segunda parte tomo 13

FRIEDRICH ENGELS
Po und Rhein™'
15 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
Geschrieben Ende Februar/Anfang März 1859. Erschien 1859 als anonyme Broschüre bei Franz Duncker, Berlin.
Der vorliegende Abdruck fußt auf dieser Ausgabe, Die Korrektur sinnverändernder Druckfehler wird in Fußnoten vermerkt.
I
Seit Anfang dieses Jahres ist es zum Stichwort eines großen Teils der deutschen Presse geworden, daß der Rhein am Po verteidigt werden muß. Dies Stichwort hatte seine volle Berechtigung gegenüber den bonapartischen Rüstungen und Drohungen. Mit richtigem Instinkt wurde es in Deutsch«land herausgefühlt, daß, wenn der Po für Louis-Napoleon der Vorwand war, der Rhein unter allen Umständen sein Endziel sein mußte. Nur ein Krieg um die Rheingrenze kann möglicherweise den Blitzableiter abgeben gegen die bei» den den Bonapartismus im Innern Frankreichs bedrohenden Elemente: die „patriotische Uberkraft"[104] der revolutionären Massen und das gärende Mißbehagen der „Bourgeoisie". Den einen gäbe es nationale Beschäftigung, den andern die Aussicht auf einen neuen Markt. Das Gerede von der Befreiung Italiens konnte daher in Deutschland nicht mißverstanden werden. Es war der Fall des alten Sprichworts: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Fand Italien sich veranlaßt, den Sack vorzustellen, so hatte doch Deutschland diesmal keine Lust, den Esel abzugeben. Die Behauptung des Po hatte also im vorliegenden Fall einfach die Bedeutung: daß Deutschland, mit einem Angriff bedroht, bei dem es sich in letzter Instanz um den Besitz einiger seiner besten Provinzen handelte, in keiner Weise daran denken konnte, eine seiner stärksten, ja geradezu seine stärkste militärische Position ohne Schwertstreich aufzugeben. In diesem Sinn war allerdings ganz Deutschland bei der Verteidigung des Po interessiert. Am Vorabend eines Kriegs wie im Kriege selbst besetzt man jede benutzbare Stellung, von der aus man den Feind bedrohen und ihm schaden kann, ohne moralische Reflexionen darüber anzustellen, ob dies mit der ewigen Gerechtigkeit und dem Nationalitätsprinzip vereinbar ist. Man wehrt sich eben seiner Haut. Diese Art, den Rhein am Po zu verteidigen, ist aber sehr zu unterscheiden von der Tendenz sehr vieler deutscher Militärs und Politiker, den Po, d. h. die Lombardei und Venedig, für ein unentbehrliches strategisches
Komplement und sozusagen für einen integrierenden Teil Deutschlands zu erklären. Diese Ansicht ist besonders seit den Feldzügen in Italien 1848 und 1849 aufgestellt und theoretisch verteidigt worden; so vom General von Radowitz in der Paulskirche[105], vom General von Willisen in seinem „Italienischen Feldzug des Jahres 1848". Im außeröstreichischen Süddeutschland hat besonders der bayerische General von Hailbronner mit einer gewissen an Begeistrung streifenden Vorliebe dies Thema behandelt. Das Hauptargument ist immer politischer Natur: Italien sei total außerstande, unabhängig zu bleiben; entweder Deutschland oder Frankreich müsse in Italien herrschen; zögen sich die Ostreicher heute aus Italien zurück, so ständen morgen die Franzosen im Ltschtale und an den Toren von Triest, und die ganze Südgrenze Deutschlands sei entblößt dem „Erbfeinde" preisgegeben. Darum behaupte Ostreich die Lombardei im Namen und Interesse Deutschlands. Man sieht, die militärischen Autoritäten für diese Ansicht gehören zu den ersten Deutschlands. Trotzdem müssen wir ihr entschieden entgegentreten. Zu einem mit wahrem Fanatismus verteidigten Glaubensartikel aber wird diese Ansicht in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung", die sich zum Moniteur der deutschen Interessen in Italien aufgeworfen hat. Dies christlichgermanische Blatt, trotz seines Hasses gegen Juden und Türken, ließe eher sich selbst