicht nur dem Publikum, sondern sogar dem Parlament vorzuenthalten. Ein Mann wie Sir James, der sich berechtigt glaubt, private Briefe in öffentliche zu verwandeln, findet es ganz natürlich, öffentliche Dokumente zum Privatbesitz zu erklären. Aber dieses Mal hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sir Charles
1 Riesenschlange (Abgottschlange)
Napier hat sich vielleicht, als er kühn die Fesseln „der privaten Instruktion" sprengte, der Gefahr ausgesetzt,"aus der Liste der englischen Kriegsflotte gestrichen zu werden, und sich wahrscheinlich des Rechtes begeben, je noch seine Flagge zu hissen; gleichzeitig hat er aber nicht nur Sir James den Weg in die Admiralität verrammelt, sondern auch dem englischen Volk gezeigt, daß seine Flotte ebenso korrumpiert ist wie seine Armee. Als der Feldzug auf der Krim die britische Armee ihres altehrwürdigen Ruhms beraubte, plädierten die Verteidiger des Ancien regime auf ein Nichtschuldig mit der plausiblen Begründung, England habe nie beansprucht, eine erstklassige Militärmacht zu sein. Daß aber Großbritannien nicht beansprucht habe, die erste Seemacht der Welt zu sein, wagen sie jedoch nicht zu behaupten. Das ist die erhebende Seite des Kriegs: er stellt eine Nation auf die Probe. Wie Mumien augenblicklich zerfallen, wenn man sie der atmosphärischen Luft aussetzt, so fällt auch der Krieg sein Todesurteil über alle sozialen Einrichtungen, die keine Lebenskraft mehr besitzen. Die Korrespondenz zwischen Sir James Graham und Admiral Napier, die in die Zeit vom 24. Februar bis zum 6. November 1854 fällt und ihres großen Umfangs wegen nicht vollinhaltlich in den Spalten unserer Zeitung wiedergegeben werden kann, läßt sich ganz kurz zusammenfassen. Bis Ende August, wo - wie allgemein bekannt ist - die Schiffahrtssaison auf der Ostsee ihrem Ende entgegengeht, ging alles ganz glatt - wenn auch Sir Charles Napier gleich beim Beginn der Expedition Sir James seine Meinung darüber gesagt hatte, daß
„die Mittel, die die Admiralität zur Ausrüstung und Bemannung der Nordseeflotte ausgeworfen habe, für diesen Anlaß ungenügend wären und nicht erlauben würden, den Russen unter annehmbaren Bedingungen entgegenzutreten". Während dieser ganzen Zeit hat Sir James in seinen Briefen nur ein freundliches Lächeln für seinen „lieben Sir Charles". Am 12.März „beglückwünscht" er ihn, weil die Flotte in so schöner „Ordnung" die englische Küste verlassen habe; am 5.April ist er „zufrieden mit ihrer Vorwärtsbewegung"; ani lO.April ist er „vollkommen zufrieden mit seinem Vorgehen"; am 20. Juni nennt er ihn einen „vollendeten Oberbefehlshaber"; am 4.Juli ist er „sicher, daß Sir Charles tun wird, was immer ein Mensch tun kann"; am 22. August beglückwünscht er ihn „aufrichtig zu dem Erfolg seiner Operationen vor Bomarsund"; und am 25. August wird er gar von einer Art poetischen Überschwangs ergriffen und ruft aus: „ Ich bin mehr als zufrieden mit Ihrem Vorgehen, ich bin begeistert von der Klugheit und dem gesunden Menschenverstand, die Sie an den Tag gelegt haben.
