SEGUNDA PARTE TOMO 14

Friedrich Engels Birma
Birma oder das Königreich Ava - ein ausgedehnter Staat im Südosten Asiens, jenseits des Ganges, früher viel größer als gegenwärtig. Seine früheren Grenzen waren zwischen 9° und 27° nördlicher Breite; es erstreckte sich in einer Länge von 1000 Meilen und über 600 in der Breite. Gegenwärtig reicht das Gebiet Birmas von I9°25' bis 28° 15' nördlicher Breite und von 93°2' bis 100°4CK östlicher Länge, einen Raum von 540 Meilen in der Länge von Norden nach Süden und 420 Meilen in der Breite mit einer Bodenfläche von etwa 200 000 Quadratmeilen umfassend. Es wird im Westen von der Provinz Aracan begrenzt, die durch den birmesischen Vertrag von 1826 an die Briten abgetreten wurde, und durch die kleinen Staaten Tiperah, Munnipoor und Assam, von denen es durch hohe Gebirgskämme getrennt ist; im Süden liegt die kürzlich durch die Briten erworbene britische Provinz Pegu[2351, im Norden Ober-Assam und Tibet und im Osten China. Die Bevölkerungszahl überschreitet nach Capt. Henry Yule nicht 3 000 000. Seit der Abtretung Pegus an die Briten hat Birma weder Alluvial-Ebenen noch eine Seeküste, seine südliche Grenze liegt mindestens 200 Meilen von den Mündungen des Irawadi entfernt, und das Land steigt allmählich von dieser Grenze nach dem Norden zu an. Etwa 300 Meilen sind Hochland, und darüber hinaus ist es rauh und gebirgig. Dieses Territorium wird von drei großen Strömen bewässert, dem Irawadi, seinem Nebenfluß, dem Khyen-Dwen, und dem Salwin. Diese Flüsse haben ihre Quellen in der nördlichen Gebirgskette und fließen in südlicher Richtung zum Indischen Ozean. Obgleich Birma seines fruchtbarsten Territoriums beraubt worden ist, kann man das verbliebene keinesfalls unfruchtbar nennen. In den Wäldern gibt es wertvolles Holz im Überfluß; darunter nimmt Teakholz, das zum Schiffsbau verwendet wird, einen hervorragenden Platz ein. Fast jede der in Indien bekannten Holzarten ist auch in Birma zu finden. Eis werden
Stocklack von ausgezeichneter Qualität sowie Firnis zur Anfertigung von Lackarbeiten hergestellt. Ava, die Hauptstadt, wird mit einem vorzüglichen Teakholz aus einem 15 Tagereisen entfernten Walde beliefert. Landwirtschaft und Gartenbau befinden sich überall in einem auffallend zurückgebliebenen Zustand; und hätte das Land nicht so reiche Bodenschätze und ein so gleichmäßiges Klima, so wäre der Staat sehr arm. Obst wird überhaupt nicht angebaut, und die Kulturen werden unzulänglich gepflegt. An Gartengemüse werden meist Zwiebeln und Cayennepfeffer angebaut. Auch Yams und süße Kartoffeln sind zu finden, sowie geringe Mengen von Melonen, Gurken und Eierfrüchten. Die jungen Bambussprossen, wilder Spargel und die saftigen Wurzeln verschiedener Wasserpflanzen ersetzen den Einwohnern die kultivierten Gartenfrüchte. Die Früchte des Mangobaums, Ananas, Orangen, Zuckeräpfel, Jackfrüchte (eine Art Brotfrucht), Papaya, Feigen und der Pisang (jener größte Feind der Zivilisation) sind die Hauptfrüchte; sie alle wachsen bei geringer oder ohne Pflege. Die Hauptkulturen sind Reis (der in einigen Gegenden als Zirkulationsmittel benutzt wird), Mais, Hirse, Weizen, verschiedene Hülsenfrüchte, Palmen, Zuckerrohr, Tabak, kurzfaserige Baumwolle und Indigo. Zuckerrohr wird nicht überall angebaut, und die Kunst, daraus Zucker zu machen, ist kaum bekannt, obwohl die Pflanze dem Volke seit langem bekannt gewesen ist. Ein billiger Rohzucker wird aus dem Saft der Palmira-Palme gewonnen, von denen es besonders südlich der Hauptstadt zahlreiche Haine gibt. Indigo wird so schlecht bearbeitet, daß er für den Export völlig ungeeignet ist. Reis im Süden sowie Mais und Hirse im Norden sind die Standardpflanzen. Sesam wird allgemein für das Vieh angebaut. An den Nordhügeln wird die echte Teepflanze Chinas in'beträchtlichem Umfang angebaut, aber statt ihn aufzubrühen, wie sie es mit dem chinesischen Tee tun, essen die Eingeborenen sonderbarerweise das Laub mit öl und Knoblauch. Baumwolle wird hauptsächlich in den trockenen Gebieten der oberen Provinzen angepflanzt. Die dichten Wälder Birmas sind reich an wilden Tieren, die häufigsten sind der Elefant, das einhornige Nashorn, der Tiger und der Leopard sowie das Wildschwein; außerdem gibt es mehrere Arten Rotwild. Von Vögeln ist der wilde Hahn allgemein; es gibt auch Abarten von Fasanen, Rebhühnern und Wachteln. Haustiere sind der Ochse, das Pferd und der Büffel. Der Elefant wird auch als Zugtier benutzt. Das Kamel ist nicht bekannt. Eis gibt zwar einige Ziegen und Schafe, aber um die Zucht kümmert man sich wenig. Esel finden kaum Verwendung. Hunde werden im birmesischen Haushalt nicht gehalten; aber Katzen sind zahlreich. Pferde werden ausschließlich
zum Reiten benutzt und sind selten mehr als dreizehn Hände1 hoch. Der Ochse ist das Zug- und Lasttier im Norden, der Büffel im Süden. An Minerahen wird in den Betten mehrerer Ströme Gold gefunden, das im Sand von den Gebirgen herabgeführt wird. An der chinesischen Grenze, in Bor-twang, werden Silberminen ausgebeutet. Die jährliche Ausbeute an gewonnenem Gold und Silber ist auf annähernd 1 000 000 Dollar geschätzt worden. Im östlichen Teil von Laos ist Eisen im Überfluß vorhanden; es wird aber so primitiv bearbeitet, daß 30-40% des Metalls beim Schmiedeprozeß verlorengehen. Die Erdölbohrungen an den Ufern des Irawadi bringen 8 000 000 lbs. jährlich. Kupfer, Zinn, Blei und Antimon gibt es, wie bekannt ist, in Laos, aber es ist zweifelhaft, ob irgendwelche dieser Metalle in beträchtlichen Mengen gewonnen werden, da die Bevölkerung die Methoden ihrer Gewinnung nicht kennt. Die Berge in der Nähe der Stadt Ava liefern Kalkstein von hervorragender Qualität; reiner Bildsäulen-Marmor wird 40 Meilen von der Hauptstadt entfernt an den Ufern des Irawadi gefunden; Bernstein gibt es in solcher Menge, daß er in Ava zu dem niedrigen Preise von 1 Dollar pro lb. verkauft wird; und Salpeter, Natron, Salz und Kohle sind über das ganze Land weithin verbreitet, obgleich letztere wenig verwandt wird. Das reichlich gewonnene Erdöl wird von allen Schichten Birmas als Brennstoff für Lampen und als Schutzmittel gegen Insekten benutzt. Es wird in Eimern aus engen Brunnen? Schächten aus einer Tiefe von 210 bis 300 Fuß geschöpft; es quillt aus dem Boden wie ein natürlicher Springbrunnen. Terpentin wird in verschiedenen Teilen des Landes gefunden und in großer Menge nach China exportiert. Der orientalische Saphir, Rubin, Topas und Amethyst sowie verschiedene Arten gelblich-grüner Beryllen und roter Spinellen werden in zwei Distrikten in den Bachbetten gefunden. Alle Edelsteine mit einem Wert von mehr als 50 Dollar werden von der Krone beansprucht und der Schatzkammer übersandt, außerdem wird es Fremden nicht gestattet, nach den Steinen zu suchen. Aus allem, was gesagt wurde, ist ersichtlich, daß die Birmanen nur geringe Fortschritte in der Ausübimg handwerklicher Künste gemacht haben. Der gesamte Prozeß der Baumwollherstellung wird von Frauen durchgeführt; sie benutzen einen einfachen Webstuhl und zeigen verhältnismäßig wenig Kunstsinn und Geschicklichkeit. Porzellan wird aus China importiert; britische Baumwollstoffe werden eingeführt und sogar im Innern wohlfeiler verkauft als die einheimischen Erzeugnisse; obgleich die
1 etwa 1,32 m
Birmanen Eisen schmelzen, wird Stahl von Bengalen eingeführt; Seide wird an verschiedenen Orten hergestellt, aber aus chinesischer Rohseide; und während eine sehr große Vielfalt von Waren importiert wird, sind die Exporte verhältnismäßig unbedeutend; jene nach China, mit dem die Birmanen ihren ausgedehntesten Handel führen, bestehen in Rohbaumwolle, Schmuckfedern, hauptsächlich des blauen Nußhähers, eßbaren Schwalbennestern, Elfenbein, den Hörnern des Nashbrns und den Geweihen des Rotwilds und einigen geringeren Arten von Edelsteinen. Im Austausch dagegen führen die Birmanen bearbeitetes Kupfer, Schwefelarsen, Quecksilber, Zinnoberrot, Eisenpfannen, Messingdraht, Zinn, Blei, Alaun, Silber, Gold und Blattgold, Steingut, Farben, Teppiche, Rhabarber, Tee, Honig, Rohseide, Samte, chinesische Spirituosen, Moschus, Grünspan, getrocknete Früchte, Papier, Fächer, Schirme, Schuhe und Bekleidung ein. Gold- und Silberschmuck von sehr grober Ausführung wird in verschiedenen Teilen des Landes angefertigt; Waffen, Scheren und Zimmermanns Werkzeuge werden in Ava hergestellt; Götzenbilder werden in beträchtlicher Anzahl etwa 40 Meilen von Ava gehauen, wo man einen Berg aus reinem weißem Marmor gefunden hat. Die Währung befindet sich in einem elenden Zustand. Blei, Silber und Gold, alle ungeprägt, bilden das Zirkulationsmittel. Ein großer Teil des Handels vollzieht sich wegen der Schwierigkeiten, die die Ausführung kleiner Zahlungen verursacht, auf dem Wege des Tausches. Die edlen Metalle müssen jedesmal gewogen und geprüft werden, wenn sie in andere Hände übergehen, wofür Bankiers etwa 31/2% fordern. Die Zinsen betragen jährlich 25 bis 60%. Petroleum ist der gebräuchlichste Konsumtionsartikel. Gegen Petroleum werden Salpeter, Kalk, Papier, Lackarbeiten, Baumwoll- und Seidenfabrikate, Eisen- und Messingarbeiten, Zucker, Tamarinde etc. getauscht. Das Yonnet-ni (das Standardsilber des Landes) ist im allgemeinen mit 10-15% Kupfer legiert. Unter 85/n)o wird die Legierung nicht als Zahlungsmittel anerkannt; dieser Feinheitsgrad wird in dem für Steuern gezahlten Gelde gefordert. Die Einkünfte des Reiches ergeben sich aus einer Haussteuer, die dem Dorfe auferlegt wird; die Dorfbehörden schätzen die Hausbesitzer danach entsprechend ihrer Zahlungsfähigkeit ein. Diese Steuer ist sehr verschieden, von 6 Tikals je Hausbesitzer in Prome bis zu 27 Tikals in Tongho. Militärdienstpflichtige, Bauern der königlichen Domäne und Handwerker, die mit öffentlichen Arbeiten betraut sind, sind von dieser Steuer befreit. Die Höhe der Bodensteuer richtet sich nach dem Ernteertrag. Die Tabaksteuer wird in Geld gezahlt; für die übrigen Kulturen werden 5% in Naturalien gezahlt. Die Bauern der königlichen Ländereien zahlen mehr als die Hälfte
ihrer Erträge. Fischereihäfen an See und Fluß werden entweder zu einer festgesetzten Gebühr oder gegen einen Anteil vom Fang an getrocknetem Fisch verpachtet. Diese verschiedenen Einkünfte werden durch die Beamten der Krone und für deren Verwendung eingezogen, jeder von ihnen erhält seiner Bedeutung entsprechend einen größeren oder kleineren Distrikt, von dessen Erträgen er lebt." Das königliche Einkommen wird aus dem Verkauf von Monopolen der Krone gewonnen, unter denen das hauptsächlichste Baumwolle ist. Dieses Monopol wird so gehandhabt, daß die Einwohner gezwungen werden, bestimmte Artikel zu festgesetzten niedrigen Preisen an die Beamten der Krone zu liefern, welche sie mit einem enormen Aufschlag verkaufen. So wird Blei durch die Erzeuger zu dem Satze von 5 Tikals je Bis oder 3,6 lbs. abgeliefert, und Seine Majestät verkauft es zu dem Satze von 20 Tikals. Die königlichen Einkünfte belaufen sich, wie behauptet wird, auf etwa 1 820 000 Tikals oder 227 500 Pfd. St. jährlich, wozu ein weiterer Betrag von 44 250 Pfd. St. addiert werden muß, der sich aus gewissen Zöllen ergibt, die in besonderen Distrikten erhoben werden. Diese Gelder erhalten den königlichen Haushalt. Dieses Steuersystem, obgleich despotisch, ist in seinen Einzelheiten ungewöhnlich einfach; und ein weiteres Beispiel der Einfachheit in der Regierungsweise ist die Art, in der die Armee in die Lage versetzt wird, sich selbst zu erhalten oder wie sie letztlich vom Volke erhalten werden muß. Es gibt verschiedene Arten der Anwerbung; in einigen Distrikten wird das Freiwilligen-System angewandt, während in anderen je 16 Familien gezwungen werden, 2 Mann bewaffnet und ausgerüstet zu stellen. Sie sind ferner verpflichtet, diesen Rekruten monatlich 56 lbs. Reis und 5 Rupien zu liefern. In der Provinz Padoung wird jeder Soldat bei 2 Familien einquartiert, die 5 Acres steuerfreies Land erhalten und dem Krieger den halben Ernteertrag und 25 Rupien jährlich zu liefern haben, außerdem Holz und andere unbedeutendere Dinge des täglichen Bedarfs. Der Hauptmann von 50 Mann erhält 10 Tikals (der Tikal ist P/4 Dollar oder 21/2 Rupien wert) von je 6 Familien und die Hälfte des Ernteertrages von einer siebenten. Der Bo oder Hundertschaftsführer wird durch die Arbeit von 52 Familien erhalten, und der Bogyi oder Oberst erhebt seinen Sold von seinen eigenen Offizieren und Soldaten. Der birmanische Soldat kämpft unter günstigen Umständen gut, aber der wesentlichste Vorzug eines birmanischen Armeekorps liegt im Fehlen der Impedimente; der Soldat trägt sein Bett (eine Hängematte) an einem Ende seiner Muskete, seinen Kessel am anderen und seine Lebensmittelvorräte (Reis) in einem Tuch um die Hüfte.
Im Körperbau scheinen die Birmanen von derselben Rasse zu sein wie
die Einwohner der Länder zwischen Hindustan und China, wobei sie mehr vom Mongolen- als vom Hindu-Typ haben. Sie sind klein, stämmig, gut proportioniert, fleischig, aber beweglich, mit großen Backenknochen, schräg gestellten Augen, brauner, aber niemals sehr dunkler Gesichtsfarbe, grobem, schlichtem, schwarzem Haar und vollerem Bart als ihre Nachbarn, die Siamesen. Major Allen billigt ihnen in einer Denkschrift über die ostindische Regierung Offenheit, einen starken Sinn für das Komische, beträchtliche Hilfsbereitschaft, geringen Patriotismus, aber viel Heimat- und Familienliebe zu, außerdem verhältnismäßig wenig Vorurteil gegen Fremde und eine Bereitschaft, sich die Kenntnis neuer Künste anzueignen, wenn sie nicht mit zuviel geistiger Anstrengung verbunden sind. Sie sind schlaue Händler und haben ein gut Teil eines gewissen Unternehmungsgeistes; sie sind mäßig, haben jedoch geringe Ausdauer; sie verfügen über mehr List als Mut; wenn auch von Natur nicht blutdürstig, haben sie die Grausamkeiten ihrer verschiedenen Könige phlegmatisch ertragen; und ohne von Natur Lügner und Betrüger zu sein, sind sie doch große Prahler und unzuverlässig. Die Birmanen sind dem Glauben nach Buddhisten und haben die Zeremonien ihrer Religion von der Vermischung mit anderen Religionen freier gehalten, als es sonst irgendwo in Indien und China der Fall ist. Die birmanischen Buddhisten vermeiden in gewisser Hinsicht den Bilderkult, der in China geübt wird, und ihre Mönche sind mehr als gewöhnlich ihren Gelübden der Armut und des Zölibats treu. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts hatten sich von der birmanischen Staatsreligion zwei Sekten oder Abarten des alten Glaubens abgelöst. Die erste von ihnen hatte einen in gewisser Hinsicht dem Pantheismus ähnlichen Glauben, wonach die Gottheit über und durch die ganze Welt und ihre Geschöpfe verbreitet ist, in ihren höchsten Entwicklungsstadien jedoch in den Buddhisten selbst erscheint. Die andere lehnt die Lehre von der Seelenwanderung und die Bilderverehrung sowie das Klostersystem der Buddhisten vollständig ab, sie betrachtet den Tod als die Pforte zu einem ewigen Glück oder Elend, je nach dem Verhalten des Hingeschiedenen und verehrt einen höchsten und alles schaffenden Geist (Nat). Der derzeitige König1, der ein eifriger Anhänger seines Glaubens ist, hat bereits 14 dieser Ketzer öffentlich verbrennen lassen, deren beide Gruppen gleichermaßen ungesetzlich sind. Dessen ungeachtet sind sie laut Capt. Yule sehr zahlreich, huldigen jedoch ihrem Glauben insgeheim.
1 Menduhn-Men
Die Frühgeschichte Birmas ist nur wenig bekannt. Das Reich erlangte den Höhepunkt seiner Macht im 11.Jahrhundert, als Pegu die Hauptstadt war. Um den Beginn des 16. Jahrhunderts wurde der Staat in mehrere kleinere und unabhängige Regierungen gespalten, die gegeneinander Krieg führten; und im Jahre 1554, als der König Tschen-bayu-Majyajen die Stadt Ava einnahm, hatte er sich das ganze Tal des Irawadi unterworfen und sogar Siam Untertan gemacht. Nach verschiedenen Veränderungen erhob Alompra, der Gründer der gegenwärtigen Dynastie (er starb 1760), noch einmal das Reich zu einer Macht und Ausdehnung, die der früheren ungefähr gleichkam. Von dieser Zeit an haben die Briten davon die fruchtbarsten und wertvollsten Provinzen genommen. Die Regierungsform von Birma ist reiner Despotismus, der König, dessen einer Titel „Herr über Leben und Tod" ist, verhängt Gefängnisund Geldstrafen, Folter oder Tod nach seinem erhabenen Willen. Die Regierung wird im einzelnen von dem hlwot-dau oder Staatsrat ausgeübt, dessen Vorsitz der vorher benannte rechtmäßige Thronfolger oder, wenn kein Nachfolger benannt ist, einPrinz königlichen Geblüts führt. In gewöhnlichen Zeiten setzt sich der Rat aus vier Ministern zusammen, die jedoch keine bestimmten Ressorts haben, sondern so handeln, wie es der Zufall fügt. Sie bilden auch einen hohen Gerichtshof, vor den Prozesse zur endgültigen Entscheidung gebracht werden; und in ihrer persönlichen Eigenschaft haben sie die Macht, Urteile zu fällen in Angelegenheiten, die nicht vor den Kollektivrat gebracht werden. Da sie 10% des Eigentums im Prozeß für die Kosten des Urteils behalten, beziehen sie recht hübsche Einkünfte aus dieser Quelle. Hieraus und aus anderen Eigentümlichkeiten der birmanischen Regierung ist leicht zu ersehen, daß dem Volke selten Gerechtigkeit zuteil wird. Jeder Beamte ist zugleich ein Plünderer; die Richter sind käuflich, die Polizei ist machtlos, Räuber und Diebe sind zahlreich, Leben und Eigentum sind unsicher, und es fehlt jeder Antrieb zum Fortschritt. Nahe der Hauptstadt ist die Macht des Königs furchtbar und tyrannisch. Sie nimmt mit der Entfernung ab, so daß in den entlegeneren Provinzen das Volk den Forderungen des Herrn des weißen Elefanten nur wenig Rechnung trägt, seine eigenen Gouverneure wählt, die vom König bestätigt werden, und der Regierung nur geringen Tribut zahlt. Tatsächlich bieten die an China grenzenden Provinzen das kuriose Schauspiel eines Volkes, das zufrieden unter zwei Regierungen lebt, der chinesischen und der birmanischen, die gleichen Anteil an der Bestätigung der Gouverneure dieser Gebiete haben, aber weise im allgemeinen die gleichen Männer einsetzen. Nichtsdestoweniger haben verschiedene britische Missionen Birma
besucht, und obgleich die Missionstätigkeit dort erfolgreicher durchgeführt wurde als irgendwo sonst in Asien, ist das Innere Birmas noch eine vollständige terra incognita, über die moderne Geographen und Kartographen einige wilde Vermutungen gewagt haben, jedoch im einzelnen sehr wenig wissen. - (Siehe „Bericht der 1855 vom Generalgouverneur von Indien an den Hof von Ava gesandten Mission" von Capt. Henry Yule, London 1858).
Geschrieben zwischen Anfang Februar und 8. März 1858. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Bomarsund
Bomarsund - ein enger Kanal zwischen den Alandsinseln und Vardö beim Eingang zum Bottnischen Meerbusen. Die russischen Festungen am Hafen von Bomarsund sind während des Krieges 1854 durch die britische und französische Flotte zerstört worden. Die nach Bomarsund führenden Kanäle wurden Ende Juli von 4 britischen Schiffen und einigen kleinen Dampfern blockiert. Kurz danach trafen Abteilungen der verbündeten Flotten mit den Admiralen Napier und Parseval-Deschenes ein, denen am 7. August die Linienschiffe mit General Baraguay d'Hilliers und 12000 Mann, meist Franzosen, folgten. Der russische Kommandeur, General Bodisco, wurde am 16. August gezwungen, sich zu ergeben, und die Verbündeten besetzten die Insel bis zum Ende des Monats, wonach die ganze Festung gesprengt wurde. Die Siegestrophäen waren 112 Kanonen mit Lafetten, 79 ohne Lafetten, 3 Mörser, 7 Feldgeschütze und 2235 Gefangene. Diese Belagerung war insofern von grundlegendem militärischen Interesse, weil dadurch die Frage der Verwendung ungeschützter Mauerwerke bei Festungen mit Landfronten entschieden war.
Geschrieben um den 18. März 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels Beresford12361
Beresford, William Carr, Viscount, britischer General, geboren am 2. Oktober 1768 in Irland, gestorben am 8. Januar 1854 in Kent, unehelicher Sohn von George, dem ersten Marquis von Waterford. Trat im Alter von 16 Jahren in die Armee ein und diente in Nova Scotia bis 1790. Während dieser Zeit verlor er durch einen fahrlässigen Schuß eines Offizierskameraden ein Auge. Er diente in Toulon, Korsika, Westindien (unter Abercromby), Ostindien und Ägypten (unter Baird). Bei seiner Rückkehr 1800 wurde er durch Patent zum Obersten befördert. Danach diente er in Irland, wirkte bei der Eroberung des Kaps der Guten Hoffnung und (als Brigadegeneral) beim Angriff auf Buenos Aires 1806 mit, wo er gezwungen wurde, sich zu ergeben, aber schließlich entkam. 1807 befehligte er die Streitkräfte, die Madeira einnahmen, und wurde zum Gouverneur dieser Insel ernannt.1-2371 1808 wurde er Generalmajor, und nachdem er mit den englischen Streitkräften in Portugal eingetroffen war, betraute man ihn mit der gesamten Organisation der portugiesischen Armee, einschließlich der Miliz. Er war einer der Beauftragten, die die Bedingungen der berühmten Konvention von Cintra festlegten; während des Rückzugs auf Coruna und bei der Schlacht war er zugegen und sicherte die Einschiffung der Truppen Sir John Moores12381. Im März 1809 wurde er zum Marschall und Generalissimus der portugiesischen Armee befördert, die durch ihn bald zu einer sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung ausgezeichneten Streitkraft entwickelt wurde. Er kämpfte während des ganzen Krieges auf der Halbinsel, wobei er bis zu dessen Beendigung 1814 Wellington tatkräftig unterstützte. Bei der einzigen wesentlichen Gelegenheit jedoch, als er 1811 in der Schlacht von Albuera das Oberkommando innehatte, entfaltete er sehr geringe Feldherrnkünste, und die Schlacht wäre ohne die Tat eines Subalternen, der sein en Befehlen zuwiderhandelte1, verloren gewesen. Er nahm an
1 Siehe vorl. Band, S. 50/51
den Siegen von Salamanca, Vittoria, Bayonne, Orthezund Toulouse teil'2391. Für diese Dienste wurde er zum Feldmarschall von Portugal, Herzog von Elvas und Marquis von Santo Campo ernannt. 1810 wurde er zum Parlamentsmitglied für die Grafschaft Waterford gewählt (er nahm niemals seinen Sitz ein) und 1814 zum Baron Beresford von Albuera und Dungannon ernannt; 1823 wurde er in die Würde eines Viscount erhoben. 1814 ging er in einer diplomatischen Mission nach Brasilien, wo er 1817 eine Verschwörung unterdrückte12401. Nach seiner Rückkehr rückte er nacheinander zum Generalleutnant der Artillerie, Armeegeneral und (von 1828 bis 1830) zum Generalfeldzeugmeister auf. Da er 1823 Dom Miguel beigestanden hatte'2411, wurde ihm das Patent des Feldmarschalls von Portugal aberkannt. In der Politik war er, wenn auch im stillen, als entschiedener Tory tätig. Seine militärische Stärke bestand hauptsächlich in der erfolgreichen Reorganisierung des portugiesischen Heeres, das er durch große Geschicklichkeit und unermüdliche Anstrengung schließlich zu einer so festgefügten und gut disziplinierten Truppe machte, die selbst den Franzosen gewachsen war. 1832 heiratete er seine Cousine Louisa, Tochter des Erzbischofs von Tuam und Witwe von Thomas Hope, dem Millionär-Bankier und Autor von „Anastasius". Er hinterließ keine Kinder, und der Titel erlosch bei seinem Tode.
Geschrieben Anfang März bis 9. April 1858. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Kavallerie
Kavallerie (französisch cavalerie, von cavalier = Reiter, von cheval = Pferd) - ein Truppenkörper zu Pferde. Die Verwendung des Pferdes zum Reiten und die Einführung berittener Truppen in Armeen stammte naturgemäß aus jenen Ländern, in denen das Pferd beheimatet war und wo das Klima und der Graswuchs die Entwicklung all seiner physischen Eigenschaften begünstigten. Während das Pferd in Europa und im tropischen Asien bald zu einem plumpen Tier oder einem im Wachstum zurückgebliebenen Pony degenerierte, erzielte die Zucht Arabiens, Persiens, Kleinasiens, Ägyptens und der Nordküste Afrikas große Schönheit, Schnelligkeit, Gelehrigkeit und Ausdauer. Das Pferd scheint jedoch zunächst nur als Zugtier verwendet worden zu sein; zumindest tritt in der Kriegsgeschichte der Streitwagen viel früher auf als der bewaffnete Reiter. Auf den ägyptischen Denkmälern sind viele Streitwagen zu sehen, aber, von einer einzigen Ausnahme abgesehen, keine Reiter; und diese Ausnahme stammt wahrscheinlich aus der römischen Zeit. Doch es unterliegt keinem Zweifel, daß die Ägypter mindestens einige Jahrhunderte vor der Eroberung des Landes durch die Perser eine zahlenmäßig starke Kavallerie besaßen; der Befehlshaber dieser Waffengattung wird mehr als einmal unter den wichtigsten Beamten des Hofes genannt. Sehr wahrscheinlich lernten die Ägypter die Kavallerie während ihres Krieges mit den Assyrern kennen, denn auf den assyrischen Denkmälern sind oft Reiter dargestellt, und ihre sehr frühzeitige Verwendung bei den assyrischen Heeren im Kriege ist mit Sicherheit festgestellt worden. Auch der Sattel scheint von ihnen zu stammen. Auf den älteren Skulpturen reitet der Soldat auf dem bloßen Rücken des Tieres; in einer späteren Epoche finden wir eine Art Polster oder Kissen vor und schließlich einen hohen Sattel, ähnlich dem heute überall im Osten gebräuchlichen. Die Perser und Meder waren bei ihrem Eintritt in die Geschichte Reiter
Völker. Obwohl sie den Streitwagen beibehielten und ihm sogar den aus alten Zeiten stammenden Vorrang über die jüngere Waffengattung, die Kavallerie, ließen, erhielt diese durch die große zahlenmäßige Stärke der Berittenen doch eine Bedeutung, die sie in früheren Armeen niemals besessen hatte. Die Kavallerie der Assyrer, Ägypter und Perser war die gleiche, wie sie im Osten noch vorherrscht und wie sie bis in die jüngste Zeit in Nordafrika, Asien und Osteuropa ausnahmslos verwendet wurde, nämlich irreguläre Kavallerie. Als die Griechen aber ihre Pferde durch Kreuzungen mit den östlichen Rassen so weit verbessert hatten, daß sie für Kavalleriezwecke geeignet waren, begannen sie diese Waffengattung nach einem neuen Prinzip zu organisieren. Sie sind die Schöpfer sowohl der regulären Infanterie als auch der regulären Kavallerie. Sie formierten die Massen der Krieger in festen Einheiten, bewaffneten sie, rüsteten sie zweckentsprechend aus und lehrten sie, gemeinsam zu handeln, sich in Reih und Glied zu bewegen, in einer bestimmten taktischen Formation zusammenzuhalten und so die ganze Wucht ihrer konzentrierten und vorrückenden Masse auf einen bestimmten Punkt der feindlichen Front zu werfen. In dieser Form organisiert, erwiesen sie sich überall den unausgebildeten, schwerfälligen und ungezügelten Haufen überlegen, welche die Asiaten gegen sie führten. Bis zu der Zeit, da die Perser selbst eine Kavallerie mehr regulärer Art gebildet hatten, ist uns kein Beispiel eines Kampfes griechischer Kavallerie gegen persische Reiter bekannt; doch es kann keinen Zweifel darüber geben, daß das Resultat das gleiche gewesen wäre wie bei einem Treffen der Infanterie beider Völker. Kavallerie wurde zunächst nur von den Pferdezucht treibenden Völkern Griechenlands organisiert, z. B. von den Thessaliern und Böotiern; doch sehr bald danach stellten die Athener neben berittenen Bogenschützen für den Vorpostendienst und zum Schwärmen auch eine Einheit schwerer Kavallerie auf. Die Spartaner hatten aus der Elite ihrer Jugend ebenfalls eine berittene Leibgarde gebildet, doch sie setzten in die Kavallerie kein Vertrauen und iießen sie daher im Kampf abgesessen als Infanterie kämpfen. Die Perser lernten von den Griechen Kleinasiens und auch von den in ihrer Armee dienenden griechischen Söldnern die Formierung regulärer Kavallerie, und zweifellos war ein ansehnlicher Teil der gegen Alexander den Großen kämpfenden persischen Reiterei mehr oder weniger darin geübt, regulär in geschlossenen Abteilungen zu agieren. Den Makedoniern waren sie jedoch nicht gewachsen. Bei diesem Volk war das Reiten ein für die adligen Jünglinge unerläßlicher Teil ihrer Bildung, und die Kavallerie nahm in ihrer Armee eine erstrangige Stellung ein. Die
Kavallerie Philipps und Alexanders bestand aus dem makedonischen und thessalischen Adel sowie aus einigen im eigentlichen Griechenland rekrutierten Eskadronen. Sie setzte sich aus schweren Reitern zusammen - cataphractae -, mit Helm und Brustharnisch, Beinschieneri und einem Speer bewaffnet. Gewöhnlich griff sie in geschlossener Formation an, in rechteckiger oder keilförmiger Kolonne, manchmal auch in Linie. Die aus Hilfstruppen bestehende leichte Kavallerie war mehr oder weniger irregulär und diente, wie heute die Kosaken, zum Vorpostendienst und zum Schwärmen. Die Schlacht am Granikos (334 v.u.Z.)171 bietet das erste Beispiel eines Treffens, in dem die Kavallerie eine entscheidende Rolle spielte. Die persische Kavallerie war in Angriffsdistanz vor den Furten des Flusses aufgestellt. Sobald die Kolonnenspitzen der makedonischen Infanterie den Fluß überschritten hatten und ehe sie sich entwickeln konnten, fiel die persische Reiterei über sie her und trieb sie ungestüm wieder in den Fluß zurück. Dieses mehrmals mit vollem Erfolg wiederholte Manöver beweist, daß die Perser den Makedonien! reguläre Kavallerie entgegenstellen konnten. Um die Infanterie gerade im Augenblick ihrer größten Schwäche zu überrumpeln, das heißt, wenn sie von einer taktischen Formation zu einer anderen übergeht, muß die Kavallerie fest in der Hand und völlig in der Gewalt ihrer Befehlshaber sein. Irreguläre Truppen sind dazu nicht imstande. Ptolemäus, der die Vorhut der Armee Alexanders befehligte, konnte nicht eher vorankommen, als bis die makedonischen schweren Reiter den Fluß überquert und die Perser in der Flanke angegriffen hatten. Ein langer Kampf folgte, doch die persischen Reiter wurden am Ende in die Flucht geschlagen, da sie in einer einzigen Linie ohne Reserven aufgestellt waren und von den asiatischen Griechen in ihrer Armee schließlich im Stich gelassen wurden. Die Schlacht von Arbela (331 v.u.Z.)1181 war die ruhmreichste Schlacht für die makedonische Kavallerie. Alexander führte die makedonische Reiterei persönlich an, die den äußersten rechten Flügel seiner Schlachtordnung bildete, während die thessalische Reiterei auf dem linken stand. Die Perser versuchten ihn zu überflügeln; doch im entscheidenden Augenblick brachte Alexander frische Truppen nach vorn, um wiederum die Perser zu überflügeln, die währenddessen eine Lücke zwischen ihrem linken Flügel und dem Zentrum gelassen hatten. Alexander stieß sofort in diese Lücke, trennte den linken Flügel von der übrigen Armee, rollte ihn völlig auf und verfolgte ihn über eine beträchtliche Strecke. Als Alexander dann aufgefordert wurde, seinem eigenen bedrohten linken Flügel zu Hilfe zu kommen, sammelte er seine Reiterei in sehr kurzer Zeit, führte sie hinter das
Zentrum des Feindes und griff dessen rechten Flügel im Rücken an. Damit war die Schlacht gewonnen, und seit dem Tage zählt Alexander zu den größten Kavalleriegeneralen aller Zeiten. Als Krönung dieser Tat verfolgte seine Kavallerie den fliehenden Feind so ungestüm, daß seine Vorhut am nächsten Tage 75 Meilen vom Schlachtfeld entfernt stand. Es ist sehr interessant festzustellen, daß die allgemeinen Grundsätze der Kavallerietaktik damals ebensogut beherrscht wurden wie heute. Infanterie in ihrer Marschformation oder während eines Formationswechsels angreifen; Kavallerie grundsätzlich in den Flanken angreifen; aus jeder Lücke in der feindlichen Linie Nutzen ziehen, indem man sich dort hineinstürzt und dann nach rechts oder links einschwenkt, um die neben einer solchen Lücke stehenden Truppen in der Flanke und im Rücken zu fassen; einen Sieg durch die schnelle und unerbittliche Verfolgung des zerschlagenen Feindes ausnützen - diese Regeln gehören zu den ersten und wichtigsten, die jeder Kavallerieoffizier heute lernen muß. Nach Alexanders Tod hören wir nichts mehr von jener ausgezeichneten Kavallerie Griechenlands und Makedoniens. In Griechenland überwog wieder die Infanterie; auch in Asien wie in Ägypten zerfiel die Reiterei bald. Die Römer sind niemals Reiter gewesen. Die zahlenmäßig geringe, zu den Legionen gehörende Kavallerie kämpfte lieber zu Fuß. Ihre Pferde waren minderwertig, und die Männer konnten nicht reiten. Im Süden des Mittelmeerraumes jedoch wurde eine Kavallerie geschaffen, die der Alexanders nicht nur gleichkam, sondern sie sogar in den Schatten stellte. Den karthagischen Feldherren Hamilkar und Hannibal war es gelungen, neben ihren numidischen irregulären Reitern eine erstklassige reguläre Kavallerie aufzustellen und damit eine Waffe zu schaffen, die ihnen fast überall den Sieg sicherte. Die Berber Nordafrikas, zumindest aus den Ebenen, sind bis zum heutigen Tage ein Reitervolk, und das herrliche Berberpferd, das Hannibals Krieger mit einer bisher unbekannten Geschwindigkeit und Vehemenz in die tiefen Massen der römischen Infanterie hineintrug, trägt noch heute die besten Regimenter der ganzen französischen Kavallerie, die chasseurs d'Afrique, und wird von ihnen als das beste Kriegspferd überhaupt anerkannt. Die karthagische Infanterie war der römischen weit unterlegen, sogar nachdem sie von ihren beiden großen Feldherren lange Zeit ausgebildet worden war; sie hätte im Kampf gegen die römischen Legionen nicht die geringste Chance gehabt, wäre sie nicht von jener Kavallerie unterstützt worden, durch die allein sich Hannibal 16 Jahre in Italien behaupten konnte.12421 Als diese Kavallerie aufgerieben war, nicht durch das Schwert des Feindes, sondern durch den ständigen
Kräfteverbrauch in so vielen Feldzügen, konnte er sich in Italien nicht mehr halten. Das Gemeinsame an den Schlachten Hannibals und Friedrichs des Großen ist, daß in den meisten Fällen die Kavallerie über erstklassige Infanterie siegte; die Kavallerie hat nie so ruhmreiche Taten vollbracht wie unter diesen beiden großen Feldherren. Wir wissen nicht genau, aus welchem Volk und nach welchen taktischen Grundsätzen Hamilkar und Hannibal ihre reguläre Kavallerie formiert hatten. Doch da ihre numidische leichte Reiterei stets klar von der schweren oder regulären Kavallerie unterschieden wird, können wir schlußfolgern, daß letztere nicht aus Berberstämmen zusammengesetzt war. Sehr wahrscheinlich gehörten ihr viele fremde Söldner und einige Karthager an, die große Masse bestand jedoch sicherlich aus Spaniern; denn die reguläre Kavallerie war in Spanien aufgestellt worden, und selbst zu Casars Zeiten gehörten zu den meisten römischen Heeren spanische Reiter. Die Tatsache, daß Hannibal die griechische Zivilisation gut kannte und griechische Söldner und Glücksritter vor seiner Zeit unter der karthagischen Fahne gedient hatten, läßt kaum einen Zweifel zu, daß die Organisation der griechischen und makedonischen schweren Kavallerie die Grundlage für die karthagische war. Schon der erste Zusammenstoß in Italien bewies die Überlegenheit der karthagischen Reiterei. Am Ticinus (218 v.u.Z.) traf der römische KonsulPublius Scipio bei einer Erkundung mit seiner Kavallerie und leichten Infanterie auf die karthagische Kavallerie, die unter Hannibals Führung ähnliche Absichten verfolgte. Hannibal griff sofort an. Die römische leichte Infanterie bildete die erste Linie, die Kavallerie die zweite. Die karthagische schwere Reiterei fiel über die Infanterie her, zersprengte sie und stürzte sich dann sofort von vorn auf die römische Kavallerie, während die numidischen irregulären Reiter diese in der Flanke und im Rücken angriffen. Es war eine kurze Schlacht. Die Römer kämpften tapfer, aber sie hatten keinerlei Aussicht auf Erfolg. Sie konnten nicht reiten; ihre eigenen Pferde überwältigten sie; scheu geworden durch die Flucht der römischen Leichtbewaffneten, die auf die Kavallerie zurückgeworfen wurden und zwischen ihr Schutz suchten, warfen viele Pferde ihre Reiter ab und sprengten die Schlachtordnung. Andere Reiter, die ihrem eigenen reiterlichen Können nicht trauten, waren klug genug abzusitzen und versuchten als Infanterie zu kämpfen. Doch schon waren die karthagischen schweren Reiter mitten unter ihnen, während die unheilbringenden Numider die verwirrte Masse im Galopp umkreisten und jeden Fliehenden niederhieben, der sich von ihr entfernte. Die Römer hatten beträchtliche Verluste, und Publius Scipio selbst wurde verwundet.
An der Trebia gelang es Hannibal, die Römer zum Überschreiten des Flusses zu verleiten, so daß sie mit diesem Hindernis im Rücken kämpfen mußten. Sie hatten ihn kaum überschritten, als Hannibal mit all seinen Truppen gegen sie vorrückte und sie zur Schlacht zwang. Wie die Karthager hatten die Römer ihre Infanterie im Zentrum, doch gegenüber den durch Kavallerie gebildeten beiden römischen Flügeln stellte Hannibal seine Ellefanten auf und benutzte seine Kavallerie dazu, beide Flügel des Gegners zu überflügeln und zu umgehen. Gleich zu Beginn der Schlacht wurde die römische Kavallerie, die somit umgangen und zahlenmäßig unterlegen war, völlig geschlagen; aber die römische Infanterie trieb das karthagische Zentrum zurück und gewann an Boden. Die siegreiche karthagische Reiterei griff sie nun von vorn und in der Flanke an; sie zwang die römische Infanterie, auf weiteres Vorgehen zu verzichten, konnte sie aber nicht zerschlagen. Da Hannibal jedoch die Festigkeit der römischen Legion kannte, hatte er 1000 Reiter und 1000 ausgesuchte Fußsoldaten unter seinem Bruder Mago auf Umwegen in deren Rücken geschickt. Diese frischen Truppen griffen jetzt an, und es gelang ihnen, die zweite Linie der Römer zu sprengen; doch die erste Linie, 10 000 Mann, schloß sich zusammen, erzwang sich in festen Reihen den Weg durch den Feind und marschierte den Fluß hinunter nach Placentia, wo sie ihn unbehelligt überschritt. In der Schlacht bei Cannae (216 v.u.Z.) hatten die Römer 80 000 Mann Infanterie und 6000 Mann Kavallerie, die Karthager dagegen 40 000 Mann Infanterie und 10 000 Mann Kavallerie. Die Kavallerie von Latium bildete den römischen rechten Flügel, der sich am Aufidus hinzog, die Kavallerie der italischen Bundesgenossen stand auf dem linken Flügel, während die Infanterie das Zentrum bildete. Auch Hannibal stellte seine Infanterie im Zentrum auf, dessen beide Flügel die keltischen und spanischen Aufgebote bildeten, während neben ihnen, etwas weiter zurück, seine jetzt nach römischem Muster ausgerüstete und organisierte afrikanische Infanterie stand. Von seiner Kavallerie formierte er die Numider auf dem rechten Flügel, wo die freie Ebene ihnen infolge ihrer überlegenen Beweglichkeit und Schnelligkeit gestattete, den Angriffen der ihnen gegenüberstehenden italischen schweren Reiterei auszuweichen, während die gesamte schwere Kavallerie unter Hasdrubal auf dem linken Flügel dicht am Fluß aufgestellt war. Auf dem linken Flügel der Römer machten die Numider der italischen Kavallerie viel zu schaffen, doch gerade deshalb, weil sie eine irreguläre Kavallerie waren, konnten sie die feste Ordnung der Italiker nicht durch reguläre Angriffe brechen. Im Zentrum trieb die römische Infanterie die Kelten und Spanier bald zurück und formierte sich dann zu einer keil
förmigen Kolonne, um die afrikanische Infanterie anzugreifen. Diese schwenkte jedoch nach innen ein, griff die schwerfällige Masse in Linie an und brach so ihren Ansturm; nunmehr begann die Schlacht zu stagnieren. Doch inzwischen hatte Hasdrubals schwere Reiterei die Niederlage der Römer vorbereitet. Nachdem sie die römische Kavallerie des rechten Flügels ungestüm angegriffen hatte, zerstreute sie diese nach heftigem Widerstand, umging wie Alexander bei Arbela das römische Zentrum, fiel der italischen Kavallerie in den Rücken, zersprengte sie völlig, überließ sie den Numidern als leichte Beute und formierte sich zu einem Generalangriff auf die Flanken und in den Rücken der römischen Infanterie. Das führte die Entscheidung herbei. Die von allen Seiten angegriffene schwerfällige Masse wich zurück, zog sich auseinander, wurde gesprengt und erlag. Noch nie war eine Armee so vollständig vernichtet worden. Die Römer verloren 70 000 Mann, von ihrer Kavallerie entkamen nur 70 Mann. Die Karthager verloren nicht ganz 6000 Mann, zwei Drittel davon entfielen auf die keltischen Kontingente, die den Anprall des ersten Angriffs der Legionen zu tragen hatten. Von Hasdrubals 6000 Mann regulärer Reiterei, die die gesamte Schlacht gewonnen hatten, waren nicht mehr als 200 Mann gefallen oder verwundet worden. Die römische Kavallerie späterer Zeiten war nicht viel besser als die während der Punischen Kriege12431. Sie war in kleinen Abteilungen den Legionen angegliedert und bildete niemals eine selbständige Waffengattung. Außer dieser Kavallerie bei den Legionen gab es zur Zeit Cäsars spanische, keltische und germanische berittene Söldner, alle mit mehr oder weniger irregulärem Charakter. Keine bei den Römern dienende Kavallerie hat jemals erwähnenswerte Taten vollbracht; diese Waffengattung war so vernachlässigt und unwirksam, daß sogar die parthischen Irregulären von Khorassan von den römischen Armeen stets äußerst gefürchtet wurden. In der östlichen Hälfte des Imperiums behielt die alte Leidenschaft für Pferde und Reitkunst jedoch ihren Einfluß, und Byzanz blieb bis zur Eroberung durch die Türken der große Pferdemarkt und die Reitschule Europas. Daher sehen wir, daß während des vorübergehenden Wiederauflebens des Byzantinischen Reiches unter Justinian die dortige Kavallerie sich auf einem verhältnismäßig hohen Niveau befand, und der Eunuche Narses soll in der Schlacht bei Capua im Jahre 554 die germanischen Eindringlinge in Italien hauptsächlich mit Hilfe dieser Waffengattung geschlagen haben.12441 Das Aufkommen einer eroberungslustigen Aristokratie germanischen Ursprungs in allen Ländern Westeuropas führte zu einer neuen Epoche in
der Geschichte der Kavallerie. Der Adel wandte sich überall der Reiterei zu und bildete unter der Bezeichnung Geharnischte (gens d'armes) eine Reitertrupp« schwerster Art, in der nicht nur die Reiter, sondern auch die Pferde mit Metallharnischen gepanzert waren. Die erste Schlacht, in der eine solche Kavallerie auftrat, war die bei Poitiers, wo Karl Martell 732 die Flut der arabischen Invasion zurückschlug. Die fränkische Ritterschaft unter Eudes, dem Herzog von Aquitanien, durchbrach die Reihen der Mauren und nahm ihr Lager. Doch eine solche Truppe war nicht zur Verfolgung geeignet, und die Araber konnten sich daher unter dem Schutz ihrer unermüdlichen irregulären Reiterei unbehelligt nach Spanien zurückziehen. Diese Schlacht ist der Beginn einer Reihe von Kriegen, in denen die massive, aber schwerfällige reguläre Kavallerie des Westens die beweglichen Irregulären des Ostens mit wechselndem Erfolg bekämpfte. Fast während des ganzen 10. Jahrhunderts kreuzten die deutschen Ritter die Klingen mit den wilden ungarischen Reitern und schlugen sie 933 bei Merseburg sowie 955 am Lech12451 vernichtend durch ihre geschlossene Schlachtordnung. Die spanische Ritterschaft bekämpfte die Mauren, die in ihr Land eingefallen waren, mehrere Jahrhunderte lang und besiegte sie schließlich. Als die abendländischen „schweren Ritter" jedoch während der Kreuzzüge1301 den Kriegsschauplatz in die östliche Heimat ihrer Gegner verlegten, wurden sie ihrerseits geschlagen und in den meisten Fällen völlig vernichtet; weder sie noch ihre Pferde konnten das Klima, die ungeheuer langen Märsche und den Mangel an geeigneter Nahrung und an Futter ertragen. Diesen Kreuzzügen folgte ein neuer Einfall östlicher Reiter in Europa, der der Mongolen. Nachdem diese Rußland und die polnischen Provinzen überrannt hatten, stießen sie 1241 bei Wahlstatt in Schlesien auf eine vereinigte polnische und deutsche Armee12461. Nach langem Kampf besiegten die Asiaten die erschöpften gep>anzerten Ritter, doch der Sieg war so teuer erkauft, daß er die Kraft der Eindringlinge brach. Die Mongolen drangen nicht weiter vor, hörten infolge ihrer Uneinigkeit bald auf, gefährlich zu sein, und wurden zurückgetrieben. Das gesamte Mittelalter hindurch blieb die Kavallerie die Hauptwaffe aller Armeen; bei den östlichen Völkern hatte die leichte irreguläre Reiterei diese Stellung schon immer innegehabt; bei den Völkern Westeuropas war in dieser Zeit die von der Ritterschaft gebildete schwere reguläre Kavallerie die Waffe, die jede Schlacht entschied. Diese Vorrangstellung der Berittenen ergab sich weniger aus ihrer eigenen Vortrefflichkeit - denn die Irregulären des Ostens waren zu diszipliniertem Kampf unfähig, und die Regulären des Westens waren in ihren Bewegungen unglaublich schwer
fällig sondern war in erster Linie eine Folge der schlechten Qualität der Infanterie. Asiaten wie Europäer verachteten diese Waffengattung; sie setzte sich aus jenen zusammen, die sich kein Pferd leisten konnten, hauptsächlich also aus Sklaven und Leibeigenen. Für die Fußtruppen gab es keine eigene Organisation; ohne Rüstung, mit Spieß und Schwert als die einzigen Waffen, konnten sie wohl hier und da durch ihre tiefgegliederte Formation den wilden, aber undisziplinierten Angriffen östlicher Reiter widerstehen, aber von den unverwundbaren Rittern des Westens wurden sie unweigerlich niedergeritten. Die einzige Ausnahme bildete die englische Infanterie, deren Stärke auf ihrer furchtbaren Waffe, dem Langbogen, beruhte. Der zahlenmäßige Anteil der europäischen Kavallerie dieser Zeit war im Verhältnis zur übrigen Armee sicher nicht so groß, wie er es wenige Jahrhunderte später war oder sogar heute noch ist. Die Ritter waren nicht sehr zahlreich, und wir können feststellen, daß an vielen großen Schlachten nicht mehr als 800 oder 1000 teilgenommen haben. Doch sie reichten im allgemeinen aus, um mit jeder Anzahl Fußsoldaten fertig zu werden, sobald es ihnen gelungen war, die feindlichen Ritter aus dem Felde zu schlagen. Gewöhnlich kämpften diese Ritter in Linie, in einem Glied; das hintere Glied wurde aus Knappen gebildet, die im allgemeinen eine unvollständigere und weniger schwere Rüstimg trugen. Waren diese Linien erst einmal mitten in die Reihen des Gegners eingedrungen, so lösten sie sich bald in einzelne Kämpfer auf, und die Schlacht wurde im unmittelbaren Kampf Mann gegen Mann beendet. Später, als allmählich Feuerwaffen in Gebrauch kamen, wurden tiefgegliederte Formationen gebildet, gewöhnlich Karrees; doch zu jener Zeit waren die Tage des Ritterstandes bereits gezählt. Während des 15. Jahrhunderts wurde nicht nur die Artillerie auf dem Schlachtfeld eingeführt und ein Teil der Infanterie, die Schützen der damaligen Zeit, mit Musketen bewaffnet, sondern auch der Charakter der Infanterie überhaupt wandelte sich. Diese Waffengattung wurde nun durch Anwerbung von Söldnern gebildet, die den Kriegsdienst zu ihrem Beruf machten. Die deutschen Landsknechte1 und die Schweizer waren solche Berufssoldaten, und sie führten sehr bald regulärere Formationen und taktische Bewegungen ein. In gewisser Beziehung lebte die alte dorische und makedonische Phalanx wieder auf; ein Helm und ein Brustharnisch schützten die Soldaten einigermaßen gegen Lanze und Säbel der Kavallerie; als die schweizerische Infanterie bei Novara (1513)[2471 die französische Ritterschaft tatsächlich aus dem Felde schlug, war für solche zwar tapferen, aber
1 Landsknechte: in der „New American Cyclopeedia" deutsch
schwerfälligen Reiter kein Platz mehr. Nach der Erhebung der Niederlande gegen Spanien finden wir daher eine neue Art der Kavallerie, die Deutschen Reiter1 (reitres bei den Franzosen), die wie die Infanterie durch Freiwilligenwerbung aufgestellt wurden und mit Helm und Brustharnisch, Schwert und Pistolen bewaffnet waren. Sie waren ebenso schwerfällig wie die heutigen Kürassiere, jedoch weit leichter als die Ritter. Sie bewiesen bald ihre Überlegenheit gegenüber den schweren Rittern. Diese verschwanden jetzt und mit ihnen die Lanze; das Schwert und kurze Feuerwaffen bildeten von nun an die allgemeine Bewaffnung der Kavallerie. Etwa zur gleichen Zeit (Ende des 16. Jahrhunderts) wurde die hybride Truppengattung der Dragoner eingeführt, zuerst in Frankreich und dann in den anderen Ländern Europas. Mit Musketen bewaffnet, sollten sie je nach den Umständen entweder als Infanterie oder als Kavallerie kämpfen. Ein ähnliches Korps mit der Bezeichnung dimachae hatte Alexander der Große gebildet, aber das war bisher nicht nachgeahmt worden. Die Dragoner des 16. Jahrhunderts hielten sich länger, doch gegen Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sie überall außer dem Namen ihren hybriden Charakter verloren und wurden allgemein als Kavallerie eingesetzt. Das wichtigste Kennzeichen ihrer Formation war, daß sie ab erste reguläre Kavallerietruppe überhaupt keine Schutzausrüstung mehr trugen. Zar Nikolaus von Rußland versuchte erneut in großem Umfang, wirklich hybride Dragoner zu schaffen; doch es erwies sich bald, daß sie vor dem Feind stets als Kavallerie eingesetzt werden mußten, und deshalb verwandelte sie Alexander II. sehr bald in gewöhnliche Kavallerie die ebenso wie die Husaren oder Kürassiere darauf verzichtete, abgesessen zu kämpfen. Moritz von Oranien, der große niederländische Feldherr, formierte seine Reiter1 zum erstenmal ähnlich unserer heutigen taktischen Gliederung. & lehrte sie, Attacken und taktische Manöver in einzelnen Abteilungen und in mehr ab einem Glied auszuführen, zu schwenken, haltzumachen, Kolonne und Linie zu bilden sowie in einzelnen Eskadronen und Trupps die Front zu wechseln, ohne in Unordnung zu geraten. So wurde ein Kavalleriegefecht nicht mehr durch einen einzigen Angriff der gesamten Masse entschieden, sondern durch aufeinanderfolgendie Angriffe einzelner Eskadronen und Linien, die sich gegenseitig unterstützten. Die Kavallerie Moritz von Oraniens war im allgemeinen 5 Glieder tief aufgestellt. In anderen Armeen kämpfte sie in tiefgestaffelten Formationen, und wo eine Linienformation angewandt wurde, war sie noch 5 bis 8 Glieder tief.
1 Reiter: in der „New American Cyclopaedia" deutsch
Das 17. Jahrhundert, das mit den kostspieligen Rittern endgültig Schluß gemacht hatte, erhöhte die zahlenmäßige Stärke der Kavallerie in einem gewaltigen Ausmaß. In keiner Armee war der Anteil dieser Waffengattung jemals so groß. Im Dreißigjährigen Krieg[87] bestand im allgemeinen jede Armee zu zwei Fünfteln bis nahezu der Hälfte aus Kavallerie, in einzelnen Fällen kamen zwei Reiter auf einen Fußsoldaten. Gustav Adolf steht an der Spitze der Kavalleriekommandeure dieser Zeit. Seine berittenen Truppen bestanden aus Kürassieren und Dragonern, wobei letztere fast immer als Kavallerie kämpften. Auch seine Kürassiere waren viel leichter als die des Kaisers und bewiesen bald ihre unbestreitbare Überlegenheit. Die schwedische Kavallerie war in 3 Gliedern formiert; im Gegensatz zu den Kürassieren der meisten Armeen, deren Hauptwaffe die Pistole war, hatte sie Order, nicht mit dem Schießen Zeit zu verlieren, sondern den Feind mit dem Säbel in der Hand anzugreifen. In dieser Zeit wurde die Kavallerie, die während des Mittelalters im allgemeinen im Zentrum stand, wieder wie im Altertum auf den Flügeln der Armee aufgestellt und dort in 2 Linien formiert. In England brachte der Bürgerkrieg1471 zwei ausgezeichnete Kavallerieführer hervor. Prinz Ruprecht auf der royalistischen Seite besaß zwar den „Schneid" eines Kavalleriegenerals, aber fast immer ließ er sich zu sehr hinreißen, verlor dann die Gewalt über seine Kavallerie und war von dem unmittelbaren Geschehen vor ihm so gefangengenommen, daß der General in ihm stets hinter dem „kühnen Dragoner" zurücktrat. Auf der anderen Seite war Cromwell, ein weit besserer General, der ebensoviel Schneid besaß, wo es erforderlich war; er behielt seine Soldaten gut in der Hand, hielt stets eine Reserve für unvorhergesehene Ereignisse und entscheidende Bewegungen zurück, verstand zu manövrieren und trug dadurch im allgemeinen den Sieg über seinen hitzköpfigen Gegner davon. Er gewann die Schlachten bei Marston Moor und Naseby'2481 nur durch seine Kavallerie. Bei den meisten Armeen blieb in der Schlacht die Feuerwaffe noch das Hauptkampfmittel der Kavallerie, ausgenommen bei den Schweden und Engländern. In Frankreich, Preußen und Österreich wurde die Kavallerie darin ausgebildet, den Karabiner genauso zu gebrauchen wie die Infanterie die Muskete. Sie feuerte vom Pferde aus in Rotten, Zügen, Gliedern etc., wobei die Linie während dieser Zeit stillstand; wenn angegriffen wurde, rückte die Kavallerie im Trab vor, hielt in kurzer Entfernung vor dem Gegner, feuerte eine Salve ab, zog den Säbel und ging dann zur Attacke über. Das wirksame Feuer der langen Infanterielinien hatte jedes Vertrauen zu einem Angriff der Kavallerie erschüttert, die nicht mehr durch den Har
nisch geschützt war; als Folge davon wurde das Reiten vernachlässigt, Bewegungen konnten nicht in schneller Gangart ausgeführt werden, aber selbst bei langsamer Gangart kam es häufig zu Unfällen bei Reiter und Pferd. Bei der Ausbildung saß die Kavallerie meistens ab, und ihre Offiziere hatten überhaupt keine Vorstellung, wie die Kavallerie in der Schlacht geführt werden mußte. Allerdings griffen die Franzosen manchmal mit blanker Waffe an, und Karl XII. von Schweden attackierte, getreu der nationalen Tradition, stets in vollem Galopp, ohne zu feuern, zersprengte Kavallerie und Infanterie und eroberte in einigen Fällen sogar schwache Feldbefestigungen. Erst Friedrich dem Großen und seinem großen Kavalleriegeneral Seydlitz war es vorbehalten, die berittene Truppe völlig umzugestalten und sie zum Gipfel des Ruhms zu führen. Die preußische Kavallerie, schwere Soldaten auf plumpen Pferden, nur im Schießen ausgebildet, so wie sie Friedrichs Vater1 seinem Sohn hinterlassen hatte, wurde bei Mollwitz (1741)1401 im Handumdrehen geschlagen. Doch kaum war der erste Schlesische Krieg12493 zu Ende, als Friedrich seine Kavallerie völlig reorganisierte. Schießen und Fußdienst wurden in den Hintergrund gedrängt und dem Reiten mehr Beachtung geschenkt.
„Alle taktischen Manöver sind mit größter Schnelligkeit, alle Schwenkungen in kurzem Galopp auszuführen. Die Kavallerieoffiziere müssen die Leute vor allem zu vollendeten Reitern erziehen, die Kürassiere müssen ebenso wendig und geschickt zu Pferd sein wie ein Husar und mit dem Gebrauch des Säbels wohlvertraut sein."
Die Männer sollten jeden Tag reiten. Die hauptsächlichen Übungen waren Reiten in schwierigem Gelände, über Hindernisse hinweg, und Fechten zu Pferde. Beim Angriff war der Gebrauch der Schußwaffen gänzlich untersagt, bis die erste und zweite Linie des Feindes völlig gesprengt war.
„Jede Eskadron, die zum Angriff vorgeht, hat den Feind mit blanker Waffe zu attackieren, und kein Kommandeur darf bei Strafe einer entehrenden Kassation seine Truppen feuern lassen; die Brigadegenerale sollen dafür verantwortlich sein. Beim Vorgehen fallen sie zuerst in schnellen Trab und schließlich in vollen Galopp, und zwar in straffer Ordnung; und wenn sie so angreifen, ist Seine Majestät gewiß, daß der Feind immer geschlagen werden wird. Jeder Kavallerieoffizier sollte immer daran denken, daß nur zwei Dinge nötig sind, den Feind zu schlagen: erstens ihn mit größter Schnelligkeit und vollster Kraft anzugreifen und zweitens seine Flanke zu umgehen."'250'
1 Friedrich Wilhelm I.
Diese Abschnitte aus Friedrichs Instruktionen zeigen zur Genüge die völlige Neugestaltung, die er in der Kavallerietaktik durchführte. Er wurde von Seydlitz bestens unterstützt, der ständig die Kürassiere und Dragoner befehligte und solche Soldaten aus ihnen formte, daß - im Ungestüm und in der Geschlossenheit beim Angriff, in der Schnelligkeit der taktischen Manöver, im Bereitsein zu Flankenangriffen und in der Geschwindigkeit beim Sammeln und Neuformieren nach einem Angriff - keine andere Kavallerie der preußischen Kavallerie des Siebenjährigen Krieges'431 je gleichgekommen ist. Die Früchte wurden bald sichtbar. Bei Hohenfriedberg ritt das Dragonerregiment Bayreuth - 10 Eskadronen - den ganzen linken Flügel der österreichischen Infanterie nieder, zersprengte 21 Bataillone, eroberte 66 Fahnen, 5 Kanonen und machte 4000 Gefangene. Als bei Zorndorf die preußische Infanterie zum Rückzug gezwungen worden war, schlug Seydlitz mit 36 Eskadronen die siegreiche russische Kavallerie aus dem Felde und fiel dann über die russische Infanterie her, die er in einem großen Gemetzel völlig vernichtete. Bei Roßbach, Striegau, Kesselsdorf, Leuthen und in zehn anderen Schlachten verdankte Friedrich den Sieg seiner ausgezeichneten Kavallerie.'2511 Als der französische Revolutionskrieg ausbrach, hatten die Österreicher das preußische System übernommen, die Franzosen jedoch nicht. Die Kavallerie der Franzosen war in der Tat durch die Revolution sehr desorganisiert worden, und zu Anfang des Krieges erwiesen sich die Neuformierungen als fast nutzlos. Als in den Jahren 1792 und 1793 die gute Kavallerie der Engländer, Preußen und Österreicher den neuen französischen Infanterieaufgeboten gegenübertrat, wurden diese fast ausnahmslos geschlagen. Die französische Kavallerie, die es mit solchen Gegnern überhaupt nicht aufnehmen konnte, wurde stets in Reserve gehalten, bis sie sich nach einigen Jahren des Kampfes verbessert hatte. Von 1796 an hatte jede Infanteriedivision Kavallerie zur Unterstützung; doch die gesamte französische Kavallerie würde bei Würzburg (1796) von 59 österreichischen Eskadronen geschlagen.'2521 Als Napoleon die Geschicke Frankreichs in die Hand nahm, tat er sein möglichstes zur Verbesserung der französischen Kavallerie. Er fand so ziemlich das schlechteste Material vor, das man sich denken konnte. Die Franzosen sind entschieden die schlechtesten Reiter Europas, und ihre Pferde, die gut vor dem Wagen sind, eignen sich nicht für den Sattel. Napoleon selbst war nur ein mittelmäßiger Reiter und schätzte auch bei anderen das Reiten gering. Dennoch verbesserte er vieles, und nach dem Lager von Boulogne11431 war seine Kavallerie, zum großen Teil mit deutschen und
italienischen Pferden versehen, kein zu verachtender Gegner. Durch die Feldzüge von 1805 und 1806/1807 konnte seine Kavallerie fast alle Reiter der österreichischen und preußischen Armeen in sich aufnehmen; außerdem wurde Napoleons Armee in diesen Feldzügen durch die ausgezeichnete Kavallerie des Rheinbundes11741 und des Großherzogtums Warschau12581 verstärkt. So wurden jene gewaltigen Reitermassen formiert, mit denen Napor leon 1809, 1812 und in der zweiten Hälfte von 1813 operierte, die zwar allgemein als französisch bezeichnet wurden, aber zum großen Teil aus Deutschen und Polen bestanden. Den Küraß, der in der französischen Armee kurz vor der Revolution völlig abgeschafft worden war, führte Napoleon für einen Teil der schweren Kavallerie wieder ein. In allen anderen Dingen blieb die Organisation und Ausrüstung fast dieselbe, abgesehen davon, daß er mit seinen polnischen Hilfstruppen einige mit Lanzen bewaffnete Regimenter leichte Reiterei erhielt, deren Uniform und Ausrüstung bald in anderen Armeen nachgeahmt wurden. Der taktische Einsatz der Kavallerie wurde jedoch von ihm völlig geändert. Entsprechend dem Prinzip, Divisionen und Armeekorps aus allen drei Waffengattungen zusammen aufzustellen, wurde jeder Division oder jedem Korps ein Teil der leichten Kavallerie angegliedert, doch das Gros dieser Waffe und besonders die gesamte schwere Reiterei wurden in Reserve gehalten, um in einem günstigen Augenblick einen großen entscheidenden Schlag auszuführen oder im Notfalle den Rückzug der Armee zu decken. Diese Kavalleriemassen, die plötzlich an einem bestimmten Punkt des Schlachtfeldes erschienen, haben oft entscheidend gewirkt, aber sie haben niemals so glänzende Erfolge errungen wie.die Reiter Friedrichs des Großen. Die Ursache dafür ist zum Teil in der veränderten Taktik der Infanterie zu suchen, die hauptsächlich unübersichtliches Gelände für ihre Operationen wählte und die Kavallerie stets im Karree empfing; dadurch wurde es der Kavallerie erschwert, so große Siege zu erringen, wie sie die preußischen Reiter über die langen dünnen Infanterielinien ihrer Gegner erlangt hatten. Eis ist jedoch ebenfalls gewiß, daß Napoleons Kavallerie der Friedrichs des Großen nicht ebenbürtig war und daß Napoleons Kavallerietaktik nicht in jedem Falle einen Fortschritt gegenüber der Friedrichs darstellte. Ihr mittelmäßiges Reiten zwang die Franzosen, in verhältnismäßig langsamer Gangart, im Trab oder im leichten, kurzen Galopp, anzugreifen; es gibt nur wenige Beispiele dafür, daß sie in vollem Galopp attackierten. Ihre große Tapferkeit und ihre geschlossenen Reihen machten den gehemmten Angriffsschwung oft genug wett, aber dennoch war ihr Angriff nicht so, daß man ihn heute als gut bezeichnen würde. Das alte System, die feindliche Kavallerie stehend mit dem
Karabiner in der Hand zu empfangen, wurde in sehr vielen Fällen von der französischen Kavallerie beibehalten, und in jedem dieser Fälle wurde sie geschlagen. Das jüngste Beispiel dafür lieferte Dannigkow (5. April 1813)t2541, wo etwa 1200 Mann französische Kavallerie so einen Angriff von 400 Preußen erwarteten und trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit vollständig geschlagen wurden. Bei Napoleons Taktik wurde der Einsatz großer Kavalleriemassen zu einer so starren Regel, daß nicht nur die Divisionskavallerie bis zur völligen Wertlosigkeit geschwächt wurde, sondern Napoleon vernachlässigte bei diesen Massen auch oft den aufeinanderfolgenden Einsatz seiner Truppen, einen der wichtigsten Grundsätze der modernen Taktik, der sogar mehr noch für die Kavallerie als für die Infanterie gilt. Er führte den Kavallerieangriff in Kolonne ein und stellte sogar ganze Kavalleriekorps zu einer einzigen riesigen Kolonne zusammen; in solchen Formationen wurde das Herauslösen einer einzelnen Eskadron oder eines Regiments und jeder Versuch zu deployieren völlig unmöglich. Seine Kavalleriegenerale entsprachen ebenfalls nicht den Anforderungen, und selbst der glänzendste unter ihnen, Murat, hätte einem Seydlitz gegenüber nur eine klägliche Figur abgegeben. Während der Kriege von 1.813,1814 und 1815 hatte die Kavallerietaktik auf seiten der Gegner Napoleons zweifellos Fortschritte gemacht. Obwohl man in starkem Maße nach Napoleons System handelte, Kavallerie in großen Massen in Reserve zu halten und dadurch den größeren Teil der Kavallerie sehr oft völlig aus einem Kampf auszuschalten, versuchte man doch in einer Reihe von Fällen zu Friedrichs Taktik zurückzukehren. In der preußischen Armee lebte der alte Geist wieder auf. Blücher war der erste, der seine Kavallerie kühner und im allgemeinen erfolgreich einsetzte. Der Überfall bei Haynau (1813) '172), wo 20 preußische Eskadronen 8 französische Bataillone niederritten und 18 Kanonen erbeuteten, kennzeichnet einen Wendepunkt in der modernen Geschichte der Kavallerie und bildet einen glücklichen Gegensatz zu der Taktik bei Lützen, wo die Verbündeten 18 000 Reiter ausschließlich in Reserve hielten, bis die Schlacht verloren war, obwohl kein günstigeres Kavalleriegelände hätte gefunden werden können. Die Engländer hatten das System, große Kavalleriemassen zu formieren, niemals übernommen und hatten daher viele Erfolge, obwohl Napier selbst zugibt, daß ihre Kavallerie damals nicht so gut war wie die der Franzosen. Bei Waterloo[51] (wo, nebenbei bemerkt, die französischen Kürassiere ausnahmsweise in vollem Galopp angriffen) wurde die englische Kavallerie ausgezeichnet geführt und war im allgemeinen erfolgreich, ausgenommen dann, wenn sie in ihren Nationalfehler verfiel und der Führung entglitt.
Seit dem Frieden von 1815 hat die napoleonische Taktik wieder der Friedrichs Platz gemacht, obwohl sie in den Reglements der meisten Armeen noch beibehalten wurde. Dem Reiten wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt, wenn auch noch längst nicht in dem notwendigen Ausmaß. Der Gedanke, den Feind mit dem Karabiner in der Hand zu empfangen, ist verpönt; überall gilt wieder Friedrichs Regel, daß jeder Kavalleriekommandeur die Kassation verdient, der sich vom Feind angreifen läßt, statt selbst anzugreifen. Der Galopp ist wieder die Gangart beim Angriff, und der Angriff in Kolonne ist durch Angriffe in aufeinanderliegenden Linien abgelöst worden; dabei wurde die Kavallerie so aufgestellt, daß ein Flankenangriff möglich war und das Ganze während des Angriffs in einzelnen Teilen manövrieren konnte. Doch vieles bleibt noch zu tun übrig. Größere Beachtung des Reitens, besonders querfeldein, größere Angleichung an den Sattel und Sitz des Jagdreitens, und vor allem Verminderung der vom Pferde zu tragenden Last sind Verbesserungen, die ausnahmslos in jeder Armee gefordert werden. Wenden wir uns nun nach der Geschichte der Kavallerie ihrer gegenwärtigen Organisation und Taktik zu. Die Rekrutierung der Kavallerie, soweit sie die Soldaten betrifft, unterscheidet sich im großen und ganzen nicht von der Art und Weise, in der sich die anderen Waffengattungen in jedem Lande rekrutieren. In einigen Staaten sind jedoch die Einwohner bestimmter Bezirke für diesen Dienst vorgesehen: so in Rußland die Malorussen (Einwohner Kleinrußlands) und in Preußen die Polen. Österreich rekrutiert die schwere Kavallerie in den deutschen Gebieten und in Böhmen, die Husaren ausschließlich in Ungarn und die Ulanen meist in den polnischen Provinzen. Die Aufbringung der Pferde verdient jedoch besondere Beachtung. In England, wo die gesamte Kavallerie in Kriegszeiten nicht mehr als 10 000 Pferde benötigt, hat die Regierung keine Schwierigkeit, diese zu kaufen. Um der Armee aber solche Pferde zu sichern, die noch nicht eingespannt wurden und etwa bis 5 Jahre alt sind, werden dreijährige Fohlen, meist aus der Yorkshire-Zucht, gekauft und auf Staatskosten in Koppeln gehalten, bis sie zur Verwendung geeignet sind. Der für die Fohlen gezahlte Preis (20 bis 25 Pfund Sterling) und der Überfluß an guten Pferden im Lande machen die britische Kavallerie sicher zur bestberittenen der Welt. In Rußland herrscht ein ähnlicher Überfluß an Pferden, doch ist die Rasse minderwertiger als die englische. Die Remonteoffiziere kaufen die Pferde en gros in den Süd- und Westprovinzen des Reiches, meist von jüdischen Händlern; die untauglichen verkaufen sie wieder und verteilen die Pferde ihrer Farbe entsprechend an die verschiedenen Regimenter (in
einem russischen Regiment haben alle Pferde die gleiche Farbe). Der Oberst wird gleichsam als Eigentümer der Pferde angesehen; für eine ihm ausgezahlte feste Summe muß er das Regiment in gut berittenem Zustand halten. Die Pferde sollen 8 Jahre durchhalten. Früher wurden sie aus den großen Gestüten Wolhyniens und der Ukraine bezogen, wo sie in edler Freiheit aufwachsen, doch das Einreiten für Kavalleriezwecke war so schwierig, daß man davon absehen mußte. In Osterreich werden die Pferde zum Teil gekauft, aber der größere Teil wird neuerdings von den staatlichen Gestüten geliefert, welche jedes Jahr über 5000 fünfjährige Kavalleriepferde abgeben können. Im Falle einer außergewöhnlichen Beanspruchung kann sich ein an Pferden so reiches Land wie Österreich auf seine Inlandmärkte verlassen. Preußen mußte vor 60 Jahren fast alle seine Pferde im Ausland kaufen, doch jetzt kann es seine gesamte Kavallerie, Linie wie Landwehr1, aus dem Inland mit Pferden versorgen. Für die Linie werden die Pferde im Alter von 3 Jahren von Remontekommissären gekauft und in Koppeln geschickt, bis sie alt genug für den Dienst sind; pro Jahr werden 3500 benötigt. Bei der Mobilmachung der Landwehrkavallerie2 können ebenso wie die Männer alle Pferde im Leinde zum Dienst eingezogen werden; es wird jedoch eine Entschädigung von 40 bis 70 Dollar für sie gezahlt. Es gibt dreimal soviel diensttaugliche Pferde im Lande, wie gebraucht werden. Frankreich ist von allen Ländern Europas mit Pferden am schlechtesten dran. Obwohl oft gut und sogar ausgezeichnet für das Gespann, ist die Rasse im allgemeinen ungeeignet für den Sattel. Seit langem bestehen staatliche Gestüte (haras), doch nicht mit dem Erfolg, den andere Gestüte hatten. 1838 konnten sie und die mit ihnen verbundenen Remontekoppeln keine 1000 gekauften oder aus staatlicher Zucht stammenden Pferde liefern. General La Roche-Aymon berechnete, daß es in Frankreich insgesamt keine 20 000 für den Kavalleriedienst tauglichen Pferde zwischen 4 und 7 Jahren gäbe. Obwohl die Koppeln und Gestüte neuerdings sehr verbessert worden sind, reichen sie noch immer nicht aus, um die Armee voll zu versorgen. Algerien liefert eine ausgezeichnete Rasse Kavalleriepferde, und die besten Regimenter der Armee, die chasseurs d'Afrique, werden ausschließlich mit ihnen versehen, während die anderen Regimenter kaum welche erhalten. Im Mobilmachungsfalle sind die Franzosen daher gezwungen, im Ausland zu kaufen, manchmal in England, doch meist in Norddeutschland, wo sie nicht die besten Pferde erhalten, obwohl sie jedes Pferd fast 100 Dollar
1 Landwehr: in der „New American Cyclopaedia" deutsch - 2 ebenso: Landwehrkavallerie
kostet. Viele abgehalfterte Pferde aus deutschen Kavallerieregimentern finden den Weg in die Reihen der französischen, und überhaupt ist die französische Kavallerie mit Ausnahme der chasseurs d'Afrique die am schlechtesten berittene Europas. Die Kavallerie besteht im wesentlichen aus zwei Arten: der schweren und der leichten Kavallerie. Das eigentliche Unterscheidungsmerkmal der beiden Arten sind die Pferde. Große und starke Pferde können nicht gut mit kleinen, beweglichen und schnellen Pferden zusammenwirken. Die ersteren reagieren im Angriff weniger schnell, doch mit größerer Wucht, die letzteren wirken mehr durch die Schnelligkeit und den Ungestüm ihres Angriffs und sind darüber hinaus weit geeigneter für Einzelkämpfe und Scharmützel, wofür schwere und große Pferde weder beweglich noch intelligent genug sind. Soweit ist eine Unterscheidung notwendig; doch Mode, Phantasie und die Nachahmung gewisser Nationaltrachten haben zahlreiche Unterteilungen und Abwandlungen geschaffen, die im einzelnen zu erwähnen nicht von Interesse ist. Die schwere Kavallerie ist in den meisten Ländern zumindest teilweise mit einem Küraß ausgestattet, der jedoch bei weitem nicht kugelsicher ist; in Sardinien führt das erste Glied eine Lanze. Die leichte Kavallerie ist teils mit Säbel und Karabiner, teils mit Lanzen bewaffnet. Der Karabiner hat einen glatten oder gezogenen Lauf. In den meisten Fällen kommen zur Bewaffnung des Reiters noch Pistolen hinzu, nur die Kavallerie der Vereinigten Staaten trägt den Revolver. Der Säbel ist entweder gerade oder mehr oder weniger gekrümmt, ersterer mehr zum Stoßen, letzterer zum Hauen. Die Frage, ob der Lanze vor dem Säbel der Vorzug zu geben sei, ist noch umstritten. Für den Nahkampf ist der Säbel zweifellos geeigneter, und bei einem Angriff kann die Lanze, selbst wenn sie nicht zu lang und zu schwer ist, um sie überhaupt handhaben zu können, kaum gebraucht werden, aber bei der Verfolgung geschlagener Kavallerie hat sie sich als höchst wirksam erwiesen. Fast alle Reitervölker vertrauen auf den Säbel; selbst der Kosak läßt seine Lanze im Stich, wenn er gegen Tscherkessen kämpfen muß, die ausgezeichnet mit dem Säbel umzugehen verstehen. Die Pistole ist nutzlos, es sei denn bei einem einzelnen Schuß; der Karabiner ist nicht sehr wirksam, selbst mit gezogenem Lauf, und wird niemals einen großen realen Nutzen haben, ehe nicht ein Hinterlader eingeführt wird; der Revolver ist in geübter Hand eine gefährliche Waffe beim Nahkampf; doch die Königin der Waffen für die Kavallerie ist immer noch ein guter, scharfer, handlicher Säbel. Außer dem Sattel, dem Zaumzeug und dem bewaffneten Reiter hat das Kavalleriepferd einen Mantelsack mit Reservebekleidung, Lagerutensilien,
Putzzeug und im Feldzug auch Proviant für den Reiter und Futter für sich selbst zu tragen. Das Gesamtgewicht dieser Last variiert bei den verschiedenen Armeen und Arten der Kavallerie zwischen 250 und 300 Pfund für die schwere Marschausrüstung, ein Gewicht, das ungeheuer erscheint, wenn man vergleicht, was zivile Reitpferde zu tragen haben. Dieses Überladen der Pferde ist der schwächste Punkt jeder Kavallerie. In dieser Hinsicht sind überall große Reformen notwendig. Das Gewicht von Mann und Ausrüstung kann und muß reduziert werden, doch solange das augenblickliche System besteht, muß diese Belastung der Pferde stets berücksichtigt werden, wenn man die Fähigkeiten der Kavallerie in ihrer Leistung und Ausdauer beurteilen will. Die schwere Kavallerie, die aus kräftigen, doch möglichst leichten Reitern auf starken Pferden besteht, muß hauptsächlich durch die Stärke eines geschlossenen, massiven Angriffs wirken. Dies erfordert Kraft, Ausdauer und ein bestimmtes Körpergewicht, wenn es auch nicht zu groß sein darf, damit die Kavallerie beweglich bleibt. Sie muß schnell in ihren Bewegungen sein, doch nicht mehr, als sich mit bester Ordnung vereinbaren läßt. Sobald die schwere Kavallerie zum Angriff formiert ist, muß sie in erster Linie geradeaus reiten; und was ihr auch in den Weg kommt, muß durch ihren Angriff hinweggefegt werden. Der einzelne Reiter braucht nicht so gut reiten zu können wie bei der leichten Kavallerie, aber er muß sein Pferd völlig in der Gewalt haben und daran gewöhnt sein, streng geradeaus und in fest geschlossener Formation zu reiten. Ihre Pferde müssen folglich für Schenkeldruck weniger empfindlich sein, auch sollen sie die Hinterhand nicht zu weit nach vorn bringen; sie sollen im Trab gut ausgreifen und darein gewöhnt sein, in einem ordentlichen gestreckten Galopp gut zusammenzuhalten. Die leichte Kavallerie, mit flinkeren Männern und schnelleren Pferden, hat dagegen durch ihre Schnelligkeit und Allgegenwart zu wirken. Was ihr an Gewicht fehlt, muß durch Schnelligkeit und Aktivität wettgemacht werden. Sie wird mit größtem Ungestüm attackieren; doch wenn es günstig erscheint, wird sie eine Flucht vortäuschen, um durch plötzlichen Frontwechsel dem Feind in die Flanke zu fallen. Überlegene Schnelligkeit und Tauglichkeit für den Einzelkampf machen die leichte Kavallerie zur Verfolgung besonders geeignet. Ihre Führer brauchen einen schnelleren Blick und größere Geistesgegenwart als die der schweren Reiterei. Die Männer müssen im einzelnen bessere Reiter sein; sie müssen ihre Pferde völlig in der Hand haben, aus dem Stand in vollen Galopp fallen und sofort wieder auf der Stelle halten, schnell wenden und gut springen können. Die Pferde müssen zäh und schnell sein. Sie müssen weich im Maul sein und gut auf
Schenkeldruck reagieren, wendig beim Schwenken und besonders für den kurzen Galopp zugeritten, mit der Hinterhand gut unter sich. Außer schnellen Flanken- und Rückenangriffen, Überfällen und Verfolgungen muß die leichte Kavallerie den Großteil des Vorposten- und Patrouillendienstes für die ganze Armee leisten; Befähigung zum Einzelkampf, dessen Grundlage gute Reitkunst ist, gehört daher zu ihren Hauptvoraussetzungen. In Linie reiten die Männer weniger dicht geschlossen, um stets auf Frontwechsel und andere taktische Manöver vorbereitet zu sein. Die Engländer besitzen nominell 13 Regimenter leichte und 13 Regimenter schwere Kavallerie (Dragoner, Husaren, Ulanen; nur die 2 Regimenter der Leibgarde sind Kürassiere), doch in Wirklichkeit ist ihre gesamte Kavallerie der Zusammensetzung und Ausbildung nach schwere Kavallerie und unterscheidet sich in der Größe der Soldaten und Pferde wenig voneinander. Für den eigentlichen Dienst der leichten Kavallerie haben sie stets fremde Soldaten benutzt - Deutsche in Europa und eingeborene Irreguläre in Indien. Die Franzosen verfügen über drei Arten: 174 Eskadronen leichte Kavallerie, Husaren und Chasseurs, 120 Eskadronen Linienkavallerie, Ulanen und Dragoner, 78 Eskadronen Reservekavallerie, Kürassiere und Karabiniers. Österreich hat 96 Eskadronen schwere Kavallerie, Dragoner und Kürassiere, sowie 192 Eskadronen leichte Kavallerie, Husaren und Ulanen. Preußen hat bei den Linientruppen 80 Eskadronen schwere Reiterei, Kürassiere und Ulanen, sowie 72 Eskadronen leichte Reiterei, Dragoner und Husaren, wozu im Kriegsfalle 136 Eskadronen Ulanen des ersten Aufgebotes der Landwehr1 hinzugerechnet werden können. Das zweite Aufgebot der Landwehrkavallerie wird kaum jemals gesondert aufgestellt werden. Die russische Kavallerie besteht aus 160 Eskadronen schwerer Kavallerie, Kürassiere und Dragoner, und 304 Eskadronen leichter Kavallerie, Husaren und Ulanen. Die Formierung eines Dragonerkorps für Kavallerieund Infanteriedienst wurde aufgegeben und die Dragoner in die schwere Kavallerie übernommen. Die eigentliche leichte Kavallerie der Russen sind jedoch die Kosaken, von denen sie immer mehr als genug haben für den gesamten Vorposten-, Rekognoszierungs- und irregulären Dienst ihrer Armeen. In der Armee der Vereinigten Staaten gibt es 2 Regimenter Dragoner, 1 Regiment berittene Schützen und 2 Regimenter, die als Kavallerie bezeichnet werden. Es ist empfohlen worden, alle diese Regimenter1 Kavallerieregimenter zu nennen. Die Kavallerie der Vereinigten Staaten ist faktisch eine berittene Infanterie.
1 Landwehr: in der „New American Cyclopaedia" deutsch
Die taktische Einheit in der Kavallerie ist die Eskadron, die so viel Mann umfaßt, wie ein Kommandeur mit seiner Stimme und durch seinen unmittelbaren Einfluß während der taktischen Manöver unter Kontrolle halten kann. Die Stärke einer Eskadron schwankt zwischen 100 Mann (in England) und 200 Mann (in Frankreich); die der anderen Armeen bewegt sich ebenfalls innerhalb dieser Grenzen. Vier, sechs, acht oder zehn Eskadronen bilden ein Regiment. Die schwächsten Regimenter sind die englischen (400 bis 480 Mann), die stärksten die der österreichischen leichten Reiterei (1600 Mann). Starke Regimenter werden leicht schwerfällig, zu schwache werden in einem Feldzug sehr bald aufgerieben. So betrug die in 5 Regimentern zu je 2 Eskadronen formierte britische leichte Brigade bei Balaklawa[130], knapp zwei Monate nach Eröffnung des Feldzugs, kaum 700 Mann oder gerade halb so viel wie ein einziges russisches Husarenregiment bei Kriegsstärke. Besondere Formationen sind: bei den Briten der Trupp oder die Halbeskadron und bei den Österreichern die Abteilung oder Doppeleskadron, ein Zwischenglied, das es allein einem Kommandeur möglich macht, die starken österreichischen Reiterregimenter zu befehligen. Bis zur Zeit Friedrichs des Großen war jede Kavallerie mindestens 3 Glieder tief gestaffelt. 1743 formierte Friedrich erstmals seine Husaren 2 Glieder tief, und in der Schlacht bei Roßbach hatte er seine schwere Kavallerie in derselben Weise aufgestellt. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurde diese Aufstellung von allen anderen Armeen übernommen und ist jetzt die einzig gebräuchliche. Zu taktischen Manövern ist die Eskadron in 4 Abteilungen unterteilt. Das Schwenken von der Linie in die offene Kolonne der Abteilungen und von der Kolonne zurück in die Linie bildet die hauptsächliche und grundlegende Evolution aller Kavalleriemanöver. Die meisten anderen Evolutionen werden nur angewandt entweder auf dem Marsch (der Flankenmarsch zü dritt etc.) oder in außergewöhnlichen Fällen (die geschlossene Kolonne in Zügen oder Eskadronen). Der Einsatz der Kavallerie in der Schlacht besteht vorwiegend im Kampf Mann gegen Mann ; die Anwendung der Schußwaffe spielt bei ihr nur eine untergeordnete Rolle; der Stahl - entweder Säbel oder Lanze - ist ihre Hauptwaffe, und jede Aktion der Kavallerie ist auf den Angriff gerichtet. So ist der Angriff das Kriterium für alle Bewegungen, taktischen Manöver und Positionen der Kavallerie. Alles, was den Schwung des Angriffs hemmt, ist fehlerhaft. Die Wucht des Angriffs wird dadurch erreicht, daß man alle Kraft von Mann und Pferd auf den Höhepunkt, den Augenblick des unmittelbaren Auftreffens auf den Feind, hinführt. Um dies zu erreichen, muß man sich dem Gegner mit allmählich zunehmender Geschwindigkeit
nähern, so daß die Pferde erst kurz vor dem Feind ihre schnellste Gangart anschlagen. Nun ist aber die Ausführung eines solchen Angriffs wohl das Schwierigste, was von der Kavallerie verlangt werden kann. Eis ist außerordentlich schwer, beim Heranreiten in schneller werdender Gangart völlige Ordnung und völligen Zusammenhalt zu wahren, besonders, wenn das zu überwindende Gelände nicht ganz eben ist. Hier zeigt sich, wie schwierig, aber auch wie wichtig es ist, streng geradeaus zu reiten, denn wenn nicht jeder Reiter seine Richtung einhält, entsteht in den Gliedern ein Gedränge, das bald vom Zentrum zu den Flanken und von den Flanken zum Zentrum hin- und herflutet; die Pferde werden erregt und unruhig, ihre unterschiedliche Schnelligkeit und ihr unterschiedliches Temperament wirken sich aus, und bald jagt die ganze Linie in einem tollen Durcheinander dahin und zeigt alles andere als jenen festen Zusammenhalt, der allein den Erfolg sichern kann. Kurz vor dem Feind werden dann die Pferde natürlich versuchen auszubrechen, statt in die ihnen gegenüberstehende oder sich bewegende Masse hineinzustürmen, und das müssen die Reiter verhindern, da sonst der Angriff bestimmt scheitert. Der Reiter muß daher nicht nur die feste Entschlossenheit besitzen, in die feindliche Linie einzubrechen, sondern er muß auch völlig Herr über sein Pferd sein. Die Reglements der verschiedenen Armeen enthalten unterschiedliche Regeln für die Art des Vorgehens der angreifenden Kavallerie, doch alle stimmen in dem einen Punkt überein, daß sich die Linie möglichst zuerst im Schritt bewegt, dann im Trab, 300 bis 150 Yard vor dem Feind in kurzem Galopp, allmählich zum gestreckten Galopp übergeht und 20 bis 30 Yard vor dem Feind die schnellste Gangart erreicht. Alle diese Reglements sind jedoch vielen Ausnahmen unterworfen. Die Bodenbeschaffenheit, das Wetter, der Zustand der Pferde etc. müssen bei jedem praktischen Fall in Betracht gezogen werden. Wenn bei einem Angriff Kavallerie gegen Kavallerie beide Seiten wirklich aufeinanderstoßen, was bei weitem der ungewöhnlichste Fall bei Kavallerietreffen ist, haben die Säbel während des Zusammenpralls selbst wenig Nutzen. Hier ist es die Wucht der einen Masse, welche die andere zum Wanken bringt und zerschmettert. Das moralische Element, die Tapferkeit, wird hier sogleich in materielle Gewalt umgewandelt; die tapferste Eskadron wird mit dem größten Selbstvertrauen, mit größter Entschlußkraft, Schnelligkeit, ensemble und mit größtem Zusammenhalt weiterreiten. Daher kommt es, daß keine Kavallerie Großes leisten kann, wenn sie nicht viel „Schneid" dabei aufweist. Doch sobald sich die Reihen der einen Seite auflösen, treten die Säbel und mit ihnen das reiterliche Können des einzelnen
in Aktion. Zumindest ein Teil der siegreichen Truppe muß seine taktische Formation ebenfalls aufgeben, um mit dem Säbel die Früchte des Sieges zu emten. So entscheidet der erfolgreiche Angriff zugleich das Treffen; aber wenn der Sieg nicht durch die Verfolgung und durch den Einzelkampf genutzt wird, wäre er verhältnismäßig wertlos. Gerade diese ungeheure Überlegenheit der Seite, die ihre taktische Geschlossenheit und Forimation bewahrt hat, über die Seite, die sie verloren hat, erklärt, warum es für irreguläre Kavallerie, sei sie noch so gut und zahlreich, unmöglich ist, reguläre Kavallerie zu schlagen. Es besteht keinZweifel, daß , im Hinblick auf das individuelle Können beim Reiten und Säbelfechten, keine reguläre Kavallerie an die Irregulären der Reitervölker des Ostens jemals herangekommen ist, und dennoch hat die allerschlechteste europäische reguläre Kavallerie sie im Felde stets geschlagen. Von der Niederlage der Hunnen bei Chälons (451) bis zum Sepoyaufstand von 1857[255] gibt es nicht ein einziges Beispiel, wo die ausgezeichneten, doch irregulären Reiter des Ostens ein einziges Regiment reguläre Kavallerie im eigentlichen Angriff geschlagen hätten. Ihre ungeordneten Schwärme, die ohne Zusammenwirken und Geschlossenheit angreifen, können eine feste, sich schnell bewegende Masse nicht beeindrucken. Ihre Überlegenheit kann sich nur dann erweisen, wenn die taktische Formation der Regulären aufgelöst ist und der Kampf Mann gegen Mann einsetzt; doch das wilde Anrennen der Irregulären gegen ihre Gegner kann nicht zu diesem Erfolg führen. Nur wenn reguläre Kavallerie in der Verfolgung ihre Linienformation aufgegeben und sich in Einzelkämpfe verwickelt hatte, ist es vorgekommen, daß die Irregulären sie geschlagen haben, indem sie plötzlich kehrtmachten und den günstigen Augenblick ausnutzten; tatsächlich hat sich schon seit den Kriegen der Parther und Römer die gesamte Taktik der Irregulären gegen Reguläre fast nur auf diese Kriegslist beschränkt. Hierfür gibt es kein besseres Beispiel als das der Dragoner Napoleons in Ägypten[761, die, zweifellos die schlechteste reguläre Kavallerie der damaligen Zeit, stets die Mamelucken, die glänzendsten aller irregulären Reiter, besiegten. Napoleon sagte von ihnen, 2 Mamelucken wären 3 Franzosen entschieden überlegen; 100 Franzosen wären 100 Mamelucken gleichwertig; 300 Franzosen würden im allgemeinen 300 Mamelucken besiegen, und 1000 Franzosen würden in jedem Fall 1500 Mamelucken schlagen. Wie groß aber auch die Überlegenheit derjenigen Kavallerietruppe bei einem Angriff sein mag, die ihre taktische Formation am besten bewahrt, so ist es doch offensichtlich, daß selbst eine solche Truppe nach einem erfolgreichen Angriff in ziemliche Unordnung geraten sein muß. Der Erfolg
des Angriffs ist nicht an jedem Punkt gleich groß; viele Kavalleristen werden unvermeidlich in Einzelkämpfe verwickelt oder verfolgen den Gegner; nur ein verhältnismäßig kleiner Teil, der meist zum zweiten Glied gehört, bleibt annähernd in Linie. Das ist der gefährlichste Augenblick für die Kavallerie; eine kleine Abteilung frischer Soldaten, gegen sie geworfen, würde ihr den Sieg aus der Hand reißen. Das Kriterium einer wirklichen guten Kavallerie ist daher schnelles Sammeln nach einem Angriff, und gerade in diesem Punkt zeigen nicht nur junge, sondern auch bereits erfahrene und tapfere Truppen Mängel. Die britische Kavallerie, die die feurigsten Pferde reitet, entgleitet besonders leicht der Führung und hat fast überall schwer dafür gebüßt (z.B. bei Waterloo und Balaklawa). Wenn zum Sammeln geblasen worden ist, wird die Verfolgung im allgemeinen einigen Abteilungen oder Eskadronen überlassen, die speziell oder durch allgemeine Reglements für diese Aufgabe vorgesehen sind, während sich das Gros der Truppen neu ordnet, um gegen edle unerwarteten Ereignisse gewappnet zu sein. Denn das Durcheinander nach einem Angriff, selbst in den Reihen der Sieger, reizt den Gegner geradezu, stets eine Reserve bereit zu haben, die bei einem Mißerfolg des ersten Angriffs vorgeschickt werden kann; deshalb ist es immer das oberste Gesetz in der Kavallerietaktik gewesen, niemals mehr als einen Teil der verfügbaren Truppen auf einmal einzusetzen. Dieser allgemeine Einsatz von Reserven erklärt den wechselvollen Charakter großer Kavallerieschlachten, wo die Welle des Sieges hin- und zurückflutet und jede Seite wechselseitig geschlagen wird, bis die letzten verfügbaren Reserven das Gewicht ihrer festen Ordnung gegen die in Unordnung geratenen, hin- und herwogenden Massen ins Feld führen und das Treffen entscheiden. Ein weiterer sehr wichtiger Umstand ist die Geländebeschaffenheit. Keine Waffengattung ist so vom Gelände abhängig wie die Kavallerie. Schwerer, nachgiebiger Boden verlangsamt den gestreckten Galopp zum kurzen; ein Hindernis, das ein einzelner Reiter ohne Umstände nehmen würde, kann die Ordnung und den Zusammenhalt der Linie auflösen, und ein Hindernis, das für frische Pferde leicht zu nehmen wäre, läßt Tiere stürzen, die ohne Futter seit dem frühen Morgen getrabt und galoppiert sind. Auch kann ein unvorhergesehenes Hindernis dadurch, daß es den Ansturm unterbricht und so einen Fronten- und Formationswechsel nach sich zieht, die gesamte Linie den Flankenangriffen des Gegners aussetzen. Ein Beispiel dafür, wie Kavallerieattacken nicht geritten werden dürfen, war Murats großer Angriff in der Schlacht bei Leipzig1521. Er formierte 14 000 Reiter zu einer tiefgegliederten Masse und stürmte gegen die russische
Infanterie vor, deren Angriff auf das Dorf Wachau gerade zurückgeschlagen •worden war. Die französische Reiterei näherte sich im Trab, in etwa 600 bis 800 Yard Entfernung von der Infanterie der Verbündeten fiel sie in kurzen Galopp; durch den nachgiebigen Boden waren die Pferde bald ermüdet, und bis sie die Karrees der russischen Infanterie erreicht hatten, war der Angriffsschwung verausgabt. Nur einige sehr geschwächte Bataillone wurden niedergeritten. Die Masse der Kavallerie galoppierte an den anderen Karrees vorbei durch die zweite Infanterielinie, ohne irgendeinen Schaden anzurichten, und traf schließlich auf eine Reihe Teiche und Moräste, die ihrem Vordringen Halt geboten. Die Pferde waren völlig ausgepumpt, die Reiter in Unordnung, die Regimenter durcheinander und der Führung entglitten; in diesem Zustand wurden sie von zwei preußischen Regimentern und den Gardekosaken - insgesamt weniger als 2000 Mann - in den Flanken überrascht und sämtlich in völliger Verwirrung wieder zurückgetrieben. In diesem Falle gab es weder eine Reserve für unvorhergesehene Ereignisse, noch hatte man die Gangart und die Entfernung richtig berücksichtigt; das Ergebnis war eine Niederlage. Der Angriff kann in verschiedenen Formationen durchgeführt werden. Die Taktiker unterscheiden den Angriff en muraille1, wenn die Eskadronen der angreifenden Linie keine oder nur sehr geringe Abstände voneinander haben; den Angriff mit Intervallen, bei dem die Eskadronen 10 bis 20 Yard voneinander entfernt sind; den Angriff en echelon2, wobei die Eskadronen nacheinander, von dem einen Flügel angefangen, zum Angriff vorgehen und daher den Feind nicht gleichzeitig, sondern nacheinander erreichen - diese Form kann noch verstärkt werden durch eine Eskadron in geöffneter Kolonne an der äußersten Flanke hinter der Eskadron, die den ersten Echelon bildet -, und schließlich den Angriff in Kolonne. Diese letzte Angriffsart steht in wesentlichem Gegensatz zu allen vorangegangenen, die sämtlich nur Abwandlungen des Angriffs in Linie sind. Die Linie war bis Napoleon die allgemeine und grundlegende Form aller Kavallerieattacken. Im ganzen 18. Jahrhundert finden wir, daß Kavallerie nur in einem einzigen Falle in Kolonne angriff, wenn sie sich nämlich durch einen sie umzingelnden Feind durchschlagen mußte. Doch Napoleon, dessen Kavallerie sich aus zwar tapferen Soldaten, aber schlechten Reitern zusammensetzte, mußte die taktischen Mängel seiner berittenen Truppen durch ein neues Verfahren ausgleichen. Er begann seine Kavallerie in tiefen Kolonnen zum Angriff zu schicken, wodurch er die ersten Glieder zum Vorwärtsreiten zwang und
1 in gerader Linie - 2 stufenweise gestaffelt
zugleich eine weit größere Zahl Reiter auf den gewählten Angriffspunkt warf, als er es bei einem Linienangriff hätte tun können. Das Bestreben, mit Massen zu operieren, wurde bei Napoleon während der Feldzüge, die dem von 1807 folgten, zu einer Art fixen Idee. Er klügelte Kolonnenformationen aus, die einfach widernatürlich waren, aber an denen er, da sie 1809 zufällig zum Erfolg geführt hatten, in den späteren Feldzügen festhielt und dadurch manche Schlacht verlor. Er bildete Kolonnen aus ganzen Infanterie- oder Kavalleriedivisionen, indem er entfaltete Bataillone und Regimenter hintereinander aufstellte. Dies wurde zuerst mit der Kavallerie 1809 bei Eggmühl1501 praktiziert, wo 10 Kürassierregimenter in Kolonne angriffen, als Front 2 deployierte Regimenter, denen 4 gleiche Linien in Abständen von etwa 60 Yard folgten. Infanteriekolonnen aus ganzen Divisionen wurden bei Wagraml80] gebildet, wobei ein deployiertes Bataillon hinter dem anderen stand. Gegenüber den langsam und methodisch vorgehenden Österreichern jener Zeit mochten solche Manöver nicht gefährlich gewesen sein, doch in allen späteren Feldzügen und gegen aktivere Gegner endeten sie mit einer Niederlage. Wir haben gesehen, welch jämmerliches Ende der große Angriff Murats bei Wachau in der gleichen Formation nahm. Der katastrophale Ausgang des großen Infanterieangriffs d'Erlons bei Waterloo wurde dadurch verursacht, daß man diese Formation anwandte.[256) Für die Kavallerie erscheint die Monsterkolonne besonders ungeeignet, da sie die wertvollsten Reserven in einer einzigen schwerfälligen Masse bindet, die, einmal in Bewegung, unwiederbringlich der Kommandogewalt entgleitet und, welchen Erfolg sie auch vorn erreichen mag, stets kleineren, gut geführten Abteilungen ausgeliefert ist, die gegen ihre Flanken geworfen werden. Mit den Kräften für eine derartige Kolonne könnten eine zweite Linie und ein oder zwei Reserven aufgestellt werden, deren Angriffe vielleicht anfangs keine solche Wirkung haben, aber durch ihre Wiederholung schließlich bessere Ergebnisse bei geringeren Verlusten erreichen würden. Tatsächlich ist in den meisten Heeren diese Form des Angriffs in Kolonne entweder aufgegeben worden, oder sie ist lediglich als theoretische Kuriosität erhalten geblieben, während in der Praxis starke Kavallerieeinheiten in mehreren Linien aufgestellt werden, die in Abständen angreifen und sich während eines längeren Treffens gegenseitig unterstützen und entlasten. Napoleon hat außerdem als erster seine Kavallerie zu großen Truppenkörpern, aus mehreren Divisionen bestehend, zusammengefaßt, zu sogenannten Kavalleriekorps. Um die Befehlsübermittlung in einer großen Armee zu vereinfachen, ist eine solche Organisation der Reservekavallerie äußerst notwendig; doch wenn sie auf dem Schlachtfeld beibehalten wurde, wenn diese
Korps als Ganzes operieren mußten, hat sie niemals angemessene Ergebnisse gebracht. Tatsächlich war diese Organisation eine der Hauptursachen für jene fehlerhafte Formierung von Monsterkolonnen, die wir bereits erwähnt haben. In den heutigen europäischen Armeen wird das Kavalleriekorps im allgemeinen beibehalten, und im preußisichen, russischen und österreichischen Heer sind sogar Musterformationen und allgemeine Regeln für das Operieren eines solchen Korps auf dem Schlachtfeld aufgestellt worden, (die sämtlich auf der Bildung einer ersten und zweiten Linie und einer Reserve basieren, wozu noch Hinweise für die Placierung der reitenden Artillerie kommen, die einer solchen Truppe angeschlossen ist. Bisher haben wir vom Kavallerieeinsatz nur soweit gesprochen, wie er sich gegen die Kavallerie richtet. Doch eine der Hauptaufgaben dieser Waffengattung in der Schlacht, ja ihre hauptsächliche Verwendung in der heutigen Zeit, ist ihr Einsatz gegen Infanterie. Wir haben gesehen, daß die Infanterie des 18. Jahrhunderts kaum jemals in der Schlacht gegen die Kavallerie Karrees gebildet hatte. Sie erwartete den Angriff in Linie, und wenn die Attacke gegen eine Flanke gerichtet war, schwenkten einige Kompanien en potence1 zurück, um ihr entgegenzutreten. Friedrich der Große lehrte seine Infanterie, niemals Karrees zu bilden, es sei denn, ein isoliertes Bataillon wird durch Kavallerie überrascht; wenn es in einem solchen Falle ein Karree gebildet hatte,
„kann es direkt auf die feindliche Reiterei losmarschieren, sie wegjagen und unbekümmert um ihre Angriffe in Richtung auf sein Ziel weitermarschieren".