beschneiden als das „deutsche" Gebiet in Italien. Was von den politisierenden Generälen schließlich doch nur als eine prächtige militärische Position in den Händen Deutschlands verteidigt wird, das ist in der Augsburger „Allgemeinen] Zeitung" ein wesentlicher Bestandteil einer politischen Theorie. Wir meinen jene „mitteleuropäische Großmachtstheorie", die aus Ostreich, Preußen und dem übrigen Deutschland einen Bundesstaat unter Ostreichs vorwiegendem Einfluß errichten, Ungarn und die slawischrumänischen Donauländer durch Kolonisation, Schulen und sanfte Gewalt germanisieren, den Schwerpunkt dieses Länderkomplexes dadurch mehr und mehr nach Südosten, nach Wien verlegen und nebenbei auch Elsaß und Lothringen wiedererobern möchte[106]. Die „mitteleuropäische Großmacht" soll eine Art Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation [107] sein und scheint unter andern auch den Zweck zu haben, die weiland östreichischen Niederlande11081 sowie Holland sich als Vasallenstaaten einzuverleiben. Des Deutschen Vaterland wird ungefähr zweimal so weit reichen, als jetzt die deutsche Zunge klingt[1091; und wenn das alles in Erfüllung gegangen ist, dann ist Deutschland der Schiedsrichter und Herr Europas. Daß sich dies alles aber erfülle, dafür ist auch schon gesorgt. Die Romanen sind im akuten Verfall begriffen, die Spanier und Italiener sind bereits total
zugrunde gegangen, und die Franzosen erleben in diesem Augenblicke ebenfalls ihre Auflösung. Auf der andern Seite sind die Slawen unfähig zur wahren modernen Staatenbildung und haben den welthistorischen Beruf, germanisiert zu werden, wobei dann das hauptsächlichste Werkzeug der Vorsehung wieder das verjüngte Ostreich ist. Der einzige Stamm, der sich noch sittliche Kraft und historische Befähigung bewahrt hat, sind also die Germanen, und von diesen sind die Engländer auch so tief in insularen Egoismus und Materialismus versunken, daß man ihren Einfluß, ihren Handel und ihre Industrie durch kräftige Schutzzölle, durch eine Art rationellen Kontinentalsystems[110] vom europäischen Festland entfernt halten muß. Auf diese Weise kann es dem deutschen sittlichen Ernst und der jugendlichen mitteleuropäischen Großmacht gar nicht fehlen, daß diese letztere binnen kurzem die Weltherrschaft zu Wasser und zu Lande an sich reißt und eine neue geschichtliche Ära einweiht, bei der Deutschland seit langer Zeit endlich einmal wieder die erste Violine spielt und die übrigen Nationen nach ihr tanzen.
Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten; Wir aber besitzen im Luftreich des Traums Die Herrschaft unbestritten. Auf die politische Seite dieser patriotischen Phantasien einzugehn, kann uns hier nicht einfallen. Wir haben sie nur eben im Zusammenhang skizziert, damit man uns nicht etwa später diese sämtlichen Herrlichkeiten als neue Beweisgründe für die Notwendigkeit der „deutschen" Herrschaft in Italien wieder vorführt. Uns interessiert hier einzig die militärische Frage: Bedarf Deutschland zu seiner Verteidigung die permanente Herrschaft über Italien und speziell den vollen militärischen Besitz der Lombardei und Venedigs? Die Frage auf ihren reinsten militärischen Ausdruck reduziert, lautet: Bedarf Deutschland zur Verteidigung seiner Südgrenze den Besitz der Etsch, des Mincio und des unteren Po, mit den Brückenköpfen Peschiera und Mantua? Ehe wir sie zu beantworten versuchen, bemerken wir vorher noch ausdrücklich: Wenn wir hier von Deutschland reden, so verstehen wir darunter eine einige Macht, deren militärische Kräfte und Aktionen1 von einem Zentrum aus geleitet werden - Deutschland nicht als einen idealen, sondern als einen wirklichen politischen Körper. Unter andern Voraussetzungen kann von den politischen und militärischen Bedürfnissen Deutschlands überhaupt keine Rede sein.