Während der ganzen Zeit ist Sir James mir besorgt, daß Sir Charles „in dem eifrigen Wunsch, eine große Heldentat zu vollbringen und die ungestümen Forderungen einer ungeduldigen Menge zu befriedigen, etwa einem raschen Impulse folgen und die Erfüllung der höchsten Pflicht versäumen konnte, das ist, den moralischen Mut zu haben, das zu tun, was man für richtig hält, auch wenn man dabei den Vorwurf riskiert, falsch gehandelt zu haben". Noch am I.Mai 1854 sagt er zu Sir Charles: „Ich glaube, sowohl Sweaborg als auch Kronstadt sind kaum von der See aus zu nehmen, ganz besonders Sweaborg, und nur eine ganz große Armee könnte zu Land erfolgreich operieren angesichts einer solchen Streitmacht, wie sie Rußland mit Leichtigkeit an den unmittelbaren Zugängen zu seiner Hauptstadt konzentrieren könnte/ Als ihm Sir Charles am 12. Juni sagt, „er sei, unterstützt von Admiral Chads, nach reiflicher Überlegung zu der Einsicht gekommen, die einzige erfolgreiche Art, Sweaborg anzugreifen, sei die Ausrüstung einer großen Zahl von Kanonenbooten-,
antwortet ihm Sir James am 11 .Juli: „Mit 50000 Mann und 200 Kanonenbooten könnten Sie vor Ende September doch noch etwas Großes und Entscheidendes tun/ Aber kaum hatte der Winter eingesetzt, kaum waren die französische Armee und Flotte abgefahren, kaum, begannen die schweren Äquinoktialstürme die Wogen der Ostsee aufzuwühlen, und kaum hatte Sir Charles berichtet: „Die Ankertaue unserer Schiffe haben schon zu zerreißen begonnen, dem .Dragon' ist nur ein Anker geblieben, die , Imperieuse' und der «Basilisk4 haben letzte Nacht je einen Anker verloren, die ,Magicienne* war gezwungen, im Nebel die Anker zu werfen, und mußte, als sie sie des Nachts bei Nargen lichtete, sich auf der Höhe des RonnskärLeuchtturms erneut verankern, da sie zwischen Klippen abgetrieben war; und der , Euryalus4 lief auf Klippen, und es ist ein wahres Wunder, daß er nicht verloren ist" als Sir James ganz plötzlich entdeckte, „man führe nicht Krieg ohne Risiko und Gefahr" und Sweaborg müsse daher ohne einen einzigen Soldaten, ein einziges Kanonen- oder Mörserboot genommen werden. In der Tat, wir können nur die Worte des alten Admirals wiederholen: „Wäre der Kaiser von Rußland Erster Lord der Admiralität, er würde auch keine anderen Briefe geschrieben haben!" In der Admiralität herrscht also, wie aus dieser Korrespondenz ersichtlich ist, dieselbe Anarchie wie im Kriegministerium. Sir James billigt die Opera
tionen Napiers innerhalb des Belts, während die Admiralität sie verwarf. Im August schreibt ihm Sir James, er solle sich auf einen zeitigen Rückzug aus der Ostsee vorbereiten, während die Admiralität ihm Telegramme entgegengesetzten Inhalts schickt. Sir James hat diese Ansicht von dem Bericht des Generals Niel, die Admiralität eine entgegengesetzte. Das Interessanteste aber an dieser Korrespondenz sind vielleicht die neuen Aufschlüsse, die sie uns über die englisch-französische Allianz gibt. Der französische Admiral zeigte Sir Charles seine Rückberufungsorderam 13. August. Die französische Armee segelte am 4. September und der Rest der französischen Flotte fuhr am 19. September ab; Sir James. Graham aber unterrichtet Sir Charles, daß er erst am 25. September von dieser Zurückziehung erfahren habe. Sir James nahm daher irrtümlich an, „die Entscheidungen seien an Ort und Stelle mit Napiers Einwilligung getroffen worden", aber, wie er nachdrücklich hinzufügt, „ohne daß sie irgendwie der englischen Regierung unterbreitet worden wären". Andererseits scheint es, als hätte Niel, der französische General der Genietruppen und Louis Bonapartes Intimus, den Rat gegeben, „Sweaborg in zwei Stunden durch Linienschiffe zu zerstören". Daraus scheint klar hervorzugehen, daß er die englische Flotte zu einer verzweifelten Attacke drängen wollte, bei der die Engländer sich nutzlos an den blinden Klippen und an den Forts der russischen Verteidigung die Köpfe eingerannt hätten«
Geschrieben um den 8. September 1855. Aus dem Englischen.

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