Die dünnen Infanterielinien jener Zeit begegneten dem Kavallerieangriff voll Vertrauen in die Wirkung ihres Feuers und schlugen ihn oft genug zurück; doch wenn sie ins Wanken gerieten, wie bei Hohenfriedberg und Zorndorf, war das Unheil nicht wieder gufzumachen. Heute, da die Kolonne die Linie in vielen Fällen ersetzt hat, besteht die Regel, daß die Infanterie stets da, wo es möglich ist, die Kavallerie in Karrees empfängt. Es gibt zwar eine Fülle von Beispielen aus Kriegen unserer Tage, wo eine tüchtige Kavallerie eine in Linie formierte Infanterie überrascht hat und vor ihrem Feuer fliehen mußte, doch diese Beispiele bilden die Ausnahme. Die Frage ist nun, ob Kavallerie wirklich in der Lage ist, Infanteriekarrees zu sprengen. Die Meinungen darüber sind geteilt; doch es scheint allgemein anerkannt zu sein, daß unter gewöhnlichen Bedingungen eine tüchtige, einsatzfähige Infanterie, die nicht durch Artilleriefeuer zerrüttet worden ist,
1 hakenförmig
sehr große Aussicht auf Erfolg gegenüber der Kavallerie hat, während eine entschlossene Kavallerie gegenüber jungen Fußsoldaten, deren Energie und Standhaftigkeit durch einen schweren Kampftag, durch hohe Verluste und langandauernden Beschuß nachgelassen haben, größte Erfolgsaussichten hat. Es gibt Ausnahmen, wie den Angriff der deutschen Dragoner bei Garcia Hernandez (1812)[257], wo jede der 3 Eskadronen ein kampfstarkes französisches Karree zersprengte, doch in der Regel wird es ein Kavalleriekommandeur nicht für ratsam erachten, seine Leute gegen eine solche Infanterietruppe vorzuschicken. Bei Waterloo konnten Neys großartige Attacken mit der Metsse der französischen Reservekavallerie auf Wellingtons Zentrum die englischen und deutschen Karrees nicht zum Wanken bringen, weil diese Truppen, durch den Hügelrücken gut gedeckt, sehr wenig unter der vorangegangenen Kanonade gelitten hatten und fast sämtlich unversehrt waren. Solche Angriffe sind daher nur für das letzte Stadium einer Schlacht geeignet, wenn die Infanterie durch aktiven Einsatz und durch untätiges Warten unter konzentriertem Artilleriefeuer schon ziemlich zerrüttet und erschöpft ist. In solchen Fällen, wie bei Borodino und Ligny, wirken Kavallerieangriffe entscheidend, besonders wenn sie, wie in diesen beiden Fällen, durch Infanteriereserven unterstützt werden. Wir können hier nicht auf die verschiedenartigen Aufgaben eingehen, die der Kavallerie auf Vorposten, auf Patrouillen, beim Eskortieren etc. gestellt werden mögen. Einige Worte über die allgemeine Taktik der Kavallerie mögen jedoch am Platze sein. Da die Infanterie mehr und mehr zur Hauptkraft der Schlachten geworden ist, sind die Manöver der berittenen Truppe notwendigerweise denen der Infanterie mehr oder weniger untergeordnet. Und da die moderne Taktik auf dem Zusammenwirken und der gegenseitigen Unterstützung der drei Waffengattungen beruht, ergibt sich daraus, daß zumindest für einen Teil der Kavallerie jeder selbständige Einsatz völlig außer Frage steht. Deshalb ist die Kavallerie einer Armee intimer in zwei verschiedene Truppenkörper aufgeteilt: in die Divisionskavallerie und die Reservekavallerie. Erstere besteht aus Reitern, die den verschiedenen Infanteriedivisionen und -korps angeschlossen sind und dem gleichen Kommandeur unterstehen. Im Kampf ist es ihre Aufgabe, jeden günstigen Augenblick, der sich ihnen bietet, zu ihrem Vorteil auszunützen oder ihre eigene Infanterie herauszuhauen, wenn diese von überlegenen Kräften angegriffen wird. Ihr Einsatz ist naturgemäß begrenzt, und ihre Stärke reicht nicht aus, irgendwie selbständig zu handeln. Die Reservekavallerie, das Gros der Kavallerie bei der Armee, operiert in der gleichen untergeordneten Stellung der gesamten Infanterie der Armee gegenüber wie die Divisions
kavallerie im Verhältnis zur Infanteriedivision, der sie angehört. Demzufolge wird die Reservekavallerie zurückgehalten, bis sich ein günstiger Augenblick für einen wirkungsvollen Schlag bietet, entweder um einen großen Infanterie- oder Kavallerieangriff des Gegners zurückzuschlagen oder um seinerseits einen entscheidenden Angriff vorzutragen. Aus dem oben Festgestellten geht hervor, daß die Reservekavallerie im allgemeinen am besten während der letzten Stadien einer großen Schlacht eingesetzt wird; dann kann sie jedoch entscheidend sein und ist es auch oft gewesen. So gewaltige Erfolge, wie sie Seydlitz mit seiner Reiterei errungen hat, sind heute völlig ausgeschlossen, aber dennoch sind die meisten großen Schlachten der heutigen Zeit sehr stark beeinflußt worden durch die Rolle, die die Kavallerie dabei gespielt hat. Die große Bedeutung der Kavallerie liegt jedoch in der Verfolgung. Infanterie, von Artillerie unterstützt, braucht die Kavallerie nicht zu fürchten, solange sie Ordnung wahrt und standhaft bleibt, doch sobald sie einmal ins Wanken gerät, ganz gleich aus welchem Grunde, wird sie die Beute der Berittenen, die gegen sie geführt werden. Vor Pferden kann man nicht davonlaufen; selbst auf schwierigem Gelände können gute Reiter vorankommen, und die energische Verfolgung einer geschlagenen Armee durch die Kavallerie ist immer der beste und einzige Weg, sich den Sieg völlig zu sichern. Welchen Vorrang die Infanterie im Kampf auch gewonnen haben mag, so ist die Kavallerie doch eine unentbehrliche Waffengattung und wird es auch immer bleiben; heute wie früher kann keine Armee das Kampffeld mit wirklichen Erfolgsaussichten betreten, wenn sie nicht über eine Kavallerie verfügt, die sowohl reiten als auch kämpfen kann.
Geschrieben Anfang März bis etwa 21. Juni 1858. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Fortifikation12581
Fortifikation. - Dieses Gebiet wird zuweilen unterteilt in Defensivfortifikation, die es gestattet, einen gegebenen Ort ständig oder für kurze Zeit in einen verteidigungsfähigen Zustand zu versetzen, und Offensivfortifikation, die Regeln für die Durchführung einer Belagerung enthält. Wir werden es jedoch unter den folgenden drei Hauptpunkten behandeln: die beständige Befestigung oder die Art, einen Ort in Friedenszeiten in einen solchen verteidigungsfähigen Zustand zu versetzen, der den Feind zwingt, durch eine förmliche Belagerung anzugreifen; die Kunst der Belagerung; die Feldbefestigung oder Errichtung zeitweiliger Werke zur Verstärkung eines gegebenen Punktes, der jeweiligen Bedeutung entsprechend, die er unter den besonderen Umständen eines Feldzuges erlangen mag.
I. Beständige Befestigung
Die älteste Form der Befestigung ist wahrscheinlich das Pfahlwerk, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei den Türken allgemein üblich war (palanka) und das sogar heute noch auf der indochinesischen Halbinsel von den Birmanen angewandt wird. Es besteht aus einer doppelten oder dreifachen Reihe starker Baumstämme, die aufrecht und dicht nebeneinander in der Erde aufgepflanzt werden und rund um den zu verteidigenden Ort oder um das Lager einen Wall bilden. Auf solche Pfahlwerke stießen Darius bei seinem Zug zu den Skythen, G>rtez bei Tabasko in Mexiko und Kapitän G>ok in Neuseeland. Manchmal war der Raum zwischen den Reihen der Baumstämme mit Erde ausgefüllt; in anderen Fällen wurden die Stämme durch Flechtwerk miteinander verbunden und zusammengehalten. Der nächste Schritt war die Errichtung von Steinwällen an Stelle der Einpfählungen. Diese Anlage sicherte größere Festigkeit und erschwerte
zugleich den Sturm weit mehr; seit der Zeit Ninives und Babylons bis zum Ausgang des Mittelalters bildeten Steinwälle die ausschließlichen Befestigungsmittel bei allen zivilisierteren Völkern. Die Mauern waren so hoch, daß ein Erklettern schwierig wurde. Sie waren dick genug, um dem Sturmbock längeren Widerstand leisten zu können und um den Verteidigern zu ermöglichen, sich auf dem Wall frei zu bewegen, wo sie durch eine schwächere steinerne, mit Zinnen versehene Brustwehr geschützt waren, durch deren Schießscharten Pfeile und andere Wurfgeschosse auf die Angreifer geschossen oder geworfen werden konnten. Zur besseren Verteidigung wurde bald darauf die Brustwehr überhängend gebaut, und zwar mit Öffnungen zwischen den vorspringenden Steinen, auf denen sie ruhte, so daß es den Belagerten möglich war, den Fuß der Mauer zu sehen und einen Feind, der bis dahin vorgedrungen war, mit Wurfgeschossen senkrecht zu beschießen. Der Graben, der den gesamten Wall umgab und das Haupthindernis gegen ein Eindringen von außen bildete, war zweifellos auch schon frühzeitig bekannt. Schließlich wurde die Verteidigungsfähigkeit der Steinwälle außerordentlich gesteigert, indem man in gewissen Abständen Türme baute und sie aus der Mauer hervortreten ließ; damit wurde eine Seitenbestreichung durch Wurfgeschosse ermöglicht, die von den Türmen aus auf solche Truppen geschleudert werden konnten, die den Raum zwischen zwei Türmen angriffen. In den meisten Fällen höher als die Mauer und von deren Wallgang durch quer verlaufende Brustwehren getrennt, beherrschten sie die Mauer und bildeten jede für sich eine kleine Festung, die gesondert genommen werden mußte, wenn die Verteidiger schon vom Hauptwall vertrieben worden waren. Wenn wir hinzufügen, daß es in einigen Städten, besonders in Griechenland, auf einer beherrschenden Höhe innerhalb der Wälle (Akropolis) eine Art Zitadelle gab, die ein Reduit und eine zweite Verteidigungslinie bildete, so haben wir die wesentlichsten Merkmale der Epoche der Befestigung mit Mauerwerk angedeutet. Erst in der Zeit vom 14. bis Ende des 16. Jahrhunderts änderte das Aufkommen der Artillerie die Angriffsmethoden auf befestigte Plätze grundlegend. Von dieser Zeit her datiert die umfangreiche Literatur über die Befestigungskunst, die unzählige Systeme und Manieren hervorgebracht hat; ein Teil davon hat eine mehr oder weniger ausgedehnte Anwendung in der Praxis gefunden, während man andere - und nicht immer die unsinnigsten - lediglich als theoretische Kuriositäten übergangen hat, bis die in ihnen enthaltenen fruchtbaren Ideen zu einer späteren Zeit durch glücklichere Nachfolger wieder aufgegriffen wurden. Das war, wie wir sehen werden, das Schicksal selbst des Autors, der, wenn wir es so nennen dürfen, die
Brücke schlug zwischen dem alten Mauerwerksystem und dem neuen System der Erdwälle, die nur an den Stellen mit Mauerwerk verkleidet sind, die der Feind aus der Entfernung nicht sehen kann.12591 Als erstes wirkte sich die Einführung der Artillerie-so aus, daß die Mauerstärke zunahm und sich der Durchmesser der Türme auf Kosten ihrer Höhe vergrößerte. Diese Türme wurden jetzt Rundelle (rondelli) genannt und waren groß genug gebaut, mehrere Geschütze aufzunehmen. Damit die Belagerten auch auf dem Wall Geschütze verwenden können, wurde dahinter ein Erdwall aufgeworfen, um ihm die notwendige Breite zu geben. Wir werden bald sehen, wie dieser Erdwall allmählich von dem Steinwall Besitz ergriff und ihn in einigen Fällen völlig verdrängte. Albrecht Dürer, der berühmte deutsche Maler, entwickelte dieses System der Rundelle zu seiner höchsten Vollendung. Er machte die Rundelle zu völlig selbständigen Forts, die die Kontinuität der Mauer in bestimmten Abständen unterbrachen und, mit kasemattierten Batterien versehen, den Graben bestrichen; seine gemauerten Brustwehren sind nicht mehr als 3 Fuß hoch ungedeckt (d. h. dem Belagerer sichtbar und seinem direkten Feuer ausgesetzt); um die Verteidigung des Grabens zu vervollständigen, schlug er caponni&res vor, Kasematten auf der Sohle des Grabens, die den Augen der Belagerer verborgen waren, mit Schießscharten auf jeder Seite, um den Graben bis zum nächsten Winkel des Polygons enfilieren zu können. Fast alle diese Vorschläge waren neue Erfindungen; und wenn auch keine, außer den Kasematten, zu seiner Zeit berücksichtigt wurden, so werden wir doch sehen, daß sie alle in die neuesten und wichtigsten Befestigungssysteme übernommen und den veränderten Bedingungen der modernen Zeit entsprechend entwickelt worden sind. Ungefähr zur selben Zeit wurde der Grundriß der erweiterten Türme verändert, was man als Beginn der modernen Befestigungssysteme ansehen kann. Die runde Form hatte den Nachteil, daß weder die Kurtine (das Stück Mauer zwischen zwei Türmen) noch die zwei angrenzenden Türme mit ihrem Feuer jeden Punkt vor dem dazwischenliegenden Turm erreichen konnten; es gab kleine Winkel nahe der Mauer, wo der Feind, wenn er einmal bis dahin vorgedrungen war, von dem Feuer der Festung nicht mehr erreicht werden konnte. Um das zu vermeiden, wurde der Turm in ein unregelmäßiges Pentagon umgewandelt, eine Seite gegen das Innere der Festung gewandt und vier gegen das offene Land. Dieses Pentagon wurde Bastion genannt. Um Wiederholungen und Unklarheiten zu vermeiden, wollen wir die Beschreibung und Bezeichnungen der bastionären Verteidigung gleich an Hand eines jener Systeme geben, die all ihre wesentlichen
Einzelheiten aufweisen. Figur 1 zeigt drei Fronten eines Hexagons, nach Vaubans erster Manier befestigt. Die linke Seite stellt den einfachen Umriß dar, wie er bei der geometrischen Skizze des Werkes angewandt wird; die rechte gibt die Wallanlagen, das Glacis etc. im Detail wieder. Die ganze Seite/'/" des Polygons wird nicht durch einen fortlaufenden Wall gebildet; an jedem Ende sind die Teile d' f' und e" f" offen gelassen, und der so entstehende Zwischenraum wird durch die vorspringende fünfeckige Bastion d' b' d c' e' geschlossen. Die Linien d b' und et c' bilden die Facen, die
Linien b' d' und c' e' die Flanken der Bastion. Die Punkte, wo Facen und Flanken zusammentreffen, heißen Schulterpunkte. Die Linie J /', die von der Mitte des Kreises bis zur Spitze der Bastion verläuft, heißt Hauptlinie. Die Linie e" d', die einen Teil des ursprünglichen Umfanges des Hexagons bildet, ist die Kurtine. So wird jedes Polygon ebenso viele Bastionen wie Seiten haben. Die Bastion kann entweder voll sein, wenn das gesamte Pentagon so hoch wie der terreplein1 des Walles (der Platz, wo die Geschütze stehen) mit Erde aufgefüllt ist, oder hohl (leer), wenn der Wall sofort hinter den Kanonen nach dem Inneren zu abfällt. Figur 1 dbace zeigt eine volle Bastion, die nächste rechts davon, nur halb zu sehen, ist eine hohle Bastion. Bastionen und Kurtinen bilden die Enceinte2 oder den Festungskörper. Wir erkennen als erstes auf dem Wallgang die Brustwehr, die nach vorn errichtet ist, um die Verteidiger zu schützen, und dann auf der inneren Böschung (s s) die Rampen, durch welche die Verbindungen mit dem Inneren
1 Wallgang - 2 Kernumwallung
aufrechterhalten werden. Der Wall ist hoch genug, um die Häuser der Stadt vor direktem Feuer zu schützen, und die Brustwehr stark genug, um schwerer Artillerie längeren Widerstand zu leisten. Riind um den Wall verläuft der Graben tttt mit mehreren verschiedenartigen Außenwerken. Zuerst das Ravelin oder die Demilune1 & Z m vor der Kurtine, ein dreieckiges Werk mit zwei Facen k l und l m, jede mit einem Wall und einer Brustwehr für die Artillerie. Die offene Rückenseite jedes Werkes wird Kehle genannt, so in dem Ravelin k m, in der Bastion d e. Die Brustwehr des Ravelins ist ungefähr 3 oder 4 Fuß niedriger als die Brustwehr des Festungskerns, so daß das Ravelin von der Kurtine beherrscht wird und deren Geschütze, wenn notwendig, darüberhinweg feuern können. Im Graben zwischen der Kurtine und dem Ravelin liegt ein längliches und schmales detachiertes Werk, die Tenaille2 g h i, hauptsächlich dazu bestimmt, die Kurtinen vor Breschfeuer zu schützen; sie ist niedrig und für Artillerie zu eng; ihre Brustwehr dient lediglich dazu, daß die Infanterie im Falle eines erfolgreichen Angriffs die Lünette mit Grabenfeuer bestreichen kann. Jenseits des Grabens verläuft der bedeckte Weg nop, an der Innenseite durch den Graben und an der Außenseite durch die Innenböschung des Glacis rrr begrenzt, das von seiner höchsten nach innen gelegenen Begrenzung oder dem Kamm (crete) ganz allmählich nach dem Feld zu abfällt. Der Kamm des Glacis ist wiederum 3 oder mehr Fuß niedriger als das Ravelin, damit alle Geschütze der Festung darüberhinweg feuern können. Bei diesen Erdwerken sind die Außenböschung der Kernumwallung und der Außenwerke in dem Graben (Eskarpe) und die Außenböschung des Grabens (von dem gedeckten Weg abwärts), d. h. die Kontereskarpe, im allgemeinen mit Mauerwerk verkleidet. Die ausspringenden und einspringenden Winkel des bedeckten Weges bilden große, geräumige und geschützte Punkte, Waffenplätze genannt; sie werden nach den Winkeln, an denen sie liegen, als ausspringend (o) oder einspringend (n p) bezeichnet. Um den bedeckten Weg vor Längsfeuer zu schützen, sind in Abständen Traversen oder Brustwehren quer über den Weg errichtet, die an ihrem Ende dicht an dem Glacis nur schmale Durchgänge offenlassen. Manchmal ist ein kleines Werk gebaut, um die Verbindung von der Tenaille durch den Graben zu dem Ravelin zu decken; es wird caponniere genannt und besteht aus einem schmalen Gang, auf beiden Seiten von einer Brustwehr gedeckt, die nach außen allmählich wie ein Glacis abfällt. Figur 1 zeigt eine solche caponnifere zwischen der Tenaille ghi und dem Ravelin ^ /m.
1 Halbmondschanze - 2 Zangen-, Scherenwerk
Der Schnitt in Figur 2 soll der besseren Erklärung dieser Beschreibung dienen. A ist der Wallgang des Festungskerns, B ist die Brustwehr, C ist die Mauerverkleidung der Eskarpe, D der Graben, E die cunette, ein schmaler und tieferer Graben in der Mitte des größeren, F die Mauerverkleidung der Kontereskarpe, G der bedeckte Weg, H das Glacis. Die Stufen hinter der Brustwehr und dem Glacis werden Bankette genannt und dienen der Infanterie als Auftritt, um sich darauf zu stellen und über die schützende Brustwehr zu schießen. Aus dem Grundriß wird man leicht ersehen, daß die Geschütze, die an den Flanken der Bastionen aufgestellt sind, den ganzen Graben vor den angrenzenden Bastionen bestreichen. So ist die
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Face a' b' von dem Feuer der Flanke c" e" und die Face a' d von dem Feuer der Flanke b d gedeckt. Andererseits decken die inneren Facen der beiden angrenzenden Bastionen die Facen des Ravelins zwischen ihnen, indem sie den Graben vor dem Ravelin unter Feuer halten. Auf diese Art ist jeder Grabenabschnitt durch Flankenfeuer gedeckt; darin besteht der eigentliche große Schritt nach vorn, durch den das Bastionärsystem eine neue Epoche in der Geschichte der Befestigungskunst einleitet. Der Erfinder der Bastionen ist nicht bekannt, und es ist auch nicht genau bekannt, wann sie aufkamen; sicher ist nur, daß sie in Italien erfunden wurden und daß Sanmicheli im Jahre 1527 an dem Wall von Verona zwei Bastionen erbaut hat. Alle Angaben, die frühere bastionäre Befestigungen betreffen, sind anzuzweifeln. Die Systeme der bastionären Befestigung gruppieren sich in mehrere nationale Schulen; als erste muß natürlich diejenige erwähnt werden, die die Bastionen aufgebracht hat, die italienische. Die ersten italienischen Bastionen trugen noch den Stempel ihrer Herkunft; sie waren nichts anderes als vieleckige Türme oder Rundelle und änderten kaum etwas an dem früheren Charakter der Befestigungen, vom Flankenfeuer abgesehen. Die Enceinte blieb ein Steinwall, der dem direkten Feuer des Feindes ausgesetzt war; der dahinter aufgeworfene Erdwall diente hauptsächlich dazu, Platz zu schaffen, um die Artillerie aufstellen
und bedienen zu können, und seine Innenböschung war, wie bei den alten Stadtwällen, ebenfalls mit Mauerwerk verkleidet. Erst später wurde die Brustwehr aus Erdwerken gebaut, aber selbst zu dieser Zeit war ihre gesamte Außenböschung bis obenhin mit Mauerwerk verkleidet, das dem direkten Feuer des Feindes ausgesetzt war. Die Kurtinen waren sehr lang, zwischen 300 und 550 Yard. Die Bastionen waren sehr klein, so groß wie große Rundelle, die Flanken stets rechtwinklig zu den Kurtinen. Da es nun aber eine Regel in der Befestigungskunst ist, daß das beste Flankenfeuer immer aus einer Linie kommt, die rechtwinklig auf der zu flankierenden Linie steht, ist es offensichtlich, daß der Hauptzweck der alten italienischen Flanke nicht die Deckung der kurzen und entfernteren Face der angrenzenden Bastion war, sondern der langen, geraden Linie der Kurtine. Wurde die Kurtine zu lang, so wurde eine flache, stumpfwinklige Bastion in ihrer Mitte errichtet, Plattform genannt (piata forma). Die Flanken wurden nicht auf dem Schulterpunkt errichtet, sondern etwas hinter den Wall der Facen zurückgesetzt, so daß die Schulterpunkte vorsprangen, um die Flanken decken zu können; jede Flanke hatte zwei Batterien, eine niedrig stehende sowie eine etwas zurückgezogene höhere, und manchmal sogar eine Kasematte in der Flankeneskarpe auf der Grabensohle. Man füge einen Graben hinzu, und man hat das gesamte ursprüngliche italienische System; es gab keine Ravelins, keine Tenaillen, keinen bedeckten Weg, kein Glacis. Aber dieses System wurde bald verbessert. Die Kurtinen wurden verkürzt, die Bastionen vergrößert. Die Länge der inneren Seite des Polygons (/'/", Figur 1) wurde auf 250 bis 300 Yard festgelegt. Die Flanken wurden verlängert, sie betrugen ein Sechstel der Seite des Polygons und ein Viertel der Länge der Kurtine. Dadurch wurde jetzt der Face der nächsten Bastion größerer Schutz geboten, obwohl die Flanken noch immer rechtwinklig zur Kurtine standen und, wie wir sehen werden, andere Fehler hatten. Die Bastionen wurden aufgefüllt, und in ihrer Mitte wurde oft ein Kavalier errichtet, das ist ein Werk mit Facen und Flanken, parallel zu denen der Bastion, dessen Wall und Brustwehr aber um so viel höher waren, daß man vom Kavalier aus über die Brustwehr der Bastion hinweg feuern konnte. Der Graben war sehr breit und tief, die Kontereskarpe verlief allgemein parallel zur Face der Bastion; da aber durch diesen Verlauf die Kontereskarpe den Teil der Flanke, der der Schulter am nächsten war, in der Sicht und beim Flankieren des ganzen Grabens behinderte, wurden die Nachteile beseitigt, indem man die Kontereskarpe so anlegte, daß ihre Verlängerung durch den Schulterpunkt der angrenzenden Bastion ging. Dann wurde der bedeckte Weg eingeführt (zuerst in der Mailänder Zitadelle im zweiten Viertel des
16. Jahrhunderts, 1554 von Tartaglia zum erstenmal beschrieben). Er war Sammelplatz derTruppen beim Ausfall sowie der Ort, auf den sie sich zurückzogen; und man kann sagen, daß seit der Einführung des bedeckten Weges Offensivbewegungen bei der Verteidigung einer Festung wissenschaftlich und wirksam angewandt wurden. Um seinen Wert zu erhöhen, wurden Waffenplätze angelegt, die mehr Raum schufen und deren einspringende Winkel auch ein gutes Flankenfeuer für den bedeckten Weg gestatteten. Um das Eindringen in den gedeckten Weg noch weiter zu erschweren, wurden auf dem Glacis Palisadenreihen errichtet, ein oder zwei Yard von seinem Kamm entfernt; in dieser Stellung wurden sie jedoch schnell vom feindlichen Feuer zerstört; deshalb wurden sie seit Mitte des 17. Jahrhunderts auf Anregung des Franzosen Maudin auf den bedeckten Weg gestellt, geschützt von dem Glacis. Die Tore lagen in der Mitte der Kurtine; zu ihrem Schutz wurde in der Mitte des davorliegenden Grabens ein halbmondförmiges Werk angelegt; aber aus dem gleichen Grunde, aus dem die Türme in Bastionen umgewandelt wurden, veränderte man den Halbmond (demilune) bald in ein dreieckiges Werk, das heutige Ravelin. Es war noch sehr klein, aber man baute es größer, als sich herausgestellt hatte, daß es nicht nur als Brückenkopf diente, sondern auch die Flanken und Kurtinen gegen das feindliche Feuer deckte, ein Kreuzfeuer vor den Kapitalen der Bastionen ermöglichte und den bedeckten Weg wirkungsvoll flankierte. Die Ravelins waren aber noch immer sehr klein gebaut, so daß die Verlängerung ihrer Facen den Festungskern an dem Kurtinenpunkt (äußerster Punkt der Kurtine) erreichte. Die Hauptfehler der italienischen Befestigungsschule waren folgende: 1. Die schlechte Stellung der Flanke. Nach der Einführung der Ravelins und der bedeckten Wege wurde die Kurtine immer seltener zum Angriffspunkt; jetzt wurden hauptsächlich die Bastionsfacen angegriffen. Um diese gut zu decken, hätte die Verlängerung der Facen gerade auf den Punkt der Kurtine treffen müssen, wo die Flanke der nächsten Bastion errichtet war, und diese Flanke hätte rechtwinklig oder nahezu rechtwinklig auf dieser verlängerten Linie stehen müssen (Defenslinie genannt). In diesem Fall wäre eine wirkungsvolle Seitenbestreichung den gesamten Graben und die Front der Bastion entlang möglich gewesen. Die Defenslinie war aber weder rechtwinklig zu den Flanken, noch traf sie in dem Kurtinenpunkt auf die Kurtine; sie schnitt die Kurtine bei einem Viertel, einem Drittel oder der Hälfte ihrer Länge. So konnte das direkte Flankenfeuer eher der Besatzung der gegenüberliegenden Flanke Schaden zufügen als den Angreifern auf die nächste Bastion.
2. Es mangelte offenbar an Vorräten für eine längere Verteidigung, wenn die Kernumwallung durchbrochen und an einem einzelnen Punkt erfolgreich angegriffen worden war. 3. Die kleinen Ravelins deckten die Kurtinen und Flanken nur unvollständig und erhielten durch sie nur ein dürftiges Flankenfeuer. 4. Die große Erhebung des Walles, die ganz mit Mauerwerk eingefaßt oder verkleidet war, setzte in den meisten Fällen ein 15 bis 20 Fuß hohes Mauerwerk dem direkten Feuer des Feindes aus, und natürlich war dieses Mauerwerk bald zerstört. Wir werden sehen, daß es beinahe zwei Jahrhunderte dauerte, dieses Vorurteil zugunsten des ungedeckten Mauerwerks auszurotten, selbst nachdem sich in den Niederlanden seine Nutzlosigkeit erwiesen hatte. Die besten Ingenieure und Schriftsteller der italienischen Schule waren: Sanmicheli (gestorben 1559), er befestigte Napoli di Romania in Griechenland sowie Candia und baute das Kastell Lido bei Venedig; Tartaglia (um 1550); Alghisi da Carpi, Girolamo Maggi und Giacomo Castrioto, 'die ungefähr Ende des 16. Jahrhunderts alle über Befestigungskunst schrieben.Paciotto von Urbino baute die Zitadellen von Turin und Antwerpen (1560-1570). Die späteren italienischen Verfasser von Werken über die Befestigungskunst, Marchi, Busca, Floriani, Rossetti, brachten viele Verbesserungen, jedoch keine von ihnen war wirklich neu. Die Italiener waren lediglich mehr oder weniger geschicktePlagiatoren; sie kopierten den größten Teil ihrer Pläne von dem Deutschen Daniel Speckle und das übrige von den Niederländern. Sie wirkten alle im 17. Jahrhundert und wurden von der rapiden Entwicklung in der Befestigungswissenschaft dieser Zeit in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich völlig in den Schatten gestellt. Die Mängel des italienischen Befestigungssystems wurden bald in Deutschland aufgedeckt. Der erste, der auf den Hauptmangel der älteren italienischen Schule hinwies, die kleinen Bastionen und die langen Kurtinen, war der deutsche Ingenieur Franz, der für Karl V. die Stadt Antwerpen befestigte. In der Versammlung, die über seinen Plan beratschlagte, bestand er auf größeren Bastionen und kürzeren Kurtinen, wurde aber von dem Herzog Alba und den anderen spanischen Generalen überstimmt, die nur der Routine des alten italienischen Systems vertrauten. Andere deutsche Festungen zeichneten sich dadurch aus, daß sie die kasemattierten Galerien nach dem Prinzip Dürers übernahmen, z. B. Küstrin, 1537-1558 befestigt, und Jülich, einige Jahre später von einem Ingenieur befestigt, der unter dem Namen Meister Johann1 bekannt war.
1 Meister Johann: in der „New American Cyclopasdia" deutsch und englisch
Der Mann jedoch, der zuerst die Fesseln der italienischen Schule völlig zerbrach und die Prinzipien darlegte, auf denen alle späteren Systeme der bastionären Befestigung basieren, war Daniel Speckle, ein Ingenieur der Stadt Straßburg (gestorben 1589). Seine Hauptgrundsätze waren: 1. Eine Festung wird stärker, je mehr Seiten das Polygon hat, das die Kernumwallung bildet, da sich die verschiedenen Fronten dadurch gegenseitig besser unterstützen können; folglich ist es um so besser, je mehr sich die zu verteidigende Außenlinie einer Geraden nähert. Dieser von Cormontaigne mit großem Aufwand an mathematischer Gelehrsamkeit als eigene Entdeckung nachgewiesene Grundsatz war also Speckle schon 150 Jahre früher gut bekannt. 2. Spitzwinklige Bastionen sind schlecht, ebenso stumpfwinklige; der ausspringende Winkel sollte ein rechter Winkel sein. Obwohl seine Ablehnung spitzer ausspringender Winkel richtig war (der kleinste zulässige ausspringende Winkel ist jetzt allgemein auf 60 Grad festgesetzt), ließ ihn die Parteinahme seiner Zeit für rechte ausspringende Winkel die stumpfen ablehnen, die in Wirklichkeit sehr günstig und in Polygonen mit vielen Seiten unvermeidbar sind. Es scheint dies in der Tat lediglich eine Konzession an die Vorurteile seiner Zeit gewesen zu sein, denn die Grundrisse dessen, weis er als seine stärkste Manier der Befestigung betrachtet, haben alle stumpfwinklige Bastionen. 3. Die italienischen Bastionen sind viel zu klein; eine Bastion muß groß sein. Speckies Bastionen sind deshalb größer als die Cormontaignes. 4. Kavaliere sind in jeder Bastion und auf jeder Kurtine notwendig. Das entsprach der Belagerungsmethode seiner Zeit, in der hohe Kavaliere in den Trancheen eine große Rolle spielten. Aber nach Speckies Absicht sollten die Kavaliere mehr leisten, als den Kavalieren in den Trancheen standzuhalten; sie sind wirkliche coupures, die schon vorher in der Bastion vorbereitet waren und, wenn die Kernumwallung durchbrochen und erstürmt ist, eine zweite Verteidigungslinie bildeten. Das gesamte, allgemein Vauban und G)rmontaigne zugeschriebene Verdienst, Kavaliere als ständige Koupüren gebaut zu haben, gebührt daher in Wirklichkeit Speckle. 5. Wenigstens ein Teil der Flanke oder noch besser die gesamte Flanke einer Bastion muß rechtwinklig zur Defenslinie stehen und die1 Flanke in dem Punkt errichtet werden, wo die Defenslinie die Kurtine kreuzt. Dieser wichtige Grundsatz, dessen angebliche Entdeckung den größeren Teil des Ruhmes des französischen Ingenieurs Pagan bildet, wurde also 70 Jahre vor Pagan öffentlich dargelegt.
6. Kasemattierte Galerien sind für die Verteidigung des Grabens notwendig; dementsprechend sind sie bei Speckle an den Facen und den Flanken der Bastion, aber nur für Infanterie; wenn er sie groß genug für Artillerie gemacht hätte, wäre er in dieser Hinsicht vollständig auf dem neuesten Stand der Entwicklung gewesen. 7. Um Nutzen zu bringen, muß das Ravelin so groß wie möglich sein; daher ist Speckies Ravelin das größte, das je vorgeschlagen wurde. Nun bestehen Vaubans Verbesserungen an Pageins System teilweise und Cormontaignes Verbesserungen an Vaubans System fast vollständig in der sukzessiven Vergrößerung des Ravelins; aber Speckies Ravelin ist ein gut Teil größer als selbst das von Cormontaigne. 8. Der bedeckte Weg muß so stark wie möglich gemacht werden, Speckle sah eds erster die gewaltige Bedeutung des bedeckten Weges und verstärkte ihn entsprechend. Die Kämme des Glacis und der Kontereskarpe wurden en cremaillere (wie die Zähne einer Säge) geformt, um Enfilierfeuer unwirksam zu machen. Wieder nahm Cormontaigne diese Idee Speckies auf; er behielt aber die Traversen (kurze Wälle gegen Enfilierfeuer quer über den bedeckten Weg) bei, die Speckle ablehnte. Moderne Ingenieure sind allgemein zu der Schlußfolgerung gekommen, daß Speckies Plan besser ist als der Cormontaignes. Übrigens war Speckle der erste, der auf den Waffenplätzen des bedeckten Weges Artillerie aufstellte. 9. Kein Stück Mauerwerk darf dem Blick und dem direkten Feuer des Feindes ausgesetzt werden, so daß seine Breschbatterien nicht eher eingesetzt werden können, bis er den Kamm des Glacis erreicht hat. Dieser höchst wichtige Grundsatz wurde vor Cormontaigne nicht allgemein übernommen, obwohl er von Speckle im 16. Jahrhundert aufgestellt worden weir; selbst Vauban exponiert einen großen Teil seines Mauerwerks (siehe C, Figur 2). In diesem kurzen Abriß der Gedanken Speckies sind die grundlegenden Prinzipien aller modernen beistionären Befestigung nicht nur enthalten, sondern klar dargelegt, und sein System, welches selbst heute sehr gute Verteidigungswerke bieten würde, ist wahrhaft großartig, wenn man berücksichtigt, in welcher Zeit er lebte. Es gibt keinen berühmten Ingenieur in der ganzen Geschichte der modernen Befestigungskunst, dem nicht nachgewiesen werden kann, daß er einige seiner besten Ideen dieser großen, einzigartigen Quelle der bastionären Verteidigung entlehnt hat. Speckies praktische Fähigkeiten als Kriegsbaumeister zeigten sich beim Bau der Festungen Ingolstadt, Schlettstadt, Hagenau, Ulm, Colmar, Basel und Straßburg, die alle unter seiner Anleitung gebaut wurden.
Um dieselbe Zeit brachte der Kampf für die Unabhängigkeit der Niederlande'361 eine andere Schule der Befestigungskunst hervor. Die holländischen Städte, von deren alten Mauerwällen man keinen Widerstand gegenüber einem förmlichen Angriff erwarten konnte, mußten gegen die Spanier befestigt werden; man hatte jedoch weder Zeit noch Geld für die Errichtung der hohen Mauerbastionen und Kavaliere des italienischen Systems. Aber die Beschaffenheit des Bodens bot durch seine geringe Erhebung über den Meeresspiegel andere Hilfsquellen, und deshalb vertrauten die Holländer, Meister im Kanal- und Deichbau, bei ihrer Verteidigung auf das Wasser. Ihr System war das genaue Gegenteil des italienischen: breite und flache nasse Gräben, 14 bis 40 Yard breit; niedrige Schutzwälle ohne jede Mauerverkjeidung, aber von einem noch niedrigeren vorgeschobenen Schutzwall (fausse-braie) zur stärkeren Verteidigung des Grabens gedeckt; zahlreiche Außenwerke im Graben, wie Ravelins, Halbmonde (Ravelins vor dem ausspringenden Winkel der Bastion), Horn- und Kronwerke*; und schließlich eine bessere Ausnutzung der Bodenbeschaffenheit als bei den Italienern. Die erste ausschließlich mit Erdwerken und Wassergräben befestigte Stadt war Breda (1533). Später erfuhr das niederländische System einige Verbesserungen: Ein schmaler Streifen der Eskarpe wurde mit Mauerwerk verkleidet, da die Wassergräben, wenn sie im Winter zugefroren waren, leicht von demFeind überquert wurden; Wehre undSchleusen wurden im Graben angelegt, um das Wasser in dem Moment einzulassen, da der Feind begonnen hatte, den bisher trockenen Grund zu sappieren; und schließlich wurden Schleusen und Dämme für eine systematische Überschwemmung des Geländes rund um den Fuß des Glacis gebaut. Über dieses ältere niederländische Befestigungssystem schrieben Marolois (1627), Freitag (1630), Völker (1666) und Melder (1670). Scheither, Neubauer, Heidemann und Heer (Deutsche, von 1670-1690) versuchten Speckies Grundsätze auf das niederländische System anzuwenden.
* Ein Hornwerk ist eine bastionäre Front, zwei halbe Bastionen, eine Kurtine und ein Ravelin, in den Hauptgraben vorgeschoben und an jeder Seite durch eine gerade Linie von Wall und Graben geschlossen, die auf die Bastionsfacen der Enceinte ausgerichtet ist, um völlig von deren Feuer flankiert zu werden. Ein Kronwerk besteht aus zwei solchen vorgeschobenen Fronten (eine Bastion, von zwei halben Bastionen flankiert); ein Doppelkronwerk hat drei Fronten. Bei allen diesen Werken muß der Wall zumindest um so viel niedriger sein wie die Differenz zwischen Enceinte und dem Wall des Ravelins beträgt, damit beide von der Enceinte aus beherrscht werden können. Die Anlage solcher Außenwerke, die natürlich Ausnahmen waren, richtete sich nach der Bodenbeschaffenheit.
Von all den verschiedenen Schulen der Befestigungskunst hat sich die französische der größten Popularität erfreut; ihre Grundsätze haben in einer größeren Zahl noch existierender Festungen praktische Anwendung gefunden als die aller anderen Schulen zusammengenommen. Dennoch ist keine Schule so arm an eigenen Ideen. Es gibt nichts in der ganzen französischen Schule, weder ein neues Werk noch einen neuen Grundsatz, was nicht von den Italienern, den Holländern oder den Deutschen entlehnt ist. Aber das große Verdienst der Franzosen ist es, die Befestigungskunst auf genaue mathematische Regeln zurückgeführt, die Proportionen der verschiedenen Linien symmetrisch gestaltet und die wissenschaftliche Theorie auf die unterschiedlichen Bedingungen des zu befestigenden Ortes angewandt zu haben. Errard von Bar-le-Duc (1594), gewöhnlich der Vater der französischen Befestigung genannt, hat keinen Anspruch auf diese Bezeichnung; seine Flanken bilden einen spitzen Winkel mit der Kurtine, wodurch sie noch wirkungsloser sind als die der Italiener. Bedeutender ist Pagan (1645). Er führte als erster Speckies Prinzip, daß die Flanken rechtwinklig auf den Defenslinien stehen müssen, in Freinkreich ein und popularisierte es. Seine Bastionen sind geräumig; die Proportionen zwischen den Längen der Facen, Flanken und Kurtinen sind sehr gut; die Defenslinien sind niemals länger als 240 Yard, so daß der gesamte Graben, jedoch nicht der bedeckte Weg, von den Flanken aus innerhalb der Reichweite der Musketen liegt. Sein Ravelin ist größer als das der Italiener und hat ein Reduit oder kleineres Ravelin in seiner Kehle, um noch Widerstand leisten zu können, wenn sein Schutzwall bereits genommen ist. Pagan deckt die Facen der Bastionen mit einem engen detachierten Werk im Graben, Kontergarde genannt, ein Werk, welches bereits von den Holländern gebraucht wurde (der Deutsche Dilich scheint es zuerst eingeführt zu haben). Die Bastionen haben einen doppelten Schutzwall an den Facen, der zweite dient als Koupüre; aber der Graben zwischen den beiden Schutzwällen ist völlig ohne Seitenbestreichung. Der Mann, der die französische Schule zur ersten in Europa machte, war Vauban (1633-1707), Marschall von Frankreich. Obwohl sein eigentlicher militärischer Ruhm auf seinen zwei großen Erfindungen für den Angriff auf Festungen beruht (das Rikoschettfeuer und die Parallelen), so ist er doch in der Öffentlichkeit mehr als Erbauer von Festungen bekannt. Was wir von der französischen Schule gesagt haben, trifft in hohem Maße auf Vaubans System zu. Wir sehen bei seinen Konstruktionen eine so große Vielfalt der Formen, wie es sich mit dem Bastionärsystem vereinbaren läßt; aber es ist nichts Neues darunter; noch weit weniger versucht er, andere Formen als bastionäre zu übernehmen. Die
Anordnung der Details, die Proportionen der Linien, die Profile und die Anwendung der Theorie auf die stets unterschiedlichen örtlichen Bedingungen sind jedoch so genial, daß sie im Vergleich zu den Werken seiner Vorgänger vollendet erscheinen, so daß man seit Vauban von der wissenschaftlichen und systematischen Befestigungskunst sprechen kann. Er schrieb jedoch keine einzige Zeile über sein Befestigungssystem, aber aus der großen Anzahl der von ihm erbauten Festungen haben die französischen Ingenieure versucht, die ihm als Richtschnur dienenden theoretischen Regeln abzuleiten, und so wurden drei Manieren aufgestellt, Vaubans erste, zweite und dritte Manier genannt. Figur 1 gibt die erste Manier sehr vereinfacht wieder. Die Hauptdimensionen waren: Die äußere Seite des Polygons von der Spitze einer Bastion zu der der nächsten betrug 300 Yard (im Durchschnitt), auf der Mitte dieser Linie war eine Senkrechte « ß, ein Sechstel der ersten; durch ß liefen die Defenslinien von a" und d, a" d' und a' e". Von den Punkten a" und a' aus zwei Siebentel der Linie a" a' auf die Defenslinien übertragen, ergibt die Facen a" c" und d b'. Um die Schulterpunkte c" und b' wurden Kreisbogen mit dem Radius c" d' oder b' e" zwischen Defenslinien gezogen, dadurch erhielt man die Flanken b' d! und c" e". Die Linie e" d! ist die Kurtine. Der Graben: Ein Kreisbogen vor der Bastionspitze mit einem Radius von 30 Yard, von den Tangenten verlängert, die zu diesem Kreisbogen von den Schulterpunkten der angrenzenden Bastionen aus gezogen sind, ergibt die Kontereskarpe. Das Ravelin: Um den Kurtinenpunkt e" einen Kreisbogen yd mit dem Radius e"y (y ist ein Punkt auf der gegenüberliegenden Face, 11 Yard hinter dem Schulterpunkt) gezogen, bis er die Verlängerung der Senkrechten <xß schneidet, ergibt die Spitze des Ravelins; die Sehne des eben beschriebenen Bogens ergibt die Face, die von der Ravelinspitze aus fortgesetzt wird, bis sie die Verlängerung der Tangente erreicht, die die Kontereskarpe des Hauptgrabens bildet; die Kehle des Ravelins wird ebenfalls von dieser Tangente bestimmt, so daß der gesamte Graben für das Feuer der Flanken frei bleibt. Vor der Kurtine und nur dort behielt Vauban die holländische fausse-braie bei; das hatte vor ihm schon der Italiener Floriani getan, und das neue Werk wurde tenaille (tenaglia) genannt. Seine Facen verliefen in der Richtung der Defenslinien. Der Graben vor dem Ravelin war 24 Yard breit, die Kontereskarpe parallel zu den Ravelinfacen und die Spitze abgerundet. Auf diese Weise erhielt Vauban geräumige Bastionen, und seine flankierten, ausspringenden Winkel blieben völlig in Reichweite der Musketen; die Einfachheit dieser Bastionen jedoch macht die Verteidigung des Platzes
unmöglich, sobald die Face einer Bastion durchbrochen worden ist. Vaubans Flanken, die einen spitzen Winkel zu den Defenslinien bilden, sind nicht so gut wie die Speckies oder Pagans; aber er schaffte die zwei oder drei terrassenförmigen Etagen ungedeckter Geschütze ab, die bei den meisten Flanken der italienischen und der frühen französischen Schule vorhanden und nie sehr vorteilhaft waren. Die Tenaille soll die Verteidigung des Grabens durch Infanteriefeuer verstärken und die Kurtine vor direktem Breschfeuer vom Kamm des Glacis schützen; doch das geschieht nur sehr unvollkommen, da Breschbatterien auf dem einspringenden Waffenplatz (n, Figur 1) volle Sicht auf das Stück Kurtine haben, das an die Flanke bei e anschließt. Darin besteht eine große Schwäche, da eine Bresche dort alle Koupüren umfassen würde, die in der Bastion als zweite Verteidigungslinie vorbereitet sind. Schuld daran ist das noch immer zu kleine Ravelin. Der bedeckte Weg, nicht mit cr&naillferes, sondern mit Traversen, ist weit schwächer als der Speckies; die Traversen hindern nicht nur den Feind, sondern auch die Verteidigung daran, den bedeckten Weg zu enfilieren. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Werken sind im allgemeinen gut, aber reichen noch immer nicht für energische Ausfälle aus. Die Profile sind von solcher Stärke, wie sie heute noch allgemein gebräuchlich ist. Aber Vauban hing noch an dem System, die ganze Außenseite des Schutzwalls mit Mauerwerk zu verkleiden, so daß das Mauerwerk mindestens 15 Fuß hoch ungedeckt war. Dieser Fehler wurde bei vielen Festungen Vaubans begangen, und wenn er einmal gemacht ist, so kann er nur mit großem Aufwand dadurch beseitigt werden, daß man den Graben vor den Bastionsfacen erweitert und Kontergarden aus Erdwerk errichtet, um das Mauerwerk zu decken. Einen großen Teil seines Lebens hielt Vauban an seiner ersten Manier fest; aber nach 1680 führte er zwei weitere Manieren ein, die eine längere Verteidigung ermöglichen sollten, nachdem eine Bresche in die Bastion gelegt worden war. Zu diesem Zweck griff er auf eine Idee Castriotos zurück, der vorgeschlagen hatte, die alte Turm- und Wallbefestigung durch detachierte Bastionen zu modernisieren, die isoliert in dem Graben vor den Türmen angelegt werden. Vaubans zweite und dritte Manier stimmen damit überein. Außerdem vergrößerte er das Ravelin; das Mauerwerk ist etwas besser gedeckt; die Türme sind zwar kasemattiert, jedoch schlecht; der Fehler, daß in die Kurtine zwischen Bastion und Tenaille Bresche gelegt werden kann, ist geblieben und macht die detachierte Bastion zum Teil wertlos. Dennoch hielt Vauban seine zweite und dritte Manier für sehr stark. Als er Ludwig XIV. den Plan für die Befestigung Landaus (zweite Manier) übergab, sagte er: „Sire, hier ist ein Platz, den zu erobern meine
ganze Kunst nicht ausreichen würde." Das verhinderte nicht, daß Landau zu Vaubans Lebzeiten dreimal erobert wurde (1702, 1703 und 1704) und kurz nach seinem Tode nochmals (17I3).t2601 Vaubans Irrtümer wurden von Cormontaigne berichtigt, dessen Manier als die vollendetste des Bastionärsystems angesehen werden kann. Cormontaigne (1696-1752) war General der Ingenieure. Seine größeren Bastionen erlauben die Anlage ständiger Koupüren und zweiter Verteidigungslinien; seine Ravelins waren fast so groß wie die Speckies und deckten völlig den Teil der Kurtine, den Vauban ungedeckt gelassen hatte. Bei Polygonen mit 8 und mehr Seiten waren seine Ravelins so weit vorgelagert, daß von den an die angegriffene Bastion angrenzenden Ravelins aus die Werke der Belagerer von hinten beschossen werden konnten, sobald diese den Kamm des Glacis erreicht hatten. Um das zu verhüten, müssen zwei Ravelinserobert werden, bevor in eine Bastion Bresche gelegt werden kann. Die gegenseitige Unterstützung der großen Ravelins wird in dem Maße wirksamer, je mehr sich die zu verteidigende Linie einer Geraden nähert. Der einspringende Waffenplatz wurde durch ein Reduit verstärkt. Der Kamm des Glacis ist en cremaill£re angelegt wie bei Speckle, aber die Traversen sind beibehalten worden. Die Profile sind sehr gut, und das Mauerwerk ist stets von davorliegenden Erdwerken gedeckt. Mit Cormontaigne schließt die französische Schule ab, soweit es sich um die Konstruktion von bastionären Verteidigungsemlagen mit Außenwerken innerhalb des Grabens handelt. Ein Vergleich der fortschreitenden Entwicklung der Bastionärbefestigung von 1600 bis 1750 und ihrer endgültigen, von Cormontaigne niedergelegten Ergebnisse mit den oben erläuterten Grundsätzen Speckies wird dazu beitragen, das großartige Genie des deutschen Ingenieurs ins rechte Licht zu rücken; denn obwohl die Außenwerke in dem Graben stark vermehrt wurden, ist doch während dieser ganzen 150 Jahre nicht ein einziger wichtiger Grundsatz entdeckt worden, der nicht schon klar und deutlich von Speckle bewiesen worden war. Nach Cormontaigne nahm die Ingenieurschule von Mezieres (ungefähr 1760) einige unbedeutende Änderungen in seiner Manier vor, die hauptsächlich eine Rückkehr zu der alten Regel Speckies darstellen, daß die Flanken rechtwinklig auf den Defenslinien stehen müssen. Die Schule von Mezieres ist aber vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie zum ersten Male über den Ledeckten Weg hinaus Außenwerke baut. An Fronten, die bei einem Angriff besonders gefährdet waren, errichtet sie auf der Kapitale der Bastion am Fuß des Glacis ein detachiertes Ravelin, Lünette genannt, und nähert sich damit zum ersten Male dem modernen System ständig ver
schanzter Lager. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts versuchte noch Bousmard, ein französischer Emigrant, der in Preußen diente und 1807 in Danzig getötet wurde, Cormontaigne zu verbessern; seine Ideen sind ziemlich kompliziert, und das Bemerkenswerteste daran ist, daß sein sehr großes Ravelin fast bis zum Fuß des Glacis vorgeschoben wird, so daß es bis zu einem gewissen Grade den Platz und die Funktionen der eben beschriebenen Lünette einnimmt. Ein holländischer Ingenieur aus Vaubans Zeit, der ihm mehr als einmal im Belagerungskrieg ehrenvoll gegenüberstand, Baron Coehoorn, -entwickelte das alte niederländische Befestigungssystem weiter. Seine Manier bietet eine stärkere Verteidigung als selbst die von Cormontaigne, und zwar durch die kluge Kombination von nassen und trockenen Gräben, die großen Erleichterungen für Ausfälle, die ausgezeichneten Kommunikationen zwischen den Werken und die genialen Reduits und Koupüren in seinen Ravelins und Bastionen. Coehoorn, ein großer Bewunderer Speckies, ist der einzige Ingenieur von Ruf, der ehrlich genug war anzuerkennen, wieviel er ihm verdankte. Wir haben gesehen, daß sogar vor der Einführung der Bastionen Albrecht Dürer Kaponnieren benutzte, um ein stärkeres Flankenfeuer zu ermöglichen. Bei seinem befestigten Viereck verließ er sich zur Verteidigung des Grabens sogar völlig auf diese Kaponnieren; es gibt keine Türme an der Ecke des Forts; es ist ein einfaches Viereck mit lediglich ausspringenden Winkeln. Aus dem Bestreben, die Enceinte eines Polygons mit seiner Außenlinie völlig übereinstimmen zu lassen, so daß nur ausspringende und keine einspringenden Winkel entstehen, und den Graben durch Kaponnieren zu flankieren, entwickelte sich die sogeannnte Polygonalbefestigung, als deren Vater Dürer betrachtet werden muß. Eine sternförmige Enceinte andererseits, in der ausspringende und einspringende Winkel regelmäßig aufeinanderfolgen und in der jede Linie zugleich Flanke und Face ist, da sie den Graben der nächsten Linie mit dem Abschnitt flankiert, der an den einspringenden Winkel einschließt und das Feld mit dem Abschnitt beherrscht, der dem ausspringenden Winkel am nächsten liegt - eine solche Außenlinie ergibt die Tenaillenbefestigung. Die ältere italienische Schule und verschiedene- Vertreter der älteren deutschen hatten diese Form vorgeschlagen, aber sie wurde erst später entwickelt. Das System Georg Rimplers (Ingenieur des deutschen Kaisers, bei der Verteidigung Wiens gegen die Türken 1683 getötet)'261' bildet eine Art Zwischenstufe zwischen dem Bastionär- und dem Tenaillensystem. Was er Mittelbollwerke nennt, ist in Wirklichkeit eine vollständige Linie von Teriaillen. Er erklärte sich ener
gisch gegen offene Batterien, lediglich mit einer Brustwehr davor, und bestand auf kasemattierten Batterien, wo immer sie errichtet werden konnten; besonders an den Flanken würden zwei oder drei Stockwerke gut gedeckter Geschütze eine weit größere Wirkung haben als zwei oder drei terrassenförmige Etagen der Geschütze in offenen Flankenbatterien, die niemals gleichzeitig schießen konnten. Er bestand auch auf Batterien, das heißt Reduits, in den Waffenplätzen des bedeckten Weges, die Coehoorn und Cormontaigne übernahmen, und besonders auf eine zwei- und dreifache Verteidigungslinie hinter den ausspringenden Winkeln der Enceinte. In dieser Hinsicht ist sein System seiner . Zeit bemerkenswert voraus; seine gesamte Enceinte besteht aus unabhängigen Forts, von denen jedes einzeln erobert werden muß, und große Defensivkasematten werden in einer Weise genutzt, die uns fast in allen Einzelheiten ihrer Anwendung an die neueren Bauten in Deutschland erinnert. Das System Montalemberts verdankte Rimpler zweifellos ebensoviel wie das Bastionärsystem des 17. und 18. Jahrhunderts Speckle. Der Schriftsteller, der als erster die Vorteile der Tenaille über das Bastionärsystem ausführlich darlegte, war Landsberg (1712); es würde jedoch zu weit führen, wollten wir uns mit seinen Argumenten beschäftigen oder seine befestigte Außenlinie' beschreiben. Aus der großen Zahl geschickter deutscher Ingenieure, die auf Rimpler und Landsberg folgten, können wir noch den Mecklenburger Oberst Buggenhagen (1720) nennen, den Erfinder der Blockhaustraversen oder Hohltraversen für kasemattiertes Musketenfeuer, und den württembergischen Major Herbort (1734), den Erfinder der Defensivkasernen, großer Kasernen in der Kehle ausspringender Werke, gegen Vertikalfeuer durch mit Schießscharten versehene Kasematten auf der Seite gesichert, die zur Enceinte blickt, und Kasernen und Lagerräumen auf der Seite zur Stadt. Diese beiden Konstruktionen werden jetzt sehr viel angewandt. Wir sehen also, daß die deutsche Schule fast nur mit Ausnahme Speckies von Beginn an Bastionen ablehnte und diese hauptsächlich durch Tenaillen ersetzen wollte und daß sie gleichzeitig ein besseres inneres Verteidigungssystem vor allem durch die Errichtung kasemattierter Galerien einzuführen versuchte, die wiederum von namhaften französischen Ingenieuren als Gipfel des Absurden betrachtet wurden. Einer der größten Ingenieure, die Frankreich je hervorgebracht hat, Marquis de Montalembert (1713-1799), Generalmajor der Kavallerie, ging jedoch mit fliegenden Fahnen in das Lager der deutschen Schule über, zum großen Entsetzen des gesamten französischen Ingenieurkorps, das bis
zum heutigen Tag jedes Wort, das er geschrieben, verunglimpft hat.12621 Montalembert kritisierte scharf die Fehler des Bastionärsystems; die Unwirksamkeit seines Flankenfeuers; die fast absolute Gewißheit, daß die Schüsse des Gegners, wenn sie eine Linie verfehlten, eine andere treffen mußten; den mangelhaften Schutz vor Vertikalfeuer; die völlige Nutzlosigkeit der Kurtine, was das Feuer anbetrifft; die Unmöglichkeit, gute und große Koupüren in den Kehlen der Bastionen zu errichten, bewiesen ein der Tatsache, daß keine Festung seiner Zeit eine der von den Theoretikern der Schule vorgeschlagenen mannigfaltigen ständigen Koupüren hatte; die Schwäche der Außenwerke, ihre schlechte Kommunikation und mangelhafte gegenseitige Unterstützung. Montalembert zog deshalb entweder das Tenaillen- oder das Polygonalsystem vor. In beiden Fällen bestand die Kernumwallung aus einer Reihe von Kasematten mit ein oder zwei Batteriestockwerken, deren Mauerwerk vor direktem Feuer durch eine Kontergarde oder couvre-face aus Erdwerk gedeckt war, die sich rundherum ausdehnte und einen zweiten Graben davor hatte; dieser Graben wurde von Kasematten in den einspringenden Winkel der couvre-face flankiert, gedeckt durch die Brustwehr des Reduits oder der Lünette in dem einspringenden Waffenplatz. Das ganze System basierte auf dem Prinzip , durch kasemattierte Geschütze dem Feind in dem Moment, wo er den Kamm des Glacis oder der couvre-face erreichte, mit einem solchen überwältigenden Feuer zu begegnen, daß es ihm nicht möglich war, seine Breschbatterien aufzustellen. Er blieb dabei, daß dies durch Kasematten erreicht werden könnte, trotz der einmütigen Verdammung durch die französischen Ingenieure; später verband er sogar Systeme von Kreis- und Tenaillenbefestigungen, wobei auf alles Erdwerk verzichtet wurde und die gesamte Verteidigung hohen kasemattierten Batterien mit 4 bis 5 Batteriestockwerken anvertraut war, deren Mauerwerk lediglich durch das Feuer der Batterien geschützt werden sollte. So schlägt er in seiner Kreismanier vor, das Feuer von 348 Kanonen auf einen beliebigen Punkt, 500 Yard von der Festung entfernt, zu konzentrieren und erwartet, daß eine solche gewaltige Feuerüberlegenheit die Aufstellung von Belagerungsbatterien völlig unmöglich machen würde. Dabei hat er jedoch keine Anhänger gefunden, ausgenommen die Anlage der Seefronten bei den Küstenforts; hier wurde durch das Bombardement Sewastopols sehr deutlich demonstriert, daß man mit Schiffsgeschützen keine Bresche in starke kasemattierte Wälle legen konnte. Die ausgezeichneten Forts von Sewastopol, Kronstadt, Cherbourg und die neuen Batterien ein der Hafeneinfahrt von Portsmouth (England) sowie fast alle modernen Forts für die Hafenverteidigung gegen Kriegsschiffe sind nach Montalemberts Prinzip gebaut.
Das zum Teil ungedeckte Mauerwerk der Maximilianischen Türme zu Linz (Österreich)12631 und der Reduits in den detachierten Forts von Köln sind weniger glücklichen Projekten Montalemberts nachgebildet. Auch bei der Befestigung steiler Höhen (z. B. Ehrenbreitstein in Preußen) sind die ungedeckten gemauerten Forts manchmal übernommen worden, jedoch muß die Praxis entscheiden, welchen Widerstand sie zu leisten vermögen. Das Tenaillensystem ist, soweit uns bekannt, niemals in der Praxis benutzt worden, aber das Polygonalsystem wird in Deutschland sehr bevorzugt; dort werden die meisten modernen Anlagen danach gebaut, während die Franzosen beharrlich an den Bastionen Cormontaignes festhalten. Die Enceinte ist bei dem Polygonalsystem gewöhnlich ein einfacher Erdwall mit verkleideter Eskarpe und Kontereskarpe, mit großen Kaponnieren in der Mitte der Forts und mit großen Defensivkasernen hinter dem Wall und von ihm gedeckt, um als Koupüren zu dienen. Ahnliche Defensivkasernen sind auch als Koupüren in vielen bastionären Werken errichtet worden, Um die Kehlen der Bastionen zu schließen; der Wall dient als Kontergarde zum Schutz des Mauerwerks vor Fernfeuer. Von allen Vorschlägen Montalemberts hat jedoch der der detachierten Forts den größten Erfolg gehabt und eröffnete eine neue Ära nicht nur in der Befestigungskunst, sondern auch in der Belagerung und der Verteidigung von Festungen sowie in der Kriegführung überhaupt. Montalembert schlug vor, große Festungen ein wichtigen Punkten mit einer einzelnen oder doppelten Kette kleiner Forts auf beherrschenden Höhen zu umgeben; obwohl die Forts scheinbar isoliert sind, können sie sich doch gegenseitig mit ihrem Feuer unterstützen, und da sie große Ausfälle erleichtern, können sie ein Bombardement des Platzes unmöglich machen und, wenn nötig, ein verschanztes Lager für eine Armee bilden. Bereits Vauban hatte ständige verschanzte Lager unter den Kanonen der Festungen eingeführt, doch diese Verschanzungen bestanden aus langen, fortlaufenden Linien, die, wenn sie auch nur an einer Stelle durchbrochen wurden, völlig dem Feind ausgeliefert waren. Aber die verschanzten Lager Montalemberts konnten viel stärkeren Widerstand leisten, denn jedes Fort mußte einzeln erobert werden, und kein Feind konnte eher seine Laufgräben gegen den Platz eröffnen, ehe nicht wenigstens 3 oder 4 der Forts erobert waren. Darüber hinaus konnte die Belagerung eines jeden Forts jederzeit durch die Besatzung oder vielmehr durch die Armee unterbrochen werden, die hinter den Forts lagerte; so war eine Kombination des Kampfes im offenen Feld mit regulärem Festungskrieg gesichert, die die Verteidigung in hohem Maße stärken muß.
Als Napoleon seine Armeen Hunderte von Meilen durch Feindesland führte, ohne jemals die Festungen zu beachten, die alle nach dem alten System gebaut worden waren, und als andererseits die Verbündeten (1814 und 1815) geradenwegs auf Paris marschierten und dabei den dreifachen Festungsgürtel, mit dem Vauban Frankreich ausgestattet hatte, fast unbeachtet hinter sich ließen, wurde es offensichtlich, daß ein Befestigungssystem veraltet war, das seine Außen werke auf den Hauptgraben oder höchstens auf den Fuß des Glacis beschränkte. Solche Festungen hatten gegenüber den großen Armeen moderner Zeiten ihre Anziehungskraft verloren. Ihre Mittel, Schaden anzurichten, überstiegen nicht die Reichweite ihrer Geschütze. Deshalb wurde es notwendig, neue Mittel zu finden, um die ungestümen Bewegungen moderner Invasionsarmeen zu behindern, und die detachierten Forts Montalemberts wurden in großem Maßstab angewandt. Köln, Koblenz, Mainz, Rastatt, Ulm, Königsberg, Posen, Linz, Peschiera und Verona wurden besonders in große verschanzte Lager umgewandelt, die in der Lage waren, 60 000 bis 100 000 Mann aufzunehmen, aber im Notfall auch von weit kleineren Besatzungen verteidigt werden konnten. Zur gleichen Zeit wurden die taktischen Vorteile des zu befestigenden Ortes durch die strategischen Rücksichten, die jetzt die Lage der Festungen bestimmten, in den Hintergrund gerückt. Nur solche Plätze wurden befestigt, die direkt oder indirekt den Vormarsch einer siegreichen Armee auszuhalten vermochten und die, da sie große Städte waren, der Armee als Zentrum der Hilfsquellen ganzer Provinzen große Vorteile boten. Die Lage an großen Flüssen, besonders dort, wo zwei wichtige Flüsse zusammenfließen, wurde bevorzugt, da sie die angreifende Armee zwang, ihre Kräfte zu teilen. Die Enceinte wurde so weit wie möglich vereinfacht, und die Außenwerke im Graben wurden fast völlig abgeschafft; es genügte, die Umwallung gegen einen nicht förmlichen Angriff zu sichern. Das Hauptfeld des Kampfes lag rund um die detachierten Forts, und diese wurden nicht so sehr von dem Feuer -ihrer Wälle verteidigt als von den Ausfällen der Festungsbesatzung selbst. Die größte nach diesem Plan gebaute Festung ist Paris; sie hat eine einfache bastionierte Enceinte mit bastionierten Forts, fast alle viereckig; in der gesamten Befestigung gibt es kein Außenwerk, nicht einmal ein Ravelin. Ohne Zweifel hat die defensive Stärke Frankreichs durch dieses neue und gewaltige verschanzte Lager um 30 Prozent zugenommen; es ist groß genug, um drei geschlagenen Armeen Zuflucht zu bieten. Der eigentliche Wert der verschiedenen Befestigungsmethoden hat durch diese Verbesserung einen großen Teil seiner Bedeutung verloren, das Billigste wird jetzt das Beste sein; denn die Verteidigung
basiert nicht mehr auf dem passiven System, den Feind hinter den Wällen zu erwarten, bis er seine Laufgräben eröffnet, und diese dann mit Kanonen zu beschießen, sondern auf der aktiven Verteidigung, die mit der konzentrierten Kraft der Besatzimg gegen die notwendigerweise geteilten Kräfte des Belagerers die Offensive ergreift.
II. Belagerung
Die Belagerungskunst ist von den Griechen und Römern zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht worden. Sie versuchten die Mauern der Festungen mit dem Sturmbock zu brechen und näherten sich ihnen unter der Deckung von stark überdachten Galerien oder nötigenfalls von einem hohen Bauwerk, das durch seine größere Höhe Wälle und Türme beherrschte und die Annäherung der Sturmkolonnen sichern sollte. Die Erfindung des Schießpulvers beseitigte diese Einrichtungen; die Festungen hatten jetzt niedrigere Wälle, doch das Feuer war auf weite Entfernungen wirksam; man näherte sich der Festung durch Trancheen, die in Zickzack- oder in gebogenen Linien zu dem Glacis führten; dabei wurden an verschiedenen Stellen Batterien aufgestellt, um das Feuer der Belagerten möglichst zum Schweigen zu bringen und ihr Mauerwerk zu zertrümmern. War der Kamm des Glacis einmal erreicht, so wurde ein hoher Trancheekavalier errichtet, um die Bastionen und deren Kavaliere zu beherrschen und dann durch Breschfeuer die Bresche zu vollenden und den Sturm vorzubereiten. Die Kurtine war der hauptsächlich angegriffene Punkt. Für diese Angriffsart gab es jedoch kein System, bis Vauban Parallelen mit Rikoschettfeuer einführte und den Belagerungsprozeß in der Weise reglementierte, die noch heute maßgebend ist und die immer noch Vaubans Angriff genannt wird. Der Belagerer schließt die Festung von allen Seiten mit genügend Kräften ein, wählt die anzugreifenden Fronten aus und eröffnet ungefähr 600 Yard von der Festung entfernt nachts die erste Parallele (alle Belagerungsarbeiten werden hauptsächlich nachts durchgeführt). Eine Tranchee parallel zu den Seiten des belagerten Polygons wird um mindestens drei dieser Seiten und Fronten gezogen; die Erde, die an der dem Feind zugewandten Seite aufgeworfen und auf den Seiten des Grabens mit Schanzkörben (mit Erde gefüllte Weidenkörbe) gestützt wird, bildet eine Art Brustwehr gegen das Feuer der Festung. In dieser ersten Parallele werden die Rikoschettbatterien errichtet, um die langen Linien der angegriffenen Fronten zu enfilieren.
Wenn wir als Objekt der Belagerung ein bastioniertes Hexagon annehmen, so sollten Rikoscbettbatterien vorbanden sein -eine für jede Face um die Facen von 2 Bastionen und 3 Ravelins zu enfilieren. Diese Batterien lenken ihr Feuer so, daß es gerade über die Brustwehr der Werke hinweggeht, die Facen der Länge nach bestreicht und Geschütze sowie Menschen gefährdet. Ahnliche Batterien werden errichtet, um die Abzweigungen des bedeckten Weges zu enfilieren, und Mörser und Haubitzen werden in Batterien aufgestellt, um mit Granaten das Innere der Bastionen und Ravelins zu beschießen. Alle diese Batterien sind mit Brustwehren aus Erdwerk gedeckt. Gleichzeitig werden an zwei oder mehr Stellen Zickzack-Trancheen gegen den Platz vorgeschoben, die vor jeglichem Enfilierfeuer aus der Stadt schützen sollen; und sobald das Feuer der Festung nachzulassen beginnt, wird ungefähr 350 Yard von den Werken entfernt die zweite Parallele eröffnet. In dieser Parallele werden die Demontierbatterien errichtet. Sie dienen der völligen Zerstörung der Artillerie und der Schießscheuten auf den Facen der Festung; 8 Facen sind anzugreifen (2 BeLstionen und ihre Ravelins sowie die inneren Facen der angrenzenden Ravelins), für die je eine Batterie paredlel zu den angegriffenen Facen angelegt ist, und jede Schießscharte liegt einer Schießscharte der Festung genau gegenüber. Von der zweiten Parallele werden erneut Zickzacks gegen die Stadt vorgeschoben; auf 200 Yard wird die Halbparallele gebaut, die eine Erweiterung der Zickzacks bildet und mit Mörserbatterien bestückt ist, und schließlich wird am Fuß des Glacis die dritte Parallele eröffnet. Diese ist mit schweren Mörserbatterien bestückt. Zu diesem Zeitpunkt wird das Feuer des Platzes beinahe zum Schweigen gebracht worden sein, und die Approchen in schlangenförmigen oder winkligen Linien, um dem Rikoschettfeuer zu entgehen - werden bis zum Kamm des Glacis vorgetrieben, der den Spitzen der beiden Bastionen und des Ravelins gegenüber erreicht wird. Dann wird in dem ausspringenden Waffenplatz ein Logement oder eine Tranchee und Brustwehr angelegt, um den Graben durch Infanteriefeuer zu enfilieren. Wenn der Feind energische und kühne Ausfälle wagt, wird eine vierte Parallele notwendig, die die ausspringenden Waffenplätze quer über das Glacis verbindet. Im anderen Falle wird eine Sappe von der dritten Parallele zu den einspringenden Waffenplätzen und der Krönung des Glacis vorgetrieben oder der Bau einer Tranchee entlang des gedeckten Weges auf dem Kamm des Glacis vollendet. Dann werden in diesem couronnement die Konterbatterien errichtet, um das Feuer der Flanken, das den Graben bestreicht, zum Schweigen zu bringen, und danach die Breschbatterien, die gegen die Spitze und die Facen der Bastionen und des Ravelins gerichtet
sind. Gegenüber den Punkten, wo eine Bresche gelegt werden soll, wird ein Minenstollen gegraben, der von den Trancheen durch das Glacis und die Kontereskarpe in den Graben hinunterführt; die Kontereskarpe wird eingedrückt und eine neue Tranchee durch den Graben zum Fuße der Bresche gezogen; die dem Enfilierfeuer der Flanke zugewandte Seite wird durch eine Brustwehr gedeckt. Sobald die Bresche und der Grabenübergang fertig sind, beginnt der Sturm. ' Das trifft für einen trockenen Graben zu; über einen nassen Graben muß ein Damm aus Faschinen errichtet werden, der ebenfalls durch eine Brustwehr an der Seite der angrenzenden Bastionsflanke gedeckt ist. Wenn sich bei der Einnahme der Bastion herausstellt, daß dahinter ein weiterer Schanzgraben oder eine Koupüre liegt, müssen ein Logement errichtet, an der Bresche neue Batterien aufgestellt, eine neue Bresche gelegt, ein neuer Grabenabstieg und -Übergang gebaut sowie ein neuer Sturm unternommen werden. Der durchschnittliche Widerstand eines nach Vaubans erster Manier bastionierten Hexagons gegen eine solche Belagerung wird auf 19 bis 22 Tage berechnet, wenn keine Koupüren vorhanden sind, und 27 oder 28 Tage, wenn es mit Koupüren ausgestattet ist. Cormontaignes Manier soll 25 bzw. 35 bis 37 Tage aushalten.
III. Feldbefestigung
Der Bau von Feldwerken ist so alt wie die Armeen selbst. Im Altertum war man weit erfahrener in dieser Kunst als in unseren modernen Armeen; die römischen Legionen verschanzten, wenn sie vor dem Feind standen, ihr Lager jede Nacht. Während des 17. und 18. Jahrhunderts waren Feldbefestigungen ebenfalls weit verbreitet; und in den Kriegen Friedrichs des Großen warfen die Feldwachen auf Vorposten gewöhnlich leicht profilierte Redans auf. Jedoch war selbst damals und ist heute noch weit mehr der Bau von Feldbefestigungen auf die Verstärkung einiger Positionen beschränkt, die im Hinblick auf gewisse Möglichkeiten während eines Feldzugs vorher ausgewählt wurden, zum Beispiel das Lager Friedrichs des Großen bei Bunzelwitz, die Linien Wellingtons bei Torres Vedras, die französischen Linien von Weißenburg und die österreichischen Trancheen vor Verona ] 848 [264] Unter solchen Umständen können Feldbefestigungen den Ausgang eines Feldzuges bedeutend beeinflussen, denn sie ermöglichen einer zahlenmäßig schwächeren Armee, einer überlegenen erfolgreich Widerstand zu leisten. Früher waren die verschanzten Linien kontinuierlich wie bei
Vaubans ständig befestigten Lagern; aber wegen des Nachteils, daß die gesamte Linie nutzlos war, wenn sie an einem Punkt durchbrochen und erobert wurde, bestehen sie jetzt allgemein aus einer oder mehreren Linien detachierter Redouten, die sich gegenseitig durch ihr Feuer flankieren und der Armee erlauben, durch die Lücken über den Feind herzufallen, sobald das Feuer der Redouten die Kraft seines Angriffs gebrochen hat. Das ist der hauptsächliche Zweck der Feldbefestigungen; aber sie werden auch einzeln angewandt, als Brückenköpfe, um den Zugang zu einer Brücke zu verteidigen, oder um einen wichtigen Paß kleinen Abteilungen des Feindes zu verschließen. Abgesehen von all den phantasievolleren Formen von Werken, die jetzt nicht mehr zeitgemäß sind, sollten solche Befestigungen aus Werken bestehen, die an der Kehle offen oder geschlossen sind. Die ersteren werden entweder Redans (zwei Brustwehren mit einem Graben davor, die einen dem Feind zugewandten Winkel bilden) oder Lünetten (Redans mit kurzen Flanken) sein. Die letzteren können an der Kehle durch Palisaden geschlossen sein. Das hauptsächliche, heute noch gebräuchliche geschlossene Feldwerk ist die viereckige Redoute, ein regelmäßiges oder unregelmäßiges Viereck, von einem Graben und einer Brustwehr ringsum geschlossen. Die Brustwehr ist so hoch wie bei der ständigen Befestigung (7 bis 8 Fuß hoch), aber nicht so stark, weil sie nur Feldartillerie Widerstand zu leisten hat. Da keines dieser Werke eigenes Flankenfeuer hat, müssen sie so angelegt sein, daß sie einander in Reichweite des Gewehrfeuers flankieren. Um das wirksam durchzuführen und die gesamte Linie zu verstärken, ist jetzt das Verfahren edlgemein anerkannt worden, ein verschanztes Lager durch eine Linie viereckiger, einander fleinkierender Redouten zu bilden, mit einer Linie einfacher Redans, die vor den Zwischenräumen der Redouten liegen. Solch ein Lager wurde 1849 vor Komorn südlich der Donau gebaut und von den Ungarn zwei Tage lang gegen eine weit überlegene Armee verteidigt.[26sl
Geschrieben Mai bis etwa 9. Juni 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Infanterie
Infanterie- Sie Fußsoldaten einer Armee. Das Gros, wenn nicht gar die Gesamtstärke aller Armeen hat, außer bei Nomadenstämmen, immer aus Fußsoldaten bestanden. Daher bildete sogar bei den ersten asiatischen Armeen, bei den Assyrern, Babyloniern und Persern, die Infanterie, wenigstens zahlenmäßig, den Hauptteil des Heeres. Bei den Griechen bestand die Armee anfangs ausschließlich aus Infanterie. Das wenige, was wir über die Zusammensetzung, Organisation und Taktik der alten asiatischen Infanterie wissen, ist schon in dem Artikel Arme£ dargelegt worden, auf den wir uns hinsichtlich vieler Einzelheiten, deren Wiederholung hier überflüssig wäre, beziehen. In dem vorliegenden Artikel werden wir uns nur auf die Darstellung der wichtigsten taktischen Grundzüge in der Geschichte dieser Waffengattung beschränken und -deshalb gleich bei den Griechen beginnen.
I. Griechische Infanterie
Die Schöpfer der griechischen Taktik waren die Dorer'2661, und von ihnen waren es die Spartaner, die die alte dorische Schlachtordnung bis zur Vollkommenheit entwickelten. Ursprünglich waren alle Klassen, aus denen sich das dorische Gemeinwesen zusammensetzte, zum Militärdienst verpflichtet, und zwar nicht nur die vollberechtigten Bürger, die die Aristokratie bildeten, sondern auch die nicht vollberechtigten Periöken1121 und sogar die Sklaven. Sie gehörten alle der gleichen Phalanx an, nahmen jedoch darin verschiedene Positionen ein. Die Vollbürger mußten schwerbewaffnet erscheinen, mit einer Schutzausrüstung, bestehend aus Helm, Küraß, Beinschienen aus Bronze, einem großen mit Leder bezogenen hölzernen Schild, genügend hoch, um den ganzen Körper zu schützen, sowie mit einem Speer
1 Siehe vorl. Band, S. 5-9
und einem Schwert. Sie bildeten, entsprechend ihrer Anzahl, das erste oder das erste und zweite Glied der Phalanx. Hinter ihnen standen die nichtvollberechtigten Bürger und die Sklaven, so daß jeder spartanische Aristokrat sein persönliches Gefolge hinter sich stehen hatte; dieses war ohne die kostspielige Schutzausrüstung und vertraute auf den ihm durch die vorderen Glieder und deren Schilde gebotenen Schutz. Die Angriffswaffen der Periöken und Sklaven waren Schleudern, Wurfspeere, Messer, Dolche und Keulen. So bildete die dorische Phalanx eine tiefe Linie, mit den Hopliten, das heißt der schweren Infanterie, in den vorderen, den gymnetae, also der leichten Infanterie, in den hinteren Gliedern. Die Hopliten mußten den Feind durch den Angriff mit ihren Speeren ins Wanken bringen; einmal in die feindlichen Reihen eingedrungen, zogen sie ihre kurzen Schwerter und rückten im Nahkampf weiter vor, während die Gymneten, die den Angriff durch das Schleudern von Steinen und Wurfspeeren über die Köpfe der vorderen Glieder hinweg vorbereitet hatten, das Vorrücken der Hopliten dadurch unterstützten, daß sie den verwundeten, noch kämpfenden Feinden den Todesstoß versetzten. Die Taktik eines solchen Truppenkörpers war demnach sehr einfach; taktisches Manövrieren gab es kaum. Mut, Zähigkeit, körperliche Stärke sowie individuelle Behendigkeit und Geschicklichkeit der Kämpfenden» besonders der Hopliten, entschieden alles. Diese patriarchalische Vereinigung aller Klassen des Volkes in derselben Phalanx verschwand bald nach den Perserkriegen161 hauptsächlich aus politischen Gründen. Die Folge war, daß sich die Phalanx jetzt nur noch aus Hopliten zusammensetzte und daß die leichte Infanterie, wo sie noch weiterhin bestand oder neu gebildet wurde, getrennt in zerstreuter Ordnung kämpfte. In Sparta bildeten die Vollbürger zusammen mit den Periöken die schwerbewaffnete Phalanx; die Heloten'131 folgten mit dem Troß oder als Schildträger (hypaspistae). Eine geraume Zeit genügte diese Phalanx allen in der Schlacht an sie gestellten Ansprüchen, aber im Peloponnesischen Krieg'101 zwangen die Leichtbewaffneten der Athener die Spartaner bald dazu, ähnliche Truppen aufzustellen. Sie bildeten allerdings keine besonderen gymnetae, sondern ließen ihre jüngeren Männer in zerstreuter Ordnung kämpfen. Als sich die Anzahl der Vollbürger und sogar die der Periöken gegen Ende dieses Krieges stark verringert hatte, waren die Spartaner gezwungen, Phalangen schwerbewaffneter Sklaven zu formieren, die von Vollbürgern befehligt wurden.
Nachdem die Athener die aus den ärmeren Bürgern, dem persönlichen Gefolge und den Sklaven bestehenden gymnetae aus der Phalanx ausgeschlossen hatten, schufen sie spezielle Korps leichter Infanterie, bestehend aus Gymneten oder Psilen, die zum Plänkeln bestimmt und ausschließlich für den Fernkampf bewaffnet waren, wie Schleuderer (sphendonetae), Bogenschützen (toxotae) und Speerwerfer (acontistae); die letzteren wurden nach dem kleinen Schild (pelta), den nur sie trugen, auch peltastae genannt. Diese neue Art der leichten Infanterie, die sich ursprünglich aus den ärmeren Bürgern Athens rekrutierte, wurde sehr bald fast ausschließlich aus Söldnern und den Kontingenten der Bundesgenossen Athens'91 gebildet. Mit dem Augenblick, da diese Leichtbewaffneten eingesetzt wurden, war die schwerfällige dorische Phalanx nicht länger fähig, allein eine Schlacht zu führen. Auch ihr Menschenmaterial hatte sich fortlaufend verschlechtert: in Sparta durch das allmähliche Absterben der Militäraristokratie, in den anderen Städten durch den Einfluß des Handels und des Wohlstandes, der mit der Zeit die für das Altertum charakteristische Verachtung des Todes untergrub. So verlor die jetzt aus einem Aufgebot nicht sehr heldenhafter Männer formiertePhalanx viel von ihrer altenBedeutung. Sie bildete den Hintergrund, die Reserve der Schlachtlinie, vor der die Leichtbewaffneten kämpften oder hinter die sie sich, wenn bedrängt, zurückzogen; von der Phalanx wurde aber kaum erwartet, daß sie selbst mit dem Feind in. den Nahkampf trete. Auch dort, wo sich die Phalanx aus Söldnern zusammensetzte, war es um sie nicht viel besser bestellt. Wegen ihrer Schwerfälligkeit war sie zum Manövrieren untauglich, besonders auf leicht hügeligem Gelände, und ihr ganzer Wert lag im passiven Widerstand. Dies führte zu zwei Reformversuchen durch Iphikrates, einem Söldnergeneral. Dieser griechische Condottiere vertauschte die alten kurzen Speere der Hopliten (8-10 Fuß lang) gegen bedeutend längere, so daß bei geschlossenen Reihen die Speere von 3 oder 4 Gliedern vorn herausragten und gegen den Feind wirksam werden konnten; dadurch wurde die Defensivkraft der Phalanx bedeutend gestärkt. Andererseits stattete Iphikrates seine Peltasten mit einer leichten Schutzausrüstung und einem guten Schwert aus und exerzierte mit ihnen die Evolutionen der Phalanx, um so eine Streitmacht zu schaffen, die fähig war, Schlachten durch geschlossene und doch schnelle Angriffe zu entscheiden. Wenn der Befehl zum Angriff gegeben wurde, gingen die Peltasten mit einer Schnelligkeit vor, wie sie bei der Phalanx der Hopliten unerreichbar war, überschütteten den Feind mit einem Hagel von Wurfspeeren aus 10 oder 20 Yard Entfernung und brachen dann mit dem Schwert in seine Reihen ein.
Die Einfachheit der alten dorischen Phalanx hatte so einer weit komplizierteren Schlachtordnung Platz gemacht; die Handlungen des Befehlshabers waren eine wichtige Voraussetzung des Sieges geworden; taktische Manöver wurden nun möglich. Epaminondas erkannte als erster das große taktische Prinzip, das bis zum heutigen Tag fast alle regelrechten Schlachten entscheidet: die ungleichmäßige Verteilung der Truppen auf der Frontlinie, um den Hauptangriff auf einen entscheidenden Punkt zu konzentrieren. Bisher waren die Schlachten der Griechen in paralleler Ordnung ausgetragen worden; die Stärke der Frontlinie war an allen Punkten gleich. War eine Armee der gegnerischen zahlenmäßig überlegen, so bildete sie entweder eine tiefere Schlachtordnung, oder sie überragte die andere Armee an beiden Flügeln. Epaminondas dagegen bestimmte einen seiner Flügel für den Angriff und den anderen für die Verteidigung. Der angreifende Flügel setzte sich aus seinen besten Truppen und aus dem Gros seiner Hopliten zusammen, die in einer tiefen Kolonne formiert waren und denen leichte Infanterie und Kavallerie folgten. Der andere Flügel war natürlich bedeutend schwächer und wurde zurückgehalten, während die angreifende Kolonne die Linie des Feindes durchbrach, sich dann entweder entfaltete oder einschwenkte und so den Feind mit Unterstützung der leichten und berittenen Truppen aufrollte. Der durch Iphikrates und Epaminondas erzielte Fortschritt wurde noch weiter entwickelt, als Makedonien die Führung der Hellenen übernommen hatte und sie gegen Persien führte.1 Die langen Speere der Hopliten finden wir in der makedonischen sarissa noch mehr verlängert. Die peltastae des Iphikrates erscheinen in einer verbesserten Form in Alexanders hypaspistae wieder. Der rationelle Einsatz der Kräfte, den Epaminondas in der Schlachtordnung einführte, wurde schließlich von Alexander auf eine derartige Kombination verschiedener Waffengattungen ausgedehnt, wie sie Griechenland mit seiner unbedeutenden Kavallerie niemals hervorgebracht haben könnte. Alexanders Infanterie setzte sich zusammen aus der Phalanx der Hopliten, die die defensive Stärke der Schlachtordnung darstellte, und aus der leichten, in zerstreuter Ordnung kämpfenden Infanterie, die den Feind in der ganzen Front angriff und auch an der endgültigen Herbeiführung des Sieges teilhatte. Fernerhin bestand Alexanders Infanterie aus den hypaspistae, zu denen seine eigene Leibwache gehörte, die trotz leichter Ausrüstung noch immer regulärer Manöver einer Phalanx fähig waren und jene Art mittlerer
1 zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts v. u. Z.
Infanterie bildeten, die mehr oder weniger beiden, der geschlossenen und der zerstreuten Ordnung, angepaßt war. Trotzdem haben weder Griechenland noch Makedonien eine bewegliche Infanterie geschaffen, auf die Verlaß war, wenn sie einer festen Phalanx gegenüberstand. In einem solchen Fall setzte Alexander seine Kavallerie ein. Der eingreifende Flügel wurde aus dem Gros seiner schweren Kavallerie formiert, die aus makedonischen Adligen ausgewählt war; mit ihnen kämpften die hypaspistae. Ihr Einsatz folgte dem Angriff der Berittenen. Sie warfen sich in die von der Kavallerie geschlagene Bresche, festigten so den von dieser erzielten Erfolg und behaupteten sich inmitten der feindlichen Stellung. Nach der Eroberung des Zentrums des Persischen Reiches benutzte Alexander seine Hopliten hauptsächlich als Besatzung für die eroberten Städte. Sie versch wein den bald aus der Armee, die durch ihren kühnen und schnellen Vormarsch die asiatischen Stämme bis zum Indus und Jaxartes unterwarf. Diese Armee bestand hauptsächlich aus Kavallerie, Hypaspisten und leichter Infanterie, während die solchen Märschen nicht gewachsene Phalanx auf Grund der Art des zu bezwingenden Feindes überflüssig wurde. Unter den Nachfolgern Alexanders verschlechterte sich die Infanterie wie auch die Kavallerie und ihre Taktik absolut und sehr rasch. Diebeiden Flügel der Schlachtordnung wurden ausschließlich aus Kavallerie und das Zentrum aus Infanterie gebildet; der letzteren vertraute man jedoch so wenig, daß sie durch Elefanten gedeckt wurde. In Asien gewann das vorherrschende asiatische Element bald die Oberhand und machte die Armeen derSeleukiden so gut wie wertlos. In Europa gewann die makedonische und griechische Infanterie wieder an Festigkeit, aber damit kehrte die frühere ausschließlich angewandte Phalanxtaktik zurück. Leichte Truppen und Kavallerie gewannen nicht wieder an Bedeutung, obwohl viel Mühe und Scharfsinn an nutzlose Versuche verschwendet wurde, um der Phalanx die Beweglichkeit zu geben, die sie auf Grund ihres besonderen Charakters niemals erreichen konnte, bis schließlich die römische Legion dem ganzen System ein Ende bereitete. Die taktische Organisation und die Manöver der Phalanx waren mehr als einfach. Im allgemeinen 16 Mann tief (unter Alexander), bildete eine Linie von 16 Reihen genau ein Quadrat, und dieses, das syntagma, stellte die evolutionäre Einheit dar; 16 Syntagmen oder 256 Reihen bildeten eine Phalangarchie von 4096 Mann und 4 davon wieder die vollständige Phalanx. Die Phalangarchie formierte in der Schlachtordnung eine 16 Mann tiefe Linie; sie wechselte zur Marschordnung, indem sie eine Wendung rechtsum oder linksum machte oder in Syntagmen einschwenkte. In jedem Falle
formierte sie sich zu einer geschlossenen Kolonne in Gliedern von 16 Mann. Waren sie in Linie formiert, so konnte die Tiefe verstärkt und die Front verkürzt werden, indem die Glieder dupliert wurden, wobei sich die Reihen mit geraden Zahlen hinter die mit ungeraden stellten. Die entgegengesetzte Bewegung wurde durch Duplieren der Reihen erzielt und dadurch die Tiefe von 16 auf 8 Mann pro Reihe reduziert. Wenn der Feind plötzlich im Rükken der Phalanx erschien, wurde der Konter marsch nach Reihen durchgeführt; die dadurch verursachte Umkehrung (jede Reihe war in ihrer eigenen Sektion oder ihrem Syntagma auf dem falschen Platz) wurde manchmal durch den Kontermarsch nach Gliedern jeder Sektion wieder richtiggestellt. Wird die Handhabung der Spieße noch hinzugerechnet, so haben wir die verschiedenen Punkte der militärischen Ausbildung der Hopliten des Altertums angeführt. Es ist selbstverständlich, daß die leichteren Truppen, obwohl eigentlich nicht zum Kampf in geschlossener Ordnung bestimmt, noch immer in den Bewegungen der Phalanx ausgebildet wurden.
II. Römische Infanterie
Das lateinische Wort legio diente ursprünglich dazu, die Gesamtheit der für den Felddienst ausgewählten Männer zu bezeichnen, und war somit gleichbedeutend mit Armee. Später, als die Ausdehnung des römischen Territoriums und die Stärke der Gegner der Republik größere Armeen erforderten, wurden diese in mehrere Legionen unterteilt, wobei jede Legion eine der ursprünglichen römischen Armee ähnliche Stärke hatte. Bis zur Zeit des Marius setzte sich jede Legion sowohl aus Infanterie als auch aus Kavallerie zusammen; die letztere hatte ungefähr ein Zehntel der Stärke der ersteren. Ursprünglich scheint die Infanterie der römischen Legion ähnlich organisiert gewesen zu sein wie die alte dorische Phalanx, nämlich in einer tiefen Linie kämpfend, wobei die Patrizier und reicheren Bürger in schwerer Rüstung die vorderen Glieder bildeten und die ärmeren und leichter bewaffneten Plebejer hinter ihnen standen. Aber ungefähr zurZeit der Samnitenkriege12671 begann sich eine Änderung in der Organisation der Legion zu vollziehen, die sie bald in einen vollständigen Gegensatz zur griechischen Phalanx brachte und über die uns Polybios, nachdem sie in den Punischen Kriegen'2431 ihre volle Entwicklung erreicht hatte, einen vollständigen Bericht gibt. Die Legion - im allgemeinen wurden für jeden Feldzug vier ausgehoben - setzte sich nun aus vier Klassen von Infanterie zusammen:
velites, hastati, principes und triarii. Die erste war eine aus Rekruten gebildete leichte Infanterie; die triarii, aus Veteranen bestehend, waren die Reserve der Armee; die anderen beiden Klassen, der übrige Teil der Armee, bildeten die Hauptkampftruppe oder Linieninfanterie und unterschieden sich darin, daß die principes aus dem Kreis jener Männer ausgewählt wurden, die nach den triarii am längsten-gedient hatten. Die velites trugen lederne Kappen und leichte runde Schilde als Schutzausrüstung, außerdem Schwerter und eine Anzahl leichter Wurfspeere. Die übrigen drei Klassen hatten Metallhelme, einen mit Metallplatten beschlagenen Lederharnisch und Beinschienen aus Metall. Die hastati und principes trugen neben einem kurzen Schwert zwei pila, das heißt Wurfspieße, einen leichten und einen sehr schweren; der letztere war die spezielle Angriffswaffe der römischen Infanterie. Er bestand aus dickem, schwerem Holz mit einer langen Eisenspitze, wog insgesamt mindestens 10 lbs. und war mit der Spitze beinahe 7 Fuß lang. Er konnte nur aus sehr kurzer Entfernung, etwa 8-12 Yard, geworfen werden, aber auf Grund seines Gewichts war seine Wirkung auf die leichte Schutzausrüstung jener Zeit furchtbar. Die triarii trugen außer dem Schwert Speere an Stelle von pila. Jede Legion bestand aus 1200 hastati, die in 10 Manipel, gleichbedeutend mit Kompanien, von je 120 Mann unterteilt waren, fernerhin aus der gleichen Anzahl principes mit ähnlicher Unterteilung, aus 600 triarii in 10 Manipeln von je 60 Mann und aus 1200 velites, von denen 40 jedem der 30 Manipel zugeteilt waren und die, wenn nicht anderweitig eingesetzt, die hinteren Glieder bildeten. Die hastati formierten die erste Linie, wobei sich jeder Manipel, wahrscheinlich 6 Mann tief, in Linie aufstellte, mit einem Intervall zum nächsten Manipel von der Länge seiner Front. Diese war, da der für jeden Mann im Glied bestimmte Raum 6 Fuß betrug, ungefähr 120 Fuß lang und erstreckte sich in der ganzen Linie auf 2400 Fuß. Hinter ihnen, in der zweiten Linie, nahmen die 10 Manipel der principes Aufstellung, die die Intervalle der Manipel der ersten Linie deckten, und hinter den principes die triarii, jede Linie in angemessener Entfernung zu der vor ihr stehenden. Die Veliten kämpften in aufgelöster Ordnung vor der Front und an den Flanken. Durch Duplieren der Glieder konnte die Kampfaufstellung auf die Hälfte der ursprünglichen Frontlänge, das heißt auf 1200 Fuß, reduziert werden. Diese ganze Schlachtordnung war für den Angriff berechnet. Durch die geringe Größe der taktischen Einheiten und die dadurch gewonnene große Bewegungsfreiheit konnte die Legion auf nahezu jeder Art von Gelände kämpfen und war dadurch der griechischen Phalanx, die
flaches Gelände benötigte und durch ihre Schwerfälligkeit sehr bald zu einer reinen Defensivformation herabgesunken war, bedeutend überlegen. Die Legion rückte vor; aus 8-12 Yard Entfernung schleuderten die hastati, die wahrscheinlich zu diesem Zweck ihre Reihen duplierten, die schweren pila in die Phalanx, deren Speere noch nicht bis zu den Römern reichten. Nachdem sie so die geschlossene Ordnung der Phalanx durcheinandergebracht hatten, warfen sie sich mit dem Schwert in der Hand auf den Feind. War ein einzelner Manipel in Unordnung geraten, so wirkte sich dies nicht auf die benachbarten aus; denn wenn sich der Kampf ohne eine sofortige Entscheidung fortsetzte, marschierten die principes in den Intervallen der hastati auf, schleuderten ihre pila und brachen ebenfalls mit dem Schwert in die feindliche Phalanx ein, wodurch sie den hastati die Möglichkeit gaben, sich vom Feind zu lösen und sich hinter den triarii neu zu formieren. In außergewöhnlichen Fällen gingen die letzteren vor, um entweder den Sieg endgültig herbeizuführen oder einen geordneten Rückzug zu sichern. Die Veliten leisteten gemeinsam mit der Kavallerie Vorpostendienste, engagierten den Feind am Anfang der Schlacht durch kleine Gefechte und verfolgten ihn beharrlich. Das leichte pilum der hastati und principes scheint hauptsächlich in der Verteidigung benutzt worden zu sein, um in den Reihen eines vorrückenden Feindes Unordnung zu stiften, ehe er für das schwere pilum nahe genug herangekommen war. Märsche nach vorn wurden an einem der beiden Flügel begonnen, der erste Manipel der hastati an der Spitze, gefolgt von dem jeweils ersten Manipel der principes und der triarii, dann die 3 zweiten Manipel in der gleichen Ordnung und so fort. Flankenmärsche wurden in 3 Kolonnen ausgeführt, wobei jede der 3 Klassen der Infanterie eine Kolonne bildete; der Troß befand sich auf der Seite, die am weitesten vom Feind entfernt war. Falls der Feind an der Seite auftauchte, an der die triarii marschierten, machte die Armee halt und drehte sich dem Feind zu. Die principes und hastati passierten dann durch die Intervalle. der Manipel der triarii und nahmen ihre richtigen Positionen ein. Als nach dem zweiten Punischen Krieg die andauernden Kriege und ausgedehnten Eroberungen der Römer, zusammen mit wichtigen sozialen Veränderungen in Rom und Italien überhaupt, die allgemeine Militärdienstpflicht fast unmöglich machten, setzten sich die römischen Armeen allmählich aus freiwilligen Rekruten zusammen, die den ärmeren Klassen entstammten. So entstanden Berufssoldaten an Stelle der alten Miliz, in die alle Bürger einbezogen waren. Hierdurch änderte sich der Charakter der Armee völlig, und da sich die Elemente, aus der sie sich zusammensetzte,
verschlechterten, wurde eine Reorganisation immer notwendiger. Marius führte diese Reorganisation durch. Die römische Reiterei hörte auf zu bestehen. Was an Kavallerie noch übrigblieb, bestand aus barbarischen Söldnern oder Kontingenten der Bundesgenossen. Die Einteilung der 4 Klassen in der Infanterie wurde abgeschafft. Die velites wurden durch Kontingente der Bundesgenossen oder durch Barbaren ersetzt, und der übrige Teil der Legion War aus ein und derselben Klasse gebildet - der Linieninfanterie, die wie die hastati oder principes bewaffnet war, nur ohne das leichte pilum. Der Manipel wurde als taktische Einheit durch die Kohorte ersetzt, ein im Durchschnitt 360 Mann starker Truppenkörper, ursprünglich entstanden durch die Vereinigung von 3 Manipeln zu einem, so daß jetzt die Legion in 10 Kohorten eingeteilt war, die im allgemeinen in 3 Linien aufgestellt wurden (jeweils 4, 3 und 3 Kohorten). Die Kohorte war 10 Mann tief formiert, mit 3 bis 4 Fuß Front für jede Reihe, so daß sich die gesamte Front der Legion sehr stark verkürzte (auf ungefähr 1000 Fuß). Auf diese Weise wurden nicht nur die taktischen Bewegungen sehr vereinfacht, sondern darüber hinaus wurde auch der Einfluß des Befehlshabers der Legion viel unmittelbarer und wirksamer. Die Bewaffnung und Ausrüstung jedes Soldaten wurde leichter; aber andererseits mußte er den größeren Teil seines Gepäcks auf hölzernen Gabeln tragen, die für diesen Zweck von Marius erfunden worden waren (muli Mariani1); die impedimenta der Armee wurden damit bedeutend verringert. Andererseits mußte die Konzentration von 3 Manipeln zu einer Kohorte die Manövrierfähigkeit auf unebenem Gelände vermindern. Das Fehlen des leichten pilum verringerte die Defensivkraft, und die Abschaffung der Veliten, die nicht immer voll ersetzt wurden durch ausländische Hilfstruppen, Söldner oder durch antesignani (Männer, die von Cäsar aus den Reihen der Legion für den Dienst in der leichten Infanterieausgewähltwaren, die aber keine Waffen für den Fernkampf hatten), ließ weniger Möglichkeiten offen, ein Treffen aufrechtzuerhalten und doch einer Entscheidung auszuweichen. Der schnelle, entschlossene Angriff wurde für diese Legionen die einzig geeignete Gefechtsform. Die römische Infanterie bestand immer noch aus Römern oder zumindest aus Italikern, und obwohl das Reich unter den Cäsaren verfiel, behauptete sie ihren alten Ruhm so lange, wie der nationale Charakter gewahrt blieb. Aber als das römische Bürgerrecht nicht mehr eine notwendige Bedingung für den Eintritt in die Legion war, verlor
1 Maultiere des Marius
die Armee bald ihr Ansehen. Schon zur Zeit Trajanus' bildeten Barbaren, teils aus den römischen Provinzen, teils aus nichteroberten Ländern, das Gros der Legionen, und von diesem Zeitpunkt an hatte die römische Infanterie ihre typischen Merkmale verloren. Die schwere Rüstung wurde abgeschafft und das pilum durch den Speer ersetzt. Die in Kohorten organisierte Legion war wieder zu einer schwerfälligen Phalanx geworden. Da in dieser Periode eine allgemeine Abneigung, ins Handgemenge zu geraten, für die Infanterie typisch war, wurden der Bogen und der Wurfspeer jetzt nicht nur zum Plänkeln, sondern auch in der geschlossenen Ordnung der Liriieninfanterie benutzt.