1 (1859) Nation
II
Noch mehr als Belgien ist Oberitalien seit Jahrhunderten das Schlachtfeld, auf dem Deutsche und Franzosen ihre Kriege gegeneinander ausgefochten haben. Der Besitz Belgiens und des Po-Tals für den Angreifer ist notwendige Bedingung sei es einer deutschen Invasion Frankreichs, sei es einer französischen Invasion Deutschlands; erst dieser Besitz sichert vollständig Flanken und Rücken der Invasion. Nur der Fall einer ganz sichern Neutralität dieser Länder könnte eine Ausnahme bilden, und dieser Fall hat bis jetzt nie existiert. Wenn auf den Schlachtfeldern des Po-Tals indirekt und mittelbar das Geschick Frankreichs und Deutschlands seit dem Tage von Pavia1831 ent. schieden wurde, so wurde das Geschick Italiens dort gleichzeitig direkt und unmittelbar entschieden. Mit den großen stehenden Heeren der neueren Zeit, mit der wachsenden Macht Frankreichs und Deutschlands, mit dem politischen Zerfallen Italiens verlor das eigentliche alte Italien, südlich des Rubikon, alle militärische Bedeutung, und der Besitz des alten Cisalpinischen Galliens zog die Herrschaft über die schmale, langgestreckte Halbinsel unvermeidlich nach sich. In den Bassins des Po und der Etsch, an der genuesischen, romagnolischen und venetianischen Küste saß die dichteste Bevölkerung, konzentrierte sich der blühendste Ackerbau, die tätigste Industrie, der lebhafteste Handel Italiens. Die Halbinsel, Neapel und der Kirchenstaat, blieben verhältnismäßig stationär in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung; ihre Kriegsmacht hatte seit Jahrhunderten nicht mehr gezählt. Wer das Po-Tal besaß, schnitt die Landverbindung der Halbinsel mit dem übrigen Festland ab und konnte sie gelegentlich mit leichter Mühe unterwerfen. So die Franzosen zweimal im Revolutionskriege, so die Östreicher zweimal in diesem Jahrhundert. Daher hat nur das Bassin des Po und der Etsch Bedeutung für den Krieg. Eingefaßt auf drei Seiten von der ununterbrochenen Gebirgskette der Alpen und Apenninen und auf der vierten, von Aquileja bis Rimini, vom
Adriatischen Meer, bildet dies Bassin einen von der Natur sehr scharf markierten Bodenabschnitt, den der Po von West nach Ost durchläuft. Die südliche oder apenninische Abgrenzung hat kein Interesse für uns hier; die nördliche oder alpinische desto mehr. Ihr schneebedeckter Rücken ist nur an wenigen Stellen auf chaussierten Wegen zu passieren; selbst die Zahl der Fahr- und Saumwege und der Fußpfade ist beschränkt; langgestreckte Taldefileen führen zu den Pässen über das Hochgebirg. Die deutsche Grenze umfaßt Norditalien von der Mündung des Isonzo bis zum Stilfser Joch; von da bis Genf reicht die Grenze der Schweiz; von Genf bis zur Mündung des Var stößt Frankreich an. Vom Adriatischen Meer bis zum Stilfser Joch, nach Westen gerechnet, führt jeder folgende Paß immer tiefer ins Herz des Po-Bassins, umgeht also alle weiter östlich liegenden Stellungen einer italienischen oder französischen Armee. Die Grenzlinie des Isonzo wird gleich durch den ersten Paß von Karfreit (Caporetto) auf Cividale umgangen. Der Paß von Pontafel umgeht die Stellüng am Tagliamento, die auch noch von zwei nichtchaussierten Pässen aus Kärnten und Cadore in die Flanke genommen wird. Der Brennerpaß umgeht die Piavelinie durch den Peutelsteiner Paß von Brunecken auf Cortina d'Ampezzo und Belluno, die Brentalinie durch die Val Sugana auf Bassano, die Etschlinie durch das Etschtal, den Chiese durch Judikarien, den Oglio auf nichtchaussierten Wegen über den Tonale und endlich alles Gebiet östlich der Adda über das Stilfser Joch und durch das Veltlin. Man sollte sagen, daß bei einer so günstigen strategischen Lage der wirkliche Besitz der Ebenen bis zum Po uns Deutschen ziemlich gleichgültig sein könnte. Wo will, bei gleichen Kräften, die feindliche Armee sich östlich von der Adda oder nördlich vom Po aufstellen? Alle ihre Stellungen sind umgangen; wo sie den Po oder die Adda auch überschreitet, ihre Flanke ist bedroht; zieht sie sich südlich vom Po, so gefährdet sie ihre Verbindung mit Mailand und Piemont, geht sie hinter den Tessin, so riskiert sie ihren Zusammenhang mit der ganzen Halbinsel. Wäre sie verwegen genug, offensiv in der Richtung auf Wien vorzugehn, so kann sie jeden Tag abgeschnitten und genötigt werden, mit dem Rücken nach dem feindlichen Lande, mit der Front nach Italien eine Schlacht zu liefern. Wird sie dann geschlagen, so ist es ein zweites Marengot861 mit gewechselten Rollen; schlägt sie die Deutschen, so müssen diese sich sehr albern anstellen, wenn sie ihren Rückzug nach Tirol verlieren. Der Bau der Straße über das Stilfser Joch ist der Beweis, daß die Östreicher aus ihrer Niederlage von Marengo das Richtige gelernt haben. Napoleon baute die Simplonstraße, um einen gedeckten Aufgang nach dem Herzen
Italiens zu haben; die Östreicher ergänzten ihr System offensiver Verteidigung in der Lombardei durch die Straße von Stilfs nach Bormio. Man wird sagen, dieser Paß sei zu hoch, um im Winter praktikabel zu bleiben; die ganze Route sei zu schwierig, indem sie auf einer Entfernung von mindestens fünfzig deutschen Meilen (von Füssen in Bayern bis Lecco am Corner See) fortwährend durch unwirtbares Hochgebirg geht und auf diese Strecke drei Gebirgspässe kommen; daß sie endlich in dem langen Defilee am Corner See und im Hochgebirge selbst leicht zu sperren sei. Sehen wir zu. Der Paß ist allerdings der höchste fahrbare in der ganzen Alpenkette, 8600 Fuß, und mag im Winter stark verschneien. Wenn wir uns indes der Winterkampagne Macdonalds 1800 bis 1801 an Splügen und Tonale erinnern, so werden wir auf solche Hindernisse nicht viel geben. Alle Alpenpässe verschneien im Winter und werden darum doch passiert. Die jetzt seit Armstrongs Herstellung einer brauchbaren, von hinten geladenen, gezogenen Kanone schwerlich noch aufschiebbare Umgestaltung aller Artillerien wird auch leichteres Geschütz in die Feldartillerie einführen und dadurch die Beweglichkeit erleichtern. Ein ernsthafteres Hindernis ist der lange Marsch im Hochgebirge und die wiederholte Gebirgsübersteigung. Der Stilfser Paß geht nicht über die Wasserscheide der nord- und südalpinischen Flüsse, sondern über die zwei adriatischen Gewässer der Etsch und Adda, und setzt daher voraus, daß die Hauptkette der Alpen vorher am Brenner- oder Finstermünzpaß überstiegen worden, um vom Inntal ins Etschtal zu gelangen. Da nun der Inn in Tirol ziemlich von Westen nach Osten zwischen zwei Bergketten läuft, so müssen Truppen vom Bodensee und aus Bayern auch noch die nördlichere dieser Bergketten übersteigen, so daß wir im ganzen zwei oder drei Bergpässe auf dieser einen Route haben. So beschwerlich dies ist, so ist dies doch kein entscheidendes Hindernis, eine Armee auf diesem Wege