III. Die Infanterie des Mittelalters
Der Niedergang der römischen Infanterie fand im Niedergang der byzantinischen Fußsoldaten seine Fortsetzung. Eine Art Zwangsrekrutierung wurde noch beibehalten, aber nur mit dem Ergebnis, den schlimmsten Abschaum der Armee zu formieren. Barbarische Hilfstruppen und Söldner bildeten ihre besten Teile, aber auch diese waren von geringem Wert. Die hierarchische und administrative Organisation der Truppen war bis zu einem fast vollendeten Zustand des Bürokratismus entwickelt worden, jedoch mit dem gleichen Resultat, das wir jetzt in Rußland sehen: eine vollkommene Organisation der Unterschlagung und des Betrugs auf Kosten des Staats, mit Armeen, die enorme Summen verschlingen und dabei zum Teil nur auf dem Papier existieren. Die Berührung mit der irregulären Reiterei des Ostens verminderte sowohl die Bedeutung als auch die Qualität der Infanterie immer mehr. Berittene Bogenschützen wurden zur beliebtesten Waffengattung; der größere Teil, wenn nicht gar die ganze Infanterie, erhielt als Ausrüstung neben Speer und Schwert auch noch den Bogen. So wurde der Fernkampf zur Regel, und das Handgemenge wurde als nicht mehr zeitgemäß erachtet. Die Infanterie schätzte man so gering ein, daß man sie absichtlich vom Schlachtfeld fernhielt und hauptsächlich zum Garnisondienst verwandte. Die meisten Schlachten des Beiisar wurden ausschließlich von der Kavallerie geschlagen, und wenn die Infanterie an ihnen beteiligt war, so lief sie bestimmt davon. Beiisars Taktik basierte ausschließlich auf dem Prinzip der Vermeidung eines Handgemenges und der Ermattung des Feindes. Wenn er damit gegen die Goten, die überhaupt keine Fernwaffen hatten, erfolgreich war, indem er unebenes Gelände auswählte, auf dem ihre Phalanx nicht in Aktion treten konnte, so wurde er
von den Franken geschlagen, deren Infanterie etwas von der alten römischen Kampfweise besaß, und ebenso von den Persern, deren Kavallerie seiner eigenen unzweifelhaft überlegen war. Die Germanen, die in das Römische Reich eindrangen, kämpften ursprünglich zum größten Teil als Infanterie und in einer Art dorischer Phalanx, die Stammesältesten und wohlhabenderen Männer in den vorderen Gliedern, die anderen hinter ihnen. Ihre Waffen waren das Schwert und der Speer. Die Franken trugen jedoch kurze doppelschneidige Streitäxte, die sie, wie die Römer das pilum, in die feindlichen Reihen schleuderten, bevor sie diese mit dem Schwert in der Hand angriffen. Die Franken und die Sachsen behielten für längere Zeit eine gute und respektable Infanterie bei; aber allmählich gingen die teutonischen Eroberer überall zum Kavalleriedienst über und überließen den Dienst als Fußsoldaten den besiegten Bewohnern der römischen Provinzen; so kam es, daß der Infanteriedienst als ein Dienst von Sklaven und Leibeigenen verachtet wurde und daß der Stand der Fußsoldaten zwangsläufig an Ansehen verlor. Gegen Ende des 1 O.Jahrhunderts war die Kavallerie die einzige Waffengattung, die die Schlachten in ganz Europa wirklich entschied. Obwohl die Infanterie in jeder Armee viel zahlreicher war als die Kavallerie, war sie nicht mehr als ein schlecht bewaffneter Haufe, fast ohne Ansätze zur Organisation. Ein Fußsoldat wurde nicht einmal als Soldat angesehen, das Wort miles1 wurde gleichbedeutend mit Reiter. Die einzige Möglichkeit, eine respektable Infanterie zu unterhalten, bestand bei den Städten, besonders in Italien und Flandern. Sie hatten ihre eigene Miliz, die sich notwendigerweise aus Infanterie zusammensetzte und die zur Verteidigung der Städte wegen der nie endenden Fehden unter den Adligen der Umgebung ständig aufgeboten war. Daher fand man es bald angebracht, eine Söldnertruppe an Stelle einer aus Bürgern bestehenden Miliz zu haben; diese war für außergewöhnliche Anlässe vorgesehen. Dennoch finden wir nicht, daß die Kontingente der Städte eine bedeutende Überlegenheit zeigten gegenüber den zusammengelaufenen Haufen von Fußsoldaten, die die Adligen um sich sammelten und die sie in der Schlacht stets zur Bewachung der Bagage zurückließen. Zumindest trifft dies für die klassische Periode des Rittertums zu. In der Kavallerie jener Zeit erschien jeder Ritter cap-i-pied2 bewaffnet und in voller Rüstung; er ritt ein ähnlich gepanzertes Pferd. Ihn begleiteten ein etwas leichter bewaffneter Schildknappe und verschiedene andere berittene Männer, die keine Rüstung trugen und mit Bogen bewaffnet waren.
1 Soldat - 2 von Kopf bis Fuß
In der Schlachtordnung waren diese Kräfte nach einem der alten dorischen Phalanx ähnlichen Prinzip aufgestellt: die schwerbewaffneten Ritter im ersten, die Knappen im zweiten Glied und die berittenen Bogenschützen dahinter. Die letzteren wurden bald, ihrer Bewaffnung entsprechend, abgesessen eingesetzt, eine Kampfart, die bei ihnen immer mehr zur Regel wurde, so daß ihre Pferde nicht zum Angriff, sondern hauptsächlich zur Fortbewegung dienten. Die mit dem Leingbogen bewaffneten englischen Bogenschützen - die südeuropäischen trugen Armbruste - zeichneten sich besonders in dieser Kampfweise zu Fuß aus, und sehr wahrscheinlich führte dieser Umstand bald dazu, daß sich die Kampfweise zu Fuß in dieser Waffengattung immer mehr verbreitete. Ohne Zweifel wurden die Pferde der schwerbewaffneten Ritter bei ihren langen Feldzügen in Freinkreich bald erschöpft und taugten nur noch als Beförderungsmittel. Es war ganz natürlich. daß die am schlechtesten berittenen gens d'armes1 in einer solchen Lage abstiegen und eine Phalanx aus Lanzen bildeten, die von dem besseren Teil der Fußsoldaten (besonders den Wallisern) ergänzt wurde, während diejenigen, deren Pferde noch zu einer Attacke fähig waren, jetzt die eigentliche kämpfende Kavallerie bildeten. Eine solche Anordnung schien für Verteidigungsschlachten sehr gut geeignet; darauf beruhten alle Schlachten des Schwarzen Prinzen2, die bekanntlich vollen Erfolg hatten. Die neue Kampfweise wurde bald von den Franzosen und anderen Nationen übernommen und kann als fast allgemeingültiges System des 14. und 15. Jahrhunderts angesehen werden. So sind wir nach 1700 Jahren beinahe wieder zu der Taktik Alexanders zurückgekehrt, mit dem einzigen Unterschied, daß unter Alexander die Kavallerie eine neu eingeführte Waffengattung war, die eine dem Verfall ausgesetzte schwere Infanterie zu verstärken hatte, während hier die aus abgesessenen Reitern gebildete schwere Infanterie ein lebendiger Beweis für den Verfall der Kavallerie und den beginnenden Wiederaufstieg der Infanterie war.
IV. Das Wiederaufleben der Infanterie
Aus den Städten Flanderns, dem damals ersten Industriegebiet der Welt, und von den Schweizer Bergen kamen die ersten Truppen, die nach Jahrhunderten des Niedergangs wieder den Namen Infanterie verdienten. Die französische Ritterschaft unterUg den Webern und Walkern, den Gold
1 schwerbewaffneter, zu Pferde kämpfender Lehnsadel - 4 Eduard, Prinz von Wales
schmieden und Gerbern der belgischen Städte genauso wie der burgundische und österreichische Adel den Bauern und Kuhhirten der Schweiz. Gute Verteidigungsstellungen und eine leichte Bewaffnung taten das ihre, im Falle der Flamen noch durch zahlreiche Feuerwaffen und bei den Schweizern durch ein Land unterstützt, das für die schwerbewaffneten Ritter dieser Zeit fast unpassierbar war. Die Schweizer trugen hauptsächlich kurze Hellebarden, die sowohl zum Stoßen als auch zum Schlagen benutzt werden konnten und für den Nahkampf nicht zu lang waren; später hatten sie auch Piken, Armbruste und Feuerwaffen; aber in einer ihrer berühmtesten Schlachten, der von Laupen (1339)[288), hatten sie für den Fernkampf keine anderen Waffen als Steine. Von defensiven Gefechten in ihren unzugänglichen Bergen gingen sie bald zu offensiven Schlachten in der Ebene über und damit mehr zu einer regulären Taktik. Sie kämpften in einer tiefen Phalanx; ihre Schutzausrüstung war leicht und im allgemeinen auf die vorderen Glieder und die Flankenreihen beschränkt, während das Zentrum aus Männern ohne Rüstung bestand. Die Schweizer Phalanx war jedoch immer in 3 verschiedene Haufen gegliedert, in Avantgarde, Haupttrupp und Arrieregarde, so daß größere Beweglichkeit und die Möglichkeit für mannigfaltige taktische Gruppierungen gesichert waren. Sie verstanden es bald, die Unebenheiten des Geländes geschickt auszunutzen, was sie, in Verbindung mit der Verbesserung der Feuerwaffen, vor dem Angriff der Kavallerie schützte, während sie gegen eine mit langen Spießen bewaffnete Infanterie verschiedene Mittel ersannen, um irgendwo eine Bresche in den Wald von Spießen zu schlagen; durch ihre kurzen, schweren Hellebarden waren sie dann sogar den Männern in Rüstung gewaltig überlegen. Sie lernten sehr bald, besonders bei Unterstützung durch Artillerie und kleine Feuerwaffen, Kavallerieattacken durch Aufstellung im Karree oder in Kreuzform standzuhalten. Sobald aber eine Infanterie das wieder vermochte, waren die Tage des Rittertums gezählt. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts kämpften, ebenso wie die Städte, nun auch die Herrscher der größeren sich konsolidierenden Monarchien überall gegen den Feudaladel, und zu diesem Zweck gingen sie daran, Söldnerarmeen zu bilden sowohl zur Niederhaltung des Adels als auch zur Verfolgung selbständiger außenpolitischer Ziele. Neben den Schweizern begannen die Deutschen und bald darauf die meisten anderen europäischen Nationen, große Söldnerkontingente zu unterhalten, die durch FreiwilligenWerbung aufgestellt wurden und ohne Berücksichtigung der Nationalität für den Meistbietenden Dienst leisteten. Diese Haufen formierten sich
taktisch nach dem gleichen Prinzip wie die Schweizer; sie waren hauptsächlich mit Piken bewaffnet und kämpften in großen quadratischen Bataillonen mit ebensoviel Mann in der Tiefe wie in der Länge. Sie mußten allerdings unter anderen Umständen kämpfen als die Schweizer, die ihre Berge verteidigten; sie mußten sowohl angreifen als auch in Verteidigungspositionen aushalten; sie mußten dem Feind in den italienischen und französischen Ebenen und in den Bergen gleichermaßen entgegentreten, und sie standen sehr bald den nun schnell verbesserten Handfeuerwaffen gegenüber. Diese Umstände verursachten einige Abweichungen von der alten Schweizer Taktik, die sich entsprechend den verschiedenen Nationalitäten unterschieden; aber das Hauptmerkmal, die Gliederung in 3 tiefen Kolonnen, die dem Namen nach, wenn auch nicht immer in Wirklichkeit, als Avantgarde, Haupttrupp und Arrieregarde oder Reserve in Erscheinung traten, blieb allen gemeinsam. Die Schweizer behielten ihre Überlegenheit bis zur Schlacht von Pavia'351, nach der die deutschen Landsknechte1, die schon seit einer geraumen Zeit den Schweizern beinahe, wenn nicht gar völlig ebenbürtig waren, als die erste Infanterie Europas betrachtet wurden. Die Franzosen, deren Infanterie bisher zu nichts taugte, bemühten sich in dieser Periode sehr, eine schlagkräftige nationale Truppe von Fußsoldaten zu bilden; aber sie hatten nur bei Bewohnern von zwei Provinzen, den Picarden und den Gascognern, Erfolg. Die italienische Infanterie dieser Periode zählte überhaupt nicht. Die Spanier jedoch, bei denen Gonsalvo de Cordova während der Kriege gegen die Mauren von Granada'2691 zuerst die Schweizer Taktik und Bewaffnung einführte, errangen bald einen bedeutenden Namen, und seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts galten sie als die beste Infanterie Europas. Während die Italiener und nach ihnen die Franzosen und Deutschen die Piken von 10 auf 18 Fuß verlängerten, behielten die Spanier kürzere und handlichere Piken, und ihre Behendigkeit machte sie im Nahkampf mit Schwert und Dolch sehr gefürchtet. Diesen Ruf hielten sie in Westeuropa zumindest in Frankreich, Italien und den Niederlanden - bis zum Ausgang des 17.Jahrhunderts aufrecht. Die Nichtachtung der Schutzausrüstung durch die Schweizer, die auf den Traditionen einer anderen Zeit beruhte, wurde von den Pikenieren des 16. Jahrhunderts nicht geteilt. Sobald eine europäische Infanterie gebildet wurde, wobei deren verschiedene Armeen sich in ihren militärischen Qualitäten immer mehr anglichen, erwies sich das System als unzureichend, die
1 Landsknechte: in der „New American Cyclopaedia" deutsch
Phalanx mit einer dünnen Linie von Männern zu umgeben, die mit Brustharnischen und Helmen ausgerüstet waren. Hatten die Schweizer bisher eine solche Phalanx für unüberwindlich gehalten, so traf das nicht mehr zu, wenn sich ihr eine andere vollkommen gleichwertige Phalanx entgegenstellte. Jetzt gewann eine angemessene Schutzausrüstung einige Bedeutung; solange diese nicht zu sehr die Beweglichkeit der Truppen behinderte, war sie entschieden von Vorteil. Überdies hatten die Spanier niemals die Unterschätzung der Brustharnische geteilt, und man begann allgemein, die Schutzausrüstung anzuerkennen. Dementsprechend wurden Brustharnisch, Helme, Beinschienen, Armrüstung und Panzerhandschuhe wieder zu einem Teil der regulären Ausrüstung der Pikeniere. Dazu kam noch ein Schwert, das bei den Deutschen kürzer, bei den Schweizern länger war -, und manchmal ein Dolch.
V. Die Infanterie des 16. und 17. Jahrhunderts
Der Langbogen war seit geraumer Zeit, außer in der Türkei, vom europäischen Kontinent verschwunden. Die Armbrust wurde zuletzt von den Gascognern im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts verwandt. Man ersetzte sie überall durch die Luntenschloßmuskete, die in verschiedenen Graden der Vollkommenheit, oder vielmehr Unvollkommenheit, jetzt zur zweiten Waffe der Infanterie wurde. Die Luntenschloßmusketen des 16. Jahrhunderts, unhandliche und fehlerhaft konstruierte Maschinen, waren von sehr schwerem Kaliber, um neben der Schußweite zumindest eine gewisse Präzision und die Kraft zu gewährleisten, den Brustharnisch eines Pikeniers zu durchdringen. Um 1530 wurde allgemein die von einer Gabel abgefeuerte schwere Muskete verwandt, da man ohne eine solche Stütze nicht hätte zielen können. Die Musketiere trugen einen Säbel, aber keinerlei Schutzausrüstung; sie wurden entweder zum Plänkeln oder in einer Art offener Ordnung eingesetzt, um die Verteidigungspositionen zu halten oder den Ansturm der Pikeniere beim Angriff auf solche Stellungen vorzubereiten. Die Zahl der Musketiere nahm im Verhältnis zu den Pikenieren rasch zu; während sie in den Schlachten Franz I. in Italien zahlenmäßig weit schwächerwaren als die Pikeniere, waren sie 30 Jahre später zumindest gleich stark. Die wachsende Anzahl der Musketiere erforderte für ihre ständige Einbeziehung in die Schlachtordnung die Erfindung einer entsprechenden taktischen Methode. Diese fand ihren Ausdruck in einem taktischen System, das die kaiserlichen Truppen während ihrer Kriege gegen die Türken in
Ungarn1 entwickelten, genannt die Ungarische Ordonnanz. Die Musketiere, unfähig, sich im Nahkampf zu verteidigen, wurden immer so aufgestellt, daß sie sich hinter die Pikeniere zurückziehen konnten. So stellte man sie manchmal an einem der beiden Flügel, manchmal auch an den 4 Ecken der Flügel auf; sehr oft wurde das ganze Karree oder die Kolonne der Pikeniere von einer Reihe Musketiere umgeben, die unter den Piken der hinter ihnen stehenden Männer Schutz fanden. Schließlich setzte sich in dem neuen taktischen System, das von den Niederländern in ihrem Unabhängigkeitskrieg1361 eingeführt worden war, der Plan durch, die Musketiere an den Flanken der Pikeniere zu postieren. Dieses System wird besonders gekennzeichnet durch die Unterteilung einer jeden Armee in 3 große Phalangen, entsprechend der schweizerischen und ungarischen Taktik. Jede von ihnen bestand aus 3 Linien, von denen die mittlere wiederum in einen rechten und einen linken Flügel gegliedert war. Die Entfernung beider Flügel voneinander entsprach zumindest der Frontlänge der ersten Linie. Die ganze Armee war in Halbregimentern organisiert, die wir Bataillone nennen wollen; jedes Bataillon hatte seine Pikeniere im Zentrum und seine Musketiere an den Flanken. Die aus 3 Regimentern bestehende Avantgarde eines Heeres wäre demnach folgendermaßen formiert worden: 2 Halbregimenter in zusammenhängender Front in der ersten Linie; hinter jedem ihrer Flügel ein anderes Halbregiment; weiter zurück, die erste Linie deckend, die restlichen 2 Halbregimenter ebenfalls in zusammenhängender Front. Der Haupttrupp und die Arrieregarde wären entweder an der Flanke oder hinter der Avantgarde aufgestellt, aber nach dem gleichen Plan formiert worden. Hier haben wir in bestimmtem- Maße eine Rückkehr zur alten römischen Formation in 3 Linien und bestimmten kleinen Trupps. Die Kaiserlichen und mit ihnen die Spanier hielten es für notwendig, ihre großen Armeen in mehr als die schon erwähnten 3 Truppenkörper zu teilen; aber ihre Bataillone oder taktischen Einheiten waren viel größer als die niederländischen; sie kämpften in Kolonnen oder im Karree anstatt in Linie und hatten keine reguläre Formation für die Schlachtordnung, bis die Spanier während des niederländischen Unabhängigkeitskrieges begannen, sie in der als Spanische Brigade bekannten Ordnung aufzustellen. Vier dieser großen Bataillone - jedes meist aus mehreren Regimentern bestehend, im Quadrat formiert, von ein oder zwei Reihen Musketieren umgeben, mit Schützenflügeln an den Ecken - waren in bestimmten Zwischenräumen
1 erste Hälfte des 16. Jahrhunderts
an den 4 Ecken eines Karrees so aufgestellt, daß eine Ecke dem Feind zugewandt war. Wenn die Armee für eine Brigade zu groß war, konnten 2 gebildet werden; daraus ergaben sich 3 Linien mit 2 Bataillonen in der ersten, 4 (manchmal nur 3) in der zweiten und 2 in der dritten Linie. Hier zeigt sich ebenso wie im niederländischen System der Versuch, zu dem alten römischen System der 3 Linien zurückzukehren. Während des 16. Jahrhunderts erfolgte noch eine andere große Veränderung. Die schwere Kavallerie der Ritter löste sich auf und wurde durch Söldnerkavallerie ersetzt, die ähnlich wie unsere modernen Kürassiere mit Küraß, Helm, Säbel und Pistolen bewaffnet war. Diese Kavallerie war ihren Vorgängern an Beweglichkeit weit überlegen und stellte somit auch für die Infanterie eine größere Bedrohung dar; jedoch hatten die damaligen Pikeniere niemals Furcht vor ihr. Durch diese Veränderung wurde die Kavallerie eine einheitliche Waffengattung und ging mit einem weit stärkeren Anteil in die Zusammensetzung der Armeen ein, besonders in der jetzt zu betrachtenden Periode, nämlich im Dreißigjährigen Krieg137'. In dieser Zeit war das System des Söldnerdienstes in Europa edlgemein verbreitet; es war eine Kategorie von Männern geschaffen worden, die vom Krieg und durch den Krieg lebte. Obwohl sich die Taktik dabei vielleicht verbesserte, hat der Charakter der Männer, die Zusammensetzung des Menschenmaterials der Armee wie auch ihre Moral bestimmt gelitten. Mitteleuropa war von Condottieri aller Schattierungen überlaufen, die religiöse und politische Streitigkeiten als Vorwand nahmen, das ganze Land zu plündern und zu verwüsten. Der Charakter des einzelnen Soldaten entartete immer mehr, bis die Freinzösische Revolution dieses System des Söldnerdienstes endgültig hinwegfegte. Die Kaiserlichen schlugen ihre Schlachten nach dem speinischen Brigadesystem, 4 oder mehr Brigaden in Linie, somit 3 Linien bildend. Die Schweden formierten sich unter Gustav Adolf in Schwedischen Brigaden, jede aus 3 Bataillonen bestehend, von denen das eine vorn und die beiden anderen etwas weiter hinten standen, jedes in Linie aufmarschiert, die Pikeniere im Zentrum und die Musketiere an den Flügeln. Sie wurden so aufgestellt (beide Waffengattungen zahlenmäßig gleich stark vertreten), daß durch Bildung einer zusammenhängenden Linie jeweils eine Waffengattung die andere decken konnte. Angenommen, es wurde ein Befehl zur Bildung einer zusammenhängenden Linie von Musketieren gegeben, so würden die beiden Flügel dieser Waffengattung im Mittel- oder Frontbataillon ihre Pikeniere decken, indem sie sich vor diese stellen, während die Flügel der anderen beiden Bataillone, jeder an der entsprechenden Flanke, vorrücken.
bis sie mit den ersten in gleicher Linie stehen. War ein Kavallerieangriff zu erwarten, dann zogen sich alle Musketiere hinter die Pikeniere zurück, während die beiden Flügel der Pikeniere vorrückten, um sich mit dem Zentrum in Linie auszurichten und somit eine zusammenhängende Linie von Pikenieren zu bilden. Die Schlachtordnung wurde von 2 Linien solcher Brigaden, dem Zentrum der Armee, formiert, während die zahlreiche Kavallerie an beiden Flügeln aufgestellt und durch kleine Trupps von Musketieren verstärkt war. Charakteristisch für dieses schwedische System ist, daß die Pikeniere, die im 16. Jahrhundert die große offensive Waffengattung darstellten, nun jede Angriffsfähigkeit verloren hatten. Sie waren zu einer bloßen Defensivkraft geworden, und ihre Aufgabe bestand darin, die Musketiere vor einem Angriff der Kavallerie zu decken; wieder war es die zuletzt erwähnte Waffengattung, die den Angriff in vollem Umfang durchzuführen hatte. Somit hatte die Infanterie an Bedeutung verloren, während die Kavallerie wieder an Bedeutung gewonnen hatte; dann aber setzte Gustav Adolf dem Feuern, das eine beliebte Kampfform der Kavallerie geworden war, ein Ende und befahl seiner Reiterei, stets in vollem Galopp und mit dem Säbel in der Hand zu attackieren. Von diesem Zeitpunkt an bis zur Wiederaufnahme des Kampfes in hügeligem Gelände konnte sich jede Kavallerie, die diese Taktik anwandte, großer Erfolge über die Infanterie rühmen. Es kann keine größere Verurteilung der Söldnerinfanterie des 17. und 18. Jahrhunderts geben als diese, und trotzdem stellte sie für alle Kampfzwecke die disziplinierteste Infanterie aller Zeiten dar. Das allgemeine Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges in bezug auf die europäische Taktik war, daß beide, die Schwedische und die Spanische Brigade, verschwanden und die Armeen nun in 2 Linien aufgestellt wurden, wobei die Kavallerie die Flügel und die Infanterie das Zentrum bildete. Die Artillerie wurde vor die Front gestellt oder in die Intervalle der anderen Waffengattungen. Manchmal wurde eine Kavalleriereserve oder eine aus Kavallerie und Infanterie bestehende Reserve zurückbehalten. Die Infanterie war in Linie, 6 Mann tief, aufgestellt. Die Musketen wurden soviel leichter, daß auf die Gabeln verzichtet werden konnte, und man führte überall Patronen sowie Patronentaschen ein. Das Zusammenfassen von Musketieren und Pikenieren in den gleichen Infanteriebataillonen führte jetzt zu den kompliziertesten taktischen Bewegungen, die alle auf der Notwendigkeit basierten, sogenannte Defensivbataillone, oder, wie wir heute sagen würden, Karrees, gegen die Kavallerie zu bilden. Sogar in einem einfachen Karree war es keine Kleinigkeit, die 6 Reihen Pikeniere aus dem Zentrum so auseinanderzuziehen, daß sie die
Musketiere, die gegenüber der Kavallerie natürlich schutzlos waren, an allen Seiten völlig umgaben; aber was muß es bedeutet haben, auf ähnliche Weise das Bataillon als Kreuz, als Oktagon oder in anderen phantasievollen Formen aufzustellen! So geschah es, daß das Exerzierreglement dieser Periode das komplizierteste war, das es je gegeben hat, und niemand, außer einem Soldaten auf Lebenszeit hatte je eine Chance, darin auch nur die einfachste Fertigkeit zu erlangen. Es ist gleichzeitig klar, daß alle diese Versuche, vor dem Feind eine Truppe zu formieren, die fähig war, der Kavallerie zu widerstehen, völlig nutzlos waren; jede ordentliche Kavallerie wäre inmitten eines solchen Bataillons gewesen, ehe ein Viertel der vorgesehenen Bewegungen hätte durchgeführt werden können. Während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Anzahl der Pikeniere, im Verhältnis zu den Musketieren, sehr stark herabgesetzt; denn von dem Zeitpunkt an, da die Pikeniere jegliche Angriffskraft verloren hatten, waren die Musketiere der wirklich aktive Teil der Infanterie. Überdies stellte man fest, daß die türkische Kavallerie, die gefürchtetste dieser Zeit, sehr oft in die Karrees der Pikeniere einbrach, während sie genauso oft durch das gut gezielte Feuer einer Musketierlinie zurückgeschlagen wurde. Als Folge schafften die Kaiserlichen die Piken in ihrer ungarischen Armee überhaupt ab und ersetzten sie manchmal durch chevaux de frise1, die im Felde zusammengesetzt wurden; die Musketiere trugen die Federn als Teil ihrer regulären Ausrüstung. Auch in anderen Ländern ergaben sich Fälle, in denen Armeen ohne einen einzigen Pikenier ins Feld geschickt wurden; die Musketiere vertrauten auf ihr Feuer und auf die Unterstützung ihrer eigenen Kavallerie, wenn sie durch einen Reiterangriff bedroht wurden. Dennoch waren zwei Erfindungen notwendig, um die Pike gänzlich abzuschaffen: das Bajonett, das um 1640 in Frankreich erfunden und 1699 so weit verbessert wurde, daß die jetzt gebräuchliche handliche Waffe entstand, ferner das um 1650 erfundene Steinschloßgewehr. Das Bajonett, obwohl sicherlich ein mangelhafter Ersatz für die Pike, ermöglichte es dem Musketier, sich selbst in bestimmtem Maße den Schutz zu geben, den er bisher von den Pikenieren erhalten sollte; das Steinschloßgewehr hingegen befähigte ihn, durch die Vereinfachung des Ladeprozesses und das dadurch erzielte schnelle Feuern die Unzulänglichkeiten des Bajonetts mehr als wettzumachen.
1 friesische oder spanische Reiter, in dieser Zeit Hindernisse gegen Kavallerieangriffe, jedes bestehend aus einem etwa 3 m langen und 25 cm starken Balken, in den kreuzweise die Klingen von Schweinsfedern gesteckt wurden; Schweinsfeder ist ein etwa 90 cm langer bajonettartiger Spieß.
VI. Die Infanterie des 18. Jahrhunderts
Mit der Abschaffung der Pike wurde auch die Schutzausrüstung der Infanterie völlig beseitigt, und diese Waffengattung setzte sich jetzt nur noch aus Soldaten zusammen, die mit dem Steinschloßgewehr und dem Bajonett bewaffnet waren. Diese Veränderung wurde in den ersten Jahren des Spanischen Erbfolgekrieges[631 erreicht und fällt zusammen mit den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit finden wir jetzt überall stehende Heere von bedeutender Stärke, die soweit wie möglich durch Freiwilligenwerbung, verbunden mit Menschenraub, rekrutiert wurden, aber wenn notwendig auch durch Zwangsaushebung. Diese Armeen organisierte man nun regulär als taktische Einheiten in Bataillonen von 500 bis 700 Mann, zu besonderen Anlässen in Kompanien unterteilt; mehrere Bataillone bildeten ein Regiment. Auf diese Weise begann die Organisation der Infanterie eine stabilere und ausgeglichenere Form anzunehmen. Der Umgang mit dem Steinschloßgewehr erforderte viel weniger Platz als der mit dem alten Luntenschloßgewehr. Die alte offene Ordnung wurde abgeschafft, und die Reihen wurden eng zusammengeschlossen, um soviel Schützen wie möglich auf dem gleichen Raum zu haben. Aus demselben Grunde setzte man die Intervalle zwischen den verschiedenen Bataillonen der Schlachtlinie auf ein Minimum herab, so daß die ganze Front eine starre, ununterbrochene Linie bildete, die Infanterie in 2 Linien im Zentrum, die Kavallerie ein den Flügeln. Das früher übliche gliedweise Feuern, wobei sich jedes Glied nach dem Feuern nach hinten zurückzog, um neu zu laden, wurde nun durch Peloton- oder Kompaniefeuer ersetzt, und zwar schössen die 3 vorderen Glieder eines jeden Pelotons auf Kommando gleichzeitig. So konnte durch jedes Bataillon ein ununterbrochenes Feuer gegen den vor ihm stehenden Feind aufrechterhalten werden. Jedes Bataillon hatte seinen besonderen Platz in dieser langen Linie, und diese Ordnung, die jedem seinen Standort zuwies, wurde Schlachtordnung genannt. Die große Schwierigkeit lag nun darin, die Marschordnung so zu organisieren, daß die Armee immer mit Leichtigkeit von der Marsch- zur Kampfordnung übergehen konnte und daß jeder Teil der Linie sofort und schnell an seinen richtigen Platz gelangte. In der Reichweite des Feindes diente die Anlage des Feldlagers dem gleichen Ziel. Dadurch wurden während .dieser Periode in der Kunst des Marschierens und Lagerns große Fortschritte gemacht; trotzdem bedeutete die Starrheit und Schwerfälligkeit der Schlachtordnung ein Hemmnis für alle Bewegungen einer Armee. Diese Starre in
der Ordnung und die Unmöglichkeit, mit einer solchen Linie irgendwo anders als auf völlig ebenem Gelände zu manövrieren, beschränkte gleichzeitig die Auswahl des zum Schlachtfeld geeigneten Terrains; aber solange beide Seiten durch dieselben Ketten gefesselt waren, war dies für keine von beiden ein Nachteil. Von Malplaquet[1861 an bis zum Ausbruch der Französischen Revolution war eine Straße, ein Dorf oder ein Bauernhof von der Infanterie verpönt, sogar ein Graben oder eine Hecke wurde von denen, die sie zu verteidigen hatten, beinahe als ein Hindernis angesehen. Die preußische Infanterie ist die klassische Infanterie des 18. Jahrhunderts. Sie wurde im wesentlichen von Fürst Leopold von Dessau gebildet. Während des Spanischen Erbfolgekrieges war die Infanterielinie von 6 auf 4 Mann Tiefe verringert worden. Leopold schaffte das vierte Glied ab und stellte die Preußen 3 Mann tief auf. Er führte auch den eisernen Ladestock ein, der es den preußischen Truppen ermöglichte, fünfmal in der Minute zu laden und zu feuern, während andere Truppen kaum dreimal schössen. Zur gleichen Zeit wurde ihnen das Feuern beim Vormarsch einexerziert, aber da sie zu diesem Zweck halten mußten und die ganze lange Linie ausgerichtet bleiben mußte, war der Schritt nur langsam - der sogenannte Stechschritt. Das Feuern begann 200 Yard vor dem Feind; die Linie ging im Stechschritt vor; je näher sie an den Feind herankam, desto kürzer schritt sie aus und desto stärker wurde ihr Feuer, bis der Feind entweder nachgab oder so stark erschüttert war, daß ein Kavallerieangriff von den Flügeln und ein Vorrücken der Infanterie mit dem Bajonett ihn aus seiner Stellung trieb. Die Armee war immer in 2 Linien aufgestellt; da jedoch kaum Intervalle in der ersten Linie vorhanden waren, wurde es für die zweite sehr schwer, der ersten im Bedarfsfalle zu Hilfe zu kommen. So sahen Armee und Taktik aus, die Friedrich II. von Preußen bei seinem Regierungsantritt zur Verfügung standen. Eis schienen nur sehr geringe Möglichkeiten für ein Genie zu bestehen, solch ein System zu verbessern, ohne es zu durchbrechen, und das konnte Friedrich in seiner Position und mit dem Menschenmaterial, das ihm zur Verfügung stand, nicht. Trotzdem brachte er es fertig, seinen Angriffsmodus und seine Armee so zu organisieren, daß er mit den Mitteln eines Königreiches, das kleiner war, als Sardinien heute ist, und mit der kärglichen finanziellen Unterstützung Englands einen Krieg gegen fast ganz Europa führen konnte. Das Geheimnis kann leicht erklärt werden. Bisher waren die Schlachten des 18. Jahrhunderts Parallelschlachten gewesen, wobei beide Armeen frontal zueinander aufgestellt waren und in einem einfachen offenen, direkten Kampf miteinander rangen, ohne irgend
welche List oder Kunstgriffe; der einzige Vorteil, der der stärkeren Partei zufiel, war, daß ihre Flügel die des Gegners überragten. Friedrich wandte bei der linearen Schlachtordnung das von Epaminondas erfundene System des schiefen Angriffs an. Er wählte einen Flügel des Feindes für den ersten Angriff aus und stellte diesem einen seiner Flügel, der den des Feindes überragte, und einen Teil seines Zentrums gegenüber, während er gleichzeitig den Rest seiner Armee zurückhielt. So hatte er nicht nur den Vorteil, den Feind zu überflügeln, sondern auch den, durch überlegene Kräfte die seinem Angriff ausgesetzten Truppen zu zerschlagen. Die anderen feindlichen Truppen konnten den Angegriffenen nicht nur deswegen nicht zu Hilfe kommen, weil sie an ihren Platz in der Linie gebunden waren, sondern auch, weil im Falle des erfolgreichen Angriffs auf den einen Flügel der andere Teil der angreifenden Armee in die Frontlinie aufrückte und das vor ihm liegende feindliche Zentrum bedrohte, während sich der ursprünglich angreifende Flügel nach Bezwingung des feindlichen Flügels in die Flanke des Gegners warf. Dies war wirklich die einzig denkbare Methode, mit der es unter Beibehaltung des Linearsystems möglich war, eine überlegene Macht gegen einen Teil der feindlichen Schlachtlinie zu konzentrieren. Dabei hing alles von der Aufstellung des angreifenden Flügels ab, und soweit es die Starrheit der Schlachtordnung zuließ, verstärkte Friedrich diesen stets. Sehr oft stellte er eine von seinen Grenadieren, den Elitetruppen, gebildete vorgeschobene Linie vor die erste Infanterielinie des angreifenden Flügels, um so von Anfang an den Erfolg so weit wie möglich zu sichern. Das zweite Mittel, das Friedrich benutzte, um seine Armee zu verbessern, war die Reorganisation der Kavallerie. Die Lehren Gustav Adolfs waren vergessen worden; statt sich auf den Säbel und auf die ungestüme Attacke zu verlassen, benutzte die Kavallerie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Kampf wieder die Pistole und den Karabiner. Die Kriege zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiesen daher nicht viele erfolgreiche Attacken der Reiterei auf; die preußische Kavallerie war besonders vernachlässigt. Friedrich aber griff auf das alte System zurück, in vollem Galopp mit dem Säbel in der Faust anzugreifen, und schuf so eine in der Geschichte unübertroffene Kavallerie; dieser verdankte er einen großen Teil seiner Erfolge. Als seine Armee das Vorbild für Europa wurde, begann Friedrich, zur Täuschung der Militärfachleute anderer Nationen das System der taktischen Evolutionen, die alle für einen wirklichen Krieg ungeeignet waren, in einem verblüffenden Maße zu komplizieren, und beabsichtigte damit nur, die Einfachheit der Mittel zu vertuschen, die ihm zum Siege verholfen hatten. Er war darin so erfolgreich, daß niemand mehr getäuscht wurde als
seine eigenen Untergebenen, die tatsächlich glaubten, daß diese verwickelten Methoden der Linienaufstellung das wirkliche Wesen seiner Taktik seien. Auf diese Weise bereitete Friedrich die Armee faktisch auf die unvergleichliche Schande von Jena und Auerstedt[1261 vor und schuf außerdem die Grundlage für jene Pedanterie und strenge Zucht, die seitdem die Preußen kennzeichnete. Neben der bis jetzt von uns beschriebenen Linieninfanterie, die immer in geschlossener Ordnung kämpfte, gab es noch eine bestimmte Art leichte Infanterie, die aber nicht in großen Schlachten in Erscheinung trat. Ihre Aufgabe war der Kleinkrieg; dafür eigneten sich vorzüglich die österreichischen Kroaten, die hingegen für andere Aufgaben unbrauchbar waren. Nach dem Vorbild dieser Halbwilden von der Militärgrenze'391 an der Türkei formierten die anderen europäischen Staaten ihre leichte Infanterie. Aber das Plänkeln bei großen Schlachten, wie es von der leichten Infanterie des Altertums und des Mittelalters sogar bis zum 17. Jahrhundert praktiziert wurde, war völlig verschwunden. Allein die Preußen und nach ihnen die Österreicher stellten ein oder zwei Schützenbataillone auf, bestehend aus Jägern und Waldhütern, alles Scharfschützen, die während der Schlacht über die ganze Front verteilt waren und auf Offiziere schössen; aber ihrer waren so wenige, daß sie kaum mitzählten. Die Wiederbelebung des Tiraillierens ist das Ergebnis des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges'421. Während den durch Zwang und strenge Zucht zusammengehaltenen Soldaten der europäischen Armeen nicht zugetraut werden konnte, in offener Ordnung zu kämpfen, mußten sie sich in Amerika einer Bevölkerung gegenüber behaupten, die im regulären Drill der Liniensoldaten ungeübt, aber gute Schützen waren und mit dem Gewehr ausgezeichnet umzugehen verstanden. Die Art des Geländes begünstigte sie; anstatt Manöver zu versuchen, zu denen sie vorerst unfähig waren, kamen sie zwangsläufig dazu, in zerstreuter Ordnung zu kämpfen. So kennzeichnet das Gefecht von Lexington und Concord12701 eine neue Epoche in der Geschichte der Infanterie.
VII. Die Infanterie der Französischen Revolution und des 19. Jahrhunderts
Als die europäische Koalition das revolutionäre Frankreich überfiel, waren die Franzosen in einer ähnlichen Lage wie die Amerikaner kurz zuvor, nur daß sie nicht die gleichen Geländevorteile hatten. Um die zahl
reicheh Armeen, die das Land überfielen oder zu überfallen drohten, nach dem alten Linienprinzip zu bekämpfen, hätten sie gut ausgebildete Männer gebraucht, und diese gab es kaum, während unausgebildete Freiwillige in großer Anzahl vorhanden waren. Soweit es die Zeit erlaubte, wurden sie in den elementaren Evolutionen der Lineartaktik ausgebildet; die in Linie aufgestellten Bataillone lösten sich aber, sobald sie im Feuer standen, unbewußt in dichte Schützenschwärme auf, die in allen Unebenheiten des Geländes Schutz vor dem Feuer suchten, während die zweite Linie eine Art Reserve bildete, die allerdings oft genug schon bei Beginn des Gefechts in den Kampf einbezogen wurde. Überdies waren die französischen Armeen ganz anders organisiert als ihre Gegner. Sie waren nicht in einer unbeweglichen, gleichförmigen, von Bataillonen gebildeten Linie formiert, sondern in Armeedivisionen, jede aus Artillerie, Kavallerie und Infanterie bestehend. Plötzlich wurde die große Tatsache wiederentdeckt, daß es nicht von Bedeutung ist, ob ein Bataillon auf seinem „richtigen" Platz in der Schlachtordnung steht, um auf Befehl in Linie vorgehen und gut kämpfen zu können. Da die französische Regierung ohne Mittel war, wurden die Zelte und das ungeheure Gepäck der Armeen des 18. Jahrhunderts abgeschafft; mein ging zum Biwakieren über, und der Komfort der Offiziere, der in anderen Armeen einen großen Teil der Behinderung verursachte, wurde auf das reduziert, was sie auf dem Rücken tragen konnten. Anstatt aus Magazinen verpflegt zu werden, mußte sich die Armee auf Requirierungen in dem jeweiligen Lande verlassen, das sie durchzog. So erreichten die Franzosen eine ihren Feinden gänzlich unbekannte Beweglichkeit und Leichtigkeit in der Formierung der Schlachtordnung. Falls sie eine Niederlage erlitten, waren sie innerhalb weniger Stunden außerhalb der Reichweite ihrer Verfolger. Beim Vormarsch konnten sie an unerwarteten Punkten der Flanken des Feindes auftauchen, ehe dieser gewarnt war. Diese Beweglichkeit und die Mißgunst unter den Führern der Koalition gaben den Franzosen die Atempause, ihre Freiwilligen auszubilden und das sich bei ihnen entwickelnde neue taktische System auszuarbeiten. Vom Jahre 1795 an sehen wir, wie dieses neue System als eine Verbindung von zerstreuter Ordnung und geschlossener Kolonne feste Form annimmt. Die Linienformation wurde einschließend hinzugefügt, obwohl nicht wie bisher für eine ganze Armee, sondern nur für einzelne Bataillone, die sich in Linie aufstellten, wenn eine Situation dies zu verlangen schien. Es ist offensichtlich, daß dieses Manöver, das größere Stetigkeit in der Ausbildung erfordert, das letzte war, das durch die irregulären Truppen der Französischen Revolution übernommen werden konnte.
Drei Bataillone bildeten eine Halbbrigade, 6 eine Brigade, 2 oder 3 Infanteriebrigaden eine Division, der noch 2 Batterien Artillerie und auch in geringem Umfange Kavallerie hinzugefügt wurde. Mehrere solcher Divisionen bildeten eine Armee. Wenn eine Division auf den Feind stieß, setzten sich die Schützen der Vorhut in einer Verteidigungsposition fest, wobei die Vorhut die Reserve bildete, bis die Division eintraf. Die Brigaden formierten sich dann in 2 Linien und einer Reserve, aber jedes Bataillon in Kolonne und ohne festgelegte Intervalle; für den Schutz gegenüber Einbrüchen in die Schlachtordnung waren die Kavallerie und die Reserve bestimmt. Die Schlachtlinie war nicht mehr notwendigerweise gerade und ununterbrochen; sie konnte, je nach den Erfordernissen des Geländes, nach allen Richtungen gekrümmt sein, da jetzt nicht mehr das Auswählen von öden, flachen Ebenen als Schlachtfeld notwendig war; im Gegenteil, die Franzosen bevorzugten hügeliges Gelände, und ihre Schützen,, die vor der ganzen Schlachtlinie eine Kette bildeten, warfen sich in jedes Dorf, jeden Bauernhof oder jedes Dickicht, deren sie sich bemächtigen konnten. Wenn sich die Bataillone der ersten Linie entfalteten, lösten sie sich im allgemeinen bald in Schützenschwärme auf; die der zweiten Linie blieben immer in Kolonne und griffen in der Regel in dieser Aufstellung mit großem Erfolg die schwachen feindlichen Linien an. So bildete die taktische Aufstellung einer französischen Feldarmee allmählich 2 Linien und jede Linie wiederum Bataillone in geschlossener Kolonne, en echiquier1 aufgestellt, mit Schützenschwärmen vor der Front und einer festen Reserve im Rücken. In diesem Entwicklungsstadium fand Napoleon die Taktik der Französischen Revolution vor. Sobald es ihm sein politischer Machtantritt erlaubte, begann er dieses System noch weiter auszubauen. Er konzentrierte seine Armee im Lager von Boulogne'1431 und führte mit ihr dort einen regulären Ausbildungskursus durch. Besonders schulte er sie in der Formierung von festen Massenreserven auf kleinem Raum und im schnellen Entwickeln dieser Massen zur Aufstellung in Linie. Er faßte 2 oder 3 Divisionen zu einem Armeekorps zusammen, um so die Befehlsgewalt zu vereinfachen. Er erfand die neue Marschordnung und brachte sie zur höchsten Vollkommenheit. Diese besteht darin, die Truppen über einen derartig großen Raum zu verteilen, daß sie mit den dort vorhandenen Vorräten auskommen können und dabei doch so gut zusammenbleiben, um an jedem gegebenen Punkt vereinigt werden zu können, ehe der Feind den angegriffenen Teil vernichten
1 schachbrettartig
kann. Seit dem Feldzug von 1809 begann Napoleon neue taktische Aufstellungen zu entwickeln, wie zum Beispiel die tiefen Kolonnen ganzer Brigaden und Divisionen, die jedoch vollständig versagten und nie wieder angewandt wurden. Nach 1813 wurde das neue französische System Allgemeingut aller Nationen des europäischen Kontinents. Das alte Linearsystem und das System der Rekrutierung von Söldnern waren aufgegeben worden. Uberall wurde die allgemeine Wehrpflicht anerkannt und die neue Taktik eingeführt. In Preußen und in der Schweiz mußte schlechterdings jeder dienen. In anderen Staaten wurde die Konskription eingeführt; die jungen Männer losten aus, wer dienen sollte. Überall führte man Reservesysteme ein, wobei ein Teil der Männer nach der Dienstzeit nach Hause entlassen wurde, um so bei geringen Ausgaben in Friedenszeiten eine große Anzahl ausgebildeter Männer für den Kriegsfall zur Verfügung zu haben. Seil jener Zeit ist die Bewaffnung und Organisation der Infanterie mehrmals verändert worden, teilweise bewirkt durch den Fortschritt bei der Herstellung von Handfeuerwaffen, teilweise durch den Zusammenstoß der französischen Infanterie mit den Arabern in Algerien'821. Die Deutschen, die das Gewehr schon immer schätzten, hatten ihre leichten Schützenbataillone verstärkt. Getrieben von der Notwendigkeit, in Algerien eine Waffe mit größerer Schußweite zu haben, stellten die Franzosen schließlich 1840 ein Schützenbataillon auf, das mit einem verbesserten Gewehr von großer Präzision und Schußweite ausgerüstet war. Diese Männer, dazu gedrillt, alle ihre Evolutionen und sogar lange Märsche in einer Art Trott (pas gymnastique) auszuführen, zeigten bald eine derartige Tüchtigkeit, daß neue Bataillone aufgestellt wurden. Auf diese Weise wurde eine neue leichte Infanterie geschaffen, die nicht aus Jägern und Waldhütern, sondern aus den stärksten und beweglichsten Männern bestand; Präzision des Feuers und große Schußweite verbanden sich mit Beweglichkeit und Ausdauer, und so entstand eine Streitkraft, die in ihrem Rahmen gewiß jeder anderen bestehenden Infanterie überlegen war. Gleichzeitig wurde der pas gymnastique bei der Linieninfanterie eingeführt, und das Laufen, das sogar Napoleon als die größte Dummheit angesehen hätte, wird jetzt in jeder Armee als ein wichtiger Bestandteil der Infanterieausbildung praktiziert. Aus dem Erfolg des neuen Gewehrs der französischen Schützen (Delvigne-Poncharra) ergaben sich bald weitere Verbesserungen. Bei den Waffen mit gezogenen Läufen wurde das konische Geschoß eingeführt. Von Minie, Lorenz und Wilkinson wurden neue Vorrichtungen erfunden, damit das
Geschoß leicht in den Lauf hinabgleiten und sich dann doch so ausdehnen konnte, daß es die Züge mit seinem Blei ausfüllte, um dadurch den Drall und die Geschwindigkeit zu erzielen, die für die Wirkung des Gewehrs entscheidend sind. Andererseits erfand Dreyse das Zündnadelgewehr, das von hinten geladen wurde und keine gesonderte Zündmasse erforderte. Mit all diesen Gewehren vermochte man auf 1000 Yard Entfernung zu treffen, und sie ließen sich ebenso leicht laden wie eine gewöhnliche Muskete mit glatter Bohrung. Dann kam der Gedanke auf, die ganze Infanterie mit solchen Gewehren zu bewaffnen. England verwirklichte als erstes Land diesen Gedanken; ihm folgte Preußen, das diesen Schritt schon lange vorbereitet hatte, danach Österreich und die kleineren deutschen Staaten, zuletzt Frankreich. Rußland sowie die italienischen und skandinavischen Staaten sind noch zurück. Diese neue Bewaffnung hat den Aspekt der Kriegführung völlig verändert, aber aus einem sehr einfachen mathematischen Grunde und nicht in der von Theoretikern der Taktik erwarteten Weise. Es kann beim Darstellen der Flugbahn dieser Geschosse leicht nachgewiesen werden, daß ein Fehler von 20 oder 30 Yard bei der Einschätzung der Entfernung zum Objekt jede Chance, über 300 oder 350 Yard zu treffen, zunichte macht. Während nun auf dem Übungsplatz die Entfernungen bekannt sind, sind sie es auf dem Schlachtfeld nicht, und sie verändern sich jeden Augenblick. Eine in einer Defensivstellung aufmarschierte Infanterie, die genügend Zeit hatte, die Entfernung zu den hervorstechendsten vor der Front liegenden Objekten abzuschreiten, wird dadurch über einen angreifenden Feind bei 1000-300 Yard Entfernung einen bedeutenden Vorteil haben. Dem kann nur durch ein Vorgehen im vollen Lauf bis auf 300 Yard, ohne zu feuern, vorgebeugt werden, von wo aus dann das Feuer der beiden Parteien gleich wirksam sein wird. Bei dieser Entfernung wird das Feuer zwischen zwei gut aufgestellten Schützenlinien so tödlich werden, und so viele Kugeln werden die Vorposten und die Reserven treffen, daß eine mutige Infanterie nichts Besseres tun kann, als die erste Möglichkeit zu ergreifen,um gegen den Feind zu stürmen und dabei aus 40 oder 50 Yard eine Salve abzugeben. Diese zuerst von dem preußischen Major Trotha theoretisch bewiesenen Regeln sind vor kurzem durch die Franzosen in ihrem Krieg gegen die Österreicher'2711 praktisch und mit Erfolg ausprobiert worden. Sie werden daher das A und O der modernen Infanterietaktik darstellen, besonders wenn sie gegen eine so schnell ladbare Waffe wie das preußische Zündnadelgewehr eine gleich gute Wirkung aufweisen. Die Bewaffnung der gesamten Infanterie mit dem gleichen Gewehr wird zur Abschaffung der noch bestehenden
Unterschiede zwischen der leichten und der Linieninfanterie führen, indem eine für jeden Dienst geeignete Infanterie gebildet wird. Darin wird zweifellos die nächste Verbesserung dieser Waffengattung bestehen.
Geschrieben September bis etwa 10. Oktober 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Hotte12721
Flotte - ein Sammelbegriff für die Kriegsschiffe eines Herrschers oder einer Nation. Die Kriegsflotten der Antike waren zwar oftmals groß an Zahl, aber hinsichtlich der Schiffsgrößen, der Bewegungskräfte und der Eignung für den Angriff waren sie im Vergleich zu den heutigen unbedeutend. Die das Meer befahrenden Schiffe Phöniziens und Karthagos, Griechenlands und Roms waren flache Barken, die keinem Sturm standhalten konnten; böige Winde auf offener See bedeuteten ihren Untergang; sie krochen an den Küsten entlang und warfen nachts an einem sicheren Ort oder in einer kleinen Bucht Anker. Von Griechenland nach Italien oder von Afrika nach Sizilien hinüberzufahren, war ein gefährliches Unternehmen. Die Schiffe konnten nicht den Segeldruck aushalten, wie er bei unseren modernen Kriegsschiffen gewöhnlich vorhanden ist, und hatten nur wenig Segeltuch; man verließ sich auf die Riemen und trieb schwerfällig durch die Wellen. Der Kompaß war noch nicht erfunden worden; Breiten- und Längengrade waren unbekannt, Landmarken und der Polarstern die einzigen Anhaltspunkte für die Navigation. Die Ausrüstung für eine offensive Kriegführung war ebenfalls unzureichend. Pfeil und Bogen, Wurfspeere, plumpe Wurfmaschinen und Katapulte waren die einzigen Waffen, die auf Distanz benutzt werden konnten. Einem Gegner konnte auf See kein ernstlicher Schaden zugefügt werden, solange beide kämpfenden Schiffe nicht in unmittelbare Berührung kamen. Deshalb waren nur zwei Arten des Seegefechtes möglich: so zu manövrieren, daß der scharfe, starke, eisenbeschlagene Bug des eigenen Schiffes mit voller Kraft in die Breitseite des Feindes getrieben werden konnte, um ihn in den Grund zu bohren, oder auch Breitseite an Breitseite zu laufen, die beiden Schiffe aneinander festzumachen und das feindliche Schiff sogleich zu entern. Nach dem ersten Punischen Krieg, der die Überlegenheit der Karthager zur See'273' beseitigte, gibt es kein einziges Seegefecht in der Geschichte des Altertums, das
das geringste fachliche Interesse verdient, und die römische Herrschaft machte weitere Kämpfe zur See im Mittelmeer bald ganz unmöglich. Die eigentliche Geburtsstätte unserer modernen Kriegsflotten ist die Nordsee. Zu der Zeit, als sich die große Masse der germanischen Stämme Mitteleuropas erhob, um das untergehende Römische Reich zu zertreten und Westeuropa wiederherzustellen, begannen ihre Brüder an den nördlichen Küsten, die Friesen, Sachsen, Angeln, Dänen und Normannen, zur See zu fahren. Ihre Schiffe waren feste, starke Seefahrzeuge mit hervorstehendem Kiel und scharf geformten Linien; sie verließen sich meist nur auf Segel und brauchten einen Sturm mitten auf diesem rauhen Meer im Norden nicht zu fürchten. Mit eben solchen Schiffen setzten die Angelsachsen von der Mündung der Elbe und der Eider zu den Küsten Britanniens über, und mit solchen unternahmen auch die Normannen ihre Streifzüge, die sich auf der einen Seite bis nach Konstantinopel und auf der anderen bis nach Amerika erstreckten. Mit dem Bau von Schiffen, die den Atlantischen Ozean zu überqueren wagten, wurde die Schiffahrt völlig revolutioniert, und vor Ende des Mittelalters waren die neuen scharfkieligen Seeboote an allen Küsten Europas übernommen worden. Die Schiffe, in denen die Normannen ihre Fahrten unternahmen, waren wahrscheinlich nicht sehr groß, jedenfalls nicht mehr als etwa 100 Tonnen, und hatten ein oder höchstens zwei Masten mit Vor derund Hintertakelage. Für lange Zeit scheinen Schiffbau und Seefahrt stagniert zu haben; das ganze Mittelalter hindurch blieben die Schiffe klein, und der kühne Geist der Normannen und Friesen schwand dahin; alle erzielten Fortschritte waren den Italienern und den Portugiesen zu verdanken, die jetzt zu den kühnsten Seefahrern wurden. Die Portugiesen entdeckten den Seeweg nach Indien; zwei Italiener in fremden Diensten, Kolumbus und Cabot, waren die ersten, die nach dem Normannen Leif den Atlantischen Ozean überquerten. Jetzt wurden lange Seereisen notwendig und erforderten große Schiffe; gleichzeitig führte die Notwendigkeit, die Kriegsschiffe und selbst die Handelsschiffe mit schwerer Artillerie zu bestücken, zum Anwachsen von Größe und Tonnage. Dieselben Ursachen, die stehende Heere zu Lande hervorgebracht hatten, ließen jetzt ständige Kriegsflotten zur See entstehen; und erst seit dieser Zeit können wir eigentlich von Kriegsflotten sprechen. Die Ära der kolonialen Unternehmungen, die jetzt für alle seefahrenden Nationen anbrach, erlebte ebenfalls die Bildung großer Kriegsflotten, um die neugegründeten Kolonien samt dem Handel zu schützen; es folgte eine Periode, die an See
kämpfen reicher und für die Entwicklung der Schiffsarmierung fruchtbarer war als irgendeine vorangegangene. Der Grundstein der britischen Kriegsflotte wurde von Heinrich VII. gelegt, der als erstes Schiff „The Great Harry" baute. Sein Nachfolger schuf eine reguläre ständige Flotte, die Eigentum des Staates war und deren größtes Schiff den Namen „Henry Grace de Dieu" erhielt. Dieses Schiff, das größte, das bis zu dieser Zeit gebaut worden war, hatte 80 Kanonen, teils auf zwei regulären glatten Kanonendecks, teils auf zusätzlichen Geschützbettungen vorn und achtern. Es hatte 4 Masten; seine Tonnage wird verschieden mit 1000 bis 1500 Tonnen angegeben. Die gesamte britische Flotte bestand beim Tode Heinrichs VIII. aus ungefähr 50 Schiffen mit einer Gesamttonnage von 12 000 Tonnen und einer Bemannung von 8000 Seeleuten und Seesoldaten. Die großen Schiffe jener Zeit waren schwerfällige Einrichtungen mit tiefer Taille, das heißt, sie hatten turmhohe Vorder- und Achterkastelle, die sie außerordentlich topplastig machten. Das nächste große Schiff, das uns bekannt ist, ist die „Sovereign of the Seas", später „Royal Sovereign" genannt, das 1637 gebaut wurde. Es ist das erste Schiff, über dessen Bewaffnung wir verhältnismäßig genaue Angaben haben. Es hatte drei glatte Decks, ein Vorderkastell, ein Halbdeck, ein Quarterdeck und eine Hütte; auf dem Unterdeck standen 30 Kanonen, Zweiundvierzig- und Zweiunddreißigpfünder; auf dem Mitteldeck 30 Achtzehn- und Neunpfünder; auf dem Oberdeck 26 leichtere Kanonen, wahrscheinlich Sechs- und Dreipfünder. Überdies hatte es 20 Jagdgeschütze und 26 Kanonen auf dem Vorderkastell und dem Halbdeck. Aber in der Heimat wurde diese Armierung gewöhnlich auf 100 Geschütze reduziert, da die volle Bestückung offenbar zuviel war. Was die kleineren Schiffe anbetrifft, so ist unsere Kenntnis darüber sehr spärlich. Im Jahre 1651 war die Kriegsflotte in 6 Ränge eingeteilt; neben diesen gab es jedoch weiterhin noch zahlreiche Schiffstypen wie Schaluppen, Hulks und später Bombenschiffe, Korvetten, Brander und Jachten. Aus dem Jahre 1677 haben wir eine Liste der gesamten englischen Kriegsmarine; danach trug der größte Dreidecker des ersten Ranges 26 Zweiundvierzigpfünder, 28 Vierundzwanzigpfünder, 28 Neunpfünder, 14Sechspfünder und 4 Dreipfünder; und der kleinste Zweidecker (fünfter Rang) trug 18 Achtzehnpfünder, 8 Sechspfünder und 4 Vierpfünder oder insgesamt 30 Geschütze. Die gesamte Flotte bestand aus 129 Schiffen. Im Jahre 1714 gab es 198 Schiffe, 1727 waren es 178 und 1744 nur 128. Später wurden mit zunehmender Anzahl der Schiffe auch ihre Abmessungen größer, und mit der wachsenden Tonnage erhielten die Schiffe
eine schwerere Bestückung. Das erste englische Schiff, das unserer modernen Fregatte entspricht, wurde von Sir Robert Dudley schon Ende des 16. Jahrhunderts gebaut; aber erst volle 80 Jahre später wurde diese Schiffsklasse, die zuerst von den südeuropäischen Völkern verwendet wurde, allgemein in die britische Marine übernommen. Die besondere Segeleigenschaft der Fregatten, nämlich hohe Geschwindigkeit, wurde eine Zeitlang in England kaum gewürdigt. Die britischen Schiffe waren gewöhnlich überbestückt, so daß ihre unteren Pfortluken nur 3 Fuß über dem Wasser lagen und bei Seegang nicht geöffnet werden konnten und die Segeleigenschaft der Schiffe ebenfalls stark beeinträchtigt wurde. Die Spanier und Französen legten im Verhältnis zur Anzahl der Geschütze Wert auf eine größere Tonnage; die Folge davon war, daß ihre Schiffe schwerere Kaliber und größere Vorräte aufnehmen konnten, mehr Tragvermögen hatten und bessere Segler waren. Die englischen Fregatten der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts hatten 44 Geschütze, Neun-, Zwölf- und einige Achtzehnpfünder, mit einer Tonnage von ungefähr 710 Tonnen. Um das Jahr 1780 wurden Fregatten mit 38 Geschützen (meistens Achtzehnpfündern) und mit einer Tonnage von 946 Tonnen gebaut; die Aufwärtsentwicklung ist hier offensichtlich. Die französischen Fregatten der gleichen Zeit mit ähnlicher Bestückung hatten im Durchschnitt 100 Tonnen mehr. Ungefähr zur selben Zeit (Mitte des 18. Jahrhunderts) wurden die kleineren Kriegsschiffe genauer nach neuen Maßstäben als Korvetten, Briggs, Brigantinen und Schoner klassifiziert. Im Jahre 1779 wurde ein schweres Geschütz (wahrscheinlich von dem britischen General Melville) erfunden, das die Bestückung der meisten Kriegsflotten weitgehend veränderte. Es war ein sehr kurzes Geschütz mit großem Kaliber, das in seiner Form einer Haubitze nahekam, aber für Vollgeschosse mit kleinen Ladungen bei geringen Schußweiten bestimmt. Da diese Geschütze zuerst von der Carron-Iron-Company in Schottland hergestellt wurden, nannte man sie Karronaden. Ein TreffeT mit diesem Geschütz, der bei großer Schußweite wirkungslos war, hatte bei kurzer Entfernung fürchterliche Wirkungen auf die Spanten; durch die verminderte Geschwindigkeit des Geschosses (infolge der kleineren Ladung) wird ein größeres Loch erzielt, das Rippenwerk weit mehr zerstört, und zahlreiche und gefährlichere Splitter sind die Folge. Das relativ geringe Gewicht der Geschütze erleichterte es auch, einige von ihnen auf dem Achterdeck und dem Vorderdeck der Schiffe unterzubringen; schon 1781 waren 429 Schiffe der britischen Kriegsmarine über ihre reguläre Bestükkung hinaus mit 6 bis 10 Karronaden ausgestattet. Wenn man die Berichte über die Seegefechte aus der Zeit der französischen und amerikanischen
Kriege liest, sollte man berücksichtigen, daß die Briten niemals die Karronaden in die Anzahl der Geschütze einbeziehen, die als Schiffsbestückung angegeben werden, so daß zum Beispiel eine britische .Fregatte, die mit 36 Geschützen bestückt sein soll, einschließlich der Karronaden in Wirklichkeit wohl 42 Geschütze oder mehr an Bord gehabt hat. Die Überlegenheit an Metall, das die Karronaden den britischen Breitseiten gaben, half manchen Kampf auf nahe Entfernungen zu entscheiden, der während des französischen Revolutionskrieges ausgetragen wurde. Aber bei alledem waren die Karronaden nur ein Notbehelf, um die Kampfkraft der vor 80 Jahren verhältnismäßig kleinen Kriegsschiffe zu erhöhen. Sobald man die Größe der Schiffe für jeden Rang erhöhte, wurden die Karronaden wieder abgeschafft, und jetzt sind sie ziemlich veraltet. Auf dem Gebiet der Konstruktion von Kriegsschiffen waren die Franzosen und Spanier den Engländern entschieden voraus. Ihre Schiffe waren größer und hatten eine weit bessere Form als die britischen; besonders die Fregatten waren größer und hatten bessere Segeleigenschaften, und viele Jahre lang wurden die englischen Fregatten der französischen „Hebe" nachgebildet, die 1782 gekapert worden war. In demselben Maße, wie die Schiffe länger wurden, verringerte man die Höhe der turmartigen Aufbauten an Bug und Heck, Vorderkastelle, Achterdecks und Achterkastelle; dadurch wurde die Segeleigenschaft der Schiffe so verbessert, daß sich allmählich die verhältnismäßig eleganten und schnellsegelnden Formen der jetzigen Kriegsschiffe entwickelten. Bei diesen größeren Schiffen wurde die Anzahl der Geschütze nicht erhöht, sondern das Kaliber nahm zu, ebenso wie das Gewicht und die Rohrlänge jedes Geschützes, um die Verwendung voller Ladungen zu ermöglichen und die größte Kernschußweite zu erzielen, so daß das Feuer aus großen Entfernungen eröffnet werden konnte. Die Kaliber unter 24Pfund verschwanden von den größerenSchiffen, und die verbliebenen Kaliber wurden so vereinfacht, daß es nicht mehr als 2 oder höchstens 3 Kaliber an Bord eines jeden Schiffes gab. Das Unterdeck auf den Linienschiffen wurde, da es das stärkste war, zwar mit Geschützen desselben Kalibers wie die oberen Decks bestückt, aber von größerer Länge und größerem Gewicht, um wenigstens ein Batteriestockwerk für die größtmögliche Schußweite zur Verfügung zu haben. Um das Jahr 1820 machte der französische General Paixhans eine Erfindung, die für die Schiffsbestückung von großer Bedeutung gewesen ist. Er konstruierte ein großkalibriges Geschütz, das mit einer engen Kammer am Verschlußstück für die Pulverladung versehen war, und begann Hohlgeschosse mit geringer Elevation aus diesen „Bombenkanonen" (canons
obusiers) abzufeuern. Bisher haben nur Haubitzen in Küstenbatterien mit Hohlgeschossen auf Schiffe gefeuert, obwohl es in Deutschland schon lange üblich war, Granaten horizontal aus kurzen Vierundzwanzigpfündern und selbst Zwölfpfündern gegen Befestigungswerke zu schießen. Die zerstörende Wirkung der Granaten auf die Holzplanken der Schiffe war Napoleon wohlbekannt; er bestückte in Boulogne die meisten seiner Kanonenboote für die Expedition nach England mit Haubitzen und legte als Regel fest, daß beim Angriff auf Schiffe Geschosse verwandt werden müssen, die nach dem Aufschlag explodieren. Da die Bombenkanonen von Paixhans fast horizontal abgefeuert wurden, konnten die Schiffe jetzt mit Kanonen bestückt werden, die auf See, im Kampf Schiff gegen Schiff, nahezu mit der gleichen Treffsicherheit zu schießen vermochten wie die alten Vollkugelgeschütze. Die neue Kanone wurde bald in jeder Kriegsmarine eingeführt, und nachdem sie verschiedentlich verbessert worden ist, bildet sie jetzt einen wesentlichen Bestandteil der Bestückung aller großen Kriegsschiffe. Bald danach unternahm man die ersten Versuche, Kriegsschiffe mit Dampfkraft anzutreiben, wie sie Fulton bereits für Handelsschiffe verwandt hatte. Die Entwicklung vom Flußdampfer zum Küstendampfer und allmählich zum Ozeandampfer ging langsam vor sich; genau so langsam ging die Entwicklung der mit Dampf angetriebenen Kriegsschiffe vor sich. Soleinge die Dampfschiffe nur Raddampfer waren, hatte das seinen guten Grund. Die Radschaufeln und ein Teil der Maschinen waren den feindlichen Geschossen ausgesetzt und konnten durch einen einzigen glücklichen Treffer unbrauchbar gemacht werden; sie nahmen den günstigsten Abschnitt der Breitseite des Schiffes ein; das Gewicht der Maschinen, der Schaufelräder und der Kohle verringerten die Kapazität des Schiffes so sehr, daß eine schwere Bestückung mit zahlreichen langen Geschützen überhaupt nicht in Frage kam. Ein Raddampfer war deshalb niemals als Linienschiff zu gebrauchen; doch durch seine überlegene Schnelligkeit konnte er sich mit Fregatten messen, deren Aufgäbe es war, sich an die Flanken eines Gegners zu hängen, um die Früchte eines Sieges einzuheimsen oder um einen Rückzug zu decken. Nun hat eine Fregatte gerade die Größe und Bestückung, die es ihr ermöglicht, sich furchtlos auf eine selbständige Fahrt zu begeben, während ihre überlegenen Segeleigenschaften sie befähigen, sich rechtzeitig von einem ungleichen Kampf zurückzuziehen. Die Segeleigenschaften jeder Fregatte wurden von dem Dampfer bei weitem übertroffen, doch ohne gute Bestückung konnte der Dampfer seine Aufgabe nicht erfüllen. Ein reguläres Breitseitengefecht kam nicht in Frage; die
Zahl der Geschütze mußte aus Raummangel immer geringer sein als die einer Segelfregatte. Wenn die Bombenkanone irgendwo am richtigen Platze war, so hier. Die verringerte Zahl der Geschütze an Bord einer Dampffregatte wurde durch ihr Metallgewicht und ihr Kaliber ausgeglichen. Ursprünglich waren diese Kanonen nur für Granatfeuer vorgesehen; aber neuerdings sind sie so schwer gebaut worden, besonders die Jagdkanonen (am Bug und Heck des Schiffes), daß sie bei voller Ladung aus beträchtlichen Entfernungen auch Vollgeschosse abfeuern können. Darüber hinaus erlaubt die herabgesetzte Anzahl der Geschütze drehbare Geschützbettungen und die Anlage , von Schienen über das Deck, wodurch alle oder die meisten der Geschütze in fast jede Richtung feuern können, eine Einrichtung, durch die die Angriffsstärke einer Dampffregatte beinahe verdoppelt wird, und eine Dampffregatte mit 20 Geschützen kann mindestens so viele Geschütze einsetzen wie eine Segelfregatte mit 40 Geschützen, bei der auf jeder Breitseite nur 18 Geschütze feuern. Deshalb ist die große moderne Raddampferfregatte ein sehr gefürchtetes Schiff; das überlegene Kaliber und die Reichweite ihrer Geschütze zusammen mit ihrer Geschwindigkeit ermöglichen es ihr, einen Gegner aus einer Entfernung kampfunfähig zu machen, aus der ein Segelschiff das Feuer kaum wirksam erwidern kann, während das Gewicht ihres Metalls mit zerstörender Kraft hinzukommt, wenn es zu ihrem Vorteil ist, schließlich den Kampf zu erzwingen. Jedoch bleibt der Nachteil, daß ihr gesamter Antrieb dem direkten Feuer ausgesetzt ist und ein großes Zielobjekt bietet. Für kleinere Schiffe, Korvetten, Avisos und andere leichte Fahrzeuge, die für eine Seeschlacht nicht in Betracht kommen, aber während eines Krieges sehr nützlich sind, empfand man die Dampfkraft sofort als sehr vorteilhaft, und viele solcher Raddampfer wurden in den meisten Kriegsflotten gebaut. So war es auch mit Treuisportschiffen. Bei geplanten Landungen verminderten Dampfer nicht nur die Dauer der Überfahrt auf ein Minimum, sondern man konnte ziemlich genau die Zeit der Ankunft an einem gegebenen Ort errechnen. Der Transport von Truppenkörpern wurde jetzt höchst einfach, besonders da jede Seemacht eine große Flotte von Handelsdampfern hatte, auf die man notfalls als Transportschiffe zurückgreifen konnte. Auf diese Erwägungen hin wagte es Prinz von Joinville, in seiner bekannten Flugschrift zu behaupten, daß die Dampfkraft die Bedingungen des Seekrieges in einem solchen Ausmaß verändert hätte, daß eine Invasion Frankreichs in England keine Unmöglichkeit mehr sei. Solange die für einen entscheidenden Kampf eingesetzten Schiffe, die Linienschiffe, jedoch ausschließlich Segelschiffe blieben, konnte die Ein
führung der Dampf kraft nur wenig an den Bedingungen ändern, unter denen große Seeschlachten ausgefochten wurden. Erst die Erfindung der Schiffsschraube sollte die Mittel für eine völlige Revolutionierung des Seekrieges liefern und alle Kriegsflotten in mit Dampf' kraft angetriebene Flotten verwandeln. Volle 13 Jahre nach der Erfindung der Schraube wurde der erste Schritt in dieser Richtung getan. Die Franzosen, die den Engländern in maritimen Entwürfen und Bauten stets überlegen waren, taten ihn als erste. So baute im Jahre 1849 der französische Ingenieur Dupuy de Lome das erste Linienschiff mit Schraubenantrieb, die „Napoleon", mit 100 Kanonen und 600 PS. Dieses Schiff sollte nicht nur von der Dampfkraft abhängig sein; anders als bei den Raddampfern erlaubte die Schraube, bei einem Schiff alle die Linien und die Takelage eines Segelschiffs beizubehalten und sich je nach Belieben nur durch Dampf« kraft, nur durch Segel oder durch beides fortzubewegen. Es konnte deshalb seine Kohle stets für den Notfall sparen, da es auf die Segel zurückgreifen konnte und so weit weniger auf die Nähe von Kohlenstationen angewiesen war als der alte Schaufelraddampfer. Deshalb und weil ihre Dampfkraft zu schwach war, um die volle Geschwindigkeit eines Raddampfers zu erreichen, wurden die „Napoleon" und andere Schiffe dieser Klasse als Hilfsdampfschiffe bezeichnet; seitdem sind jedoch Linienschiffe gebaut worden, deren Dampfkraft die durch die Schiffsschraube mögliche Geschwindigkeit voll ausnutzen konnte. Durch den Erfolg der „Napoleon" wurden in Frankreich wie auch in England bald Linienschiffe mit Schraubenantrieb gebaut. Der russische Krieg1 gab dieser radikalen Änderung im Kriegsschiffbau neuen Auftrieb; als sich herausstellte, daß die meisten stark gebauten Linienschiffe ohne allzu große Schwierigkeit mit einer Schraube und mit Maschinen ausgestattet werden konnten, war die Umstellung aller Kriegsflotten auf Dampfkraft nur noch eine Frage der Zeit. Keine große Seemacht denkt jetzt überhaupt noch daran, große Segelschiffe zu bauen; fast alle neu auf Kiel gelegten Schiffe sind Schraubendampfer, abgesehen von den wenigen Raddampfern, die für bestimmte Zwecke noch erforderlich sind; und noch vor 1870 werden Segelkriegsschiffe beinahe so völlig veraltet sein wie heute das Spinnrad und das glattläufige Gewehr. Der Krimkrieg brachte zwei neue Schiffskonstruktionen hervor. Dieerste ist das mit Dampf angetriebene Kanonenboot oder Mörserboot, das von den Engländern ursprünglich für den geplanten Angriff auf Kronstadt gebaut worden war; es ist ein kleines Schiff mit 4 bis 7 Fuß Tiefgang und mit
1 Krimkrieg 1853-1856
ein oder zwei schweren weittragenden Kanonen oder einem schweren Mörser bestückt. Als Kanonenboot sollte es im allgemeinen in flachen und schwer befahrbaren Gewässern, als Mörserboot beim Bombardement befestigter Marinearsenale aus großer Distanz verwendet werden. Diese Boote erfüllten die Erwartungen außerordentlich gut und werden ohne Zweifel eine wichtige Rolle in zukünftigen Seekriegen spielen. Wie bei Sweaborg bewiesen, ändert das Mörserboot völlig die Beziehungen von Angriff und Verteidigung zwischen Festungen und Schiffen, denn es verleiht den Schiffen eine solche Kraft, die ersteren ungestraft zu bombardieren, wie sie sie nie vorher besessen haben; aus 3000 Yard Entfernung können die Mörserboote mit ihren Granaten ein so großes Objekt wie eine Stadt treffen, während sie selbst ihrer geringen Angriffsfläche wegen ganz sicher sind. Kanonenboote dagegen werden, wenn sie zusammen mit Küstenbatterien eingesetzt sind, die Verteidigung stärken, und damit treten im Seekrieg auch jene leichten und beweglichen Seestreitkräfte auf, die es bisher nicht gab. Die zweite Neuerung sind die gepanzerten, kugelsicheren, schwimmenden Batterien, die zuerst von den Franzosen für den Angriff von Küstenbefestigungen gebaut wurden. Sie wurden nur bei Kinbum erprobt, und ihr Erfolg selbst den baufälligen Brustwehren und rostigen Kanonen dieser kleinen Festung gegenüber war nicht sehr bemerkenswert.t274] Aber die Franzosen schienen mit ihnen so zufrieden zu sein, daß sie seitdem ihre Versuche mit Panzerschiffen weiter fortgesetzt haben. Sie haben Kanonenboote mit einer Art kugelsicherem Schutzschild aus Stahl auf dem Vorderdeck gebaut, um die Kanone und ihre Mannschaft zu schützen. Waren aber die schwimmenden Batterien manövrierunfähig und mußten in Schlepp genommen werden, so lagen diese Kanonenboote mit dem Vorderteil zu tief im Wasser und waren überhaupt nicht seetüchtig. Die Franzosen haben jedoch eine starkgepanzerte Dampffregatte, die „Gloire", gebaut, die kugelsicher sein, eine sehr hohe Fahrgeschwindigkeit haben und so seefest sein soll, daß sie einen Sturm gefahrlos überstehen kann. Über die vermutliche Umwälzung, die diese kugelsicheren Fregatten im Seekrieg verursachen werden, stellt man die übertriebensten Behauptungen auf. Man sagt, daß Linienschiffe veraltet sind und daß das Vermögen, große Seeschlachten zu entscheiden, auf diese Fregatten übergegangen ist, die nur eine einzige, von allen Seiten kugelsicher geschützte Batterie haben und denen kein hölzerner Dreidecker standhalten kann. Wir wollen hier nicht über diese Frage streiten; aber wir können wohl sagen, gezogene Artillerie zu erfinden, die schwer genug ist, Eisen- oder Stahlplatten zu durchschlagen, und diese an Bord eines Schiffes aufzustellen, ist viel leichter, als Schiffe zu bauen, deren Metall
panzer stark genug ist, um dem Geschoß oder der Granate aus diesen Kanonen standzuhalten. Was die „Gloire" betrifft, so ist es schließlich nicht sicher, ob sie bei einem Sturm seefest bleibt, und wegen ihres unzureichenden Fassungsvermögens an Kohle soll sie auf See nicht länger als drei Tage unter Dampf bleiben können. Was ihr britisches Gegenstück, die „Warrior", tun wird, bleibt noch abzuwarten. Wenn man die Bestückung sowie die Kohle reduziert und die Konstruktion verändert, wird es ohne Zweifel möglich sein, ein Schiff zu bauen, das völlig kugelsicher für große und mittlere Schußweiten und trotzdem ein gutes Dampfschiff ist; aber in einer Zeit, in der die Artilleriewissenschaft solche rapiden Fortschritte macht, ist es sehr zu bezweifeln, ob es einen Zweck hat, auf die Dauer solche Schiffe zu bauen. Die Umwälzung in der Artillerie, die durch das gezogene Geschütz jetzt hervorgerufen wird, scheint für die Seekriegführung weit bedeutender zu sein als irgend etwas, was durch Panzerschiffe erreicht werden kann. Jedes gezogene Geschütz, das diesen Namen verdient, verbürgt eine solche Genauigkeit bei großen Schußweiten, daß die frühere Unzulänglichkeit des Schießens auf See auf solche Schußweiten wahrscheinlich bald der Vergangenheit angehören wird. Überdies gestattet das gezogene Geschütz durch sein längliches Geschoß und seine reduzierte Ladung, daß das Kaliber und das Gewicht der Breitseitengeschütze beträchtlich vermindert wird; oder andernfalls, wenn das Kaliber dasselbe bleibt, ergeben sich weit bessere Resultate. Das längliche Geschoß eines 56 Zentner wiegenden gezogenen Zweiunddreißigpfünders wird die Vollkugel aus einer 113 Zentner wiegenden glatten zehnzölligen Kanone nicht nur an Gewicht, sondern auch an Durchschlagskraft, Schußweite und Genauigkeit übertreffen. Die Angriffskraft eines jeden Schiffes, das mit gezogener schwerer Artillerie bestückt ist, wird wenigstens verdreifacht. Überdies wurde es stets als dringend notwendig angesehen, eine brauchbare Perkussionsgranate zu erfinden, die in demselben Moment explodiert, da sie die Schiffswand durchschlägt. Die Rotation der runden Kugel machte dies unmöglich; der Perkussionszünder befand sich nicht immer in der richtigen Lage, wenn die Granate aufschlug, und dann explodierte sie nicht. Aber ein längliches Geschoß aus einem gezogenen Geschütz, das um seine Längsachse rotiert, wird stets mit der Geschoßspitze auftreffen, und eine einfache Perkussionskappe auf dem Zündkopf läßt die Granate in dem Moment explodieren, da sie die Schiffswand durchschlägt. Es ist unwahrscheinlich, daß irgendein bisher entwickeltes Panzerschiff zwei solche Breitseiten eines Zweideckers ungestraft herausfordern kann, ganz abgesehen von den Granaten, die die Pforten treffen und zwischen den Decks explodieren. Gezogene Geschütze müssen in
hohem Maße solchen Nahgefechten ein Ende setzen, in denen Karronaden nützlich sein konnten; das Manövrieren wird wieder das Übergewicht erhalten, und da die kämpfenden Schiffe durch die Dampfkraft jetzt von Wind und Strömung unabhängig sind, wird sich die Seekriegführung künftig viel mehr der Methode und den taktischen Bewegungen der Landschlachten nähern. Die Kriegsschiffe, aus denen die moderne Kriegsmarine besteht, sind in verschiedene Klassen eingeteilt, von der ersten bis zur sechsten Klasse. Da aber diese Klasseneinteilungen variieren und willkürlich sind, wird es besser sein, die Kriegsschiffe auf übliche Art in Linienschiffe, Fregatten, Korvetten, Briggs, Schoner etc. einzuteilen. Linienschiffe sind die größten Kriegsschiffe, deren Aufgabe es ist, die Schlachtlinie in einem allgemeinen Gefecht zu bilden und den Kampf durch das Gewicht ihrer Geschosse, die auf die feindlichen Schiffe abgefeuert werden, zu entscheiden. Es sind entweder Drei- oder Zweidecker, das heißt, sie haben drei oder zwei geschlossene Decks, die mit Geschützen bestückt sind. Diese Decks werden als Unter-, Mittel- und Haupt- oder Oberdeck bezeichnet. Das Oberdeck, das früher nur am Achter- und Vorderdeck nicht offen war, ist jetzt vom Vorderbis zum Hintersteven von einem durchgehenden, offenen Deck überdacht. Auf diesem offenen Deck, das immer noch Achterdeck und Vorderdeck genannt wird (der Teil mittschiffs wird als gangway bezeichnet), steht ebenfalls Artillerie, meist Karronaden, so daß in Wirklichkeit ein Zweidecker 3 und ein Dreidecker 4 Batteriestockwerke hat. Die schwersten Geschütze sind natürlich auf dem Unterdeck aufgestellt, und je höher die Batterien über dem Wasser liegen, desto leichter sind die Geschütze. Da das Kaliber meist das gleiche bleibt, wird diese Abstufung durch das verminderte Gewicht der Geschütze erreicht; dadurch können die Geschütze auf den oberen Decks nur kleine Ladungen aushalten und demzufolge nur für kürzere Schußweiten verwendet werden. Die einzige Ausnahme dieser Regel bilden die Jagdgeschütze am Bug und Heck eines Schiffes, die, selbst wenn sie auf dem Vorderdeck oder dem Achterdeck eines Schiffes aufgestellt, dennoch so lang und schwer wie möglich sind, da sie für die denkbar längsten Schußweiten eingesetzt werden sollen. Deshalb sind die Bug- und Heckkanonen der englischen Linienschiffe entweder acht- oder zehnzöllige Granatengeschütze oder Sechsundfünfzig- oder Achtundsechzigpfünder (Kaliber 7,7 bzw. 8,13 Zoll) für Vollgeschosse; eines der Geschütze auf dem Vorderdeck ruht auf einer drehbaren Bettung. In der englischen Kriegsmarine gibt es bei einem Schiff der ersten Klasse gewöhnlich 6 Heck- und 5 Bugkanonen. Die übrige Armierung eines solchen Schiffes ist folgende:
Position Art Gewicht Länge Anzahl
Unterdeck achtzöllige Granatengeschütze 65 Zentner 9 Fuß 4 Unterdeck Zweiunddreißigpfünder 56 Zentner 9 Fuß 6 Zoll 28 Mitteldeck achtzöllige Granatengeschütze 65 Zentner 9 Fuß 2 Mitteldeck Zweiunddreißigpfünder 50 Zentner 9 Fuß 32 Oberdeck Zweiunddreißigpfünder 42 Zentner 8 Fuß 34 Vorder- und Zweiunddreißigpfünder 45 Zentner 8 Fuß 6 Zoll 6 Achterdeck 32pfündige Karronaden 17 Zentner 4 Fuß 14
Summa:' 120
Die Armierung der unteren Klassen der Linienschiffe ist nach demselben Prinzip aufgebaut. Zum Vergleich geben wir auch die eines entsprechenden französischen Schiffes der ersten Klasse an: Unterdeck 32 lange Dreißigpfünder, Mitteldeck vier 80pfündige Granatengeschütze und 30 kurze Dreißigpfünder, Oberdeck vierunddreißig 30pfündige Granatengeschütze, Vorderdeck und Achterdeck vier 30pfündige Granatengeschütze und sechzehn 30pfündige Karronaden; insgesamt 120 Geschütze. Das französische 80pfündige Granatengeschütz hat ein um 0,8 Zoll größeres Kaliber als die englische achtzöllige Kanone; das 30pfündige Granatengeschütz und der Dreißigpfünder haben ein etwas größeres Kaliber als die englischen Zweiunddreißigpfünder, so daß der Vorteil im Metallgewicht bei den Franzosen liegen würde. Das kleinste Linienschiff hat jetzt 72 Geschütze an Bord, die größte Fregatte 61. Eine Fregatte ist ein Schiff mit nur einem bestückten geschlossenen Deck und einem anderen offenen Deck darüber (Vorder- und Achterdeck), das ebenfalls mit Kanonen bestückt ist. Die Armierung in der englischen Marine besteht im allgemeinen aus 30 Geschützen (entweder nur Granatengeschütze oder teils Granatengeschütze, teils lange Zweiunddreißigpfünder) auf dem Geschützdeck und 30 kurzen Zweiunddreißigpfündern auf dem Vorder- und dem Achterdeck mit einem schweren Pivotgeschütz auf einer drehbaren Bettung am Bug. Da Fregatten meist auf Detachierung geschickt werden und dabei stets damit rechnen müssen, allein einen Kampf gegen feindliche Fregatten, die mit der gleichen Aufgabe ausgesandt sind, aufzunehmen, war es für die meisten Seemächte von großer Bedeutung, sie möglichst groß und stark zu bauen. Bei keinem Schiffstyp nimmt die Größe so auffallend zu wie bei diesem. Die Vereinigten Staaten, die eine billige Kriegsmarine brauchten, aber stark genug, um sich Respekt zu verschaffen, erkannten als erste den großen Vorteil, den
eine Flotte großer Fregatten ihnen bot, wenn jede Fregatte der einer anderen Nation überlegen war. Aus der Überlegenheit der amerikanischen Schiffsbauer, schnelle Schiffe zu baruen, zog man ebenfalls Vorteile, und der letzte Krieg gegen England (1812 bis 1814)tS31erwiesin vielen, gut angefochtenen Kämpfen, welch furchtbare Gegner diese amerikanischen Fregatten waren. Bis zum heutigen Tag gelten die Fregatten der Vereinigten Staaten als Vorbilder dieser Schiffstype, obwohl der Größenunterschied im Vergleich zu anderen Kriegsflotten bei weitem nicht so bedeutend ist, wie er 30 oder 40 Jahre zuvor war. Die nächste Klasse der Kriegsschiffe wird Korvetten genannt. Sie haben nur ein Batteriestockwerk auf einem offenen Deck; aber die größeren Korvetten sind mit einem Vorder- und Achterdeck (jedoch nicht durch ein durchgehendes Deck mittschiffs verbunden) versehen, wo einige weitere Geschütze stehen. Solche Korvetten entsprechen deshalb fast der vor 80 Jahren üblichen Fregatte, als der erhöhte vorderste und hinterste Teil des Schiffes noch nicht durch ein glattes Deck verbunden war. Diese Korvetten sind noch stark genug, dasselbe Geschützkaliber zu führen wie die größeren Schiffe. Sie haben außerdem 3 Masten, alle mit Rahtakelung. Von den kleineren Schiffen haben die Briggs und die Schoner von 20 bis zu 6 Geschützen an Bord. Sie haben nur 2 Masten, die Briggs mit Rahsegel, die Schoner mit Gaffelsegel. Das Kaliber ihrer Geschütze ist zwangsläufig kleiner als das der größeren Schiffe und übersteigt gewöhnlich nicht Achtzehn- oder Vierundzwanzigpfünder und geht sogar bis auf Zwölf- und Neunpfünder herunter. Schiffe von dieser geringen Offensivstärke können nicht dort eingesetzt werden, wo man ernstlichen Widerstand erwartet. In den europäischen Gewässern werden sie nach und nach allgemein von kleinen Dampfschiffen verdrängt, und sie können nur in solchen Küstengewässern wie vor Südamerika, China etc. wirklich von Nutzen sein, wo sie auf weniger starke Gegner stoßen und nur dazu dienen, die Flagge einer starken Seemacht zu vertreten. Die oben angegebene Armierung entspricht nur der zur Zeit üblichen; sie wird jedoch zweifellos während der nächsten 10 Jahre durch die allgemeine Anwendung gezogener Schiffsgeschütze in jeder Beziehung verändert werden.
Geschrieben um den 22. November 1860. Aus dem Englischen.
KARL MARX
HERR VOGT12761
Geschrieben von Januar bis November 1860. Erschienen im Dezember 1860 in London. Nach der Erstausgabe.
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London, 9t. $ttf$ & beotf^e a3nc&$dntilung.
78, FEKCHQBCH STREET, B.c.
1660.
Titelblatt der Erstausgabe von Marx' Schrift „Herr Vogt"

Vorwort
Unter dem Datum „London, 6. Februar 1860" veröffentlichte ich in der Berliner „Volks-Zeitung", Hamburger „Reform"t276) und andern deutschen Blättern eine Erklärung, die mit den folgenden Worten beginnt: „Ich zeige hiermit an, daß ich vorbereitende Schritte getan zur Anhängigmachung einer Verleumdungsklage gegen die Berliner ,NationalZeitung' [277] wegen der Leitartikel Nr. 37 und Nr. 41 über Vogts Pamphlet: ,Mein Prozeß gegen die Allgemeine Zeitung't278J. Eine literarische Antwort auf Vogt behalte ich für später vor." Warum ich beschloß, dem Karl Vogt literarisch, der „National-Zeitung" aber gerichtlich zu antworten, wird man aus der vorliegenden Schrift selbst ersehn. Im Laufe des Monats Februar 1860 machte ich die Verleumdungsklage gegen die „National-Zeitung" anhängig. Nachdem der Prozeß vier vorläufige Instanzen durchlaufen hatte, erhielt ich am 23. Oktober d. J. die Verfügung des Königl. Preuß. Obertribunals, wodurch mir das Recht der Klage in letzter Instanz abgeschnitten, also der Prozeß niedergeschlagen ward, bevor er zur öffentlichen Verhandlung kam. Fand letztere, wie ich erwarten durfte, wirklich statt, so würde ich das erste Dritteil der vorliegenden Schrift erspart haben. Einfacher Abdruck eines stenographischen Berichts über die Gerichtsverhandlungen hätte genügt, und ich wäre so der höchst widerlichen Arbeit entgangen, Anklagen gegen meine Person beantworten, also von mir selbst sprechen zu müssen. Ich habe das stets so sorglich vermieden, daß Vogt einigen Erfolg von seinen Lügenmärchen erwarten durfte. Indes, sunt certi denique fines1. Vogts von der „National-Zeitung" in ihrer Weise resümiertes Machwerk warf mir eine Reihe infamierender Handlungen vor, die jetzt, nachdem die öffentliche gerichtliche Wider
1 es gibt schließlich gewisse Grenzen
legung mir definitiv abgeschnitten worden ist, eine literarische Widerlegung erheischen. Aber abgesehn von dieser Rücksicht, die keine Wahl übrigließ, hatte ich andere Motive, Vogts Jagdgeschichten über mich und meine Parteigenossen, da ich einmal darauf eingehn mußte, ausführlicher zu behandeln. Auf der einen Seite das fast einstimmige Triumphgeschrei, womit die sogenannte „liberale" deutsche Presse seine angeblichen Enthüllungen begrüßte. Auf der andern Seite die Gelegenheit, welche die Analyse des Machwerks zur Charakteristik jenes Individuums bot, das eine ganze Richtung repräsentiert. Die Antwort auf Vogt zwang mich hier und da eine partie honteuse1 der Emigrationsgeschichte aufzudecken. Ich mache hierin nur von dem Recht der „Notwehr" Gebrauch. Übrigens kann der Emigration, einige wenige Personen ausgenommen, nichts vorgeworfen werden als Illusionen, die durch die Zeitverhältnisse mehr oder weniger berechtigt waren, und Narrheiten, die aus den außerordentlichen Umständen, worin sie sich unerwartet gestellt fand, notwendig hervorwuchsen. Ich spreche hier natürlich nur von den ersten Jahren der Emigration. Ein Vergleich der Geschichte der Regierungen und der bürgerlichen Gesellschaft, etwa von 1849 bis 1859, mit der gleichzeitigen Geschichte der Emigration wäre die glänzendste Apologie, die für letztere geschrieben werden könnte. Ich weiß im voraus, daß dieselben gewiegten Männer, die bei dem Erscheinen des Vogtschen Machwerks die Häupter bedenklich über die Wichtigkeit seiner „Enthüllungen" schüttelten, jetzt gar nicht begreifen werden, wie ich meine Zeit mit der Widerlegung solcher Kindereien vergeuden konnte, während die „liberalen" Federfuchser, die in schadenfroher Hast Vogts platte Gemeinheiten und nichtsnutzige Lügen durch die deutsche, schweizerische, französische und amerikanische Presse kolportierten, meine Manier, sie selbst und ihren Helden abzufertigen, frevelhaft anstößig finden werden. But never mind!2 Der politische sowie der juristische Teil dieser Schrift bedürfen keiner eignen Bevorwortung. Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse bemerke ich nur das eine: Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten, die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des italienischen Kriegs von 1859[279] Louis Bonaparte gegenüber auszuführen habe. Dieser Gegen
1 ein schandbares Kapitel - 2 Aber das ist mir gleich!
satz der Ansichten entsprang aus gegensätzlichen Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden einer spätem Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Clique zu tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab und in der Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten, die er wirklich vertrat. Schließlich spreche ich meinen herzlichen Dank aus für die bereitwillige Hülfe, die mir bei Abfassung dieser Schrift nicht nur von alten Parteifreunden geworden, sondern von vielen mir früher fernstehenden und mir zum Teil jetzt noch persönlich unbekannten Mitgliedern der Emigration in der Schweiz, Frankreich und England.
London, 17. November 1860
Karl Marx

I. Die Schwefelbande1280'
Clarin: Malas pastillas gasta; hase untado Con ungüento de azufre. (Calleron)1
Die „abgerundete Natur", wie Advokat Hermann vor dem Bezirksgericht in Augsburg seinen kugelrunden Klienten, den Erb-Vogt auf Nichilburg, zartsinnig kennzeichnete, die „abgerundete Natur" beginnt ihre Naupengeheuerliche Geschichtsklitterung12811 wie folgt: „Unter dem Namen der Schwefelbande, oder auch unter dem nicht weniger charakteristischen der Bürstenheimer, war unter der Flüchdingsschaft von 1849 eine Anzahl von Leuten bekannt, die, anfangs in der Schweiz, Frankreich und England zerstreut, sich allmählich in London sammelten und dort als ihr sichtbares Oberhaupt Herrn Marx verehrten. Politisches Prinzip dieser Gesellen war die Diktatur des Proletariats etc." (p. 136 „Mein Prozeß gegen die Allgemeine Zeitung" von Karl Vogt, Genf, Dezember 1859.) Das „Hauptbuch"'2821, worin diese wichtige Mitteilung unterläuft, erschien im Dezember 1859. Acht Monate vorher, Mai 1859, hatte jedoch „die abgerundete Natur" im Bieler „Handels-Courier" einen Artikel veröffentlicht [2831, der als Grundriß der weitläufigeren Geschichtsklitterung betrachtet werden muß. Hören wir den Urtext:
„Seit dem Umschlage der Revolution von 1849", so schneidet der Bieler Canums voyageur auf, „hat sich nach und nach in London eine Clique von Flüchtlingen gesammelt, deren Glieder unter der schweizerischen Emigration unter dem Namen der JJürstenheimer oder der Schwefelbande seiner (!) Zeit bekannt waren. Ihr Chef ist Marx, der frühere Redakteur der .Rheinischen Zeitung' in Köln - ihr Losungswort .Soziale Republik, Arbeiterdiktatur' - ihre Beschäftigung Anspinnen von Verbindungen und Verschwörungen." (Wieder abgedruckt in dem „Hauptbuch", Dritter Abschnitt, Dokumente, No.7, p. 31, 32.)
1 Mit hohlen Worten wirft er gern um sich;... er hat sich eingeschmiert mit Schwefelsalbe.
Die Clique von Flüchtlingen, die „unter der schweizerischen Emigration" als „Schwefelbande" bekannt war, verwandelt sich 8 Monate später einem größeren Publikum gegenüber in eine über „die Schweiz, Frankreich und England zerstreute" Masse, die „unter der Flüchtlingsschaft" überhaupt als „Schwefelbande" bekannt war. Es ist die alte Geschichte von den Steifleinenen in Kendal-Green, so heiter erzählt von Karl Vogts Urtyp, dem unsterblichen Sir John Falstafft2841, der in seiner zoologischen Wiedergeburt keinenfalls an Stoff eingebüßt hat. Aus dem Urtext des Bieler Commis voyageur ergibt sich, daß „Schwefelbande" wie „Bärstenheimer" Schweizer Lokalgewächse waren. Sehen wir uns nach ihrer Naturgeschichte um. Von Freunden belehrt, daß in dem Jahre 1849/1850 allerdings eine Flüchtlingsgesellschaft unter dem Namen „Schwefelbande" zu Genf blühte und Herr S.L. Borkheim, wohlbestallter Kaufmann in der City von London, nähere Auskunft über Ursprung, Wachstum und Verfall jener genialen Gesellschaft geben könne, wandte ich mich schriftlich, im Februar 1860, an den mir damals unbekannten Herrn und erhielt in der Tat, nach einer persönlichen Zusammenkunft, folgende Skizze, die ich unverändert abdrucken lasse.
*London, den 12.Februar 1860 18, Union Grove, Wandsworth Road
Geehrter Herr! Obgleich, trotz neunjährigen Verweilens in demselben Lande und meistens in derselben Stadt, wir, bis vor drei Tagen, persönlich nicht miteinander bekannt waren, haben Sie doch nicht mit Unrecht vorausgesetzt, daß ich Ihnen, als einem Mitexilierten, die gewünschte Mitteilung nicht versagen würde. Wohlan denn zur ,Schwefelbande. Im Jahre 1849, bald nachdem wir Aufständischen aus Baden hinausgekugelt waren, fanden sich, teils von den Schweizer Behörden dorthin verwiesen, teils durch freiwillige Wahl des Aufenthalts, mehrere junge Männer in Genf zusammen, die, Studenten, Soldaten oder Kaufleute, schon vor 1848 in Deutschland untereinander befreundet gewesen oder während der Revolution miteinander bekannt geworden waren. Die Stimmung unter den Flüchtlingen war keine rosige. Die sogenannten politischen Führer wälzten sich gegenseitig die Schuld des Mißlingens zu, militärische Leiter kritisierten einer des andern rückgängige Offensivbewegungen, Flankenmärsche und offensive Retiraden; man fing sich an Bourgeoisrepublikaner, Sozialisten und Kommunisten zu schimpfen; es regnete Flugschriften, die keineswegs beruhigend wirkten; Spione wurden überall gewittert, und zu all' dem verwandelten sich die Kleider der Mehrzahl in Lumpen, und auf vieler Gesicht las man den Hunger. In solchem Trübsal hielten die schon bezeichneten jungen Leute in Freundschaft zusammen. Sie waren:
Eduard Rosenblum, geboren in Odessa, der Sohn deutscher Eltern; er hatte in Leipzig, Berlin und Paris Medizin studiert. Max Cohnheim aus Fraustadt; er war Handlungsdiener gewesen und beim Ausbruch der Revolution einjähriger Freiwilliger bei der Gardeartillerie. Kom, Chemiker und Apotheker aus Berlin. Becker, Ingenieur aus den Rheinlanden, und ich selbst, der ich mich nach 1844 am Werderschen Gymnasium zu Berlin abgelegtem Abiturientenexamen in Breslau, Greifswald und Berlin Studierens halber aufgehalten hatte und den die 48er Revolution als Kanonier in seinerV aterstadt (Glogau) fand. Keiner von uns war, glaube ich, über 24 Jahre alt. Wir wohnten nahe beieinander, ja eine Zeidang sogar im grand pre, alle in demselben Hause. Unsre Hauptbeschäftigung war, in dem kleinen Lande, das so wenig Gelegenheit bot zum Broterwerb, uns nicht von dem allgemeinen Flüchdingseiende und politischen Katzenjammer niederdrücken und demoralisieren zu lassen. Das Klima, die Natur waren herrlich - wir verleugneten unsre märkischen Antezedenzien nicht und fanden die Jegend jottvoll. Was der eine von uns besaß, hatte der andre, und wenn wir alle nichts hatten, so fanden wir gutmütige Schenkwirte oder andre liebe Leute, die sich ein Vergnügen draus machten, uns auf unsre jungen lebenslustigen Gesichter hin etwas zu borgen. Wir müssen wohl alle recht ehrlich und toll ausgesehen haben! Hier sei mit Dank des Cafetier Bertin (Cafe de l'Europe) erwähnt, der nicht nur uns, sondern noch vielen andern deutschen und französischen Flüchdingen im wahren Sinne des Wortes rastlos .pumpte*. 1856, nach sechsjähriger Abwesenheit, besuchte ich Genf auf meiner Rückkehr aus der Krim, lediglich, um mit der Pietät eines wohlmeinenden .Bummlers' meine Schulden zu bezahlen. Der gute, runde, dicke Bertin war erstaunt, versicherte mich, daß ich der erste sei, der ihm diese Freude mache, daß er aber dessenungeachtet es gar nicht bedaure, 10[000] bis 20 000 Frs. bei Flüchtlingen ausstehen zu haben, die schon lange in alle Welt verjagt seien. Er erkundigte sich, abgesehen von Schuldverhältnissen, mit besondrer Innigkeit nach meinen nähern Freunden. Leider wußte ich ihm wenig zu sagen. Nach vorgehender Einschaltung kehre ich nun wieder zum Jahre 1849 zurück. Wir kneipten fröhlich und sangen lustig. Flüchtlinge aller verschiedenen politischen Nuancen, auch französische und italienische, erinnere ich mich, an unsrem Tische gesehen zu haben. Fröhliche Abende, in solchem dulci jubilo verbracht, schienen allen Oasen zu sein in der sonst allerdings jämmerlichen Wüste des Flüchtlingslebens. Auch Freunde, die damals Genfer Großräte waren oder es später geworden sind, fanden sich zur Erholung mitunter bei unsern Gelagen ein. Liebknecht, der jetzt hier und den ich in neun Jahren nur drei- oder viermal gesehn, indem ich ihn immer zufällig auf der Straße traf, war nicht selten von der Gesellschaft. Studenten, Doktoren, ehemalige Freunde vom Gymnasium und Universität her, auf Ferienreisen begriffen, tranken sich oft mit uns durch viele Gläser Bier und manche Flasche des guten und billigen Mäcon. Mitunter lagen wir tage-, ja sogar wochenlang auf dem Genfer See umher, ohne je ans Land zu steigen, sangen Minnelieder und
.schnitten', mit der Gitarre in der Hand, ,die Cour' vor den Fenstern der Villas auf savoyischer und schweizerischer Seite. Ich scheue mich nicht, hier anzuführen, daß sich unser burschikoses Blut mitunter in polizeiwidrigen Sprüngen Luft machte. Der so liebe, nun verstorbene Albert Galeer, Fazys nicht unbedeutender politischer Gegner in der Genfer Bürgerschaft, pflegte uns dann im freundlichsten Tone Moral zu predigen. ,Ihr seid tolle Bursche', sagte er, .jedoch ist es wahr, daß in eurem Flüchtlingsjammer solchen Humor zu haben, man kein Schwächling sein darf an Leib oder Geist - es gehört Elastizität dazu.' Dem gutherzigen Manne kam es hart an, uns härter anzulassen. Er war Großrat des Kantons Genf. Von Duellen hatte meines Wissens damals nur eins statt, und zwar mit Pistolen zwischen mir und einem Herrn R.. .n. Die Veranlassung war aber durchaus nicht politischer Natur. Mein Sekundant war ein Genfer nur französisch sprechender Artillerist, und der Unparteiische war der junge, später in München als Student leider zu früh von einem Nervenfieber dahingeraffte Oskar Galeer, Bruder des Großrats. Ein zweites Duell, dessen Veranlassung aber auch nicht politischer Natur war, sollte stattfinden zwischen Rosenblum und einem flüchtigen badischen Leutnant v. F.. .g, der bald darauf ins Vaterland zurückkehrte und, ich glaube, wieder ins regenerierte badische Heer eintrat. Der Streit wurde, ohne daß es zum Äußersten kam, am Morgen des Kampftages durch Vermittlung des Herrn Engels - ich vermute, es war derselbe, der jetzt in Manchester sein soll und den ich seit damals nicht wieder gesehen - in Freundschaft beigelegt. Dieser Herr Engels war in Genf auf seiner Durchreise begriffen, und wir tranken der Flaschen Wein nicht wenige in seiner erheiternden Gesellschaft. Das Begegnen mit ihm kam uns, wenn ich mich recht entsinne, ganz besonders deswegen erwünscht, weil wir seiner Kasse erlauben konnten, das Kommando zu führen. Wir schlössen uns weder sogenannten blau- noch rot-republikanischen, noch sozialistischen, noch kommunistischen Parteiführern an. Wir erlaubten uns, das politische Treiben von Reichsregenten, Mitgliedern des Frankfurter Parlaments und andrer Sprechsäle, Revolutionsgeneralen oder Korporalen oder Dalai-Lamas des Kommunismus frei und unabhängig - ich will nicht behaupten stets richtig - zu beurteilen, und gründeten sogar für diesen und andre uns belustigende Zwecke ein Wochenblatt, betitelt:
„RUMMELTIPUFF"
Organ der Lausbubokralie*
Dies Blatt erlebte nur zwei Nummern. Als man mich später in Frankreich verhaftete, um mich hierher zu senden, wurden mir von der französischen Polizei meine Papiere und Tagebücher mit Beschlag belegt, und ich erinnere mich nicht mehr genau, ob das Blatt durch obrigkeitliches Verbot oder durch Armut zu Grabe getragen wurde.
* „Solcher Titel war, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, allen liberalen Parteien in irgendeiner der deutschen Duodezkammern oder im Frankfurter Parlamente beigelegt worden. Wir wollten ihn verewigen." (Borkheim.)
.Philister - sie gehörten den sogenannten Bourgeoisrepublikanern und auch den Reihen der sogenannten kommunistischen Arbeiter an - bezeichneten uns mit dem Namen ,Schwefelbande'. Mitunter ist es mir, als hätten wir uns selbst diesen Namen beigelegt. Jedenfalls haftete er der Gesellschaft lediglich an in dem gemütlichen deutschen Sinne des Worts. In freundlichster Weise komme ich mit Verbannungsgenossen zusammen, die Freunde des Herrn Vogt, und mit andern, welche die Ihrigen waren und es wahrscheinlich noch sind. Aber ich freue mich, auf keiner Seite je gefunden zu haben, daß man von den Mitgliedern der von mir bezeichneten ,Schwefelbande, sei es in politischer oder privater Beziehung, mit Mißachtung spricht. Diese Schwefelbande' ist die einzige, deren Existenz mir bekannt. Sie bestand von 1849 bis 1850 in Genf. Mitte 1850 wurden die wenigen Mitglieder dieser gefährlichen Gesellschaft, da sie zu den auszuweisenden Kategorien der Flüchtlinge gehörten, gezwungen, die Schweiz zu verlassen, mit Ausnahme von Korn. Somit hatte also das Leben dieser .Schwefelbande' sein Ende erreicht. Von andern .Schwefelbanden', ob sie an andern Orten und wo und zu welchem Zwecke sie bestanden haben, weiß ich nichts. Korn blieb, glaube ich, in der Schweiz und soll daselbst als Apotheker ansässig sein. Cohnheim und Rosenblum gingen vor der Schlacht bei Idstedt nach Holstein. Ich glaube, sie haben beide an derselben teilgenommen. Später, 1851, segelten sie nach Amerika. Rosenblum kehrte Ende desselben Jahres nach England zurück und ging 1852 nach Australien, von wo ich seit 1855 nichts von ihm gehört. Cohnheim soll schon seit einiger Zeit Redakteur des ,New-Yorker Humoristen' sein. Becker begab sich gleich damals 1850 nach Amerika. Was aus ihm geworden, kann ich leider nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich selbst hielt mich im Winter 1850/1851 in Paris und Straßburg auf und wurde von der französischen Polizei, wie schon oben angedeutet, im Februar 1851 gewaltsam drei Monate lang schleppte man mich durch 25 Gefängnisse und meistens während des Marsches in schweren eisernen Ketten - nach England verschickt. Hier wohne ich, nachdem ich das erste Jahr zur Eroberung der Sprache verwandt, dem Geschäftsleben gewidmet, nicht ohne stetes und reges Interesse für die politischen Ereignisse in meinem Vaterlande, aber immer frei von jeglichem Treiben politischer Flüchtlingscliquen. Es geht mir nun so leidlich, oder wie der Engländer sagt: very well, sir, thank you1. - Es ist Ihre eigne Schuld, wenn Sie durch diese lange, aber jedenfalls nicht sehr wichtige Geschichte zu waden haben.
Mit Achtung verbleibe ich Ihr ganz ergebener " Sigismund L.Borkhetm"
Soweit Herrn Borkhorns Brief. Im Vorgefühl ihrer historischen Wichtigkeit ergriff die „Schwefelbande" die Vorsichtsmaßregel, ihr eignes Zivilstandsregister mit Holzschnitten in das Buch der Geschichte einzukeilen.
1 sehr gut, mein Herr, danke.
Die erste Nummer des „Rummeltipuff" ist nämlich mit den Bildnissen seiner Stifter geschmückt. Die genialen Herren von der „Schwefelbande" hatten sich beteiligt an Struves republikanischem Putsch vom September 1848, dann im Gefängnis von Bruchsal bis Mai 1849 gesessen, endlich mitgekämpft als Soldaten in der Reichsverfassungskampagne, die sie über die Schweizer Grenze warf.t2851 Im Laufe des Jahres 1850 langten zwei Matadore derselben, Cohnheim und Rosenblum, in London an, wo sie sich um Herrn Gustav Struve „versammelten". Ich hatte nicht die Ehre, sie persönlich kennenzulernen. Politisch setzten sie sich mit mir in Beziehung, indem sie unter Struves Führung gegen das damals von mir, Engels, Willich und andern geleitete Londoner Flüchtlingskomitee[286] ein Gegenkomitee zu bilden suchten, dessen uns feindliches Pronunziamento, unterzeichnet von Struve, Rosenblum, Cohnheim, Bobzin* Grunich und Oswald, unter andern auch in der Berliner „Abend-Post" erschien. In der Blütezeit der Heiligen Allianz bildete die Kohlenbande (Carbonari)12871 eine ergiebige Fundgrube für polizistische Tätigkeit und aristokratische Phantasie. Gedachte unser Reichs-Gorgellantua die „Schwefelbande" in der Weise der Kohlenbande auszubeuten zu Nutz und Frommen teutscher Bürgerschaft? Die Salpeterbande würde die polizeiliche Dreieinigkeit voll machen. Vielleicht auch ist Karl Vogt dem Schwefel abhold, weil er kein Pulver riechen kann. Oder haßt er gleich andern Kranken sein spezifisches Heilmittel? Der Geheimarzt Rademacher klassifiziert bekanntlich die Krankheiten nach ihren Heilmitteln.[288) Unter Schwefelkrankheit fiele damit, was Advokat Hermann im Bezirksgericht zu Augsburg „die abgerundete Natur" seines Klienten hieß, weis Rademacher ein „trommelartig gespanntes Bauchfell" und der noch größere Doktor Fischeirt „den gewelbeten Wanst aus Freinkreich" nennt. Alle Falstaffsnaturen litten so in mehr als einem Sinn an der Schwefelkrankheit. Oder sollte den Vogt sein zoologisches Gewissen erinnert haben, daß Schwefel der Tod der Krätzmilbe, also ganz und gar zuwider den Krätzmilben, die mehrmeils die Haut gewechselt haben? Denn, wie neuere Forschungen bewiesen, die gehäutete Krätzmilbe allein ist zeugungsfähig und daher zum Selbstbewußtsein durchgedrungen. Artiger Gegensatz, auf der einen Seite der Schwefel, auf der andern die selbstbewußte Krätzmilbe! Unter allen Umständen aber schuldete Vogt seinem „Kaiser" und dem liberalen teutschen Bürger den Nachweis, daß alles Unheil „seit dem Umschlage der Revolution von 1849" von der Schwefelbande zu Genf herrührt und nicht von der Dezemberbande[289) zu Paris. Mich persönlich mußte er zum Chef der von ihm gelästerten und mir
bis zum Erscheinen des „Hauptbuchs" unbekannten Schwefelbande erhöhn, zur Strafe für meine jahrelang fortgesetzten Frevel gegen Haupt und Glieder der „Bande vom 10. Dezember"'289). Um den gerechten Groll des „angenehmen Gesellschafters" begreiflich zu machen, zitiere ich hier einige auf die „Dezemberbande" bezügliche Stellen aus meiner Schrift „Der achtzehnte Brvmaire des Louis Bonaparte", New York 1852. (Siehe daselbst S. 31, 32 und 61, 621.) „Diese Bande'2901 datiert noch vom Jahre 1849. Unter dem Vorwande, eine Wohltätigkeitsgesellschaft zu stiften, war das Pariser Lumpenproletariat in geheime Sektionen organisiert worden, jede Sektion von bonapartistischen Agenten geleitet, an der Spitze des Ganzen ein bonapartistischer General. Neben zerrütteten Rou£s der Aristokratie mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaronis, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Tagelöhner, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin und her geworfene Masse, die die Franzosen la Boheme nennen; mit diesem ihm verwandten Elemente bildete Bonaparte den Stock der Bande vom 10. Dezember. .Wohltätigkeitsgesellschaft' - insofern alle Mitglieder wie Bonaparte das Bedürfnis fühlten, sich auf Kosten der arbeitenden Nation wohlzutun. Dieser Bonaparte, der sich als Chef des Lumpenproletariats konstituiert, der hier allein in massenhafter Form die Interessen wiederfindet, die er persönlich verfolgt, der in diesem Auswurfe, Abfall, Abhub aller Klassen die einzige Klasse erkennt, auf die er sich unbedingt stützen kann, er ist der wirkliche Bonaparte, der Bonaparte sans phrase, unverkennbar selbst dann noch, wenn er später allmächtig einem Teile seiner alten Mitverschwörer die Schuld dadurch abträgt, daß er sie neben den Revolutionären nach Cayenne transportiert. Alter durchtriebener Rou6, faßt er das geschichtliche Leben der Völker und die Haupt- und Staatsaktionen derselben als Komödie im ordinärsten Sinne auf, als eine Maskerade, wo die großen Kostüme, Worte und Posituren nur die kleinlichste Lumperei vermummen. So bei seinem Zuge nach Straßburg, wo ein eingeschulter Schweizer Geier den napoleonischen Adler vorstellte. Für seinen Einfall in Boulogne steckt er einige Londoner Lakaien in französische Uniformen. Sie stellen die Armee
1 Vgl. Band 8 unserer Ausgabe, S. 160-162, 206-207
vor12911. Iii seiner Bande vom lO.Dezember sammelt er 10 000 Lumpenkerls, die das Volk vorstellen müssen, wie Klaus Zettel den Löwen'2921... Was für die sozialistischen Arbeiter die Nationalateliers, was für die Bourgeois-Republikaner die Gardes mobiles[2931, das war für Bonaparte die Bande vom lO.Dezember, die ihm eigentümliche Parteistreitkraft. Auf seinen Reisen mußten die auf der Eisenbahn verpackten Abteilungen derselben ihm ein Publikum improvisieren, den öffentlichen Enthusiasmus aufführen, vive l'Empereur!1 heulen, die Republikaner insultieren und durchprügeln, natürlich unter dem Schutze der Polizei. Auf seinen Rückfahrten nach Paris mußten sie die Avantgarde bilden, Gegendemonstrationen zuvorkommen oder sie auseinanderjagen. Die Bande vom lO.Dezember gehörte ihm, sie war sein Werk, sein eigenster Gedanke. Was er sich sonst aneignet, gibt ihm die Macht der Verhältnisse anheim, was er sonst tut, tun die Verhältnisse für ihn oder begnügt er sich von den Taten andrer zu kopieren, aber er, mit den offiziellen Redensarten der Ordnung, der Religion, der Familie, des Eigentums öffentlich vor den Bürgern, hinter ihm die geheime Gesellschaft der Schufteries und der Spiegelbergs, die Gesellschaft der Unordnung, der Prostitution und des Diebstahls, das ist Bonaparte selbst als Originalautor,.und die Geschichte der Bande vom 1 O.Dezember ist seine eigne Geschichte... Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen. Wie man zur Zeit der Fronde vom Herzog von Guise sagte, daß er der obligeanteste Mann von Frankreich sei, weil er alle seine Güter in Obligationen seiner Partisanen gegen ihn verwandelt habe, so möchte Bonaparte der obligeanteste Mann von Frankreich sein und alles Eigentum, alle Arbeit Frankreichs in eine persönliche Obligation gegen sich verwandeln. Er möchte ganz Frankreich siehlen, um es an Frankreich zu verschenken, oder vielmehr um Frankreich mit französischem Gelde wiederkaufen zu können, denn als Chef der Bande vom lO.Dezember muß er kaufen, was ihm gehören soll. Und zu dem Institute des Kaufens werden alle Staatsinstitute, der Senat, der Staatsrat, der gesetzgebende Körper, die Gerichte, die Ehrenlegion, die Soldatenmedaille, die Waschhäuser, die Staatsbauten, die Eisenbahnen, der etat major der Nationalgarde ohne Gemeine, die konfiszierten Güter des Hauses Orleans. Zum Kaufmittel wird jeder Platz in der Armee und der Regierungsmaschine. Das wichtigste aber bei diesem Prozesse, wo Frankreich genommen
1 Es lebe der Kaiser!
wird, um ihm zu geben, sind die Prozente, die während des Umsatzes für das Haupt und die Glieder der Bande vom 10. Dezember abfallen. Das Witzwort, womit die Gräfin L., die Mätresse des Herrn de Morny, die Konfiskation der orleansschen Güter charakterisierte: ,C'est le premier vol de l'aigle'1, paßt auf jeden Flug dieses Adlers, der mehr Rabe ist. Er selbst und seine Anhänger rufen sich täglich zu, wie jener italienische Kartäuser dem Geizhals, der prunkend die Güter aufzählte, an denen er noch für Jahre zu zehren habe: ,Tu fai conto sopra i beni. Bisogna prima far il conto sopra gli anni.' Um sich in den Jahren nicht zu verrechnen, zählen sie nach Minuten. An den Hof, in die Ministerien, an die Spitze der Verwaltung und der Armee drängt sich ein Haufe von Kerlen, von deren bestem zu sagen ist, daß man nicht weiß, von wannen er kommt, eine geräuschvolle, anrüchige, plünderungslustige Boheme, die mit derselben grotesken Würde in galonierte Röcke kriecht wie Soulouques Großwürdenträger. Man kann diese höhere Schichte der Bande vom 10. Dezember sich anschaulich machen, wenn man erwägt, daß Veron-Crevel ihr Sittenprediger ist und Granier de Cassagnac ihr Denker. Als Guizot zur Zeit seines Ministeriums diesen Granier in einem Winkelblatte gegen die dynastische Opposition verwandte, pflegte er ihn mit der Wendung zu rühmen: .C'est le roi des droles' - ,das ist der Narrenkönig'. Man hätte unrecht, bei dem Hofe und der Sippe Louis Bonapartes an die Regentschaft1294' oder Ludwig XV. zu erinnern. Denn ,oft schon hat Frankreich eine Mätressenregierung erlebt, aber noch nie eine Regierung von hommes entretenus'2... Durch die widersprechenden Forderungen seiner Situation gejagt, zugleich wie ein Taschenspieler in der Notwendigkeit, durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich als den Ersatzmann Napoleons gerichtet zu halten, also jeden Tag einen Staatsstreich en miniature zu verrichten, bringt Bonaparte die ganze bürgerliche Wirtschaft in Wirrwarr, tastet alles an, was der Revolution von 1848 unantastbar schien, macht die einen revolutionsgeduldig, die andern revolutionslustig und erzeugt die Anarchie selbst im Namen der Ordnung, während er zugleich der ganzen Staatsmaschine den Heiligenschein abstreift, sie profaniert, sie zugleich ekelhaft und lächerlich macht. Den Kultus des heiligen Rockes zu Trier12951 wiederholt er zu Paris im Kultus des napoleonischen Kaiser man tels. Aber wenn der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das eherne Standbild Napoleons von der Höhe der Vendome-Säule herabstürzen."
1 ,Das ist der erste Flug (Diebstahl) des Adlers' - ~ ausgehaltenen Männern
II. Die Bürstenheimer
„But, sirrah, there's 110 room for faith, truth, nor honesty, in this bosom of thine; it is all filled up with guts and midriff." (Shakespeare
„Bürstenheimer" oder „Schwefelbande", heißt es im Bieler Urevangelium (S. 31 des „Hauptbuchs", Dokumente). „Schwefelbande" oder auch „Bürstenheimer'' heißt es im „Hauptbuch" (S. 136). Nach beiden Lesarten sind „Schwefelbande" und „Bürstenheimer" eine und dieselbe identische Bande. Die „Schwefelbande", wie wir sahen, war gestorben, verdorben Mitte 1850. Also auch die „Bürstenheimer"? Die „abgerundete Natur" ist der Dezemberbande attachierter Zivilisator, und Zivilisation, wie Fourier sagt, unterscheidet sich dadurch von der Barbarei, daß sie die einfache Lüge verdrängt durch die zusammengesetzte Lüge. Der „zusammengesetzte" Reichsfalstaff erzählt uns (S. 198, „Hauptbuch"), daß ein gewisser Abt der „Gemeinste der Gemeinen" sei. Bewunderungswerte Bescheidenheit, womit Vogt sich selbst in den Positivus, seinen Abt aber in den Superlativ setzt, ihn gewissermaßen zu seinem Feldmarschall Ney ernennt. Als Vogts Urevangelium im Bieler Commis voyageur erschien, ersuchte ich die Redaktion des „Volk"[297!, den Urwisch ohne weitern Kommentar abzudrucken. Die Redaktion fügte jedoch hinter den Abdruck die Bemerkung:
„Obiger Wisch rührt von einem verbummelten Subjekt namens Abt her, der vor acht Jahren zu Genf von einem Ehrengericht deutscher Flüchtlinge einstimmig verschiedner ehrloser Handlungen schuldig befunden ward." (Nr.6 des „Volk" vom 11. Juni 1859.)
1 „Aber zum Henker, es ist kein Platz für Glauben, Treu' und Redlichkeit in dem Leibe da: er ist ganz mit Därmen und Netzhaut ausgestopft."
Die Redaktion des „Volk" hielt Abt für den Verfasser von Vogts Urwisch; sie vergaß,, daß die Schweiz zwei Richmonds im Felde hatte[298], neben einem Abt einen Vogt. Der „Gemeinste der Gemeinen" also erfand im Frühjahr 1851 die „Bürstenheimer", die Vogt seinem Feldmarschall im Herbst 1859 abmaust. Die süße Gewohnheit des Plagiats verfolgt ihn instinktiv aus der naturhistorischen Buchmacherei in die polizistische hinüber. Der Genfer Arbeiterverein war eine Zeitlang präsidiert von dem Bürstenmacher Sauernheimer. Abt halbiert Stand und Namen Sauernheimers, den einen von vorn, den andern von hinten, und aus beiden Hälften komponierte er sinnig den ganzen „Bürstenheimer"'. Mit dieser Titulatur bezeichnete er ursprünglich außer Sauernheimer dessen nächsten Umgang, Kamm aus Bonn, Bürstenmacher seines Gewerbs, und Ranickel aus Bingen, Buchbindergesellen. Den Sauernheimer ernannte er zum General, den Ranickel zum Adjutanten der Bürstenheimer und Kamm zum Bürstenheimer sans phrase. Später, als zwei dem Genfer Arbeiterverein angehörige Flüchtlinge, Imandt (jetzt Professor am Seminar zu Dundee) und Schily (früher Advokat zu Trier, jetzt zu Paris), Abts Ausstoßung vor einem Ehrengericht des Vereins bewirkten, publizierte Abt ein Schimpfpamphlet, worin er den ganzen Genfer Arbeiterverein zum Rang der „Bürstenheimer" erhob. Man sieht also: Es gab Bürstenheimer im allgemeinen und Bürstenheimer im besondren. „Bürstenheimer" im allgemeinen umfaßte den Genfer Arbeiterverein, denselben Verein, von dem der in die Enge getriebene Vogt sich ein in der „Allgemeinen Zeitung" veröffentlichtes testimonium paupertatis erschlich und vor dem er auf allen vieren kroch bei der Schillerfeier und Robert-BlumFeier (1859). „Bürstenheimer" im besondren waren, wie gesagt, der mir gänzlich unbekannte Sauernheimer, der nie nach London gekommen ist; Kamm, der, von Genf ausgewiesen, nach den Vereinigten Staaten über London reiste, wo er nicht mich, sondern Kinkel aufsuchte; endlich der oder das Ranickel, der als Bürstenheimer Adjutant zu Genf verblieb, wo er sich „versammelte" um die „abgerundete Natur". Er stellt in der Tat in eigner Person das Proletariat Vogt vor. Da ich spätör wieder auf das Ranickel zurückkommen muß, hier einiges Vorläufige über das Ungetüm. Ranickel gehörte zu der nach dem verunglückten Heckerzug von Willich kommandierten Flüchtlingskaserne in Besan?on.[299i Er machte unter ihm die Reichsverfassungskampagne mit und flüchtete später mit ihm nach der Schweiz. Willich war sein kommunistischer Mahomet, der mit Feuer und Schwert das Millennium stiften sollte. Eitler, schwatzschweifiger, zierbengelhafter Melodramatiker, übertyrannisierte das Ranickel den Tyrannen.
Zu Genf wütete es. in rotem Grimme gegen die „Parlamentler" im allgemeinen und drohte im besondren, ein andrer Teil, den „Land-Vogt zu erwürgen". Als es jedoch durch Wallot, Flüchtling aus den 30er Jahren und Jugendfreund Vogts, bei letzterem eingeführt worden, gerann Ranickels blutrünstige Denkungsart in the milk of human kindness1'3001. „Der Bube war des Vogts", wie Schiller sagt[301). Der Bürstenheimer Adjutant ward Adjutant von General Vogt, dessen Kriegsruhm nur unterblieben ist, weil Plon-Plon für die Aufgabe, die sein „Corps de Touristes"2 im italienischen Feldzug zu leisten hatte, den neapolitanischen Kapitän Ulloa (auch General by courtesy3) für schlecht genug hielt, seinen Parolles aber für das große Abenteuer mit „der verlorenen Trommel", das am Rhein spielen wird'3021, in Reserve hält. Im Jahre 1859 versetzte Vogt sein Ranickel aus dem Proletarierstand in den Bürgerstand, vermittelte ihm ein Geschäft (Kunstsachen, Buchbinderei, Schreibmaterialien) und verschaffte ihm obendrein die Klientel der Genfer Regierung. Der Bürstenheimer Adjutant ward Vogts „maid of all work"4, Cicisbeo, Hausfreund, Leporello, Vertrauter, Korrespondent, Austräger, Zuträger, namentlich aber auch, seit dem Sündenfall des feisten Jack1303', sein Aushorcher und bonapartistischer Werber unter den Arbeitern. Ein Schweizer Blatt zeigte vor einiger Zeit die Entdeckung einer dritten Igel-Spezies an, des Ran- oder Rhein-Igels, welcher die Natur des Hunds- und SchweinIgels verbinde und in einem Nest an der Arve, dem Landsitze von Humboldt-Vogt, gefunden worden sei. War dieser Ran-Igel gemünzt auf unser Ranickel? Notabene, der einzige Flüchtling in Genf, mit dem ich in Verbindung stand, Dr. Ernst Dronke, früher Mitredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung"[3041, jetzt Kaufmann zu Liverpool, verhielt sich gegensätzlich zur „ Bürstenheimerei". Den nachfolgenden Briefen von Imandt und Schily will ich nur noch vorherschicken, daß Imandt beim Ausbruch der Revolution die Universität verließ, um sich als Freischärler am Krieg in Schleswig-Holstein zu beteiligen. 1849 leiteten Schily und Imandt den Zeughaussturm von Prüm1305], von wo beide mit den erbeuteten Waffen und ihrer Mannschaft sich den Weg nach der Pfalz bahnten, um dort in die Reihen der Reichsverfassungsarmee einzutreten. Im Frühsommer 1852 aus der Schweiz verjagt, kamen sie nach London."
1 die Milch der Menschenliebe - 2 „Korps der Touristen" - 3 mit Verlaub gesagt 1 „Mädchen für alles"
„Dundee, 5. Februar 1860
Lieber Marx! Ich begreife nicht, wie Vogt Dich mit den Genfer Affären in Verbindung bringen kann. Es war in der dortigen Flüchtlingsschaft bekannt, daß von uns allen nur Drenke mit Dir in Verbindung stand. Die Schwefelbande existierte vor meiner Zeit, und der einzige dazugehörige Name, dessen ich mich erinnere, ist Borkheim. Die Bürstenheimer waren der Genfer Arbeiterverein. Der Name verdankt seinen Ursprung dem Abt. Der Verein war damals eine Pflanzschule des Willichschen Geheimbundes, in dem ich als Präses fungierte. Als Abt auf meinen Antrag vom Arbeiterverein, zu dem viele Flüchtlinge gehörten, als infam des Umgangs der Flüchtlinge und der Arbeiter unwürdig erklärt ward, veröffentlichte er kurz nachher ein Pasquill, worin er Schily und mich der absurdesten Verbrechen zieh. Daraufhin brachten wir die ganze Angelegenheit in einem andern Lokal und vor ganz andern Personen wieder vor. Zum Beweis der von ihm geschriebenen Verleumdungen aufgefordert, wies er unser Ansinnen ab, und ohne daß ich oder Schily nötig hatten, irgend etwas zu unsrer Verteidigung zu sagen, stellte Dentzer den Antrag, den Abt für einen infamen Verleumder zu erklären. Der Antrag ging zum zweiten Mal einstimmig durch, diesmal in einer Flüchtlingsversammlung, die fast ausschließlich aus Parlamentlern bestand. Es tut mir leid, daß meinBericht so äußerst dürftig ist, aber es ist das erste Mal seit 8 Jahren, daß ich wieder an den Dreck denke. Ich möchte nicht dazu verurteilt sein, darüber zu schreiben, und ich werde mich höchlichst wundem, wenn es Dir möglich sein wird, in eine solche Sauce Deine Hand zu stechen. Adieu Dein Imandt" Ein bekannter russischer Schriftsteller1, während seines Aufenthalts zu Genf mit Herrn Vogt sehr befreundet, schrieb mir im Sinne der Schlußzeilen des obigen Briefes:
„Paris, 10 Mai 1860
Mon eher Marx! J'ai appris avec la plus vive indignation les calomnies qui ont ete repandues sur votre compte et dont j'ai eu connaissance par un article de la,Revue contemporaine', sign£ Edouard Simon. Ce qui m'a particulierement etonn£ c'est que Vogt, que je ne croyais ni bete, ni m&hant, ait pu tomber dans l'abaissement moral que sa brochure r^vele. Je n'avais besoin d'aucun t£moignage pour etre assurä, que vous etiez incapable de basses et sales intrigues, et il m'a <5te d'autant plus penible de lire ces diffamations que dans le moment meme oü on les imprimait, vous donniez au monde savant la premi&re partie du beau travail qui doit renouveler la science &onomique et la fonder sur des nouvelles et plus solides bases... Mon eher Marx, ne vous occupez plus de toutes ces miseres; tous les hommes serieux, tous les hommes consciencieux sont pour vous, mais ils attendent de vous autre chose que des polemiques steriles; ils voudraient pouvoir
1 Nikolai Iwanowitsch Sasonow
etudier le plus tot possible la continuation de votre belle ceuvre. - Votre succes est immense parmi les hommes pensants et s'il vous peut etre agr&ble d'apprendre le retentissement que vos doctrines trouvent en Russie, je vous dirai qu'au commencement de cette ann& le professeur1 - a fait ä Moscovie un cours public d'&onomie politique dont la premiere le?on n'a pas ete autre chose que la paraphrase de votre recente publication. Je vous adresse un numero de la Gazette du Nord', oü vous verrez combien votre nom est estim£ dans mon pays. Adieu, mon eher Marx, conservez-vous en bonne sant£ et travaillez comme par le passe, ä eclairer le monde, sans vous pr^occuper des petites betises et des petites lächet&. Croyez ä l'amitie de votre devoue..." 8
Auch Szemere, der ungarische Exminister, schrieb mir: „Vaut-il la peine que vous vous occupiez de toutes ces bavardises?3" Warum ich trotz dieser und ähnlicher Abmahnungen meine Hand - um in Imandts Kraftsprache zu reden - in Vogts Sauce gesteckt habe, findet man in der Vorrede kurz angedeutet. Also zu den Bürstenheimern zurück. Den folgenden Brief Schilys drucke ich wörtlich ab, auch das nicht auf den „Hammel" Bezügliche. Jedoch habe ich die schon durch Borkheims Brief vorweggenommenen Mitteilungen
1 I.K. Babst 2 „Mein lieber Marx! Mit tiefster Entrüstung erfuhr ich von den Verleumdungen, die über Sie ausgestreut worden sind und von denen ich durch einen von Edouard Simon^306 1 gezeichneten Artikel in der ,Revue contemporaint Kenntnis erlangt habe. Was mich besonders verwundert hat, ist, daß Vogt, den ich weder für dumm noch für boshaft hielt, moralisch so tief sinken konnte, wie seine Broschüre es offenbart. Es bedurfte für mich keines Beweises, um überzeugt zu sein, daß Sie niedriger, schmutziger Intrigen nicht fähig sind, und es war mir um so peinlicher, diese Verleumdungen lesen zu müssen, als Sie in dem gleichen Augenblick, in dem sie gedruckt wurden, der gelehrten Welt den ersten Teil der ausgezeichneten Arbeitt307! schenkten, die die ökonomische Wissenschaft erneuern und sie auf neue, solidere Grundlagen stellen soll... Mein lieber Marx, geben Sie sich mit all diesen elenden Nichtigkeiten nicht mehr ab; alle ernsthaften Menschen, alle gewissenhaften Menschen sind für Sie, aber sie erwarten von Ihnen etwas anderes als unfruchtbare Auseinandersetzungen; sie möchten so bald wie möglich die Fortsetzung Ihres schönen Werkes studieren können. Ihr Erfolg bei den denkenden Menschen ist ungeheuer, und falls es Ihnen angenehm sein sollte, den Widerhall kennenzulernen, den Ihre Lehren in Rußland finden, so will ich Ihnen sagen, daß Professor ... zu Beginn dieses Jahres in Moskau eine Reihe öffentlicher Vorlesungen über politische Ökonomie gehalten hat, deren erste nichts anderes war als eine Wiedergabe Ihrer jüngsten Veröffentlichung. Ich übermittle Ihnen eine Nummer der ,Gazette du Nord', aus der Sie ersehen werden, welch hohe Wertschätzung Ihr Name in meiner Heimat genießt. Leben Sie wohl, lieber Marx, bleiben Sie gesund und arbeiten Sie wie bisher an der Aufklärung der Welt, ohne sich auf kleinliche Albernheiten und kleine Niederträchtigkeiten einzulassen. Seien Sie der Freundschaft versichert Ihres ergebenen..." 3 „Ist es der Mühe wert, daß Sie sich mit diesem Gewäsch befassen?"
über die Schwefelbande abgekürzt und andre Stellen für einen spätem Platz aufbewahrt, da ich „meinen angenehmen Gegenstand" einigermaßen artistisch behandeln muß und also nicht alle Geheimnisse auf einmal ausplaudern darf.
„Paris, den 8. Februar 1860 46, Rue Lafayette
Lieber Marx! Sehr angenehm war es mir, durch Dein Schreiben vom 31. v.M. ein direktes Lebenszeichen von Dir zu erhalten, und findest Du mich um so mehr bereit, Dir die verlangte Auskunft über die fraglichen Genfereien zu erteilen, als ich Dir proprio motu darüber schreiben wollte. Daß Vogt Dich, wie Du schreibst, mit Dir gänzlich Unbekannten zusammenwirft, war nämlich nicht nur meine, sondern auch Sämtlicher hiesigen Genfer Bekannten erste Betrachtung, als wir uns gelegentlich darüber besprachen, und so übernahm ich es denn zur Steuer der Wahrheit, Dir über .Bürstenheimer', .Schwefelbande' etc. das Geeignete mitzuteilen. Sonach wirst Du also begreifen, daß Deine beiden Fragen: , 1. Wer waren die Bürstenheimer, was trieben sie? 2. Wer war die Schwefelbande, aus welchen Elementen bestand sie, was trieb sie?' mir grade recht kamen. Zuerst muß ich Dir aber einen Verstoß gegen die chronologische Ordnung vorhalten, denn hiernach gebührt die Priorität der Schwefelbande. Wollte Vogt dem deutschen Philister den Teufel an die Wand malen oder gar mit Schwefel auf das Haupt brennen und sich gleichzeitig .einen Jux machen', so hätte er doch wahrlich teuflischere Gestalten zu Typen nehmen sollen ab jene harmlosen, fidelen Kneipgenies, die wir Senioren der Emigration in Genf scherzweise und ohne jeden unliebsamen Nebengedanken unter dem Namen Schwefelbande begriffen und die diese Bezeichnung ebenso arglos hinnahmen. Es waren heitre Musensöhne, die ihre examina und exercitia practica in den verschiednen süddeutschenPutschen, zuletzt in der Reichskampagne, absolviert hatten und sich nun für den erlittenen Durchfall mit ihren Examinatoren und Exerziermeistern im Roten in Genf für spätere Reassumption des Geschäfts stärkten... Namendich bleibt selbstredend von der Bande ausgeschlossen, wer entweder gar nicht oder erst nach ihrer Sprengung in Genf ankam. Dieselbe war nämlich reinste Lokal- und Tagesblüte (Schwefelblüte wäre also das Sublimat eigentlich zu nennen), jedoch, und wahrscheinlich wegen ihres revolutionsduftigen ,Rummeltipuff, von zu starkem Geruch für die eidgenössischen Bundesnerven, denn: Druey blies und die Blume flog nach allen Winden. Erst geraume Zeit nachher kam Abt, und mehrere Jahre später Cherval, nach Genf, wo sie dufteten ,Ein jegliches nach seiner Art', aber beileibe nicht, wie Vogt behauptet, in jenem längst zerrissenen, längst verdufteten, längst vergessenen Bukett. Das Treiben der Bande resümiert sich so ziemlich in den Worten: Arbeiten im Weinberg des Herrn. Daneben betrieben sie die Redaktion des .Rummeltipuff mit dem Motto: .Bleibe im Lande und nähre Dich rötlich', worin sie sich mit Geist und Humor über Gott und die Welt lustig machten, falsche Propheten signalisierten. Parlamenter geißel
ten (inde irae1), dabei sich und uns, die Hospitanten, auch nicht schonten, sondern alle und alles, Freund und Feind mit anerkennenswerter Gewissenhaftigkeit und Unparteilichkeit karikierten. Daß sie mit Dir in keiner Verbindung standen, daß sie Deinen Bundschuh nicht trugen '308' , brauche ich Dir nicht zu sagen. Das kann ich Dir aber auch nicht verhehlen, daß diese Fußbekleidung nicht nach ihrem Geschmack gewesen sein würde. Landsknechte der Revolution, schlenderten sie einstweilen im Pantoffel des Waffenstillstands herum, bis jene sie wieder reaktivieren und sie mit ihrem eignen Kothurn (Meilenstiefel des entschiedenen Fortschritts) reequipieren würde; und der wäre ihnen übel angekommen, der ihnen die siesta mit Marxscher Staatsökonomie, mit Arbeiterdiktatur etc. hätte beeinträchtigen wollen. Du lieber Gottl Die Arbeit, die die taten, erheischte höchstens einen Kneippräses, und ihre ökonomischen Studien drehten sich um den pot und dessen rötliche Füllung. ,Das Recht der Arbeit', meinte einmal Hospitant Backfisch, ein ehrsamer Hufschmied aus dem Odenwalde, ,sei schon ganz recht, aber mit der Pflicht zur Arbeit solle man ihm vom Leibe bleiben.'... Lassen wir also den so freventlicherweise gelüfteten Grabstein der Schwefelbande wieder zurückfallen. Ein Hafis müßte eigentlich zur Bannung jeder weiteren Grabesschändung der Bande das Requiescat in pace2 singen. Mangels dessen empfange sie hiermit pro viatico et epitaphio9 den Nachruf: ,Sie alle haben Pulver gerochen', während ihr sakrileger Historiograph es nur bis zur Schwefelriecherei gebracht hat. Die Bürstenheimer tauchten erst auf, als die Schwefelbanditen nur mehr in der Sage, in den Registern Genfer Philister und in den Herzen Genfer Schönen, traditionell fortlebten. Bürsten- und Buchbinder Sauernheimer, Kamm, Ranickel etc. gerieten in Streit mit Abt; für jene lebhaft Partei ergreifend, wurden Imandt, ich und andre auch von diesem angefeindet. Abt wurde demnach in einer Generalversammlung, zu welcher Flüchtlingsschaft und Arbeiterverein als cour des pairs4, resp. als haute cour de justice' zusammengetreten waren, vorgeladen, wo er denn auch erschien und seine gegen diesen und jenen geschleuderten Anschuldigungen nicht nur nicht aufrechterhielt, sondern unumwunden erklärte, selbige rein aus der Luft gegriffen zu haben, als Repressalien gegen die aus demselben Element konstituierten Beschuldigungen seiner Gegner: ,Wurst wider Warst, Repressalien halten die Welt zusammen!' meinte er. Nachdem er nun dieses Wurstsystem wacker durchplädiert und hohe Pairs von dessen praktischem Werte gründlich überzeugt hatte und hierauf betreffs der gegen ihn gerichteten Anklagen Beweise beigebracht worden, wurde er der böswilligen Verleumdung geständig, der ihm sonst imputierten Missetaten überführt erklärt und demnach in Acht und Bann getan. En revanche6 nannte er nun die hohen Pairs, ursprünglich nur die obengesagten Zunftgenossen, .Bürstenheimer', wie Du siehst, eine glückliche Kombination aus Namen und Stand des Erstgenannten derselben, den Du also als Ahnherrn derer von Bürstenheim zu verehren hast, ohne Dich jedoch diesem Geschlechte, möge es nun die Zunft oder die Pairie7 in sich begreifen, ein- oder auch nur
1 daher der Zorn - 2 Sie ruhe in Frieden -3 als letzte Ölung und Grabschrift - 4 Adelsgericht - 5 Obergerichtshof - 8 Aus Rache - 7 den Adelsstand
anreihen zu dürfen; denn wisie, daß diejenigen unter ihnen, welche sich mit »Organisation der Revolution' beschäftigten, et nicht als Deine Anhänger, sondern als Deine Gegner taten; indem sie Willich alt ihren Gott-Vater oder doch als ihren Papst verehrten, Dich aber als ihren Antichriit oder Gegenpapst verketzerten, so daß Dronke, der als Dein einziger Anhänger und legatus a latere1 im Diözesansitz Genf galt, von allen Konzilien, mit Ausnahme der önologischen, wo er primus inter pares2 war, femgehalten wurde. Aber auch die Büretenheimerei war wie die Schwefelbande reinste Ephemeride und zerstob vor dem gewaltigen Odem Drueys. Daß nun ein Schüler Agassiz' sich in diese Genfer Emigrations-Fossilien verrennen und so fabelhafte Naturhistörchen wie die in seiner Broschüre aufgetischten daraus zutage fördern konnte, muß in bezug auf die species Bürstenheimerana um so mehr verwundem, als er grade hiervon ein Prachtspecimen in Gestalt eines Mastodon aus der Ordnung der Wiederkäuer in der Person des Ur-Bürstenheimers Ranickel in seinem zoologischen Kabinett zur Verfügung hat. Die Rumination scheint also nicht richtig vor sich gegangen oder nicht richtig von besagtem Schüler studiert worden zu sein... Da hast Du nun alles, was Du verlangt hast, et au delä Nun möchte ich aber auch etwas von Dir verlangen, nimlich Deine Meinung über Einführung einer Erbquote pro patria, vulgo4 den Staat, als Hauptfinanzquelle, unter Beseitigung der auf den unbemittelten Klassen lastenden Steuern und natürlich nur gegen bedeutende Sukzessionen gerichtet... Neben dieser Erbquote beschäftigen mich noch zwei deutsche Institute: .Zusammenlegung der Grundstücke' und .Hypothekenversicherung', die ich hierzulande zum Verständnis bringen möchte, woran es durchaus fehlt, wie denn überhaupt die Franzosen, mit wenigen Ausnahmen, jenseits des Rheins nur Nebulosen und Sauerkraut sehen. Eine Ausnahme machte vor einiger Zeit das ,Unioen, als es, über die Zerstückelung des Grundeigentums über die Gebühr lamentierend, richtig hinzufügte: ,11 serait desirable qu'on appliquät imm&liatement Ies remedes £nergiques, dont une partie de l'Allemagne s'est servie avec avantage: le remaniement obligatoire des propri£t& partout oü Ies 7/10 des proprietaires d'une commune reclament cette mesure. La nouvelle r£partition facilitera le drainage, I'irrigation, la culture rationelle et la voirie des propri£tes*5 Darauf kommt nun das ,SiecIe, schon im allgemeinen etwas kurzsichtig, in Betrachtung deutscher Zustände im besondren aber total starmätzig, vermöge seines selbstgefällig, a la Diogenes mit dem durchlöcherten Kleide, zur Schau getragenen Chauvinismus, welches Mus es tagtäglich seinen Abonnenten als Patriotismus aufwärmt; selbiger Chauvin nun, nachdem er dem JJnivm, seiner bete noires,den obligaten Morgengruß gebracht: .Proprietaires ruraux, suivez ce conseil! Empressez
1 Kardinal - Beauftragter *-* der Erste unter Gleichen - * und noch etwas mehr - 4 für das Vaterland, mit anderen Worten - ' .Es wäre zu wünschen, daß sofort wirksame Mittel angewendet werden, wie man sich ihrer in einem Teile Deutschlands mit Erfolg bedient hat: die zwangsweise Neuordnung der Grundstücke überall da, wo 7-/io der Grundeigentümer einer Gemeinde diese Maßnahme verlangen. Die Neuverteilung wird die Entwässerung, die Bewässerung, den rationellen Ackerbau und die Anlage von Wegen auf den Grundstücken erleichtern.' - * seinem schwarzen Mann
vous de r£clamer le remaniement obligatoire des propri&es; dipotdllez les petits au Profit des grands. O fortunatos nimium agricolas - trop heureux habitants des campagnes - Sua si bona -s'ils connaissaient l'avantage ä remanier obligatoirement lapropriete.1 Als wenn bei einer Abstimmung der Eigentümer nach Köpfen die großen über die kleinen prävalierten. Im übrigen lasse ich Gottes Wasser über Gottes Land laufen, gebe dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist, respektive selbst ,des Teufels Anteil', und verbleibe somit in alter Freundschaft Dein Schily"
Aus den bisherigen Mitteilungen folgt, daß, wenn zu Genf 1849/1850 eine „Schwefelbande", 1851/1852 „Bürstenheimer" existierten, zwei Gesellschaften, die nichts miteinander und nichts mit mir gemein hatten, dagegen die von unserm Parlamentsclown enthüllte Existenz der „Schwefelbände oder Bürstenheimer" Stoff von seinem Stoff ist, eine Lüge auf der 4ten Potenz, „bergdick wie der Vater, der sie gebar". Man denke sich einen Historiker, der die Schamlosigkeit hätte zu berichten: Zur Zeit der ersten französischen Revolution war eine Anzahl Leute bekannt unter dem Namen des „Cercle social"13091 oder auch unter dem nicht weniger charakteristischen der „Jakobiner". Was nun Leben und Taten seiner von ihm komponierten „Schwefelbande oder Bürstenheimer" betrifft, vermied unser -Bruder Lustick allen Aufwand an Produktionskosten. Ich will ein einziges Beispiel anführen:
„Eine der Hauptbeschäftigungen der Schwefelbande", erzählt der Abgerundete seinem erstaunten Philisterpublikum, „war, Leute im Vaterlande so zu kompromittieren, daß sie den Ausbeutungsversuchen nicht mehr widerstehen und Geld zahlen mußten" (auch eine schöne Gegend, „sie maßten den Ausbeutungsversuchen nicht mehr widerstehen"), „damit die Bande das Geheimnis ihrer Kompromittierung bewahre. Nicht einer. Hunderte von Briefen sind von diesen Menschen" (nämlich den Vogtschen homunculis) „nach Deutschland geschrieben worden, welche die unverhüllte Losung enthielten, daß man die Beteiligung an diesem oder an jenem Akte der Revolution denunzieren werde, wenn nicht bis zu einem gewissen Zeitpunkte eine gewisse Summe an eine bezeichnete Adresse gelange." (p. 139 des „Hauptbuchs".)
Warum ließ Vogt nicht „einen" dieser Briefe drucken? Weil die „Schwefelbande" „Hunderte" schrieb. Wären Drohbriefe so wohlfeil wie Brom
1 .Ländliche Eigentümer, folgt diesem Rat! Beeilt euch, die zwangsweise Neuordnung der Grundstücke zu fordern; plündert die Kleinen zum Vorteil der Großen aus. O fortunatos nimium agricolas - o ihr allzu glücklichen Landbewohner - Sua si bona - wenn sie wüßten, wie vorteilhaft es ist, das Grundeigentum zwangsweise neu zu ordnenl*
beerenl3101, Vogt würde schwören, daß wir keinen Drohbrief haben sollen. Wenn morgen vor ein Ehrengericht des Grütlivereinst311) geladen, um Aufschluß über die „Hunderte" von „Drohbriefen" zu geben, würde er statt eines Briefes eine Weinflasche aus dem Gürtel ziehen, die Zunge schnalzen, ein Schnippchen schlagen und unter baucherschütternder SilenusLache mit seinem Abt ausrufen: „Wurst wider Wurst, Repressalien halten die Welt zusammen."
III. Polizistisches
„Welch" Neues Unerhörtes hat der Vogt Sich ausgesonnen!" (Schiller
„Ich spreche es unverhohlen aus", spricht Vogt und wirft sich in seine ernsthafteste Schalksnarrenpositur, „ich spreche es unverhohlen aus: Jeder, der sich mit Marx und seinen Genossen in irgendeiner Weise in politische Umtriebe einläßt, fällt früher oder später der Polizei in die Hände; diese Umtriebe sind von Anfang an der geheimen Polizei verraten, bekannt und werden von dieser ausgebrütet" (die Umtriebe, scheint es, sind Eier, und die Polizei ist die Gluckhenne, die sie ausbrütet), „sobald es Zeit scheint. Die Anstifter Marx u. Co. sitzen natürlich unerreichbar in London" (während die Polizei auf den Eiern sitzt). „Um Belege dieser Behauptung bin ich nicht verlegen." (S. 166, 167 des „Hauptbuchs".) Vogt ist nicht „verlegen", Falstaff war nie „verlegen". „Verlogen", soviel ihr wollt, aber „verlegen"? Also deine „Belege", Jack, deine „Belege".13131
1. Selbstgeständnis
„Marx sagt selbst in seiner 1853 veröffentlichten Broschüre ,Enthüllungen über dm Kommunistenprozeß in Köln S. 77: ,Der proletarischen Partei stand nach 1849 wie vor 1848 nur ein Weg offen - der Weg der geheimen Verbindung. Seit 1849 [entstanden] daher auf dem Kontinente eine ganze Reihe geheimer proletarischer Verbindungen, von der Polizei entdeckt, von den Gerichten verdammt, von den Gefängnissen durchbrochen, von den Verhältnissen stets wieder neu hergestellt.' Euphemistisch" (sagt Vogt) „nennt »ich Marx hier ein .Verhältnis'." (S. 167 des „Hauptbuchs".) Marx also sagt, „die Polizei habe seit 1849 eine ganze Reihe geheimer Verbindungen entdeckt", die die Verhältnisse wiederhergestellt hätten. Vogt sagt, Marx, nicht die „Verhältnisse", habe die „geheimen Verbindungen wiederhergestellt". Also hat Vogt den Beleg geliefert, daß, sooft Badinguets Polizei die Marianne13141 entdeckte, Marx sie im Einverständnis mit Pietri wieder zusammenwob.
„Marx sagt selbst!" Ich will nun im Zusammenhang zitieren, was Marx selbst sagt: „Seit der Niederlage der Revolution von 1848/49 verlor die proletarische Partei auf dem Kontinent, was sie während jener kurzen Epoche ausnahmsweise besaß -.Presse, Redefreiheit und Assoziationsrecht, d. h. die legalen Mittel der Partei-Organisation. Die bürgerlich-liberale wie die kleinbürgerlichdemokratische Partei fanden in der sozialen Stellung der Klassen, die sie vertreten, trotz der Reaktion die Bedingungen, unter der einen oder der andern Form zusammenzuhalten und ihre Gemeininteressen mehr oder minder geltend zu machen. Der proletarischenPartei stand nach 1849 wie vor 1848 nur ein Weg offen, der Weg der geheimen Verbindung. Seit 1849 [entstanden] daher auf dem Kontinent eine ganze Reihe geheimer proletarischer Verbindungen, von der Polizei entdeckt, von den Gerichten verdammt, von den Gefängnissen durchbrochen, von den Verhältnissen stets wieder neu hergestellt. Ein Teil dieser geheimen Gesellschaften bezweckte direkt den Umsturz der bestehenden Staatsmacht. Es war dies berechtigt in Frankreich... Ein andrer Teil der geheimen Gesellschaften bezweckte die Parteibildung des Proletariats, ohne sich um die bestehenden Regierungen zu kümmern. Es war dies notwendig in Ländern wie Deutschland... Kein Zweifel, daß auch hier die Mitglieder der proletarischen Partei an einer Revolution gegen den Status quo sich von neuem beteiligen würden, aber es gehörte nicht zu ihrer Aufgabe, diese Revolution vorzubereiten, für sie zu agitieren, zu konspirieren, zu komplottieren... Der ,Bund der Kommunisten'[31SI war daher keine konspiratorische Gesellschaft..." (S. 62, 63 „Enthüllungen etc.", Bostoner Ausgabe.)13161. Aber auch die bloße „Propaganda" stempelt der grausame Land-Vogt zum Verbrechen, natürlich mit Ausnahme der von Pietri und Laity geleiteten Propaganda. „Agitieren, Konspirieren, Komplottieren" sogar erlaubt der Land-Vogt, aber nur wenn ihr Zentralsitz im Palais Royal[3171, bei Herzens-Heinz, Heliogabal Plon-Plon. Aber „Propaganda" unter den Proletariern! Pfui doch! In den „Enthüllungen" fahre ich nach der oben zitierten und von Instruktionsrichter Vogt so sinnvoll verstümmelten Stelle fort wie folgt: „Eis versteht sich, daß eine solche geheime Gesellschaft" (wie der Bund der Kommunisten) „[...] wenig Reiz haben konnte für Individuen, die einerseits ihre persönliche Unbedeutendheit unter dem Theatermantel von Konspirationen aufspreizen, andrerseits ihren bornierten Ehrgeiz am Tage der nächsten Revolution befriedigen, vor allem aber augenblicklich wichtig scheinen, an der Beute der Demagogie teilnehmen und von den demo
kratischen Marktschreiern bewillkommt sein wollten. Von dem Bunde der Kommunisten sonderte sich daher eine Fraktion ab oder wurde eine Fraktion abgesondert, wie man will, die, wenn auch nicht wirkliche Konspirationen, doch den Schein der Konspiration und daher direkte Allianz mit den demokratischen Tageshelden verlangte - die Fraktion Willich-Schapper. Charakteristisch für sie, daß Willich mit und neben Kinkel als entrepreneur1 des deutsch-amerikanischen Revolutions-Anleihe-Geschäfts figuriert." (S. 63, 642) [318 ]_ Und wie übersetzt Vogt diese Stelle in sein „euphemistisches" PolizeiKauderwelsch? Man höre:
„Solange beide (Parteien) noch gemeinsam wirkten, arbeiteten sie, wie Marx ja selbst sagt, in Stiftung geheimer Gesellschaften und Kompromittiening von Gesellschaften und von einzelnen auf dem Festlande." (S. 171.)
Nur vergißt der feiste Schlingel das Blatt der „Enthüllungen' zu zitieren, wo Marx dies „ja selbst sagt". „Egli b bugiardo e padre di menzogna."3
2. Revolutionstag von Mwrten
„Karl der Kühne", der „kühne Karl", vulgo Karl Vogt, liefert anjetzt die Niederlage bei Murten. „Arbeiter und Flüchtlinge in großer Zahl wurden so weit beschwatzt und bearbeitet" - nämlich von Liebknecht-, „daß endlich [...] ein Revolutionstag nach Murten ausgeschrieben wurde. Dorthin sollten sich heimlich die Delegierten der Zweigvereine begeben, dort wollte man beraten über die letzte Organisation des Bundes und über den definitiven Zeitpunkt der Schilderhebung. Alle Vorbereitungen waren höchst geheimgehalten worden, die Zusammenrufungen nur durch Vertraute des Herrn Liebknecht und durch Korrespondenten desselben besorgt worden. Die Delegierten kamen von allen Seiten in Murten zusammen, zu Fuß, zu Schiff und zu Wagen, und wurden augenblicklich von Gensd'armen in Empfang genommen, die zum voraus wußten, was, woher und auf welche Weise. Die ganze auf diese Weise aufgehobene Gesellschaft wurde eine Zeitlang im Augustinerkloster in Freiburg eingesperrt und dann nach England und Amerika transportiert. Herr Liebknecht wurde mit ganz besondrer Rücksicht behandelt." (S. 168, „Hauptbuch".) „Herr Liebknecht" hatte Struves Septemberputsch von 1848 mitgemacht, saß dann in badischen Gefängnissen bis nach Mitte Mai 1849,
1 Unternehmer - 2 vgl. Band 8 unserer Ausgabe, S. 461 - 3 „Er sei voll Trug und aller Lügen Vater."0163
kam frei infolge der badischen Militärinsurrektion, trat als Gemeiner in die badische Volks-Artillerie, wurde von Vogts Freund Brentano wieder als Rebeller in die Kasematten von Rastatt geworfen, schloß sich nach abermaliger Befreiung, während der Reichsverfassungskampagne, an die von Johann Philipp Becker kommandierte Truppendivision an und überschritt schließlich mit Struve, Cohnheim, Korn und Rosenblum die französische Grenze, von wo sie sich nach der Schweiz begaben. Mir waren „Herr Liebknecht" und seine Schweizer „Revolutionstage" damals noch unbekannter als die Kneiptage bei Wirt Benz in der Keßlerstraße zu Bern, wo die Tafelrunde der Parlamentler die von ihnen selbst in der Paulskirche[320] gehaltenen Reden sich noch einmal mit vielem Vergnügen vorschnurrten, die künftigen Reichsposten numeriert untereinander verteilten und sich die harte Nacht des Exils verkürzen ließen durch die Lügen, Schwänke, Zoten und Aufschneidereien Karls des Kühnen, der nicht ohne Anflug von Humor und mit Anspielung auf eine altdeutsche Märe sich damals eigenhändig das Patent als „Reichs-WeinSchwelg" ausstellte. Das „Mär" beginnt mit den Worten: „Swaz ich trinken's han gesehen, Den dühten becher gar entwiht daz ist gar von landen geschehen: er wolde näpf noch kophe niht. ich hän einen swelch gesehen, er tranc üz grözen kannen. dem wil ich meisterschefte jehen. er ist vor allen mannen ein vorlaut allen swelhen von uren und von elhen wart solcher slünd nie niht getan."1'311'
Doch zurück zum „Revolutionstag" von Murten. „Revolutionstag"! „Letzte Organisation des Bundes"! „Zeitpunkt der Schilderhebung"! „Höchst geheimgehaltene Vorbereitungen"! „Ganz geheime Zusammenkunft von allen Seiten zu Fuß, zu Schiff, zu Wagen." Der „kühne Karl" hat offenbar nicht umsonst die in meinen „Enthüllungen" bloßgelegte Methode Stieber studiert.
1 „Was ich an Trinken hab' gesehen, ist Kinderspiel, kann nicht bestehen vor einem Schwelger, den ich getroffen; der hat wohl meisterlich gesoffen.
Ihn dünkten Becher nicht genug, er mochte weder Napf noch Krug, er trank aus großen Kannen. Er hob von allen Mannen den größten aller Kelche. Selbst Wisente und Elche haben solche Schlucke nie getan."
Der Tatbestand ist einfach der: Liebknecht war _ Anfang 1850 - Präsident des Genfer Arbeitervereins. Er schlug eine Verbindung unter den damals ganz zusammenhangslosen deutschen Arbeitervereinen in der Schweiz vor. Der Antrag ging durch. Es ward darauf beschlossen, an 24 verschiedene Arbeitervereine ein Sendschreiben zu erlassen, das sie nach Murten einlud, um dort die bezweckte Organisation und die Begründung eines gemeinschaftlichen Organs in der Presse zu besprechen. Die Debatten im Genfer Arbeiterverein, das Sendschreiben, die darauf bezüglichen Diskussionen in den 24 andern Arbeitervereinen - alles wurde öffentlich verhandelt und der Kongreß von Murten öffentlich anberaumt. Wollten die Schweizer Behörden ihn verbieten, so konnte das 4 Wochen vor seiner Abhaltung geschehen. Aber ein polizeilicher Theatercoup lag im Plane des liberalen Herrn Druey, der suchte, wen er verschlinge, zur Beschwichtigung der damals drohenden Heiligen Allianz. Liebknecht, der als Präsident des Arbeitervereins den Aufruf zum Kongreß unterschrieben hatte, genoß die Ehren eines Haupträdelsführers. Von den andern Delegierten getrennt, erhielt er freies Logis auf dem obersten Erker des Turmes von Freiburg, erfreute sich einer weiten Aussicht ins Freie und besaß sogar das Privilegium, täglich eine Stunde auf der Turmzinne zu lustwandeln. Das einzig Originelle an seiner Behandlung war die Isolierhaft. Sein wiederholtes Gesuch, mit den andern zusammengesperrt zu werden, ward wiederholt abgeschlagen. Vogt aber weiß, daß die Polizei ihre „moutons"1 nicht isoliert, vielmehr als „angenehme Gesellschafter" unter das gros mischt. Zwei Monate später .wurde Liebknecht mit einem gewissen Gebert vom Freiburger Polizeidirektor nach Besan<;on spediert, wo er, wie sein Bundesgenosse, einen französischen Zwangspaß nach London erhielt mit der Warnung, wenn sie von der vorgeschriebenen Route abwichen, würde man sie nach Algier transportieren. Infolge dieser unvorhergesehenen Reise verlor Liebknecht den größten Teil seiner zu Genf befindlichen Effekten. Übrigens ist den Herren Castella, Schaller und den übrigen damaligen Freiburger Regierungsmitgliedern die Bemerkung geschuldet, daß Liebknecht nicht minder als alle Murtener Gefangenen durchaus human behandelt wurde. Jene Herren erinnerten sich, daß sie selbst noch vor wenigen Jahren gefangen oder flüchtig waren, und erklärten offen ihren Abscheu vor dem ihnen von Großkophta13221 Druey auferlegten Schergendienst. Die gefangenen Flüchtlinge wurden nicht so behandelt, wie es die flüchtigen „Parlamentier" erwartet hatten. Ein noch in der Schweiz befindlicher
1 „Spione"
Bursche, ein gewisser H., ein Genosse der Parlamentler, fand sich daher gemüßigt, ein Pamphlet zu veröffentlichen, worin er die Gefangenen im allgemeinen und den gefangenen Liebknecht im besondren denunzierte wegen „revolutionärer" Ideen jenseits der Grenzen der parlamentarischen Vernunft. Und „Karl der Kühne" scheint noch immer untröstlich über die „ganz besondre Rücksicht", womit Liebknecht behandelt wurde. Plagiarismus charakterisiert unsern „Kühnen" in seiner gesamten Buchmacherei. So hier. Die Schweizer Liberalen pflegten nämlich ihre Ausweisungsfußtritte unabänderlich durch die Nachrede der moucharderie gegen ihre Opfer zu „liberalisieren". Nachdem Fazy den Struve ausgewiesen hatte, denunzierte er ihn öffentlich als einen „russischen Spion". So Druey den Boichot als französischen mouchard. Ähnlich Tourte contra Schily, nachdem er letztern plötzlich auf der Straße in Genf hatte aufgreifen lassen, um ihn nach der Tour des Prisons1 zu Bern zu spedieren. „Le commissaire maire feddral Monsieur Kern exige votre expulsion"2, erwiderte der großmächtige Tourte auf Schilys Frage nach der Ursache der gegen ihn verübten Brutalität. Schily. „Alors mettez-moi en pr£sence de Monsieur Kern."3 Tourte: „Non, nous ne voulons pas que M. le commissaire f£d£ral fasse la police & Gen^ve."4 Die Logik dieser Antwort war ganz des Scharfsinns würdig, womit ebenderselbe Tourte, als Schweizer Gesandter zu Turin, zur Zeit, wo die Abtretung Savoyens und Nizzas bereits fait accompli war, seinem Bundespräsidenten schrieb, Cavour arbeite mit Hand und Fuß gegen diese Abtretung. Doch hatten vielleicht damals gewisse diplomatische Eisenbahnverhältnisse Tourtes normales Maß von Scharfsinn beabbrucht. Kaum saß Schily im härtesten secret5 zu Bern, als Tourte seine Polizeibrutalität zu „liberalisieren" begann, indem er deutschen Flüchtlingen, z. B. dem Dr. Fink, ins Ohr raunte: „Schily habe mit Kern in geheimer Verbindung gestanden, ihm Flüchtlinge zu Genf denunziert etc." Der „Independant" von Genfcve[323) zählte damals selbst unter die notorischen Sünden der Genfer Regierung „die zur Staatsmaxime erhobene systematische Verleumdung der Flüchtlinge". (Siehe Beilage 1.) Gleich auf die ersten Reklamationen der deutschen Polizei verletzte der Schweizer Liberalismus das Asylrecht - und er hatte das Asylrecht unter der Bedingung zugesagt, daß der Rest der Revolutionsarmee keine letzte
1 dem Gefängnisturm - 2 „Der kommissarische eidgenössische Bürgermeister Herr Kern verlangt Ihre Ausweisung" - s „Dann stellen Sie mich Herrn Kern gegenüber." - 4 „Nein, wir wollen nicht, daß der eidgenössische Kommissar in Genf Polizei spielt." - 5 Einzelgewahrsam
Schlacht auf badischem Boden schlüge - durch Verjagung der sogenannten „Führer". Später kamen die „Verführten" an die Reihe. Tausende von badischen Soldaten erhielten unter falschen Vorspiegelungen Pässe in ihre Heimat, wo sie sofort von Gensd'armen in Empfang genommen wurden, die zum voraus wußten, „was, woher und auf welche.Weise". Dann kamen die Drohungen der Heiligen Allianz, und mit ihnen die Murtener Polizeifarce. Indes wagte der „liberale" Bundesrat[324) nicht so weit zu gehn als der „kühne Karl". Nichts von „Revolutionstag", „letzter Organisation des Bundes", „definitivem Zeitpunkt der Schilderhebung". Die Untersuchung, die man anstandshalber hatte einleiten müssen, war ins Blaue verpufft. „Kriegsdrohungen " des Auslands und „politisch-propagandistische Tendenzen", das war alles, was der „verlegene" Bundesrat in einem offiziellen Aktenstück zu seiner Entschuldigung stotterte. (S. Beilage 2.) Die polizeilichen Großtaten des „Schweizer Liberalismus" erreichten keineswegs ihr Ende mit dem „Revolutionstag von Murten". Am25. Januar 1851 schrieb mir mein Freund Wilhelm Wolff (der „Parlaments-Wolf", wie ihn die „Parlaments-Schafe" tauften) von Zürich:
„Der Bundesrat hat durch seine bisherigen Maßregelungen die Zahl der Flüchtlinge von 11 000 bis auf 500 herabgebracht, und er wird nicht ruhen, bis vollends alle hinausdrangsaliert sind, die nicht grade ansehnliches Vermögen oder besondere Konnexionen besitzen." Die Flüchtlinge, die für die Revolution gehandelt hatten, standen im natürlichsten Gegensatz zu den Paulskirchnern, die sie zu Tode geschwatzt hatten. Letztere nahmen keinen Anstand, ihre Gegner der Schweizer Polizei in die Hände zu spielen. Vogts Getreuer, das Ungetüm Ranickel, schrieb selbst an Schily, nach dessen Ankunft zu London:
„Versuchen Sie doch, einige Spalten in einem belgischen Journal zu Erklärungen offen zu haben, und versäumen Sie ja nicht, den schlechten deutschen Hunden (Parlamentlem), die sich zu Werkzeugen dem kröpfigenDiplomaten (Druey) verkauft haben, den Aufenthalt in Amerika zu verbittern."
Man versteht jetzt, was „Karl der Kühne" meint mit der Phrase:
„Ich arbeitete aus allen Kräften dahin, die Revolutionsbummelei zu beschränken und den Flüchtlingen ein Unterkommen, sei es auf dem Kontinente, sei es über dem Meer zu verschaffen." Man liest schon in No. 257 der „Neuen Rheinischen Zeitung" unter dem Datum:
„Heidelberg, 23. März 1849: Unser Freund Vogt, .Vorkämpfer der Linken, Reichshumorist der Gegenwart, Reichsbarrot der Zukunft, der .treue Warner' vor der Revolution, er vereinigt sich mit - einigen Gesinnungsgenossen? nicht doch! mit einigen Reaktionärs vom reinsten Wasser ... und zu welchem Zwecke? Um die .Gestalten', welche sich in Straßburg, Besanfon und sonstwo an der deutschen Grenze aufhalten, nach Amerika zu befördern, respektive zu deportieren... Was Cavaignacs Säbelregiment als Strafe verhängt, das wollen diese Herren im Namen der christlichen Liebe... Die Amnestie ist tot, es lebe die Deportation! Natürlich durfte dabei die pia fraus1 nicht fehlen, als hätten die Flüchtlinge selbst den Wunsch nach Auswanderung ausgesprochen usw. Nun aber wird den Seeblättern aus Straßburg geschrieben, daß diese Deportationsgelüste unter allen Flüchtlingen einen wahren Sturm des Unwillens hervorriefen usw. [...] Sie hoffen sämtlich, bald nach Deutschland zurückzukehren, und wäre es auf die Gefahr hin (wie Herr Vogt so rührend bemerkt), einem .tollkühnen Unternehmen' sich anschließen zu müssen."
Doch genug über „Karls des Kühnen" Revolutionstag von Murten.
3. Cherval
„The virtue of this jest will be the incomprehensible lies that this same fat rogue will teil us." „Das beste an diesem Schwank werden die überschwenglichen Lügen sein, die der besagte fette Schuft uns erzählen wird."'325' In meinen „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln" handelt ein eignes Kapitel vom Komplott ChervalS3261 Ich zeige darin nach, wie Stieber mit Cherval (Pseudonym für Crämer) als Instrument, mit Carlier, Greif und Fleury als Geburtshelfern, das sog. deutsch-französische Septemberkomplott in Paris zur Welt brachte*, um dem vom „Kölner AnklageSenat" gerügten Mangel an „objektivem Tatbestand" für die Anklage gegen die Kölner Verhafteten abzuhelfen. So schlagend waren die Beweise, die ich während des Kölner Pro
* Erst nach dem Druck der „Enthüllungen" erfuhr ich, daß de la Hodde (unter dem Namen Duprez) sowie die preußischen Polizeiagenten Beckmann (damals Korrespondent der „Kölnischen Zeitung"t327') und Sommer mitgearbeitet hatten.
1 der fromme Betrug
zesses13281 der Verteidigung lieferte über die gänzliche Zusammenhangslosigkeit zwischen Cherval einerseits, mir und den Kölner Angeklagten andrerseits, daß derselbe Stieber, der uns noch am 18. Oktober (1852) seinen Cherval aufgeschworen hatte, ihn am 23. Oktober 1852 (p. 29 der „Enthüllungen"1) schon wieder abschwor. In die Enge getrieben, gab er den Versuch auf, Cherval und sein Komplott mit uns zu identifizieren. Stieber war Stieber, aber Stieber war immar noch nicht Vogt. Ich halte es für gänzlich nutzlos, die von mir in den „Enthüllungen" gegebenen Aufschlüsse über du sogenannte Septemberkomplott hier zu wiederholen. Anfang Mai 1852 kehrte Cherval nach London zurück, von wo er im Frühsommer 1850 aus geschäftlichen Gründen nach Paris übersiedelt war. Die Pariser Polizei ließ ihn entspringen wenige Monate nach seiner Verurteilung im Februar 1852. Zu London ward er zunächst von dem deutschen Arbeiterbildungsverein, aus dem ich und meine Freunde bereits seit Mitte September 1850 ausgetreten waren[3291, als politischer Märtyrer begrüßt. Jedoch dauerte diese Täuschung nicht lange. Seine Pariser Heldentaten klärten sich bald auf, und noch im Laufe desselben Monats Mai 1852 stieß man ihn in öffentlicher Sitzung als infam aus dem Verein aus. Die Kölner Angeklagten, eingekerkert seit Anfang Mai 1851, saßen noch immer in Untersuchungshaft. Aus einer Notiz, die der Spion Beckmann in sein Organ, die „Kölnische Zeitung", von Paris gesandt hatte, ersah ich, daß die preußische Polizei einen Zusammenhang zwischen Cherval, seinem Komplott und den Kölner Angeklagten nachträglich zu schmieden suche. Ich schaute daher nach Notizen über Cherval um. Es traf sich, daß letzterer im Juli 1852 Herrn von R.2, ehemaligem Minister unter Louis-Philippe und bekanntem eklektischen Philosophen, sich als Agent für die Orleanisten anbot. Die Verbindungen, die Herr v. R. mit der Polizeipräfektur in Paris unterhielt, befähigten ihn, von dort Auszüge aus dem dossier Cherval zu erhalten. In dem französischen Polizeiberichte wurde Cherval bezeichnet als Cherval nomme Frank, dont le veritable nom est Crämer3. Er habe längere Zeit als Agent des Fürsten Hatzfeldt, des preußischen Gesandten zu Paris, funktioniert; er sei der Verräter im complot franco-allemand4 und jetzt zugleich französischer Spion usw. Während der Kölner Prozeßverhandlungen teilte ich diese Notizen einem der Verteidiger, Herrn Advokat Schneider II, mit und ermächtigte ihn, im Notfall meine Quelle zu nennen. Als Stieber in der Sitzung vom 18. Oktober beschwor, der Irländer Cherval,
1 Siehe Band 8 unserer Ausgabe, S. 431 - 2 Rämusat -s Cherval auch genannt Franlc, sein wirklicher Name ist Crämer - 4 in der französisch-deutschen Verschwörung
von dem er selbst angab, er habe in Aachen 1845 wegen Wechselfälschung gesessen, befinde sich stets noch in Haft zu Paris, unterrichtete ich Herrn Schneider II mit umgehender Post, daß der Rheinpreuße Crämer unter dem Pseudonym Cherval „stets" noch zu London tage, täglich mit dem preußischen Polizeilieutenant Greif verkehre und als verurteilter preußischer Verbrecher auf Reklamation der preußischen Regierung sofort von England ausgeliefert werden würde. Seine Transportation als Zeuge nach Köln hätte das ganze System Stieber über den Haufen geworfen. Hart von Schneider 11 gedrängt, glaubte Stieber endlich am 23. Oktober gehört zu haben, daß Cherval aus Paris entflohen sei, verschwor jedoch hoch und teuer alle Kenntnis vom Aufenthaltsort des Irländers und dessen Allianz mit der preußischen Polizei. Cherval war damals in der Tat mit einem fixen wöchentlichen Gehalt an Greif zu London attachiert. Die durch meine Notizen im Assisenhof zu Köln veranlaßten Debatten über das „Mysterium Cherval" verjagten letztern von London. Ich hörte, er habe eine polizeiliche Missionsreise nach Jersey angetreten. Ich hatte ihn lange aus dem Gesicht verloren, als ich zufällig aus einer Genfer Korrespondenz der zu New York erscheinenden „Republik der Arbeiter"t3301 ersah, daß Cherval im März 1853 unter dem Namen Nugent in Genf eingesprungen und im Sommer 1854 von dort wieder entsprungen sei. Zu Genf bei Vogt traf er also ein, einige Wochen nachdem zu Basel bei Schabelitz meine ihn kompromittierenden „Enthüllungen" erschienen waren. Kehren wir nun zur Falstaffschen Geschichtsklitterung zurück. Vogt läßt seinen Cherval nach der Scheinflucht aus Paris sogleich in Genf ankommen, nachdem er ihn „wenige Monate" vor der Entdeckung des Septemberkomplotts durch den kommunistischen Geheimbund (p. 172, 1. c.) aus London nach Paris hatte „herüberschicken" lassen. Wenn der Zwischenraum zwischen Mai 1852 und März 1853 so ganz verschwindet, schrumpft der Zwischenraum zwischen Juni 1850 und September 1851 in „wenige Monate" zusammen. Was hätte Stieber nicht für einen Vogt gegeben, der ihm vor den Assisen zu Köln geschworen, daß der „kommunistische Geheimbund aus London" den Cherval im Juni 1850 nach Paris geschickt habe, und was hätte ich nicht darum gegeben, den Vogt neben seinem Stieber auf der Zeugenbank schwitzen zu sehn! Angenehme Gesellschaft, der schwörende Stieber, mit seinem Vogel Greif, seinem Wermuth, seinem Goldheimchen und seinem - Bettelvogt. Nach Genf brachte der Vogtsche Cherval „Empfehlungen an alle Bekannte von Marx und Comp., von welchen Herr Nugent bald unzertrennlich war" (p. 173). Er schlägt „seine Wohnung bei der Familie eines Korrespondenten der .Allgemeinen Zei
tung' auf" und findet wahrscheinlich infolge der von mir erhaltenen Empfehlungen (der „Enthüllungen") Zutritt zu Vogt, der ihn als Lithograph (p. 173 [174], 1. c.) beschäftigt und mit ihm gewissermaßen, wie früher mit Erzherzog Johann und später mit Plon-Plon, in „wissenschaftlichen Rapport" tritt. In dem Reichsregentschaftlichen „Kabinette"13311 eines Tags beschäftigt, wird „Nugent" von einem „Bekannten" als Cherval erkannt und als „Agent provocateur" eingedeutet. In der Tat beschäftigte sich Nugent zu Genf nicht nur mit Vogt, sondern auch mit „Stiftung einer geheimen Gesellschaft".
„Cherval-Nugent präsidierte, führte die Protokolle und die Korrespondenz mit Londorf (p. 175,1. c.). Er hatte „einige weniger einsichtige, sonst brave Arbeiter in das Vertrauen gezogen" (ib.), aber „unter den Mitgliedern befand sich noch ein Affiliierter der Marxschen Clique, den jedermann als einen verdächtigen Sendling deutscher Polizeien bezeichnete" 0- c.). „Alle Bekannte" von Marx, von denen Cherval-Nugent „unzertrennlich war", verwandeln sich plötzlich in „Einen Affiliierten", welcher Eine Affiliierte seinerseits wieder in „die zurückgebliebenen Marxschen Affiliierten in Genf auseinanderfällt (S. 176), mit denen Nugent später nicht nur „von Paris aus fortkorrespondiert", sondern sie als Magnet auch wieder nach Paris „an sich zog" (1- c.). Also abermals der beliebte „Formwechsel" des steifleinenen „Stoffes" von Kendal-Green! Was Cherval-Nugent mit seiner Gesellschaft bezweckte, war
„massenhafte Fabrizierung falscher Banknoten und Tresorscheine, durch deren Ausgabe der Kredit der Despoten untergraben und ihre Finanzen ruiniert werden sollten" (p. 175, I.e.). Cherval, wie es scheint, strebte dem berühmten Pitt nach, der bekanntlich während des Antijakobinerkriegs eine Fabrik zur Verfertigung falscher französischer Assignaten nicht weit von London angelegt hatte.
„Schon waren verschiedene Stein- und Kupferplatten von Nugent selbst zu diesem Zwecke graviert, schon waren die leichtgläubigen Mitglieder des Geheimbundes bestimmt, die mit Paketen dieser" - Stein- und Kupferplatten? - nein, „dieser falschen Banknoten" - (die Banknoten wurden natürlich verpackt, bevor sie fabriziert waren) „nach Frankreich, der Schweiz und Deutschland gehen sollten" (p. 175), aber schon auch stand Cicero-Vogt mit gezücktem Schwert hinter ChervalCatilina. Es ist eignes Merkmal der Falstaffnaturen, daß sie nicht nur dick sind, sondern auch dick tun. Man sehe, wie unser Gurgelgroßlinger, der bereits die „Revolutionsbummelei" in der Schweiz beschränkt und ganzen
Schiffsladungen von Flüchtlingen ein Fortkommen über dem Meere verschafft hatte, wie er sich in Szene setzt, wie er sich melodramatisiert, wie er das Abenteuer von Stiebers Pariser Faustkampf (siehe „Enthüllungen"1) mit Cherval verunendlicht! So lag er aus, so führt er seine Klinge!13321
„Der Plan dieser ganzen Verschwörung (S. 176,1. c.) war in scheußlichster Weise angelegt." „Allen Arbeitervereinen sollte nämlich Chervals Projekt in die Schuhe geschoben werden." Schon waren auch „vertrauliche Anfragen von seiten auswärtiger Gesandtschaften ergangen", schon wollte man „die Schweiz, besonders den Kanton Genf, kompromittieren".
Aber der Land-Vogt wachte. Er beging seine erste Schweizer-Rettung, ein Experiment, das er später mehrmals wiederholt hat und mit stets wachsendem Erfolg.
nIch leugne nicht", ruft der gewichtige Mann aus, „ich leugne nicht, daß ich zur Vereitlung dieser Teufeleien mein Wesentliches beigetragen habe; ich leugne nicht, daß ich zu diesem Zwecke die Polizei der Republik Genf in Anspruch genommen habe; ich bedaure noch heute" (untröstlicher Cicero), „daß der Eifer einiger Getäuschten dem schlauen Anstifter als Warnung diente, so daß er sich vor seiner Haftnahme aus dem Staube machen konnte." Unter allen Umständen aber hatte Cicero-Vogt die catilinarische Verschwörung „vereitelt", die Schweiz gerettet und sein Wesentliches, wo er das immer tragen mag, „beigetragen". Nach wenigen Wochen, wie er erzählt, tauchte Cherval wieder in Paris auf, „wo er sich durchaus nicht verbarg, sondern öffentlich wie jeder Bürger lebte" (p. 176,1. c.). Man weiß, wie öffentlich die Pariser Bürger (citoyens) des konterfeiten empire2 leben. Während sich der Cherval so „öffentlich" in Paris herumtreibt, muß poor3 Vogt bei seinen Pariser Besuchen sich jedesmal verstecken, im Palais Royal, unter den Tisch von Plon-Plon! Ich bedaure nun in der Tat, auf Vogts gewaltige Zachariade den nachfolgenden Brief Johann Philipp Beckers setzen zu müssen. Joh. Philipp Beckers, des Veterans der deutschen Emigration, revolutionäre Wirksamkeit, vom Hambacher Feste[333] bis zur Reichsverfassungskampagne, worin er als Chef der V. Armeedivision focht (eine sicher nicht parteiliche Stimme, die der Berliner „Militär-Wochenschrift", enthält ein Zeugnis über seine militärische Leistung), ist zu allgemein bekannt, als daß es meinerseits eines Wortes über den Verfasser des Briefes bedürfte. Ich bemerke daher
1 Siehe Band 8 unserer Ausgabe, S. 418-430 - 2 nachgemachten Kaiserreichs - 3 der arme
nur, daß sein Schreiben an den mir befreundeten deutschen Kaufmapn R.1 zu London gerichtet war, daß J.P. Becker mir persönlich unbekannt ist und nie in politischer Beziehung zu mir stand, endlich, daß ich den Eingang des Briefs, der Geschäftliches enthält, weglasse, ebenso das meiste über „Schwefelbande" und „Bürstenheimer", das aus den frühern Mitteilungen schon bekannt ist. (Das Original des Briefes liegt bei meinen Prozeßakten in Berlin.)
„Paris, den 20. März 1860 ... Dieser Tage kam mir die Broschüre Vogts contra Marx zu Gesicht. Diese Schrift hat mich um so mehr betrübt, da ich die Geschichte der sogenannten Schwefelbande und des berüchtigten Cherval, die ich durch meinen damaligen Aufenthalt in Genf ganz genau kenne, völlig entstellt und total ungerechterweise mit der politischen Wirksamkeit des Ökonomisten Marx in Beziehung gebracht sehe. Ich kenne diesen Herrn Marx weder persönlich, noch war ich mit ihm in irgendeiner Berührung, kenne dagegen den Herrn Vogt und seine Familie schon seit mehr als 20 Jahren und stehe daher in gemütlicher Beziehung dem letztern bei weitem näher; den Leichtsinn und die Gewissenlosigkeit, womit Vogt in diesen Kampf zieht, muß ich bitter beklagen und aufs entschiedenste verwerfen. Entstellte oder gar fingierte Tatsachen als Streitmittel aufzuführen, ist eines Mannes unwürdig. Es tut einem wirklich leid, wahrzunehmen, wie Vogt in seiner Leichtfertigkeit quasi selbstmörderisch eine schönere Wirksamkeit zugrunde richtet, Stellung und Ansehn blamiert und kompromittiert, und zwar selbst auch dann, wenn er von den Beschuldigungen, in napoleonischem Dienste zu sein, ganz freizusprechen wäre. Wie gern hätte ich ihm dagegen alle ehrlichen Mittel gegönnt, sich von so schweren Anklagen glänzend zu befreien. Im Hinblick dessen, was er bisher in dieser unerbaulichen Geschichte getan, drängt es mich förmlich, Ihnen einmal mitzuteilen, was es mit der sog. Schwefelbande und dem saubem Herrn Cherval für eine Bewandtnis hat, damit Sie selbst beurteilen können, inwieweit Marx für deren Dasein und Wirksamkeit irgendeine Verantwortlichkeit tragen kann. Also ein Wort über das Entstehn und Vergehn der Schwefelbande, über welche kaum irgend jemand bessere Auskunft erteilen kann als ich. Bei meinem damaligen Aufenthalt in Genf hatte ich nicht nur durch meine Stellung von vornherein alle Gelegenheit, das Tun und Lassen der Emigration zu beobachten; sondern die allgemeine Sache im Auge, hatte ich auch als älterer Mann das spezielle Interesse, allen Bewegungen derselben mit Aufmerksamkeit zu folgen, um wo möglich vorkommendenfalls alberne Unternehmungen, die bei dem durch das Unglück so gereizten und oft verzweifelten Zustande der Gemüter so verzeihlich, zu verhüten und zu verhindern. Wußte ich doch aus 30jähriger Erfahrung, wie reichlich die Mitgift jeder Emigration mit Illusionen beschenkt ist."
1 Rheinländer
(Was hier folgt, ist wesentlich antizipiert in den Briefen von Borkheim und Schily.)
„... Spaß- und spottweise nannte man nun diese wesentliche Bummelgeseilschaft: die Schwefelbande. Es war dies ein Verein zufällig zusammengewürfelter Gesellen, aus dem Stegreife, ohne Präsident und Programm, ohne Statut und Dogma. An Geheimbündelei oder überhaupt an irgendein systematisch zu verfolgendes politisches oder sonstiges Ziel war kein Gedanke, nur öffendich und zwar in überschwenglicher Offenheit und Offenherzigkeit haschten sie nach Effekt bis zum Exzesse. Noch weniger standen sie in irgendeiner Verbindung mit Marx, der seinerseits ganz sicher von ihrer Existenz nichts wissen konnte und mit dem sie zudem damals in ihren sozial-politischen Anschauungen weit auseinandergingen. Auch zeigten in jener Zeit diese Burschen einen bis zur Selbstüberschätzung ausgesprochenen Selbständigkeitsdrang, so daß sie sich schwerlich irgendeiner Autorität weder in Theorie noch in Praxis untergeordnet haben würden; sie hätten landesväterliche Mahnungen von Vogt verlacht wie tendenzielle Anweisungen von Marx verspottet. Ich war um so genauer von allem unterrichtet, was in ihrem Kreise vorging, als mein ältester Sohn mit den Haupthähnen derselben tagtäglichen Umgang pflegte... Überhaupt dauerte der ganze Utz der bandlosen Bande kaum über die Tage des Winters von 1849 bis 1850; die Gewalt der Umstände zerstreute unsre Helden nach allen Winden. Wer hätte ahnen sollen, daß die längst der Vergessenheit anheimgefallene Schwefelbande nach lOjährigem Schlummer von Herrn Professor Vogt wieder angezündet werden würde, um gegen vermeintliche Angreifer einen übeln Geruch zu verbreiten, den dann wohlgefällige Zeitungsschreiber quasi als elektrisch-magnetisch-sympathetische Leiter mit Wollust weitertrugen. Hat ja selbst der par excellence liberale Herr von Vincke, bei Gelegenheit der italienischen Frage, die Schwefelbande in den Mund genommen und die bescheidene preußische Kammer damit illustriert. Und hat die, sonst doch in so gutem Geruch stehende, Bürgerschaft von Breslau in sancta simplicitas1 zu Ehren der Schwefelbande einen Fastnachtsspuk gemacht und als Symbolon ihrer Gesinnungstüchtigkeit mit Schwefelbränden die Stadt geräuchert. Arme, unschuldige Schwefelbande! Mußtest du nach deinem seligen Ende nolens volens zu einem wahren Vulkan heranwachsen, als Butzemann schüchterne Untertanen ins Bockshorn der Polizei jagen, die Schwachköpfe aller Welt vulkanisieren, jed' verbranntes Gehirn bis auf den Stumpf verkohlen - so wie sich Vogt selbst, wie mir dünkt, das Maul für immer daran verbrannt hat. Nun also zu Crämer vulgo Cherval. Dieser politisch-soziale und gemeine Gauner kam im Jahre 1853 nach Genf, und zwar unter dem Namen Nugent als Engländer. Es war dies der Geschlechtsname seiner angeblichen Frau, die ihn begleitete und eine wirkliche Engländerin ist. Er spricht geläufig englisch wie französisch, vermied lange Zeit deutsch zu reden, da ihm alles daran gelegen zu sein schien, für einen Stockengländer gehalten zu werden. Als geschickter Litho- und Chromograph fühlte er, wie
1 heiliger Einfalt
er sich rühmte, letztere Kunst in Genf ein. Im Umgange ist er gewandt, weiß gut sich geltend zu machen und vorteilhaft vorzustellen. Für Zeichnungen naturhistorischer und antiker Gegenstände fand er bei Professoren der Akademie bald hinreichende Beschäftigung. In der ersten Zeit lebte er sehr zurückgezogen, suchte später seinen Umgang fast ausschließlich im Kreise der französischen und italienischen Flüchtlingsschaft. Ich gründete damals ein office de renseignements1 und ein Tagblatt: ,Le Messager du L^man', hatte als Mitarbeiter einen badischen Flüchtling namens Stecher, früher Vorsteher einer Realschule. Es hatte derselbe ein besondres Zeichentalent, und er trachtete zu besserm Fortkommen sich in der Chromographie auszubilden; er fand an dem Engländer Nugent seinen Lehrmeister. Stecher erzählte mir sehr oft die schönsten Dinge von dem geschickten, freundlichen und freigebigen Engländer und von der angenehmen graziösen Engländerin. Stecher war nun auch noch Gesanglehrer im Arbeiterbildungsverein, brachte gelegentlich seinen Lehrmeister Nugent dahin, wo ich das Vergnügen seiner ersten Bekanntschaft hatte und wo er sich herabließ, deutsch zu reden, und zwar so geläufig in niederrheinischer Mundart, daß ich zu ihm sagte: ,Sie sind aber Ihrer Lebtag kein Engländer.' Er bestand dennoch darauf, indem er erklärte, seine Eltern hätten ihn in früher Jugend nach Bonn in eine Erziehungsanstalt getan, wo er bis zum 18ten Jahre verweilt und sich die dortige Mundart angewöhnt habe. Stecher, der bis auf die letzte Zeit von dem ,netten' Mann entzückt war, half ihm noch, an den Engländer glauben zu machen. Mich machte dagegen dieser Vorgang gegen den angeblichen Sohn Albions sehr mißtrauisch, und ich mahnte im Kreise des Vereins zur Vorsicht. Später traf ich den Engländer in Gesellschaft französischer Flüchtlinge und kam grade dazu, als er sich seiner Heldentaten bei Pariser Aufständen rühmte. Es war dies das erste Mal, daß ich sah, daß er sich auch mit Politik beschäftige. Dies machte mir ihn noch mehr verdächtig, ich persiflierte seinen .Löwenmut', mit dem er gefochten haben wollte, um ihm Gelegenheit zu geben, denselben nun auch mir gegenüber angesichts der Franzosen zu behaupten; da er aber meinen beißenden Spott nur mit Hundemut hinnahm, wurde er mir nun auch verächtlich. Von nun an ging er mir völlig aus dem Wege, wo er konnte. Inzwischen veranstaltete er mit Hülfe Stechers Tanzabende im Schoß des deutschen Arbeitervereins, indem sie unentgeltlich noch einige musikalische Kräfte, einen Italiener, einen Schweizer und einen Franzosen hinzuzogen. Auf diesen Bällen traf ich denn den Engländer als wahren maitre de plaisir2 wieder und ganz vollständig in seinem Elemente; denn sich toll lustig zu machen und den Damen zu gefallen, stand ihm besser als sein Löwenmut. Im Arbeiterverein trieb er jedoch keine Politik, hier hat er nur gehüpft und gesprungen, gelacht, getrunken und gesungen. Indessen erfuhr ich aber von dem Goldarbeiter Fritz aus Württemberg, daß ,der gründlich revolutionäre Engländer' einen Bund gegründet habe, der aus ihm (Fritz), noch einem Deutschen, mehreren Italienern und Franzosen, zusammen etwa aus 7 Mitgliedern, bestehe. Ich beschwor Fritz, sich mit diesem politischen Seiltänzer doch in keine ernstlichen Dinge einzulassen und sofort auszutreten und die Mitgenossen ebenfalls dazu zu veranlassen. Einige Zeit
1 Auskunftsbüro - 2 Meister des Vergnügens
nachher sandte mir mein Buchhändler eine Broschüre von Marx über den Kommunistenprozeß in Köln, worin Cherval als Crämer scharf gezeichnet und als Gauner und Verräter hart mitgenommen wurde. Gleich schöpfte ich nun Verdacht, Nugent möchte der Cherval sein, besonders weil er nach dieser Schrift vom Rhein war, was seiner Mundart entsprach, und mit einer Engländerin lebte, was ebenfalls übereinstimmte. Ich teilte meine Vermutung sofort Stecher, Fritz und andern mit und ließ die Broschüre zu diesem Behufe zirkulieren. Das Mißtrauen gegen Nugent griff rasch um sich; die Marxsche Schrift tat ihre Wirkung. Fritz kam alsbald zu mir, erklärend, daß er aus dem .Bündchen' getreten sei und daß die übrigen seinem Beispiel folgen würden. Er offenbarte mir auch den geheimen Zweck desselben. Der .Engländer' habe durch Reproduktion von Staatspapieren den Kredit der Staaten vernichten und mit dem dabei zu gewinnenden Gelde eine Europäische Revolution ins Werk setzen wollen usw. Um dieselbe Zeit hielt ein Herr Laya, ein französischer Flüchtling, früher Advokat in Paris, Vorlesungen über Sozialismus. Nugent besuchte dieselben; Laya, der in seinem Prozesse in Paris sein Verteidiger war, erkannte ihn als Cherval, was er ihm auch selbst erklärte. Nugent bat inständig, man möge ihn doch nicht verraten. Ich erfuhr diesen Tatbestand von einem französischen Flüchding, Freund Layas, und machte sofort allenthalben Mitteilung. Nugent hatte die Frechheit, nochmals in den Arbeiterverein zu kommen, wo er als deutscher Crämer und französischer Cherval entlarvt und ausgejagt wurde. Ranickel aus Bingen soll in dieser Affäre am heftigsten auf ihn losgestürmt sein. Die Genfer Polizei wollte ihm nun noch zum Überflusse wegen des Bündchens auf den Leib rücken, allein der Staatspapierenfabrikant war spurlos verschwunden.
In Paris beschäftigt sich derselbe mit Porzellandekoration, und da ich mich hier ebenfalls mit dem Zweige befaßte, so begegneten wir uns auf dem Wege der Geschäfte. Ich fand jedoch in ihm noch den gleichen leichtfertigen, unverbesserlichen Windbeutel. Wie es nun aber Vogt hat wagen können, diesen Strolchen in seiner Wirksamkeit in Genf mit den Bestrebungen eines Marx in Beziehung zu bringen, ihn als Genossen oder Werkzeug zu bezeichnen, ist mir wirklich unbegreiflich, um so mehr, da es noch auf einen Zeitpunkt abgemünzt ist, wo Marx diesem Kerl in besagter Schrift so entschieden zu Leibe ging. Ist es dadurch doch grade Marx, der ihn entlarvte, von Genf ausjagte, wo er nach Vogt für Marx gewirkt haben soll. Wenn ich darüber nachdenke, wie es möglich war, daß der Naturforscher Vogt auf solche Irrwege geraten ist, so steht mir der Verstand still. Ist es nicht bedauerlich, so leichtsinnig den schönen Einfluß, den Vogt durch zufälliges Zusammenwirken von Umständen auf sich vereinigt hatte, so unfruchtbar und selbstverschwenderisch vernichtet zu sehn! Wäre es ein Wunder, wenn nach solchen Wahrnehmungen alle Welt die naturwissenschaftlichen Forschungen Vogts nur mit Mißtrauen aufnehmen und beargwöhnen würde, als möchten seine wissenschaftlichen Schlüsse mit der gleichen Leichtfertigkeit, mit demselben Mangel an Gewissenhaftigkeit, auf falsche Vorstellungen statt auf positive, gründlich erforschte Tatsachen basiert sein? Zum Staatsmann und Gelehrten gehört mehr als Ambition, sonst könnte sogar Crämer beides sein. Leider ist Vogt durch seine Schwefelbande und seinen Cherval selbst
zu einer Art Cherval herabgesunken. Und wirklich haben dieselben innere Ähnlichkeit durch ein mächtig ausgeprägtes Bedürfnis nach Wohlbehaglichkeit des Lebens, nach Sicherheit des Leibes, geselliger Lustigkeit und leichtfertigem Witzeln in ernsten Sachen... Ihren baldigen freundlichen Nachrichten entgegensehend, grüßt Sie mit herzlicher Ergebenheit Ihr /. Ph. Becker
P. S. Soeben sah ich wieder in die Schrift von Vogt und fand zu meiner weitern Verwunderung, daß auch den .Bürstenheimern' alle Ehre angetan ist. In Kürze sollen Sie nun auch wissen, welche Bewandtnis es mit dieser Bande hat... Ferner sah ich auch noch in der Schrift, daß er behauptet, Nugent-Cherval-Crämer sei im Auftrage von Marx nach Genf gekommen. Ich muß deshalb noch beifügen, daß derselbe, der bis auf den letzten Augenblick seines Aufenthalts in Genf die Rolle des Engländers behauptete, nie im entferntesten merken ließ, daß er je und irgendwo mit einem deutschen Flüchtling in Berührung gestanden habe, wie es sonst ihm auch durchaus nicht in den Kram seines Inkognito gepaßt haben würde. Selbst noch jetzt hier, nachdem ihm weniger als damals dort daran gelegen sein dürfte, will er nicht dafür gelten und verleugnet alle Bekanntschaft mit Deutschen aus früherer Zeit. Bisher glaubte ich immer noch, Vogt habe sich leichtsinnig von andern nur mystifizieren lassen, nun kommt mir aber sein Auftreten immer mehr als boshafte Heimtückerei vor. Für ihn tut es mir nun auch weniger leid, und es dauert mich nur sein guter, braver, alter Vater, dem diese Geschichte sicherlich noch manche saure Stunde machen wird. Ich erlaube Ihnen nicht bloß, sondern ich bitte Sie hiermit im Interesse der Wahrheit und der guten Sache, im Kreise Ihrer Bekanntschaft von meinen Mitteilungen Gebrauch zu machen. Also herzlich Ihr
J. Philipp B." (S. Beil. 3.)
4. Der Kölner Kommunisten-Prozeß
Vom Reichsregentschaftlichen „Kabinette" zu Genf nach dem Königl. pr. Assisenhof zu Köln. „In dem Kölner Prozesse spielte Marx eine hervorragende Rolle." Unzweifelhaft. „In Köln wurden seine Bundesgenossen beurteilt." Eingestandenermaßen. Die Untersuchungshaft der Kölner Angeklagten hatte 11/2 Jahre gewährt. Preußische Polizei und Gesandtschaft, Hinckeldey mit seiner ganzen Sippe, Post und Magistratur, Ministerien des Innern und der Justiz, alle hatten während dieser 11/2 Jahre die ungeheuersten Anstrengungen gemacht, um ein Corpus delicti zu entbinden.
Hier also in seiner Untersuchung über mein „Treiben" verfügt Vogt gewissermaßen über die Hilfsmittel des preußischen] Staats und besaß sogar authentisches Material in meinen „Enthüllungen über den KommunistenProzeß zu Köln", Basel 1853, von denen er ein Exemplar im Genfer Arbeiterverein vorfand, entlieh und „studierte". Diesmal also wird der Knabe Karl nicht unterlassen, mir fürchterlich zu werden. Doch nein! Diesmal wird Vogt „verlegen", entläßt ein paar seiner naturwüchsigen Dampf- und Stankkugeln* und stottert dann rückzugseifrig: „Der Kölner Prozeß hat für uns keine besondre Bedeutung." (S. 172 des „Hauptbuchs".) In den „Enthüllungen" konnte ich nicht vermeiden, unter andern auch Herrn A. Willich anzugreifen. Willich, in der „New-Yorker CriminalZeitung" vom 28. Oktober 1853**, beginnt seine Selbstverteidigungt334) damit, meine Schrift als „eine meisterhafte Kritik des grauenhaften Verfahrens der deutschen Bvmdes-Zentral-Polizei" zu charakterisieren. J.Schabelitz Sohn, der Verleger der Schrift, schrieb nach Empfang meines Manuskripts unter dem Datum Basel, den 1 I.Dezember 1852:
„Ihre Bloßlegung der Polizeiinfamien ist unübertrefflich. Sie haben dem jetzigen regime in Preußen ein bleibendes Denkmal gesetzt." Er fügt hinzu, daß sein Urteil von Sachverständigen geteilt werde, und an der Spitze dieser „Sachverständigen" stand ein jetziger Genfer Freund des Herrn Karl Vogt. Sieben Jahre nach ihrer Herausgabe veranlaßte dieselbe Schrift den mir gänzlich unbekannten Herrn Eichhoff zu Berlin - Eichhoff stand bekanntlich vor Gericht, der Verleumdung gegen Stieber angeklagt - während der Gerichtsverhandlungen zu folgender Erklärung:
„Er habe über den Kölner Kommunistenprozeß eingehende Studien gemacht und müsse seine ursprüngliche Behauptung, daß Stieber einen Meineid gelebtet, nicht nur vollkommen aufrechterhalten, sondern dieselbe noch dahin ausdehnen, daß die ganze
* „Die Dampf' oder Stankkugeln dienen vorzüglich im Minenkriege. Man arbeitet unter gewöhnlichen Leuchtkugelsatz, der aber etwas mehr Schwefel enthalten muß, so viel Federn, Horn, Haare und andern Unrat, als der Satz annehmen will, füllt ihn in Beutel und feuert die Kugel mit Zehrungssatz an." (J.C. Plümicke, „Handbuch für die . Königlich Preußischen Artillerie-Offiziere", Erster Teil, Berlin 1820.) ** Eine Replik veröffentlichte ich in dem Pamphlet „Der Ritter vom edelmüthigen Bewußtsein", New-York I854,1
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 489-518
Aussage des Stieber in jenem Prozesse falsch sei... Die Verurteilung der Kölner Angeklagten sei nur auf Grund der Stieberschen Aussagen erfolgt... Stiebers ganze Aussage sei ein konsequent durchgeführter Meineid." (1 te Beilage der Berliner „Vossischen Zeitung"[335] vom 9. Mai 1860.) Vogt selbst gesteht: „Er (Marx) gab sich alle erdenkliche Mähe, den Verteidigern der" Angeklagten Material und Instruktionen zur Führung des Prozesses zu übermachen... Wie bekannt, wurden dort (zu Köln) „von den Agenten", Stieber, Fleury usw., „selbstgeschmiedete falsche Schriftstücke als .Beweismittel' vorgelegt und überhaupt ein Abgrund von Verworfenheit unter diesem Polizeigesindel aufgedeckt, der Schaudern macht." (S. 169. 170 des „Hauptbuchs".) Wenn Vogt seinen Haß gegen den Staatsstreich durch Propaganda für den Bonapartismus beweist, warum nicht ich „mein Einverständnis" mit der geheimen Polizei durch Aufdeckung ihrer abgrundlosen Verworfenheit? Hätte diePolizei echte Beweismittel besessen, wozu falsche schmieden? Aber, doziert Professor Vogt,
„nichtsdestoweniger traf der Schlag mir die Marxschen Bundesmitglieder in Köln, nur die Partei Marx". In der Tat, Polonius! Hatte der Schlag nicht vorher eine andre Partei zu Paris getroffen, traf er nachher nicht wieder eine andre Partei zu Berlin (Ladendorfscher Prozeß), wieder eine andere zu Bremen (Totenbund)13361 usw. usw.? Was die Verurteilung der Kölner Angeklagten betrifft, so will ich einen darauf bezüglichen Passus aus meinen „Enthüllungen" zitieren: „Ursprünglich war die Wunder wirkende Intervention der Polizei nötig gewesen, um den reinen Tendenzcharakter des Prozesses zu verstecken. Die bevorstehenden Enthüllungen, so eröffnete" (der Prokurator) „Saedt die Verhandlungen - werden Ihnen, meine Herren Geschwornen, beweisen, daß der Prozeß kein Tendenzprozeß ist. Jetzt" (am Schluß der Verhandlungen) „hebt er den Tendenzcharakter hervor, um die Polizeienthüllungen vergessen zu machen. Nach der lVdährigen Voruntersuchung bedurften die Geschwornen eines objektiven Tatbestands, um sich vor der öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. Nach der 5 wöchentlichen Polizeikomödie bedurften sie der,reinen Tendenz', um sich aus dem tatsächlichen Schmutz zu retten. Saedt beschränkt sich daher nicht nur auf das Material, das den Anklagesenat zu dem Urteil veranlaßte: ,Es sei kein objektiver Tatbestand vorhanden.' Er geht weiter. Er sucht nachzuweisen, daß das Gesetz gegen Komplott überhaupt keinen
Tatbestand verlangt, sondern reines Tendenzgesetz ist, also die Kategorie des Komplotts nur ein Vorwand ist, um politische Ketzer in Form Rechtens zu verbrennen. Sein Versuch versprach größern Erfolg durch Anwendung des nach der Verhaftung der Angeklagten promulgierten neuen [Preußischen] Strafgesetzbuchs. Unter dem Vorwand, das Gesetzbuch enthalte mildernde Bestimmungen, konnte der servile Gerichtshof dessen retroaktive Anwendung zulassen. War aber der Prozeß ein reiner Tendenzprozeß, wozu die 1 Vajährige Voruntersuchung? Aus Tendenz." (S. 71, 72,1. c.1.) „Mit der Enthüllung des" von der preußischen Polizei selbst geschmiedeten und untergeschobenen „Protokollbuchs war der Prozeß in ein neues Stadium getreten. Es stand den Geschwornen nicht mehr frei, die Angeklagten schuldig oder nichtschuldig, sie mußten jetzt die Angeklagten schuldig finden - oder die Regierung. Die Angeklagten freisprechen hieß die Regierung verurteilen." (S. 70,1. c.z). Daß die damalige preußische] Regierung die Situation ganz ähnlich auffaßte, bewies ein Schreiben Hinckeldeys, das er während der Kölner Verhandlungen ein die preußische] Gesandtschaft zu London richtete und worin es hieß, daß „von der Entscheidtmg dieses Prozesses die ganze Existenz der politischen Polizei abhänge". Er requirierte daher eine Person, die den flüchtig gewordenen Zeugen H.3 vor Gericht vorstellen und für die Aufführung 1000 Tlr. Lohn erhalten sollte. Die Person war in der Tat schon gefunden, als ein neues Schreiben Hinckeldeys ankam: „Der Staatsprokurator hoffe bei der glücklichen Zusammensetzung der Geschworenen auch ohne weitre außerordentliche Maßregel das Schuldig zu erlangen, und er (Hinckeldey) ersuche deshalb, keine weitere Anstrengungen zu machen." (S.Beilage 4.) Es war in der Tat diese glückliche Zusammensetzung der Geschwornen zu Köln, die das Regime Hinckeldey-Stieber in Preußen inaugurierte. „In Berlin werde ein Schlag geschehn, wenn die Kölner verurteilt wären", wußte das an die preußische Gesandtschaft zu London attachierte Polizeigesindel schon im Oktober 1852, obgleich die Polizeimine zu Berlin (Ladendorfsche Verschwörung) erst Ende März 1853 platzte. (S. Beilage 4.) Das nachträgliche liberale Geheul über eine Reaktionsepoche ist stets um so lauter, je maßloser die liberale Feigheit war, die der Reaktion das Feld jahrelang unbestritten überließ. So scheiterten zur Zeit des Kölner Pro
1 Vgl. Band 8 unserer Ausgabe, S. 467 - 2 ebenda. S. 465 - 3 Haupt
zesses alle meine Versuche, Stiebers Trugsystem in der liberalen preuß tischen] Presse bloßzulegen. Sie hatte in breitspurigen Zügen auf ihre Fahne geschrieben: Sicherheit ist die erste Bürgerpflicht, und unter diesem Zeichen wirst du - leben.[337]
5. Zentralfest der deutschen Arbeiterbildungs-VeTeine zu Lausannt (26. und 27. Juni 1859)
Unser Held flüchtet mit stets erneutem Vergnügen zurück nach - Arkadien. Wir finden ihn wieder in einem „abgelegnen Winkel der Schweiz", zu Lausanne, auf dem „Zentralfest" einer Anzahl deutscher Arbeiterbildungsvereine, das Ende Juni gefeiert wurde. Hier beging Karl Vogt seine zweite Schweizerrettung. Während Catilina zu London sitzt, donnert der Cicero von der bunten Jacke zu Lausanne:
„Jam jam intelligis me acrius vigilare ad salutem, quam te ad perniciem reipublicae1." Zufälligerweise existiert ein authentischer Bericht über besagtes „Zentralfest" und die während desselben von der „abgerundeten Natur" angerichtete Heldentat. Der Titel des von Herrn G. Lommel unter Vogts Mitwirkung verfaßten Berichts lautet „Das Centraifest der deutschen Arbeiterbildungsvereine in der Westschweiz (Lausanne 1859)", Genf 1859, Markus Vaney, rue de la Croix d'or. Vergleichen wir den authentischen Bericht mit dem 5 Monate später erschienenen „Hauptbuch". Der Bericht enthält die von Cicero-Vogt „selbst gehaltene" Rede, in deren Eingang er das Geheimnis seiner Erscheinung bei dieser Gelegenheit enthüllt. Er erscheint unter den Arbeitern, er harangiert sie, weil
„schwere Beschuldigungen in der letzten Zeit gegen ihn erhoben worden sind, die, wenn sie wahr wären, das Vertrauen zu ihm gänzlich erschüttern und seine politische Wirksamkeit vollständig untergraben müßten". „ Ich komme", fährt er fort, „ich komme deshalb her, um hier ein offnes Wort gegen (obenbesagte) heimliche Schleicherei zu reden." (S. 6-7 des Berichts.) Er ist bonapartistischer Umtriebe bezüchtigt, seine politische Wirksamkeit hat er zu retten, und seiner Gewohnheit nach wehrt er sich seiner Haut mit seiner Zunge. Nach 11/astündigem leerem Strohdreschen gedenkt er des
1 „Du wirst jetzt schon verstehen, daß ich mit größerem Eifer auf die Rettung des Staates bedacht bin, als Du auf sein Verderben."^338!
Demosthenes' Mahnung, daß „Aktion, Aktion und wieder Aktion die Seele der Beredsamkeit ist". Aber was ist Aktion? In Amerika gibt es eine kleine Bestie, das Skunk genannt, welches im Augenblick der höchsten Gefahr nur eine Defensive besitzt, seinen offensiven Geruch. Wenn angegriffen, spritzt es aus gewissen Teilen seines Leibes eine Materie, deren Naß eure Kleidungsstücke unrettbar zum Feuertod verdammt und, sollte sie gar eure Haut treffen, euch für einige Zeit aus der Gesellschaft aller menschlichen Wesen verbannt. So gräßlich offensiv ist der Geruch, daß Jäger, sobald ihre Hunde zufällig ein „Skunk" aufgescheucht, sofort Reißaus nehmen in mehr ungestümer Hast und mit größerm Schrecken, als wenn Wolf oder Tiger ihnen auf der Ferse folgten. Gegen Wolf und Tiger schützt Pulver und Blei, aber gegen das a posteriori1 des „Skunk" ist kein Kraut gewachsen. Das ist Aktion, sagt sich der im „Tierstaat"13391 naturalisierte Redner und verspritzt folgendes Skunkartige auf seine vermeinten Verfolger:
„Vor einem aber warne ich eindringlichst, das sind die Umtriebe eines kleinen Häufleins verworfener Menschen, deren ganzes Dichten und Trachten darauf hinausgeht, den Arbeiter von seinem Berufe abzuziehn, ihn in Verschwörungen und kommunistische Umtriebe zu verwickeln und schließlich, nachdem sie von seinem Schweiße gelebt, ihn kalt" (nachdem er sich nämlich ausgeschwitzt hat) „in das Verderben zu stürzen. Auch jetzt wieder sucht dieses Häuflein auf alle mögliche Weise" (nur so allgemein wie möglich) „die Arbeitervereine wieder in seine trügerischen Netze zu ziehen. Was sie auch sagen mögen" (über Vogts bonapartistische Umtriebe), „seid überzeugt, daß sie nur darauf ausgehen, den Arbeiter zu ihren selbstischen Zwecken auszubeuten und ihn schließlich seinem Schicksale zu überlassen." (S. 18 des Berichts. S. B.)
Die Schamlosigkeit des „Skunk", mich und meine Freunde, die wir stets gratis und mit Aufopferung unsrer Privatinteressen die Interessen der Arbeiterklasse vertraten, „vom Schtßeiße der Arbeiter leben zu lassen", ist nicht einmal originell. Nicht nur die dezembristischen mouchards haben ähnliche üble Nachrede hinter Louis Blanc, Blanqui, Raspail usw. hergeheult, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten haben die Sykophanten der herrschenden Klasse stets in dieser infamen Weise die literarischen und politischen Vorkämpfer der unterdrückten Klassen verleumdet. (S. Beiläge 5.) Nach dieser Aktion vermag übrigens unsre „abgerundete Natur" nicht länger ihr s£rieux2 zu halten. Der Possenreißer vergleicht nun seine auf freien Füßen befindlichen „Verfolger" mit den „bei Zorndorf gefangenen
1 von hinten Kommende - 2 ihre ernste Miene
Russen" und sich selbst - man errate! - mit Friedrich dem Großen. FalstaffVogt erinnerte sich, daß Friedrich der Große in der ersten Schlacht, der er beiwohnte, davonlief. Wieviel größer also nicht er, der davonlief, ohne einer Schlacht beizuwohnen.* Soweit das Abenteuer auf dem Zentralfest zu Lausanne nach dem authentischen Bericht. Und „danach beseh' einer" (um mit Fischart zu reden) „den klebrigen, schmarotzig klotzigen Sudelkoch und Kuchenlumpen", welchen eulenspiegelhaft-polizistischen Brei er fünf Monate später dem deutschen Philisterium auftischt.
„Man wollte um jeden Preis eine Komplikation in der Schweiz herbeiführen, die Politik der Neutralität... sollte durchaus einen Stoß erhalten. Ich wurde benachrichtigt, daß das Zentralfest der Arbeiterbildungsvereine benutzt werden sollte, um die Arbeiter auf Bahnen zu lenken, deren Betretung sie durchaus von sich abgewiesen hatten. Man hoffte das schöne Fest benutzen zu können, um ein geheimes Komitee zu bilden, welches mit Gleichgesinnten in Deutschland in Verbindung treten und Gott weiß" (Vogt, obgleich benachrichtigt, weiß es nicht) „was alles für Maßregeln ergreifen sollte. Es gingen dumpfe Gerüchte und geheimnisvolle Mitteilungen von tätigem Eingreifen der Arbeiter in die vaterländisch-deutsche Politik. Ich beschloß augenblicklich, mich diesen Umtrieben entgegenzusetzen, um den Arbeitern aufs neue ans Herz zu legen, daß sie keinerlei Vorschlägen dieser Art ihr Ohr leihen möchten. Ich sprach öffendich am obengenannten Schluß meiner Rede die Warnung aus etc." (S. 180, [181] des „Hauptbuchs".)
Cicero-Vogt vergißt, daß er im Anfang seiner Rede öffentlich ausgeplaudert hat, weis ihn zum Zentralfest trieb - nicht die Neutralität der Schweiz, sondern die Rettung seiner eignen Haut. Keine Silbe in seiner Rede von dem beabsichtigten Attentat auf die Schweiz, von den konspiratorischen Gelüsten auf das Zentralfest, von geheimem Komitee, von dem tätigen Eingreifen der Arbeiter in die deutsche Politik, von Vorschlägen „dieser"
* Kobes I.[Mo1 erzählt in dem von Jacob Venedey herausgegebenen Pamphlet „Pro domo und Pro patria gegen Karl Vogt", Hannover 1860: „Er sei Zeuge gewesen, wie der Reichsregent Karl Vogt nicht mit dabei war, als wir anderen, und ebenso die vier anderen Reichsregenten, die Württemberger Regierung zwangen, dem Parlament mit Säbel und Bajonett zu einem ehrenhaften Ende zu verhelfen. Es ist eine lustige Geschichte. Als die vier andern Reichsregenten den Wagen bestiegen hatten, um verabredetermaßen vor den Sitzungssaal zu fahren und hier mit dem Rumpfparlamente [...] die Brust" (Kopf hatte das Rumpfparlament bekanntlich nicht) „zu bieten, hat Karl Vogt, den Kutschenschlag schließend, dem Kutscher zugerufen: .Fahre nur zu, der Wagen ist doch schon voll, ich komme nach!' Karl Vogt aber kam nach [-] als [...] die mögliche Gefahr vorbei war." (1. c. S. 23,24.)
oder irgendeiner „Art". Nichts von allen diesen Stieberiaden. Seine schließliche Warnung war bloß die Warnung des Ehrenmannes Sykes, der im Gerichtslokal von Old Bailey die Geschwornen warnte, den „verworfnen" Detectives, die seinen Diebstahl entdeckt hatten, doch ja kein Gehör zu schenken. „Die unmittelbar folgenden Ereignisse", sagt Falstaff-Vogt (S. 181 des „Hauptbuchs"), „bestätigten meine Ahnungen."' Wie, Ahnungen! Aber Falstaff vergißt wieder, daß er wenige Zeilen vorher nicht „geahnt" hatte, sondern „benachrichtigt" war, benachrichtigt von den Plänen der Verschwörer und ganz im Detail benachrichtigt! Und welches, du ahndungsvoller Engel du'3411! waren die unmittelbar nachfolgenden Ereignisse?
„Ein Artikel der .Allgemeinen Zeitung' schob dem Fest und dem Leben der Arbeiter Tendenzen unter, an welche diese" (nämlich das Fest und das Leben) „nicht im entferntesten dachten." (Ganz wie Vogt sie dem Murtener Kongreß und den Arbeiterverbindungen überhaupt unterschiebt.) „Auf Grund dieses Artikels und seines Abdrucks im frankfurter Journal' erfolgte eine vertrauliche Anfrage des Gesandten eines süddeutschen Staats, in welcher dem Feste diejenige Bedeutung verliehen wurde" die der Artikel der „Allgemeinen Zeitung" und der Abdruck des „Frankfurter Journals" [34J' ihm „unterschoben" - beileibe nicht - „die es nach den vereitelten Absichten der Schwefelbande hätte haben sollen."
Jawohl! Hätte haben sollen! Obgleich der oberflächlichste Vergleich zwischen dem „Hauptbuch" und dem authentischen Bericht über das Zentralfest hinreicht zur Aufdeckung des Geheimnisses von Cicero-Vogts zweiter Schweizerrettung, wünschte ich dennoch zu vergewissern, ob nicht irgendeine - wie auch immer verdrehte - Tatsache ihm den Stoff zu seiner Kraftentwicklung geliefert.13431 Ich wandte mich daher schriftlich an den Redakteur des authentischen Berichts, Herrn G. Lommel zu Genf. Herr Lommel muß mit Vogt in freundschaftlichem Verkehr gelebt haben, da er nicht nur mit dessen Beihülfe den Bericht über das Lausanner Zentralfest abfaßte, sondern auch in einer spätem Broschüre über das Schiller- und Robert-Blum-Fest zu Genf[344J Vogts daselbst gemachtes Fiasko verschleierte. In einem Antwortschreiben vom 13. April 1860 erklärt der mir persönlich unbekannte Herr Lommel:
„Vogts Erzählung, er habe in Lausanne eine gefährliche Verschwörung vereitelt, ist die hellste Fabel oder Lüge; er suchte in Lausanne nur ein Lokal, um reden zu können und diese Rede nachher drucken zu lassen. In dieser 11/ostündigen Rede verteidigte er sich gegen den Vorwurf, er sei ein besoldeter Bonaparbst. Das Manuskript liegt wohlverwahrt bei mir."
Ein zu Genf lebender Franzose, über dieselbe Vogtsche Verschwörung befragt, erwiderte kurz:
„II faut connaltre cet individu" (nämlich den Vogt), „surtout le faiseur, l'homme important, toujours hors de la nature et de la verite."1 Vogt sagt selbst S. 99 seiner sogenannten „Studien", daß er „sich nie prophetischer Eigenschaften gerühmt". Aber man weiß aus dem Alten Testament, daß der Esel sah, was der Prophet nicht gesehen hatte. Und so erklärt sich, wie Vogt die Verschwörung sah, von der ihm im November 1859 ahnte, er habe sie im Juni 1859 „vereitelt".
6. Buntes
„Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht", sagt der Parlaments-Clown, „so war das Zirkular" (nämlich ein angebliches Londoner Zirkular an die Proletarier d. d. 1850) „allerdings von einem Parteigänger Marx', dem sogenannten ParlamentsWolf, abgefaßt und wurde der hannoverschen Polizei in die Hände gespielt. - Auch jetzt wieder taucht dieser Kanal in der Geschichte des Zirkulars, der Vaterlandsfreunde an die Gothaer' auf." (S. 144 des „Hauptbuchs".) Ein Kanal taucht aufl Prolapsus ani2 etwa, naturgeschichtlicher Schäker? Was den „Parlaments-Wolf" betrifft - und wir werden später hören, warum der Parlaments-Wolff wie ein Alp auf dem Gedächtnis des Parlaments-Clowns lastet - so hat er in der Berliner „Volks-Zeitung", „Allgemeinen Zeitung" und Hamburger „Reform" folgende Erklärung veröffentlicht:
„Erklärung. Manchester, 6. Februar 1860: Aus dem Brief eines Freundes ersehe ich, daß die .National-Zeitung' (Nr. 41 d. J.) in einem auf eine Vogtsche Broschüre basierten Leitartikel folgenden Passus vors Publikum gebracht hat: ,1850 wurde eine andre Zirkulardepesche aus London, wie Vogt sich zu erinnern glaubt, vom Parlaments-Wolf alias Kasematten-Wolf verfaßt, an die Proletarier in Deutschland versandt und gleichzeitig der hannoverschen Polizei in die Hände gespielt.' Ich habe weder die Nummer der .National-Zeitung noch die Vogtsche Broschüre zu Gesichte bekommen und erwidere deshalb lediglich in betreff der zitierten Stelle: 1. Im Jahre 1850 lebte ich in Zürich und nicht in London, wohin ich erst im Sommer 1851 übersiedelte.
1 „Man muß diesen Kerl kennen ..., der vor allem ein Intrigant, ein Wichtigtuer, immer ein unnatürlicher, unwahrer Mensch ist." - 2 ein Mastdarmvorfall
2. Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Zirkulardepesche, weder an .Proletarier' noch andre, verfaßt. 3. Was die Insinuation rücksichtlich der hannoverschen Polizei angeht, so jag' ich diese schamlos erfundene Bezüchtigung hierdurch zu ihrem Urheber mit Verachtung zurück. Ist der Rest des Vogtschen Pamphlets ebenso erstunken und erlogen wie das auf mich Bezügliche, so kann es sich den Machwerken eines Chenu, de la Hodde und Konsorten würdig zur Seite stellen. W. Wolff"
Man sieht: Wie Cuvier den ganzen Bau eines Tiers aus einem einzelnen Knochen, hatte Wolff aus einem abgerissenen Zitat das ganze Machwerk Vogt richtig herauskonstruiert. In der Tat erscheint Karl Vogt neben Chenu und de la Hodde als primus inter pares1. Der letzte „Beleg" des „nicht verlegenen" Vogt für meine entente cordiale2 mit der geheimen Polizei im allgemeinen und „meine Beziehungen zu der Kreuzzeitungspartei13451 im besonderen" besteht darin, daß meine Frau die Schwester des preußischen Ministers a. D. Herrn von Westphalen ist. (S. 194 des „Hauptbuchs".) Wie nun parieren des feisten Falstaff feige Finte? Vielleicht verzeiht der Clown meiner Frau den kognaten preußischen Minister, wenn er erfährt, daß einer ihrer schottischen Agnaten3 als Rebeller im Freiheitskampf gegen Jakob II. auf dem Markte zu Edinburgh enthauptet worden ist. Vogt selbst trägt bekanntlich nur durch ein Versehen immer noch seinen eignen Kopf mit sich herum. Auf der Robert-BlumFeier des deutschen Arbeiterbildungsvereins zu Genf (13. November 1859) berichtete er nämlich,
„wie die Linke des Frankfurter Parlaments lange unschlüssig gewesen, wen sie nach Wien schicken solle, ob Blum, ob ihn. Da habe endlich das Los, ein gezogenes Hainichen, für oder vielmehr gegen Blum entschieden." (S. 28,29 „Die Schillerfeier zu Genf usw.", Genf 1859.) Am 13.Oktober reiste Robert Blum von Frankfurt nach Wien. Am 23. oder 24. Oktober traf eine Deputation der äußersten Frankfurter Linken, auf der Durchreise zum Demokratenkongreß in Berlin, in Köln ein. Ich sah die Herren, worunter sich einige mit der „Neuen Rheinischen Zeitung" näher liierte Parlamentler befanden. Letztere, wovon der eine während der Reichsverfassungskampagne standrechtlich erschossen ward, der andere im Exil starb, der dritte noch lebt, raunten mir unheimlich sonderbare Geschichten ins Ohr über Vogts Umtriebe mit Bezug auf Robert Blums Wiener Mission.
1 Erster unter Gleichen - 2 mein herzliches Einvernehmen - 3 Archibald Campbell Argyll
Jedoch
Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen, Denn das Geheimnis ist mir Pflichtl[346) Die oben erwähnte Robert-Blum-Feier (November 1859) zu Genf war der „abgerundeten Natur" unhold. Als er das Festlokal betrat, seinen Patron James Fazy silenenhaft wohldienerisch umwatschelnd, rief ein Arbeiter: Da geht der Heinz und hinter ihm drein der Falstaff. Als er sich durch seine artige Anekdote als alter ego Robert Blums kundgab, gelang es nur mit Mühe, einige erhitzte Arbeiter von einem Sturm auf die Tribüne abzuwehren. Als er endlich, uneingedenk, wie er noch im Juni die Revolution vereitelt hatte, nun selbst „noch einmal auf die Barrikaden rief" (S. 29 der nSchillerfeier"), wiederholte ein neckisches Echo: „Barrikaden! - Fladen!" So richtig jedoch weiß man im Ausland Vogts Revolutionspoltereien zu würdigen, daß diesmal die sonst unvermeidliche „vertrauliche Anfrage eines süddeutschen Gesandten" unterblieb und £eün Artikel in der „Allgemeinen Zeitung" erschien.
Vogts Gesamt-Stieberiade von der „Schwefelbande" bis zum „Minister a. D." verrät die Sorte Meistersänger, von der es bei Dante heißt: Ed egli avea fatto dei cul trombetta.*
* Und der nahm statt Trompete seinen Steiß. (Kannegießer)[M7'
IV. Techows Brief
Was zieht die „abgerundete Natur" nun weiter aus dem „tristo sacco Che merda fa di quel, che si trangugia." (Dante)*
Einen Brief Techows d. d. London, 26. August 1850:
„Ich kann zur Charakterisierung dieses Treibens" (nämlich der „Schwefelbande") „nichts Besseres tun, als hier einen Brief von einem Manne mitzuteilen, den jeder, wer (!) ihn irgend gekannt hat, als einen Ehrenmann anerkennen wird, und den ich mir deshalb erlauben darf zu veröffentlichen, weil er" (der Ehrenmann oder der Brief?) „aus~ drücklich zur Mitteilung" (an wen?) „bestimmt war und diejenigen Rücksichten" (auf wessen Seite?) „nicht mehr obwalten, welche früher der Veröffentlichung entgegentraten." (S. 141, „Hauptbuch".) Techow kam Ende August 1850 von der Schweiz nach London. Sein Brief ist gerichtet an den ehemaligen preußischen] Lieutenant Schimmelpfennig (damals zu Bern) „zur Mitteilung an die Freunde", nämlich die Mitglieder der „Zentralisation", einer geheimen Gesellschaft, die seit fast einem Dezennium verstorben, von deutschen Flüchtlingen in der Schweiz gestiftet, buntscheckig zusammengesetzt und stark mit parlamentarischen Elementen verquickt war. Techow gehörte zu dieser Gesellschaft, nicht so Vogt und seine Freunde. Wie also kommt Vogt in den Besitz von Techows Brief, und wer erteilte ihm die Befugnis zur Veröffentlichung? Techow selbst schreibt mir aus Australien d. d. 17. April 1860:
„Jedenfalls habe ich nie Gelegenheit gehabt, Herr Karl Vogt irgendeine Autorisation in dieser Angelegenheit zu geben."
* „Dem ekeln Sacke, Der Sch - macht aus dem, was er verschluckt."tM8'
Von Techows „Freunden", denen der Brief mitgeteilt werden sollte, befinden sich nur noch zwei in der Schweiz. Beide mögen selbst sprechen: E.1 an Schily, 29. April 1860, Oher-Egaiin, Kanton Graubünden:
„Beim Erscheinen der Vogtschen Broschüre .Mein Prozeß gegen die Allgemeine Zeitung', worin ein Brief Techows an seine Freunde in der Schweiz d. d. 26. August 1850 abgedruckt ist, beschlossen wir, die jetzt noch in der Schweiz anwesenden Freunde Techows, unsre Mißbilligung über die unbefugte Publikation dieses Briefes in einem Schreiben an Vogt auszusprechen. Der Brief Techows war an Schimmelpfennig in Bern adressiert und sollte Freunden in Abschrift mitgeteilt werden... Ich freue mich, daß wir uns insofern nicht täuschten, als keiner der Freunde Techows, keiner, der ein Recht auf seinen Brief vom 26. Aug. hat, einen solchen Gebrauch davon gemacht hat als der zufällige Besitzer desselben. Am 22. Januar wurde an Vogt geschrieben, die unbefugte Veröffentlichung von Techows Brief mißbilligt, gegen jeden fernem Mißbrauch desselben protestiert und der Brief zurückverlangt. Am 27. Januar c. antwortete Vogt: .Der Brief Techows sei zur Mitteilung an die Freunde bestimmt gewesen, der Freund, welcher denselben in Händen gehabt, habe ihm denselben ausdrücklich zur Veröffentlichung übergeben... und er werde den Brief nur dem zurückgeben, von dem er denselben erhalten habe.'" B.2 an Schily, Zürich, 1. Mai 1860:
„Der Brief an Vogt ist nach vorheriger Verabredung mit E. von mir geschrieben worden... R.3 gehörte nicht zu den .Freunden', fürwelcheTechowsBrief zur Mitteilung bestimmt war; aus dem Inhalt des Briefs aber wußte Vogt, daß dieser an mich mit gerichtet war, hat sich aber wohl gehütet, meine Einwilligung zur Veröffentlichung einzuholen." Zur Auflösung des Rätsels habe ich eine Stelle aus Schilys oben mitgeteiltem Briefe4 aufgespart. Sie lautet:
„Von diesem Ranickel muß ich hier sprechen, weil durch ihn der Brief Techows in die Hände Vogts übergegangen sein muß, ein Punkt Deiner Anfrage, den ich beinahe übersehen hätte. Dieser Brief war nämlich von Techow an seine Freunde, mit denen er in Zürich zusammen gelebt hatte, Schimmelpfennig, B., E. gerichtet worden. Als Freund von diesen Freunden und von Techow erhielt ich ihn denn ebenfalls später. Bei meiner brutal-summarischen Ausweisung aus der Schweiz (ich wurde nämlich ohne alle vorherige Ausweisung in den Straßen von Genf abgefaßt und sofort weitergeschleppt) war es mir nicht vergönnt worden, zur Ordnung meiner Sachen meine Wohnung noch einmal zu betreten. Aus dem Gefängnis zu Bern schrieb ich deshalb an einen zuverlässigen Mann nach Genf, den Schuhmachermeister Thum, er möge doch den einen oder andern meiner noch dort befindlichen Freunde (ich wußte nämlich nicht, wer etwa von diesen
1 Emmermann - 2 Beust - 3 Ranickel - 4 siehe vorl. Band, S. 403-406
gleichzeitig mit weggemaßregelt sein möchte) meine Sachen verpacken und das Beste davon mir nach Bern nachsenden lassen, den Rest aber in einstweiligen Verwahr nehmen, sorgfältige Sichtung meines papiemen Nachlasses empfehlend, auf daß der Sendung an mich nichts beigefügt werde, was den Transit durch Frankreich nicht aushalten könne. So geschah's, und der Brief Techows wurde nicht beigefügt. In jenem Nachlasse befanden sich mehrere Schriftstücke, die sich auf die damalige Parlamentsmeuterei gegen das Genfer Lokalkomitee zur Verteilung der Flüchtlingsgelder (das Komitee bestand aus drei Genfer Bürgern, darunter Thum, und zwei Flüchtlingen, Becker und mir) bezogen und welche Ranickel infolge seiner Parteinahme für das Komitee gegen die Parlamentler genau kannte. So hatte ich denn Thum als Kassierer und Archivar des Komitees ersucht, sich jene Stücke aus meinen Papieren durch Ranickel heraussuchen zu lassen. Mag dieser nun, so zur Assistenz bei Sichtung meiner Papiere legitimiert den Brief Techows in der einen oder andern Weise, etwa durch Mitteilung seitens eines der Sichter, zu Händen bekommen haben: Keinesfalls impugniere ich den Besitzübergang, zu unterscheiden von Eijenftzmsübergang, von mir auf ihn, behaupte diesen aber auch ganz bestimmt. Ich schrieb dann auch bald von London an Ranickel: Er möge mir den Brief schicken. Er tat's aber nicht; von da an datiert also seine culpa manifesta1, anfangs wohl nur levis*, dann je nach dem Grade seiner Komplizität an der unbefugten Publikation des Briefes sich zu magna3 oder maxima culpa4 oder gar zu dolus5 steigernd. Daß diese Publikation eine unbefugte, von keinem der Adressaten autorisierte, war, bezweifle ich keinen Augenblick, werde übrigens zum Überfluß deshalb an E. schreiben. Daß Ranickid zur Publikation die Hand bot, kann bei seiner notorischen Intimität mit Vogt auch nicht bezweifelt werden, und wenn ich nun auch diese Intimität als solche nicht im geringsten kritisieren will, so kann ich doch nicht umhin, auf deren Kontrast mit Früherem hier aufmerksam zu machen. Ranickel war nämlich nicht nur einer der größten Parlamentsfresser im allgemeinen, sondern äußerte in Beziehung auf den Reichsregenten im besondren die allerblutdürstigsten Gelüste: .Erwürgen muß ich den Kerl', schrie er, ,und sollte ich deshalb gen Bern ziehen müssen', und mußte man ihm sozusagen die Zwangsjacke anlegen, um ihn von diesem regiciden6 Vorhaben abzuhalten. Nun es ihm aber wie Schuppen von den Augen gefallen zu sein scheint und aus dem Saulus ein Paulus geworden ist, bin ich doch begierig zu sehn, wie er sich in einer andern Beziehung herausbeißen wird, nämlich als Rächer Europas. Ich habe einen harten Kampf gekämpft, sagte er in jenen Tagen, wo er zwischen Amerika und Europa schwankte, nun aber ist's glücklich vorüber, ich bleibe - und räche mich!! Zittre Byzanzia."
Soweit Schilys Brief. Das Ranickel also stiebert Techows Brief aus Schilys Flüchtlingsnachlaß auf. Trotz Schilys Londoner Reklamation hält es den Brief zurück. Den so unterschlagenen Brief übergibt „Freund" Ranickel an „Freund" Vogt, und „Freund" Vogt, mit der ihm eignen Gewissenszartheit, erklärt sich zum
1 erwiesene Schuld - 3 geringfügig - 8 schwerer - 4 schwerster Schuld - 5 böser Absicht — 6 königsmörderischen
Druck des Briefes berechtigt, denn Vogt und Ranickel sind „Freunde". Wer also einen Brief zur „Mitteilung" an „Freunde" schreibt, schreibt ihn notwendig für die „Freunde" Vogt und Ranickel - arcades ambo[349]. Ich bedaure, daß diese eigentümliche Jurisprudenz mich zu halbvergeßnen und längst verschollnen Geschichten zurückführt; aber Ranickel hat angefangen, und ich muß nachfolgen. Der „Bund der Kommunisten'' wurde 1836 zu Paris gestiftet, ursprünglich unter anderm Namen. Die Organisation, wie sie sich allmählich ausbildete, war diese: Eine gewisse Anzahl Mitglieder bildeten eine „Gemeinde", verschiedene Gemeinden in derselben Stadt einen „Kreis", eine größere oder geringere Anzahl Kreise gruppierte sich um einen „leitenden Kreis"; an der Spitze des Ganzen stand die „Zentralbehörde", die auf einem Kongreß von Deputierten sämtlicher Kreise gewählt, jedoch berechtigt war, sich selbst zu ergänzen und in dringenden Fällen provisorisch ihre Nachfolgerin zu ernennen. Die Zentralbehörde saß erst zu Paris, von 1840 bis Anfang 1848 zu London. Die Vorsteher der Gemeinden und Kreise, wie die Zentralbehörde selbst, wurden alle durch Wahl ernannt. Diese demokratische Verfassung, durchaus zweckwidrig für konspirierende geheime Gesellschaften, war wenigstens nicht unvereinbar mit der Aufgabe einer Propagandagesellschaft. Die Tätigkeit des „Bundes" bestand zunächst in der Stiftung öffentlicher deutscher Arbeiterbildungsvereine, und die meisten Vereine dieser Art, die noch in der Schweiz, England, Belgien und den Vereinigten Staaten existieren, wurden entweder direkt vom „Bunde" gegründet oder von ehemaligen Mitgliedern desselben ins Leben gerufen. Die Konstitution dieser Arbeitervereine ist daher überall dieselbe. Ein Tag in der Woche wurde zur Diskussion bestimmt, ein andrer für gesellschaftliche Unterhaltung (Gesang, Deklamation etc.). Überall wurden Vereinsbibliotheken gestiftet und, wo es immer tubar, Klassen errichtet für den Unterricht der Arbeiter in elementarischen Kenntnissen. Der hinter den öffentlichen Arbeitervereinen stehende und sie lenkende „Bund" fand in ihnen sowohl den nächsten Spielraum für öffentliche Propaganda, wie er andrerseits sich aus ihren brauchbarsten Mitgliedern ergänzte und erweiterte. Bei dem Wanderleben der deutschen Handwerker bedurfte die Zentralbehörde nur in seltnen Fällen der Entsendung besondrer Emissäre. Was nun die Geheimlehre des „Bundes" selbst betrifft, so durchlief sie sämtliche Wandlungen des französischen und englischen Sozialismus und Kommunismus, wie ihrer deutschen Spielarten (Weitlings Phantasien z. B.). Seit 1839, wie schon aus dem Bluntschli-Bericht13501 erhellt, spielte die religiöse Frage neben der sozialen die bedeutendste Rolle. Die verschiedenen
Phasen, die die deutsche Philosophie von 1839 bis 1846 durchlief, wurden im Schöße dieser Arbeitergesellschaften mit der eifrigsten Parteinahme verfolgt. Die geheime Form der Gesellschaft verdankt Paris ihren Ursprung. Der Hauptzweck des Bundes - Propaganda unter den Arbeitern in Deutschland - gebot die spätere Beibehaltung dieser Form. Während meines ersten Aufenthaltes in Paris pflegte ich persönlichen Verkehr mit den dortigen Leitern des „Bundes" wie mit den Führern der meisten französischen geheimen Arbeitergesellschaften, ohne jedoch in irgendeine dieser Gesellschaften einzutreten. Zu Brüssel, wohin mich Guizot verwiesen, stiftete ich mit Engels, W. Wolff und andern den noch bestehenden deutschen Arbeiterbildungsverein.13511 Wir veröffentlichten gleichzeitig eine Reihe teils gedruckter, teils lithographierter Pamphlets, worin das Gemisch von französisch-englischem Sozialismus oder Kommunismus und von deutscher Philosophie, das damals die Geheimlehre des „Bundes" bildete, einer unbarmherzigen Kritik unterworfen, statt dessen die wissenschaftliche Einsicht in die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft als einzig haltbare theoretische Grundlage aufgestellt und endlich in populärer Form auseinandergesetzt ward, wie es sich nicht um Durchführung irgendeines utopistischen Systems handle, sondern um selbstbewußte Teilnahme an dem unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Umwälzungsprozeß der Gesellschaft. Infolge dieser Wirksamkeit trat die Londoner Zentralbehörde in Korrespondenz mit uns und sandte Ende 1846 eins ihrer Mitglieder, den Uhrmacher Joseph Moll, der später als Revolutionssoldat auf dem Schlachtfeld in Baden fiel, nach Brüssel, um uns zum Eintritt in den „Bund" aufzufordern. Die Bedenken, die sich diesem Ansinnen entgegenstellten, schlug Moll nieder durch die Eröffnung, daß die Zentralbehörde einen Bundeskongreß nach London zu berufen beabsichtige, wo die von uns geltend gemachten kritischen Ansichten in einem öffentlichen Manifest als Bundesdoktrin aufgestellt werden sollten, daß jedoch den veralteten und widerstrebenden Elementen gegenüber unsre persönliche Mitwirkung unerläßlich, diese aber an den Eintritt in den „Bund" geknüpft sei. Wir traten also ein. Der Kongreß, auf dem die Bundesmitglieder der Schweiz, Frankreichs, Belgiens, Deutschlands und Englands vertreten waren, fand statt, und nach heftigen mehrwöchentlichen Debatten wurde das von Engels und mir abgefaßte „Manifest der Kommunistischen Partei" angenommen, das Anfang 1848 im Drucke und später in englischer, französischer, dänischer und italienischer Übersetzung erschien. Beim Ausbruch der Februarrevolution übertrug die Londoner Zentralbehörde mir die Oberleitung des „Bundes", Während der Revolutionszeit in Deutschland erlosch seine Tätig
keit von selbst, indem nun wirksamere Wege für die Geltendmachung seiner Zwecke offenstanden. Als ich im Spätsommer 1849, nach meiner abermaligen Ausweisung aus Frankreich, in London eintraf, fand ich die Trümmer der dortigen Zentralbehörde rekonstituiert und die Verbindung mit den wiederhergestellten Kreisen des Bundes in Deutschland erneuert. Willich traf einige Monate später in London ein und ward auf meinen Vorschlag in die Zentralbehörde aufgenommen. Er war mir empfohlen von Engels, der als sein Adjutant an der Reichsverfassungskampagne teilgenommen hatte. Zur Vervollständigung der Geschichte des Bundes bemerke ich noch: Am 15. September 1850 fand eine Spaltung im Schöße der Zentralbehörde statt. Ihre Majorität, mit Engels und mir, verlegte den Sitz der Zentralbehörde nach Köln, wo seit lange der „leitende Kreis" für Mittel- und Süddeutschland bestand und sich außer London das bedeutendste Zentrum intellektueller Kräfte vorfand. Wir traten gleichzeitig aus dem Londoner Arbäterbildimgsüerein aus. Die Minorität der Zentralbehörde, mit Willich und Schapper, stiftete dagegen einen Sonderbund, der sowohl die Verbindung mit dem Arbeiterbildungsverein unterhielt als auch die seit 1848 abgebrochenen Verbindungen mit der Schweiz und Frankreich wieder aufnahm. Am 12. Nov. 1852 fand die Verurteilung der Kölner Angeklagten statt. Einige Tage später ward der Bund, auf meinen Antrag, für aufgelöst erklärt. Ein auf diese Auflösung bezügliches Schriftstück, vom November 1852 datierend, habe ich meinen Prozeßakten gegen die „National-Zeitung" beigelegt. Es ist darin als Motiv der Auflösung erwähnt, daß seit den Verhaftungen in Deutschland, also bereits seit Frühjahr 1851, alle Verbindung mit dem Kontinent ohnehin aufhörte, übrigens auch eine derartige Propagandagesellschaft nicht mehr zeitgemäß sei. Wenige Monate später, anfangs 1853, entschlief auch der Willich-Schappersche Sonderbund.t352] Die prinzipiellen Gründe der oben berührten Spaltung findet man in meinen „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß", worin ein Auszug aus dem Sitzungsprotokoll der Zentralbehörde vom 15.September 1850 abgedruckt ist. Den nächsten praktischen Anlaß bot Willichs Streben, den „Bund" in die Revolutionsspielereien der deutschen demokratischen Emigration zu verwickeln. Ganz entgegengesetzte Auffassung der politischen Situation verschärfte noch den Zwiespalt. Ich will nur ein Beispiel anführen. Willich bildete sich z. B. ein, der Zwist zwischen Preußen und Ostreich, bei Gelegenheit der kurhessischen und der Bundesfrage[353], werde zu ernsten Konflikten führen und biete eine Handhabe zum praktischen Eingreifen der revolutionären Partei. Am 10. November 1850, kurz nach der
Spaltung des „Bundes", veröffentlichte er auch in diesem Sinne eine Proklamation: „Aux d£mocrates de toutes les nations"1, unterschrieben von der Zentralbehörde des „Sonderbundes" wie von französischen, ungarischen und polnischen Flüchtlingen. Engels und ich dagegen, wie zu lesen steht p. 174, 175 der „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung" (Doppelnummer für Mai bis Oktober 1850, Hamburg), behaupteten umgekehrt: „All dieser Lärm ißird zu nichts führen... Ohne daß ein Tropfen Blut geflossen, werden sich die Parteien", Ostreich und Preußen, in Frankfurt „zusammenfinden auf den Sesseln des BundestagsI354), ohne daß deshalb weder ihren Eifersüchteleien unter sich noch ihrem Hader mit ihren Untertanen, noch ihrem Verdruß über die russische Oberherrschaft der geringste Abbruch geschehen wird."'3551 Ob nun Willichs Individualität, deren Tüchtigkeit übrigens nicht bestritten werden soll, und seine damals (1850) noch frischen Besangoner Erinnerungen grade ihn befähigten, durch den Gegensatz der Ansichten unvermeidlich gewordene und täglich erneute Konflikte „unpersönlich" aufzufassen, beurteile man aus folgendem Aktenstück:
„Die Deutsche Kolonne za Nancy an den Bürger Joh. Philipp Becker in Biel, Präsident des deutschen Waffenvereins ,Hilf Dirl'
Bürgerl Dir, als dem erwählten Vertreter aller deutschen flüchtigen Republikaner zeigen wir hierdurch an, daß sich in Nancy eine Kolonne deutscher Flüchtlinge gebildet, welche den Namen führt .Deutsche Kolonne zu Nancy*. Die Flüchtlinge, welche die hiesige Kolonne bilden, sind teils solche, welche früher die Vesouler Kolonne gebildet haben, teils sind sie, die Flüchtlinge hier, ein Bestandteil der Kolonne von Besanfon gewesen; der Entfernung derselben von Besanfon liegen rein demokratische Ursachen zugrunde. Willich fragte nämlich in allem, was er tat, sehr selten die Kolonne um Rat; so wurden die Grundgesetze der Besan;oner Kolonne nicht allgemein beraten und beschlossen, sondern von Willich a priori gegeben und in Ausführung gebracht, ohne Zustimmung der Kolonne. Ferner gab uns Willich auch a posteriori Beweise seines despotischen Charakters, durch eine Reihe Befehle, die eines Jellachich, Windischgrätz, aber keines Republikaners würdig waren. Willich gab Befehl, einem die Kolonne verlassenden Mitgliede, namens Schön, die ihm aus den Ersparnissen der Kolonne angeschafften neuen Schuhe von den Füßen zu ; : / 1 „An die Demokraten aller Länder"
zieheil, nicht bedenkend, daß auch Schön an diesen Ersparnissen Anteil hatte, indem diese Ersparnisse hauptsächlich aus den 10 Sous per Mann herrührten, die von Frank' reich als Subsidiengelder täglich bezahlt werden... er wollte seine Schuhe nehmen, Willich ließ sie ihm jedoch abnehmen. Willich schickte mehrere tüchtige Mitglieder der Kolonne wegen Kleinigkeiten, wie Fehlen beim Appell, beim Exerzieren, Zuspätkommen (abends), kleinen Streitigkeiten, ohne Befragen der Kolonne von Besanfon weg mit dem Bemerken, sie könnten nach Afrika gehen, denn in Frankreich dürften sie nimmer bleiben, und wenn sie nicht nach Afrika gingen, würde er sie ausliefern lassen, und zwar nach Deutschland, denn dazu habe er Vollmacht von der französischen Regierung, was nachher, auf Befragen, von der Präfektur in Besanfon als unwahr erklärt wurde. Willich erklärte fast jeden Tag beim Appell: Wem es nicht gefalle, der könne fortgehen, wenn er wolle, je eher je lieber, der könne nach Afrika gehen etc.; ferner stieß er einmal allgemein die Drohung aus: Wer widerspenstig sei gegen seine Befehle, der könne entweder nach Afrika gehen, oder er werde ihn nach Deutschland ausliefern lassen, was die vorbemerkte Frage bei der Präfektur zur Folge hatte. Durch diese täglichen Drohungen bekamen viele Leute das Leben in Besan;on satt, wo man, wie sie sagten, täglich den Bettel vor die Füße geworfen bekam; wenn wir Sklaven sein wollen, sagten sie, können wir nach Rußland gehen oder hätten in Deutschland gar nicht anzufangen brauchen. Genug, in Besan;on erklärten sie es um keinen Preis mehr aushalten zu können, ohne mit Willich in argen Konflikt zu kommen; sie gingen daher fort, da aber nirgends anders damals eine Kolonne sich befand, die sie hätte aufnehmen können, sie aber allein von 10 Sous nicht leben konnten, so blieb ihnen nichts übrig, als sich nach Afrika engagieren zu lassen, was sie auch taten. So hat Willich 30 brave Bürger zur Verzweiflung gebracht und ist schuld, daß diese Kräfte auf immer dem Vaterlande verloren sind. Ferner war Willich so unklug, immer beim Appell seine alten Leute zu loben, die neuen aber herabzusetzen, was beständig Streit erregte, ja, Willich erklärte sogar einmal beim Appell, die Preußen seien den Süddeutschen an Kopf, Herz und Körper, oder an physischen, moralischen und intellektuellen Kräften, wie . er sich ausdrückte, weit überlegen. Die Süddeutschen besäßen dagegen die Gemütlichkeit, Dummheit wollte er sagen, hatte aber nicht ganz das Herz. Dadurch hat Willich alle Süddeutschen, bei weitem die meisten, furchtbar erbittert. Zuletzt das Gröbste. Als vor 14 Tagen die 7te Kompanie einem von Willich eigenmächtig aus der Kaserne ausgewiesenen Mitgliede, namens Baroggio, für eine Nacht noch Quartier im Zimmer zusagte und trotz Willichs Verbot in ihrem Zimmer behielt und dieses verteidigte gegen die Partisanen Willichs, fanatisierte Schneider, so befahl Willich: Man solle Stricke beibringen und die Rebellen binden. Die Stricke wurden auch wirklich beigebracht. Aber den Befehl ganz vollstrecken zu lassen, dazu reichte wohl Willichs Wille, aber nicht seine Macht hin... Dies sind die Gründe ihres Austritts. Nicht um Willich anzuklagen, haben wir dies hier geschrieben. Denn Willichs Charakter und Wille ist gut, und viele von uns achten ihn, aber die Art, wie er zu seinem Zwecke zu gelangen sucht, und die Mittel, die er anwendet, gefielen uns nicht alle.
Willich meint es gut Er hält aber sich für die Weisheit und ultimo ratio und hält jeden, der ihm widerspricht sei es auch in Kleinigkeiten, entweder für einen Dummkopf oder Verräter. Kurz, Willich erkennt keine andre Meinung als seine eigne an. Er ist ein geistiger Aristokrat und Despote, wenn er etwas für gut hält er scheut auch dann nicht leicht ein Mittel. Aber genug hiervon; wir kennen Willich jetzt. Wir kennen seine starken und schwachen Seiten, deswegen sind wir nicht mehr in Besanfon. Übrigens haben alle bei ihrer Abreise von Besan;on erklärt, daß sie von Willich sich trennen, aber nicht aus dem Deutschen Waffenverein »Hilf Dir!" austreten. Ebenso die Vesouler... Mit der Versicherung unserer Hochachtung schließen wir, Brudergruß und Handschlag von der Kolonne zu Nancy. Angenommen in der Generalversammlung vom 13.Novbr. 1848. Nancy, den M.Novbr. 1848 Im Namen ^ Aufeag dej. Kolonne Der Schriftwart B..." Nun zurück zu Techows Brief. Das Gift seines Briefes, wie von anderm Reptil, sitzt im Schwanz, nämlich in der Nachschrift vom 3. September (1850). Sie behandelt ein Duell meines zu früh verstorbenen Freundes Konrad Schramm mit Herrn Willich. In diesem Duell, das anfangs September 1850 zu Antwerpen stattfand, figurierten Techow und der Franzose Barthelemy als Willichs Sekundanten. Techow schreibt an Schimmelpfennig „zur Mitteilung an die Freunde": „Jene" (nämlich Marx und sein Anhang) „haben ihren Champion Schramm gegen Willich losgelassen, der ihn" (Techow will sagen: den er) „mit den pöbelhaftesten Invektiven angegriffen, schließlich zum Duell gefordert hat." (p. 156, 157 des „Hptb.".) Meine Widerlegung dieses albernen Klatsches liegt seit 7 Jahren gedruckt vor in dem früher zitierten Pamphlet „Der Ritter vom edelmüthigen Bewußtsein", New York 1853. Damals lebte Schramm noch. Er, wie Willich, befand sich in den Vereinigten Staaten. Willichs Sekundant Barthdemy war noch nicht gehangen; Schramms Sekundant, der brave polnische Offizier Miskowsky, war noch nicht verbrannt, und Herr Techow konnte sein Rundschreiben zur „Mitteilung an die Freunde" noch nicht vergessen haben. In dem besagten Pamphlet befindet sich ein Brief meines Freundes Friedrich Engels, d. d. Manchester, 23. Novhr. 1853, worin es am Schluß heißt: „In der Sitzung der Zentralbehörde, wo es zwischen Schramm und Willich zur Forderungt356] kam, soll ich (Engels) (nach Willich) das Verbrechen begangen haben, mit Schramm kurz vor der Szene das ,Zimmer verlassen', also die ganze Szene Vorbereitet zu haben. Früher war es Marx (nach Willich),
der Schramm .gehetzt' haben sollte, jetzt zur Abwechslung bin ich es. Ein Duell zwischen einem alten, auf Pistolen eingeschossenen preußischen Lieutenant und einem Commer^ant, der vielleicht nie einePistoIe in der Hand gehabt, war wahrlich eine famose Maßregel, um den Lieutenant ,aus dem Wege zu räumen*. Trotzdem erzählte Freund Willich überall, mündlich und schriftlich, wir hätten ihn erschießen lassen-wollen... Schramm war einfach wütend über Willichs schamloses Auftreten, und uns allen zur größten Überraschung zwang er ihn zum Duell. Schramm selbst hatte einige Minuten vorher keine Ahnung, daß es dazu kommen werde. Nie war eine Handlung spontaner... Schramm entfernte sich nur (aus dem Sitzungslokal) auf persönliches Zureden von Marx, der weitern Skandal vermeiden wollte. Fr. Engekr (p. 7 des efc.-)x
Wie weit ich meinerseits entfernt war zu ahnen, daß Techow sich zum Vehikel des albernen Klatsches hergeben würde, ersieht man aus folgender Stelle desselben Pamphlets: „Ursprünglich, wie Techow selbst bei seiner Rückkehr nach London mir und Engels erzählte, war Willich fest überzeugt, daß ich durch Schramms Vermittlung das Edle aus der Welt zu schaffen beabsichtige, und er schrieb diese Idee in alle Welt. Bei näherm Nachdenken fand er indes, daß ein diabolischer Taktiker wie ich unmöglich auf den Einfall kommen konnte, ihn durch ein Duell mit Schramm zu beseitigen." (p. 9,1. c.)2 Was Techow Herrn Schimmelpfennig zur „Mitteilung an die Freunde" zuklatscht, klatscht er von Hörensagen nach. Karl Schapper, der in der später erfolgten Spaltung des Bundes für Willich Partei ergriff und Zeuge der Forderungsszene war, schreibt darüber an mich:
„5, Percy Street, Bedford Square, 27. Septbr. 1860
Lieber Marx! Den Skandal zwischen Schramm und Willich betreffend, folgendes: Derselbe fiel in einer Sitzung der Zentralbehörde vor und infolge eines heftigen Disputs, der sich zwischen beiden zufällig während der Diskussion entspann. Ich erinnere mich noch recht gut, daß Du alles tatest, um Ruhe zu stiften und die Sache beizulegen, und daß Du über diese plötzliche Explosion ebenso erstaunt schienst als ich selbst und die übrigen anwesenden Mitglieder. Salut Dein Karl Schapper*
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 502 - 2 ebenda. S. 505/506
Schließlich will ich noch erwähnen, daß Schramm selbst einige Wochen nach dem Duell mich in einem Briefe vom 31 .Dezember 1850 der Parteilichkeit für Willich anklagte. Die Mißbilligung, die Engels Und ich ihm offen vor und nach dem Duell über dasselbe ausgesprochen, hatte ihn augenblicklich verstimmt. Dieser sein Brief und andre von ihm und Miskowsky mir über das Duell zugekommene Papiere stehn seinen Verwandten zur Einsicht offen. Sie gehören nicht vor das Publikum. Als Konrad Schramm nach seiner Rückkehr von den Vereinigten] Staaten Mitte Juli 1857 mich wieder in London aufsuchte, war die kecke, hochaufgeschoßne Jünglingsgestalt zusammengebrochen unter einer unheilbaren Schwindsucht, die jedoch den charaktervoll schönen Kopf nur verklärt hatte. Mit seinem eigentümlichen Humor, der ihn keinen Augenblick verließ, war das erste, was er mir lachend mitteilte, seine eigne Todesanzeige,, die ein indiskreter Freund auf ein Gerücht hin bereits in einem New-Yorker deutschen Blatte veröffentlicht hatte. Auf ärztlichen Rat begab sich Schramm nach St. Helier in Jersey, wo Engels und ich ihn zum letztenmal sahen. Schramm starb am 16. Jan. 1858. Bei seinem Leichenzug, dem die ganze liberale Bürgerschaft von St. Helier und die gesamte dort ansässige Emigration nachfolgten, hielt G. Julian Harnet/, einer der besten englischen Volksredner, früher bekannt als Chartistenführer und mit Schramm während seines Aufenthalts zu London befreundet, die Grabrede. Schramms ungestüme tatenkühne Feuernatur, die sich nie durch Alltagsinteressen binden ließ, war durchtränkt mit kritischem Verstand, origineller Denkkraft, ironischem Humor und naiver Gemütlichkeit. Er war der Percy Heißsporn unsrer Partei. Zurück zu dem Brief des Herrn Techow. Einige Tage nach seiner Ankunft in London hatte er, des Abends späte, in einem Weinhause, wo Engels, Schramm und ich ihn bewirteten, ein längeres Rendezvous mit uns. Dies Rendezvous beschreibt er in seinem Brief an Schimmelpfennig vom 26. August 1850, „zur Mitteilung an die Freunde". Ich hatte ihn früher nie gesehn und sah ihn später vielleicht noch zweimal, aber nur ganz flüchtig. Dennoch durchschaute er sofort mir und meinen Freunden den Kopf, das Herz und die Nieren und beeilt sich, hinter unserm Rücken, einen psychologischen Steckbrief in die Schweiz zu schicken, dessen geheime Vervielfältigung und Verbreitung er den „Freunden" sorglichst anempfiehlt. Techow macht sich viel mit meinem „Herzen" zu schaffen. Großmütig folge ich ihm nicht auf dies Gebiet. „Ne parlons. pas morale"1, wie die Pariser Grisette sagt, wenn ihr Freund Politik spricht.
1 „Reden wir nicht Moral"
Verweilen wir einen Augenblick bei dem Adressaten des Briefes vom 26. Aug., bei dem ehemaligen preußischen] Lieutenant Schimmelpfennig. Ich kenne diesen Herrn nicht persönlich, habe ihn nie gesehn. Ich charakterisiere ihn aus zwei Briefen. Der erste Brief, den ich nur auszugsweise gebe, war von meinem Freunde W. Steffen, ehemaligem pr. Lieutenant und Lehrer an der Divisionsschule, an mich gerichtet und datiert von Chester, 23. Novbr. /S55.13571 Es heißt darin:
„Willich hatte einmal einen Adjutanten hinübergeschickt" (nach Köln), „namens Schimmelpfennig. Dieser erzeigte mir die Ehre, mich rufen zu lassen, und war sehr fest überzeugt, daß er alle Verhältnisse von vornherein besser beurteilen könne als irgend jemand, der Tag für Tag den Tatsachen ins Auge sah. Er bekam daher eine sehr geringe Meinung von mir, als ich ihm mitteilte, die Offiziere der preußischen] Armee würden sich nicht glücklich schätzen, unter seinem und Willichs Banner zu fechten, wären gar nicht geneigt, die Willichsche Republik citissime zu erklären. Noch mehr erzürnte er, als kein Mensch unsinnig genug war, seine fertig mitgebrachte Aufforderung an die Offiziere, sofort zu .Das' sich zu erklären, was er die Demokratie nannte, vervielfältigen zu wollen. Wütend verließ er ,das von Marx geknechtete Köln, wie er mir schrieb, und bewirkte die Vervielfältigung dieses Blödsinns in einem andern Orte, sandte ihn an eine Menge Offiziere, und so kam es, daß das keusche Geheimnis dieser schlauen Methode, die preußischen] Offiziere zu Republikanern zu machen, von dem .Zuschauer* der ,Kreuzzeitung' prostituiert wurde."
Zur Zeit dieses Abenteuers war Steffen, der erst 1853 nach England kam, mir noch gänzlich unbekannt. Schlagender noch charakterisiert Schimmel' Pfennig sich selbst in dem folgenden Briefe ein denselben Hörfel, der später als französischer Polizeiagent enthüllt wurde, die Seele des Ende 1850 von Schimmelpfennig, Schurz, Häfner und andern damaligen Freunden Kinkels zu Paris gestifteten Revolutionskomitees, und [der] der intimste Vertraute der beiden Matadore Schurz und Schimmelpfennig war. Schimmelpfennig an Hörfel (zu Paris 1851):
„Hier" (zu London) „ist jetzt folgendes geschehn... Wir haben dorthin" (nach Amerika) „an alle unsre Bekannte von Einfluß geschrieben, die Anleihe" (KinkelAnleihe) „dadurch vorzubereiten, daß sie persönlich und in der Presse vorerst einige Zeit von der Macht der Konspiration sprechen, daß sie darauf hinweisen, wie tüchtige Kräfte, weder von der deutschen, französischen noch italienischen Seite, den Kampfplatz nie verlassen werden." (Die Geschichte hat k&nen Datum nicht? '35Sl) „... Unsre Arbeit geht jetzt gut los. Sobald man Personen fallenläßt, die zu hartköpfig sind, so finden sie sich nachher ein und nehmen die gestellten Bedingungen gern an. Morgen werde ich mich nun, nachdem die Arbeit fest und gesichert ist, mit Rüge und Haug einlassen... Meine
soziale Lage ist wie die Deine eine sehr drückende. Es tut not, daß unser Geschäft bald besser auf den Strumpf kommt." (Nämlich das Kinkelsche Revolutionsanleihe
^ ^ „Dein Schimmdpfermig"
Dieser Brief Schimmelpfennigs befindet sich in den von A. Rüge im „Herold des Westens", Louisville, ll.Sptbr. 1853, veröffentlichten „Enthüllungen". Schimmelpfennig, der sich schon zur Zeit dieser Veröffentlichung in den Vereinigten] Staaten aufhielt, hat niemals gegen die Echtheit des Briefes reklamiert. Ruges „Enthüllungen" sind Abdruck eines Dokumentes „Aus den Akten des Berliner Polizeipräsidiums". Das Dokument besteht aus Hinckeldeyschen Randglossen und Papieren, die entweder bei Schimmelpfennig und Hörfei zu Paris von der franz. Polizei abgefaßt oder bei dem Pastor Ehilon zu Bremen aufgestiebert oder endlich während des Froschmäuslerkriegs zwischen Ruges Agitationsverein und Kinkels Emigrationsverein 13591 von den feindlichen Brüdern selbst der deutsch-amerikanischen Presse anvertraut wurden. Charakteristisch ist die Ironie, womit Hinckeldey von Schimmelpfennig sagt, er habe seine Kinkelsche Revolutionsanleihe-Missionsreise durch Preußen kurz abgebrochen, weil „er sich von der Polizei verfolgt wähnte"! In denselben „Enthüllungen" findet sich ein Brief von Karl Schurz, „dem Repräsentanten des Pariser Komitees (nämlich Hörfels, Häfners, Schimmelpfennigs usw.) in London", worin es heißt:
„Es ist gestern beschlossen worden, von der hier anwesenden Emigration, Bucher, Dr. Frank, Redz aus Wien und Techow, der bald hier sein wird, zu den Beratungen zuzunehmen. NB. Eis ist Techow vorläufig von diesem Beschhtß nichts weder mündlich noch schriftlich zu eröffnen, bis er hier ist." (K. Schurz an die „lieben Leute" zu Paris, London, 16. April 1851.)
An einen dieser „lieben Leute", Herrn Schimmelpfennig, richtet Techow seinen Brief vom 26.August 1850 zur „Mitteilung an die Freunde". Zunächst teilt er dem „lieben Mann" von mir ganz geheimgehaltene Theorien mit, die er jedoch in unsrer einmaligen Zusammenkunft vermittelst des Sprichworts „in vino veritas"1 mir sofort ablauscht.
„Ich", erzählt Herr Techow Herrn Schimmelpfennig „zur Mitteilung an die Freunde", „ich... erklärte schließlich, daß ich sie" (Marx, Engels etc.) „mir immer über den Unsinn eines kommunistischen Glückseligkeitsstalles ä la Cabet erhaben vorgestellt etc." (p. 150 des „Hauptbuchs".)
1 „im Wein liegt Wahrheit"
VorgestelltI Techow wußte also nicht einmal das Abc unsrer Ansichten, war jedoch großmütig und herablassend genug, sie sich nicht grade als „Unsinn" vorzustellen. Wissenschaftlicher Arbeiten nicht zu erwähnen, hätte er auch nur das „Manifest der Kommunistischen Partei" gelesen, das er später als meinen „Proletarier-Katechismus"1 kennzeichnet, so fand er darin einen ausführlichen Abschnitt unter dem Titel „Sozialistische und kommunistische Literatur" und am Schluß dieses Abschnitts einen Paragraph „Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus", worin es heißt: „Die eigentlich sozialistischen und kommunistischen Systeme, die Systeme Saint-Simons, Fouriers, Owens usw. tauchen auf in der ersten unentwickelten Periode des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die wir oben dargestellt haben... Die Erfinder dieser Systeme sahen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblickten auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung. Da die Entwicklung des Klassengegensatzes gleichen Schritt hält mit der Entwicklung der Industrie, finden sie ebensowenig die materiellen Bedingungen zur Befreiung des Proletariats vor und suchen nach einer sozialen Wissenschaft, nach sozialen Gesetzen, um diese Bedingungen zu schaffen. An die Stelle der gesellschaftlichen Tätigkeit muß ihre persönlich erfinderische Tätigkeit treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Organisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Organisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für sie auf in Propaganda und praktische Ausführung ihrer Gesellschaftspläne... Die Bedeutung des kritisch-utopistischen Sozialismus und Kommunismus steht in umgekehrtem Verhältnisse zur geschichtlichen Entwicklung... Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten [...] und [...] träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien, Stiftung einzelner Phalansterien, Gründung von Home-Kolonien, Errichtimg eines kleinen Ikariensl3e0i - Duodezausgabe des neuen Jerusalems..." („Manifest der Kommunistischen Partei", 1848, p. 21, 22)[3611. In den letzten Worten ist Cabets Ikarien oder, wie Techow es nennt, „Glückseligkeitsstall" ausdrücklich als „Duodezausgabe des neuen Je*usalems" bezeichnet.
Die eingestandene gänzliche Unbekanntschaft Techows mit den Ansichten, die Engels und ich jahrelang vor unsrer Zusammenkunft mit ihm durch den Druck bekannt gemacht hatten, ist ein Umstand, der seinen Mißverstand völlig aufklärt. Zu seiner eignen Charakteristik einige Beispiele:
„Er" (Marx) „lacht über die Narren, welche ihm seinen Proletarier-Katechismus nachbeten, so gut wie über die Kommunisten ä la Willich, so gut wie über die Bourgeois. Die einzigen, die er achtet, sind ihm Sie Aristokraten, die reinen und die es mit Bewußtsein sind. Um sie von der Herrschaft zu verdrängen, braucht er eine Kraft, die er allein in dem Proletariat findet, deshalb hat er sein System auf sie zugeschnitten." (p. 152 des „Hauptbuchs".) Techow „stellt" sich also „vor", ich habe einen „Proletarier-Katechismus" verfaßt. Er meint das „Manifest", worin der sozialistische und kritische Utopismus aller Sorten kritisiert und, wenn Techow will, „verlacht" wird. Nur war dies „Verlachen" nicht so einfach, wie er sich „vorstellt", sondern erheischte ein gut Stück Arbeit, wie er aus meiner Schrift gegen Proudhon „Misfere de la philosophie" (1847)1 ersehn konnte. Techow „stellt" sich ferner „vor", ich habe ein „System" „zugeschnitten", während ich umgekehrt, auch in dem direkt für die Arbeiter bestimmten „Manifest", alle Systeme verwarf und an ihre Stelle „die kritische Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der wirklichen gesellschaftlichen Bewegung"2 setzte. Eine solche „Einsicht" läßt sich aber weder nachbeten noch gleich einer Patrontasche „zuschneiden". Von seltner Naivetät ist die Auffassungsweise über das Verhältnis von Aristokratie, Bourgeoisie und Proletariat, wie Techow sie sich „vorstellt" und mir unierstellt. Die Aristokratie „achte" ich, über die Bourgeoisie „lache" ich, und für die Proletarier „schneide ich ein System zu", um durch sie die Aristokratie „von der Herrschaft zu verdrängen". In dem ersten Abschnitt des „Manifestes", betitelt „Bourgeois und Proletarier" (s. „Manifest", p. 113), wird ausführlich entwickelt, daß die ökonomische und daher auch, in einer oder der ein dem Form, die politische Herrschaft der Bourgeoisie die Grundbedingung ist sowohl für die Existenz des modernen Proletariats wie für die Schöpfung der „materiellen Bedingungen seiner Befreiung". Die „Entwicklung des modernen Proletariats" (siehe „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung", Januar 1850, p. 15) „ist überhaupt bedingt durch die Entwicklung der industriellen Bourgeoisie. Unter ihrer Herrschaft gewinnt es erst die ausgedehnte nationale Existenz, die seine Revolution zu einer nationalen erheben kann, schafft es selbst erst die modernen Produktionsmittel, welche
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S. 62-182 - 4 ebenda, S. 474 - 3 ebenda, S. 473/474
ebenso viele Mittel seiner revolutionären Befreiung werden. Ihre Herrschaft reißt erst die materiellen Wurzeln der feudalen Gesellschaft aus und ebnet das Terrain, worauf allein eine proletarische Revolution möglich ist."13621 Ich erkläre daher in derselben „Revue" jede proletarische Bewegung, an welcher sich England nicht beteiligt, für einen „Sturm in einem Glase Wasser". Engels hatte schon 1845 in seiner „Lage der arbeitenden Klasse in England"1 dieselbe Ansicht entwickelt. In Ländern also, wo die Aristokratie im kontinentalen Sinn - und so verstand Techow „die Aristokratie" - erst von der „Herrschaft verdrängt" werden muß, fehlt meiner Ansicht nach die erste Voraussetzung einer proletarischen Revolution, nämlich ein industrielles Proletariat auf nationaler Stufenleiter. Meine Ansicht über das Verhältnis, das speziell die deutschen Arbeiter zur bürgerlichen Bewegung einnahmen, fand Techow in dem „Manifest" sehr bestimmt ausgesprochen. „In Deutschland kämpft die kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat herauszubilden" usw. (p. 23, „Manifest"2.) Als ich wegen „Rebellion" vor einer bürgerlichen Jury zu Köln stand, erklärte ich in demselben Sinn: „In der modernen bürgerlichen Gesellschaft gibt es noch Klassen, aber keine Stände mehr. Ihre Entwicklung besteht in dem Kampfe dieser Klassen, aber diese sind vereinigt gegenüber den Ständen und ihrem gottbegnadeten Königtum." (p. 59, „Zwei politische Prozesse, verhandelt vor den Februar-Assisen zu Köln 1849".)13631 Was andres tat die liberale Bourgeoisie in ihren Aufrufen an das Proletariat von 1688 bis 1848, als „Systeme und Phrasen zuschneiden", um durch seine Kraft die Aristokratie von der Herrschaft zu verdrängen? Des Pudels Kern, den Herr Techow aus meiner Geheimtheorie herausschält, wäre also der ordinärste bürgerliche Liberalismus! Tant de bruit pour une omelette!3 Da Techow nun aber doch andrerseits wußte, daß „Marx" kein bürgerlicher Liberaler war, blieb ihm nichts übrig, als „den Eindruck mitzunehmen, daß seine persönliche Herrschaft der Zweck all seines Treibens ist". „All mein Treiben", welch gemäßigter Ausdruck für meine einmalige Unterredung mit Herrn Techow!
1 Siehe Band 2 unserer Ausgabe, S. 225-506 -2 vgl. Band 4 unserer Ausgabe, S. 492/493 — 3 So viel Lärm um einen Eierkuchen 1
Techow vertraut seinem Schimmelpfennig ferner „zur Mitteilung an die Freunde", daß ich folgende ungeheuerliche Ansicht ausgesprochen:
„Am Ende sei es ja auch ganz gleichgültig, ob dieses erbärmliche Europa zugrunde ginge, was ohne die soziale Revolution binnen kurzem geschehn müsse, und ob dann Amerika das alte System auf Kosten Europas ausbeute." (p. 148 des „Hauptbuchs".)
Meine Unterredung mit Techow fand Ende August 1850 statt. Im Februarheft 1850 der „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung", also acht Monate bevor Techow mir dieses Geheimnis ablauschte, verriet ich dem deutschen Publikum folgendes: „Wir kommen nun zu Amerika. Das wichtigste Faktum, das sich hier ereignet hat, wichtiger als die Februarrevolution, ist die Entdeckung der kalifornischen Goldgruben. Schon jetzt, nach kaum achtzehn Monaten, läßt sich voraussehen, daß diese Entdeckung viel großartigere Resultate haben wird als selbst die Entdeckung Amerikas... Zum zweiten Mal bekommt der Welthandel eine neue Richtung... Dann wird der Stille Ozean dieselbe Rolle spielen wie jetzt der Atlantische und im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer - die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs; und der Atlantische Ozean wird herabsinken zu der Rolle eines Binnensees, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt. Die einzige Chance, daß die europäischen zivilisierten Länder dann nicht in dieselbe industrielle, kommerzielle und politische Abhängigkeit fallen, in der Italien, Spanien und Portugal sich jetzt befinden, liegt in einer gesellschaftlichen Revolution etc." (p. [76,] 77, „Revue", Zweites Heft, Februar 1850.)13641 Nur gehört Herrn Techow das „binnen kurzem zugrunde gehn" des alten Europas und die nächsten Morgen stattfindende Thronbesteigung Amerikas. Wie klar ich damals über die nächste Zukunft Amerikas war, ersieht man aus folgender Stelle derselben „Revue": „Die Überspekulation wird sich sehr bald entwickeln, und wenn auch englisches Kapital massenhaft [...] eintreten [,..] wird, so bleibt doch New York diesmal das Zentrum des ganzen Schwindels und wird, wie 1836, zuerst seinen Zusammenbruch erleben." (p. 149, Doppelheft der „Revue", Mai bis Oktober 1850.)[3651 Dieses Prognostikon, das ich Amerika im Jahre 1850 gestellt hatte, sollte sich wörtlich in der großen Handelskrise von 1857 erfüllen. Von dem „alten Europa", nach Schilderung seines ökonomischen Aufschwunges, sage ich dagegen: „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktionskräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln ..., kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein... Die verschiedenen Zänkereien, in denen sich jetzt die Repräsentanten der einzelnen Fraktionen der kontinentalen Ord
nungspartei ergehn und gegenseitig kompromittieren, weit entfernt, zu einer Revolution Anlaß zu geben, sind im Gegenteil nur möglich, weil die Grundlage der Verhältnisse momentan so sicher und, was die Reaktion nicht weiß, so bürgerlich ist. An ihr werden alle die bürgerliche Entwicklung aufhaltenden Reaktionsversuche ebensosehr abprallen wie alle sittliche Entrüstung und alle begeisterten Proklamationen der Demokraten. Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer Krisis." (p. 153,1. c.)1 _ In der Tat nahm die europäische Geschichte erst wieder seit der Krise von 1857/58 einen akuten und, wenn man will, revolutionären Charakter an. In der Tat entwickelten sich grade während der Reaktionsepoche von 1849 bis 1859 Industrie und Handel auf dem Kontinent in vorher ungeahntem Maßstab und mit ihnen die materielle Grundlage für die politische Herrschaft der Bourgeoisie. In der Tat prallten, während jener Epoche, „alle sittliche Entrüstung und alle begeisterten Proklamationen der Demokratie" an den ökonomischen Verhältnissen ab. Wenn Techau) den Ernst unsrer Unterredung so spaßhaft, nahm er dagegen ihren Spaß um so ernsthafter. Mit feierlichster Leichenbittermiene unterrichtet er seinen Schimmelpfennig „zur Mitteilung an die Freunde":
„Femer Marx: Die Offiziere sind in Revolutionen stets die gefährlichsten, von Lafayette bis zu Napoleon eine Kette von Verrätern und Verrätereien. Man maß Dolch and Gift stets für sie bereithalten."(p. 153 des „Hauptbuchs".) Den Gemeinplatz über die Verrätereien der „Herren vom Militär" wird selbst Techow mir nicht ab einen Originalgedanken oktroyieren wollen. Das Originelle läge in dem stets bereitzuhaltenden „Dolch und Gift". Wußte Techow nicht schon damals, daß wirklich revolutionäre Regierungen, wie z. B. das comit6 du salut public[137), wenn auch sehr drastische, doch minder melodramatische Mittel für die „Herren vom Militär" bereithielten? Dolch und Gift paßten höchstens in den Kram einer venetianischen Oligarchie. Wenn Techow seinen eignen Brief wieder studiert, wird er nachträglich die Ironie aus „Dolch und Gift" herauslesen. Vogts Mitstrolch, der notorische bonapartistische Mouchard Edouard Simon übersetzt in der „Revue contemporaine" (XIII, Paris 1860, p. 528, in seinem „le proc&s de M. Vogt etc.") die letzte Stelle aus Techows Brief mit einer Randglosse:
„Marx n'aime pas beaucoup voir des officiers dans sa bände. Les officiers sont trop dangereux dans les rlvolutions.
1 Siehe Band 7 unserer Ausgabe, S. 440
n faul toujouTS tenir prets pour eux le poignard et le poisonl Techow, qui est officier, se le tient pour dit; il se rembarque et retourne en Suisse."1
Edouard Simon läßt den armen Techow so gewaltig erschrecken vor dem von mir bereitgehaltenen „Dolch und Gift", daß er schnurstracks ausreißt, sich einschifft und nach der Schweiz zurückkehrt. Der Reichs-Vogt druckt die Stelle mit „Dolch und Gift" in fetter Schrift, um dem deutschen Philisterium bange zu machen. Dieselbe lustige Person schreibt jedoch in ihren sogenannten „Studien": „Das Messer and das Gift des Spaniers strahlen heute in verklärtem Glänze - es galt ja der Unabhängigkeit der Nation." (p. 79,1. c.) Ganz nebenbei bemerkt: Die spanischen und englischen Geschichtsquellen über die Periode von 1807 bis 1814 haben die von den Franzosen erfundenen Giftmärchen längst widerlegt. Aber für die Kannegießerei existieren sie natürlich ungestört fort. Ich komme endlich zu den „Klatschereien" in Techows Brief und werde an einigen Beispielen seine historische Unbefangenheit nachweisen:
„Zuerst war die Rede von der Konkurrenz zwischen ihnen und uns, der Schweiz und London [...] Sie hätten die Rechte des alten Bundes zu wahren gehabt, der natürlich um seiner bestimmten Parteistellung willen einen andern auf demselben Gebiet" (Proletariat) „nicht in Freundschaft hätte neben sich dulden können." (p. 143 des „Hauptbuchs".) Die Konkurrenzgesellschaft in der Schweiz, wovon Techow hier spricht und als deren Repräsentant er uns gewissermaßen entgegentrat, war die schon erwähnte „Revolutionäre Zentralisation". Ihre Zentralbehörde saß zu Zürich, an ihrer Spitze als Präsident ein Advokat, ehemaliger Vizepräsident eines der 1848er Duodezparlamente und Mitglied einer der deutschen provisorischen Regierungen von 18492. Im Juli 1850 traf Dronke in Zürich ein, wo ihm als Mitglied des Londoner „Bundes" eine Art notarieller Vertrag von dem Herrn Advokaten „zur Mitteilung" an mich vorgelegt ward. Es heißt darin wörtlich:
„Zwischen der Kommunistenverbindung und der revolutionären Zentralisation ist man in Erwägung der Notwendigkeit einer Vereinigung aller wahrhaft revolutionären Elemente, und nachdem sämtliche Mitglieder der revolutionären Zentralbehörde den Charakter der nächsten Revolution als einen proletarischen anerkannt, wenn sie auch
1 „Marx sieht nicht gern Offiziere in seiner Bande. Offiziere sind bei Revolutionen zu gefährlich. Man inuß für sie immer Dolch und Gift bereithalten. Techow, der Offizier ist, läßt es sich gesagt sein: er schüft sich wieder ein und kehrt in die Schweiz zurück." - 2 Tzschirner
nicht alle imstande waren, sich unbedingt zu dem von London aus aufgestellten Pro-, gramm (Manifest von 1848) zu bekennen, über folgende Punkte übereingekommen: 1. Beide Teile sind einverstanden, nebeneinander fortzuarbeiten - die revolutionäre Zentralisation, indem sie durch Vereinigung aller revolutionären Elemente die nächste Revolution, die Londoner Gesellschaft, indem sie durch die Organisation der vorzugsweise proletarischen Elemente die Herrschaft des Proletariats vorzubereiten sucht; 2. die revolutionäre Zentralisation instruiert ihre Agenten und Emissäre dahin, daß sie bei Bildung von Sektionen in Deutschland die Mitglieder, welche zum Eintritt in die Kommunistenverbindung geeignet scheinen, auf den Bestand einer vorzugsweise im proletarischen Interesse eingerichteten Organisation aufmerksam machen; 3. und 4., daß die Leitung für die Schweiz nur wirklichen Anhängern des Londoner Manifests in der .revolutionären Zentralbehörde' überlassen und gegenseitig Bericht abgestattet werden solle." Man ersieht aus diesem noch in meinem Besitz befindlichen Schriftstück: Eis handelte sich nicht um zwei geheime Gesellschaften „auf demselben Gebiet" (Proletariat), sondern um die Allianz zweier Gesellschaften auf verschiedenen Gebieten und mit verschiedenen Tendenzen. Man ersieht ferner: Die „revolutionäre Zentralisation" erklärte sich bereit, nebst Verfolgung ihrer eigenen Zwecke, eine Art Sukkursale für den „Bund der Kommunisten" zu bilden. Der Vorschlag wurde abgelehnt, weil seine Annahme mit dem „prinzipiellen" Charakter des „Bundes" unvereinbar war.
„Nun kam Kinkel an die Reihe ... Darauf antworteten sie ... Nach billiger Popularität hätten sie niemals gestrebt, im Gegenteil! [...] Was Kinkel angehe, so hätten sie ihm seine wohlfeile Popularität von Herzen gegönnt, wäre er ruhig geblieben. Nachdem er aber jene Rastatter Rede in der Berliner,Abend-Post' veröffentlicht, sei Friede nicht möglich gewesen. Daß alle Welt schreien würde, hätten sie gewußt; daß sie damit um die Existenz ihres jetzigen Blattes" (der „Revue der Rheinischen Zeitung") „spielten, hätten sie sich klar vorausgesagt. Auch sei ihre Befürchtung eingetroffen. Sie seien an der Geschichte zugrunde gegangen, hätten all ihre Abonnenten in der Rheinprovinz verloren und müßten nun das Blatt eingehn lassen. Aber das tue ihnen nichts." (p. 146-148,1. c.) Erst zur tatsächlichen Berichtigung: Weder war damals die „Revue" untergegangen, denn noch 3 Monate später erschien ein neues Doppelheft derselben, noch hatten wir einen einzigen Abonnenten in der Rheinprovinz verloren, wie mein alter Freund J. Weydemeyer, ehemaliger preußischer] Artillerie-Lieutenant, damals Redakteur der „N[euen] Deutschen Zeitung"13661 zu Frankfurt, bezeugen kann, da er so gefällig war, die Abonnentengelder für uns einzuziehn. Im übrigen mußte Techow, der Engels* und meine Schriftstellerei nur von Hörensagen kannte, doch wenigstens unsre
von ihm selbst kritisierte Kritik der Kinkelschen Rede gelesen haben. Wozu also seine vertrauliche Mitteilung an die „lieben Leute" in der Schweiz? Warum ihnen „enthüllen", was wir selbst bereits 5 Monate früher dem Publikum enthüllt hatten? Es heißt wörtlich in der erwähnten Kritik: „Wir wissen im voraus, daß wir die allgemeine Entrüstung der sentimentalen Schwindler und demokratischen Deklamatoren hervorrufen werden, indem wir diese Rede des .gefangenen' Kinkel unsrer Partei denunzieren. Dies ist uns vollständig gleichgültig. Unsre Aufgabe ist die rücksichtslose Kritik... Und indem wir diese unsre Stellung behaupten, verzichten wir mit Vergnügen auf die wohlfeile demokratische Popularität. Wir verschlechtern durch unsern Angriff die Lage des Herrn Kinkel keineswegs: Wir denunzieren ihn der Amnestie, indem wir sein Bekenntnis bestätigen, daß er nicht der Mann ist, für den man ihn zu halten vorgibt, indem wir erklären, daß er würdig ist, nicht nur amnestiert zu werden, sondern selbst in preußischen] Staatsdienst zu treten. Zudem ist seine Rede veröffentlicht." (p. 70, 71, „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung", April 1850.)13671 Techow spricht von unsrer „Kompromittierung" der petits grands hommes1 der Revolution. Er versteht diese „Kompromittierung" jedoch nicht im polizistischen Sinne des Herrn Vogt. Er meint umgekehrt die Operation, wodurch wir Schafen, die sich in revolutionäre Wolfshäute verkleidet hatten, die anstößige Hülle abschälten, sie so bewahrend vor dem Schicksal des berühmten provenzalischen Troubadours, der von den Hunden zerrissen wurde, weil sie an die Wolfshaut glaubten, worin er jagen ging. Als ein Beispiel der anstößigen Art unsrer Angriffe bezeichnet Techow namentlich die gelegentliche Glosse über General Sigel in Engels' Darstellung der „Reichsverfassungskampagne". (S. „Revue", März 1850, p. 70 bis 78.)2 Nun vergleiche man die aktenmäßig belegte Kritik von Engels mit folgendem böswillig seichtem Gewäsch, das der von Techow, Kinkel, Willich, Schimmelpfennig, Schurz, H.B. Oppenheim, Eduard Meyen usw. betriebene Londoner „Emigrationsverein", ungefähr ein Jahr nach unsrer Zusammenkunft mit Techow, gegen denselben General Sigel drucken ließ, und zwar aus keinem andern Grunde, als weil Sigel zu Ruges „Agitationsverein" statt zu Kinkels „Emigrationsverein" hielt. Am3.Dezember 1851, unter dem Titel „Der Agitationsverein inLondon", brachte nämlich der „Baltimore Correspondent", damals eine Art KinkelMoniteur[3681, folgende Charakteristik Sigels:
1 kleinen Größen - 2 siehe Band 7 unserer Ausgabe, S, 189-195
„Sehen wir weiter, wer diese gediegenen Männer sind, denen alle andern als ,tmreife Politiker erscheinen. Der Oberfeldherr Sigel. Wenn die Muse der Geschichte einst gefragt wird, wie diese blasse Unbedeutendheit zur Oberfeldherrschaft gelangt ist, so kommt sie in größre Verlegenheit als mit dem Mondkalbe Napoleon. Dieser ist wenigstens der,Neffe des Onkels', Sigel ist aber nur der .Bruder seines Bruders'. Sein Bruder war durch mißliebige Äußerungen gegen die Regierung, hervorgerufen durch öftem Arrest, den er wegen banaler Liederlichkeit zu erdulden hatte, ein populärer Offizier geworden. Der junge Sigel hielt dies für einen genügenden Grund, sich in der ersten Konfusion der revolutionären Erhebung zum Oberfeldherrn und Kriegsminister auszurufen. Die badische Artillerie, welche ihre Vorzüglichkeit oft bewiesen, hatte ältere und gediegene Offiziere genug, vor denen der junge, schülerhafte Lieutenant Sigel zurücktreten mußte, und die nicht wenig empört waren, einem jungen, unbedeutenden, ebenso unerfahrenen als talentlosen Menschen zu gehorchen. Aber es gab ja einen Brentano, welcher so schwachköpfig und verräterisch war, alles geschehn zu lassen, was die Revolution ruinieren mußte. Ja, es ist eine lächerliche Tatsache, aber es ist Tatsache, daß Sigel sich selbst zum Oberfeldherrn gemacht und Brentano ihn nachträglich anerkannt hat... Bemerkenswert ist jedenfalls jener Charakterzug, daß Sigel die tapfersten Soldaten des republikanischen Heeres im verzweifelten hoffnungslosen Kampfe in Rastatt und im Schwarzwald ohne die versprochenen Hülfstruppen im Stiche gelassen, während er selbst mit den Epauletten und im Kabriolett des Fürsten von Fürstenberg in Zürich herumfuhr und als interessanter, unglücklicher Oberfeldherr paradierte. Das ist die bekannte Größe des reifen Politikers, welcher im .erlaubten Selbstgefühl' seiner frühern Heldentaten sich zum zweitenmal als Oberfeldherrn im Agitationsverein oktroyierte. Das ist der große Bekannte, der ,Bruder seines Bruders'."
Die Unparteilichkeit erheischt, daß wir einen Augenblick auch Ruges „Agitationsverein" in der Person seines Wortführers Tamerum hören. Tausenau, in einem offnen Sendschreiben d. d. London, M.Novbr. 1851, „An den Bürger Seidensticker", bemerkt mit Bezug auf den von Kinkel, Techow usw. geleiteten „Emigrationsverein" u. a.:
.... Sie sprechen die Überzeugung aus, daß eine Einigung aller im Interesse der Revolution patriotische Pflicht und Dringlichkeit sei. Der deutsche Agitationsverein teilt diese Überzeugung, und seine Mitglieder haben sie in langatmigen Einigungsversuchen mit Kinkel und seinen Anhängern betätigt. Jede Grundlage einer politischen Kooperation schwand aber, sobald sie gewonnen schien, und neue Tauschungen folgten den alten. Eigenmächtigkeiten gegen frühere Verabredungen, separate Interessen unter der Maske der Versöhnlichkeit, systematische Erschleichung von Majoritäten, Auftritt unbekannter Größen als organisierende Parteichefs, Oktroyierungsversuche eines geheimen Finanzausschusses und wie alle die Winkel- und Schachbrettzüge heißen mögen, womit unreife Politiker jederzeit die Geschicke ihres Landes im Exil zu lenken meinten, während schon die erste Glühhitze der Revolutionen solche Eitelkeiten zu leerem Dunst verflüchtigt... Wir wurden von Kinkels Anhängern öffentlich und offiziell
denunziert; die reaktionäre uns unzugängliche deutsche Presse wimmelt von uns ungünstigen und Kinkel günstigen Korrespondenzen, und endlich reiste Kinkel in die Vereinigten Staaten, um uns durch seine dort in Angriff genommene s.g. deutsche Anleihe eine Vereinigung oder, besser gesagt, eine Unterordnung und Abhängigkeit zu diktieren, die jeder Urheber finanzieller Parteiverschmelzungen beabsichtigt. Die Abreise Kinkels wurde so vorsichtig geheimgehalten, daß wir sie erst mit der Nachricht von seiner Ankunft in New York aus amerikanischen Blättern erfuhren... Das und noch mehr waren für ernste Revolutionäre, die sich nicht überschätzten, aber im Bewußtsein früherer Leistungen mit Selbstgefühl sagen dürfen, daß wenigstens fc/ar umschriebene Teile des Volkes hinter ihnen stehen, gebieterische Motive, in einen Verein zu treten, der in seiner Art die Interessen der Revolution zu fördern sucht."
Kinkel wird ferner angeklagt, daß die von ihm gesammelten Fonds „einer Clique" dienen sollten, wie „sein ganzes Betragen hier" (London) „und in Amerika zeige", nicht minder „die Mehrzahl der von Kinkel selbst bestallten Garanten".
Am Schlüsse heißt es:
„Wir versprechen unsern Freunden keine Zinsen und keine Rückzahlung ihrer patriotischen Spenden, wir wissen aber, daß wir ihr Vertrauen durch positive" (reelle Bedienung?) „Leistungen und gewissenhafte Rechnungsstellung rechtfertigen werden und daß ihrer einst mit der Veröffentlichimg ihrer Namen von unsrer Seite der Dank des Vaterlands wartet." („Baltimore Wecker" vom 29. Nov. 1851.)
Das war die Art „literarischer Tätigkeit", welche die demokratischen Helden des „Agitationsvereins" und des „Emigrationsvereins", wozu später noch der von Goegg gestiftete „Revolutionsbund beider Welten" hinzukam, in der deutsch-amerikanischen Presse während 3 Jahren entwickelten. (Siehe Beilage 6.) Der Flüchtlingsskandal in der amerikanischen Presse war übrigens eröffnet worden durch ein papiernes Turnier zwischen den Parlamentlern Zitz und Roesler von Oels. Hier noch eine für Techows „liebe Leute" charakteristische Tatsache. Schimmelpfennig, der Adressat von Techows Brief „zur Mitteilung an die Freunde", hatte (wie schon oben erwähnt) Ende 1850 mit Hörfei, Häfner, Goegg und andern (K. Schurz kam später hinzu) ein sogenanntes Revolutionskomitee in Paris errichtet. Vor mehreren Jahren wurde ein Schreiben eines ehemaligen Mitglieds dieses Komitees an einen hiesigen politischen Flüchtling mir zu beliebigem Gebrauch Übermacht. Das Papier befindet sich noch in meinem Besitz.
Es heißt darin u. a.: „Schurz und Schimmelpfennig machten das ganze Komitee aus. Was sie sich noch als eine Art von Beisitzern beilegten, war nur zum Figurieren. Jene zwei Herren glaubten damals ihren Kinkel, den sie förmlich für sich expropiiert hatten, bald an die Spitze der Geschäfte in Deutschland bringen zu können. Namentlich waren ihnen verhaßt die Sarkasmen Ruges wie die Kritik und das dämonische Treiben des Marx. Bei einer Zusammenkunft jener Herren mit ihren Beisitzern machten sie uns von Marx wirklich eine interessante Schilderung und brachten uns von seiner pandämonischen Gefährlichkeit eine übertriebene Meinung bei... Schurz-Schimmelpfennig brachte einen Antrag ein, den Marx zu vernichten. Verdächtigung und Intrige, lie frechsten Verleumdungen wurden als Mittel anempfohlen. Eine bejahende Abstimmung und ein Beschluß, wenn Sie das kindische Spiel so nennen wollen, fand statt. Der nächste Schritt zur Ausführung war die von L. Häfner, auf Grundlage der oben erwähnten Schilderung des Schurz und Schimmelpfennig, im Feuilleton der ,Hamburger Nachrichten'1 Anfang 1851 veröffentlichte Charakteristik von Marx." Jedenfalls besteht die auffallendste Wahlverwandtschaft zwischen Hafners Feuilleton und Techows Schreiben, obgleich weder das eine noch das andere an Vogts „Lattsiade" hinanreicht. Mein muß die Lausiade nicht verwechseln mit der „Lusiada" von Camoens. Die ursprüngliche „Lousiad" ist vielmehr ein heroisch-komisches Epos des Peter Pindar.t369J
1 (1860) des ,Hamburger Anzeigers'
V. Reichsregent und Pfalzgraf
Vidi un col capo si dl merda lordo, Che npn parea s'era laico o cherco, Quei mi sgridö: Percha se' tu si ingordo Di riguardar piü me che gli altri brutti? (Dante)*
Der heimgebürstete Vogt fühlt ein gewaltiges Bedürfnis, nachzuweisen, warum grade er als „bete noire"1 die Blicke der „Schwefelbande" anzog. Cherval und die „vereitelte Verschwörung" auf dem Lausanner Zentralfest werden daher ergänzt durch ein nicht minder in der Wirklichkeit sich ereignet habendes Abenteuer mit dem „flüchtigen Reichsregenten". Vogt, nicht zu vergessen, war nämlich seinerzeit Statthalter der parlamentarischen Insel Barataria.13711 Er erzählt:
„Mit dem Beginn des Jahres 1850 erschien die ,Deutsche Monatsschrift' von Kolatschek [...] Unmittelbar nach dem Erscheinen des ersten Hefts erließ die Schwefelbande durch einen ihrer Genossen, der sogleich nach Amerika abreiste, ein Pamphlet unter dem Titel ,Der flüchtige Reichsregent Vogt mit seinem Anhange und die Deutsche Monatsschrift von Adolph Kolatschek', welches auch von der Allgemeinen Zeitung' erwähnt wurde... Das ganze System der Schwefelbande zeigt sich aufs neue in diesem Pamphlet." (p. 163,1. c.)
Es wird nun lang und breit erzählt, wie in besagtem Pamphlet ein anonymer Artikel über Gagern, verfaßt von Professor Hagen, dem flüchtigen Reichsregenten Vogt „zugeschrieben" ward, und zwar weil
„die Schwefelbande wußte", daß Hagen „damals in Deutschland lebte, von der badischen Polizei gemaßregelt wurde und damals nicht genannt werden konnte, ohne den empfindlichsten Vexationen ausgesetzt zu werden", (p. 163.)
* Sah einen ich das Haupt von S ...so schmierig," Ob Pfaff, ob Lai' er, war drum nicht zu sehn. Der schrie mir zu: „Was bist Du so begierig, Vor allen Schmutzigen mich zu gewahren!?" (Kannegießer)t3?o1
1 „schwarzer Mann"
Schily in seinem Briefe d. d. Paris, 8.Februar, schreibt mir:
„Daß Greiner, der meines Wissens nie in Genf gewesen, in die Schwefelbande mit hineingeflochten worden, verdankt er seinem Nachruf an den .flüchtigen Reichsregenten', für dessen Verfasser parlamentarischerseits d!Ester gehalten und als solcher verfemt wurde, bis ich einen Freund und Kollegen Vogts correspondendo1 hierüber eines Bessern belehrte." Greiner war Mitglied der provisorischen Regierung der Pfalz. Greiners Herrschaft war „ein Grauen" (siehe Vogts „Studien", p. 28), nämlich für meinen Freund Engels, den er unter falschen Vorwänden zu Kirchheim verhaften ließ. Das ganze tragikomische Ereignis hat Engels selbst ausführlich erzählt in der „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung" (p. 53-55, Februarheft I850).[3721 Und das ist alles, was mir von Herrn Greiner bekannt ist; Daß der flüchtige Reichsregent mich hineinlügt in seinen Konflikt mit dem „Pfalzgraf", zeigt „aufs neue" das „ganze System", wonach der Erfindungsreiche Leben und Taten „der Schwefelbande" kompo' niert hat. Was mich aussöhnt, ist jedoch der echte Falstaff-Humor, womit er den Pfalzgraf „sogleich" nach Amerika abreisen läßt. Nachdem der Pfalzgraf das Pamphlet auf den „flüchtigen Reichsregenten" wie einen parthischen Pfeil abgeschnellt, umgrieselte den Greiner ein Grauen. Weg trieb's ihn von der Schweiz nach Frankreich, von Frankreich nach England. Durch den Kanal selbst hielt er sich nicht hinreichend gedeckt, und weiter trieb's ihn nach Liverpool auf einen Cunard Steamer2, wo er atemlos dem Schiffskapitän zuschrie: „Fort über denAtlantik!". Und der „stern mariner"3 antwortete:
„Wohl aus des Vogts Gewalt errett' ich Euch! Aus Sturmes Nöten muß ein andrer helfen."13731
1 brieflich -1 Dampfer der Cunard-Linie - 3 „rauhe Seemann"
VI. Vogt und die „Neue Rheinische Zeitung"
„Sin kumber was manecvalt."1
Vogt erklärt selbst, daß es ihm in dem „Hauptbuch" zu „tun" ist (I. c. p. 162) um „die Entwicklung seiner persönlichen Stellung zu dieser Clique" (Marx und Konsorten). Sonderbarerweise erzählt er nur Konflikte, die er nie erlebt hat, und erlebt er nur Konflikte, die er nie erzählt hat. Seinen Jagdgeschichten muß ich daher ein Stück wirklicher Geschichte gegenüberstellen. Durchblättert man "den Jahrgang der „Neuen Rheinischen Zeitung" (I.Juni 1848 bis 19. Mai 1849), so wird man finden, daß während des Jahres 1848 Vogts Name mit einer einzigen Ausnahme weder in den Leitartikeln noch in den Korrespondenzen der „Neuen Rheinischen Zeitung" figuriert. Er findet sich nur in den täglichen Berichten über die Parlamentsdebatten, und der Frankfurter Berichterstatter verfehlte nie, zur großen Genugtuung des Herrn Vogt, den für „die von ihm selbst gehaltenen Reden" erhaschten „Beifall" jedesmal gewissenhaft zu registrieren. Wir sahen, daß, während die rechte Seite zu Frankfurt über die vereinigten Kräfte eines Harlekin wie Lichnowski und eines Clown wie v. Vincke verfügte, die Linke auf die isolierten Schwänke des einzigen Vogt angewiesen war. Wir begriffen, daß er der Aufmunterung bedürfe
„that important fellow the children's wonder - Signor Punchinelli2 und ließen daher den Frankfurter Berichterstatter ruhig gewähren. Ein Wechsel in der Färbung der Berichte tritt ein nach Mitte September 1848. Vogt, der in den Debatten über den Malmöer Waffenstillstand durch revolutionäre Rodomontaden zum Aufstand provoziert hatte, hintertrieb, soviel an ihm war, im Augenblick der Entscheidung die Annahme der auf
1 „Sein Kummer war mannigfaltig."1"4' - s „dieser anmaßende Barsch, das Kinderwunder - Signor Ptmchinello"
der Pfingstweide von der Volksversammlung gefaßten und von einem Teil der äußersten Linken gutgeheißenen Beschlüsse.1-3751 Nachdem der Barrikadenkampf niedergeschlagen, Frankfurt in ein offenes Heerlager verwandelt und der Belagerungszustand proklamiert war, am 19. September, erklärte sich derselbe Vogt für die Dringlichkeit von Zachariäs Antrag auf Gutheißung der von dem Reichsministerium bisher getroffenen Maßregeln und auf Danksagung an die Reichstruppen. Bevor Vogt die Tribüne bestieg, hatte selbst Venedey gegen die „Dringlichkeit" jener Anträge opponiert und eine solche Diskussion, in solchem Augenblicke, gegen die Würde der Versammlung erklärt. Aber Vogt stand unter Venedey. Zur Strafe setzte ich in den parlamentarischen Bericht hinter das Wort „Vogt" das Wort „Schwätzer", ein lakonischer Wink für den Frankfurter Berichterstatter. Im nachfolgenden Oktober unterließ Vogt nicht nur, was seines Amts war, die Narrenpritsche zu schwingen über den Häuptern der damals übermütigen und reaktionswütigen Majorität. Nicht einmal den Protest wagte er zu unterzeichnen, den Zimmermann von Spandau im Namen von ungefähr 40 Deputierten gegen das Gesetz zum Schutz der Nationalversammlung am 10. Oktober einbrachte.13761 Dies Gesetz, wie Zimmermann richtig hervorhob, war der schamloseste Eingriff in die durch die Märzrevolution errungenen Volksrechte - Versammlungsrecht, Redefreiheit und Preßfreiheit. Sogar Eisenmann reichte einen ähnlichenProtest ein. Aber Vogt stand unter Eisenmann. Als er sich nun später wieder mausig machte bei Gründung des „Zentral-Märzvereins"13771, erscheint sein Name endlich in einem Artikel der „Neuen Rheinischen Zeitung" (Nummer vom 29. Dezember 1848), worin der „Märzverein" als „unbewußtes Werkzeug der Kontrerevolution" gezeichnet, sein Programm kritisch zerfetzt und Vogt als die eine Hälfte einer Doppelfigur dargestellt wird, wovon Vincke die andre Hälfte bilde. Mehr als ein Jahrzehnt später haben beide „Minister der Zukunft" ihre Zusammengehörigkeit erkannt und die Teiltmg Deutschlands zum Wahlspruch ihrer Einigung gemacht. Daß wir den „Märzverein" richtig verstanden, hat nicht nur seine spätere „Entwicklung" gezeigt. Der Heidelberger „Volksbund", der Breslauer „demokratische Verein", der Jenaer „demokratische Verein" usw. wiesen seine zudringlichen Liebesbewerbungen mit Hohn zurück, und diejenigen Mitglieder der äußersten Linken, die ihm beigetreten waren, bestätigten durch ihre Austrittserklärung vom 20. April 1849 unsere Kritik vom 29. Dezember 1848. Vogt jedoch, in stiller Seelengröße, sammelte feurige Kohlen auf unser Haupt, wie man aus folgendem Zitat ersehn wird: „Nr. 243 der ,Neuen Rheinischen Zeitung', Köln, 10. März 1849. ,Der
Frankfurter sog. Märzverein' der sog. .Reichsversammlung' hat die Unverschämtheit, uns folgenden lithographierten Brief zuzusenden:
.Der Märzverein hat beschlossen, daß eine Liste sämtlicher Blätter, welche uns ihre Spalten geöffnet haben, aufgestellt und allen Vereinen, mit welchen wir in Verbindung stehn, mitgeteilt werde, damit durch den gedachten Verein dahin gewirkt werde, daß die bezeichneten Blätter vorzugsweise mit etwa einschlägigen Anzeigen bedacht würden. Indem wir Ihnen die aufgestellte Liste andurch mitteilen, glauben wir nicht nötig zu haben, Sie auf die Wichtigkeit der bezahlten Annoncen eines Blattes als Hauptnahrungsquelle des ganzen Unternehmens aufmerksam zu machen [...] Frankfurt, Ende Februar 1849. Der Vorstand des Zentral-März-Vereins'
Auf der beigefügten Liste dieser Blätter, welche dem Märzverein ihre -Spalten geöffnet haben und von den Anhängern des Märzvereins vorzugsweise mit ,einschlägigen Annoncen' bedacht werden sollen, befindet sich, überdies noch mit einem ehrenden Stern versehn, auch die ,Neue Rheinische Zeitung'. Wir erklären hiermit, [...] daß dem sog. Märzverein niemals die Spalten unsrer Zeitung geöffnet worden sind... Wenn der Märzverein daher in seinem lithographischen Bericht und wirklich spaltengeöffneten Blättern unsre Zeitung als eins seiner Organe bezeichnet, so ist dies eine simple Verleumdung der,Neuen Rheinischen Zeitung' und abgeschmackte Renommage des Märzvereins... Auf die schmutzige Bemerkung der profitwütigen, konkurrenzgehetzten Patrioten über die Wichtigkeit der bezahlten Annoncen einer Zeitung als Nahrungsquelle des ganzen Unternehmens haben wir natürlich keine Antwort. Die ,Neue Rheinische Zeitung' hat sich, wie überhaupt, auch darin stets von den Patrioten unterschieden, daß sie die politische Bewegung nie als Industrieritterzweig oder Nahrungsquelle betrachtet hat."13781 Kurz nach dieser rauhen Abweisung des von Vogt und Konsorten angebotenen Nahrungsquells wurde die „Neue Rheinische Zeitung" in einer Versammlung des Zentral-Kommerzvereins1 als Muster „echt deutscher Zerrissenheit" tränenreich erwähnt. Am Schlüsse unsrer Erwidrung auf die Jeremiade (Nr. 248 der „Neuen Rheinischen Zeitung") wird Vogt als „ldeinuniversitätischer Bierpolterer und verfehlter Reichsbarrot"[379) gekennzeichnet. Er hatte zwar damals (15. März) in der Kaiserfrage noch nicht den Knoblauch gegessen. Allein wir waren ein für allemal klar über Herrn Vogt und konnten daher seinen künftigen Verrat, der ihm selbst noch nicht klar war, als abgemachte Tatsache behandeln.
1 Wortspiel: Zentral-Märzverein - Zentral-Kommerzverein
Von nun an überließen wir übrigens Vogt und Konsorten der Behandlung des jungen,.ebenso geistreichen als kühnen Schlöffel, der Anfang März aus Ungarn in Frankfurt angelangt war und uns seitdem über die Unwetter im Reichs-Froschteich berichtete. Vogt war unterdes so tief gefallen - er selbst hatte natürlich mehr zu diesem Falle beigetragen als die „Neue Rheinische Zeitung" -, daß sogar Bassermann wagen durfte, ihn in der Sitzung vom 25. April 1849 als „Apostat und Renegat" zu brandmarken. Infolge seiner Beteiligung am Elberfelder Aufstand mußte ein Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung", F. Engels, flüchten[3801, und ich selbst wurde kurz darauf aus Preußen verjagt, nachdem wiederholte Versuche, mich durch Prozesse still zu machen, an den Geschwornen gescheitert waren und das Organ des Staatsstreichs-Ministeriums13811, die „Neue Preußische Zeitung", wiederholt die „Chimborasso-Frechheit13821 der .Neuen Rheinischen Zeitung', wogegen der .Moniteur' von 1793 matt erscheine" (s. Nr. 299 der „Neuen Rheinischen Zeitung"),'3831 denunziert hatte. Solche „Chimborasso-Frechheit" war am Platz in einer preußischen Festungsstadt und zu einer Zeit, wo die siegreiche Kontrerevolution durch schamlose Brutalität zu imponieren suchte. Am 19. Mai 1849 erschien die letzte Nummer der „Neuen Rheinischen Zeitung" (Rote Nummer). Solange die „Neue Rheinische Zeitung" existierte, hatte Vogt geduldet und geschwiegen. Wenn ein Parlamentler überhaupt reklamierte, geschah es stets in modester Weise, etwa so:
„Mein Herr! Ich schätze an Ihrem Blatte die scharfe Kritik darum nicht minder, weil sie alle Parteien und alle Personen gleich strenge überwacht." (S. Nr. 219 vom 11. Februar 1849, Wesendoncks Reklamation.)
Eine Woche nach Untergang der „Neuen Rheinischen Zeitung" glaubte Vogt endlich, unter dem Schild parlamentarischer Unverletzlichkeit, die lang vermißte Gelegenheit beim Schopf fassen und den lang in tiefstem Herzen aufgehäuften „Stoff" zur „Kraft"'3431 entwickeln zu können. Ein Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung", Wilhelm Wolß, war nämlich als Ersatzmann für einen allegewordenen schlesischen Parlamentler in die „in fortschreitender Auflösung begriffene" Frankfurter Versammlung eingetreten. Um die folgende Szene in der Sitzung des Parlaments vom 26. Mai 1849 zu verstehn, muß man sich erinnern, daß damals der Aufstand in Dresden und die partiellen Bewegungen in der Rheinprovinz bereits niedergeschlagen waren, die Reichsintervention in Baden und der Pfalz bevorstand, die
russische Hauptarmee auf Ungarn zumarschierte, endlich das Reichsministerium von der Versammlung gefaßte Beschlüsse einfach kassiert hatte. Auf der Tagesordnung standen zwei „Proklamationen an das deutsche Volk", die erstere redigiert von Uhland und ausgehend von der Majorität, die andre von dem Zentrum angehörigen Mitgliedern eines DreißigerAusschusses.13841 Es präsidierte der Darmstädter Reh, der nachher Hase ward und sich ebenfalls „ablöste" von der „in voller Auflösung" begriffenen Versammlung. Ich zitiere nach dem offiziellen stenographischen Bericht Nr. 229, 228. Sitzung in der Paulskirche. I3851
Wolff von Breslau-, „Meine Herren! Ich habe mich gegen die Proklamation an das Volk einschreiben lassen, gegen die Proklamation, die von der Majorität verfaßt und hier verlesen worden ist, weil ich sie für durchaus unangemessen den jetzigen Zuständen halte, weil ich sie viel zu schwach finde, geeignet bloß, um als Journalartikel in denjenigen Tagesblättern zu erscheinen, welche die Partei vertreten, von welcher diese Proklamation ausgegangen ist, aber nicht für eine Proklamation an das deutsche Volk. Da nun jetzt noch eine zweite verlesen worden ist, so will ich nur so beiläufig bemerken, daß ich mich gegen diese noch viel mehr erklären würde, aus Gründen, die ich hier nicht anzuführen brauche." (Eine Stimme aus dem Zentrum: „Warum denn nicht?") „Ich spreche nur von der Majoritäts-Proklamation, sie ist allerdings so mäßig gehalten, daß selbst Herr Büß nicht viel dagegen sagen konnte, und das ist doch gewiß die schlimmste Empfehlung für eine Proklamation. Nein, meine Herren, wenn Sie irgend und überhaupt noch einen Einfluß auf das Volk haben wollen, müssen Sie nicht in der Weise, wie es in der Proklamation geschieht, zum Volke sprechen; Sie dürfen da nicht von Gesetzlichkeit, von gesetzlichem Boden u. dgl. sprechen, sondern von Ungesetzlichkeit in derselben Weise wie die Regierungen, wie die Russen, und ich verstehe unter Russen die Preußen, die östreicher, Bayern, Hannoveraner." (Unruhe und Gelächter.) „Diese sind alle unter dem gemeinsamen Namen Russen zusammengefaßt." (Große Heiterkeit.) „Ja, meine Herren, auch in dieser Versammlung sind die Russen vertreten. Sie müssen ihnen sagen: ,So wie ihr euch auf den gesetzlichen Standpunkt stellt, so stellen wir uns auch darauf.' Es ist der Standpunkt der Gewalt, und erklären Sie in Paranthese die Gesetzlichkeit dahin, daß Sie den Kanonen der Russen die Gewalt entgegenstellen, wohlorganisierte Sturmkolonnen. Wenn überhaupt eine Proklamation zu erlassen ist, so erlassen Sie eine, in welcher Sie von vornherein den ersten Volksverräter, den Reichsvenoeser1, für vogelfrei erklären." (Zuruf: „Zur Ordnung!" Lebhafter Beifall von den Galerien.) „Ebenso alle Minister." (Erneuerte Unruhe.) „Oh, ich lasse mich nicht stören; er ist der erste Volksverräter." Präsident: „Ich glaube, daß Herr Wolff jede Rücksicht überschritten und verletzt hat. Er kann den Erzherzog'Reichsvenoeser vor diesem Hause nicht einen Volksverräter nennen, und ich muß ihn deshalb zur Ordnung rufen. Die Galerien fordre ich gleich
1 Erzherzog Johann
zeitig zum letztenmal auf, in der geschehenen Weise an der Debatte sich nicht zu beteiligen." Weiß-, „Ich für meinen Teil nehme den Ordnungsruf an und erkläre, daß ich die Ordnung habe überschreiten wollen, daß er und seine Minister Verräter sind." (Von allen Seiten des Hauses der Zuruf: „Zur Ordnung, das ist pöbelhaft.") Präsident: „Ich muß Ihnen das Wort entziehen." Wolf}-. „Gut, ich protestiere; ich habe im Namen des Volks hier sprechen wollen und sagen wollen, wie man im Volke denkt- Ich protestiere gegen jede Proklamation, die in diesem Sinne abgefaßt ist." (Große Aufregung.) Präsident: „Meine Herren, wollen Sie mir einen Augenblick das Wort geben. Meine Herren, der Vorfall, der sich soeben ereignet hat, ist, ich kann es sagen, der erste, seitdem das Parlament hier tagt." (Es war in der Tat der erste und der einzige Vorfall in diesem Debattierklub.) „Es hat hier noch kein Redner erklärt, daß er mit Absicht die Ordnung, die Grundlage dieses Hauses, habe verletzen wollen." (Schlöffel hatte bei einem ähnlichen Ordnungsruf, in der Sitzung vom 25. April, gesagt: „ Ich nehme den Ordnungsruf an und tue es um so lieber, weil ich hoffe, es werde die Zeit bald kommen, in welcher diese Versammlung anderweitig zur Ordnung gerufen wird. ") „Meine Herren, ich muß tief beklagen, daß Herr Wolff, der kaum erst Mitglied des Hauses geworden ist, in dieser Weise debütiert" (Reh betrachtet die Sache vom Komödienstandpunkt aus). „Meine Herren! Ich habe den Ordnungsruf gegen ihn ausgesprochen, wegen der starken Verletzung, die er sich erlaubt hat, in betreff der Achtung und der Rücksicht, die wir der Person des Reichsverwesers schuldig sind."
Die Sitzung geht nun ihren Gang fort. Hagen und Zachariä halten lange Reden, der eine für, der andre gegen die Majoritäts-Proklamation. Endlich erhebt sich
Vogt von Gießen: „Meine Herren! Erlauben Sie mir einige Worte, ich will nicht ermüden. Daß das Parlament nicht mehr so ist, wie es in dem vorigen Jahre zusammentrat, meine Herren, das ist vollkommen richtig und wir danken dem Himmel" (der „Köhlergläubige" Vogt dankt dem Himmel!) „dafür, daß es so geworden wird" (jawohl, geworden wird!) „und daß diejenigen, welche an ihrem Volk verzweifelten und welche die Sache des Volks im entscheidenden Moment verrieten, sich von der Versammlung getrennt haben! Meine Herren, ich habe mich zum Worte gemeldet" (also das bisherige Dankgebet war nur Flause), „um den kristallhellen Strom, der aus einer Dichterseele" (Vogt wird seelenhaft) „in diese Proklamation geflossen ist, zu verteidigen" (Stromverteidigung) „gegen den unwürdigen Schmutz, welcher in denselben geworfen oder gegen denselben geschleudert worden ist" (der Strom war ja bereits von der Proklamation absorbiert), „um diese Worte" (der Strom verwandelt sich, wie alles andre bei Vogt, in Worte) „zu verteidigen gegen den Kot, der aufgehäuft worden ist in dieser letzten Bewegung und dort alles zu überfluten und alles zu beschmutzen droht. Ja, meine Herren! Das" (nämlich der Kot) „ist ein Kot und ist ein Schmutz" (der Kot ist ein Schmutz!), „den man auf diese Weise" (welche Weise?) „an alles, was nur Reines
gedacht werden kann, heranwirft, und ich spreche meine tiefste Entrüstung" (Vogt in tiefster Entrüstung, quel tableau!1) „darüber aus, daß so etwas" (was?) „geschehen konnte." Und was er spricht, ist - Kot.[386] Wolff hatte keine Silbe über Uhlands Redaktion der Proklamation gesagt. Er war, wie der Präsident wiederholt erklärt, zur Ordnung gerufen worden, er hatte den ganzen Sturm heraufbeschworen, weil er den Reichsverweser und alle seine Minister für VolksVerräter erklärt und das Parlament aufgefordert hatte, sie zu Volksoerrätem zu erklären. Aber der „ErzherzogReichsverweser", der „abgenutzte Habsburger" (Vogts „Studien", p. 28) und „alle seine Minister" sind für Vogt „alles, was nur Reines gedacht werden kann". Er sang mit Walter von der Vogelweide:
„des forsten milte üz österliche fröit dem süezen regen geliche beidiu liute und ouch daz lant."s
Stand Vogt damals schon in den später von ihm eingestandenen „wissenschaftlichen Beziehungen" zum Erzherzog Johann? (S. p. 25, Dokumente, „Hauptbuch".) Zehn Jahre später erklärte derselbe Vogt in den „Studien", p. 27[/28]:
„So viel ist wenigstens sicher, daß die Nationalversammlung in Frankreich und deren Führer zur Zeit ebenso die Fähigkeiten Louis-Napoleons unterschätzten wie die Führer der Frankfurter Nationalversammlung diejenigen des Erzherzogs Johann und daß jeder der beiden Schlauköpfe in seiner Sphäre [seine Unterschätzer] reichlich für den begangenen Fehler büßen ließ. Wir sind damit weit entfernt, beide auf eine Linie zu stellen. Die entsetzliche Rücksichtslosigkeit usw. usw. (Louis Bonapartes). - Dies alles läßt ihn dem schon alten und abgenutzten Habsburger weit überlegen erscheinen." Noch in derselben Sitzung ließ Wolff den Vogt durch den Abgeordneten Würth aus Sigmaringen auf Pistolen fordern, und als besagter Vogt seine Haut dem Reich zu erhalten beschloß*, ihm körperliche Züchtigung an
* Kobes I. erzählt in dem schon erwähnten Pamphlet von Jacobus Venedey: „Als Karl Vogt in der Sitzung, in welcher Gagern den Gabriel Rießer nach dessen Kaiserrede umarmte, ... den Abgeordneten Zimmermann ... mit Spottpathos und lautem Schreien in der Paulskirche umarmte, habe ich ihm zugerufen: ,Laß die Gassenbuben
1 was für ein Bild! 2 „Die Freigebigkeit des Fürsten von Österreich erfreut, dem milden Regen gleich, gleichermaßen Leute und Land."
dröhn. Als Wolff aber, beim Herausgehn aus der Paulskirche, Karl den Kühnen von zwei Damen flankiert fand, brach er in helle Lache aus und überließ ihn seinem Schicksal. Obgleich ein Wolf, dessen Zähne und Herz wölfisch sind, ist Wolff jedoch ein Lamm gegen das schöne Geschlecht. Die einzige, sehr harmlose Rache, die er nahm, war ein Artikel in der „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung" (Aprilheft 1850, p. 73), betitelt „Nachträgliches aus dem Reich", worin es mit Bezug auf den Ex-Reichsregenten also lautet:
„In diesen kritischen Tagen war das Zentralmärztum gar fleißig. Vor dem Abzug aus Frankfurt hatte es schon den Märzvereinen und dem deutschen Volke in einer Ansprache zugerufen: »Mitbürger! Die elfte Stunde hat geschlagen!' Zur Herbeischaffung eines Volksheeres erließ es nun von Stuttgart aus eine neue Proklamation ,an das deutsche Volk', und siehe da, der Zeiger der Zentralmärzuhr stand noch auf dem alten Fleck, oder es war ihr, wie der Uhr am Freiburger Münster, die Zahl XII ausgebrochen. Genug, es heißt in der Proklamation abermals: .Mitbürger! Die elfte Stunde hat geschlagen!' Oh, hätte sie doch früher und wenigstens damals, als der Zentralmärzheld Karl Vogt in Nürnberg zu seiner und der ihn fetierenden Heider Befriedigung die fränkische Revolution abwiegelte* '387', an und zugleich durch eure Köpfe geschlagen... Im Freiburger Regierungsgebäude schlug die Regentschaft ihre Büros auf. Der Regent Karl Vogt, zugleich Minister des Auswärtigen und Inhaber vieler andrer Ministerien, nahm sich auch hier das Wohl des deutschen Volkes angelegentlichst zu Herzen. Nach langen Tag- und Nachtstudien hatte er eine ganz zeitgemäße Erfindung, ,Reichsregentschaf ts-Pässe, zustande gebracht. Die Pässe waren einfach, schön lithographiert und gratis zu haben, so viel ihrer das Herz begehrte. Sie hatten nur den kleinen Fehler, nur in der Vogtschen Kanzlei gültig zu sein und respektiert zu werden."Vielleicht findet später ein oder das andre Exemplar in der Kuriositätensammlung eines Engländers seinen Platz."
Wolff folgte nicht dem Vorbild Greiners. Statt „nach dem Erscheinen" der „Revue" „sogleich nach Amerika abzureisen", harrte er noch ein Jahr lang des Land-Vogts Rache in der Schweiz.
streiche.' Da hat Vogt geglaubt, mich mit einem herausfordernden Schimpfworte beleidigen zu müssen, und als ich dafür persönlich von ihm Rechenschaft forderte, hat er, nach langem Hin- und Hergehen eines Freundes, den Mut gehabt, für die Beleidigung nicht einzustehn." (p. 21,22,1. c.) * Vogt rechtfertigte später seine Nürnberger Heldentat mit den Worten: „Eis hätten ihm die Garantien für seine persönliche Sicherheit gefehlt."
VII. Die Augsburger Kampagne
Kurz nachdem der Kantonbürger von Thurgau13881 seinen italienischen Krieg beendet hatte, eröffnete der Kantonbürger von Bern seine Augsburger Kampagne. „Dort" (zu London) „war es von jeher die Mansche CUque, welche den größten Teil der Korrespondenzen" (der .Allgemeinen Zeitung') „besorgte und seit dem Jahre 1849 ununterbrochen mit der ,Allgemeinen Zeitung' in Beziehung stand." (p. 194 d. „Hptb.".) Obgleich Marx selbst erst seit Ende 1849, nämlich seit seiner zweiten Ausweisung aus Frankreich, in London haust, scheint die „Marxsche Clique" von jeher in London gehaust zu haben, und obgleich die Marxsche Gique „von jeher den größten Teil der Korrespondenzen der .Allgemeinen Zeitung' besorgt" hat, so stand sie dennoch erst „seit dem Jahre 1849 ununterbrochen' mit der „Allgemeinen Zeitung" „in Beziehung".Jedenfalls zerfällt die Vogtsche Chronologie - und dies ist nicht zu verwundern, da der Mann vor 1848 „noch nicht an politische Beschäftigung dachte" (p. 225, I.e.) - in zwei große Perioden, nämlich die Periode „von jeher" bis 1849 und die Periode von 1849 bis zu „diesem" Jahr. Ich redigierte von 1842 bis 1843 die alte „Rheinische Zeitung"13891, die der „Allgemeinen Zeitung" einen Krieg auf Leben und Tod machte. Von 1848 bis 1849 eröffnete die „Neue Rheinische Zeitung" die Polemik wieder. Was bleibt also für die Periode „von jeher bis 1849" außer der Tatsache, daß Marx „von jeher" die „Allgemeine Zeitung" bekämpfte, während Vogt, von 1844 bis 1847, ihr „ständiger Mitarbeiter" war? (S. p. 225 d. „Hptb.".) Nun zur zweiten Periode der Vogtschen Weltgeschichte. Ich stand von London aus „ununterbrochen mit der .Allgemeinen Zeitung' in Beziehung", „ununterbrochen seit dem Jahre 1849", weil „vom Jahre 1852" ein gewisser Ohly Londoner Hauptkorrespondent der „Allgemeinen Zeitung" war. Ohly stand nun zwar in keiner Beziehung zu mir, weder vor noch nach 1852. Ich habe ihn nie in meinem Leben gesehn. Soweit er über
haupt in der Londoner Flüchtlingsschaft figurierte, war es als Mitglied des Kinkelschen Emigrationsvereins. Dies ändert jedoch nichts an der Sache, denn: „Früheres Orakel des englisch gelernt habenden Altbayern Altenhöfer war mein" (Vogts) „engerer Landsmann, der blonde Ohly, der von kommunistischer Grundlage aus höhere poetische Standpunkte in Politik und Literatur zu gewinnen suchte und anfangs in Zürich, vom Jahre 1852 aber in London so lange Hauptkorrespondent der .Allgemeinen Zeitung' war, bis er endlich im Irrenhause endete." (p. 195 d. „Hptb.".) Mouchard Edouard Simon verwelscht diese Vogtiade, wie folgt:
„En voici d'abord un qui de son point de depart communiste, avait cherche a s'elever aux plus hautes conceptions de la politique."1 („Höhere poetische Standpunkte in Politik" ging über die Kräfte selbst eines Edouard Simon.) „A en croire M. Vogt, cet adepte fut I'oracle de la Gazette d'Augsbourg jusqu'en 1852, epoque oü il mourut dans une maison de fous."2 (p. 529, „Revue contemporaine", Band XIII, Paris 1860.) „Operam et oleum perdidi"I3901, kann Vogt von seinem „Hauptbuch" und seinem Ohly ausrufen. Während er selbst seinen „engeren Landsmann" von 1852 aus London mit der „Allgemeinen Zeitung" korrespondieren läßt, bis er „endlich im Irrenhause endet", sagt Edouard Simon, „wenn man Vogt glaube, sei Ohly das Orakel der .Allgemeineil Zeitung' gewesen bis 1852, zu welcher Epoche er" (der nebenbei bemerkt noch lebt) „in einem Irrenhause starb." Aber Edouard Simon kennt seinen Karl Vogt. Edouard weiß, daß, wenn man sich einmal entschließt, seinem Karl zu „glauben", es ganz und gar gleichgültig ist, was man ih m glaubt, das, was er sagt, oder das Gegenteil von dem, was er sagt.
„Herr Liebknecht", sagt Karl Vogt, „ersetzte ihn", nämlich den Ohly, „als Korrespondent in der ,Allgemeinen Zeitung'." „Erst seitdem Liebknecht öffentlich als Mitglied der Marxschen Partei proklamiert war, wurde er von der .Allgemeinen Zeitung' als Korrespondent aufgenommen." (p. 169,1. c.) Jene Proklamation fand statt während des Kölner Kommunistenprozesses, also Ende 1852. In der Tat wurde Liebknecht im Frühling 1851 Mitarbeiter am „Morgenblatt"l391\ worin er über die Londoner Industrieausstellung berichtete. Durch die Vermittlung des „Morgenblatts" erhielt er im September 1855 die Korrespondenz für die „Allgemeine Zeitung".
1 „Wir haben es da vor allem mit einem Mann zu tun, der, anfänglich Kommunist, sich zu höheren Auffassungen von der Politik zu erheben versucht hatte." - 2 „Wenn man Herrn Vogt glauben darf, war dieser Zauberkünstler das Orakel der .Augsburger Zeitung' bis 1852, dem Zeitpunkt, wo er in einem Irrenhaus starb."
„Seine" (Marx') „Genossen schreiben keine Zeile, wovon er nicht vorher in Kenntnis gesetzt worden wäre." (p. 194,1. c.)
Der Beweis ist einfach: „Er" (Marx) „beherrscht seine Leute unbedingt" (p. 195), während Vogt seinem Fazy und Konsorten unbedingt gehorcht. Wir stoßen hier auf eine Eigentümlichkeit der Vogtschen Mythenbildung. Überall Gießner oder Genfer Zwergmaßstab, kleinstädtischer Rahmen und Schweizer Kneipenduft. Winkelgemütliche Klüngelwirtschaft naiv von Genf nach der Weltstadt London übertragend, läßt er den Liebknecht „keine Zeile" im Westend schreiben, wovon ich in Hampstead, vier Meilen ab, „nicht vorher in Kenntnis gesetzt worden wäre". Und denselben La Gueronniere-Dienst leiste ich täglich einer Schar andrer über ganz London zerstreuter und in alle Welt korrespondierender „Genossen". Welch erquickender Lebensberuf und - wie einträglich! Vogts Mentor Edouard Simon, zwar nicht mit Londoner, doch wenigstens mitPariser Verhältnissen vertraut, gibt mit unverkennbarem Künstlertakt der Zeichnung seines unbeholfenen „Freundes vom Lande" einen großstädtischen Schwung:
„Marx, comme chef de la societe, ne tient pas lui-merne la plume, mais ses fideles n'ecrivent pas une ligne sans l'avoir consulte: La Gazette d'Augsbourg sera d'autant mieux servie." (p. 529,1. c.) Also „Marx, als Chef der Gesellschaft, schreibt nicht selbst, aber seine Getreuen schreiben keine Zeile, ohne ihn vorher zu Rat zu ziehn. Die,Augsburger Zeitung' wird um so besser bedient."
Empfindet Vogt die ganze Feinheit dieser Korrektur? Ich hatte mit Liebknechts Londoner Korrespondenz in die „Allgemeine Zeitung" grade so viel zu schaffen als mit Vogts Pariser Korrespondenz in die „Allgemeine Zeitung". Übrigens war Liebknechts Korrespondenz durchaus lobenswert - kritische Darstellung der englischen Politik, die er in der „Allgemeinen Zeitung" ganz so schilderte wie in gleichzeitigen Korrespondenzen für radikale deutsch-amerikanische Blätter. Vogt selbst, der ganze Jahrgänge der „Allgemeinen Zeitung" ängstlich nach Verfänglichem in Liebknechts Briefen durchmaust hat, beschränkt die Kritik ihres Inhalts darauf, daß Liebknechts Korrespondenzzeichen „zwei dünne schiefgestellte Striche" seien, (p. 196 d. „Hptb.") Die schiefe Stellung der Striche bewies allerdings, daß es schief mit der Korrespondenz stand, und nun gar die „Dünne"! Hätte Liebknecht statt zwei „dünner Striche" wenigstens zwei rundliche Fettaugen in sein Korrespondenzwappen gemalt! Wenn aber an der Korrespondenz kein andrer Makel haftet als „zwei dünne schiefgestellte Striche", so bleibt das Be
denken, daß sie überhaupt in der „Allgemeinen Zeitung" erschien. Und warum nicht in der „Allgemeinen Zeitung"? Die „Allgemeine Zeitung" läßt bekanntlich die verschiedenartigsten Standpunkte zu Wort kommen, wenigstens auf neutralen Gebieten wie dem der englischen Politik, und gilt zudem im Ausland als das einzige deutsche Organ von mehr als lokaler Bedeutung. Liebknecht konnte getrost Londoner Briefe in dasselbe Blatt schreiben, worin Heine seine „Pariser", Fallmerayer seine „Orientalischen Briefe" schrieb.'3921 Vogt berichtet, daß auch unflätige Personen an der „Allgemeinen Zeitung" mitarbeiten. Er selbst war bekanntlich ihr Mitarbeiter von 1844 bis 1847. Was nun mich selbst und Friedrich Engels betrifft - ich erwähne Engels, weil wir beide nach einem gemeinsamen Plane und nach vorheriger Verabredung arbeiten -, so traten wir allerdings 1859 gewissermaßen „in Beziehung" zur „Allgemeinen Zeitimg". Ich publizierte nämlich während der Monate Januar, Februar und März 1859 eine Reihe Leitartikel in der „New York Tribüne", worin unter anderm „die mitteleuropäische Großmachtstheorie" der „Allgemeinen Zeitung" und ihre Behauptung, daß die Fortdauer der östreichischen Herrschaft in Italien ein deutsches Interesse13931 sei, einer ausführlichen Kritik unterworfen wurden. Engels, kurz vor dem Ausbruch des Kriegs, und im Einverständnis mit mir, publizierte „Po und Rhein"[3941, Berlin 1859, ein Pamphlet, das speziell gegen die „Allgemeine Zeitung" gerichtet ist und, in Engels* Worten zu reden (p. 4 seiner Broschüre „Savoyen, Nizza und der Rhein", Berlin 1860), militärisch-wissenschaftlich nachwies, „daß Deutschland kein Stück von Italien zu seiner Verteidigung brauche und daß Frankreich, wenn bloß militärische Gründe gelten sollten, allerdings noch viel stärkere Ansprüche auf den Rhein habe als Deutschland auf den Mincio"1. Diese Polemik gegen die „Allgemeine Zeitung" und ihre Theorie von der Notwendigkeit der östreichischen Gewaltherrschaft in Italien ging bei uns jedoch Hand in Hand mit der Polemik gegen die bonapartistische Propaganda. Ich wies z. B. ausführlich in der „Tribtme" nach (s. z. B. Februar 1859), daß die finanziellen und innern politischen Zustände des „bas empire"'3951 bei einem kritischen Punkt angelangt seien, wo nur noch ein auswärtiger Krieg die Herrschaft des Staatsstreichs in Frankreich und damit der Kontrerevolution in Europa verlängern könne.2 Ich zeigte nach, daß die bonapartistische Befreiung Italiens nur ein Vorwand sei, Frankreich unterjocht zu halten, Italien dem Staatsstreich zu unterwerfen, die „natürlichen Grenzen" Frankreichs nach Deutschland zu ver
1 Siehe Band 13 unserer Ausgabe, S. 574 - 2 ebenda, S. 174
legen, Ostreich in ein russisches Instrument zu verwandeln und die Völker in einen Krieg der legitimen mit der illegitimen Kontrerevolution hineinzuzwingen. Alles dies geschah, bevor der Ex-Reichs-Vogt von Genf aus in die Posaune stieß. Seit Wolffs Artikel in der „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung" (1850) hatte ich überhaupt die „abgerundete Natur" vollständig vergessen. Wieder erinnert wurde ich an den heitern Gesellen im Frühjahr 1859, eines Aprilabends, als Freiligrath mir einen Brief Vogts nebst beigelegtem politischem „Programm"[3961 zu lesen gab. Dies war keine Indiskretion, denn Vogts Sendschreiben war bestimmt „zur Mitteilung" an die Freunde, nicht Vogts, sondern des Adressaten. Auf die Frage, was ich in dem „Programm" finde, antwortete ich: „Kannegießerei". Ich erkannte den alten Spaßvogel sofort wieder in seinem Anliegen an Freiligrath, Herrn Bücher als politischen Korrespondenten für das beabsichtigte Genfer Propagandablatt zu werben. Vogts Brief war vom I.April 1859 datiert. Bucher hatte bekanntlich seit Januar 1859 in seiner Londoner Korrespondenz für die Berliner „National-Zeitung'' dem Vogtschen Programm absolut widersprechende Ansichten vertreten; aber dem Mann von der „kritischen Unmittelbarkeit" erscheinen alle Kühe grau. Nach diesem Ereignis, das ich zu unwichtig hielt, irgendeinem Menschen davon zu sprechen, erhielt ich Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas", eine Jammerschrift, die mir keinen Zweifel über seinen Zusammenhang mit der bonapartistischen Propaganda ließ. Am Abend des 9. Mai 1859 befand ich mich auf der Plattform eines öffentlichen Meetings, das David Urquhart aus Anlaß des italienischen Kriegs abhielt. Noch vor Eröffnung des Meetings schritt eine ernsthaftige Figur gewichtig auf mich zu. An dem Hamletausdruck ihrer Physiognomie erkannte ich sogleich, daß „etwas faul im Staate Dänemark"1397] sei. Es war dies der homme d'etat1 Karl Blind. Nach einigen vorläufigen Redensarten kam er auf Vogts „Umtriebe" zu sprechen und versicherte mit kopfschüttelnder Emphase, daß Vogt bonapartistische Subsidien für seine Propaganda erhalte, daß einem süddeutschen Schriftsteller, den er mir „leider" nicht nennen könne, 30 000 Gulden zur Bestechung von Vogt angeboten worden - ich sah nicht recht ein, welcher süddeutsche Schriftsteller 30 000 Gulden wert sei -, daß Bestechungsversuche in London vorgefallen, daß schon im Jahre 1858 zu Genf, in einer Zusammenkunft zwischen Plon-Plon, Fazy und Konsorten, der italienische Krieg beraten und der russische Großfürst
1 Staatsmann
Konstantin als künftiger König von Ungarn bezeichnet worden sei, daß Vogt auch ihn (Blind) zur Mitarbeit an seiher Propaganda aufgefordert, daß er Beweise für die landesverräterischen Umtriebe Vogts besitze. Blind begab sich zurück auf seinen Sitz an die andre Ecke der Plattform zu seinem Freunde J. Fröbel; das Meeting begann, und D. Urquhart suchte in ausführlicher Rede den italienischen Krieg als die Frucht russisch-französischer Intrige darzustellen.*
* Die Angriffe der Marxschen Clique auf Lord Palmerston leitet Vogt natürlich aus meinem Gegensatz gegen seine eigenwichtige Person und deren „Freunde" („Hptbuch", p.2I2) her. Eis scheint daher passend, hier kurz meines Verhältnisses zuD. Urquhart und seiner Partei zu gedenken. Urquharts Schriften über Rußland und gegen Palmerston hatten mich angeregt, aber nicht überzeugt. Um zu einer festen Ansicht zu gelangen, unterwarf ich Hansards „Parliamentary Debates" und die diplomatischen „Blue Books" '398' von 1807 bis 1850 einer mühsamen Analyse. Die erste Frucht dieser Studien war eine Reihe Leitartikel in der „New York Tribüne" (Ende 1853), worin ich Palmerstons'399' Zusammenhang mit dem Petersburger Kabinett aus seinen Transaktionen'mit Polen, der Türkei, Zirkassien etc. nachwies. Kurz nachher ließ ich diese Arbeiten in dem von Ernest Jones redigierten Chartistenorgan „The People's Paper" abdrucken und fügte neue Abschnitte über Palmerstons Tätigkeit hinzu. Unterdes hatte auch der „Glasgow Sentinel" einen dieser Artikel („Palmerston and Poland" '4001) abgedruckt, der die Aufmerksamkeit des Herrn D. Urquhart auf sich zog. Infolge einer Zusammenkunft, die ich mit ihm hatte, veranlaßte er Herrn Tucker in London zur Herausgabe eines Teils jener Artikel in Pamphletform. Diese Palmerston-Pamphlets wurden später in verschiedenen Auflagen zu 15 [000] bis 20 000 Exemplaren vertrieben. Infolge meiner Analyse des „Blue Book" über den Fall von Kars - sie erschien im Londoner Chartistenblatt (April 1856) - übersandte mir das Foreign Affairs Committee zu Sheffield ein Anerkennungsschreiben. (Siehe Beilage 7.)'4011 Bei einer Durchmusterung im Britischen Museum befindlicher diplomatischer Manuskripte entdeckte ich eine Reihe englischer Aktenstücke, die sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Epoche Peters des Großen erstrecken, das stetige geheime Zusammenwirken zwischen den Kabinetten von London und Petersburg enthüllen, die Zeit Peters des Großen aber als Geburtsstätte dieses Zusammenhangs erscheinen lassen. Von einer ausführlichen Arbeit über diesen Gegenstand habe ich bisher nur die Einleitung drucken lassen unter dem Titel „Revelations of the diplomatic history of the 18th Century" x. Sie erschien erst in der Sheffield, später in der London „FreePreH"'402', beides urquhartische Organe. Letzteres hat seit seiner Gründung gelegentliche Beiträge von mir erhalten. Meine Beschäftigung mit Palmerston und der englisch-russischen Diplomatie überhaupt ereignete sich also, wie man sieht, ohne die leiseste Ahnung, daß. hinter Lord Palmerston Herr Karl Vogt steht.
1 „Enthüllungen über die diplomatische Geschichte des 18. Jahrhunderts
Gegen Schluß des Meetings kam Dr. Faucher, auswärtiger Redakteur des „Morning Star" (Organ der Manchesterschule)[4031, auf mich zu und erzählte mir, ein neues deutsch-londoner Wochenblatt „Das Volk" sei eben erschienen. Das von Herrn A. Scherzer herausgegebene und von Edgar Bauer redigierte Arbeiterblätt „Die Neue Zeit" sei infolge einer Intrige Kinkels, des Herausgebers des „Hermann"[4041, untergegangen. Hiervon benachrichtigt, habe Biscamp, bisher Korrespondent der „Neuen Zeit", seine Lehrerstelle im Süden Englands aufgegeben, um in London „Das Volk" dem „Hermann" gegenüberzustellen. Der deutsche Arbeiterbildungsverein und einige andere Londoner Vereine unterstützten das Blatt, das natürlich, wie alle ähnlichen Arbeiterblätter, gratis redigiert und geschrieben werde. Er selbst, Faucher, obgleich als free-trader1 der Tendenz des „Volk" fremd, wolle kein Monopol in der deutschen Londoner Presse dulden und habe daher mit andern Bekannten in London ein Finanzkomitee zur Unterstützung des Blattes gegründet. Biscamp habe sich bereits schriftlich um literarische Beiträge an den ihm bisher unbekannten Liebknecht gewendet usw. Schließlich forderte mich Faucher um Teilnahme am „Volk" auf. Obgleich Biscamp seit 1852 in England lebte, waren wir uns bisher fremd geblieben. Einen Tag nach dem Urquhart-Meeting führte ihn Liebknecht in meinem Hause ein. Der Aufforderung, für das „Volk" zu schreiben, konnte ich zunächst aus Zeitmangel nicht nachkommen, versprach aber, meine deutschen Freunde in England zu Abonnements, Geldzuschüssen und literarischen Beiträgen aufzufordern. Im Laufe der Unterhaltung kamen wir auf das Urquhartsche Meeting zu sprechen, das auf Vogt führte, dessen „Studien" Biscamp bereits kannte und richtig würdigte. Ich teilte ihm und Liebknecht den Inhalt des Vogtschen „Programms" und der Blindschen Enthüllungen mit, bemerkte aber mit Bezug auf die letztern, daß es süddeutsche Manier sei, das Kolorit hoch aufzutragen. Zu meiner Überraschung brachte Nr. 2 des „Volk" (14.Mai) einen Artikel unter dem Titel „Der Reichsregent als Reichs Verräter" (s. „Hauptbuch", Dokumente, p. 17, 18), worin Biscamp zwei der von Blind angeführten Tatsachen erwähnt - die 30 000 Gulden, die er jedoch auf 4000 herabsetzt, und den bonapartistischen Ursprung der Vogtschen Operationsgelder. Im übrigen bestand sein Artikel aus Witzen in der Manier der „Hornisse"t405], die er 1848/49 zusammen mit Heise in Kassel redigiert hatte. Der Londoner Arbeiterbildungsverein, wie ich lange nach Erscheinen des „Hauptbuchs" (s. Beilage 8) erfuhr, hatte unterdes einen seiner Führer, Herrn Scherzer,
1 Freihändler
beauftragt, die Arbeiterbildungsvereine in der Schweiz, Belgien und den Vereinigten Staaten zur Unterstützung des »Volk" und zum Kampf gegen die bonapartistische Propaganda aufzufordern. Den obenerwähnten Artikel des „Volk" vom 14. Mai 1859 überschickte Biscamp selbst durch die Post dem Vogt, der zugleich Herrn A. Scherzers Rundschreiben durch sein eignes Ranickel erhielt. Vogt mit seiner bekannten „kritischen Unmittelbarkeit" dichtete mich sofort als Demiurg in das ihm widrige Gewebe hinein. Ohne weiteres veröffentlichte er daher den Grundriß seiner spätem Geschichtsklitterung in der öfter zitierten „Außerordentlichen Beilage zu No. 150 des Schweizer Handels-Couriers". Dies Urevangelium, worin zuerst die Mysterien von der Schwefelbande, den Bürstenheimern, Cherval usw. offenbart wurden unter dem Datum Bern, 23. Mai 1859 (also neueren Datums als das Mormonenevangelium) t406], führte den Titel „Zur Warnung" und schloß sich sachgemäß an ein Stück Ubersetzung aus einer Broschüre des berüchtigten E. About an.* Vogts anonymes Urevangelium „Zur Warnung" wurde, wie schon früher bemerkt, auf mein Ersuchen im „Volk" abgedruckt. Anfang Juni verließ ich London, um Engels in Mein ehester zu besuchen, wo eine Subskription von ungefähr 25 Pfund Sterling für das „Volk" zusammenkam. Fr. Engels, W. Wolff, ich, endlich 3 deutsche zu Manchester ansässige Ärzte, deren Namen in einem von mir nach Berlin gesandten gerichtlichen Dokumente stehn, lieferten diesen Zuschuß, dessen „Beschaffenheit" den „neugierigen" Vogt zu einem „Blick über den Kanal hinüber" nach Augsburg und Wien (p. 212 des „Hptb.") veranlaßt. Über die Londoner Sammlungen des ursprünglichen Finanzkomitees mag Vogt sich bei Dr. Faucher erkundigen. Vogt lehrt p. 225 des „Hauptbuchs":
„Es war aber von jeher ein Kunstgriff der Reaktion, von den Demokraten zu verlangen, daß sie alles umsonst tun sollten, während sie selbst" (nämlich nicht die Demokraten, sondern die Reaktion) „für sich das Privilegium, sich bezahlen zu lassen und bezahlt zu werden in Anspruch nehmen."
* Ein Wort über den Bieler Canums voyageur, den Winkel-Moniteur des „flüchtigen Reichsregenten". Verleger und Redakteur des Bieler „Handels-Courier" ist ein gewisser Emst Schüler, politischer Flüchding von 1838, Posthalter, Weinhändler, Faillit, und dermalen wieder bei Kasse, indem sein von dem britisch-französisch-schweizerischen Werbegeschäft während des Krimkriegs subventioniertes Blatt nunmehr 1200 Abonnenten zählt.
Welch reaktionärer Kunstgriff des „Volk" also, nicht nur umsonst redigiert und geschrieben zu werden, sondern seine Mitarbeiter obendrein noch zahlen zu lassen! Wenn das kein Beweis für die Verbindung zwischen „Volk" und Reaktion ist, so steht dem Karl Vogt sein Verstand still. Während meines Aufenthaltes in Manchester trug sich ein entscheidend wichtiges Ereignis in London zu. Liebknecht fand nämlich in Hollingers (.Drucker des „Volks") Setzerei den Korrekturbogen des anonymen und gegen Vogt gerichteten Flugblatts „Zur Warnung", las es flüchtig durch, erkannte sofort Blinds Enthüllungen wieder und erfuhr dann auch noch zum Überfluß von Setzer A. Vögele, daß Blind das in seiner eignen Handschrift geschriebene Manuskript dem Hollinger zum Druck übergeben habe. Die auf dem Abzug befindlichen Korrekturen waren nicht minder in Blinds Handschrift. Zwei Tage später erhielt Liebknecht von Hollinger den Korrekturabzug, den er der „Allgemeinen Zeitung" einsandte. Der Satz des Flugblatts blieb stehn und diente später zum Wiederabdruck desselben in Nr. 7 des „Volk" (vom 18.Juni 1859). Mit der Veröffentlichung der „Warnimg" durch die „Allgemeine Zeitung" beginnt des Ex-Reichs-Vogts Augsburger Kampagne. Er verklagte die „Allgemeine Zeitung" wegen Abdrucks des Flugblatts. Im „Hauptbuch" (p. 227/228) travestiert Vogt Müllners: „bin's bin's, bin der Räuber Jaromir".14071 Nur übersetzt er aus dem Sein ins Haben.
„Ich habe geklagt, weil ich im voraus wußte, daß die ganze Hohlheit, Nichtigkeit und Erbärmlichkeit jener Redaktion, die sich einmaßt, .Vertreterin hochdeutscher Bildung' zu sein, an den Tag kommen mußte, ich habe geklagt, weil ich im voraus wußte, daß der Zusammenhang dieser wohllöblichen Redaktion und der von ihr in den Himmel gehobenen östreichischen Politik mit der Schwefelbande und dem Auswurfe der Revolution an die Offendichkeit kommen mußte",
und noch vier nachfolgende „ich habe geklagt". Der geklagt habende Vogt wird erhaben, oder Longin behält recht mit der Ansicht, daß es nichts Trockneres in der Welt gibt als einen Wassersüchtigen.
„Die persönliche Rücksicht", ruft die „abgerundete Natur", „war das geringste Motiv meiner Klage."
In der Wirklichkeit trugen sich die Dinge jedoch anders zu. Kein Kalb konnte sich ängstlicher vor der Schlachtbank sträuben als Karl Vogt vor der Anklagebank. Während seine „engern" Freunde, das Ranickel, Reinach (früher die wandelnde chronique sceuidaleuse über Vogt) und der schwatz
schweifige Rumpfparlamentler Mayer aus Eßlingen, ihn in seiner Scheu vor der Anklagebank bestätigten, erhielt er dringende Mahnungen von Zürich, mit der „Klage" vorzugehn. Bei dem Lausanner Arbeiterfest erklärte ihm der Pelzhändler Roos vor Zeugen, er könne ihn nicht mehr achten, wenn er nicht prozediere. Vogt aber steifte sich: Er frage den Teufel nach der Augsburger und Londoner Schwefelbande und werde schweigen. Plötzlich jedoch sprach er. Verschiedene Zeitungen brachten die Anzeige seines Prozesses, und das Ranickel äußerte:
„Die in Stuttgart hätten ihm" (dem Vogt) „ja keine Ruhe gelassen. Seine" (Ranickels) „Zustimmung sei nicht dabei."
Übrigens, da sich der „Abgerundete" einmal in der Klemme befand, schien eine Klage gegen die „Allgemeine Zeitung" unstreitig das meistversprechende Manöver. Vogts Selbstapologie gegen einen Angriff von J. Venedey[4081, der ihn bonapartistischer Umtriebe beschuldigt hatte, sah das Licht der Welt im Bieler „Handels-Courier" vom 16. Juni 1859, traf also in London ein nach dem Erscheinen des anonymen Flugblatts, das mit der Drohung endete:
„Sollte aber Vogt, was er kaum wagen kann, ableugnen wollen, so wird auf diese Enthüllung eine Nr. 2 folgen."
Vogt hatte nun abgeleugnet, und was nicht folgte, war Enthüllung Nr. 2. Nach dieser Seite hin also gesichert, konnte ihm nur noch Unheil drohen von den lieben Bekannten, die er hinreichend kannte, um auf ihre feige Rücksichtsnahme zu rechnen. Je mehr er sich durch eine Klage öffentlich preisgab, desto sichrer durfte er auf ihre Diskretion Wechsel ziehn, denn in dem „flüchtigen Reichsregenten" stand gewissermaßen das ganze Rumpfparlament am Pranger. Parlamentler Jacob Venedey plaudert p. 27128 seines „Pro domo und Pro patria gegen Karl Vogt", Hannover 1860[340), aus der Schule wie folgt:
„Außer den in Vogts Darstellung seines Prozesses mitgeteilten Briefen habe ich einen andern Brief Vogts gelesen, der viel klarer als jener an Dr. Loening die Stellung Vogts als Gehülfe derer, die den Krieg in Italien zu lokalisieren sich's was kosten ließen, offenlegte. Ich habe mir aus diesem Briefe für meine Uberzeugung ein paar Stellen abgeschrieben, die ich leider hier nicht veröffentlichen darf, weil der, an welchen der Brief gerichtet war, sie mir unter dem Versprechen, sie nicht zu veröffentlichen, mitgeteilt hat. Persönliche und Parteirücksichten haben das Treiben Vogts in dieser Angelegenheit in einer Weise zu decken gesucht, die mir weder der Partei noch der Mannespflicht dem Vater
lande gegenüber gerechtfertigt erscheint. Dieses Zurückhalten von vielen Seiten ist Ursache, daß Vogt nach wie vor mit frecher Stim als deutsches Parteihaupt aufzutreten wagt. Mir aber scheint es, als ob grade hierdurch die Partei, zu der Vogt stand, halbwegs mit' verantwortlich für sein Treiben würde."*
Wenn also das Wagnis eines Prozesses gegen die „Allgemeine Zeitimg" überhaupt nicht übergroß war, bot andrerseits eine Offensive in dieser Richtung dem General Vogt die allergünstigste Operationsbasis. Es war Ostreich, das den Reichs-Vogt durch die „Allgemeine Zeitung" verschrie, und Ostreich im Bund mit den Kommunisten! So erschien der Reichs-Vogt als interessantes Opfer einer ungeheuerlichen Koalition zwischen den Feinden des bürgerlichen Liberalismus. Und die kleindeutsche Presse, dem ReichsVogt schon gewogen, weil er ein Mindrer des Reichs'409' ist, würde ihn jubelnd aufs Schild heben! Anfang Juli 1859, kurz nach meiner Rückkehr von Manchester, suchte mich Blind auf infolge eines hier gleichgültigen Vorfalls. Fidelio Hollinger und Liebknecht waren seine Begleiter. In dieser Zusammenkunft sprach ich meine Uberzeugung aus, daß er der Verfasser des Flugblatts „Zur Warnung" sei. Er beteuerte das Gegenteil. Ich wiederholte Punkt für Punkt seine Mitteilungen vom 9. Mai, die in der Tat den ganzen Inhalt des Flugblatts bildeten. Alles das gab er zu, aber trotz alledem sei er nicht der Verfasser des Flugblatts. Ungefähr einen Monat später, im August 1859, zeigte mir Liebknecht ein Schreiben der Redaktion der „Allgemeinen Zeitung", worin er dringend um Beweismittel für die im Flugblatt „Zur Warnung" enthaltenen Anklagepunkte angegangen ward. Auf sein Verlangen entschloß ich mich, ihn nach St. John's Wood zur Wohnung Blinds zu begleiten, der, wenn er auch nicht der Verfasser des Flugblatts war, jedenfalls schon Anfang Mai wußte, was das Flugblatt der Welt erst Anfang Juni verriet, und zudem sein Wissen „beweisen" konnte. Blind war abwesend. Er befand sich in einem Seebad. Liebknecht unterrichtete ihn daher schriftlich von dem Zwecke unsres Besuchs. Keine Antwort. Liebknecht schrieb einen zweiten Brief. Endlich langte folgendes staatsmännische Aktenstück an:
* Siehe auch p. 4 des zitierten Pamphlets, wo es heißt: „Dieses .Rechnungtragen aus Parteirücksichten, die moralische Haltlosigkeit, die darin liegt, sich im engem Kreise zu gestehn, daß Vogt ein schändliches Spiel mit dem Vaterlande [...] getrieben hat, und dann diesem Vogt zu erlauben, offen diejenigen der Verleumdung anzuklagen, die nichts gesagt, als was sie alle wissen und denken und wofür sie die Beweise kennen und in der Hand haben, das ekelt mich an usw."
„Lieber Herr Liebknecht! Ihre beiden Briefe, irrig adressiert, kamen mir fast gleichzeitig zu. Wie Sie begreifen werden, wünsche ich keineswegs, mich in die Angelegenheiten einer mir gänzlich fremden Zeitung zu mischen. Im vorliegenden Fall um so weniger, da ich an der erwähnten Sache, wie schon früher bemerkt, gar keinen Anteil hatte. Was die im Privatgespräch vorgekommenen Bemerkungen betrifft, die Sie anführen, so sind dieselben offenbar ganz falsch aufgefaßt worden, und es waltet darüber ein Irrtum ob, auf den ich einmal bei Gelegenheit mündlich will zu sprechen kommen. Indem ich bedaure, daß Sie den Gang mit Marx zu mir hin vergeblich machten, bleibe ich mit aller Achtung der Ihrige K. Blind St. Leonard's, 8. September"
Diese diplomatisch-kühle Note, wonach Blind an der Denunziation gegen Vogt „gar keinen Anteil hatte", erinnerte mich an einen Artikel, der anonym am 27. Mai 1859 in der „Free Press" zu London erschienen war und in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautet:
„Der Großherzog Konstantin als künftiger König von Ungarn
Ein Korrespondent, der seine Visitenkarte beilegt, schreibt uns:
Mein Herr! Bei dem letzten Meeting* in der Musikhalle zugegen, hörte ich die über Großherzog Konstantin gemachte Äußerung. Ich bin imstande, Ihnen eine andere Tatsache mitzuteilen. So lange rückwärts als letzten Sommer detaillierte Prinz JerömeNapoleon einigen seiner Vertrauten zu Genf einen Angriffsplan gegen Ostreich und eine in Aussicht stehende Remodellierung der Karte Europas. Ich kenne den Namen eines Schweizer Senators, dem er das Thema auseinandergesetzt hat. Prinz Jeröme erklärte damals, daß, dem entworfenen Plane gemäß, der Großherzog Konstantin König von Ungarn werden solle. Ich kenne ferner Versuche, die im Beginn des gegenwärtigen Jahres gemacht wurden, um für den russisch-napoleonischen Plan sowohl einige exilierte deutsche Demokraten wie auch einflußreiche Liberale in Deutschland zu gewinnen. Große Geldvorteile wurden ihnen als Bestechung angeboten. (Large pecuniary advantages were held out to them as a bribe.) Ich bin glücklich zu sagen, daß diese Anerbietungen mit Entrüstung abgewiesen wurden." (S. Beil. 9.)
Dieser Artikel, worin Vogt zwar nicht genannt, aber unverkennbar für die deutsche Emigration zu London bezeichnet war, gibt in der Tat den Kern des später erschienenen Flugblatts „Zur Warnung". Der Verfasser
* Es war dies das oben erwähnte am 9. Mai von D. Urquhart abgehaltene Meeting.
des „künftigen Königs von Ungarn", den patriotischer Pflichteifer zur anonymen Denunziation Vogts trieb, mußte natürlich die goldne Gelegenheit gierig greifen, die ihm der Augsburger Prozeß in den Schoß warf, die Gelegenheit, den Verrat gerichtlich vor den Augen von ganz Europa zu enthüllen. Und wer war der Verfasser des „künftigen Königs von Ungarn"? Bürger Karl Blind. Das hatten mir Form und Inhalt des Artikels schon im Monat Mai verraten, und das ward jetzt offiziell bestätigt von dem Redakteur der „Free Press", Herrn Collet, sobald ich ihm die Bedeutung der schwebenden Streitfrage auseinandergesetzt und Blinds diplomatische Note mitgeteilt hatte. Am 17. September 1859 gab der Setzer Herr A. Vögele mir eine schriftliche Erklärung (abgedruckt „Hauptbuch", Dokumente, Nr.30, 31), worin er bezeugt, keineswegs, daß Blind der Verfasser des Flugblatts „Zur Warnung" sei, wohl aber, daß er selbst (A. Vögele) und sein Geschäftsgeber Fidelio Hollinger das Flugblatt in des Hollinger Druckerei setzten, daß das Manuskript in Blinds Handschrift geschrieben War und daß Blind ihm von Hollinger gelegentlich als Verfasser des Flugblatts bezeichnet worden sei. Auf Vögeles Erklärung und den „Künftigen König von Ungarn" gestützt, schrieb Liebknecht nun noch einmal an Blind um „Beweise" für die von diesem Staatsmann in der „Free Press" denunzierten Tatsachen und zeigte ihm gleichzeitig an, daß jetzt ein Beweisstück über seine Teilnahme an der Herausgabe des Flugblatts „Zur Warnung" vorliege. Statt eine Antwort an Liebknecht, schickte Blind Herrn Collet zu mir. Herr Collet sollte mich in Blinds Namen auffordern, keinen öffentlichen Gebrauch von meiner Kenntnis über die Autorschaft des besagten Artikels in der „Free Press" zu machen. Ich erwiderte, daß ich mich zu nichts verpflichten könne. Meine Diskretion werde gleichen Schritt halten mit Blinds Bravour. Unterdes nahte der Termin für die Eröffnung des Prozesses in Augsburg heran. Blind schwieg. Vogt in seinen verschiedenen öffentlichen Erklärungen hatte versucht, das Flugblatt und den Beweis für die Angaben des Flugblatts mir als dem geheimen Urheber zuzuwälzen. Zur Abwehr dieses Manövers, zur Rechtfertigung Liebknechts und zur Verteidigung der „Allgemeinen Zeitung", die meiner Ansicht nach mit der Denunziation Vogts ein gutes Werk getan hatte, ließ ich die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung" durch Liebknecht wissen, ich sei bereit, ihr ein auf den Ursprung des Flugblatts „Zur Warnung" bezügliches Schriftstück zu übermachen, falls sie mich schriftlich darum ersuche. So begab sich der „lebhafte Schriftwechsel, den jetzt grade Marx mit Herrn Kolb führt", wie Vogt p. 194 des „Hauptbuch"
erzählt.* Dieser mein „lebhafter Briefwechsel mit Herrn Kolb" bestand nämlich aus zwei Briefen des Herrn Orges ein mich, beide vom selben Datum, worin er mich um das versprochene Schriftstück ersucht, welches ihm dann auch mit ein paar Zeilen meinerseits zugesandt ward.** Beide Briefe des Herrn Orges, eigentlich nur die Doppelausgabe desselben Briefs, trafen am 18. Oktober 1859 zu London ein, während die Gerichtsverhandlungen zu Augsburg schon am 24. Oktober stattfinden sollten. Ich schrieb daher sofort an Herrn Vögele, um ihm für den nächsten Tag ein Rendezvous im Lokal des Marlborough Polizeigerichts anzuberaumen, wo er seiner Erklärung über das Flugblatt „Zur Warnung" die gerichtliche Form eines Affidavit*** geben sollte. Mein Brief traf ihn nicht rechtzeitig. Am 19. Oktoberf mußte ich daher wider meine ursprüngliche Absicht der „.Allgemeinen Zeitung" statt eines Affidavit die früher erwähnte schriftliche Erklärung vom 17. September einschicken, ff Die Gerichtsverhandlungen in Augsburg verliefen sich, wie bekannt, in eine wahre Komödie der Irrungen. Das Corpus delicti war das von der „Allgemeinen Zeitung" abgedruckte und von W.Liebknecht ihr zugesandte Flugblatt „Zur Warnung". Herausgeber und Verfasser des Flugblatts spielten aber Blindekuh; Liebknecht konnte seine zu London befindlichen Zeugen
* Allerdings erwähnt Herr Kolb in Nr. 319 der „Allgemeinen Zeitung" „einen sehr ausführlichen Brief des Herrn Marx, den er nicht drucke". Dieser „ausführliche Brief" ist jedoch abgedruckt in der Hamburger „Reform" No. 139, Beilage vom 19. November 1859. Der „ausführliche Brief" war eine von mir für das Publikum bestimmte Erklärung, die ich auch der Berliner „Volks-Zeitung" zuschickte. ** Mein Begleitschreiben und Vögeles Erklärung findet man „Hauptbuch", Dokumente, p. 30, 31; die Briefe des Herrn Orges an mich in Beilage 10. *** Affidavit heißt eine gerichtliche Erklärung an Eides Statt, die, wenn falsch, alle gesetzlichen Folgen des Meineids nach sich zieht. t Da ich unleserlich schreibe, ließ man vor dem Augsburger Gericht meinen vom 19. Oktober datierten Brief vom 29. Oktober her datieren. Vogts Advokat, Dr. Hermann, Vogt selbst, die würdige Berliner „National-Zeitung" et hoc genus omne1 von der „kritischen Unmittelbarkeit" zweifelten keinen Augenblick, daß ein Brief, der zu London am 29. Oktober geschrieben ward, schon am 24. Oktober zu Augsburg vorliegen konnte. •j-j- Daß dies Quidproquo rein dem Zufall - nämlich dem verspäteten Eintreffen meines Briefs bei Vögele - geschuldet war, wird man aus dessen späterm Affidavit vom 11. Februar 1860 ersehn.
1 und die ganze Sippschaft
nicht vor die Schranken eines Augsburger Gerichts bannen, die Redakteure der „AllgemeinenZeitung" perorierten in ihrer juristischen Verlegenheit politisch geschmackloses Kauderwelsch, Dr. Hermann gab die Jagdgeschichten der „abgerundeten Natur" über die Schwefelbande, das Lausanner Fest usw. zum besten, und der Gerichtshof endlich wies Vogts Klage ab, weil Kläger sich in der zuständigen Instanz geirrt hatte. Die Wirren erreichten ihren Höhepunkt, als der Prozeß zu Augsburg geschlossen war und der Bericht darüber mit der „Allgemeinen Zeitung" zu London ankam. Blind, der bisher sein staatskluges Schweigen unverbrüchlich gehalten hatte, springt nun plötzlich auf die Arena der Öffentlichkeit, aufgescheucht durch das von mir beigebrachte Zeugnis des Setzers Vögele. Vögele hatte nicht erklärt, daß Blind der Verfasser des Flugblatts sei, sondern nur, daß er ihm als solcher von Fidelio Hollinger bezeichnet worden. Vögele erklärte dagegen kategorisch, daß das Manuskript des Flugblatts in der ihm bekannten Handschrift Blinds geschrieben und in Hollingers Druckerei gesetzt und gedruckt sei. Blind konnte der Verfasser des Flugblatts sein, obgleich es weder in Blinds Handschrift geschrieben noch in Hollingers Druckerei gesetzt war. Umgekehrt konnte das Flugblatt von Blind geschrieben und von Hollinger gedruckt sein, obgleich Blind nicht der Verfasser war. In No. 313 der „Allgemeinen Zeitung", unter dem Datum London, 3.Novbr. (s. „Hptb.", Dokumente, S.37, 38), erklärt Bürger und Staatsmann Blind, er sei nicht der Verfasser des Flugblatts, und als Beweis „veröffentlicht" er „folgendes Dokument":
„a) Ich erkläre hiermit die in No. 300 der .Allgemeinen Zeitung' enthaltene Behauptung des Setzers Vögele, als sei das dort erwähnte Flugblatt ,Zur Warnung' in meiner Druckerei gedruckt worden oder als sei Herr Karl.Blind der Urheber desselben, für eine böswillige Erfindung. 3, Litchfield Street, Soho London, 2. Novbr. 1859 Fidelio Hollinger"
„b) Der Unterzeichnete, der seit 11 Monaten in No. 3, Litchfield Street, wohnt und arbeitet, gibt seinerseits Zeugnis für die Richtigkeit der Aussagen des Herrn Hollinger. London, 2. Novbr. 1859 J.F. Wiehe, Schriftsetzer"
Vögele hatte nirgendwo behauptet, Blind sei der Urheber des Flugblatts. Fidelio Hollinger erdichtet also erst Vögeles Behauptung, um sie hinterher für eine „böswillige Erfindung" zu erklären. Andrerseits, wenn das Flugblatt nicht in Hollingers Druckerei gedruckt war, woher wußte selbiger Fidelio Hollinger, daß Karl Blind nicht der Verfasser?
Und wie kann nun gar der Umstand, daß er „seit 11 Monaten" (rückwärts vom 2. November 1859) bei Hollinger „wohnt und arbeitet", den Setzer Wiehe befähigen, die „Richtigkeit dieser Aussage des Fidelio Hollinger" zu bezeugen? Meine Antwort auf diese Erklärung Blinds (No.325 der „Allgemeinen Zeitung", siehe „Hptb.", Dokumente, p.39, 40) schloß mit den Worten: „Die Verlegung des Prozesses von Augsburg nach London würde das ganze mystere1 Blind-Vogt lösen." Blind, mit der ganzen sittlichen Entrüstung einer verwundeten schönen Seele, kehrt zur Attacke zurück in „Beilage zur ,Allgemeinen Zeitung' vom ll.Dezbr.1859":
„Indem ich mich wiederholt" (man halte dies im Gedächtnis) „auf die von dem Druckereibesitzer Herrn Hottinger und dem Schriftsetzer Wiehe gezeichneten Dokumente berufe, erkläre ich zum letztenmal die jetzt nur noch als Insinuation auftretende Unterstellung, als sei ich der Verfasser des oft erwähnten Flugblatts, für eine platte Unwahrheit. In den andern Angaben über mich befinden sich die gröbsten Entstellungen."
In einer Nachschrift zu dieser Erklärung bemerkt die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung", die „Diskussion interessiere das größere Publikum nicht weiter", und ersucht daher „die betreffenden Herren, die dies angeht, auf etwaige weitere Entgegnungen zu verzichten", was die „abgerundete Natur" am Schlüsse des „Hauptbuchs" dahin kommentiert:
„Mit andern Worten: Die Redaktion der ^Allgemeinen Zeitung' ersucht die als platte Lügner hingestellten Herren Marx, Biscamp*, Liebknecht, sich und die Allgemeine Zeitung' nicht fernerhin zu blamieren."
* Biscamp hatte unter dem Datum London, den 20. Oktober, einen Brief über die Vogtsche Affäre an die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung" geschickt, worin er sich schließlich als Korrespondent anbot.'4101 Dieser Brief ward mir erst aus der „Allgemeinen Zeitung" selbst bekannt. Vogt erfindet eine Moraltheorie, wonach Unterstützung eines untergegangenen Blattes mich verantwortlich macht für die nachträglichen Privatbriefe seines Redakteurs. Um wieviel mehr wäre Vogt verantwortlich für Kolatscheks „Stimmen der Zeit", da er bezahlter Mitarbeiter von Kolatscheks „Monatsschrift" [4Ul war. Solange Biscamp das „Volk" herausgab, bewies er die größte Aufopferung, indem er eine langjährige Stellung verließ, um die Redaktion zu übernehmen, unter sehr drückenden Verhältnissen gratis redigierte, endlich Korrespondenzen bei deutschen Blättern, wie der „Kölnischen Zeitung" z. B., in die Schanze schlug, um seiner Überzeugung gemäß wirken zu können. Alles andere ging und geht mich nichts an.
1 Geheimnis
So endete vorläufig die Augsburger Kampagne. In den Ton seiner Lausiade zurückfallend, läßt Vogt den „Setzer Vögele " vor mir und Liebknecht „ein falsches Zeugnis" ablegen, (p. 195 des „Hptb.".) Den Ursprung des Flugblatts aber erklärt er daraus, daß Blind „Verdachtskonzeptionen ausgeheckt und herumgeklatscht haben mag. Daraus schmiedete dann die Schwefelbande Pamphlet und weitere Artikel, die sie dem in die Enge getriebenen Blind auf den Kopf zusagten." (p. 2181. c.) Wenn nun der Reichs-Vogt seine unentschiedene Kampagne nicht, wie er aufgefordert war, in London wieder eröffnete, so geschah das teils, weil London „ein Winkel" ist (p.229 des „Hptb."), teils aber, weil die betreffenden Parteien sich „gegenseitig der Unwahrheit ziehen". (1-c.) Die „kritische Unmittelbarkeit" des Mannes hält die Einmischung der Gerichte nur dann für passend, wenn die Parteien nicht über die Wahrheit streiten. Ich überspringe nun 3 Monate, um den Faden meiner Erzählung Anfang Februar 1860 wieder aufzunehmen. Vogts „Hauptbuch" war damals noch nicht in London angelangt, wohl aber die Blütenlese der Berliner „National-Zeitung'", worin es unter anderm heißt:
„Die Partei Marx konnte nun sehr leicht die Autorschaft des Flugblatts auf Blind wälzen, eben weil und nachdem dieser im Gespräch mit Marx und in dem Artikel der ,Free Press' sich in ähnlichem Sinne geäußert hatte, mit Benutzung dieser Blindschen Aussagen und Redewendungen konnte das Flugblatt geschmiedet werden, so daß es wie sein Fabrikat aussah." Blind, der, wie Falstaff die Diskretion für den bessern Teil der Tapferkeit, so Schweigen für die ganze Kunst der Diplomatie hält14121, Blind begann von neuem zu schweigen. Um ihm die Zunge zu lösen, veröffentlichte ich ein englisches Zirkular mit meiner Namensunterschrift unter dem Datum London, den 4. Februar 1860. (Siehe Beilage 11.) Dies Zirkular, an den Redakteur der „Free Press" adressiert, sagt u.a.: „Bevor ich weitere Schritte ergreife, muß ich die Gesellen bloßstellen, die offenbar in Vogts Hände gespielt haben. Ich erkläre daher öffentlich, daß die Erklärung Blinds, Wiehes und Hollingers, wonach das anonyme Flugblatt nicht in Hollingers Geschäftslokal, 3, Litchfield Street, Soho, gedruckt wurde, eine infame Lüge ist."* Nachdem ich meine Beweismittel aufgestellt, ende ich mit den Worten:
* Im Englischen sage ich: „deliberate lie". Die „Kölnische Zeitung" übersetzte: „infame Lüge". Ich nehme die Übersetzung an, obgleich „durchtriebene Lüge" dem Original näherkommt.
„Folglich erkläre ich abermals den obengenannten Karl Blind für einen infamen Lügner (deliberate Iiar). Bin ich im Unrecht, so kann er mich leicht durch einen Appell an einen englischen Gerichtshof widerlegen." Am 6. Februar 1860 reproduzierte ein Londoner Tagesblatt („Daily Telegraph")14131 - ich werde später darauf zurückkommen - unter dem Titel „The Journalistic Auxiliaries of Austria" (Die journalistischen Helfershelfer Ostreichs) die Blütenlese der „National-Zeitung". Ich aber leitete einen Prozeß wegen Verleumdung gegen die „National-Zeitung" ein, gab dem „Telegraph" Notiz einer ähnlichen Klage und begann das nötige gerichtliche Material zu beschaffen. Unter dem 1 I.Februar 1860 gab Setzer Vögele ein Affidavit vor dem Polizeigericht in Bow Street. Es wiederholt den wesentlichen Inhalt seiner Erklärung vom 17.Septbr. 1859, nämlich, daß das Manuskript des Flugblatts in Blinds Handschrift geschrieben und in Hollingers Druckerei, teils von ihm selbst (Vögele), teils von F.Hollinger gesetzt worden. (Siehe Beilage 12.) Ungleich wichtiger war das Affidavit des Setzers Wiehe, auf dessen Zeugnis Blind sich wiederholt, und mit stets wachsendem Selbstgefühl, in der „Allgemeinen Zeitung" berufen hatte. Außer dem Original (siehe Beilage 13) folgt daher hier eine wortgetreue Ubersetzung:
„An einem der ersten Tage des letzten Novembers - ich erinnere mich nicht mehr genau des Datums - des Abends zwischen 9 und 10 Uhr, wurde ich aus meinem Bett herausgeholt von Herrn F.Hollinger, in dessen Haus ich damals wohnte und bei dem ich als Setzer beschäftigt war. Er reichte mir ein Schriftstück dar, des Inhalts, daß ich während der vorhergehenden 11 Monate ununterbrochen von ihm beschäftigt worden sei und daß während dieser ganzen Zeit ein gewisses deutsches Flugblatt ,Zur Warnung nicht gesetzt und gedruckt worden sei in Herrn Hollingers Druckerei, 3, Litchfield Street, Soho. In meinem verwirrten Zustand und ohne Kenntnis über die Wichtigkeit der Transaktion erfüllte ich seinen Wunsch und kopierte und unterzeichnete das Dokument. Herr Hollinger versprach mir Geld; aber ich habe nichts erhalten. Während dieser Transaktion wartete Herr Karl Blind, wie meine Frau mich später unterrichtete, in Herrn Hollingers Zimmer. Ein paar Tage später rief mich Frau Hollinger vom Essen und führte mich in das Zimmer ihres Mannes, wo ich Herrn Blind allein fand. Er präsentierte mir dasselbe Dokument, das Herr Hollinger mir zuvor präsentiert hatte, und bat mich dringend (entreated me), eine zweite Kopie zu schreiben und zu unterzeichnen, da er deren zwei bedürfe, die eine für sich selbst und die andere zur Veröffentlichung in der Presse. Er fügte hinzu, daß er sich mir dankbar zeigen werde. Ich kopierte und zeichnete wiederum das Schriftstück. Ich erkläre hiermit die Wahrheit der obigen Aussage und ferner:
1. daß ich während der im Dokumente erwähnten 11 Monate sechs Wochen lang nicht von Herrn Hollinger beschäftigt wurde, sondern von einem gewissen Ermani; 2. ich arbeitete nicht in Herrn Hollingers Geschäft, grade zur Zeit als das Flugblatt ,Zux Warnung' veröffentlicht ward; 3. ich hörte damals von Herrn Vögele, der damals für Herrn Hollinger arbeitete, daß er, Vögele, zusammen mit dem Herrn Hollinger selbst, das fragliche Flugblatt setzte und daß das Manuskript in Blinds Handschrift war; 4. der Satz des Flugblatts stand noch, als ich in Hollingers Geschäft wieder eintrat. Ich selbst brach ihn um, für den Wiederabdruck des Flugblatts ,Zur Warnung' in dem deutschen Blatte ,Das Volk', gedruckt von Herrn Hollinger, 3, Litchfield Street, Soho. Das Flugblatt erschien in No.7 des .Volk', d.d. 18. Juni 1859; 5. ich sah, wie Herr Hollinger Herrn Wilhelm Liebknecht, wohnhaft 14, Church Street, Soho, den Korrekturbogen des Pamphlets ,Zur Warnung' gab, auf welchem Korrekturbogen Herr Karl Blind mit seiner eignen Hand 4 oder 5 Druckfehler korrigiert hatte. Herr Hollinger schwankte, ob er den Korrekturbogen dem Herrn Liebknecht geben solle, und sobald sich Herr Liebknecht entfernt hatte, drückte Hollinger mir und meinem Mitarbeiter Vögele sein Bedauern aus, den Korrekturbogen aus der Hand gegeben zu haben. Johann Friedrich Wiehe
Erklärt und gezeichnet durch besagten Friedrich Wiehe im Polizeigericht von Bow Street an diesem 8. Teige des Februar 1860 vor mir, J.Henry, Richter am besagten Gericht." (Police Court) (Bow Street)
Es war durch die beiden Affidavits der Setzer Vögele und Wiehe bewiesen, daß das Manuskript des Flugblatts in Blinds Handschrift geschrieben, in Hollingers Druckerei gesetzt und eine Korrektur von Blind selbst besorgt war. Und der homme d'6tat schrieb an Julius Fröbel unter dem Datum London, 4. Juli 1859:
„Gegen Vogt ist hier, ich weiß nicht durch wen, eine heftige Anklage auf Bestochenheit erschienen. Es finden sich darin mehrere angebliche Fakta, von denen wir früher nichts gehört." Und derselbe homme d'etat schrieb an Liebknecht am 8. Septbr. 1859, daß „er an der erwähnten Sache gar keinen Anteil hatte". Nicht zufrieden mit diesen Leistungen hatte Bürger und Staatsmann Blind obendrein eine falsche Erklärung geschmiedet, wofür er unter Vorhaltung von Geldversprechungen von Seiten Fidelio Hollingers, künftigen Dankes von seiner eignen Seite, die Unterschrift des Setzers Wiehe erschlich.
Dies sein eignes Fabrikat mit der erschlichenen Unterschrift und in Gesellschaft von Fidelio Hollingers falschem Zeugnis sandte er nicht nur der „Allgemeinen Zeitung" ein, sondern „beruft" sich „wiederholt" auf diese „.Dokumente" in einer zweiten Erklärung und wirft mir mit Bezug auf diese „Dokumente" und in sittlichster Entrüstung „platte Unwahrheit" an den Kopf. Die beiden Affidavits Vögeles und Wiehes ließ ich abschriftlich in verschiedenen Kreisen zirkulieren, worauf in Blinds Hause eine Zusammenkunft stattfand, zwischen Blind, Fidelio Hollinger und Blinds Hausfreund, Herrn D. M. KarlSchaible, einem braven, stillen Mann, der in Blinds staatsmännischen Operationen gewissermaßen den zahmen Elefanten spielt. In der Nummer vom 15. Februar 1860 des „Daily Telegraph" erschien nun ein später in deutschen Zeitungen abgedruckter Paragraph, der in der Übersetzung lautet : „Das Vogt-Pamphlet An den Herausgeber des ,Daily Telegraph'! Mein Herr! Infolge irriger Angaben, die in Umlauf gesetzt wurden, fühle ich Herrn Blind sowohl wie Herrn Marx die förmliche Erklärung geschuldet, daß keiner von beiden der Verfasser des einige Zeit vorher gegen Professor Vogt zu Genf gerichteten Flugblatts ist. Dieses Flugblatt stammt von mir her, und auf mir haftet die Verantwortlichkeit. Ich bedaure, sowohl mit Rücksicht auf Herrn Marx als Herrn Blind, daß von mir unkontrollierbare Umstände mich verhindert haben, diese Erklärung früher zu machen. London, 14. Februar 1860 Karl Schaible, M.D."
Herr Schaible sandte mir diese Erklärung zu. Ich erwiderte die Höflichkeit umgehend durch Übersendung der Affidavits der Setzer Vögele und Wiehe und schrieb ihm zugleich, seine (Schaibles) Erklärung ändere nichts, weder an den falschen Zeugnissen, die Blind der „Allgemeinen Zeitung" eingeschickt, noch an Blinds conspiracy1 mit Hollinger zur Erschleichung von Wiehes Unterschrift für das geschmiedete falsche Schriftstück. Blind fühlte, daß er sich diesmal nicht auf dem sichern Boden der „Allgemeinen Zeitung" befand, sondern im bedenklichen Gerichtsbann von England. Wollte er die Affidavits und die darauf beruhenden „groben Injurien" meines Zirkulars entkräften, so mußten er und Hollinger Gegenaffidavits geben, aber mit der Felonie ist nicht zu spaßen. Eisele Blind ist nicht Verfasser des Flugblatts, denn Beisele^4141 Schaibele erklärt sich öffentlich als Verfasser. Blind hat nur das Manuskript des Flug
1 Verschwörung
blatts geschrieben, es nur bei Hollinger drucken lassen, den Probebogen nur eigenbändig korrigiert und nur falsche Zeugnisse zur Widerlegung dieser Tatsachen mit Hollinger geschmiedet und an die „Allgemeine Zeitung" expediert. Aber doch verkannte Unschuld, denn er ist nicht Verfasser oder Urheber des Flugblatts. Er funktionierte nur als Beisele Schaibeles Schreiber. Eben darum wußte er auch am 4. Juli 1859 nicht, „durch wen" das Flugblatt in die Welt geschleudert worden, und hatte er am 8.September 1859 „an der erwähnten Sache gar keinen Anteil". Zu seiner Beruhigung also: Beisele Sckaible ist der Verfasser des Flugblatts im literarischen Sinn, aber Eisele Blind ist der Verfasser im technischen Sinn des englischen Gesetzes und der Verantwortliche Herausgeber im Sinne aller zivilisierten Gesetzgebung. Habeatsibi!1 An Herrn Beisele Schaible noch ein Wort zum Abschied. Das von Vogt im Bieler „Handels-Courier" gegen mich unter dem Datum Bern, 23. Mai 1859, veröffentlichte Pasquill trug die Überschrift „Zur Warnung". Das Anfang Juni 1859 von Schaible verfaßte und von seinem Sekretär Blind geschriebne und herausgegebne Flugblatt, worin Vogt als „bestechender" und „bestochen seiender" Agent Louis Bonapartes mit Angabe ganz bestimmter Details denunziert wird, trägt ebenfalls die Überschrift „Zur Warnung". Es ist ferner unterzeichnet: X. Obgleich X in der Algebra die unbekannte Größe vorstellt, bildet es zufällig auch den letzten Buchstaben meines Namens. Bezweckten etwa Überschrift und Unterschrift des Flugblatts, Schaibles „Warnung" als meine Replik auf Vogts „Warnung" erscheinen zu lassen? Schaible hatte eine Enthüllung Nr. II versprochen, sobald Vogt Enthüllung Nr. I abzuleugnen wage. Vogt leugnete nicht nur ab; er stellte auf Schaibles „Warnung" hin eine Verleumdungsklage an. Und die Nr. II des Herrn Schaible "fehlt bis zur Stunde. Schaible hatte auf den Kopf seines Flugblatts die Worte gedruckt: „Zur gefälligen Verbreitung". Und als Liebknecht nun so „gefällig" war, die „Verbreitung" durch die „Allgemeine Zeitung" zu geben, banden „unkontrollierbare Umstände" von Juni 1859 bis Februar 1860 Herrn Schaible die Zunge, die ihm erst durch die Affidavits im Polizeigericht von Bow.Street gelöst ward. Wie dem auch sei, Schaible, der ursprüngliche Denunziant Vogts, hat die Verantwortlichkeit für die Angaben des Flugblatts jetzt öffentlich übernommen. Statt mit dem Siege von Verteidiger Vogt schließt die Augsburger Kampagne daher mit der endlichen Erscheinung von Angreifer Schaible auf dem Kampfplatz.
1 Soll es so sein!
VIII. Dä-Dä Vogt und seine Studien
„Sine studio"^
Ungefähr einen Monat vor Ausbruch des italienischen Krieges erschienen Vogts s. g. „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas", Genf 1859. Cui bono?1 Vogt wußte, daß „England bei dem bevorstehenden Kriege neutral bleiben wird." („Studien", p. 4.)
Er wußte, daß Rußland „in Übereinstimmung mit Frankreich alle Mittel aufbieten wird, welche diesseits der offenen Feindseligkeit liegen, um Ostreich zu schaden". („Studien", p. 13.)
Er wußte, daß Preußen - doch lassen wir ihn selbst sagen, was er von Preußen weiß.
„Dem Kurzsichtigsten muß es nun klargeworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Ostreichs zum Schwerte greifen wird, daß es zu allen Maßregeln, welche die Verteidigung des Bundesgebiets betreffen, seine Zustimmung geben, sonst aber jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesmitgliederfür Ostreich verhindern wird, um dann, bei den spätem Friedensverhandlungen, seinenLohn für diese Anstrengungen in norddeutschenFlachlanden zu erkalten." (l.c.p. 19.)
Also Fazit: Im bevorstehenden Kreuzzug Bonapartes gegen Ostreich wird England neutral bleiben, Rußland feindselig gegen Ostreich wirken, Preußen die etwa rauflustigen Bundesglieder141®1 still halten und Europa den Krieg lokalisieren. Wie früher den russischen Krieg, wird Louis Bonaparte jetzt den italienischen Krieg mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis, gewissermaßen als Geheimgeneral einer europäischen Koalition führen. Wozu also Vogts Pamphlet? Da Vogt weiß, daß England, Rußland und Preußen gegen Ostreich handeln, was zwingt ihn, für Bonaparte zu schreiben? Aber es
1 Wem zum Nutzen?
scheint, daß außer der alten Franzosenfresserei mit „dem kindisch gewordnen Vater Arndt und dem Schemen des Dreckpeters Jahn an der Spitze" (p. 121, 1. c.) eine Art nationaler Bewegung „das deutsche Volk" aufschüttelte und in allerhand „Kammern und Zeitungen" ihr Echo fand, „während die Regierungen nur zögernd und mit Widerstreben in die herrschende Strömung eingehn". (p. 114 I.e.) Es scheint, daß der „Glauben an eine drohende Gefahr" einen „Ruf nach gemeinsamen Maßregeln" (1. c.) aus dem deutschen „Volke" erschallen ließ. Der französische „Moniteur" (s. u.a. Nummer vom 15.März 1859) sah diese deutsche Bewegung mit „Kummer und Staunen".
„Eine Art Kreuzzug gegen Frankreich", ruft er aus, „wird in den Kammern und deT Presse einiger Staaten des deutschen Bundes gepredigt. Man klagt es an, ehrsüchtige Pläne zu hegen, die es abgeleugnet hat, Eroberungen vorzubereiten, deren es nicht bedarf" usw. Diesen „Verleumdungen" gegenüber zeigt der „Moniteur", daß „des Kaisers" Auftreten in der italienischen Frage „umgekehrt dem deutschen Geist die größte Sicherheit inspirieren" muß, daß deutsche Einheit und Nationalität gewissermaßen die Steckenpferde des dezembristischen Frankreichs sind usw. Der „Moniteur" gesteht indes (siehe IO.April 1859), gewisse deutsche Befürchtungen möchten durch gewisse Pariser Pamphlets „provoziert" scheinen - Pamphlets, worin Louis^Bonaparte sich selbst dringend ersucht, seinem Volk die „langersehnte Gelegenheit" zu geben, „pour s'&endre majestueusement des Alpes au Rhin" (sich majestätisch von den Alpen zum Rhein zu erstrecken). „Aber", sagt der „Moniteur",
„Deutschland vergißt, daß Frankreich unter der Ägide einer Gesetzgebung steht, die keine Präventivkontrolle auf Seite der Regierung gestattet."
Diese und ähnliche „Moniteur"-Erklärungen riefen, wie dem Grafen Malmesbury gemeldet ward (s. das Blue Book „On the affairs of Italy. January to May 1859"1417'), das grade Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervor. Was der „Moniteur" nicht vermochte, das vermochte vielleicht Karl Vogt. Seine „Studien" sind nichts als verdeutschte Kompilation aus „Mom7eur"-Artikeln, Den /«-Pamphlets und dezembristischen Zukunftskarten.
Vogts Kannegießerei über England hat nur ein Interesse - die Manier seiner „Studien" anschaulich zu machen. Seinen französischen Original
quellen gemäß verwandelt er den englischen Admiral Sir Charles Napier in einen „Lord" Napier {„Studien", p. 4). Die an das Dezembertum attachierten literarischen Zuaven wissen vom Theater der Porte St. Martin her'4181, daß jeder vornehme Engländer wenigstens ein Lord ist.
„Mit Ostreich", erzählt Vogt, „hat England niemals längere Zeit harmonieren können. Wenn augenblickliche Gemeinschaft der Interessen sie für einige Zeit zusammenführte, stets trennte sie unmittelbar wieder die politische Notwendigkeit. Mit Preußen dagegen trat England stets wieder in nähere Verbindung" etc. (p.2, I.e.)
In der Tat! Der gemeinschaftliche Kampf Englands und Ostreichs gegen Ludwig XIV. währt mit geringen Unterbrechungen von 1689 bis 1713, also beinahe ein Vierteljahrhundert. Im östreichischen Sukzessionskriege t401 kämpft England während ungefähr 6 Jahren mit Ostreich gegen Preußen und Frankreich. Erst im Siebenjährigen Kriege1431 alliiert sich England mit Preußen gegen Ostreich und Frankreich, aber schon 1762 läßt Lord Bute Friedrich den Großen im Stich, um abwechselnd dem russischen Minister Golizyn und dem östreichischen Minister Kaunitz Vorschläge zur „Teilung Preußens" zu machen. Im Jahre 1790 schließt England gegen Rußland und Ostreich einen Vertrag mit Preußen, der jedoch in demselben Jahre wieder zerrinnt. Während des Antijakobinerkriegs entzieht sich Preußen, trotz Pitts Subsidien, durch den Vertrag von Basel11701 der europäischen Koalition. Ostreich dagegen, von England gehetzt, kämpft mit geringen Unterbrechungen fort von 1793 bis 1809. Kaum ist Napoleon beseitigt, noch während des Wiener Kongresses, als England sofort mit Ostreich und Frankreich einen geheimen Vertrag (vom 3. Januar 1815) gegen Rußland und Preußen14191 schließt. Im Jahre 1821 verabreden Metternich und Castlereagh zu Hannover eine neue Übereinkunft gegen Rußland.'4201 Während daher die Briten selbst, Geschichtsschreiber und Parlamentsredner, von Ostreich vorzugsweise als dem „ancient ally" (alten Alliierten) Englands sprechen, entdeckt Vogt in seinen bei Dentu erschienenen französischen Originalpamphlets, daß Ostreich und England, „augenblickliche Gemeinschaft" abgerechnet, sich stets schieden, England und Preußen dagegen sich stets verbanden, weshalb wohl auch Lord Lyndhurst, während des russischen Kriegs, dem Hause der Lords mit Bezug auf Preußen zurief: „Quem tu, Romane, caveto!"1 Das protestantische England hat Antipathien gegen das katholische Ostreich, das liberale England Antipathien gegen das konservative Ostreich, das freihändlerische England Anti
1 „Hüte dich vor ihm, Römerl"
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pathien gegen das schutzzöllnerische Ostreich, das zahlungsfähige England Antipathien gegen das bankerotte Ostreich. Aber das pathetische Element blieb der englischen Geschichte stets fremd. Lord Palmerston, während seiner 30jährigen Regierung Englands, beschönigt allerdings gelegentlich sein Vasallentum unter Rußland mit seiner Antipathie gegen Ostreich. Aus „Antipathie" gegen Ostreich verweigerte er z. B. die 1848 von Ostreich angebotene, von Piemont und Frankreich gutgeheißne Vermittlung Englands in Italien, wonach Ostreich sich bis an die Etschlinie und Verona zurückzog, die Lombardei, wenn es ihr gutdünkte, sich Piemont einverleibte, Parma und Modena an die Lombardei fielen, Venedig aber unter einem östreichischen Erzherzog einen unabhängigen italienischen Staat bildete und sich selbst seine Verfassung gab. (Siehe „Bitte Book on the affairs of Italy", Part II, July 1849, No. 377, 478.) Diese Bedingungen waren jedenfalls günstiger als die des Friedens von Villafranca.12711 Nachdem Radetzky die Italiener auf allen Punkten geschlagen, schlug Palmerston die von ihm selbst verworfenen Bedingungen vor. Sobald die Interessen Rußlands ein umgekehrtes Verfahren erheischten, während des -ungarischen Unabhängigkeitskrieges, wies er dagegen,trotz seiner „Antipathie" gegen Ostreich die Hülfe ab, wozu ihn die Ungarn, gestützt auf den Vertrag von 1711l4211, einluden, und verweigerte selbst jeden Protest gegen die-russische Intervention, weil
„die politische Unabhängigkeit und Freiheiten Europas an die Erhaltung und Integrität Ostreichs als einer europäischen Großmacht geknüpft seien". (Sitzung des Hauses der Gemeinen, 21. Juli 1849.) Vogt erzählt weiter: „Die Interessen des Vereinigten Königreichs... stehen ihnen" (den Interessen Ostreichs) „überall feindlich gegenüber." (p.2, I.e.) Dies „überall" verwandelt sich sofort ins Mittelmeer. „England will um jeden Preis seinen Einfluß im Mittelmeer und dessen Küstenländern behaupten. Neapel und Sizilien, Malta und die Ionischen Inseln, Syrien und Ägypten sind Ruhepunkte seiner nach Ostindien gerichteten Politik; überall auf diesen Punkten hat ihm Ostreich die lebhaftesten Hindernisse bereitet." (I.e.) Was der Vogt nicht alles den von Dentu zu Paris verlegten dezembristischen Originalpamphlets glaubt! Die Engländer bildeten sich bisher ein, sie hätten abwechselnd mit Russen und Franzosen um Malta und die Ionischen Inseln gekämpft, nie aber mit Ostreich. Frankreich, nicht Ostreich, habe früher eine Expedition nach Ägypten gesandt und setze sich in diesem Augenblick an der Landenge von Suez fest; Frankreich, nicht Ostreich,
habe Eroberungen an der Nordküste von Afrika gemacht und, mit Spanien vereint, den Briten Gibraltar zu entreißen gesucht; England habe den auf Ägypten und Syrien bezüglichen Julivertrag von 1840 gegen Frankreich geschlossen, aber mit Ostreich'4221; in „der auf Ostindien gerichteten Politik" stoße England überall auf die „lebhaftesten Hindernisse" von Seite Rußlands, nicht Ostreichs; in der einzig ernsthaften Streitfrage zwischen England und Neapel - der Schwefelfrage von 1840 - sei es eine französische, nicht eine östreichische Gesellschaft gewesen, deren Monopol des sizilianischen Schwefelhandels zum Vorwand der Reibung gedient habe '423); endlich sei jenseits des Kanals wohl gelegentlich die Rede von der Verwandlung des Mittelmeers in einen „lac franjais"1, nie aber von seiner Verwandlung in einen „lac autrichien"2. Jedoch ist hier ein wichtiger Umstand zu erwägen. Im Laufe des Jahres 1858 erschien nämlich zu London eine Karte von Europa, betitelt „L'Europe en 1860" (Europa im Jahre 1860). Diese Karte, die von der französischen Gesandtschaft herausgegeben ward und manche für 1858 prophetische Andeutung enthält - Lombardei-Venedig z. B. an Piemont und Marokko an Spanien annexiert -, zeichnet die politische Geographie von ganz Europa um mit einziger Ausnahme Frankreichs, das scheinbar innerhalb seiner alten Grenzen verharrt. Die ihm zugedachten Territorien werden mit verstohlner Ironie an unmögliche Besitzhalter verschenkt. So fällt Ägypten an Ostreich, und die der Karte aufgedruckte Randglosse besagt: „Fran?ois Joseph I, l'Empereur d'Autriche et d'Egypte" (Franz Joseph I., Kaiser von Ostreich und Ägypten.) Vogt hatte die Karte „L'Europe en 1860" als dezembristischen Kompaß vor sich liegen. Daher sein Konflikt Englands mit Ostreich von wegen Ägypten und Syrien. Vogt prophezeit, dieser Konflikt würde „in der Vernichtung einer der streitbaren Mächte sein Ende finden", wenn, wie er sich rechtzeitig besinnt, „wenn Ostreich eine Seemacht besäße". (p. 2,1. c.) Den Höhepunkt der ihnen eigentümlichen historischen Gelehrsamkeit erreichen die „Studien" jedoch in folgender Stelle: „Als Napoleon I. einst die englische Bank zu sprengen suchte, half sich diese, während eines Tages, dadurch, daß sie die Summen zählte und nicht wägte, wie man bisher zu tun gewohnt war; die östreichische Staatskasse befindet sich 365 Tage im Jahre in gleicher, ja noch weit schlimmerer Lage." (I.e. p.43.) Die Barzahlungen der Bank von England („die englische Bank" ist auch ein Vogtsches Phantom) blieben bekanntlich suspendiert vom Februar 1797
1 „französischen Binnensee" - 2 „österreichischen Binnensee"
bis zum Jahre 1821, während welcher 24 Jahre die englischen Banknoten überhaupt nicht einwechselbar waren in Metall, gewägtem oder gezähltem. Als die Suspension eintrat, existierte noch kein Napoleon I. in Frankreich (wohl aber führte damals ein General Bonaparte seinen ersten italienischen Feldzug), und als die Barzahlungen in Threadneedle Street wieder anfingen, hatte Napoleon I. aufgehört in Europa zu existieren. Solche „Studien" schlagen denn doch selbst La Gueronniferes Eroberung von Tirol durch den „Kaiser" von Ostreich.
Frau von Krüdener, die Mutter der Heiligen Allianz, unterschied zwischen dem guten Prinzip, dem „weißen Engel des Nordens" (Alexander I.), und dem bösen Prinzip, dem „schwarzenEngel desSüdens" (Napoleon I.).[4Z4J Vogt, der Adoptivvater der neuen heiligen Allianz, verwandelt beide, Zar und Cäsar, Alexander II. und Napoleon III., in „weiße Engel". Beide sind die prädestinierten Befreier Europas. Piemont, sagt Vogt, „es hat sogar die Achtung Rußlands erworben". (p. 71,I.e.) Was mehr von einem Staat sagen, als daß er sogar die Achtung Rußlands erworben hat. Namentlich nachdem Piemont den Kriegshafen von Villafranca an Rußland abgetreten hat, und wie derselbe Vogt in bezug auf den Ankauf des Jadebusens durch Preußen[4251 mahnt: „Ein Kriegshafen auf fremdem Gebiet ohne organische Rückverbindung mit dem Lande, zu dein er gehört, ist ein solch lächerlicher Unsinn, daß seine Existenz nur dann Bedeutung gewinnen kann, wenn man ihn gewissermaßen als Zielpunkt künftiger Bestrebungen, als das aufgesteckte Fähnlein ansieht, nach welchem die Richtungslinien visiert werden." („Studien", p. 15.) Katharina II. hatte bekanntlich schon Kriegshäfen für Rußland im Mittelmeer zu gewinnen gesucht. Zarte Rücksichtnahme gegen den „weißen Engel" des Nordens verleitet Vogt, „die Bescheidenheit der Natur", soweit sie selbst noch von seinen Dentuschen Originalquellen gewahrt wird, plump übertreibend zu verletzen. In „La vraie question. France-Italie-Autriche", Paris 1859 (bei Dentu) las er p. 20: „Mit welchem Recht übrigens würde die östreichische Regierung die Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit die Verträge garantierten?"*
* „De quel droit, d'ailleurs, le gouvernement autrichien viendrait-il invoquer rinviolabilit£ de ceux (trait&) de 1815, lui qui les a violes en confisquant Cracovie, dont ces traites garantissaient l'independance?"
Dies sein französisches Originell verdeutscht er wie folgt:
„Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen Regierung zu vernehmen, die bis jetzt in frecher Weise die Verträge gebrochen [...], indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand gegen die durch Verträge garantierte RepublikKrakau ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaate ohne weiteres einverleibte." (p. 58, I.e.)
Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des Königreichs Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus „Achtung" vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder besetzt von Russen, Ostreichem undPreußen, wurde völlig als erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen, östreicher und Preußen abermals Krakau, um es Ostreich einzuverleiben.14261 Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen Mächte, und die östreichische Konfiskation von 1846 war nur das letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831. Aus Delikatesse gegen den „weißen Engel des Nordens" vergißt Vogt die Konfiskation Polens und verfälscht er die Geschichte der Konfiskation von Krakau.* Der Umstand, daß Rußland „durchweg feindselig gegen Ostreich und sympathetisch zu Frankreich", läßt dem Vogt keinen Zweifel über die völkerbefreienden Tendenzen Louis Bonapartes, ganz wie der Umstand, daß „seine" (Louis Bonapartes) „Politik heute mit derjenigen Rußlands auf das engste verbunden geht" (p. 30), ihm keinen Zweifel über die völkerbefreienden Tendenzen Alexanders II. gestattet. Das heilige Rußland muß daher im Osten ganz ebenso als „Freund der freiheitlichen Bestrebungen" und der „volkstümlichen und nationalen Entwicklung" betrachtet werden wie das dezembristische Frankreich im Westen. Diese Parole war ausgeteilt unter alle Agenten des 2. Dezember. „Rußland", las Vogt in der bei Dentu verlegten Schrift „La foi des traites, les puissances signataires et l'empereur Napoleon III", Paris 1859
* Palmerston, der Europa durch seinen lächerlichen Protest foppte, hatte unermüdlich seit 1831 an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet. (S[iehe] mein Pamphlet „Palmerston andPoland", London 1853.)1
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 368-380
„Rußland gehört zur Familie der Slawen, einer auserwählten Race... Man hat sich gewundert über die ritterliche Übereinstimmung, die plötzlich zwischen Frankreich und Rußland aufgesprungen ist. Nichts natürlicher: Zusammenstimmung der Prinzipien, Übereinstimmung über den Zweck, Unterwerfung unter das Gesetz derzeitigen Allianz der Regierangen und dar Völker, nicht um Fallen zu legen und zu zwingen, sondern um die göttlichen Bewegungen der Nationen zu lenken und zu unterstützen. Aus dieser ganz vollkommenen Herzlichkeit" (zwischen Louis-Philippe und England herrschte nur entente cordiale, aber zwischen Louis Bonaparte und Rußland herrscht la cordialite la plus parfaite1) „sind die glücklichsten Wirkungen hervorgegangen: Eisenbahnen, Befreiung der Leibeignen, Handelsstationen im Mittelmeer usw."*
Vogt fängt sofort die „Befreiung der Leibeignen" auf und deutet an, daß
„der Jetzt gegebene Anstoß ... aus Rußland eher einen Genossen der freiheitlichen Bestrebungen statt eines Feindes derselben machen dürfte". (1. c. p. 10.)
Er, wie sein Dentusches Original, leitet den Anstoß der sogenannten russischen Leibeignenemanzipation auf Louis Bonaparte zurück und verwandelt zu diesem Zweck den Anstoß gebenden englisch-türkisch-französisch-russischen Krieg in einen „französischen Krieg", (p. 9,1. c.) Bekanntlich erscholl der Ruf nach Emanzipation der Leibeignen zuerst laut und nachhaltig unter Alexander I. Der Zar Nikolaus beschäftigte sich während seines ganzen Lebens mit der Leibeignenemanzipation, schuf 1838 zu diesem Behuf ein eignes Ministerium der Domänen, ließ dies Ministerium 1843 vorbereitende Schritte tun und erließ 1847 sogar über die Veräußerung adliger Ländereien bauernfreundliche Gesetze'427', zu deren Rücknahme ihn 1848 nur die Furcht vor der Revolution trieb. Wenn die Frage der Leibeignenemanzipation daher unter dem „wohlwollenden Zar", wie Vogt Alexander II. gemütlich bezeichnet, gewaltigere Dimensionen angenommen hat, scheint dies einer Entwicklung ökonomischer Zustände geschuldet, die selbst ein Zar nicht niederherrschen kann. Übrigens würde
* „La Russie est de la famille des Slaves, race d'elite... On s'est etonne de l'accord chevaleresque survenu soudainement entre la France et la Russie. Rien de plus naturel: accord des principes, unanimite du but ... soumission ä la loi de l'alliance sainte des gouoemements et des peaples, non pour leurrer et contraindre, maus pour guider et aider la marche divine des nations. De la cordialite la plus parfaite sont sortis les plus heureux effets: chemins de fer, affranchissemmt des serfs, stations commerciales dans la Mediterranee etc.", p. 33 „Lafoi des traites etc.", Paris 1859.
1 die vollkommenste Herzlichkeit
die Leibeignenemanzipation im Sinne der russischen Regierung die Aggressivkraft Rußlands ums Hundertfache steigern. Sie bezweckt einfach die Vollendung der Autokratie, durch Niederreißung der Schranken, die der große Autokrat bisher an den vielen auf die Leibeigenschaft gestützten kleinen Autokraten des russischen Adels fand, sowie an den sich selbst verwaltenden bäuerlichen Gemeinwesen, deren materielle Grundlage, das Gemeineigentum, durch die sogenannte Emanzipation vernichtet werden soll. Zufällig verstehn die russischen Leibeignen die Emanzipation in einem andern Sinn als die Regierung, und der russische Adel versteht sie wieder in anderm Sinn. Der „wohlwollende Zar" entdeckte daher, daß eine wirkliche Leibeignenemanzipation unvereinbar mit seiner Autokratie, ganz wie der wohlwollende Papst Pius IX. zur Zeit entdeckt hat, daß die italienische Emanzipation unvereinbar mit den Existenzbedingungen des Papsttums ist. Der „wohlwollende Zar" erblickt daher im Eroberungskrieg und in der Ausführung der traditionellen auswärtigen Politik Rußlands, die, wie der russische Geschichtsschreiber Karamsin bemerkt, „unveränderlich" ist, das einzige Mittel, die Revolution im Innern zu vertagen. Fürst Dolgorukpu), in seinem Werke „La verite sur la Russie", 1860, hat die von bezahlten russischen Federn durch ganz Europa seit 1856 emsig verbreiteten, von den Dezembristen 1859 laut proklamierten und von Vogt in seinen „Studien" nachgebeteten Lügenmärchen über das unter Alexander II. eingebrochene Millennium kritisch vernichtet. Schon vor Ausbruch des italienischen Kriegs hatte sich nach Vogt die eigens zur Befreiung der Nationalitäten gestiftete Allianz zwischen dem „weißen Zar" und dem „Mann vom Dezember" bewährt in den Donaufürstentümern, wo die Einheit und Unabhängigkeit rumänischer Nationalität durch die Wahl des Obersten Cuza zum Fürsten der Moldau und Walachei14281 besiegelt worden. „ Ostreich protestiert mit Händen und Füßen, Frankreich and Rußland applaudieren." (p. 65,1. e.). In einem Memorandum (abgedruckt „Preußisches Wochenblatt"14291, 1855), vom russischen Kabinett 1837 für den damaligen Zar entworfen, liest man: „Rußland liebt es nicht, sofort Staaten mit fremdartigen Elementen einzuverleiben... Jedenfalls scheint es passender, die Länder, deren Erwerb beschlossen ist, einige Zeit unter besondern, aber ganz abhängigen Oberhäuptern existieren zu lassen, wie wir es getan haben in der Moldau und Walachei usw." Bevor Rußland die Krim einverleibte, proklamierte es ihre Unabhängigkeit.
In einer russischen Proklamation vom 11 .Dezember 1814 heißt es u. a.:
„Der Kaiser Alexander, euer Schutzherr, appelliert an euch Polen. Bewaffnet euch selbst für die Verteidigung eures Vaterlandes und die Erhaltung eurer politischen Unabhängigkeit'"
Und nun gar die Donaufürstentümer! Seit dem Einmarsch Peters des Großen in die Donaufürstentümer hat Rußland für ihre „Unabhängigkeit" gearbeitet. Auf dem Kongreß zu Niemirow (1737) verlangte die Kaiserin Anna vom Sultan die Unabhängigkeit der Donaufürstentümer unter russischem Protektorat. Katharina II., auf dem Kongreß zu Fokshani (1772), bestand auf der Unabhängigkeit der Fürstentümer unter europäischem Protektorat.lisoi Alexander I. setzte diese Bestrebungen fort und besiegelte sie durch Verwandlung Bessarabiens in eine russische Provinz (Frieden von Bukarest 1812). Nikolaus beglückte die Rumänen sogar durch Kisselew mit dem noch gültigen Reglement orgamque, welches die infamste Leibeigenschaft organisierte unter dem Zujauchzen von ganz Europa über diesem Code der Freiheit.14311 Alexander II. hat die anderthalbhundertjährige Politik seiner Vorfahren durch die Quasi-Vereinigung der Donaufürstentümer unter Cuza nur einen Schritt weiter geführt. Vogt entdeckt, daß infolge dieser Einigung unter einem russischen Vasallen „die Fürstentümer ein Damm sein würden gegen das Vordringen Rußlands nach Süden". (P.64, I.e.) Da Rußland die Wahl Cuzas applaudiert (p. 65,1. c.), wird es sonnenklar, daß der wohlwollende Zar sich selbst aus Leibeskräften „den Weg nach Süden" versperrt, obgleich „Konstantinopel ein ewiger Zielpunkt russischer Politik bleibt". (1. c. p. 9.) Die Wendung, Rußland als Schutzherrn des Liberalismus und nationaler Bestrebungen zu verschreien, ist nicht neu. Katharina II. wurde von einer ganzen Schar französischer und deutscher Aufklärer als Fahnenträgerin des Fortschritts gefeiert. Der „edle" Alexander I. (Le Grec du Bas Empire1, wie Napoleon ihn unedel nennt) spielte seinerzeit den Helden des Liberalismus in ganz Europa. Beglückte er Finnland nicht mit den Segnungen der russischen Zivilisation? Gab er Frankreich in seiner Großmut nebst einer Konstitution nicht auch noch einen russischen Premierminister, den Herzog von Richelieu? War er nicht der geheime Chef der „Hetärie"14321, während er gleichzeitig auf dem Kongreß von Verona durch den erkauften Chateaubriand LudwigXVI II. zum Feldzug gegen die spanischen Rebellen
1 Der Grieche des byzantinischen Reiches, hier: Bauernfänger
trieb?1192' Hetzte er nicht Ferdinand VII. durch dessen Beichtvater zur Expedition gegen die empörten spanisch-amerikanischen Kolonien, während er gleichzeitig dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika seine Unterstützung gegen jede Intervention europäischer Mächte auf dem amerikanischen Kontinent zusagte? Hatte er nicht Ypsilanti als „Führer der heiligen Hellenenschar" nach der Walachei entsandt und durch denselben Ypsilanti die Schar verraten und Wladimiresco, den walachischen Rebellenführer, meuchelmorden lassen? Auch Nikolaus wurde vor 1830 als Nationalitäten befreiender Held in allen Sprachen, gereimt und ungereimt, begrüßt. Als er 1828/29 den Krieg gegen Machmud II. zur Befreiung der Griechen unternahm, nachdem Machmud nämlich verweigert hatte, eine russische Armee zur Unterdrückung der griechischen Rebellion einrücken zu lassen, erklärte Palmerston dem englischen Parlament, die Feinde des befreienden Rußlands seien notwendig die „Freunde" der größten Weltungetüme, Dom Miguels, Ostreichs und des Sultans. Gab Nikolaus in väterlicher Fürsorge den Griechen nicht einen russischen General, den Grafen Kapodistrias, zum Präsidenten? Nur waren die Griechen keine Franzosen und mordeten den edlen Kapodistrias. Obgleich nun Nikolaus seit dem Ausbruch der Jülirevolution von 1830 hauptsächlich als Schirmherr der Legitimität seine Rolle spielte, unterließ er jedoch keinen Augenblick, für die „Befreiung der Nationalitäten" zu wirken. Wenige Beispiele genügen. Die konstitutionelle Revolution Griechenlands im September 1843 war geleitet von Katakasi, dem russischen Minister zu Athen, früher verantwortlicher Oberaufseher über Admiral Heyden während der Katastrophe von Navarino.1433' Das Zentrum der bulgarischen Rebellion von 1842 war das russische Konsulat zu Bukarest. Dort empfing der russische General Duhamel, im Frühling 1842, eine bulgarische Deputation, der er den Plan zu einer allgemeinen Insurrektion vorlegte. Serbien sollte als Reserve der Insurrektion dienen und das Hospodariat der Walachei auf den russischen General Kisselew übertragen werden. Während der serbischen Insurrektion (1843) trieb Rußland durch die Gesandtschaft in Konstantinopel die Türkei zu Gewaltmaßregeln gegen die Serben, um dann auf diesen Vorwand hin gegen die Türken an die Sympathie und den Fanatismus Europas zu appellieren. Auch Italien War keineswegs ausgeschlossen von den Befreiungsplänen des Zar Nikolaus: „Lajeane Italieu, eine Zeitlang das Pariser Organ der Mazzinischen Partei, erzählt in einer Nummer von November
1843: „Die neulichen Unruhen in der Romagna und die Bewegungen in Griechenland standen mehr oder minder in Verbindung... Die italienische Bewegung scheiterte.
weil die wirklich demokratische Partei ihren Anschluß an dieselbe verweigert hat. Die Republikaner wollten eine von Rußland ins Werk gesetzte Bewegung nicht unterstützen. Alles war für eine allgemeine Insurrektion in Italien vorbereitet. Die Bewegung sollte in Neapel beginnen, wo man erwartete, ein Teil der Armee werde sich an die Spitze stellen oder unmittelbar gemeinsame Sache mit den Patrioten machen. Nach Ausbruch dieser Revolution sollten die Lombardei, Piemont und die Romagna sich erheben und ein italienisches Reich gegründet werden unter dem Herzog von Leuchtenberg, Sohn von Eugene Beauharnais und Schwiegersohn des Zaren. Das ,/unge Italien vereitelte den Plan." Die „Times"[434) vom 20.November 1843 bemerkt über diese Mitteilung der „Jeune Italie":
„Wenn dieser große Zweck - Stiftung eines italienischen Reichs mit einem russischen Prinzen an der Spitze - erreicht werden konnte, desto besser; aber ein andrer mehr unmittelbarer, wenn auch nicht so gewichtiger Vorteil war durch jedweden Ausbruch in Italien zu erreichen - Ostreich Alarm zu verursachen und seine Aufmerksamkeit von den fürchterlichen (fearful) Plänen Rußlands an der Donau abzulenken." Nachdem Nikolaus sich 1843 erfolglos an das „Junge Italien"[435] gewandt hatte, sandte er im Marz 1844 Herrn von Butenew nach Rom. Butenew eröffnete dem Papst1 im Namen des Zaren, Russisch-Polen solle an Ostreich abgetreten werden im Austausch für die Lombardei, die ein norditalienisches Königreich unter Leuchtenberg bilden solle. Das „Tablet" vom April 1844, damals das englische Organ der römischen Kurie, bemerkt zu diesem Vorschlag:
„Der Köder für den römischen Hof in diesem schönen Plan lag darin, daß Polen in katholische Hände geriet, während die Lombardei nach wie vor unter einer katholischen Dynastie verblieb. Aber die diplomatischen Veteranen von Rom sahen ein, daß, während Ostreich kaum seine eignen Besitzungen halten kann und aller menschlichen Wahrscheinlichkeit nach früher oder später seine slawischen Provinzen wieder von sich geben muß, eine Übermachung Polens an Ostreich, selbst wenn dieser Teil des Vorschlags ernstlich gemeint war, nur ein später wieder rückzahlbares Anlehn wäre; während Norditalien mit dem Herzog von Leuchtenberg in der Tat unter russische Protektion und bevor lange unfehlbar unter den russischen Zepter fallen würde. Folglich wurde der warm anempfohlene Plan für jetzt beiseite gelegt."
Soweit das „Tablet" von 1844. Der einzige Umstand, der die staatliche Existenz Ostreichs, seit Mitte des 18. Jahrhunderts, rechtfertigte, sein Widerstand gegen die Fortschritte Rußlands im Osten Europas - ein Widerstand, hülflos, inkonsequent, feig,
1 Gregor XIV.
aber zäh -, veranlaßt Vogt zur Entdeckung, daß „ Ostreich der Hort jeden Zwiespalts im Osten ist". (1. c. p. 56.) Mit „einer gewissen Kindlichkeit", die seinem fetten Wesen so wohl ansteht, erklärt er die Verbindung Rußlands mit Frankreich gegen Ostreich, beseits der befreienden Tendenzen des „wohlwollenden Zar", aus dem Undank Ostreichs für die während der ungarischen Revolution vom Nikolaus empfangenen Dienste.
„In dem Krimkriege selbst ging Ostreich bis zur letzten Grenze der bewaffneten, feindseligen Neutralität fort. Es versteht sich von selbst, daß dieses Gebaren, das zudem den Stempel der Falschheit und Hinterlist trug, die russische Regierung in gewaltigem Maße gegen Ostreich erbittern und damit auch zu Frankreich hindrängen mußte." 0- c. p. 10, 11.)
Rußland verfolgt nach Vogt eine sentimentale Politik. Der Dank, den Ostreich dem Zaren auf Kosten Deutschlands während des Warschauer Kongresses von 1850 und durch den Zug nach Schleswig-Holstein[436) abstattete, befriedigt den dankbaren Vogt noch nicht. Der russische Diplomat Pozzo di Borgo, in seiner berühmten Depesche d.d. Paris, Oktober 1825t437', sagt, nach vorheriger Aufzählung der Umtriebe Ostreichs gegen Rußlands Interventionspläne im Osten:
„Unsre Politik gebietet uns daher, uns diesem Staat" (Ostreich) „in einer fürchterlichen Gestalt zu zeigen und ihn durch unsre Vorbereitungen zu überzeugen, daß, wenn er eine Bewegung gegen uns wagt, der wildeste Sturm, den er je erlebt hat, über seinem Haupt losplatzen wird."
Nachdem Pozzo mit Krieg von außen und Revolution von innen gedroht, als mögliche friedliche Lösung Ostreichs Zugreifen auf die ihm „zusagenden Provinzen" der Türkei bezeichnet, Preußen aber einfach als einen untergeordneten Alliierten Rußlands geschildert hat, fährt er fort:
„Hätte der Wiener Hof imsern gutenZwecken und Absichten nachgegeben, so würde der Plan des kaiserlichen Kabinetts lange erfüllt sein - ein Plan, der sich nicht nur auf die Besitzergreifung der Donaufürstentümer und Konstantinopels, sondern selbst auf die Vertreibung der Türken aus Europa erstreckt."
Im Jahre 1830 wurde bekanntlich ein geheimer Vertrag zwischen Nikolaus und Karl X. abgeschlossen. Es war darin stipuliert: Frankreich erlaubt Rußland die Besitzergreifung Konstantinopels und erhält zum Ersatz die Rheinprovinzen und Belgien; Preußen wird entschädigt durch Hannover und Sachsen; Ostreich erhält einen Teil der türkischen Provinzen ein der Donau. Derselbe Plan ward unter Louis-Philippe, auf Rußlands Antrieb, von Mole dem Petersburger Kabinett wieder vorgelegt. Bald darauf wan
derte Brunnow mit dem Aktenstück nach London, wo es als Beweis für Frankreichs Verrat der englischen Regierung mitgeteilt und zur Bildung der antifranzösischen Koalition von 1840 benutzt ward. Sehn wir nun, wie Rußland im Einverständnis mit Frankreich den italienischen Krieg ausbeuten sollte in der Idee des von seinen Pariser Originalquellen inspirierten Vogt. Die „nationale" Zusammensetzung Rußlands und im besondern die „polnische Nationalität" könnten einem Manne, dessen „Polarstern das Prinzip der Nationalität" ist, einige Schwierigkeiten zu bereiten scheinen, aber:
„Das Prinzip der Nationalität steht uns hoch, das Prinzip der freien Selbstbestimmung noch höher." (p. 121,1. c.) Als Rußland durch die Verträge von 1815 den bei weitem größten Teil des eigentlichen Polens annexierte, erhielt es eine nach Westen hin so vorgeschobene Stellung, drängte es sich so keilartig nicht nur zwischen Ostreich und Preußen, sondern zwischen Ostpreußen und Schlesien, daß schon damals preußische Offiziere (Gneisenau z. B.) auf die Unerträglichkeit solcher Grenzverhältnisse gegen einen übermächtigen Nachbar aufmerksam machten. Als aber die Niederwerfung Polens 1831 dies Gebiet den Russen auf Gnade und Ungnade unterwarf, entwickelte sich auch erst der wahre Sinn des Keils. Den Befestigungen, im größten Stil angelegt, bei Warschau, Modlin, Iwangorod, diente die Niederhaltung Polens nur als Vorwand. Ihr wirklicher Zweck war vollständige strategische Beherrschung des Weichselgebiets, Herstellung einer Basis für den Angriff nach Norden, Süden und Westen. Selbst Haxthausen, der für den rechtgläubigen Zar und alles Russische schwärmt, sieht hier eine ganz entschiedne Gefahr und Drohung für Deutschland. Die befestigte Stellung der Russen an der Weichsel bedroht Deutschland mehr als alle französischen Festungen zusammengenommen, namentlich von dem Augenblick, wo Polens nationaler Widerstand aufhören und Rußland über Polens kriegerische Kraft als seine eigne Aggressivkraft verfügen würde. Vogt beruhigt daher Deutschland darüber, daß Polen aus freier Selbstbestimmung russisch ist.
„Zweifellos", sagt er, „zweifellos hat sich infolge der angestrengten Bemühungen der russischen Volkspartei die Kluft, welche zwischen Polen und Rußland gähnte, he* deutend verringert und bedarf es vielleicht nur eines geringen Anstoßes, um sie gänzlich auszufüllen." 0. c. p. 12.) Diesen geringen Anstoß sollte der italienische Krieg bieten. (Alexander II. überzeugte sich jedoch während dieses Krieges, daß Polen noch nicht auf der Höhe Vogts stand.) Das in Rußland durch „freie Selbst»
bestimmung" aufgegangne Polen würde als Zentralkörper die unter der Fremdherrschaft schmachtenden und abgelösten Glieder des weiland polnischen Reichs vermittelst des Gesetzes der Schwere anziehn. Damit dieser Attraktionsprozeß um so leichter vor sich gehe, rät Vogt Preußen, den Moment zu ergreifen, um das „slawische Anhängsel" loszuwerden (p. 17,1. c.), nämlich Posen (p. 97, 1. c.) und wahrscheinlich auch Westpreußen, da nur Ostpreußen als „wahrhaft deutsches Land" anerkannt wird. Die von Preußen losgelösten Glieder würden natürlich sofort an den in Rußland absorbierten Zentralkörper zurückfallen und das „wahrhaft deutsche Land" Ostpreußen in ein russisches. Enklave verwandelt werden. Andrerseits, was Galizien betrifft, das auch in der Karte „L'Europe en 1860" in Rußland einverleibt ist, so lag dessen Loslösung von Ostreich ja direkt im Zwecke des Kriegs, Deutschland von den ungermanischen Besitzungen Ostreichs zu befreien. Vogt erinnert sich, daß man
„vor 1848 in [...] Galizien häufiger das Bild des russischen Zaren als das des östreichischen Kaisers fand" (p. 12, I.e.), und „bei der ungemeinen Geschicklichkeit, welche Rußland in Anfädelung solcher Umtriebe besitzt, würde hier ein bedeutender Grund zur Befürchtung von Seite Ostreichs vorliegen". (1. c.)
Es versteht sich aber ganz von selbst, daß, um den „innern Feind" loszuwerden, Deutschland ruhig den Russen erlauben muß, „Truppen an die Grenze zu schieben" (p. 13), welche diese Umtriebe unterstützen. Während Preußen selbst seine polnischen Provinzen von sich absondert, sollte Rußland mit Benutzung des italienischen Kriegs Galizien von Ostreich loslösen, wie Alexander I. ja schon 1809 seine nur theatralische Unterstützung Napoleons I. mit einem Stücke Galiziens bezahlt erhielt. Es ist bekannt, daß Rußland teils von Napoleon I., teils vom Wiener Kongreß einen Teil der ursprünglich an Ostreich und Preußen gefallnen Polenstücke mit Erfolg wieder herausforderte. Im Jahre 1859 war, nach Vogt, der Moment gekommen, ganz Polen mit Rußland zu vereinigen. Statt der Emanzipation der polnischen Nationalität von Russen, Ostreichern und Preußen verlangt Vogt das Aufgehn und Untergehn des ganzen ehemaligen polnischen Reichs in Rußland. Finis Poloniae!1 Diese „russische" Idee von der „Wiederherstellung Polens", die sogleich nach dem Tode des Zaren Nikolaus2 ganz Europa durchlief, findet man bereits März 1855 in dem Pamphlet „The neu) hope of Polandu(Die neue Hoffnung Polens) von David Urquhart denunziert. Aber Vogt hat noch nicht genug für Rußland getan.
1 Das Ende Polens! - 2 Nikolaus I.
„Die außerordentliche Zuvorkommenheit", sagt dieser liebenswürdige Gesellschafter, „ja fast die Brüderlichkeit, womit die Russen die ungarischen Revolutionäre behandelten, stach zu sehr gegen das Verfahren der östreicher ab, als daß es nicht seine volle Wir? kung hätte äußern müssen. Indem es die Partei" (Notabene: Rußland warf nach Vogt nicht Ungarn, sondern die Partei nieder) „zwar niederwarf, aber sie mit Schonung und Courtoisie behandelte, legte Rußland den Grund zu einer Anschauungsweise, die sich etwa damit ausdrücken läßt, daß man unter zwei Übeln das kleinere wählen müsse und daß im gegebenen Falle Rußland nicht das größere set'." (p. 12, 13,1. c.)
Mit welcher „außerordentlichen Zuvorkommenheit, Schonung, Courtoisie", ja fast „Brüderlichkeit", geleitet Plon-PIons Falstaff die Russen nach Ungarn und macht er sich zum „Kanal" der Illusion, woran die ungarische Revolution von 1849 gescheitert ist. Es war Görgeys Partei, die damals den Glauben an einen russischen Prinzen als künftigen König von Ungarn verbreitet und durch diesen Glauben die Widerstandskraft der ungarischen Revolution gebrochen hat.* Ohne besondern Halt an irgendeiner Race stützten die Habsburger vor 1848 ihre Herrschaft über Ungarn natürlich auf die herrschende Nationalität - die Magyaren, Überhaupt, im Vorbeigehn sei es gesagt, war Metternich der größte Erhalter der Nationalitäten. Er mißbrauchte sie gegeneinander, aber er brauchte sie, um sie zu mißbrauchen. Er erhielt sie daher. Man vergleiche Posen und Galizien. Nach der Revolution von 1848/49 suchte die habsburgische Dynastie, die Deutsche und Magyaren durch die Slawen geschlagen hatte, Joseph II. nachahmend, das deutsche Element gewaltsam in Ungarn zur Herrschaft zu bringen. Aus Furcht vor Rußland wagten die Habsburger nicht, ihren Rettern, den Slawen, in die Arme zu sinken. Ihre Gesamtstaatsreaktion in Ungarn war mehr noch gerichtet gegen ihre Retter, die Slawen, als gegen ihre Besiegten, die Magyaren. Im Kampfe mit ihren eignen Rettern trieb die östreichische Reaktion daher, wie Szemere in seinem Pamphlet „Hungary, 1848-1860", London 1860, gezeigt hat, die Slawen zurück unter das Banner des Magyarentums. östreichische Herrschaft über Ungarn und Herrschaft der Magyaren in Ungarn
* Es war, sagt der polnische Oberst Lapinsld, der bis zur Ubergabe Komorns in der imgarischen Revolutionsarmee, später in Zirkassien gegen die Russen focht, „es war das Unglück der Ungarn, daß sie die Russen nicht kannten". (Theophil Lapinsld, „Feldzug der Ungarischen Hauptarmee im Jahre 1849", Hamburg 1850, p. 216.) „Das Wiener Kabinett war vollkommen in der Hand der Russen ... nach ihrem Rat wurden die Häupter gemordet ... während die Russen in jeder Weise sich Sympathien erwarben, wurde Ostreich von ihnen kommandiert, sich noch mehr verhaßt zu machen, als es je gewesen." (1. c. p. 188, 189.)
fielen daher zusammen vor und nach 1848. Ganz anders mit Rußland, ob es direkt oder indirekt in Ungarn herrsche. Die stammverwandten und die religionsverwandten Elemente zusammengerechnet, verfügt Rußland sofort über die nicht magyarische Majorität der Bevölkerung. Die magyarische Race erliegt sofort den stammverwandten Slawen und religionsverwandten Walachen. Russische Herrschaft in Ungarn ist daher gleichbedeutend mit. Untergang der imgarischen Nationalität, d. h. des an die Herrschaft der Magyaren historisch gebundenen Ungarns.* Vogt, der die Polen durch „freie Selbstbestimmung" in Rußland aufgehn, läßt die Ungarn durch russische Herrschaft im Slawentum untergehn.**
* General Moritz Perczel, rühmlich bekannt aus dem ungarischen Revolutionskrieg, zog sich noch während der italienischen Kampagne von den zu Turin um Kossuth versammelten ungarischen Offizieren zurück und setzte in einer öffentlichen Erklärung die Gründe seines Rücktritts auseinander - auf der einen Seite Kossuth, nur als bonapartistische Vogelscheuche dienend, auf der andern Seite die Perspektive von Ungarns russischer Zukunft. In einem Antwortschreiben (d. d. St. Helier, 19. April 1860) auf einen Brief, worin ich um nähere Aufschlüsse über seine Erklärung bat, sagt er u.a.: „Nie werde ich als Werkzeug behülflich sein, Ungarn aus den Krallen des doppelten Adlers nur darum zu erretten, um es der tödlichen Zärtlichkeit des Nordbärs zu überliefern." ** Herr Kossuth hat sich niemals über die Richtigkeit der im Text entwickelten Ansicht getäuscht. Er wußte, daß Ostreich Ungarn mißhandeln, aber nicht vernichten kann. „Der Kaiser Joseph II.", schreibt er an den Großwesir Reschid-Pascha unter dem Datum Kutayah, 15. Februar 1851, „der einzige Mann von Genie, den die Familie der Habsburger erzeugt hat, erschöpfte alle außerordentlichen Hülfsquellen seines seltnen Geistes wie der damals noch volkstümlichen Vorstellungen über die Macht seines Hauses, in dem Versuch, Ungarn zu germanisieren und es in den Gesamtstaat übergehn zu machen, aber Ungarn ging mit erneuter Lebenskraft aus dem Kampfe hervor... In der letzten Revolution hat Ostreich sich nur aus dem Staube erhoben, um vor dem Zaren auf die Füße zu fallen, dem Zaren, seinem Meister, der seine Hülfe niemals gibt, sondern stets verkauft. Und teuer hatöstreich diese Hülfe zahlen müssen." („Correspondence of Kossuth", p. 33.) Dagegen sagt er in demselben Brief, nur Ungarn und die Türkei vereint könnten die panslawistischen Umtriebe Rußlands brechen. Er schreibt an David Urquhart d. d. Kutayah, 17. Januar 1851: „We must crush Russia, my dear Sir! and, headed by you, we will! I have not only the resolution of will, but also that of hope! and this no vain word, my dear Sir, no sanguine fascination; it is the word of a man, who is wont duly to calculate every chance: of a man though very weak in faculties, not to be shaken in perseverance and resolution, etc." (1. c. p. 39.) („Wir müssen Rußland zermalmen, mein lieber Freund; und von Ihnen geleitet, werden wir es zermalmen. Ich habe nicht allein den Entschluß des Willens, sondern auch der Hoff
Aber Vogt hat immer noch nicht genug für Rußland getan. Unter den „außerdeutschen Provinzen" Ostreichs, für die der deutsche Bund nicht „zum Schwert greifen" sollte gegen Frankreich und Rußland, das „gänzlich auf Seite Frankreichs steht", befanden sich nicht nur Galizien, Ungarn, Italien, sondern namentlich auch Böhmen und Mähren.
„Rußland", sagt Vogt, „bietet den festen Punkt dar, um welchen sich die slawischen Nationalitäten mehr und mehr zu gruppieren streben." (I. e. p. 9/10.)
Böhmen und Mähren gehören zu den „slawischen Nationalitäten". Wie Moskowien sich zu Rußland, so muß Rußland sich zu Panslawonien entfalten. „Mit den Tschechen... an der Seite werden wir jedem Feinde unterliegen.." (p. 134, I.e.,) Wir, d.h. Deutschland muß sich der Tschechen, d.h. Böhmens und Mährens, zu entledigen suchen. „Keine Garantie für außerdeutsche Besitzungen der Herrscher." (p. 133, I.e.) „Keine außerdeutschen Provinzen mehr im Bunde" (I.e.), sondern nur deutsche Provinzen in Frankreich! Man muß daher nicht nur „das jetzige französische Kaisertum gewähren lassen, [...] solange es das deutsche Bundesgebiet nicht verletzt" (p.9, Vorrede), sondern muß auch Rußland „gewähren lassen", solange es nur „außerdeutsche Provinzen im Bunde" verletzt. Rußland wird Deutschland zur Entwicklung seiner „Einheit" und „Nationalität" verhelfen, indem es Truppen vorschiebt an die seinen „Umtrieben" ausgesetzten „slawischen Anhängsel" Ostreichs. Während Ostreich in Italien von Louis Bonaparte beschäftigt wird und Preußen das deutsche Bundesschwert in die Scheide zwingt, wird der „wohlwollende Zar" Revolutionen in Böhmen und Mähren „heimlicherweise mit Geld, Waffen und Munition zu unterstützen wissen". (p-13, I.e.) Und „mit den Tschechen an der Seite müssen wir jedem Feinde unterliegen"! Wie großmütig denn von dem „wohlwollenden Zar", uns von Böhmen und Mähren und ihren Tschechen zu befreien, die sich naturgemäß als „slawische Nationalitäten um Rußland gruppieren müssen". Sehn wir, wie unser Reichs-Vogt durch seine Einverleibung Böhmens und Mährens in Rußland die deutsche Ostgrenze schützt. Böhmen russisch! Aber Böhmen liegt mitten in Deutschland, durch Schlesien von
nung, und dies ist keine leere Phrase, mein lieber Freund, kein sanguinisches Hirngespinst; es ist das Wort eines Mannes, gewohnt, jede Möglichkeit sorgsam zu berechnen; eines Mannes, der, obgleich von sehr schwachen Fähigkeiten, unerschütterlich in Ausdauer und Entschließung ist, etc.")
Russisch-Polen, durch das von Vogt russifizierte Mähren von dem durch Vogt russifizierten Galizien und Ungarn getrennt. So erhält Rußland ein Stück deutsches Bundesgebiet von 50 deutschen Meilen Länge und 25 bis 35 Meilen Breite. Es schiebt seine Westgrenze um volle 65 deutsche Meilen nach Westen vor. Da nun von Eger bis Lauterburg im Elsaß, in grader Linie, nur 45 deutsche Meilen sind, so wäre Norddeutschland durch den französischen Keil einerseits und noch weit mehr den russischen andrerseits von Süddeutschland vollständig getrennt, und die Teilung Deutschlands wäre fertig. Der direkte Weg von Wien nach Berlin ginge durch Rußland, ja selbst der direkte Weg von München nach Berlin. Dresden, Nürnberg, Regensburg, Linz wären unsere Grenzstädte gegen Rußland; unsre Stellung gegenüber den Slawen wäre im Süden wenigstens dieselbe wie vor Karl dem Großen (während Vogt im Westen uns nicht erlaubt, bis zu Louis XV. zurückzugehn), und wir könnten tausend Jahre aus unsrer Geschichte ausstreichen. Wozu Polen gedient hat, dazu kann Böhmen noch besser dienen. Prag in ein verschanztes Lager verwandelt und Nebenfestungen am Einfluß der Moldau und Eger in die Elbe - und die russische Armee in Böhmen kann die schon von vornherein geteilt ankommende deutsche Armee aus Bayern, aus Ostreich, aus Brandenburg ruhig abwarten, die stärkern an den Festungen anlaufen lassen und die schwächern im Detail schlagen. Man sehe sich die Sprachkarte von Zentraleuropa an - nehmen wir z.B. eine slawische Autorität, den „slovansky zemevid" von Safarik'4381. Hier zieht sich die Grenze slawischer Sprache von der pommerschen Küste bei Stolp über Zastrow südlich Chodziehen an der Netze und geht dann westlich bis Meseritz. Von hier aus aber biegt sie sich plötzlich nach Südosten. Hier dringt der massive deutsche Keil von Schlesien tief ein zwischen Polen und Böhmen. In Mähren und Böhmen springt dann wieder slawische Sprache weit nach Westen vor - freilich angefressen an allen Seiten von vordringendem deutschem Element und durchsetzt von deutschen Städten und Sprachinseln, wie denn auch im Norden die ganze Unterweichsel und der beste Teil Ost- und Westpreußens deutsch sind und sich unbequem gegen Polen vorschieben. Zwischen dem westlichsten Punkt polnischer und dem nördlichsten böhmischer Sprache liegt die lausitzisch-wendische Sprachinsel mitten im deutschen Sprachgebiet, aber so, daß sie Schlesien feist abschneidet. Für den russischen Panslawisten Vogt, der Böhmen zu seiner Verfügung hat, kann da keine Frage sein, wo die natürliche Grenze des slawischen Reichs ist. Sie geht von Meseritz direkt auf Lieberose und Lübben, von da
südlich von dem Durchbruch der Elbe durch die böhmischen Grenzberge und folgt weiter der West- und Südgrenze Böhmens und Mährens. Was weiter östlich ist, ist slawisch; die paar deutschen Enklaven und sonstige Eindringlinge auf slawisches Gebiet können der Entwicklung des großen slawischen Ganzen nicht länger im Wege stehn; ohnehin haben sie kein Recht da, wo sie sind. Dieser „panslawistische Zustand" einmal hergestellt, so findet sich von selbst, daß im Süden eine ähnliche Rektifikation der Grenzen nötig ist. Hier hat sich ebenfalls ein deutscher Keil unberufen zwischen Nord- und Südslawen eingedrängt, das Donautal und die steirischen Alpen besetzt. Vogt kann diesen Keil nicht dulden, und so annexiert er konsequenterweise Ostreich, Salzburg, Steiermark und die deutschen Teile von Kärnten an Rußland. Daß bei dieser Herstellung des slawischrussischen Reichs nach den erprobtesten Grundsätzen des „Nationalitätsprinzips" auch die paar Magyaren und Rumänen nebst verschiedenen Türken an Rußland fallen (der „wohlwollende Zar" arbeitet durch die Unterjochung Zirkassiens und die Ausrottung der Krimtartaren ja auch am „Nationalitätsprinzip"!) zur Strafe dafür, daß sie sich zwischen die Nordund die Südslawen drängen, hat Vogt bereits Ostreich zum Trotz entwickelt. Wir Deutsche verlieren bei dieser Operation - weiter nichts als Ostund Westpreußen, Schlesien, Teile von Brandenburg und Sachsen, ganz Böhmen, Mähren und das übrige Ostreich außer Tirol (wovon ein Teil dem italienischen „Nationalitätsprinzip" zufällt) - und unsere nationale Existenz in den Kauf! Bleiben wir aber nur heim nächsten, wonach Galizien, Böhmen und Mähren russisch! Unter solchen Umständen könnten Deutsch-Ostreich, Südwestdeutschland und Norddeutschland niemals zusammen handeln, es sei denn - und dahin würde es notwendig kommen - unter russischer Führung. Vogt läßt uns Deutsche singen, was seine Pariser 1815 sangen:
„Vive Alexandre, Vive le roi des rois, Sans rien pritendre, II nous donne des lois."1
1 „Alexander, hoch in Ehren! Er, der andre Fürsten lenkt, Läßt uns anstandslos gewähren, Gnädig uns Gesetze schenkt."
Das Vogtsche „Nationalitätsprinzipdas er 1859 durch den Bund zwischen dem „weißen Engel des Nordens " und „dem weißen Engel des Südens " verwirklichen wollte, sollte sich also in seiner eignen Anschauung zunächst bewähren durch Aufgehn der polnischen Nationalität, Untergehn der magyarischen Nationalität, Vergehn der deutschen Nationalität im -Russentum. Ich habe seihe Denftischen Originalpamphlets diesmal nicht erwähnt, weil ich mir ein einziges schlagendes Zitat vorbehielt, zum Beweis, daß in allem, was er hier halb andeutet, halb herausplaudert, einer von den Tuilerien erteilten Parole gehorcht wird. In der Nummer des „Pensiero ed Azione"1-*39* vom 2. bis 16. Mai 1859, worin Mazzini später eingetroffene Ereignisse wahrsagt, bemerkt er unter anderm, daß in der zwischen Alexander II. und Louis Bonaparte verabredeten Allianz die erste Bedingung lautete: „abbandono assohito della Polonia" (absolutes Aufgeben Polens von Seiten Frankreichs, was Vogt übersetzt in „gänzliche Ausfüllung der zwischen Polen und Rußland gähnenden Kluft").
„Che la guerra si prolunghi e assuma ... proporzioni europee, l'insurrezione delle provincie oggi turche preparata di lunga mano e quelle dell' Ungheria, daranno campo all' Allianza di rivelarsi ... Principi russi governerebbo le provincie che surgerebbo Salle rotline dell' Impero Turco e dell' Aastria ... Constantino di Rassia e giä proposto ai malcontenti ungheresi." (Siehe „Pensiero ed Azione" vom 2. bis 16. Mai 1859.) („Sollte der Krieg sich aber verlängern und europäische Proportionen annehmen, so wird die seit lange vorbereitete Insurrektion der heute türkischen Provinzen und Ungarns der Allianz Gelegenheit geben, sich zu enthüllen... Russische Prinzen werden die Staaten regieren, die sich über den Ruinen der Türkei und Ostreichs erheben werden... Konstantin von Rußland ist bereits den ungarischen Mißvergnügten vorgeschlagen.")
Vogts Russentum ist indessen nur sekundär. Er folgt darin nur einer von den Tuilerien ausgeteilten Parole, sucht Deutschland nur vorzubereiten auf Manöver, die für gewisse Eventualitäten des Kriegs gegen Ostreich zwischen Louis Bonaparte und Alexander II. vereinbart waren, und hallt in der Tat nur sklavisch die panslawistische Phrase seiner Pariser Originalpamphlets wider. Sein eigentliches Geschäft ist, das Ludwigslied14401 zu singen: „Einan küning weiz ih, heizit her Hlüdowig ther gerno Gode (i. e. den Nationalitäten) dionot."1
1 „Einen König weiß ich, heißet Herr Ludewig, der gerne Gott (d. h. den Nationalitäten) dienet."
Wir hörten vorhin, wie Vogt Sardinien durch die Angabe hochpreist, daß „es sogar die Achtung Rußlands erworben hat". Jetzt die Parallele. „Von Ostreich", sagt er, „ist in den Erklärungen" (Preußens) „nicht die Rede... im Falle eines bevorstehenden Kriegs zwischen Nordamerika und Cochinchina würde die Sprache nicht anders lauten. Der deutsche Beruf Preußens aber, die deutschen Verpflichtungen, das alte Preußen, das wird mit Vorliebe betont. Frankreich" (nach seiner p. 27 gegebenen Erklärung von Frankreich: „Frankreich resümiert sich [...] jetzt einzig in der Person seines Herrschers") „erteilt infolgedessen Lobsprüche durch den ,Moniteur' und die übrige Presse. - Ostreich wütet." („Studien", p. 18.) „Daß Preußen seinen ,deutschen Beruf' richtig auffaßt, folgt aus den ihm durch Louis Bonaparte im ,Moniteur und der übrigen Dezemberpresse erteilten Lobspriichen." Welch kühle Impertinenz! Man erinnert sich, wie Vogt aus Zärtlichkeit gegen den „weißen Engel des Nordens" Ostreich allein die Verträge von 1815 brechen und allein Krakau konfiszieren ließ. Gleichen Liebesdienst erweist er nun dem „weißen Engel des Südens". „Dieser Kirchenstaat, an dessen Republik" (Republik des Kirchenstaats!) „Cavaigrtac, der Vertreter der doktrinären republikanischen Partei [...] und das militärische Gegenbild Gagerns" (auch eine Parallele!), „den schändlichen Völkermord beging" (einen Völkermord an der Republik eines Staats begehn!), „der ihm doch nicht zum Präsidentenstuhl verhalf." 0- c. p. 69.) Also Cavaignac war es und nicht Louis Bonaparte, der „den schändlichen Völkermord" an der Römischen Republik beging! Cavaignac sandte in der Tat im Nov. 1848 eine Kriegsflotte nach Civita Vecchia zum persönlichen Schutz des Papstes. Aber erst im folgenden Jahre, erst nachdem Cavaignac monatelang vom Präsidentenstuhl entfernt war, erst am 9. Februar 1849 ward die weltliche Hgrschaft des Papstes abgeschafft und die Reptiblik in Rom proklamiert, und so konnte Cavaignac eine zur Zeit seiner Herrschaft noch gar nicht existierende Republik nicht morden. Louis Bonaparte sandte am 22. April 1849 den General Oudinot mit 14 000 Mann nach Civita Vecchia, nachdem er die zur Expedition gegen Rom erheischten Geldmittel von der Nationalversammlung durch die feierlich wiederholte Erklärung erschlichen, er bezwecke nur Widerstand gegen einen von Ostreich bezweckten Einfall in die römischen Staaten. Die Pariser Katastrophe vom 13. Juni 1849 entsprang bekanntlich aus dem Beschluß Ledru-Rollins und der Montagne[4411 - den „schändlichen Völkermord an der Römischen Republik", der zugleich „ein schändlicher Bruch der französischen Konstitution" und eine „schändliche Verletzung des Beschlusses der Nationalversammlung" sei, an dem Urheber aller dieser Schändlichkeiten, an Louis Bonaparte, durch seine Versetzung in Anklagezustand zu rächen. Man sieht,
wie „schändlich" der schnöde Sykophant des Staatsstreichs, wie frech Karl Vogt die Geschichte verfälscht, um den Beruf des Herrn „Hlüdowig" zur Befreiung der Nationalitäten im allgemeinen und Italiens im besondren über allen Zweifel zu erheben. Vogt erinnert sich aus der „Neuen Rheinischen Zeitung", daß die Klasse der Parzellenbauern in Frankreich neben der Klasse des Lumpenproletariats die einzig gesellschaftliche Basis des bas empire[395] bildet. Er macht dies nun zurecht wie folgt:
„Das jetzige Kaisertum hat keine Partei unter den Gebildeten, keine Partei [...] in der französischen Bourgeoisie - ihm gehören nur zwei Massen, die Armee und das Landproletariat, das nicht lesen und schreiben kann. Aber das macht 9/10 der Bevölkerung aus und begreift in sich das gewaltig organisierte Instrument, mit welchem der Widerstand zerschmettert werden kann, und die Herde der Heloten der Hypothek, die nichts besitzen als eine Stimme in die Urne." (p. 25.) "
Die nicht städtische Bevölkerung Frankreichs, die Armee eingerechnet, beträgt kaum 2/3 der Gesamtbevölkerung. Vogt verwandelt weniger als 2/3 in 9/10. Die ganze französische außerstädtische Bevölkerung, von der 1/5 etwa aus wohlhabenden Landeigentümern besteht, ein andres 1/5 wieder aus Land- und Besitzlosen, verwandelt er samt und sonders in Parzellenbauern, „Heloten der Hypothek". Endlich schafft er alles Lesen und Schreiben in Frankreich außerhalb der Städte ab. Wie früher die Geschichte, so verfälscht er hier die Statistik, um das Piedestal seines Helden auszuweiten. Auf dies Piedestal wird nun der Held selbst hingestellt.
„Frankreich resümiert sich also in der Tat jetzt einzig und allein in der Person seines Herrschers, von welchem Masson" (auch eine Autorität) „sagte, ,er besitze große Eigenschaften als Staatsmann und Souverän, einen unerschütterlichen Willen, einen sichern Takt, kräftigen Entschluß, starkes Herz, hohen, kühnen Geist und vollkommene Rücksichtslosigkeit'." (p. 27,1. c.)
„wie saelecliche stat im an allez daz, daz er begät! wie gär sin Iip ze wünsche stat! wie gent im so geliche inein die finen keiserlichen bein." (Tristan)x
1 „Wie fügt der Schaft sich seiner Hand! Wie kleidet ihn sein stolz Gewand! Wie hold ist er von Haupt und Haaren! Wie süß ist aller sein Gebaren! Wie selig ist sein ganzer Leibi"
Vogt entreißt seinem Masson den Weihrauchkessel, um ihn selbst zu schwenken. Zu Massons Tugendkatalog fügt er hinzu: „kalte Berechnung", „gewaltige Kombination", „Schlangenklugheit", „zähe Geduld" (p. 28) und stammelt dann als Tacitus der Antichambre: „Der Ursprung dieser Herrschaft ist ein Grauen"; was jedenfalls - ein Unsinn ist. Er muß die groteske Figur seines Helden vor allem zum großen Mann melodramatisieren, und so wird aus „Napoleon le Petit"14421 dieser „Schicksalsmensch". (p.36, I.e.)
„Mögen die jetzigen Zustände dazu führen", ruft Vogt aus, „dieses" (des Schicksalsmenschen) „Regierung zu ändern" (welch bescheidner Ausdruck, zu ändern!), „an unserm warmen Glückwünsche dazu soll es gewiß nicht fehlen, wenn wir auch vorderhand keine Aussicht dazu erfassen mögen!" (p. 29,1. c.)
Wie ernst es diesem warmen Bruder mit seinem in petto gehaltenen Glückwunsch gemeint war, ersieht man aus folgendem:
„Die Zustände im Innern werden aber bei fortdauerndem Frieden deshalb von Tag zu Tag unhaltbarer, weil die französische Armee mit den Parteien der Gebildeten in weit innigerem Zusammenhange steht als z. B. in den deutschen Staaten, in Preußen und Ostreich;-weil diese Parteien unter den Offizieren namendich ihr Echo finden und so eines schönen Tags die einzig aktive Stütze der Macht, die der Kaiser in Händen hat, ihm entschlüpfen könnte." 0. c. p. 26/27.)
Also die Zustände im Innern" wurden „täglich unhaltbarer" bei „(ortdauerndem Frieden". Darum mußte Vogt dem Louis Bonaparte den Friedensbruch zu erleichtern suchen. Die Armee, die „einzig aktive Stütze" seiner „Macht", drohte ihm zu „entschlüpfen". Darum bewies Vogt Europas Aufgabe, durch einen in Italien „lokalisierten" Krieg die französische „Armee" wieder an Louis Bonaparte festzubinden. Die Rolle Badinguets, wie der Pariser den „Neffen seines Onkels" unehrerbietig nennt, schien in der Tat Ende 1858 ein Ende mit Schrecken nehmen zu wollen. Die allgemeine Handelskrise, 1857/58, hatte die französische] Industrie gelähmt.* Die Regierungsmanöver, um den akuten Ausbruch der Krise zu verhindern, machten das Übel chronisch, so daß sich die Stockung des französischen Handels bis zum Ausbruch des italienischen Kriegs fortschleppte. Andrerseits fielen die Getreidepreise von 1857 bis 1859 so tief, daß auf verschiede
* Es ist in der Tat die industrielle Prosperität, die Louis Bonapartes Regime so lange hielt. Der französische] Ausfuhrhandel hatte sich infolge der australisch-kalifornischen Entdeckungen und ihrer Wirkungen auf den Weltmarkt mehr als verdoppelt, "einen bisher unerhörten Aufschwung genommen. Die Februarrevolution ist überhaupt in letzter Instanz an Kalifornien und Australien gescheitert.
nen congres agricoles1 laut die Klage erscholl, der französische] Ackerbau werde mit den niedrigen Preisen und den hohen auf ihm ruhenden Lasten unmöglich. Louis Bonapartes lächerlicher Versuch, die Getreidepreise künstlich zu heben durch eine Ukase, die den Bäckern in ganz Frankreich die Anlage von Getreidespeichern aufherrschen sollte, verriet nur die hilflose Verlegenheit seiner Regierung. Die auswärtige Politik des Staatsstreichs zeigte nur ein Reihe verunglückter Versuche, den Napoleon zu spielen - lauter Anläufe, stets gekrönt von offiziellem Rückzug. So seine Intrige gegen die Vereinigten] Staaten von Amerika, die Manöver zur Erneuerung des Sklavenhandels1443', die melodramatischen Drohungen gegen England. Die Frechheiten, die Louis Bonaparte sich damals gegen die Schweiz, Sardinien, Portugal und Belgien erlaubte - obgleich er in Belgien die Befestigung Antwerpens nicht einmal hintertreiben konnte -, stellten sein Fiasko den Großstaaten gegenüber nur in grelleres Relief. Im englischen Parlament war „Napoleon le Petit" stehendes Stichwort geworden, und die „Times", in den Schlußartikeln des Jahres 1858, persiflierte den „Mann von Eisen" als „einen Mann von Guttapercha". Unterdes hatten die Handgranaten Orsinis über die innere Lage Frankreichs gewetterleuchtet. Es zeigte sich, daß Louis Bonapartes Regime noch immer so haltlos war wie in den ersten Tagen des Staatsstreichs. Die Lois de surete publique14441 verrieten seine gänzliche Isolierung. Er hatte abzudanken vor seinen eignen Generalen. Frankreich, ein unerhörtes Ereignis, wurde nach spanischer Sitte in 5 Generalcapitanate verteilt. Durch die Errichtung der Regentschaft wurde Pelissier in der Tat als höchste Behörde Frankreichs anerkannt.'4451 Zudem flößte die erneuerte terreur2 keinen Schrecken ein. Statt fürchterlich, erschien der holländische Neffe der Schlacht von Austerlitz nur grotesk.14461 Montalembert konnte zu Paris den Hampden spielen, Berryer und Dufaure in ihren Plädoyers die Hoffnungen der Bourgeoisie verraten und Proudhon zu Brüssel Louis-Philippismus mit einem acte ädditionel14471 proklamieren, während Louis Bonaparte selbst an ganz Europa die um sich greifende Macht der Marianne verriet. Der Aufstand zu Chalon14481, währenddessen die Offiziere auf die Nachricht von der Proklamation der Republik zu Paris, statt auf die Insurgenten einzuhauen, erst vorsichtig bei der Präfektur anfragen, ob die Republik denn wirklich zu Paris proklamiert sei, bewies schlagend, daß selbst die Armee das restaurierte empire als eine Pantomime betrachtete, deren Schlußszene herannahe. Skandalöse Duelle der
1 landwirtschaftlichen Kongressen - 2 Schreckenszeit
übermütigen Offiziere zu Paris, gleichzeitig mit skandalösen Börsencoups, worin die höchsten Spitzen der Bande vom 10. Dezember kompromittiert waren! Der Sturz des Palmerston-Ministeriums in England wegen seiner Allianz mit Louis Bonaparte![449] Endlich ein Staatsschatz, der nur auf außerordentliche Vorwände hin wieder gefüllt werden konnte! Solches war die Lage des bas empire Ende 1858. Das Brummagem-Kaisertum fiel, oder die lächerliche Farce eines napoleonischen Kaiserreichs innerhalb der Grenzen der Verträge von 1815 mußte ein Ende nehmen. Dazu bedurfte es jedoch eines lokalisierten Kriegs. Die bloße Aussicht auf einen Krieg mit Europa hätte damals hingereicht, die Explosion in Frankreich herbeizuführen. Jedes Kind begriff, wasHorsman im englischen Parlament sagte:
„Wir wissen, daß Frankreich den Kaiser unterstützen wird, solange unser Schwanken seiner auswärtigen Politik erlaubt erfolgreich zu sein, aber wir haben Grund zu glauben, daß es ihn verlassen wird, sobald wir ihm entschiedne Opposition machen."
Alles hing davon ab, den Krieg zu lokalisieren, d. h. ihn mit der hohen obrigkeitlichen Erlaubnis Europas zu führen. Frankreich selbst mußte erst durch eine Reihe heuchlerischer Friedensverhandlungen und ihr wiederholtes Scheitern nach und nach für den Krieg vorbereitet werden. Louis Bonaparte hatte sich sogar hier festgerannt. Lord Cowley, der englische Gesandte zu Paris, war mit Vorschlägen, die Louis Bonaparte entworfen und das Londoner Kabinett (Derby) gebilligt hatte, nach Wien gereist. Dort (siehe das oben zitierte Blue Book), unter dem Druck Englands, wurden die Vorschläge unerwartet angenommen. Cowley war eben mit der Nachricht der „friedlichen Lösung" nach London zurückgekehrt, als plötzlich daselbst die Kunde eintraf, daß L. Bonaparte seine eignen Vorschläge aufgegeben und einem von Rußland vorgeschlagenen Kongreß zur Maßregelung Ostreichs beigetreten sei. Nur durch die Intervention Rußlands wurde der Krieg möglich. Hätte Rußland den Louis Bonaparte nicht weiter bedurft zur Ausführung seiner Pläne - entweder um sie mit Frankreich durchzusetzen, oder um Ostreich und Preußen durch französische Schläge in seine willenlosen Instrumente zu verwandeln so wäre Louis Bonaparte damals gestürzt. Aber trotz Rußlands geheimer Unterstützung, trotz der Versprechen Palmerstons, der zu Compiegne die Verschwörung von Plombi£res[450] gutgeheißen, hing dennoch alles vom Verhalten Deutschlands ab, da einerseits das Tory-Kabinett in England noch am Ruder saß, andrerseits die damalige stumme Rebellion Frankreichs gegen das bonapartistische Regime durch Aussicht auf einen europäischen Krieg zum Ausbruch getrieben worden wäre.
Daß Vogt weder aus reger Teilnahme für Italien noch aus Furcht vor dem ängstlichen, konservativen, ebenso unbeholfenen wie brutalen Despotismus Ostreichs sein „Ludwigslied" sang, plaudert er selbst aus. Er glaubte vielmehr, daß, wenn Ostreich, das wohlgemerkt zur Eröffnung des Kriegs gezwungen ward, selbst zunächst in Italien siegte, „die Revolution in Frankreich jedenfalls entfesselt, das Kaiserreich gestürzt und eine andere Zukunft herangeführt würden". 0- c- P- 131.) Er glaubte, daß „die östreichischen Armeen vor der entfesselten Volkskraft Frankreichs zuletzt nicht standhalten würden" 0- c.), daß „die siegreichen östreichischen Waffen sich selbst in der Revolution Frankreichs, Italiens, Ungarns den Gegner schaffen würden, der sie erdrücken müßte." Aber ihm galt es nicht, Italien von Ostreich zu befreien, sondern Frankreich unter Louis Bonaparte zu knechten. Verlangt man nun weitern Beweis, daß Vogt bloß eins der unzähligen Mundstücke war, durch die der groteske Bauchredner der Tuilerien sich selbst in fremden Zungen vernehmen ließ? Man wird sich erinnern, daß zur Zeit, wo L. Bonaparte zuerst seinen Beruf zur Befreiung der Nationalitäten im allgemeinen und Italiens im besondren entdeckte, Frankreich ein in seiner Geschichte unerhörtes Schauspiel bot. Ganz Europa staunte über die zähe Hartnäckigkeit, womit es die „id6es napoleoniennes"t451] zurückwies. Der Enthusiasmus, womit sogar die „chiens savants" des Corps legislatif1 Momys Friedensversicherungen zujauchzten; die verdrießlichen Noten, worin der „Moniteur" die Nation schulmeisterte bald über ihr Versenken in materielle Interessen, bald für ihren Mangel an patriotischer Spannkraft und ihre Zweifel in Badinguets Feldherrntalent und politische Weisheit; die beruhigenden offiziellen messages2 an alle Handelskammern von Frankreich; die kaiserliche Versicherung, daß „etudier une question n'est pas la creer"3 - sind noch in allgemeinem Gedächtnis. Damals strotzte die englische Presse, erstaunt über das außerordentliche Schauspiel, mit wohlmeinendem Kohl über die friedfertige Verwandlung, die in der Natur der Franzosen vorgegangen, die Börse behandelte „Krieg" oder „Nichtkrieg" als ein „Duell" zwischen Louis Bonaparte, der den Krieg wollte, und der Nation, die ihn nicht wollte, und Wetten wurden gemacht, wer siegen werde, die Nation oder der „Neffe seines Onkels". Ich will zur Schilderung der damaligen Situation nur einige Stellen zitieren aus dem London „Economist"[452], der als das Organ der City, als Vorredner des italienischen Kriegs und als das Eigentum Wilsons
1 „dressierten Hunde", der gesetzgebenden Körperschaft - 2 Botschaften - 3 „eine Frage studieren nicht sie aufwerfen heißt"
(der jüngst verstorbene Schatzkanzler von Indien un d Werkzeug Palmerstons) große Wichtigkeit besaß:
„Alarmiert über die kolossale Erregung, die verursacht worden ist, versucht die französische Regierung jetzt das Besänftigungssystem." ( „Economist", 15. Januar 1859.)
In seiner Nummer vom 22. Januar 1859, in einem Artikel, betitelt „Praktische Schranken der kaiserlichen Macht in Frankreich", sagt der „Economist":
„Ob des Kaisers Pläne für einen Krieg in Italien ausgeführt oder nicht ausgeführt werden, eine Tatsache wenigstens steht fest, daß seine Pläne einen sehr starken und wahrscheinlich unerwarteten Widerstand gefunden in der eisigen Haltung, womit die Volksstimmung in Frankreich sie aufnahm, in der gänzlichen Abwesenheit irgendeiner Sympathie für des Kaisers Plan... Er schlägt Krieg vor, und das französische Volk zeigt nichts als Alarm und Unzufriedenheit, die Staatspapiere sind entwertet, die Furcht vor dem Steuereinnehmer erlöscht jeden Funken von martialischem und politischem Enthusiasmus, der kommerzielle Teil der Nation ist panikgeschlagen, die ländlichen Distrikte sind stumm und mißvergnügt, in Furcht vor neuen Konskriptionen und neuen Abgaben; die politischen Zirkel, die das kaiserliche Regime als ein pis aller1 gegen Anarchie am stärksten unterstützt haben, erklären sich ganz aus denselben Gründen gegen den Krieg - es ist sicher, daß Louis Napoleon in allen Klassen eine Ausdehnung und Tiefe der Opposition gegen einen Krieg, selbst für Italien, entdeckt hat, die er nicht ahnte."*
Dieser französischen Volksstimmung gegenüber wurde der Teil der Dentuschen Originalpamphlets losgelassen, der „im Namen des Volks" dem „Kaiser" zuherrschte, „Frankreich endlich zu seiner majestätischen Ausbreitung von den Alpen bis zum Rhein" zu verhelfen und sich nicht länger der „Kriegslust" und dem „Nationalitäts-Befreiungsdrang der Nation" entgegenzustemmen. Vogt stößt in dasselbe Horn mit den Prostituierten des Dezember. In demselben Augenblick, als Europa erstaunte über die zähe Friedenssucht Frankreichs, entdeckte Vogt, daß „heute das leicht
* Lord Chelsea, der den Lord Cowley zu Paris während dessen Abwesenheit vertrat, schreibt: „The official disavowal" (im „Moniteur" vom 5. März 1859) „of all warlike intentions on the part of the Emperor, this Imperial message of peace, has been received by all classes of Paris with feelings of what may be called exultation." (Nr. 88 des Blue Book „On the affairs of Italy. January to May 1859.") („Die offizielle Ableugnung aller kriegerischen Absichten auf Seite des Kaisers, diese kaiserliche Friedensbotschaft ist von allen Klassen zu Paris mit überschwenglichem Enthusiasmus aufgenommen worden.")
1 einen Notbehelf
bewegliche Volk" (der Franzosen) „von kriegerischen Gelüsten erfüllt erscheint" (I.e. p.29, 30), und Herr Hlüdowig nur der „herrschenden Zeitströmung" folge, die grade auf die „Unabhängigkeit der Nationalitäten" gerichtet sei. (p.31, I.e.) Er glaubte natürlich keine Silbe von dem, was er schrieb. In seinem „Programm", das die Demokraten zur Mitarbeit an seiner bonapartistischen Propaganda aufrief, erzählt er sehr genau, daß der italienische Krieg unpopulär in Freinkreich sei.
„Für den Beginn glaube ich an keine Gefahr für den Rhein; sie kann aber in der Folge eintreten, ein Krieg dort oder gegen England würde Louis Napoleon fast populär machen, der Krieg in Italien hat diese populäre Seite nicht." (p. 34, „Hauptbuch", Dokumente.)*
Wenn nun der eine Teil der Dentuschen Originalpamphlets die französische Nation durch die traditionellen Eroberungsphantome aus ihrer „Friedenslethargie" aufzujagen und Louis Bonapartes Privatwünsche der Nation in den Mund zu legen suchte, hatte der andre Teil, mit dem „Moniteur" an der Spitze, die Aufgabe, vor allen Deutschland von des Kaisers Abscheu vor Ländererwerb und seinem idealen Beruf als Nationalitäten-befreiendem Messias zu überzeugen. Die Beweise, einerseits für die Uneigennützigkeit seiner Politik, andrerseits für seine Nationalitäts-Befreiungstendenz, sind leicht auswendig zu behalten, da sie beständig wiederholt werden und nur um zwei Achsenpunkte sich herumdrehn. Beweis für die Uneigennützigkeit der dezembristischen Politik - derKrimkrieg. Beweis für die Nationalitäts-Befreiungstendenz - Oberst Cuza und die rumänische Nationalität. Der „Moniteur" schlug hier direkt den Ton an. Siehe den „Moniteur" vom 15.März 1859 über denKrimkrieg. Der „Moniteur" vom 1 O.April 1859 sagt über die rumänische Nationalität:
„In Deutschland, wie in Italien, will es" (Frankreich), „daß die durch die Verträge anerkannten Nationalitäten sich erhalten und selbst verstärken. - In den Donaufürstentümern hat er" (der Kaiser) „sich bemüht, den legitimen Wünschen dieser Provinzen zum Triumph zu verhelfen, um auch in diesem Teil Europas der auf Nationalinteressen gestützten Ordnung Genüge zu tun."
* Notabene. In seinen „Studien" wiederholt er mit dem „Moniteur" und den Dentuschen Originalpamphlets, „daß es eine eigentümliche Laune des Schicksals i st, welche diesen Menschen" (Louis Bonaparte) „zwingt, sich als Befreier der Nationalitäten in erste Linie zu stellen" ([p.] 35), daß man „dieser Politik seine Beihülfe zusagen müsse, solange dieselbe in den Schranken der Befreiung der Nationalitäten sich hält", und abwarten müsse, „bis diese Befreiung durch diesen Schicksalsmenschen erfolgt sei", (p. 36.) In seinem Programm an die Herren Demokraten heißt es dagegen: „Wir können und sollen vor einem solchen Helfer warnen." ([p.] 34, „Hauptbuch", Dokumente.)
Siehe auch das anfangs 1859 bei Denta erschienene Pamphlet „Napoleon III et la question roumaineMit Bezug auf den Krimkrieg: „Endlich, welche Kompensation hat Frankreich verlangt für das Blut, das es vergossen, und die Millionen, die es verausgabt hat im Orient in einem ausschließlich europäischen Interesse?" (p. 13, „La vraie Question", Paris, bei Dentu 1859.) Dasselbe zu Paris in unendlichen Variationen abgespielte Thema verdeutschte Vogt so richtig, daß E.About, die geschwätzige Elster des Bonapartismus, Vogts deutsche Übersetzung ins Französische rückübersetzt zu haben scheint. Siehe „La Prusse en 1860". Auch hier wieder verfolgt uns der Krimkrieg und die rumänische Nationalität unter Oberst Cuza.
„Aber so viel wissen wir wenigstens", hallt Vogt dem „Moniteur" und Dentus Originalpamphlets nach, „daß Frankreich keinen Fußbreit Landes eroberte" (in der Krim) „und daß der Onkel nach dem siegreichen Feldzuge sich mit dem magern Resultate der konstituierten Überlegenheit in der Kriegskunst nicht begnügt hätte." („Studien", p. 33.) „Hier zeigt sich doch eine wesentliche Verschiedenheit von der alten napoleonischen Politik."* 0- c.)
* Übrigens hat „Napoleon le Petit" auch die Nationalitäts-Befreiungsphrase dem wirklichen Napoleon nachkopiert. Im Mai 1809 erließ Napoleon z. B. von Schönbrunn aus eine Proklamation an die Ungarn, worin es u. a. heißt: „Ungarn! Der Augenblick für den Wiedererwerb eurer Unabhängigkeit ist gekommen... Ich verlange nichts von euch. Ich wünsche nur, euch als eine freie und unabhängige Nation zu sehn. Eüre Verbindung mit Ostreich war euer Fluch usw." Am 16. Mai 1797 schloß Bonaparte einen Vertrag mit der Republik Venedig, dessen erster Artikel lautet: „Künftig sollen Frieden und gutes Einverständnis zwischen Frankreich und der venetianischen Republik herrschen." Seine Zwecke in diesem Friedensschluß enthüllt er dem französischen Direktorium drei Tage später in einer geheimen Depesche, die mit den Worten beginnt: „Sie erhalten hiermit den Vertrag, den ich mit der Republik Venedig geschlossen und kraft dessen General Baraguay d'Hilliers mit 5-6000 Mann die Stadt besetzt hat. Ich hatte mit diesem Friedensabschluß verschiedene Zwecke im Auge." Als letzten Zweck zählt er auf: „Alles, was in Europa gesagt werden mag, abzudämpfen, da es jetzt den Schein haben wird, als ob unsere Besetzung Venedigs nur eine vorübergehende Operation sei, welche die Venetianer selbst eifrig verlangt hätten." Wieder zwei Tage später, am 26. Mai, schrieb Bonaparte an die Munizipalität Venedigs: „Der zu Mailand abgeschlossene Vertrag mag unterdessen von der Munizipalität gezeichnet werden - die geheimen Artikel durch drei ihrer Mitglieder. Ich werde stets alles in meiner Gewalt tun, um euch Beweise meines Wunsches zu geben, eure Freiheiten zu befestigen und das unglückliche Italien endlich den Platz einnehmen zu sehn, wozu es auf dem Welttheater berufen ist, frei und unabhängig von allen Fremden." Einige Tage später schreibt er dem General Baraguay d'Hilliers: „Bei Empfang dieses melden Sie sich bei der provisorischen Regierung von Venedig und stellen Sie ihr. vor, daß, im Einklang mit
Als ob Vogt uns beweisen müsse, daß „Napoleon le Petit" nicht der wirkliche Napoleon ist! Vogt hätte mit demselben Recht 1851 prophezeien können, daß der Neffe, der dem ersten italienischen Feldzug1741 und der Expedition nach Ägypten1'61 nichts entgegenzustellen hatte als das Abenteuer von Straßburg, die Expedition nach Boulogne'2911 und die Wurstrevue von Satory14531, niemals den achtzehnten Brumaire'771 nachmachen und sich noch weniger jemals die Kaiserkrone aufsetzen werde. Da war denn doch „eine wesentliche Verschiedenheit von der alten napoleonischen Politik". Den Krieg gegen eine europäische Koalition und ihn mit Erlaubnis einer europäischen Koalition führen, war eine andre Verschiedenheit. Der „glorreiche Krimfeldzug", worin England, Frankreich, die Türkei und Sardinien vereint, nach zwei Jahren, die eine Hälfte einer russischen Festung „eroberten", in Ersatz dafür eine ganze türkische Festung (Kars) an Rußland verloren und beim Friedensschluß auf dem Pariser Kongreß14541 vom Feind bescheiden „die Erlaubnis" „erbitten" mußten, ihre Truppen ungestört nach Hause verschiffen zu dürfen - war in der Tat edles andre, nur nicht „napoleonisch". Glorreich überhaupt nur in Bazancourts Roman. Aber der Krimkrieg bewies allerlei. Louis Bonaparte verriet den angeblichen Alliierten (die Türkei), um die Allianz des angeblichen Feindes zu erwerben. Der erste Erfolg des Pariser Friedens war die Opferung der „zirkassischen Nationalität" und die russische Ausrottung der Krimtartaren, nicht minder die Vernichtung der nationalen Hoffnungen, die Polen und Schwe
den Prinzipien, die jetzt die Republiken Frankreichs und Venedigs vereinigen, und mit dem unmittelbaren Schutz, den die französische Republik der venetianischen angedeihen läßt, es unerläßlich ist, daß die Seemacht der Republik auf einen Respekt einflößenden Fuß gestellt werde. Unter diesem Vortoand werden Sie von allem Besitz ergreifen, gleichzeitig darauf bedacht, in gutem Einverständnis mit den Venetianern zu leben, und für unsem Dienst - und zwar, indem Sie beständig im Namen Venedigs sprechen - alle Matrosen der Republik zu werben. Kurz, Sie müssen es so anstellen, daß Sie alle Marinevorräte und Schilfe im Hafen von Venedig nach Toulon transportieren. Kraft eines geheimen Artikels des Vertrags sind die Venetianer verpflichtet, der französischen Republik Marinevorräte zum Wert von 3 Millionen für die Marine von Toulon zu liefern, aber es ist meine Absicht, für die französische Republik Besitz von allen venetianischen Schiffen und allen ihren Marinevorräten zum Nutzen Toulons zu ergreifen." (Siehe „ Correspondance secriteet confidentielle de Napoleon 7 voI[umel s, Paris 1817.) Diese Befehle wurden wörtlich ausgeführt; und sobald Venedig von allen Marineund Kriegsmitteln ausgeplündert war, übergab Napoleon, ohne das geringste Zögern, seinen neuen Alliierten, die befreite Republik Venedig, die er feierlich geschworen hatte auf jede Gefahr hin zu verteidigen, dem despotischen Joche Ostreichs.
den an einen Kreuzzug Westeuropas gegen Rußland geknüpft hatten. Eine andre Moral des Krimkriegs war: Louis Bonaparte durfte feinen zweiten Krimkxieg führen, eine alte Armee verlieren und eine neue Staatsschuld erwerben im Austausch für. das Bewußtsein, daß Frankreich reich genug sei, „de payer sa propre gloire"1, daß der Name Louis~Napoleon in einem europäischen Vertrage figuriere, daß „die konservative und dynastische Presse Europas", wie Vogt ihm so hoch anrechnet (p.32, I.e.), „die Regententugenden, die Weisheit und die Mäßigung des Kaisers" einstimmig anerkenne und daß ihm damals ganz Europa alle Honneurs eines wirklichen Napoleon antat unter der ausdrücklichen Bedingung, daß Louis Bonaparte nach dem Beispiel Louis-Philippes sich hübsch innerhalb „der Grenzen der praktischen Vernunft", d.h. der Verträge von 1815, bewege und keinen Augenblick die zarte Scheidelinie vergesse, die den Pickelhäring[4551 vom Helden trennt, den er vorstellt. Die politischen Kombinationen, die Machthaber und die Gesellschaftszustände, die es überhaupt dem Chef der Dezemberbande ermöglichen konnten, den Napoleon zu spielen, erst in Frankreich, dann außerhalb des französischen Terrains, gehören in der Tat seiner Epoche, nicht den Annalen der großen französischen Revolution.
„Die Tatsache ist doch wenigstens da, daß die jetzige französische Politik in dem Osten dem Streben einer Nationalität" (der rumänischen) „nach Einigung gerecht geworden ist." („Studien", p. 34, 35.)
Cuza, wie bereits erwähnt, hält die Stelle offen, entweder für einen russischen Gouverneur oder für einen russischen Vasallen. In der Karte „UEurope en 1860" figuriert ein Großherzog von Mecklenburg als der Vasall. Rußland erlaubte Louis Bonaparte natürlich alle Honneurs dieser rumänischen Emanzipation, während es selbst alle ihre Vorteile einkassierte. Seinen weitern wohlwollenden Absichten stand Ostreich im Wege. Der italienische Krieg hatte Ostreich daher aus einem Hindernis in ein Werkzeug umzumodeln. Der Bauchredner in den Tuilerien spielte bereits während des Jahres 1858 auf seinen zahllosen Mundstücken die „rumänische Nationalität". Eine Autorität Vogts, Herr Kossuth, konnte daher bereits am 20. November 1858 in einer Vorlesung zu Glasgow antworten:
„Walachei und Moldau erhalten eine Konstitution, ausgebrütet in der Höhle der geheimen Diplomatie ... Sie ist in der Wirklichkeit nichts mehr noch minder als eine Charte für Rußland, die ihm die freie Verfügung über die Donaufürstentümer über
1 „für seinen Ruhm selbst zu zahlen"
läßt." („ It is in reality no more nor less than a chartei granted to Russia for the purpose of disposing of the Principalities.")
Das „Nationalitätsprinzip" wurde also von Louis Bonaparte in den Donaufürstentümern ganz so mißbraucht, um ihre Übermachung an Rußland zu maskieren, wie die östreichische Regierung 1848/49 das „Nationalitätsprinzip" mißbrauchte, um die magyarische und deutsche Revolution durch Serben, Slawonen, Kroaten, Walachen usw. zu erwürgen. Das -rumänische Volk ~ und dafür sorgen gleichzeitig der russische Konsul zu Bukarest und das Interesse des moldau-walachischen Bojarengesindels, dessen Majorität nicht einmal rumänisch ist, sondern eine buntscheckige Mosaik aus der Fremde hergelaufner Abenteurer, eine Art orientalischer Dezemberbande -, das rumänische Volk schmachtet nach wie vor unter dem scheußlichsten Frondienst, wie ihn nur Russen durch ein rkglement organique organisieren und nur eine orientalische Demimonde festhalten konnten. Vogt, um die aus den Dentuschen Originalquellen geschöpfte Weisheit mit eigner Beredsamkeit aufzuputzen, sagt:
„Ostreich hatte schon hinlänglich genug an einemPiemont im Süden; es braucht kein zweites im Osten." 0- c- P- 64.) Piemont annexiert italische Länder. Also die Donaufürstentümer, das unkriegerischste Land der Türkei, rumänische? erobern also Bessarabien von Rußland, Siebenbürgen, das Banat von Temesvär und die Bukowina von Ostreich? Vogt vergißt nicht nur den „wohlwollenden Zar". Er vergißt, daß Ungarn 1848/49 durchaus nicht geneigt schien, diese mehr oder minder rumänischen Länder von sich absondern zu lassen, auf ihren „Schmerzensruf" mit gezücktem Schwerte antwortete, und daß es vielmehr Ostreich war, welches gegen Ungarn solche „Nationalitätsprinzip-Propaganda" losließ. Im vollsten Glänze strahlt jedoch wieder die historische Gelehrsamkeit seiner „Studien", wenn Vogt, in halber Reminiszenz aus einem flüchtig durchblätterten Tagespamphlet und mit großer Seelenruhe
„den jammervollen Zustand der Fürstentümer ... aus dem zersetzenden Gifte der Griechen und Fanarioten herleitet". (1- c. p. 63.) Er ahnte nicht, daß die Fanarioten (so genannt von einem Stadtteil Konstantinopels) eben dieselben identischen Griechen sind, die seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts unter russischem Schutz in den Donaufürstentümern gehaust haben. Es sind zum Teil die Nachkommen dieser Limondji
(Limonadenverkäufer) von Konstantinopel, die jetzt wieder in russischem Auftrag „rumänische Nationalität" spielen.
Während nun der weiße Engel des Nordens vom Osten vorgeht und die Nationalitäten zu Ehren der slawischen Race vernichtet, der weiße Engel des Südens aber als Bannerführer des Nationalitätsprinzips von der entgegengesetzten Seite vorgeht, und
„man abwarten muß, bis die Befreiung der Nationalitäten durch diesen Schicksalsmenschen erfolgt ist" („Studien", p. 36);
während dieser „im engsten Bündnis" kombinierten Operationen der beiden Engel und „beiden größten äußern Feinde der Einheit Deutschlands" („Studien", 2. Auflage, Nachwort, p. 154) - welche Rolle weist der ReichsVogt, der jedoch kein „Mehrer des Reichs" ist, Deutschland zu?
„Dem Kurzsichtigsten", sagt Vogt, „muß es nun klargeworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Ostreichs" (natürlich Böhmen und Mähren eingeschlossen) „zum Schwerte greifen wird; daß es zu allen Maßregeln, welche die Verteidigung des Bundesgebiets" (mit Ausschluß seiner „außerdeutschen" Provinzen) „betreffen, seine Zustimmung geben, sonst aber jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder für Ostreich verhindern wird, um dann, bei den späteren Friedensverhandlungen, seinen Lohn für diese Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten." („Studien", 1. Auflage, p. 18, 19.)
Indem Vogt das ihm von den Tuilerien anvertraute Geheimnis, Preußen handle im „geheimen Einverständnis" mit dem „äußern Feinde Deutschlands", der es zum „Lohn in norddeutschen Flachlanden" auszahlen werde, schon vor dem wirklichen Ausbruch des Kriegs gegen Ostreich an die große Glocke hing, leistete er Preußen natürlich den besten Vorschub zur Erreichung seiner angeblichen Zwecke. Er rief den Verdacht der übrigen deutschen Regierungen wach, sowohl gegen Preußens neutralisierende Bestrebungen im Beginn wie gegen seine militärischen Rüstungen und seinen Anspruch auf Oberbefehlshaberschaft im Fortgang des Kriegs.
„Welches auch der Weg sein mochte", sagt Vogt, „den in der gegenwärtigen Krisis Deutschland einzuschlagen hat, das ist keine Frage, daß es, als Ganzes betrachtet, einen bestimmten Weg mit Energie gehen mußte, während jetzt der unselige Bundestag usw." (l.c.p.96.)
Die Verbreitung der Ansiebt, daß Preußens Weg Arm in Arm mit „dem äußern Feinde" gehe und zur Verspeisung der nordischen Flachlande führe, sollte wohl die auf dem Bundestag mangelnde Einheit herstellen. Sachsen wird speziell aufmerksam gemacht, daß Preußen ihm schon einmal „den Verlust einiger seiner schönsten Provinzen" angetan. (I.e. p.93). Der „Kauf des Jadebusen" (I.e. p. 15) wird denunziert.
„Holstein sollte den Preis der MitwirkungPreußens" (im türkischen Krieg) „bilden, als der berüchtigte Depeschendiebstahl den Verhandlungen eine andere Wendung gab." 0. c. p. 15.) „Mecklenburg, Hannover, Oldenburg, Holstein und was noch so drum und dran hängt..., diese deutschen Bruderstaaten bilden den Köder, auf welchen Preußen" - und zwar „bei jeder Gelegenheit" - „begierig losschnappt" (1. c. p. 14, 15)
und an dem es, wie Vogt verrät, bei dieser Gelegenheit von Louis Bonaparte festgeangelt worden ist. Auf der einen Seite wird und muß Preußen im geheimen „Einverständnis" mit Louis Bonaparte und „auf Kosten seiner deutschen Brüder die Küsten der Nord- und Ostsee erreichen". (I.e. p. 14.) Auf der andern Seite erhält
„Preußen erst dann eine natürliche Grenze, wenn die Wasserscheide des Erz- und Fichtelgebirges durch den weißen Main und die Mainlinie bis nach Mainz fortgezogen wird". 0. c. p. 93.) Natürliche Grenzen mitten in Deutschland! Und nun gar gebildet durch eine Wasserscheide, die durch einen Fluß läuft! Es sind derartige Entdeckungen im Gebiet der physikalischen Erdbeschreibung, wozu auch der auftauchende Kanal (s. „Hptbuch") gehört, die „die abgerundete Natur" mit A. v. Humboldt auf gleiche Linie stellen. Während er dem Deutschen Bund derart Vertrauen in Preußens Führung predigt, erfand Vogt zugleich, unbefriedigt mit der „alten Rivalität Preußens gegen Ostreich auf deutschem usw. Gebiete", eine Rivalität zwischen beiden, die „auf außereuropäischem Gebiete so oft hervorgetreten ist", (l.c.p.20.) Dies außereuropäische Gebiet liegt wohl im Mond. In der Tat setzt Vogt einfach die von der französischen Regierung 1858 herausgegebene Karte „L'Europe en 1860" in Worte. Auf dieser Karte sind Hannover, Mecklenburg, Braunschweig, Holstein, Kurhessen, nebst den verschiednen Waldeck, Anhalt, Lippe usw. an Preußen annexiert, während „l'Empereur des Frangais conserve ses (!) limites actuelles", der Kaiser der Franzosen seine (!) alten Grenzen einhält. „Preußen bis an den Main" ist zugleich ein Stichwort der russischen Diplomatie. (Siehe z.B. das schon erwähnte Memorandum von 1837.) Einem preußischen Norddeutschland würde ein östreichisches Süddeutschland gegenübertreten, durch natür
liehe Grenzen, Tradition, Konfession, Dialekt und Stammunterschiede getrennt, die Ent'Zweiung Deutschlands wäre durch Vereinfachung seiner Gegensätze vollendet und der 30jährige Krieg1371 in Permanenz erklärt. Nach der ersten Auflage der „Studien" sollte Preußen also solchen „Lohn" erhalten für die „Anstrengungen", womit es während des Kriegs das deutsche Bundesschwert in die Scheide zwang. In Vogts „Studien" wie in der französischen Karte „L'Europe en 1860", ist es nämlich nicht Louis Bonaparte, sondern Preußen, das Gebietsvergrößerung und natürliche Grenzen durch den französischen Krieg gegen Ostreich sucht und findet. Indes erst im Nachwort zur zweiten Auflage seiner „Studien", die während des östreichisch-französischen Kriegs erschienen, enthüllt Vogt die wahre Aufgabe Preußens. Eis soll einen „Bürgerkrieg" (s. zweite Auflage, p. 152) beginnen zur Stiftung einer „einheitlichen Zentralgewalt" (I.e. p. 153), zur Einverleibung Deutschlands in die preußische Monarchie. Während Rußland von Osten vorgeht und Ostreich von Louis Bonaparte in Italien gelähmt wird, soll Preußen einen dynastischen „Bürgerkrieg" in Deutschland eröffnen. Vogt garantiert dem Prinzregenten1, daß der
„jetzt" in Italien „entzündete Krieg wenigstens das Jahr 1859 in Anspruch" nehmen wird, „während die Einigung Deutschlands, mit raschem Entschlüsse durchgeführt, nicht so viel Wochen kosten würde als der italienische Feldzug Monate". 0- c- P- 155.)
Der Bürgerkrieg in Deutschland würde nur Wochen kosten! Außer den östreichischen Truppen, die sofort, mit oder ohne Krieg in Italien, gegen Preußen marschiert wären, würde Preußen, wie Vogt selbst erzählt, Widerstand finden an „Bayern..., dem östreichischen Einflüsse vollständig unterworfen" („Studien", erste Aufl., p.90), an Sachsen, das zunächst bedroht wäre und keinen weitern Grund hätte, seiner „Sympathie für Ostreich" (l.c.p.93) Gewalt anzutun, an „Württemberg, Hessen-Darmstadt und Hannover" (l.c.p.94), kurz an „NeunZehntel" (I.e. p. 16) der „deut' sehen Regierungen". Und diese Regierungen, wie Vogt weiter beweist, würden in solchem dynastischen „Bürgerkrieg", nun gar von Preußen unternommen zu einer Zeit, wo Deutschland von seinen „beiden größten äußern Feinden" bedroht war, keineswegs in der Luft geschwebt haben.
„Der Hof" (in Baden), sagt Vogt, „geht mit Preußen, das Volk aber, darüber kann kein Zweifel obwalten, schließt sich in diesen Sympathien der regierenden Familie
1 Wilhelm
gewiß nicht an. Das Breisgau ist sogar ebensogut wie Oberschwaben durch die Bande der Sympathie und der Konfession, durch alte Erinnerungen an Vorderöstreich, zu dem es einst gehörte, noch immer fester an den Kaiser und den Kaiserstaat geknüpft, als man es nach so langer Trennung vermuten sollte." (1. c. p. 93, 94.) „Mit Ausschluß von Mecklenburg" und „vielleicht" Kurhessen, „herrscht Mißtrauen gegen die Aufgehens-Theorie und widerstrebendes Nachgeben in Norddeutschland gegen Preußen. Das instinktive Gefühl der Abneigung, ja des Hasses, den Süddeutschland gegen Preußen hegt... auch dieses Gefühl hat alles volltönende Geschrei der Kaiserpartei nicht ausrotten oder wegdeklamieren können. Es existiert lebendig im Volke, und keine Regierung, selbst wenn es die badische wäre, kann ihm lange widerstehn. Wahre Sympathie hat also Preußen nirgends im deutschen Volke noch in den Regierungen des deutschen Bundes." (1. c. p. 21.)
So sagt Vogt. Und eben darum würde nach demselben Vogt ein dynastischer „Bürgerkrieg", von Preußen unternommen in „geheimem Einverständnis", mit den „beiden größten äußern Feinden Deutschlands", nur „ Wochen" gekostet haben. Aber noch nicht genug.
„Altpreußen geht mit der Regierung - Rheinland-Westfalen mit dem katholischen Ostreich. Gelingt es der dortigen Volksbewegung nicht, die Regierung zu Ostreich zu drängen, so wird die nächste Folge ein erneutes Aufreißen der Kluft zwischen den beiden Teilen der Monarchie sein." (I. c. p. 20.)
Wenn also nach Vogt einfache Nichtparteinahme Preußens für Ostreich schon die Kluft zwischen Rheinland-Westfalen und Altpreußen von neuem aufriß, mußte natürlich nach demselben Vogt ein „Bürgerkrieg", den Preußen zum Ausschluß Ostreichs aus Deutschland unternahm, RheinlandWestfalen völlig von Preußen losreißen. Aber „was geht diese Römlinge Deutschland an?" (I.e. p. 119), oder, wie er eigentlich meint, was gehn diese Römlinge Deutschland an? Rheinland-Westfalen sind ultramontane „römisch-katholische", aber keine „wahrhaft deutsche" Länder. Sie müssen also nicht minder vom Bundesgebiet ausgeschieden werden als Böhmen und Mähren. Und diesen Ausscheidungsprozeß sollte der Preußen von Vogt anempfohlene dynastische „Bürgerkrieg" beschleunigen. In der Tat hatte die französische Regierung in der 1858 von ihr herausgegebenen Karte „L'Europe en 1860", die dem Vogt als Kompaß seiner „Studien" diente, wie Ägypten an Ostreich, so die Rheinprovinzen als Länder „katholischer Nationalität" an Belgien annexiert - ironische Formel für die Annexierung Belgiens und der Rheinprovinz an Frankreich. Daß Vogt weiter geht als die französische Regierungskarte und das katholische Westfalen mit in den Kauf gibt, erklärt sich aus den „wissenschaftlichen Verhältnissen" des
flüchtigen Reichsregenten zu Plon-Plon, dem Sohn des Exkönigs von Westfalen1. Also Resum6: Auf der einen Seite wird Louis Bonaparte Rußland erlauben, von Posen bis Böhmen hinein und über Ungarn nach der Türkei hinaus die Arme zu strecken; auf der andern Seite wird er selbst durch Waffengewalt an Frankreichs Grenze ein einiges und unabhängiges Italien stiften und alles - pour le roi de Prusse2; alles, damit Preußen Gelegenheit erhält, Deutschland durch einen Bürgerkrieg unter seinen Hut zu bringen und „die Rheinprovinzen auf ewig" gegen Frankreich zu „sichern". (I.e. p. 121.)
„Aber, sagt man, es ist Gefahr für das Bundesgebiet da, der Erbfeind droht, sein eigentliches Ziel ist der Rhein. So schütze man diesen und schütze das Bundesgebiet" O.c.p.105), und zwar schütze man das Bundesgebiet, indem mein Böhmen und Mähren an Rußland abtritt, und schütze man den Rhein, indem man einen deutschen „Bürgerkrieg" beginnt, der unter anderm bestimmt ist, RheinlandWestfalen von Preußen loszureißen.
„Aber, sagt man, Louis-Napoleon ... will den napoleonischen Länderdurst befriedigen auf irgendeine Weise! Wir glauben das nicht, wir haben das Beispiel des Krimfeldzugs vor uns!" (1- c. p. 129.)
Außer seinem Unglauben an den napoleonischen Länderdurst und seinem Glauben an den Krimfeldzug hat Vogt jedoch ein andres Argument in petto, östreicher und Franzosen werden sich nach dem Vorbild der Katzen von Kilkenny so lange in Italien beißen, bis von beiden nur die Schwänze übriggeblieben sind.
„Es wird ein furchtbar blutiger, hartnäckiger, vielleicht unentschiedner Krieg werden." (1. c. p. 127, 128.) „Nur mit Anstrengung8 seiner äußersten Kräfte wird Frankreich mit Piemont den Sieg erringen, und es werden Jahrzehnte hingehen, ehe es sich von dieser erschöpfenden Anstrengung erholen kann." (I. c. p. 129.)
Diese Aussicht auf die Dauer des italienischen Kriegs schlägt seine Widersacher. Die Methode nun, wodurch Vogt Ostreichs Widerstand gegen die französischen Waffen in Italien verlängert und Frankreichs Aggressivkraft lähmt, ist in der Tat originell genug. Auf der einen Seite erhalten die Franzosen carte blanche in Italien; auf der andern Seite wird dem „wohlwollenden Zar" erlaubt, durch seine Manöver in Galizien, Ungarn, Mähren und
1 J6r6me Bonaparte - 2 für den König von Preußen; hier: für nichts und wieder nichts — 3 bei Vogt: Anspannung
Böhmen, durch revolutionäre Umtriebe im Innern und militärische Demonstrationen an den Grenzen „einen bedeutenden Teil der östreichischen Streitkräfte in denjenigen Teilen der Monarchie zu halten, welche einem russischen Angriffe ausgesetzt oder russischen Umtrieben zugänglich sind". Q. c. p. 11.) Und schließlich durch einen dynastischen „Bürgerkrieg", den Preußen gleichzeitig in Deutschland eröffnet, wird Ostreich gezwungen, seine Hauptkräfte zur Erhaltung seiner deutschen Besitzungen aus Italien wegzuziehn. Unter solchen Umständen werden Franz Joseph und Louis Bonaparte natürlich keinen Frieden von Campoformio1-4561 schließen, sondern - „sich beide in Italien verbluten". Ostreich wird dem „wohlwollenden Zar" weder Konzessionen im Osten machen und die längst angebotene Schadloshaltung in Serbien und Bosnien annehmen, noch wird es Frankreich die Rheinprovinzen garantieren und im Bund mit Rußland und Frankreich über Preußen herfallen. Beileibe nicht! Eis wird darauf bestehen, sich „in Italien zu verbluten". Jedenfalls aber würde Vogts „Schicksalsmensch" solche Entschädigung am Rhein mit sittlicher Entrüstung abweisen. Vogt weiß, daß
„die äußere Politik des heutigen Kaiserreichs nur ein Prinzip hat, das der Selbsterhaltung". 0- c. p. 31.) Er weiß, daß Louis Bonapärte „nur eine einzige Idee verfolgt, diejenige, sich in dieser Herrschaft" (über Frankreich) „zu erhalten". (I. c. p. 29.) Er weiß, daß der „italienische Krieg ihn nicht populär in Frankreich macht", während die Erwerbung der Rheinprovinzen ihn und seine Dynastie „populär" machen würde. Er sagt: „Die Rheinprovinzen sind in der Tat ein Lieblingsgelüst des französischen Chauvin, und vielleicht, wenn man auf den Grund geht, würde man nur eine kleine Minorität der Nation finden, welche nicht diesen Wunsch im Herzen trüge." 0- c. p. 121.) Andrerseits wissen die „Einsichtigen in Frankreich", darum wohl auch Vogts „Schicksalsmensch mit der Schlangenklugheit", „daß nur so lange eine Hoffnung zu dieser Verwirklichung ist" (nämlich Frankreichs Erwerb der natürlichen Rheingrenze), „als Deutschland 34 verschiedne Regierungen besitzt [...] Laßt ein wahrhaftes Deutschland existieren mit einheidichen Interessen und fester Organisation - und die Rheingrenze wird auf ewig gesichert sein." (L c. p. 121.) Eben deshalb würde Louis Bonaparte, der zu Villafranca dem Kaiser von Ostreich die Lombardei anbot im Austausch für die Garantie der
Rheinprovinzen (siehe die Erklärung Kinglakes im Hause der Gemeinen, 12. Juli 1860), Ostreichs Angebot der Rhein provinzen für französische Hülfe gegen Preußen entrüstet abgewiesen haben. Auch Vogts Denfusche Originalquellen ergingen sich nicht nur in Schwärmereigefühlen für Deutschlands Einigung unter Preußen*: Sie wiesen namentlich jede Anspielung auf die Rheinprovinzgelüste mit tugendhafter Emphase zurück.
„Der Rhein!... Was ist der Rhein — eine Grenze. Die Grenzen werden bald Anachronismen sein.' ' (p. 36, „Lafoi des Haitis etc.", Paris 1859.)**
In dem von Badinguet auf Grundlage des Nationalitätsprinzips zu stiftenden Tausendjährigen Reich, wer wird da von Rheingrenze sprechen, überhaupt von Grenzen!
„Stipuliert Frankreich Entschädigung für die Opfer, die es bereit ist, für einen Zweck der Billigkeit, gerechten Einflusses und im Interesse des europäischen Gleichgewichts zu bringen? Verlangt es das linke Rheinufer? Erhebt es selbst auch nur Ansprüche auf Savoyen und auf die Grafschaft Nizza?" („La Vraie question etc.", Paris 1859, p. 13.)***
* »La Prusse est l'espoir de l'Allemagne... l'esprit allemand a son centre ä Berlin... l'esprit allemand cherche Vmdte de son corps, la verite de la Confederation. C'est par cet entrainement que s'eleve la Prusse... D'oü vient-il que, lorsque 1* Italie reclame l'integrit^, l'unite nationale, ce que l'Allemagne d&ire, celle-ci favorise I'Autriche, n^gation vivante de toute nationalite? ... C'est que la Prusse n'est pas encore la tete; c'est que la tete est I'Autriche qui, pesant avec ces forces heterogenes sur l'Allemagne politique, I'entraine ä des contradictions avec l'Allemagne vöitable."1 (p. 34, „La joi des traites etc.") ** „Le Rhin!... Qu'est-ce que le Rhin? Une frontiere. Les frontieres seront bientöt des anachronismes." (1. c. p. 36.) *** La France stipule-t-elle des dedommagements pour les sacrifices qu'elle est prete a faire dans un but d'equit£, de juste influence, et dans l'interet de l'equilibre europeen? Demande-t-elle la rive gauche du Rhin? Eleve-t-elle meme des pretentions sur la Savoie et sur le Comt£ de Nice?" (p. 13, „La vraie question etc.")
1 „Preußen ist Deutschlands Hoffnung ... der deutsche Geist hat seinen Mittelpunkt in Berlin ... der deutsche Geist sucht die Einheit seines Körpers, die Wahrheit des Bundes. Dieser Drang ist es, der Preußen sich erheben läßt... Woher kommt es, daß, während Italien den Zusammenschluß, die nationale Einheit, verlangt, was auch Deutschland begehrte, daß dieses Italien Österreich begünstigt, die lebendige Verneinung der Nationalität? ... Der Grund liegt darin, daß Preußen noch nicht die Führung hat; der Grund liegt darin, daß Österreich die Führung hat, das, mit seinen heterogenen Kräften auf dem politischen Deutschland lastend, es in Widerspruch mit dem wahren Deutschland setzt."
Frankreichs Verzichtleistung auf Savoyen und Nizza als Beweis für Frankreichs Verzichtleistung auf den Rhein! Das hat Vogt nicht verdeutscht. Vor Beginn des Kriegs war es für Louis Bonaparte entscheidend wichtig, wenn er Preußen zu keinem Einverständnis ködern konnte, den Deutschen Bund wenigstens glauben zu machen, er habe es geködert. Diesen Glauben sucht Vogt in der ersten Auflage seiner „Studien" zu verbreiten. Während des Kriegs wurde es noch wichtiger für Louis Bonaparte, Preußen zu Schritten zu verleiten, die Ostreich den Beweis oder den Scheinbeweis eines solchen Einverständnisses geliefert hätten. In der zweiten Auflage der „Studien", die während des Kriegs erschien, fordert Vogt Preußen daher in einem eignen Nachwort zur Eroberung Deutschlands auf und zur Einleitung eines dynastischen „Bürgerkriegs", von dem er im Text des Buches beweist, daß er „blutig, hartnäckig, vielleicht unentschieden" sein und mindestens Rheinland-Westfalen kosten würde, und wovon er im Nachwort desselben Buchs hoch beteuert, daß er „nur Wochen kosten würde". Vogts Stimme ist nun in der Tat keine Sirenenstimme. Louis Bonaparte, in seinem Gaunerstreich unterstützt von Bot'tle-holder1 Palmerston, mußte daher von ihm selbst geschmiedete preußische Vorschläge dem Franz Joseph in Villafranca vorlegen; Ostreich mußte Preußens bescheidne Ansprüche auf Deutschlands militärische Führung zum Vörwand eines Friedensschlusses machen*, den Louis Bonaparte vor Frankreich damit entschuldigen mußte, daß der italienische Krieg gedroht, in einen allgemeinen Krieg umzuschlagen, der „die deutsche Einheit schaffen und so ein Werk ausführen würde, dessen Vereitlung der stete Zweck der französischen Politik seit Franz I. gewesen sei"**.
* Die „Prager Zeitung" brachte einige Tage nach dem Friedensabschluß von Villafranca folgende offizielle Erklärung: „Es liefert diese Protestation" (Preußens Protestation, den Oberbefehl der Bundesarmee unter Bundeskontrolle zu übernehmen) „den klaren Beweis, daß Preußen nach der Hegemonie in Deutschland, also nach dem Ausschlüsse Ostreichs aus Deutschland strebt. Da die treulose Lombardei unendlich weniger wert ist als die Behauptung unserer Stellung in Deutschland, so gaben wir sie hin, um zum Frieden zu gelangen, der für uns durch die Haltung Preußens zur gebieterischen Notwendigkeit geworden war." ** Der Pariser „Galignani's Messenger", der nur ausnahmsweise und nur im besondren offiziellen Auftrag Leitartikel bringt, sagt in seiner Nummer vom 22. Juli 1859: „To give another province to the King of Piedmont, it would not only have been necessary to support a war against two-thirds of Europe, but German unity would have
1 seinem Steigbügelhalter
Nachdem Frankreich durch den italienischen] Krieg Savoyen und Nizza und mit ihnen eine Position erworben, die für den Fall eines Rheinkriegs mehr als eine Armee aufwiegt, wurden „deutsche Einheit unter preußischer Hegemonie" und „Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich" konvertible Größen im Wahrscheinlichkeitskalkül des 2. Dezember. Die 1858 herausgegebene Karte „UEurope en 1860" ward verdolmetscht durch die 1860 herausgegebene Karte „L'Europe pacifi.ee" (das zu Ruhe gebrachte Europa?), worin Ägypten nicht länger an Ostreich fällt und die Rheinprovinzen samt Belgien an Frankreich annexiert sind zum Ersatz für die Preußen zugewiesenen „nordischen Flachlande"*. Endlich, zu Etienne, erklärte Persigny offiziell, daß schon im „ Interesse des europäischen Gleichgewichts" jede weitere Zentralisation Deutschlands das Vordringen Frankreichs an den Rhein bedingen.** Aber weder vor noch nach dem italienischen Krieg hat der groteske Bauchredner der Tuilerien schamloser gesprochen als durch das Mundstück des flüchtigen Reichsregenten.
been realised, and a work thus accomplished, which ever since the time of Francis I. it has been the object of French policy to prevent.1 * Plon-Plons Spezialblatt, die „Opinion nationale", sagt in einem Artikel vom 5. Juli 1860: „Der Tag der Revindikation durch die Gewalt ist vorüber. Dazu ist der Kaiser mit einem zu feinen Takt, mit einem zu richtigen Gefühl für die Tendenz der öffentlichen Meinung begabt... Aber ist Preußen eidlich verpflichtet, niemals an deutsche Einheit zu denken? Kann es dafür einstehn, daß es nie ein lüsternes Auge auf Hannover, Sachsen, Braunschweig, Hessen, Oldenburg und Mecklenburg werfen wird? Heute umarmen sich die Fürsten, und sicher aufrichtig. Aber wer weiß, was das Volk in wenigen Jahren von ihnen verlangen wird? Und wenn Deutschland, unter dem Drucke der öffentlichen Meinung, sich zentralisiert, wäre es gerecht, wäre es vernünftig, daß Frankreich nicht erlaubt sein sollte, sein Gebiet auf Kosten seiner Nachbarn auszudehnen? ... Sollten die Deutschen für gut finden, ihre alte politische Konstitution zu ändern und an die Stelle des ohnmächtigen Bundes eine starke, zentralisierte Regierung zu setzen, so können wir nicht dafür stehn, daß Frankreich nicht gut finden würde, von Deutschland Entschädigungen und Sicherheiten zu verlangen." ** Der kaiserliche Pecksniff übertrifft sich selbst in dem Dentu-Pamphlet „La politique anglaise", Paris 1860. Danach müssen nämlich ein paar Millionen Deutsche
1 „Um dem König von Piemont noch eine weitere Provinz zu verschaffen, wäre es nicht nur notwendig gewesen, einen Krieg gegen zwei Drittel von Europa zu unterstützen, sondern die Einigung Deutschlands wäre verwirklicht worden und damit ein Werk herbeigeführt, das zu vereiteln seit der Zeit Franz I. immer der Zweck der französischen Politik war."
Vogt, „der Neuschweizer, der Kantonsbürger von Bern und der Genfer Ständerat"14571 (I.e., Vorrede), eröffnet den Schweizer Teil seiner „Studien" durch einen Prolog Q.c.p.37-39), worin die Schweiz zu einem Freuden' ausbruch über die Ersetzung Louis-Philippes durch Louis Bonaparte aufgefordert wird. Allerdings verlangte Louis Bonaparte „Preßmaßregelungen" vom Bundesrat, aber „die Napoleoniden scheinen in dieser Beziehung eine außerordentlich kitzlige Haut zu haben". (I.e. p.36.) Bloße Hautkrankheit, so an die Familie angewachsen, daß sie sich nicht nur durch das Familienblut, sondern auch - teste1 Louis Bonaparte - durch den bloßen Familiennamen vererbt. Allerdings:
„Die Verfolgung unschuldiger Menschen in Genf, welche von dem Bundesrat auf kaiserlichen Befehl hin durchgeführt wurde gegen arme Teufel, die weiter nichts verbrochen hatten, als Italiener zu sein; die Errichtung der Konsulate; die Preßplackereien; die unsinnigen Polizeimaßregeln jeder Art und in letzter Linie die Verhandlungen über die Abtretung des Dappentales haben wesentlich dazu beigetragen, in der Schweiz die Erinnerungen an die Dienste zu verwischen, welche der Kaiser im Neuenburgtr Handel wirklich geleistet und namentlich derjenigen Partei geleistet hat, die jetzt am heftigsten sich gegen ihn kehrt." (1. c. p. 37, 38.)
Großmütiger Kaiser, undankbare Partei! Was der Kaiser im Neuenburger Handel14581 wollte, war keineswegs ein Präzedens für die Verletzung der Verträge von 1815, Preußens Demütigung und das Protektorat der Schweiz. Es galt ihm, der Schweiz „wirkliche Dienste zu leisten" in seiner Eigenschaft als „Neuschweizer, Kantonsbürger von Thurgau und Oberstraßer Artilleriehauptmann". Die Undankbarkeit, deren Vogt im März 1859 die antibonapartistische Partei in der Schweiz bezüchtigt hat,
und Belgier gestohlen werden, um die moralische Konstitution Frankreichs zu verbessern, dessen südliches Element größerer Beimischung mit nordischer Solidität bedürfe. Nachdem auseinandergesetzt, daß Frankreich aus politischen und militärischen Gründen der Grenzen bedarf, die die Natur ihm selbst gegeben hat, heißt es weiter: „Ein zweiter Grund macht solche Annexation" (der Rheinprovinzen und Belgiens) „notwendig. Frankreich liebt und verlangt eine vernünftige Freiheit (une sage liberte), und das südliche Element bildet ein großes Element seiner öffentlichen Körper. Dies Element hat wundervolle Eigenschaften... aber es fehlt ihm Ausdauer und Festigkeit. Es bedarf der geduldigen Standhaftigkeit, der kalten und unbeugsamen Entschließung unserer nordischen Brüder. Die von der Vorsehung uns bestimmten Grenzen sind uns daher nicht minder notwendig für unsere Freiheit als für unsere Unabhängigkeit."
1 dafür zeugt
warf ein andrer Diener des Kaisers, Herr von Thouvenel, im Juni 1860, der ganzen Schweiz vor. Man liest in der „Times" vom 30. Juni 1860:
„Vor einigen Tagen fand im Ministerium des Auswärtigen zu Paris eine Zusammenkunft zwischen Dr. Kern und Herrn von Thouvenel statt in Gegenwart des Lord Cowley. Thouvenel erklärte dem ehrenwerten Repräsentanten der Schweiz, daß die Zweifel und Protestationen der Bundesregierung beleidigend seien, insofern sie Unglauben an die Regierung Sr. Kaiserlichen] Majestät einzuschließen schienen. Solches Betragen sei grober Undank in Betracht der Dienste (services), die der Kaiser Napoleon dem Bunde bei vielen Gelegenheiten, namentlich aber im Neuenburger Handel, geleistet (rendered) hätte. Wie dem auch sei, da die Schweiz so blind gewesen, ihrem Wohltäter zu mißtrauen, müsse sie selbst die Folgen auf sich nehmen."
Und dennoch hatte Vogt schon im März 1859 der blinden antibonapartistischen Partei in der Schweiz den Star zu stechen gesucht. Auf der einen Seite verweist er auf „die wirklichen Dienste", die „der Kaiser geleistet". Auf der andern Seite „verschwinden die kaiserlichen Plackereien völlig" gegen die königlichen Plackereien unter Louis-Philippe. (I.e. p.39.) Als z.B.: 1858 verjagt der Bundesrat „auf kaiserlichen Befehl arme Teufel, die weiter nichts verbrochen hatten, als Italiener zusein" (p.37); 1838, trotz Louis-Philippes Drohungen, verweigert er, den Louis Bonaparte zu verjagen, der weiter nichts verbrach, als von der Schweiz aus gegen LouisPhilippes Krone zu konspirieren. Im Jahre 1846 wagt die Schweiz trotz Louis-Philippes „Kriegsspektakel" den Sonderbundskrieg, denn dem Friedenskönig gegenüber hieß es: Bangemachen gilt nicht; 1858 tut sie kaum jüngferlich gegen Louis Bonapartes Dappental-Tastungen.'4591
„Ludwig-Philipp", sagt Vogt selbst, „hatte eine ärmliche europäische Existenz fortgeschleppt, gehunzt von allen Seiten, selbst von den kleinern legitimen Fürsten, weil er nicht gewagt hatte, nach außen hin eine starke Politik zu verfolgen." (I.e.p.31.) Aber: „Der Schweiz gegenüber ist die kaiserliche Politik ohne Zweifel diejenige eines mächtigen Nachbars, der weiß, daß er am Ende alles durchsetzen k<mn, was er will." (I.e. p.37.) Also, schließt Vogt, mit Grandguillofscher Logik, „daß man sich, vom rein schweizerischen Standpunkte aus, nur im höchsten Grade freuen kann" (p.39) über die Änderung, die statt des „von allen Seiten gehunzten LouisPhilippe" der Schweiz einen „mächtigen Nachbar" gab, „der weiß, daß er ihr gegenüber alles kann, was er will". Diesem Prolog, der die nötige Gemütsstimmung vorbereitet, folgt eine deutsche Übersetzung der Bundestagsnote vom 14. März 1859, und sonderbarerweise belobt Vogt diese Note, worin der Bundesrat sich auf die Ver
träge von 181514601 beruft, auf die sich zu berufen derselbe Vogt für „Heuchelei" erklärt. „Geht doch mit eurer Heuchelei!" (I.c.p. 112.)* Vogt untersucht nun weiter, „von welcher Seite her der erste Angriff gegen die Neutralität der Schweiz kommen wird" (l.c.p.84), und führt den überflüssigen Beweis, daß die französische Armee, welche Piemont diesmal nicht zu erobern hatte, weder über den Simplon noch über den Großen Bernhard marschieren werde. Gleichzeitig entdeckt er den nicht existierenden Landweg „über den Mont Cenis, über Fenestrella durch das Sturatal". (I.c.p.84.) Soll nämlich heißen Doratal. Von Frankreich her also droht der Schweiz keine Gefahr.
„Nicht mit gleicher Beruhigung kann mein die Schonung der schweizerischen Neutralität von seifen Ostreichs erwarten, und verschiedne Erscheinungen deuten sogar darauf hin, daß man vorkommenden Falles dieselbe in der Tat zu verletzen beabsichtigt." (I.e. p. 85.) „Bedeutungsvoll in dieser Beziehung dürfte die Ansammlung eines Truppenkorps in Bregenz undFeldkirck sein." (I.e.p.86.)
Hier wird der rote Faden sichtbar, der die „Studien" durchläuft und gradenwegs von Genf nach Paris leitet.
Das vom Derby-Kabinett veröffentlichte Blue Book über „The affairs of Italy. January to May 1859" erzählt nämlich, daß „die Ansammlung eines östreichischen Truppenkorps bei Bregenz und Feldkirch" ein geflissentlich von bonapartistischen Agenten in der Schweiz verbreitetes Gerücht war, dem jeder tatsächliche Vorwand fehlte. (N. 174 des zitierten Blue Book, Brief des Captain Harris an Lord Malmesbury, d.d. Bern, 24.März 1859.) Humboldt-Vogt entdeckt bei dieser Gelegenheit auch, daß man sich in Bregenz und Feldkirch
„in unmittelbarer Nähe des Rheintals befindet, in welches drei große Alpenpässe mit fahrbaren Straßen, nämlich die Via Mala, der Splügen und der Bernhardin einmünden, der letztere nach dem Tessin, die beiden erstem nach dem Corner See führend". O.e. p.86.)
* Es waren in der Tat nicht die „Verträge", die die Neutralität der Schweiz geschützt hatten, sondern die sich wechselseitig paralysierenden Interessen der verschiedenen Grenzmächte. „Die Schweizer fühlen", schreibt Captain Harris, der englische Geschäftsführer zu Bern, nach einer Unterredung mit dem Bundespräsidenten Frey-Herose, an Lord John Russell, „daß... die Ereignisse in jüngster Zeit das verhältnismäßige Gewicht der Grenzmächte wesentlich verändert haben, indem Preußen seit dem Neuchäteler Handel gleichgültig, Ostreich gelähmt und Frankreich ungleich mächtiger als zuvor ist."
In der Wirklichkeit führt die Via Mala erstens über den Splügen, zweitens über den Bernhardin und drittens nirgends woanders hin. Nach all diesem Polonius-Gewäsch, das den Verdacht der Schweiz von der westlichen nach der östlichen Grenze hinlenken sollte, kugelt „die abgerundete Natur" endlich zu ihrer eigentlichen Aufgabe heran.
„Die Schweiz", sagt Vogt, „ist vollkommen im Rechte, wenn sie die Verpflichtung, Truppenzüge über diese Eisenbahn" (von Culoz nach Aix und Chambery) „nicht zu gestatten, entschieden zurückweist und sich darauf beschränkt, vorkommenden Falles das Neutralitätsgebiet nur so weit in Anspruch zu nehmen, als es zur Verteidigung ihres eignen Gebiets nötig ist" (1. c. p. 89),
und er versichert dem Bundesrat, daß zu dieser „in seiner Note vom 14. März angedeuteten Politik die ganze Schweiz wie ein Mann stehen wird". Vogt veröffentlicht seine „Studien" Ende März. Erst am 24.April benutzte Louis Bonaparte die besagte Eisenbahn für Truppenzüge, und den Krieg erklärte er noch später. Vogt, in die Details des bonapartistischen Kriegsplans eingeweiht, wußte also ganz genau, „von welcher Seite der erste Angriff gegen die Neutralität der Schweiz kommen" werde. Er hatte den ausdrücklichen Beruf, sie zur Duldung einer ersten Neutralitätsverletzung zu kirren, deren logische Folge: Annexation des neutralisierten Savoyer Gebiets an das Dezemberreich. Den Bundesrat auf die Schulter klopfend, unterlegt er der Note vom 14. März einen Sinn, den sie vom bonapartistischen Standpunkte aus haben sollte. Der Bundesrat sagt in seiner Note, die Schweiz werde ihre vertragsmäßige „Mission" der Neutralität „gleichmäßig und loyal gegen alle erfüllen". Er zitiert ferner einen Artikel der Verträge, wonach „keinerlei Truppen irgendeiner andern Macht sich daselbst" (dem neutralisierten Gebiet von Savoyen) „aufhalten oder durchziehen dürfen". Er erwähnt mit keinem Wort, daß er die Benutzung der Eisenbahn, die durch das neutralisierte Gebiet läuft, den Franzosen gestatten werde. Bedingungsweise als „Maßregel zur Sicherung und Verteidigung ihres Gebiets" behält er der Eidgenossenschaft „die militärische Besetzung" des neutralisierten Gebiets vor. Daß Vogt hier geflissentlich und in höherm Auftrag die Bundestagsnote wnlügt, beweist nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch die Erklärung Lord Malmesburys - damals englischer Minister der auswärtigen Angelegenheiten - in der Sitzung des Oberhauses vom 23. April 1860.
„Als", sagt Malmesbury, „die französischen Truppen im Begriff standen" (mehr als einen Monat nach der Note des Bundesrates vom 14. März), „durch Savoyen nach Sardinien zu marschieren, warf die schweizerische Regierung, treu der Neutralität, auf
der ihre Unabhängigkeit beruht, zuerst ein, diese Truppen hätten kein Recht, das neutralisierte Gebiet zu passieren."* Und durch welchen Einwurf beseitigten Louis Bonaparte und die mit ihm verbündete Schweizer-Partei das Bedenken des Bundesrats? Vogt, der Ende März 1859 wußte, daß französische Truppenzüge das neutralisierte Gebiet Ende April 1859 verletzen würden, antizipiert natürlich auch schon Ende März die Phrase, wodurch Louis Bonaparte Ende April seinen Gewaltstreich beschönigen wird. Er erhebt die Bedenklichkeit, ob das „Kopfende der Linie von Culoz nach Aix und Chamb6ry in das Bereich des Neutralitätsgebiets" fällt (I.c.p.89), und demonstriert, daß „die Bestimmung des Neutralitätsgebiets durchaus nicht den Zweck hatte, die Kommunikation zwischen Frankreich und Chamb6ry aufzuheben", die besagte Eisenbahnlinie also moralisch das Neutralitätsgebiet vermeidet.** Hören wir andrerseits Lord Malmesbury:
„Später, auf das Bedenken hin, ob die Eisenbahnlinie nicht den neutralisierten Teil von Savoyen vermeide, zog die Schweizer Regierung ihren Einwand zurück und erlaubte den französischen Truppen den Durchmarsch. Ich glaube, daß sie im Unrecht war, als sie dies tat. (I think that they were wrong in doing so.) Wir hielten die Bewahrung der Neutralität dieses Gebiets für einen Gegenstand von so europäischer Wichtigkeit..., daß wir dem französischen Hof am 28. April 1859 einen Protest gegen den Durchmarsch dieser Truppen nach Sardinien zusandten."
Wegen dieses Protests klagte Palmerston den Malmesbury „östreichischer" Sympathien an, indem er „überflüssigerweise die französische Regierung beleidigt habe" (had uselessly offended the French government), ganz wie Vogt im „Hauptbuch" (p. 183) das „Volk" anklagt,
* „When the French troops were about to march through Savoy into Sardinia the Swiss Government, true to the neutrality upon which depends its independence, at first objected that these troops had no right to pass through the neutralised territory." ** Daß die Eisenbahn in das neutralisierte Gebiet fällt, ist ausdrücklich zugegeben in einer Note, die Bundespräsident Stampf Ii und Kanzler Schieß am 18. November 1859 an Captain Harris richteten. Es heißt darin: „II pourrait etre aussi question d'un autre point qui concerne la neutralitl de la Savoie... nous voulons parier du chemin de fer dernierement construit de Culoz ä Chamb£ry, ä l'egard duquel on peut se demander s'il devait continuer ä faire partie du territoire neutralisd."1
1 „ In Frage stehen könnte auch ein anderer Punkt, der die Neutralität Savoyens betrifft... wir wollen von der letzthin neuerbauten Eisenbahn von Culoz nach Chamb6ry sprechen, bezüglich deren es fraglich sein kann, ob sie weiterhin einen Teil des neutralisierten Gebietes bilden kann."
„es gab sich alle Mühe", natürlich Ostreich zulieb, „der Schweiz Verlegenheiten zu bereiten... Man lese die Artikel, welche das .Volk' über die Neutralitätsfrage und den Durchmarsch der Franzosen durch Savoyen brachte, um diese von der .Allgemeinen Zeitung' vollkommen geteilte Tendenzen mit Händen zu greifen."* Man wird nun „mit Händen greifen", daß der ganze auf die Schweiz bezügliche Abschnitt von Vogts „Studien" durchaus nichts andres bezweckte als Bevorwortung der ersten Verletzung des Schweizer Neutralitätsgebiets durch seinen „Schicksalsmenschen". Es war der erste Schritt zur Annexation Savoyens und daher der französischen Schweiz. Das Schicksal der Schweiz hing von der Energie ab, womit sie diesem ersten Schritt entgegentrat, ihr Recht erhielt, indem sie im entscheidenden Augenblick davon Gebrauch machte, es zu einer europäischen Frage erhob zu einer Zeit, wo die Unterstützung der englischen Regierung gewiß war und Louis Bonaparte, der seinen lokalisierten Krieg eben begann, nicht wagen durfte, ihr den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Einmal offiziell engagiert, konnte die englische Regierung nicht mehr zurückweichen.** Daher die gewaltige Anstrengung des „Neuschweizers, Kantonsbürgers von Bern und Ständerats von Genf", Staubwolken aufzujagen und die Gestattung des Durchmarsches der französischen Truppen durch das neutralisierte Gebiet als ein von der Schweiz geltend zu machendes Recht darzustellen, als tapfre Demonstration gegen Ostreich. Hatte er doch die Schweiz vor Catilina-Cherval gerettet! Während Vogt den Protest gegen die Rheingrenzgelüste seinen Dentusehen Originalpamphlets verstärkend nachhallt, vermeidet er jede, auch die leiseste Anspielung auf die in denselben Pamphlets enthaltene Entsagung auf Savoyen und Nizza. Selbst die bloßen Namen Savoyen und Nizza fehlen in seinen „Studien". Nun protestierten aber bereits im Februar 1859 Savoyer
* Vogt wirft dem „ Volk" speziell vor, es habe gesucht, „die Eidgenossenschaft in Konflikt mit den größern Nachbarmächten zu bringen". Als die Annexation Savoyens wirklich stattfand, klagte die „Eidgenössische Zeitung", ein bonapartistisches Blatt, den offiziellen „Bund" an, „seine Ansicht über Savoyen und Frankreich sei ein schwacher Überrest der Politik, welche die Schweiz schon seit 1848 in die europäischen Kämpfe verwickeln wollte". (Siehe „Band", Bern, 12.März 1860, No.71.) Man sieht, die Phrasen der bonapartistischen Fedem sind fertig zugeschnitten. ** Had those provinces (Chablais and Faucigny) been ocCupied by the Federal troops... there can be little doubt they would have remained in them up to this moment.1 (p.20 L.Oliphant, „Universal Suffrage and Napoleon III", London 1860.)
1 Wären diese Provinzen (Chablais und Faucigny) von den eidgenössischen Truppen besetzt worden ... so könnte kaum ein Zweifel daran bestehen, daß sie bis zu diesem Augenblick in ihnen verblieben wären.
Deputierte zu Turin gegen den italienischen Krieg, weil Savoyens Annexation an das Dezemberreich den Kaufpreis der franz[ösischen] Allianz bilde. Der Protest war nie zu Vogts Ohren gedrungen. Ebensowenig die der übrigen Emigration wohlbekannten zwischen Louis Bonaparte und Cavour im August 1858 zu Plombiäres vereinbarten Stipulationen (veröffentlicht in einer der ersten Nummern des „Volk"). Mazzini, in der schon früher erwähnten Nummer des „Pensiero ed Azione" (2. bis 16. Mai 1859) hatte wörtlich vorausgesagt: „Sollte aber Ostreich gleich im Beginn des Kriegs geschlagen werden und die Vorschläge, die es im Jahre 1848 eine Zeitlang der englischen Regierung machte, wiederholen, nämlich die Preisgabe der Lombardei unter der Bedingung, Venedig zu behalten, so würde der Frieden angenommen werden. Die Bedingungen der Vergrößerung der sardinischen Monarchie und der Zession Savoyens und Nizzas an Frankreich würden allein zur Ausführung kommen."* Mazzini veröffentlichte seine Vorhersage Mitte Mai 1859, Vogt die zweite Auflage seiner „Studien" Mitte Juni 1859, aber kein Sterbenswort von Savoyen und Nizza. Schon vor Mazzini und schon vor den Savoyer Deputierten, schon im Oktober 1858, anderthalb Monate nach der Verschwörung von Plombiäres, unterrichtete der Bundespräsident der Schweiz in einer eignen Depesche das englische Ministerium, „er habe Grund zu glauben, daß zwischen LouisBonaparte und Cavour ein bedingungsweises Übereinkommen über die Abtretung Savoyens geschlossen worden sei"**. Anfang Juni 1859 teilte der Bundespräsident dem englischen Geschäftsführer zu Bern von neuem seine Befürchtungen über die bevorstehende Annexation Savoyens und Nizzas mit.*** Zu Vogt, dem Schweizerretter
* „Ma dove l'Austria, disfatta in sulle prime, affacciasse proposte eguali, a quelle ch'essa affacciö per breve tempo nel 1848 al Govemo inglese, abbandono della Lombardia a patto di serbare il Veneto, la pace... sarebbe accettata: le sole condizioni dell' ingrandimento della Pvlonarchia Sarcia e della cessione della Savoia e di Nizza alla Francia, riceverebbero esecuzione." ** In seiner oben erwähnten Rede sagt Lord Malmesbury: „There is a despatch now in the Foreign Office, dated as long back as October 1858... from the President of the Swiss Republic, stating that he had reason to believe that. some conditional agreement had been come to between the Emperor of the French and Count Cavour with respect to Savoy."1 *** Siehe No. I des ersten Blue Book „On the proposed annexation of Savoy, etc." 1 „Es liegt jetzt eine Depesche des Schweizer Bundespräsidenten im Auswärtigen Amt vor, die noch aus dem Oktober 1858 stammt..., in der dargelegt ist, er habe Grund zu der Annahme gehabt, es sei ein Zusatzabkommen in bezug auf Savoyen zwischen dem Kaiser von Frankreich und dem Grafen Cavour erzielt worden."
von Fach, drang nie die leiseste Kunde weder von dem Protest der Savoyer Deputierten noch von Mazzinis Enthüllungen, noch von den seit Oktober 1858 bis Juni 1859 fortdauernden Befürchtungen der Schweizer Bundesregierung. Ja, wie wir später sehn werden, noch im März 1860, als das Geheimnis von Plombieres durch alle Straßen von Europa lief, vermied es, dem Herrn Vogt jemals zu begegnen. Wohl mit Bezug auf ihr Verstummen über die drohende Annexation tragen die „Studien" das Motto: „Schweigen ist die Tugend des Sklaven."14611 Eine Andeutung enthalten sie jedoch:
„Aber gesetzt auch", sagt Vogt, „gesetzt auch, das Unwahrscheinliche geschähe und der Siegespreis würde in italischem Lande, sei es südwärts oder nordwärts ausbezahlt... Wahrlich vom engsten deutschen Standpunkt aus... möchte man innigst wünschen, daß der welsche Wolf einen italischen Knochen zwischen die Zähne bekomme." (Up. 129,130.) Das italische Land nordwärts meinte natürlich Nizza und Savoyen. Nachdem der Neuschweizer, Kantonsbürger von Bern und Genfer Stände.rat „vom rein schweizerischen Standpunkte aus" (I.e.p.39) die Schweiz aufgefordert hatte, „sich im höchsten Grade zu freuen" über Louis Bonapartes Nachbarschaft, fällt dem flüchtigen Reichsregenten plötzlich ein, wie er „wahrlich vom engsten deutschen Standpunkte aus innigst wünschen möchte", daß der welsche Wolf „den Knochen" von Nizza und Savoyen und also die französische Schweiz „zwischen die Zähne bekomme"*.
Vor einiger Zeit erschien zu Paris ein Pamphlet „Napoleon III", nicht „Napoleon III et 1'Italie[i62], oder „Napoleon III et la question Roumain", oder „Napoleon III et la Prusse", sondern „Napoleon III" schlechthin, ein
* Vogts Wunsch, „vom engsten deutschen Standpunkt aus" dem „welschen Wolf" italienische „Knochen" in den Schlund zu jagen, damit der Wolf an Verdauungsbeschwerden leide, wird unstreitig in stets wachsendem Maß erfüllt werden. In der offiziösen „Revue contemporame" vom 15. Okt. 1860 - nebenbei bemerkt, Vogts spezielle Patronin - findet sich eine Turiner Korrespondenz vom 8. Oktober, worin es u.a. heißt: „Genua und Sardinien würden der legitime Preis eines neuen (französischen) Kriegs für die Einheit Italiens sein. Ich füge hinzu, daß der Besitz Genuas das notwendige Instrument unseres Einflusses auf die Halbinsel und das einzige wirksame Mittel wäre, zu verhüten, daß die Seemacht, zu deren Bildung wir beigetragen hätten, eines Tages unserer Allianz entschlüpfe, um irgendeine neue einzugehn. Nur mit unserm Knie auf seinem Hals können wir die Treue Italiens sichern. Ostreich, ein guter Richter in dieser Sache, weiß das sehr wohl. Wir werden weniger plump, aber besser als Ostreich drücken - das ist der einzige Unterschied."
facher Napoleon III. Es ist ein in Hyperbeln von Napoleon III. auf Napoleon III. geschriebener Panegyrik. Dies Pamphlet ist von einem Araber namens Dä-Dä in seine Muttersprache verdolmetscht worden. Im Nachwort vermag der trunkne Dä-Dä seinen Enthusiasmus nicht länger zu halten und strömt in lichterlohe Poesieverse über. In der Vorrede jedoch ist Dä-Dä noch nüchtern genug zu gestehn, daß seine Schrift auf Befehl der Lokalbehörden von Algier veröffentlicht werde und bestimmt sei zur Verteilung unter die eingebornen arabischen Stämme jenseits der Grenzen Algeriens, damit „die Idee der Einheit und Nationalität unter einem gemeinschaftlichen Chef sich ihrer Phantasie bemächtige." Dieser gemeinschaftliche Chef, der „die Einheit der arabischen Nationalität" stiften soll, ist, wie Dä-Dä verrät, kein Geringerer als „die Sonne der Wohltätigkeit, der Ruhm des Firmaments - der Kaiser Napoleon III.". Vogt, obgleich er ungereimt schreibt, ist kein Geringerer als der deutsche Dä-Dä. Daß Dä-Dä Vogt seine deutsche Umschreibung der von der Sonne der Wohltätigkeit und dem Ruhm des Firmaments ausgestrahlten „Moniteur"Artikel, Dentupamphlets undKarten des reoidierten Europas „Studien" nennt, ist der beste Witz, der ihm während seiner heitern Lebensläufe entfallen ist, besser selbst als die Reichsregentschaft und der Reichsweinschwelg und die von ihm selbst erfundnen Reichspässe ins Ausland. Daß der „gebildete" deutsche Bürgersmann „Studien", worin Ostreich mit England um Ägypten ringt, Ostreich und Preußen auf außereuropäischen Gebieten hadern, Napoleon I. die Bank von England ihr Gold zu wägen statt zu zählen zwingt, Griechen und Fanarioten verschiedne Racen sind, ein Landweg vom Mont Cenis über Fenestrella durch das Sturatal führt usw., daß er solche „Studien" für bona fide Studien nahm, beweist den Hochdruck, womit eine zehnjährige Reaktion auf seinem liberalen Hirnschädel gelastet hat. Sonderbarerweise fuhr derselbe liberale deutsche Bärenhäuter, der Vogts grob übertreibende Verdeutschung der dezembristischen Originalpamphlets beklatscht hatte, ganz erbost von seinem Schlafstuhl auf, sobald Edmond About in seinem „La Prusse en 1860" (ursprünglich „Napoleon III et la Prusse") Dä-Däs Kompilation mit weiser Mäßigung ins Französische rückübersetzte. Diese geschwätzige Elster des Bonapartismus ist nebenbei bemerkt nicht ohne Schalkheit. Als Beweis der bonapartistischen Sympathien für Deutschland führt About z.B. an, daß das Dezemberreich den Dä-Dä Vogt ganz so mit Humboldt in einen Topf wirft wie den Lazarillo Hochländer mit Goethe. Jedenfalls zeigt diese Kombination Vogt-Hackländer ein tieferes Studium auf Seiten Abouts als irgendwie aufzutreiben wäre in den „Studien" des deutschen Dä-Dä.
IX. Agentur
„So muosens alle striten. in vil angestlichen ziten wart gescheiden doch her dan ... der Vogt da von Berne."1 (Klagt)*
In einem Programm, das Dä-Dä Vogt mit ungeheurer Heiterkeit vom ersten April datiert, nämlich vom I.April 1859, rief er Demokraten verschiedener Färbung zur Mitarbeit an einer Zeitung auf, welche zu Genf erscheinen und die dezembristisch-russische Ansicht seiner „Studien" propagieren sollte. Vorsichtig abgefaßt, wie das Programm natürlich sein mußte, lugt der Pferdefuß gelegentlich aus der löschpapiernen Decke. Doch verweilen wir nicht dabei. Am Schluß des Programms ersucht Vogt seine Adressaten um Angabe von „Gesinnungsgenossen", die „in den ihnen geöffneten Zeitungen und Journalen in gleichem Sinne zu wirken bereit wären". Auf dem Zentralfest zu Lausanne erklärt er, er habe ein Programm entworfen mit einer Einladung an
„diejenigen, welche demselben folgen wollten, um gegen angemessenes Honorar in den ihnen zu Gebot stehenden Organen der Presse zu wirken", (p. 17, „Centraifest etc.")
* Hartmann im Iwein läßt den Vogt, wohl auf seinen Meinungszwist mit den Bemer Mutzen anspielend, dagegen sagen: „von Bern mac wol heizen ich, wand ich da niht ze schaffen hän."2 Dieser Hartmann jedoch nicht zu verwechseln mit Vogts Freund, dem lyrischparlamentarischen Weichtier gleichen Namens.
1 „So müssen sie alle streiten. In angsterfüllten Zeiten mußt' fahren fort von diesem Ort ... der Vogt von Bem." 2 „Ich kann von Bern mich nennen wohl, hab ich auch nichts zu suchen dort." t463!
Endlich in einem Brief an Dr. Loening heißt's:
„Kannst Du mich mit Leuten in Verbindung bringen, die von Frankfurt aus Zeitungen und Journale in diesem Sinne bearbeiten können? Ich bin erbötig, sie für die Arbeiten, von denen mir ein Abdruck eingesendet wird, anständig zu honorieren." („Hptb.", Dokumente, p.36.) Die „Gesinnungsgenossen" des Programms werden auf dem Zentralfest zu Lausanne „diejenigen welche", und „diejenigen welche" verwandeln sich dem Dr. Loening gegenüber in „Leute", Leute sans phrase. Vogt, dem Generalsäckelmeister und Generalrevisor der deutschen Presse, sind „Fonds zur Disposition gestellt" (I.e.p.36), nicht nur um Artikel „in Zeitungen und Journalen", sondern auch um „Broschüren" (I.e.) zu honorieren. Man begreift, daß eine Agentur auf dieser Stufenleiter ganz bedeutende „Fonds" erheischt. „- er sante nach allen den herren die in diusken riehen wären; er klagete in allen sin not, unde bot in ouch sin golt rot." (Kaiserchronik)1
Aber zu welchem Zwecke sollten Zeitungen, Journale, Broschüren von denjenigen welchen „bearbeitet" und dem Vogt „eingesendet" und von ihm „anständig" honoriert werden? „Eis gilt Italien", nichts weiter; denn um die Gefahr am Rhein abzuwenden, „scheint" es Herrn Vogt „von Vorteil, Louis Bonaparte in Italien verbluten zu machen". (I.e.p.34, Programm.) Nein, „es gilt nicht Italien". (Brief an Dr. Loening, I.e.p.36.) „Es gilt Ungarn." (Brief an Herrn H. in N., I.e.) Nein, es gilt nicht Ungarn. „Es gilt... Dinge, die ich nicht mitteilen kann." (I.e., Dokumente, p.36.) Ebenso widerspruchsvoll wie das Ding, das es gilt, ist die Quelle, woraus die anständigen „Fonds" fließen. Es ist „ein entfernter Winkel der französischen Schweiz". („Hptb.", p.210.) Nein, „es sind ungarische Frauen vom Westen". (Brief an Karl Blind, Beilage zu No.44 der „Allgemeinen Zeitung" vom 13. Februar 1860.) Umgekehrt, es sind masculini „im Bereich der deutschen und namentlich der östreichischen Polizei", (p. 17, „Centraifest".) Nicht minder chamäleonartig als Zweck und Quelle ist die Quantität seiner Fonds. Es sind „einige Franken". („Hptb.", p.210.) Es sind „kleine Fonds", {p. 17, „Centraifest".) Eis sind hinreichende Fonds, um alle Leute
1 „Nach allen Herren er sandte ringsum im deutschen Lande. Er klagte allen seine Not, Bot Gaben an, von Golde rot.' "[4M]
anständig zu honorieren, die in der deutschen Presse und Broschüren Vogtisch wirken können. Endlich zum Überfluß ist auch die Bildungsweise der Fonds zwieschlächtig. Vogt hat sie „mit Mühe und Not zusammengescharrt". („Hptb.", p.2I0.) Nein, sie „sind ihm zur Disposition gestellt". (I.e., Dokumente, p.36.)
„Wenn ich nicht irre", sagt die „abgerundete Natur", so „heißt bestechen soviel als jemand durch Geld oder andre Vorteile zu Handlungen und Äußerungen bewegen, welche seiner Überzeugung entgegengesetzt sind." (1. c.p.217.)
Wessen Überzeugung es also entspricht, sich kaufen zu lassen, kann nicht bestochen werden, und wessen Überzeugung es widerspricht, kann wieder nicht bestochen werden. Wenn die Pariser Ministerialsektion für die auswärtige Presse Schweizer Blättern z.B. die 250 Frs. kostende und täglich erscheinende Pariser „Lithographierte Correspondenz" für den halben, für den Viertelspreis, ja gratis anbietet und „wohlgesinnte Redaktionen" aufmerksam macht, daß sie in wachsendem Verhältnis noch auf einen baren monatlichen Zuschuß von 50,100 und 150 Frs. „je nach der Reüssite" rechnen können, so ist das beileibe keine Bestechung. Die Redaktionen, deren Überzeugung die tägliche „Correspondenz" und die monatliche Zulage widerspricht, werden nicht gezwungen, die eine auf- und die andre anzunehmen. Und ist Granier de Cassägnac „bestochen", oder La Gu6ronni6re, oder About, oder Grandguillot, oder Bullier, oder Jourdan vom „Sifecle"'4651, oder Martin und Boniface vom „Constitutionnel"[466), oder Rochaid Dä-Dä Albert? Ist es einer zahlungsfähigen Handlung oder Äußerung je in ihrem Leben passiert, in Konflikt mit der Überzeugung dieser Herren zu geraten? Oder hat Vogt z.B. den Agenten eines gewissen ihm früher feindlichen Schweizer Blattes bestochen, als er mehrere 100 Exemplare seiner „Studien" gratis zur Verfügung stellte? Sonderbare Einladung jedenfalls, diese Einladung Vogts an Publizisten, in den ihnen zu Gebote stehenden Organen im Sinne ihrer eignen Überzeugung zu wirken und für dies Wirken ihr Honorar zu empfangen durch das Organ des Herrn Karl Vogt zu Genf. Daß Vogt das Honorar, welches eine bestimmte Zeitung ihren eignen Mitarbeitern zahlt, mit den geheimen Subsidien zusammenwirft, die ein dritter Kerl aus anonymer Kasse den Korrespondenten ihm wildfremder Zeitungen, ja der Presse eines ganzen Landes anbietet - dies Quidproquo beweist, wie sehr sich der deutsche Dä-Dä in die Moral des 2. Dezember „verarbeitet" hat. „An der Quelle saß der Knabe."[4671 Aber an welcher Quelle? Statt der von Vogt beabsichtigten Wochenschrift „Die neue Schweiz"
erschien später zu Genf die „Neue Schweizer Zeitung", gestiftet von Dä-Däs vieljährigem Freunde, Herrn A.Braß. An einem kühlen Novembermorgen erklärte nun Herr Braß zum Erstaunen von ganz Genf, er habe „in einem Briefe an Vogt den französischen Fuftertrog zurückgewiesen, den Vogt ihm habe vorsetzen wollen". Er erklärte sich gleichzeitig bereit, gerichtlich für seine Denunziation einzustehn. („Neue Schweizer Zeitung" vom 12. Novbr. 1859.) Und der Hahn, oder vielmehr der Kapaun, der bisher so lustig gekräht hatte, verstummte, sobald er auf seinem eignen Düngerhaufen zerzaust ward. Der „Neuschweizer, Kantonsbürger von Bern und Genfer Ständerat" war jetzt mitten in Genf von einem seiner „notorischen" Freunde öffentlich eines Bestechungsversuchs mit französischem Geld angeklagt. Und der Genfer Ständerat verstummte. Mein glaube nicht etwa, daß Vogt die „Neue Schweizer Zeitung" vornehm ignorieren konnte. Die Denunziation gegen ihn erschien, wie gesagt, in der Nummer vom 12. November 1859. Kurz nachher brachte dasselbe Blatt eine pikante Charakteristik Plon-Plons, und die „Revue de Genkve"li6B\ das Organ des Genfer Diktators James Fazy, protestierte sofort in einem vierspaltigen Leitartikel. („RemedeGen&oe" vomö.Dezbr. 1859.) Sie protestierte „au nom du radicalisme genevois", im Namen des Genfer Radikedismus. Solches Gewicht legte James Fazy selbst der „Neuen Schweizer Zeitung" bei. Der vierspaltige Leitartikel der „Revue de Genfeve" zeigt Vogts mithelfende Hand unverkennbar. Braß selbst wird gewissermaßen entschuldigt. Nicht er sei der Urheber des Plon-Plon-Attentats, sondern nur irregeleitet. In echt Vogtscher Manier wird das Corpus delicti demselben L.Häfner aufgebürdet, den Vogt auch im „Hauptbuch" (p. 188) verdächtigt, „widerwärtige persönliche Skandalgeschichten über den Kaiser und den Prinzen Napoleon" zu schreiben, und ebensowenig fehlt die bei Vogt unvermeidliche Anspielung auf „den berüchtigten badischen Exlieutenant Clossmann " als Berner Korrespondenten der „Allgemeinen Zeitung". (Vgl. „Hptb.", p. 198.) Verweilen wir einen Augenblick bei dem Protest, den der Herr und der Knecht, James Fazy und Karl Vogt, „im Namen des Genfer Radikalismus" und zur Ehrenrettung Plon-Plons am 6. Dezbr. 1859 in der „Revue de Genfeve" veröffentlicht haben. Braß wird angeklagt, er suche „seine deutsche Meinung von Frankreich durch Beleidigung eines Prinzen des Hauses Bonapeurte zu befestigen". Plon-Plon, wie man in Genf schon lange wisse, sei ein Liberaler vom reinsten Wasser, der zur Zeit seines Exils großmütig ausschlug, „eine Rolle am
Hofe von Stuttgart oder selbst von Petersburg zu spielen". Nichts würde lächerlicher sein, als ihm die Idee der Bildung einer kleinen Souveränetät hier und dort, eines etrurischen Königreichs etwa, wie es der injuriöse Artikel der „Neuen Schweizer Zeitung" tut, unterzuschieben. „Der Prinz Napoleon, stark im persönlichen Gefühl seines Genies und seiner Talente, schätzt sich zu hoch für diese elenden kleinen Urone." In Freinkreich vielmehr, „dem Zentrum hoher Zivilisation und allgemeinen Anstoßes", zieht er vor, den Marquis Posa bei seinem erlauchten Cousin „als Bürger-Prinz" (prince-citoyen) zu spielen. „Sein Cousin achtet und liebt ihn, was man immer davon sagen mag." Der Prinz ist nicht nur Bonapartes Marquis Posa. Er ist „der uninteressierte Freund" Italiens, der Schweiz, kurz der Nationalitäten. „Der Prinz Napoleon, wie der Kaiser, ist ein großer Nationalökonom... Sicher, wenn jemals die guten Prinzipien der politischen Ökonomie in Frankreich siegen, wird der Prinz Napoleon viel dazu beigetragen haben." Er war und ist „Parteigänger der unbeschränktesten Preßfreiheit", Gegner aller Polizei-Präventivmaßregeln, Träger der „Freiheitsideen im weitesten Sinn des Worts, in ihrer Theorie wie in ihrer Anwendung". Findet er des Kaisers Ohren seiner Egeria-Stimme verstopft durch böse Umgebungen, so zieht er sich würdevoll zurück, aber „ohne zu schmollen". Es ist nichts „als sein Verdienst, das ihn den Verleumdungen Europas ausgesetzt hat". Die „Feinde Frankreichs fürchten ihn, weil er sich auf den revolutionären Beistand der Völker Europas stützt, um ihnen ihre Nationalität und ihre Freiheit wiederzugeben". Also verkanntes Genie, Marquis Posa, Egeria, Nationalökonom, Hort der unterjochten Nationalitäten, Demokrat vom reinsten Wasser - und sollte man es für möglich halten? - Plon-Plon ist Jiabile comme general et brave comme tout officier franfais" („gewandt etls General und tapfer wie jeder französische Offizier"). „ In dem orientalischen Feldzug während und nach der Schlacht an der Alma hat er das bewiesen." Und in der italienischen Kampagne „hat er sein Armeekorps von 50 000 Mann" (das bekannte Corps de touristes, ich hätte beinahe gesagt Corps de ballet) „wohlorganisiert, und hat er in kurzer Zeit einen schweren Marsch durch ein bergiges Land zurückgelegt, ohne daß seiner Truppe irgend etwas mangelte". Die französischen Soldaten in der Krim tauften bekanntlich das Keinonenfieber la maladie Plon-PIonienne1, und wahrscheinlich zog sich Plon-Plon
1 Plon-Plon-Krankheit
nur von der Halbinsel zurück wegen des um sich greifenden Mangels ein Lebensmitteln.14691 „Wir", schließt die „Revue de Geneve" triumphierend ab, „wir haben ihn"-nämlich den Plon-Plon - „gezeigt, wie er ist." Hurra für General Plon-Plon I Kein Wunder also, wenn Vogt sagt, er habe seine Kriegskasse aus „demokratischen Händen" empfangen. Plon-Plon, der Prince Rouge1, ist Vogts wie Fazys Ideal, gewissermaßen der verwünschte Prinz der europäischen Demokratie. Vogt konnte sein Geld aus keinen reinem demokratischen Händen erhalten als aus den Händen Plon-Plons. Selbst wenn ein Teil der von Plon-Plons erlauchtem Cousin Herrn Kossuth direkt übermachten Gelder durch ungarische Hände in die Hände Vogts gespielt worden, so blieb ihr „Ursprung ein Grauen", aber aus Plon-Plons Händen! Selbst die Gelder, die Vogt zur Zeit des Neuenburger Handels von der Gräfin C.2, Klapkas Freundin, empfing, mochten aus delikatem Händen kommen, unmöglich aus reinem und demokratischeren Händen. Plon-Plon est voluptueux comme Heliogabale, lache comme Ivan III et faux comme un vrai Bonaparte3, sagt ein bekannter französischer] Schriftsteller. Das Schlimmste, was Plon-Plon angerichtet hat, war, seinen Cousin zum homme s6rieux4 zu machen. Victor Hugo konnte noch von Louis Bonaparte sagen: n'est pas monstre qui veut5, aber seitdem Louis Bonaparte den Plon-Plon erfand, konzentrierte sich auf den Mann in den Tuilerien die geschäftliche, auf den Mann in dem Palais Royal die groteske Seite des imperialistischen Januskopfes. Der falsche Bonaparte, der der Neffe seines Onkels ist, ohne der Sohn seines Vaters zu sein14701, erschien echt gegenüber diesem echten Benaparte; so daß die Franzosen immer noch sagen: l'autre est plus sür6. Plon-Plon ist zugleich der Don Quixote und der Hudibras des Bas Empire.'3951 Hamlet fand es bedenklich, daß Alexanders Asche vielleicht bestimmt sei, das Spundloch eines Bierfasses zu verstopfen.14711 Was würde Hamlet sagen, wenn er den aufgelösten Kopf Napoleons auf den Schultern Plon-Plons erblickte!*
* Vogt sollte, wie er erzählt, schon 1852 eine Entdeckungsreise (Bacchuszug?) mit Plon-Plon antreten, dem ein „Proudhonist" ihn wegen seiner „mais do que promettia a for?a humana'" („staunenerregenden naturgeschichtlichen Untersuchungen") mit Begeistrung anempfohlen hatte. („Hauptb.", Dokumente, p.24.)
1 Rote Prinz - 2 Kirolyi - 3 Plon-Plon ist wollüstig wie Heliogabalus, feige wie Iwan III. und falsch wie ein echter Bonaparte - 4 ernst zu nehmenden Mann - 5 es ist nicht jeder ein Ungeheuer, der es gern sein möchte - 6 der andere ist sicherer - 7 „mehr als menschliche Kraft versprach"
Obgleich Vogt den Hauptstock seiner Kriegskasse „aus dem französischen Futtertrog" bezog, mag er allerdings nebenbei zur Maskierung des Futtertrogs ostensible Sammlungen von „einigen Franken" unter mehr oder minder demokratischen Freunden veranstaltet haben. So lösen sich einfach seine Widersprüche über Quelle, Quantität und Bildungsweise seiner Fonds. Vogts Agentur beschränkte sich nicht auf „Studien", „Programm" und Werbebüro. Auf dem Lausanner „Zentralfest" verkündete er den deutschen Arbeitern in der Schweiz L. Bonapartes Mission zur Befreiung der Nationalitäten, natürlich von radikalem Standpunkt als in den für den deutschen liberalen Philister bestimmten „Studien". Während er hier durch tiefe Durchdringung des Verhältnisses von „Stoff und Kraft" zur Überzeugung gelangt war, daß „an die Erschütterung und Auflösung der bestehenden Regierungen in Deutschland" nicht gedacht werden könne (p.VII, „Studien", Vorrede), und dem „deutschen Bourgeois" (I.c.p. 128) namentlich zurief, „sich zu Herzen zu nehmen", daß die bonapartistische „Befreiung" Italiens „vor Revolution" in Deutschland schütze, belehrt er die deutschen Arbeiter umgekehrt, daß „ Ostreich der einzige Haltpunkt für die Fortdauer ihrer (der deutschen Fürsten) Existenz ist". („Centralfest etc.", p. 11.)
„Ich habe euch eben gesagt", sagt er, „daß dem Auslande gegenüber kein Deutschland existiert, daß es erst geschaffen werden muß und meiner Überzeugung nach nur geschaffen werden kann in Gestalt eines Bundes von Republiken ähnlich demjenigen der schweizerischen Eidgenossenschaft." (1-c.p. 10.)
Dies sagte er am 26. Juni (1859), während er noch am 6. Juni, im Nachwort zur zweiten Auflage der „Studien", den Prinzregenten von Preußen1 anfleht, Deutschland durch Waffengewalt und einen dynastischen Bürgerkrieg dem Haus Hohenzollern zu unterwerfen. Monarchistische Zentralisation durch Waffengewalt ist natürlich der kürzeste Weg zu einer Föderativrepublik „ähnlich derjenigen der schweizerischen Eidgenossenschaft". Er entwickelt ferner die Theorie vom „äußern Feind" - Frankreich -, dem Deutschland sich gegen den „iruiern Feind" - Ostreich - anschließen müsse.
„Wenn ich", rief er aus, „die Wahl habe zwischen dem Teufel (Habsburg) und seiner Großmutter (L. Bonaparte), so wähle ich die letztere; denn sie ist ein altes Weib und wird sterben." Diese direkte Aufforderung an Deutschland, unter dem Vorwand des Hasses gegen Ostreich sich dem dezembristischen Frankreich in die Arme
1 Wilhelm
zu werfen, schien ihm jedoch für das Lesepublikum zu kompromittierlich und wandelte er daher in der gedruckten Rede folgendermaßen um: „Und wenn es sich darum handelt, in dem Streite zwischen dem Teufel und seiner Großmutter Partei zu ergreifen, so halten wir es für das Beste, ulenn beide untereinander sich totschlagen und sich auffressen, indem uns damit die Mühe gespart ist." („Centraifest etc.", p. 13.) Während er endlich in den „Studien" L.Bonaparte als Bauern- und Soldatenkaiser aufs Schild hebt, erklärt er diesmal, einem Arbeiterpublikum gegenüber, daß „namentlich die Arbeiter in Paris in ihrer großen Mehrzahl in dem gegenwärtigen Augenblicke für Louis Bonaparte gewonnen seien. „Louis Bonaparte tue ", in der Meinung der französischen Arbeiter, „alles, was die Republik habe tun sollen, indem er den Proletariern Arbeit gebe, die Bourgeois ruiniere usw." („Centraifest etc.", p.9.) Also Louis Bonaparte Arbeiterdiktator, und als Arbeiterdiktator den deutschen Arbeitern in der Schweiz von demselben Vogt angepriesen, der im „Hauptbuch" bei dem bloßen Worte „Arbeiterdiktatur" in bürgerlicher Entrüstung aufschäumt! Das Pariser Programm, das den dezembristischen Agenten in der Schweiz ihren Organisationsplan mit Bezug auf die Annexation Savoyens vorschrieb, bestand aus drei Punkten: 1. Solange als möglich das Gerücht der drohenden Gefahr völlig ignorieren und im Notfall als östreichische Erfindung abfertigen; 2. in einem vorgerückteren Stadium die Ansicht verbreiten, daß Louis Bonaparte das neutralisierte Gebiet der Schweiz einverleiben wolle; und endlich 3., nach vollbrachter Annexation, letztere als Vorwand für die Allianz der Schweiz mit Frankreich, d.h. ihre freiwillige Unterwerfung unter das bonapartistische Protektorat, geltend machen. Wir werden nun sehn, wie treu der Herr und der Knecht, James Fazy und Karl Vogt, der Diktator von Genf und sein von ihm kreierter Genfer Ständerat, diesem Programm nachlebten. Man weiß bereits, daß Vogt in den „Studien" jede entfernteste Anspielung auf die Idee vermied, wofür sein Schicksalsmensch in den Krieg zog. Dasselbe Schweigen auf dem Zentralfest zu Lausanne, im Nationalrat14571, bei der Schiller- und Robert-Blum-Feier, im Bieler Commis voyageur, endlich im „Hauptbuch". Und dennoch war die „Idee" sogar ältern Datums als die Verschwörung von Plombikres. Schon im Dezember 1851, einige Tage nach dem Staatsstreich, las man im „Patriote savoisien":
„Man verteilt sich bereits die Beamtenstellen Savoyens in den Antichambres des Elys£e. Seine Journale machen sich hierüber sogar sehr angenehm lustig."* Am 6, Dezember 1851 sah Herr Fazy Genf bereits dem Dezemberreich verfallen.** Am I.Juli 1859 hatte Stampf Ii, damals Bundespräsident, eine Unterredung mit Captain Harris, englischem Geschäftsführer zu Bern. Er wiederholte seine Befürchtung, daß für den Fall einer Ausdehnung der sardinischen Herrschaft in Italien die Annexation Savoyens an Frankreich beschlossen sei, und hob hervor, daß die Annexation, namentlich Nordsavoyens, eine Flanke der Schweiz vollständig preisgebe und den Verlust Genfs bald nachziehn werde. (Siehe das erste Blue Book, „On the proposed annexation of Savoy and Nice", No. I.) Harris berichtete an Malmesbury, der seinerseits den Lord Cowley zu Paris beauftragte, von Walewski Aufschlüsse über die Absichten des Kaisers zu verlangen. Walewski leugnete keineswegs, daß „die Annexationsfrage mehr als einmal zwischen Frankreich und Sardinien verhandelt worden sei und daß der Kaiser die Idee hege, falls Sardinien sich zu einem italischen Königtume erweitre.sei es nicht unvernünftig zu erwarten, daß es andrerseits territoriale Konzessionen an Frankreich mache". (No. IV, I.e.) Walewskis Antwort datiert vom 4. Juli 1859, ging also dem Friedensschluß von Villafranca vorher. Im August 1859 erschien zu Paris Pet6tins Pamphlet, worin Europa auf die Annexation Savoyens vorbereitet ward. In demselben August, nach der Sommersitzung der Schweizer Nationalversammlung, kroch Herr Vogt nach Paris, um dort Instruktionen von Plon-Plon einzuholen. Um von der Fährte abzulenken, ließ er durch seine Mitstrolche, Ranickel und Konsorten, zu Genf das Gerücht verbreiten, er sei nach einem Kurort am Vierwaldstätter See verreist. „ze Paris lebt er mangen tac, vil kleiner wisheit er enpflac, sin zerung was unmäzen groz;...
* „On se partage deja les places... de la Savoie dans les antichambres de l'Elysee. Ses journaux plaisantent meme assez agreablement lä-dessus." ** „Peut-etre le citoyen Thurgovien que nous avons si bien d£fendu contre les menaces de Louis-Philippe, nous fera-t-il la gräce de vouloir bien se constituer comme m£diateur, et reprendre de nous Genive."1 („Revue de Geneüe" vom 6.Dezember 1851.)
1 „Vielleicht erweist uns der Bürger von Thurgau, den wir gegen die Drohungen LouisPhilippes so gut verteidigt haben, die Gnade, sich gütigst als Vermittler aufzutun und uns Genf wieder wegzunehmen."
ist er ein esel und ein gouch, daz selb ist er zuo Paris ouch."1 Im September 1859 sab der Schweizer Bundesrat die Gefahr der Annexation näherrücken (I.e., No.VI), am 12.November beschloß er, ein Memorandum in diesem Sinn an die Großmächte zu richten, und am 18. November übermachten Präsident Stämpfli und Kanzler Schieß eine offizielle Note dem englischen Geschäftsträger zu Bern. (I.e., No. IX.) James Fazy, im Oktober zurückgekehrt von seiner verunglückten Reise nach Toskana, wo er vergeblich für Plon-Plons etrurisches Königreich gewirkt hatte, trat nun in seiner gewohnten affektiert jähzornigen, zankend geräuschvollen Weise den Annexationsgerüchten entgegen: In Frankreich wie in Sardinien träume niemand von dem Anschluß. In demselben Maße, wie die Gefahr näherrückte, steigerte sich das Vertrauen der „Revue de Gen&ve", deren Napoleonidenkultus im November und Dezember 1859 (s. z.B. den oben zitierten Plorv-Plon-Artikel) korybantisch tobte.14721 Mit dem Jahr 1860 treten wir in die zweite Phase des Annexationshandels. Ignorieren und Ableugnen lagen nicht länger im dezembristischen Interesse. Es galt nun vielmehr, die Schweiz für die Annexation zu kirren und in eine falsche Stellung hineinzuschwindeln. Der zweite Punkt des TuilerienProgramms war auszuführen, also das Stichwort der beabsichtigten Verschenkung des neutralen Gebiets an die Schweiz möglichst laut anzuschlagen. Die Schweizer Dezembristen wurden in diesem Geschäft natürlich durch gleichzeitige Manöver zu Paris unterstützt. So erklärte Baroche, Minister des Innern, Anfang Januar 1860 dem Schweizer Gesandten Dt. Kern, daß,
„wenn ein Besitzwechsel Savoyens eintrete, der Schweiz gleichzeitig, gemäß den Verträgen von 1815, eine gute Verteidigungslinie abgetreten werden solle". (Siehe das zitierte Blue Book No. XIII.) ' Noch am 2. Februar 1860, an demselben Tag als Thouvenel dem englischen Gesandten Lord Gwley die Annexation Savoyens und Nizzas „als Möglichkeit" anzeigte, erklärte er ihm zugleich, „die französische Regierung betrachte es als selbstredend, daß unter solchen Umständen die Distrikte von Chablais und Faucigny für immer der Schweiz einverleibt würden". O.e., No. XXVII.)
1 „Lebt" er in Paris so manchen Tag, am Klügerwerden ihm nicht viel lag, er fraß gar über alles Maß... Wenn er ein Bock ist oder Gauch, so ist er in Paris es auch."t374l
Die Verbreitung dieser Illusion sollte die Schweiz nicht nur für die Annexation Savoyens an das Dezemberreich kirren, sondern ihrem spätem Protest gegen die Annexation die Spitze abbrechen und sie vor Europa als Mitschuldigen, wenn auch geprellten Mitschuldigen, des Dezember kompromittieren. Frey-Herose, seit 1860 Bundespräsident, fiel nicht in die Schlinge, erklärte dem Captain Harris vielmehr sein Bedenken über die angeblichen Vorteile der Einverleibung des neutralisierten Gebiets in die Schweiz. Harris seinerseits warnte die eidgenössische Regierung vor der bonapartistischen Intrige, damit „die Schweiz nicht auch als eine Macht erscheine, die Annexationsgelüste hege und nach Gebietsausdehnung strebe". (1. c., No. XV.) Dagegen schreibt Sir James Hudson, der englische Gesandte in Turin, nach einer längern Unterredung mit Cavour, an Lord John Russell: „ Ich habe gute Gründe zu glauben, daß die Schweiz ebenfalls gierig danach strebt, einen Teil des savoyischen Gebiets zu annexieren. Folglich muß man sich keine Illusion darüber machen, daß, wenn Frankreich für seine Annexationsgelüste getadelt wird, die Schweiz nicht minder schuldig ist... Da diese Frage durch diesen doppelten Angriff derart kompliziert wird, ist die Haltung Sardiniens eher zu entschuldigen." O.e., No. XXXIV.) Endlich, sobald Louis Bonaparte die Maske wegwarf, verriet auch Thouvenel ganz ungeniert das Geheimnis des Stichworts von der Schweizer Annexation des neutralen Gebiets. In einer Depesche an den französischen Gesandtschaftsträger zu Bern verhöhnt er offen den Protest der Schweiz gegen die Annexation Savoyens an Frankreich, und womit? Mit dem der Schweiz von Paris aus aufoktroyierten „Plan für die Teilung Savoyens". (Siehe Thouvenels Depesche vom 17. März 1860.) Und wie hatten unterdes die Schweizer Agenten des Dezember an dem Truggewebe mitgewirkt? James Fazy ist der erste, der im Januar 1860 dem englischen Geschäftsführer zu Bern die Annexation von Chablais und Faucigny an die Schweiz, nicht als Versprechen Louis Bonapartes, sondern als den eignen Wunsch der Schweiz und der Bewohner der neutralisierten Distrikte darstellt. (I.e., No.XXIII.) Vogt, der bisher die Möglichkeit der Annexation Savoyens an Frankreich nie geahnt hatte, wird plötzlich von prophetischem Geist erfüllt, und die „Times", die seit ihrer Gründung nie den Namen Vogt genannt, meldet plötzlich in einer Korrespondenz, d.d. 30. Januar:
„Der Schweizer Professor Vogt behauptet zu wissen, daß Frankreich der Schweiz Faucigny, Chablais und das Genevois, die neutralen Gebiete Savoyens, verschaffen
will, falls der Bundesrat der Republik Frankreich den freien Gebrauch des Simplon einräume." („Times", 3. Februar 1860.) Noch mehr! Ende Januar 1860 versichert James Fazy dem englischen Geschäftsführer zu Bern, Caootir, mit dem er vor kaum zwei Monaten eine lange Unterredung zu Genf gepflogen, sei Gift und Galle gegen jede Zession an Frankreich. (S. das zitierte Blue Book No. XXXIII.) Während so Fazy den Cavour England gegenüber verbürgt, entschuldigt sich Cavour England gegenüber mit den Annexationsgelüsten desselben Fazy. (I.e., No.XXXIII.) Und Tourte endlich, der Schweizer Gesandte in Turin, läuft noch am 9. Febr. 1860 eigens zum englischen Gesandten Hudson, um ihm zu beteuern, daß
„kein Übereinkommen zwischen Sardinien und Frankreich wegen der Zession Savoyens an Frankreich existiere und daß Sardinien nicht im entferntesten geneigt sei, Savoyen an Frankreich auszutauschen oder abzutreten". (I.e.) Der Augenblick der Entscheidung rückte näher. Die Pariser „Patrie"[473) vom 25. Januar 1860 bereitete auf die Annexation Savoyens vor in einem Artikel, betitelt „LesvceuxdelaSavoie". In einem andern Artikel vom 27. Januar, „Le comte de Nice", warf sie der Annexation Nizzas ihren dezembristisch-stilistischen Schatten vorher. Am 2. Februar 1860 kündigte Thouvenel dem englischen Gesandten Cowley die Annexation Savoyens und Nizzas als schon vor dem Krieg zwischen Frankreich und Sardinien vereinbarte „Möglichkeit" an. Eine offizielle Note über Frankreichs wirklichen Entschluß, Savoyen und Nizza einzuverleiben, wurde dem Lord Cowley jedoch erst am 5. Februar (s. die Rede Lord Cowleys .im Oberhaus vom 23.April 1860) und dem Dr. Kern erst am 6. Februar mitgeteilt - beiden, dem englischen und dem Schweizer Gesandten, unter der ausdrücklichen Erklärung, das neutralisierte Gebiet solle der Schweiz einverleibt werden. Vor diesen offiziellen Eröffnungen wurde James Fazy von den Tuilerien aus unterrichtet, daß Sardinien durch geheimen Vertrag Savoyen und Nizza bereits an Frankreich abgetreten habe und daß der Vertrag keine Klausel zugunsten der Schweiz enthalte. Vor den offiziellen Erklärungen Thouvenels an Lord Cowley und Dr. Kern sollte Fazy seinen Genfer Untertanen die kaiserliche Pille eingeben und verzuckern. Am 3.Februar ließ er daher durch sein blind ergebnes Werkzeug John Perrier im Lokal des Club populaire zu Genf ein Volksmeeting veranstalten, wozu er sich scheinbar zufällig einfand unter dem Vorwand/
„er habe soeben gehört (je viens d'entendre), man beschäftige sich mit den Verträgen, die Frankreich und Sardinien etwa über die Zession Savoyens abgeschlossen haben
möchten. Leider sei ein solcher Vertrag am 27. Januar von der sardinischen Regierung unterzeichnet worden; aber aus dieser positiven Tatsache dürfen wir noch nicht schließen, daß unsre Sicherheit wirklich bedroht ist... Der Vertrag enthält zwar keinen geschriebenen Vorbehalt zugunsten unsrer Rechte auf das neutralisierte sardinische Gebiet; aber wir wissen nicht, ob in dem Gedanken der Kontrahenten nicht ein Vorbehalt in diesem Sinne existiert... Er mag als sich von selbst verstehend einbegriffen sein (sous-entendu comme allant de soi)... Wir müssen nur nicht vorzeitig einen Geist des Mißtrauens zeigen... Wir müssen uns auf die Sympathie" (mit dem StaatsstreichKaisertum) „berufen... und uns jeden feindseligen Worts enthalten". (S. Fazys „vertrauensvolle" Rede, in ihrer Art ein demagogisches Meisterstück, in der „Revue de Gentoeu vom 3. Februar 1860.) Der englische Geschäftsträger zu Bern fand Fazys prophetische Wissenschaft auffallend genug, um Lord John Russell durch eine eigne Depesche davon in Kenntnis zu setzen. Der offizielle Vertrag über die Abtretung Savoyens und Nizzas an Frankreich sollte "am 24. März 1860 abgeschlossen werden. Es war also keine Zeit zu verlieren. Der Schweizer Patriotismus der Genfer Dezembristen mußte offiziell konstatiert werden, bevor die Annexation Savoyens offiziell proklamiert war. Signor Vogt reiste daher in Begleitung des Generals Klapka, der de bonne foi1 sein mochte, Anfang März nach Paris, um seinen Einfluß auf die Egeria14741 des Palais Royal, das verkannte Genie Plon-Plon, spielen zu lassen und vor den Augen der ganzen Schweiz sein persönliches Gewicht zugunsten der Annexation des neutralisierten Gebiets an die Schweiz in die Waagschale zu werfen. Von der lukullischen Tafel Plon-Plons - in der Gastronomie wetteifert Plon-Plon bekanntlich mit Lucullus und Cambac6r£s, so daß selbst Brillat-Savarin, erstände er vom Tode, Plon-Plons Genie, Nationalökonomie, liberale Ideen, Feldhermtalent und persönliche Tapferkeit auf diesem Gebiet anstaunen würde - von der lukullischen Tafel Plon-Plons, in die er als „angenehmer Gesellschafter" tapfer einhieb, forderte Falstaff-Vogt nun die Schweizer zur Tapferkeit auf. (S. seinen Pariser Schreibebrief im Bieler „Commis voyageur" vom 8. März 1860, Beilage.) Die Schweiz solle zeigen, daß
„ihre Milizen auch nicht bloß zum Paradieren und Soldatenspielen da sind". Die „Abtretung des neutralisierten Gebiets an die Schweiz" sei eine Illusion. „Die Überlassung des Chablais und Faucigny an Frankreich sei ein erster Schritt, dem weitere folgen würden." „Auf den zwei Stelzen, Nationalität und natürliche Grenzen, kömmt man vom Genfer See an die Aar und zuletzt an den Bodensee und den Rhein - wenn die Beine stark genug sind."
1 guten Glaubens
Aber - und dies ist die Pointe - aber FalstafF-Vogt glaubt immer noch nicht, was der französische Minister Thouvenel selbst schon einen Monat vorher offiziell verraten hatte, was ganz Europa jetzt wußte - daß die Abtretung Savoyens und Nizzas bereits im August 1858 zu Plombikres als Kaufpreis für die französische Intervention gegen Ostreich ausbedungen worden war. Sein „Schicksalsmensch" ist vielmehr soeben erst nur durch die Pfaffen wider seinen Willen dem Chauvinismus in die Arme getrieben und zur Konfiskation des neutralisierten Gebiets genotzüchtigt worden.
„Offenbar", stottert der verlegne Apologet, „offenbar hat man in den leitenden Kreisen ein Gegengewicht gegen die stets wachsende klerikale Bewegung gesucht und glaubt dasselbe nun in dem s. g. Chauvinismus zu finden - in jenem borniertesten Nationalsinn, der nichts kennt als die Erwerbung eines Stückchens (!) Landes."
Nachdem Vogt, von den Dämpfen der Plon-PIonistischen Garküche berauscht, so tapfer im Bieler „Commis voyageur" gewirtschaftet, fabelte er kurz nach seiner Rückkehr von Paris durch dasselbe Sprachrohr von der absoluten Franzosenfreundlichkeit der Nizzarden und geriet so in unangenehmen Konflikt mit Vegezzi-Ruscalla, einem der Zentralvorsteher des italienischen Nationalvereins und Verfasser der Broschüre „La Nazionalitä di Nizza". Und als derselbe Held, der von Plon-Plons Tafel aus den Winkelried gespielt, nun in dem Nationalrat zu Bern das Wort ergriff, wandelte sich der kriegerische Trompetenstoß in einen diplomatischen Flötenpfiff, der ruhige Fortsetzung der Unterhandlungen mit deifl von jeher schweizer' freundlichen Kaiser anempfahl und besonders nachdrücklich vor einer Allianz mit dem Osten wamte. FreyrHerose, der Bundespräsident, ließ einige sonderbare Anspielungen auf Vogt fallen, dem dagegen die Genugtuung ward, seine. Rede vom „Nouvelliste Vaudois" gepriesen zu sehn. Der „Nouvelliste Vaudois" ist das Organ der Herren Blanchenay, Delarageaz und der übrigen Waadtländer Staatsmagnaten, mit einem Worte der Schweizer Westbahn, ganz wie die „Neue Zürcher Zeitung" das Organ des Zürcher Bonapartismus und der Nordostbahn ist.[475' Zur Charakteristik der Patrone des „Nouvelliste Vaudois" genüge die Bemerkung, daß bei Gelegenheit des bekannten Oronbahnstreits fünf Waadtländer Regierungsräte von der gegnerischen Presse wiederholt und ungestraft bezüchtigt wurden, jeder von ihnen habe vomPariser Credit Mobilierli7el -dem Hauptaktionär der Schweizer Westbahn - je 10 000 Frs. an Aktien (20 Stück) zum Geschenk erhalten. Wenige Teige, nachdem Vogt in Begleitung Klapkas zur Egeria des Palais Royal abgereist war, reiste James Fazy, begleitet von JohnPerrier, zur Sphinx der Tuilerien. Louis Bonaparte gefällt sich bekanntlich in der Rolle der
Sphinx und besoldet seine eignen ödipusse, wie frühere Könige von Freinkreich ihre eignen Hofnarren besoldeten. Fazy warf sich in den Tuilerien zwischen die Schweiz und die Sphinx. John Perrier, wie gesagt, war sein Reisebegleiter. Dieser John ist der Schatten seines James, tut alles was dieser will, nichts was dieser nicht will, lebt durch ihn und für ihn, ist durch ihn Genfer Großrat geworden,,.präpariert alle Feste und Toaste für ihn, sein Leporello und sein Fialin. Beide kehrten nach Genf zurück, unverrichtetersache, soweit die Lage der Schweiz, mit überraschendem Erfolg, soweit Fazys eigene Stellung bedroht war. Fazy donnerte öffentlich, daß ihm nun die Schuppen von den Augen gefallen und er künftig den Louis Bonaparte ganz so hassen werde, wie er ihn bisher geliebt habe. Sonderbare Liebe, diese neunjährige Liebe des Republikaners Fazy für den Mörder zweier Republiken! Fazy spielte den enttäuschten Patrioten mit solcher Virtuosität, daß ganz Genf in Fazy-Enthusiasmus schwamm und der Verlust der Fazyschen Illusionen fast noch tiefer empfunden ward als der Verlust der neutralisierten Provinzen. Selbst Theodore de Saussure, sein vieljähriger Gegner, der Chef der aristokratischen Oppositionspartei, gestand die Unmöglichkeit, länger am Schweizer Patriotismus des James Fazy zu zweifeln. Nach Entgegennahme der so wohlverdienten Volksovationen eilte der Tyrann von Genf zum Nationalrat in Bern. Kurz nach seiner Abreise unternahm sein Getreuer, sein Pariser Reisegefährte, kurz sein eigner John Perrier, eine Argonautenfahrt ganz eigner Art. Eine Bande von Genfer Trunkenbolden (so wurden sie wenigstens in der London „Times" bezeichnet), auserkiest aus der Gesellschaft der „Fruitiers", Fazys demokratischer Leibgarde, segelte unter Perriers Leitung waffenlos nach Thonon, um auf diesem Punkte des neutralisierten Gebiets eine antifranzösische Demonstration zu machen. Worin diese Demonstration bestand oder bestehn sollte, ob die Argonauten'4771 ein goldnes Fell zu erobern oder ihr eignes Fell zu Markt zu tragen, kann bis zu diesem Augenblick niemand sagen, da kein Orpheus Perriers Argonautenfahrt begleitet und kein Apollonius sie besungen hat. Es handelt sich, scheint es, um eine Art symbolischer Besitzergreifung des neutralisierten Gebiets durch die von John Perrier und seiner Bande repräsentierte Schweiz. Die wirkliche Schweiz bekam nun jedenfalls die Hände so vollauf zu tun mit Entschuldigungsdiplomatie und Loyalitätserklärungen und Indignationsbezeigungen von wegen John Perriers symbolischer Besitzergreifung Thonons, daß Louis Bonaparte in der Tat noch großmütig erschien, als er sich nur mit der wirklichen Besetzung Thonons und des übrigen neutralisierten Gebiets begnügte.
John Perrier, in dessen Taschen sich einige 1000 Frs. vorfanden, wurde zu Genf verhaftet. Der Vizestaatskanzler und Redakteur der „Revue de Gerleve", Herr Ducommun, ein junger Mann ohne Privatvermögen und in beiden vorgenannten Stellungen vom Staatsratspräsidenten und Revuebesitzer James Fazy abhängig, wurde auf Perriers Aussage ebenfalls verhaftet. Er gestand, dem Perrier das Geld gegeben zu haben, das einer zur Errichtung eines Freikorps errichteten Kasse entnommen sei - einer Kasse, deren Existenz bisher den Genfer Radikalen unbekannt geblieben war. Die gerichtliche Untersuchung endete mit der Entlassung, erst Ducommuns, dann Perriers. Am 24. März wurden Nizza und Savoyen samt dem neutralisierten Gebiet von Viktor Emanuel offiziell an Bonaparte abgetreten. Am 29./30.März unternahm der von Paris mit Fazy nach Genf zurückgekehrte John Perrier seine Argonautenfahrt, eine burleske Demonstration, die grade im entscheidenden Augenblick jede ernsthafte Demonstration vereitelte. James Fazy versicherte zu Bern, daß „er um den Vorfall durchaus nichts wisse"*. Laity renommierte im exneutralen Gebiet, hätten die Schweizer dort tatsächlich zugegriffen, so würde sein Kaiser sofort 3 Divisionen in Genf haben einrücken lassen. Vogt endlich war dem Geheimnis der Argonautenfahrt wildfremd, denn wenige Teige bevor sie stattfand, denunzierte er der Genfer Polizei prophylaktisch eine von Genf aus an der savoy'schen Grenze herbeizuführende Kollision - jedoch mit falscher Spürung. Es liegt mir hierüber
* Das Bewußtsein, daß Genf seit der Annexation Nordsavoyens französische Enklave geworden, nicht minder die französische Befestigung des Hafens von Thonon, haben bekanntlich in letzterer Zeit die antidezembristische Stimmung der alten Republik in hohem Grade aufgestachelt. Die echten Ausbrüche dieser Volksstimmung sind jedoch begleitet von falschen, die auf Pariser Bestellung und zum Teil von französischem Polizeipersonal selbst aufgeführt werden. So lesen wir z. B. in der „Saturday Review" vom 22.Septbr. 1860: „Eine Partie s. g. Schweizer überließ sich zu Thonon groben Insulten gegen das Empire, als ein stümpernder Gensd'arm, im Übermaß offiziellen Eifers, Hand auf die s. g. Schweizer legte und auf Einsicht ihrer Pässe bestand. Die Schweizer wiesen sich als Franzosen aus, deren Papiere vollkommen en rkgle1 waren... Die bedenklichste Tatsache mit Bezug auf diese künstlichen Kollisionen ist, daß in einer der frühsten und schlimmsten ein enger Anhänger Fazys" (Freund Perrier) „auffallend verwickelt war." („The gravest fact relating to these artificial collisions is, that in one of the earliest and the worst of them a dose adherent of Mr. Fazy was prominently implicated.")
1 in Ordnung
der Brief eines in Genf lebenden Flüchtlings, früher mit Vogt befreundet, an einen zu London lebenden Flüchtling vor. Darin heißt es u.a.:
„Vogt verbreitete, ich kugle unaufhörlich zwischen der Westschweiz und Savoyen umher, um eine Revolution zum Nachteil der Schweiz und zugunsten schweizerfeindlicher Mächte anzuzetteln. Dies war nur einige Tage vor dem Attentat Perriers, um das Vogt sicherlich wußte, ich aber so wenig als Sie. Offenbar suchte er die Spur auf mich zu lenken und mich zu verderben. Glücklicherweise denunzierte er mich auch dem Polizeidirekfor Duy, der mich rufen ließ und nicht wenig überrascht wurde, als ich ihn gleich bei der ersten Anfrage lachend unterbrach: ,Aha! Die bekannte Vogtsche Intrige!' Er ließ sich nun Näheres über mein Verhältnis zu Vogt mitteilen. Meine Aussage wurde gleichzeitig unterstützt von einem Regierungssekretär, Mitglied der Helvetia, welcher des andern Tags nach Bern zur Zentralversammlung reiste und hier dem Bruder Vogts mißfällige Äußerungen über das Gebaren Karls machte, worauf Gustav lakonisch erwiderte: Er habe schon längst aus dessen Briefen gemerkt, wie es mit seiner Politik stehe."
Wenn zuerst Schweigen und Ableugnen und Vertrauenspredigt in Louis Bonaparte der Schweiz die Gefahr aus den Augen rücken, wenn das spätere Geschrei über die beabsichtigte Einverleibung von Faucigny, Chablais und des Genevois in die Schweiz die Annexation Savoyens an Freinkreich popularisieren, endlich die Burleske von Thonon jeden ernsten Widerstand brechen sollte, mußten, dem Pariser Programm gemäß, die nun wirklich erfolgte Annexation und die unleugbar gewordene Gefahr selbst in letzter Instanz als Motive für die freiwillige Waffenstreckung der Schweiz, d.h. ihre Allianz mit dem Dezemberreiche geltend gemacht werden. Die Aufgabe war so delikat, daß nur James Fazy selbst ihre Lösung einleiten konnte. Sein Diener Vogt durfte vor einer Allianz mit dem Osten warnen, aber nur Fazy selbst konnte eine Allianz mit dem Westen bevorworten. Er deutete die Notwendigkeit derselben zuerst an in der „Revue de Genfeve". Am 18. April 1860 zirkulierte zu Genf ein Auszug aus einem Londoner Brief, worin es u.a. hieß:
„Empfehlen Sie unsem einflußreichen Mitbürgern, gegen die Ratschläge J.Fazys auf der Hut zu sein, welche derselbe der Schweiz geben könnte, ihre Neutralität aufzugdien. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dieser Rat von der französischen Regierung selbst ausgeht, deren dienstfertiger Agent James Fazy bis auf diesen Tag gewesen ist... Er nimmt jetzt die Haltung eines guten Schweizers an, der den Absichten Frankreichs entgegenarbeitet, aber eine stets gut unterrichtete Person versichert mich, daß dies eine Schlinge ist. Sobald die Schweiz erklärt haben wird, daß sie nicht mehr neutral bleiben wolle noch könne, wird die französische Regierung davon Akt nehmen und sie zu einer Allianz wie zur Zeit des ersten Kaisertums zwingen."
Fazy ließ darauf in der „Revue de Geneve" erwidern:
„An dem Tage, wo Savoyen mit Frankreich vereinigt sein wird, hört die Neutralität der Schweiz von selbst auf, und ein solcher Rat Fazys wäre somit überflüssig."
Drei Monate später, am 10. Juli, hielt James Fazy eine Rede im Schweizer Nationalrat, die
„unter Fluchen und Toben, mit geballter Faust gegen die bonapartistischen Geldmänner und Bundesbarone - er denunzierte sie als le gouvemement souterrain1 - ins bonapartistische Lager marschierte".2
Die Zürcher-Waadtländische, offiziell-französische Partei, obgleich scheinbar am gröbsten angegriffen, ließ ihn daher ruhig poltern.
„Europa, besonders Deutschland, habe die Schweiz verlassen. Die Neutralität ist dadurch unmöglich geworden; die Schweiz muß Allianzen suchen, aber wo?"
Der alte Demagog murmelt dann etwas
„vom nahen, nahverwandten Frankreich, welches sein Unrecht einmal einsehn und wiedergutmachen werde und vielleicht auch noch Republik werden könne usw. Aber die Geldmänner und Bundesbarone, die sich überlebt haben, dürfen die neue Politik nicht inaugurieren, die Helvetia, das Volk muß es tun: Wartet nur, die nächsten Wahlen werden euch Mores lehren. Die eidgenössischen Truppen sind in Genf äußerst willkommen. Soll jedoch ihre Anwesenheit den geringsten Zweifel in das gegenwärtige Genfer Regiment ausdrücken, dann fort damit. Genf hilft und schützt sich selbst."
Am 10. Juli also führte JamesFazy in dem Nationalrat aus, was er in der „Revue de Geneve" vom 18. April angedeutet hatte - „die neue Politik", Allianz der Schweiz mit Frankreich, d.h. Annexation der Schweiz an den Dezember. Wohlunterrichtete Schweizer hielten dies Lüften der antibonapartistischen Maske, die Fazy seit seiner Rückkehr von den Tuilerien trug, für verfrüht. Indes besitzt grade Fazy eine fast an Palmerston erinnernde Virtuosität in der Kunst der berechneten Indiskretion. Die anrüchigsten Repräsentanten des „gouvemement souterrain" beantragten bekanntlich im Nationalrat ein Tadels votum gegen Stampf Ii, weil er als Bundespräsident die Situation begriffen und einen Augenblick den richtigen Entschluß gefaßt hatte, das neutralisierte Gebiet durch eidgenössische Truppen gegen französische Verletzung zu sichern. Das Tadelsvotum ward mit ungeheurer Stimmenmajorität verworfen, aber Vogts Stimme fehlte.
1 unterirdische Regierung - 2 so in der Erstausgabe
„Sehr charakteristisch", schrieb man mir damals aus der Schweiz, „für Karl Vogl ist dessen Fehlen bei der Verhandlung im schweizerischen Ständerat, betreffend das Tadelsvotum gegen den Bundespräsidenten Stampf Ii. Als Vertreter des von Bonaparte bedrohten Kantons Genf mußte Vogt notgedrungen für dessen energischen Verteidiger Stämpfli stimmen. Außerdem ist er demselben persönlich befreundet und zum Dank verpflichtet. Der Vater Vogts und zwei Brüder desselben verdienen ihr Brot als Angestellte des Kantons Bern; einem dritten Bruder hat Stämpfli erst unlängst zum einträglichen Posten eines eidgenössischen Oberstatistikers verholten. Folglich war es nicht wohl möglich, bei einer Abstimmung mit Namensaufruf gegen den Freund, Wohltäter und Volksmann aufzutreten. Dagegen konnte der Plon-Plonist noch weniger öffentlich eine Politik gutheißen, welche die Aggressionen des Bonapartismus auf Tod und Leben bekämpft. Darum Ausreißen und Kopfverstecken, wobei jedoch der breite Hintern sichtbar bleibt und Schläge kriegt, das gewöhnliche Stratagem und die irdische Bestimmung des modernen Falstaff." Das von den Tuilerien ausgeteilte, von James Fazy in der „Revue de Genkoe", von seinem Diener Vogt im Bieler „Commis voyageur", in den „Studien", im „Hauptbuch" usw. so laut wiederholte Stichwort des „Ostreichertums" schlug endlich auf die Schweiz selbst zurück. Ungefähr Mitte April erschien an allen Wällen Mailands ein Plakat: „Streit zwischen Napoleon und der Schweiz". Es hieß darin:
„Savoyen schien der Schweiz ein appetitlicher Brocken zu sein, und sie beeilte sich, von Ostreich gestachelt, in einer Sache den Plänen Napoleons III. in den Weg zu treten, die nur eine Sache Italiens und Frankreichs ist... England und die nordischen Großmächte, Ostreich ausgenommen, widersetzen sich der Einverleibung Savoyens nicht im geringsten, nur die Schweiz, gehetzt von Ostreich, welches in allen verbündeten Staaten Sardiniens Unruhe und Aufruhr zu stiften trachtet, legte einzig ihr Veto ein... Die Schweiz ist ein anormaler Staat, der dem Andrang des großen Nationalitätsprinzips nicht lange widerstehn kann. Deutsche, Franzosen, Italiener sind nicht fähig, sich den nämlichen Gesetzen zu fügen. Wenn die Schweiz dies weiß, so denke sie daran, daß im Kanton Tessin die Sprache der Foscolo und Giusti gesprochen wird, so vergesse sie nicht, daß ein großer Teil voll ihr der großen und großmütigen Nation angehört, welche sich Franzosen nennt."
Die Schweiz, scheint es, ist überhaupt eine östreichisehe Erfindung. Während Vogt selbst so eifrig bemüht war, die Schweiz aus den Klauen Ostreichs zu retten, betraute er einen seiner trautesten Mitstrolche, den schwatzschweifigen Schwaben Karl Mayer aus Eßlingen, Rumpfparlamentler, Gerngroß, dermalen Besitzer einer Bijouterie-Fabrik, mit der Rettung Deutschlands. Bei der Fahnenweihe des Neuenburger deutschen Arbeitervereins, gefeiert in der Krone zu St. Bimse, forderte der Festredner, Rumpfparlamentler und Bijoutier Karl Mayer aus Eßlingen, Deutschland auf,
„die Franzosen nur über den Rhein zu lassen, weil es sonst niemals in Deutschland besser werden könne". Zwei Deputierte des Genfer Arbeitervereins, nach Neujahr (1860) von der Fahnenweihe zurückkehrend, berichteten diesen Vorfall. Nachdem ihr Bericht durch die Deputierten mehrerer andrer westschweizerischer Vereine bestätigt worden, erließ der Genfer Vorort ein Rundschreiben zur allgemeinen Warnung gegen bonapartistische Umtriebe unter den deutschen Arbeitern in der Schweiz.
»Nach einer Erinnerung" - ich zitiere aus einer mir vorliegenden Denkschrift - „an das Erste Kaiserreich, wo auch schon einzelne Deutsche die napoleonische Weltherrschaft zu fördern suchten, in der guten Meinung, der Koloß werde den Sturz seines Trägers nicht überleben und dann werde unter den auseinanderfallenden Provinzen des Frankenreiches doch wenigstens auch ein einheitliches Deutschland sein, welches sodann die Freiheit um so leichter erringen könne: wurde es eine politische Quacksalberei genannt, einem lebenden Körper alles Blut abzuzapfen, um es auf das tolle Wunder ankommen zu lassen, daß ihm wieder gesunderes Blut nachwachse; außerdem wurde getadelt, einem großen Volk die Kraft der Selbsthilfe, das Recht der Selbstbestimmung gradezu abzusprechen, endlich wurde bemerkt, der erwartete Messias Deutschlands habe ja eben erst in Italien gezeigt, was er unter Nationalitätsbefreiung verstehe usw. usw. Das Rundschreiben wandte sich, wie es sagte, nur an solche Deutsche, welche zu gutem Zwecke das unrechte Mittel wählten, lehnte es dagegen ab, sich einzulassen mit gekauften Publizisten und ehrgeizigen Cidevants." Gleichzeitig geißelten die „AargauerNachrichten", Organ derHelvetiain9i die »Logik, man müsse den Igel in die Maulwurfshöhle lassen, um ihn besser packen und wieder herauswerfen zu können, nach welcher säubern Logik man eben auch die Ephialtesse gewähren lassen müsse, damit Leonidasse entstehen könnten. Ein gewisser Professor sä der auf den Kopf gestellte Herzog Ulrich von Württemberg, der die Heimkehr aus dem Exil vermittelst des Bundschuhes versuchte, nachdem der Reiterstiefel nichts mehr von ihm wissen wollte; derselbige Professor aber habe es mit dem Schuh verdorben und binde deshalb mit dem Stiefel an usw."
Die Wichtigkeit dieser Denunziation gegen den Herrn Professor Vogt bestand darin, daß sie in einem Organ der Helvetia erschien. Zum Ersatz gleichsam fand er desto günstigere Aufnahme in der „Esperance"[4801, ein Journal, das 1859 zu Genf in großem Format und mit großem Kostenaufwand von der französischen Staatskasse gestiftet ward. Es war die Aufgabe der „Esperance*, die Annexation Savoyens und der Rheinlande im besondren, Louis Bonapartes messianischen Nationalitätsbefreiungsberuf im allgemeinen zu predigen. Es ist in ganz Genf bekannt, daß Vogt ein habitud
auf dem Redaktionsbüro der „Esperance'' und einer ihrer täligsten Mitarbeiter war. Mir selbst sind Details zugegangen, die die Tatsache außer Frage stellen. Was Vogt in seinen „Studien" andeutet, was er durch seinen Mitstrolch, den schwatzschweifigen Schwaben, Rumpfparlamentler und Bijoutier Karl Mayer aus Eßlingen zu Neuenburg offen verkünden ließ, findet sich weiterentwickelt in der „Esperance". So heißt es z.B. in ihrer Nummer vom 25. März 1860:
„Wenn die einzige Hoffnung der deutschen Patrioten auf einen Krieg mit Frankreich gegründet ist, welchen Grund können sie haben, die Regierung jenes Landes schwächen und es an der Bildung seiner natürlichen Grenzen verhindern zu wollen? Oder wäre etwa das Volk in Deutschland weit entfernt, diesen Haß gegen Frankreich zu teilen? Wie dem auch sei, es gibt sehr aufrichtige deutsche Patrioten, and namentlich unter den fortgeschrittensten deutschen Demokraten" (namentlich der ReichsVogt, das Ranickel, Karl Mayer aus Eßlingen und tutti quanti), „die kein großes Unglück m dem Verlast des linken Rheiimfers erblicken, die umgekehrt überzeugt sind, daß nur nach diesem Verlust das politische Leben Deutschlands beginnen wird, eines wiedergebomen Deutschlands, gestützt auf die Allianz und aufgehend in die Zivilisation des europäischen Westens."*
So genau von Vogt über die Ansichten der fortgeschrittensten deutschen Demokratie unterrichtet, erklärt die „Esperance" in einem Leitartikel vom 30. Mai,
„ein Plebiszit am linken Rheinufer werde bald zeigen, daß alles daselbst französisch gesinnt sei". Der „Postheiri", ein Schweizer Witzblatt, schüttete jetzt schlechte Späße auf die „Esperance", den „siechen Gaul", der hinter den leichten Lorbeeren von Bacchus Plon-Plon nun auch noch „den schweren Ranzen" seines Silens in der Kruppe tragen müsse. Mit welcher Präzision die dezembristischen Preßmanöver ausgeführt werden, ersieht man aus vorliegendem Fall. Am 30. Mai ließ die „Esperance"
* „Si la seule esperance des patriotes allemands est fondfe sur une guerre avec la France, quelle raison peuvent-ils avoir de chercher a affaiblir le gouvernement de ce pays et l'empecher de former ses frontiferes naturelles? Serait-il que le peuple en Allemagne est loin de partager cette haine de la France? Quoi qu'il en soit, il y a des patriotes allemands tres sinc&res, et notamment parmi les d^mocrates les plus avancfe, qui ne voient pas grand malheur dans la perte de la rive gauche du Rhin, qui sont, au contraire, convaincus que c'est apr&s cette perte seulement que commencera la vie politique d'une Allemagne r£g&i&£e, appuy£e sur l'alliance et se confondant avec lacivilisation de l'Occident europ£en." („L'Espirance", 25 Mars 1860.)
zu Genf das linke Rheinufer durch Plebiszit dem Dezember verfallen; am 31. Mai eröffnete Louis Jourdan im „Steele" zu Paris die Rheinannexationslaufgräben, und Anfang Juni protzte der J'ropagateu.T du Nord et duPas-deCalais" sein grobes Geschütz auf Belgien ab. Kurz vor dem Genfer Mundstück hatte Edmond About in der „ Opinion nationale" erklärt, die Vergrößerung Sardiniens habe den Kaiser gezwungen, „de prendre la Savoie... c.-ä.-d. nous fermons notre parte"1, und, fährt er fort, sollten die Unionsbestrebungen in Deutschland zu einer ähnlichen Vergrößerung Preußens führen, „alors nous aurions k veiller & notre sdretä, ä prendre la rive gauche du Rhin, c.-ä.-d. nous fermerions notre parte"2. Diesem leichtfertigen Torschließer folgte auf dem Fuße nach das schwerwandelnde Hornvieh, der AA-Korrespondent der „Independance Beige"[481], eine Art Joseph Prudhomme und Spezialpythia der in den Tuilerien angesiedelten „Providence". Die „Esperance" unterdes trieb ihre eigentümliche Begeisterung für deutsche Einheit und ihre entrüstete Denunziation der Ostreich verfallnen deutschen Antidezembristen zu einer so schwindelnden Höhe, daß James Fazy, der gewisse diplomatische Rücksichten beobachten muß und zudem im Begriff stand, seine „Revue de Genkve" in die „Nation suisse" zu verwandeln, mit großmütiger Herablassung durch die „Revue" zu erklären geruhte, man könne dem Bonapartismus entgegentreten, ohne ein östreicher zu sein. Karl Vogt, deutscher Dä-Dä, Inhaber eines dezembristischen Werbebüros für die deutsche Presse, Fazys Unteragent, „angenehmer Gesellschafter" im Palais Royal, Plon-Plons Falstaff, „Freund" Ranickels, Souffleur des Bieler „Commis voyageur", Mitarbeiter der „Esperance", Prot6g6 von Edmond About, Sänger der „Lausiade" - hatte indes noch eine Stufe tiefer zu sinken. Zu Paris, vor den Augen der Welt, in der „Revue contemporaine", sollte er erscheinen Arm in Arm mit Monsieur Edouard Simon. Sehn wir einen Augenblick, was die „Revue contemporaine" und wer Monsieur Edouard Simon ist. Die „Revue contemporaine" war ursprünglich die offizielle dezembristische Revue im scharfen Gegensatz zur „Revue des deux Mondes"[482], in welcher die eleganten Federn schrieben, die Leute des „Journal des Dehats"[483], Orleanisten, Fusionisten, namentlich auch Professoren vom College de France und Membres de l'Institutt484]. Da man letzteres offizielle Personal der Jievue contemporaine" nicht direkt zukommandieren konnte,
1 „Savoyen zu nehmen ... mit anderen Worten, wir schließen unser Tor" - 2 „dann hätten wir über unsere Sicherheit zu wachen, das linke Rheinufer zu nehmen, mit anderen Worten, wir würden unser Tor schließen"
versuchte man es der „Revue- des deux Mondes" abzukommandieren und so auf einem Umweg für die dezembristische „Revue" zu pressen. Der Coup hatte jedoch keinen rechten Erfolg. Die Eigentümer der „Revue contemporaine" fanden es sogar untulich, mit dem von Herrn La Gueronniire ihnen aufoktroyierten Redaktionskomitee Geschäfte zu machen. Da der Bauchredner der Tuilerien nun Mundstücke verschiedner Stimmung bedarf, ward die „Revue contemporaine" in die offiziöse Revue verwandelt, dagegen die „Revue europeenne"[485! mit La Gueronnikres oktroyiertem Redaktionskomitee als offizielle Revue bestallt. Nun zu Monsieur Edouard Simon, von Natur ein rheinpreußischer Jude namens Eduard Simon, der jedoch die komischsten Grimassen schneidet, um als Franzose von Fach zu gelten, nur daß sein Stil jeden Augenblick den ins Französische übersetzten rheinpreußischen Juden verrät. Kurz nach der Schillerfeier (November 1859) traf ich bei einem Londoner Bekannten einen jahrelang zu Paris ansässigen, höchst respektablen Kaufmann, der ausführlich über die Pariser Schillerfeier, Schillergesellschaften usw. berichtete. Ich unterbrach ihn mit der Frage, wie deutsche Gesellschaften und Versammlungen sich zu Paris mit der dezembristischen 'Polizei abfinden. Er antwortete mit humoristischem Schmunzeln:
„Natürlich keine Versammlung ohne Mouchard und kein Verein ohne MouchardL Zur Vermeidung aller Weidäufigkeiten befolgen wir also ein für allemal die einfache Taktik - probatum est1 -, einen bekannten Mouchard heranzuziehn und ihn gleich ins Komitee zu wählen. Und da haben wir stets für alle solche Fälle wie gefunden unsern Edouard Simon. Sie wissen, daß La Guironmire, früher Lakai von Lamartine und Tartinesfabrikant von limile de Girardin, jetzt die Favoritin des Kaisers ist, sein Geheimstilist, zugleich Oberzensor der französischen Presse. Edouard Simon nun ist La Gaironnihres Schoßhund und", fügte er hinzu mit einer sonderbaren Verschrumpfung der Nase, „und ein sehr übelriechender Köter ist er. Edouard Simon, was Sie ihm sicher nicht verdenken werden, wollte nicht arbeiten pour le roi de Prusse2, sondern fand, daß er durch seinen Anschluß an das dezembristische System sich selbst und der Zivilisation einen unberechenbaren Dienst erweise. Er ist ein Bursche von kleinem Geist und schmierigem Charakter, aber nicht schwach in einer gewissen Sphäre untergeordneter Intrige. La Gueronniire hat seinen Edouard Simon der ,Patrie als einen ihrer Leitartikler zukommandiert. Das bewies den Takt des Geheimstilisten. Der Besitzer, der ,Patrie', Bankier Delamarre, ist nämlich ein hochnäsiger, widerhaariger, bärenbeißiger Parvenü, der in seinem Büro niemand um sich duldet außer Kreaturen von entschieden serviler Schmiegsamkeit. Da war denn unser Edouard Simon, der trotz seines Rattengifts geschmeidig wie eine Angorakatze sein kann, so recht an seinem Platz. Die
1 das hat sich bewährt - 2 für den König von Pretzien; hier: für nichts und wieder nichts
J'atrie, wie Sie wissen, war zur Zeit der Republik eins der schamlosesten Organe der Rue de Poitiers[m]. Sie zankt seit dem Dezember mit dem ,Pays und dem ,ConstitatioimeT um die Ehre, halboffizielles Organ der Tuilerien zu sein, und macht, seit das Signal gegeben ist, bedeutend in Annexationsfieber. Sie kennen ja die Bettler, die Fallsucht auf der Straße spielen, um dem Vorübergehenden einige Sous abzuschwindeln. Die J'atrie' genoß in der Tat die Ehre, die bevorstehende Annexation Savoyens und Nizzas zuerst anzeigen zu dürfen. Kaum war die Annexation erfolgt, als sie ihr Format vergrößerte,, denn, wie Herr Delamarre naiv erklärte: ,La Savoie et le Comt£ de Nice ayant annex& ä la France, la cons^quence naturelle est l'agrandissement de la Patrie'1 Wer erinnert sich dabei nicht des Witzwortes des Pariser Zynikers, der auf die Frage ,Qu'est-ce que la patrie?'2 kurzweg antwortete: Journal du soir'3. Würden nun gar die Rheinprovinzen annexiert, welche Vergrößerung der J'atrie und ihres Formats und des salaire von Edouard Simon! In nationalökonomischer Hinsicht erkennt die J'atrie Frankreichs Heil in der Abschaffung des Toumiquet de la Bourse4, wodurch die Geschäfte an der Börse und damit im ganzen Land sich wieder zur erwünschten Höhe emporschwindeln würden. Auch Edouard Simon schwärmt für die Abschaffung des Tourniquet de la Bourse. Unser Edouard Simon ist aber nicht nur Leitartikler der J'atrie' und Schoßhund La Gu£ronni£res. Er ist der ergebenste Freund und Zuträger des neuen Jerusalem, alias der Polizeipräfektur, namentlich des Herrn Palestrina. Kurzum, meine Herrn", schloß der Erzähler, „ein Komitee mit Herrn Edouard Simon in seinem Schöße steht dadurch allein im vollkommensten polizeilichen Geruch."
Und Herr... lachte so sonderbar schrill auf, als ob die ödem de mauvais lieu5 und Monsieur Edouard Simon noch einen ganz unsagbar geheimen Zusammenhang hätten. Herr Kinglake hat das Haus der Gemeinen auf die angenehme Verwechslung von auswärtiger Politik, Polizei und Presse aufmerksam gemacht, die die Agenten des Dezember charakterisiere. (Sitzung des House of Commons vom 12. Juli 1860.) Monsieur Edouard Simon - Vogts ruchbarer Eduard ist natürlich nicht zu verwechseln mit Vogts sanfter Kunigunde, alias Ludwig Simon von Trier* - Monsieur Edouard Simon, La Gu6ronniferes Schoßhund, Delamarres Pudel, Palestrinas Spitzel und Allerweltsköter,
* Durch die Vermittlung der sanften Kunigunde wurde einiges Vogtsche gegen mich in ein Winkelblättchen meiner Vaterstadt Trier befördert, w° u- a. von meiner „fleischlichen Vermischung" mit der „Allgemeinen" die Rede ist. Welche Ideenassoziation für die keusche Kunigunde! Very shocking, indeedl1
1,Die Einverleibung Savoyens und der Grafschaft Nizza durch Frankreich hat zur natürlichen Folge eine Vergrößerung des Vaterlandes.' - 2 ,Was ist das Vaterland?' - 3 ,Ein Abendblatt' - 4 der Börsenkurstafel - 5 der Geruch des verrufenen Ortes - 6 Höchst anstößig, in der Tat!
gehört offenbar, wenn nicht zur Cr&me, doch jedenfalls zum Limburger Käse des 10. Dezember, zu dem zweiten Zirkel, wo
„s'annida Ipocrisia, lusinghe e chi affattura, Falsita, ladroneccio e simonia, Ruffian, baratti e simile lordura."1 Karl Vogt hatte seinen Edouard Simon viele Wochen vor dem Erscheinen des „Hauptbuch" mit dessen Besprechung in der französischen Presse betraut. Edouard Simon stimmte für double emploi2. Zunächst verdolmetschte er das „Hauptbuch" privatim dem Herrn La Gueronniire und wurde dann bei dieser Gelegenheit der „Revue contemporaine" von seinem Patron zukommandiert. Vergebens stellte die Redaktion der „Revue contemporaine" das unterwürfige Gesuch, der Edouard Simon möge wenigstens anonym in ihren Spalten erscheinen. La Gu6ronni£re war unerbittlich. Edouard Simon debütierte in der „Revue contemporaine" vom 15. Febr. 1860 mit der Anzeige seines Freundes Vogt unter dem Titel: „ Un tableau de mceurs polttiques de VAllemagne. Leprocks de M. Vogt avec la Gazette <TAugsbourg.a (Politisches Charaktergemälde Deutschlands. Der Prozeß des Hrn. Vogt mit der „Augsburger Zeitung"), gezeichnet - Edouard Simon. Der „Romane" Edouard Simon glaubt nicht, daß er, „um guter Franzose zu sein, Invektiven gegen die edle germanische Rasse schleudern muß" („Revue contemporaine", I.e. p.531), aber als „guter Franzose" und „geborner Romane" muß er wenigstens eine naturwüchsige Ignoranz über Deutsches zur Schau tragen. So unter anderm sagt er von seinem Karl Vogt: „Er war einer der drei Regenten des Eintagsreichs."* Monsieur Edouard Simon ahnt natürlich nicht, daß das Reich in partibus unter einer Pentarchie seufzte, und bildet sich vielmehr „als Franzose" ein, den heiligen drei Königen zu Köln[489] hätten schon der Symmetrie halber drei parlamentarische Reichsregenten zu Stuttgart entsprochen. „Freund" Vogts Späße im „Hauptbuch" gehn „oft zu weit für den französischen Geschmack"**.
* „II fut un des trois r^gents de l'empire eph&nire." 0- c. p. 518.) ** „II depasserait le but au goüt des Francais." (I. c. p. 519.)
1 „sich angebauet Die Schar der Heuchler, Schmeichler, Tränkerfinder, Der Raub, die Simonie und falsche List, Betrüger, Kuppler und dergleichen." t488J 2 doppelte Anstellung
Der Franzose Edouard wird dem abhelfen und „sich bemühn auszuwählen"*. „Freund" Vogt liebt von Haus aus „die grellen Farben" und „ist nicht grade ein Feinschmecker in sprachlicher Beziehung"**. Aber natürlich! „Freund" Vogt ist nur ein annexierter Deutscher, wie Dä-Dä ein annexierter Araber, während Edouard Simon ein „guter Franzose" von Haus und ein „Romane" von Race ist. Gingen Hr. Orges und Hr. Dietzel je so weit in ihrer Verleumdung der „romanischen Race"? Monsieur Edouard Simon amüsiert seine Vorgesetzten, indem er einen der heiligen deutschen „drei" Rumpfkönige, und zwar im Einverständnis und Auftrag dieses heiligen deutschen Dreirumpfkönigs, vor dem Pariser Publikum ausstellt als freiwilligen Gefangnen hinter dem Triumphwagen des imperialistischen Quasimodo. Man sieht, sagt Edouard Simon, nach einem Zitat aus Vogts „Hauptbuch",
„man sieht, Herr Vogt kümmerte sich wenig darum, woher die Hülfe zugunsten deutscher Einheit kam, wenn sie überhaupt nur kam; dm französische Kaiserreich schien ihm sogar ganz besonders geeignet, die Lösung, die er toänscht, zu beschleunigen. Vielleicht gab Herr Vogt hierin seine alten Antezedentien wohlfeilen Kaufes (?!) preis, und es mußte seinen alten Kollegen, die mit ihm auf der äußersten Linken im Frankfurter Parlament saßen, befremdend erscheinen, diesen wütenden Gegner jeder einheitlichen Gewalt, diesen glühenden Eiferer für die Anarchie, so lebhafte Sympathien für den Souverän an den Tag legen zu sehn, welcher die Anarchie in Frankreich besiegt hat"*** Von der un-„entschiednen" Linken versetzt Edouard den „flüchtigen Reichsregenten" auf die äußerste Linke des Frankfurter Parlaments. Aus dem Manne, der für „den erblichen deutschen Kaiser" stimmte, wird „ein wütender Gegner jeder einheitlichen Gewalt" und aus dem Zentralmärzvereinler, der um jeden Preis „Ordnung" unter den buntscheckigen Wirtshausparteien zu Frankfurt predigte, ein „glühender Eiferer für die Anarchie ". Alles, um den Fang, den der 10. Dezember an dem „flüchtigen Reichs
* „Nous nous efforcerons de choisir." (1. c.) ** „M. Vogt aime beaucoup les couleurs tranchantes, et il n'est pas pr&is£ment un gourmet en mati£re de language." (1. c. p. 530.) *** „On le voit, M. Vogt se souciait peu d'oü vint le secours en faveur de l'unit£ allemande, pourvu qu'il vint; l'empire franfais lui semblait meme singulierement propre ä hater le d&iouement qu'il d&ire. Peut-etre en cela M. Vogt faisait-il bon march£ de ses antec£dents, et il dut paraitre Strange, ä ses anciens collegues qui si£gaient avec lui k I'extreme gauche dans le Parlement de Francfort, de voir ce fougueux antagoniste de tout pouvoir unique, ce fervent z£lateur de l'anarchie manifester de si vives sympathies envers le souzerain qui l'a vaincue en France." 0* c. p. 518.)
regenten" gemacht, gehörig ins Relief zu setzen. Um so kostbarer werden „die so lebhaften Sympathien", die Herr Vogt für „den Mann hegt, der die Anarchie in Frankreich besiegt hat", um so wertvoller wird seine jetzige Erkenntnis, „daß das französische Kaiserreich ganz besonders geeignet ist, die deutsche Einheit zu stiften", und um so verständlicher wird „Freund" Simons Wink mit der Heugabel, daß „Freund" Vogt „seine Antezedentien vielleicht zu wohlfeilen Kaufes (de bon march6) losgeschlagen", der Dezember mann sie also jedenfalls nicht „zu teuer" erstanden hat. Und um nicht den geringsten Zweifel höhern Orts zu lassen, daß „Freund" Vogt jetzt ganz ebenso zuverlässig ist als „Freund" Simon, erzählt Monsieur Edouard Simon schmunzelnd und die Hände reibend und mit dem linken Aug' zwinkernd, daß Vogt in seinem Ordnungsdrang „sogar, wenn er Herrn Vogt recht Verstehe, den Genfer Behörden Anzeigen revolutionärer Umtriebe gemacht"*, ganz wie Monsieur Edouard Simon den Herren Palestrina und La Gu€ronnifere «Anzeigen" macht. Es ist allgemein bekannt, daß About und Jourdan und Granier de Cassagnac und Boniface und Dr. Hoifmann, daß die Mönche der „Esperance", die Ritter des „Nationales", die Blasbälge der „Opinion nationale", die Penny-a-liner der „Ind6pendance", des „Morning Chronicle"t490), des „Nouvelliste Vaudois" usw., die La Gu€ronni£re und die Simon, Stilisten, Zivilisationisten, Dezembristen, Plon-Plonisten, Dentusten und Dentisten, alle samt und sonders ihre Inspiration schöpfen aus einer und derselben erlauchten - Kasse. Nun finden wir Da-Da Vogt nicht als vereinzelten, auf eigne Faust kämpfenden Parteigänger, sondern subsidiert, eindoktriniert, einbrigadiert, einkanailliert, mit Edouard Simon nexiert, an Plon-Plon annexiert, mitgefangen und mitgehangen. Bleibt die Frage, ob Karl Vogt für seine Agentur bezahlt ist? „Wenn ich nicht irre, heißt bestechen so viel als jemand durch Geld oder andre Vorteile zu Handlungen und Äußerungen bewegen, welche seiner Überzeugung entgegengesetzt sind." (p. 217, „Hauptb.".) Und der Plon-Plonismus ist Vogts Überzeugung. Also selbst wenn er bar bezahlt ist, ist er in keinem Fäll bestochen. Aber das Münzgepräge kann nicht mannigfaltiger sein als die Zahlungsart. Wer weiß, ob Plon-Plon seinem Falstaff nicht die Kommandantur des Mäuseturms beim Binger Loch'4911 zugesagt hat? Oder die Ernennung zum korrespondierenden Mitglied des Institut, nachdem About in seinem „La
* „Si nous I'avons bien compris, il a mSme appel£ I'attention des autoritis de Gen&ve sur ces men&s." (1. c. p. 529.)
Prusse en 1860" die französischen Naturalisten bereits um die Ehre zanken läßt, gleichzeitig mit dem lebenden Vogt und dem toten Diefenbach zu korrespondieren? Oder ob seine reichsregentschaftliche Restauration in Aussicht steht? Ich weiß allerdings, daß der Leumund die Dinge prosaischer erklärt. So soll „mit dem Umschwung der Dinge seit 1859" ein Umschwung in den Verhältnissen des „angenehmen Gesellschafters" (kurz vorher noch das Mithaupt einer radikal aufgesessenen und in kriminelle Untersuchung verwickelten Aktiengesellschaft) eingetreten sein, was ängstliche Freunde damit wegzudeuten suchten, daß eine italienische Bergwerksaktiengesellschaft dem Vogt in Anerkennung seiner „mineralogischen" Verdienste eine bedeutende Schenkung in Aktien gemacht, die er während seines ersten Aufenthalts zu Paris versilbert habe. Aus der Schweiz und aus Frankreich haben Sachkenner, die einander ganz unbekannt sind, mir fast gleichzeitig geschrieben, daß der „angenehme Gesellschafter" eine mit gewissen Einkünften verknüpfte Oberaufsicht führe über das Landgut „La Bergerie" bei Nyon (im Waadtland), den Witwensitz, den Plon-Plon für die Iphigenie von Turin1492' erstanden hat. Ja, ich kenne einen Brief, worin ein „Neuschweizer", noch lange nach „dem Umschwung von 1859" mit Vogt vertraut, anfangs 1860 einem Herrn „P.B.B., 78, Fenchurch Street, London" eine sehr bedeutende Summe spezifiziert, die sein Ex-Freund von der Zentralkasse zu Paris erhalten habe, nicht als Bestechung, sondern als Vorschuß Zahlung. Solches und Schlimmeres ist nach London gedrungen, aber ich meinerseits gebe keinen Strohhahn darum. Ich glaube vielmehr dem Vogt aufs Wort, wenn er sagt: „Daß es keinen Menschen etwas angehe, woher ich" {Vogt) „meine Mittel nehme. Ich werde auch fernerhin fortfahren, mir die Mittel zu oerschaffen zu suchen, die für die Erreichung meiner politischen Zwecke nötig sind, und ich werde sie fernerhin im Bewußtsein meiner guten Sache nehmen, woher ich sie bekommen kann" (p. 226, „Hptb."), also auch aus der Pariser Zentralkasse. Politische Zweckel „Nugaris, cum tibi, Calve, Pinguis aqualiculus propenso sesquipede extet."1 Gute Sache! ist wohl der deutsch-idealistische Ausdruck für das, was der grob-materialistische Engländer „the good things of this world"2 nennt.
1 „Leeres Geschwätz verzapfst Du, Calvus, Hängt doch der Fettwanst Dir zwei Fußbreit über der Erde." * „die guten Dinge dieser Welt"
Was M.D.Schaible auch immer davon halten mag, warum sollte man dem Vogt nicht aufs Wort glauben, da er in demselben „Hauptbuch" am Schluß seiner Jagdgeschichten über die Schwefelbande usw. mit gleich großer Feierlichkeit erklärt: „Hiermit schließt dieser Abschnitt eines Stücks der Zeitgeschichte. Es sind keine leeren Träumereien, die ich vorbringe; es sind reine Tatsachen!" (p. 182, „Hauptbuch".) Warum sollte seine Agentur nicht eben so rein sein als die im „Hauptbuch" erzählten Tatsachen? Ich für meinen Teil glaube steif und fest, daß, im Unterschiede von allen andern schreibenden, agitierenden, politisierenden, konspirierenden, propagandierenden, renommierenden, plonplonierenden, komplettierenden und sich kompromittierenden Mitgliedern der Dezemberbande, der einzige Vogt, ganz allein und ganz ausschließlich, seinen Kaiser auffaßt als„l'homme qu'on aime pour lui-meme"1. „Swerz niht geloubt, der sündet"[493), wie Wolfram von Eschenbach sagt, oder „Wer's nicht glaubt, der irrt sich", wie es im modernen Liede heißt.
1 „einen Mann, den man um seiner selbst willen liebt"

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