nach Italien zu führen. Eine Eisenbahn im Inntal, die schon teilweise fertig, und die im Etschtal projektierte Bahn wird diesen Übelstand bald auf ein Minimum reduzieren. Napoleons Weg über den Bernhard von Lausanne bis Ivrea führte zwar nur ungefähr 30 Meilen durchs Hochgebirge; aber der Weg von Udine nach Wien, auf dem Napoleon 1797 vordrang und auf dem 1809 Eugene und Macdonald sich mit Napoleon bei Wien vereinigten, läuft über 60 Meilen lang durchs Hochgebirg und führt ebenfalls über drei Alpenpässe. Der Weg von Pont-de-Beauvoisin über den Kleinen Bernhard nach Ivrea, die Route, die, ohne die Schweiz zu berühren, direkt von Frankreich am weitesten nach Italien hineinführt, also zum Umgehen die geschickteste ist, zieht sich
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auch über 40 Meilen durchs Hochgebirg, und ebenso die Simplönstraße von Lausanne nach Sesto Calende. - Was endlich das Sperren der Straße im Passe selbst oder am Corner See angeht, so ist man seit den Feldzügen der Franzosen in den Alpen nicht so geneigt mehr, an die Wirksamkeit von Sperrpunkten zu glauben. Dominierende Höhen und die Möglichkeit der Umgehung machen sie ziemlich nutzlos; die Franzosen nahmen viele mit Sturm und sind nie ernstlich durch die Befestigungen der Pässe aufgehalten worden. Die etwaigen Befestigungen des Passes auf der italienischen Seite sind über den Cevedale, den Monte Corno und Gavia und den Tonale und Aprica zu umgehen. Aus dem Veltlin führen viele Saumwege nach der Bergamasca, und die Absperrung des langen Defilees am Corner See ist teils hierdurch, teils von Dervio aus oder von Bellano durch die Val Sassina zu umgehen. Im Gebirgskrieg ist ein Vordringen mit mehreren Kolonnen ohnehin geboten, und wenn eine durchdringt, ist der Zweck gewöhnlich erreicht. Wie sehr die schwierigsten Pässe so ziemlich zu allen Jahreszeiten praktikabel sind, wenn man nur gute Truppen und entschlossene Generale hinschickt; wie sehr also auch geringfügige Nebenpässe, selbst nicht fahrbare, als gute Operationslinien besonders zu Umgehungen zu gebrauchen sind; und wie wenig Sperrpunkte nützen - das beweisen am besten die Feldzüge in den Alpen von 1796 bis 1801. Damals war noch kein einziger Alpenpaß chaussiert, und trotzdem gingen die Armeen in allen Direktionen über die Berge. 1799 ging schon anfangs März Loison mit einer französischen Brigade auf Fußpfaden über die Wasserscheide zwischen Reuß und Rhein, während Lecourbe über den Bernhardin und die Viamala ging, von dort den AlbulaJulier-Paß überstieg (7100 Fuß hoch) und schon am 24. März das Defilee von Martinsbruck durch Umgehung nahm, indem er Dessolle durch das Münstertal über den Pisoc und das Wormser Joch (Fußweg 7850 Fuß hoch) ins obere Etschtal und von dort auf die Reschen-Scheideck sandte. Anfangs Mai zog Lecourbe sich wieder über den Albula zurück. Im September desselben Jahres erfolgte Suworows Zug, auf dem, wie der alte Soldat sich in seiner gewaltsamen Bildersprache ausdrückte, das russische Bajonett durch die Alpen drang (Ruskij styk prognal eres Alpow). Er sandte seine Artillerie größtenteils über den Splügen, ließ eine Umgehungskolonne durch die Val Blegno über den Lukmanier (Fußpfad, 5948 Fuß) und von dort über den Sixmadun (6500 Fuß ungefähr) in das obere Reußtal eindringen, während er selbst den damals kaum fahrbaren Weg des Sankt Gotthard passierte (6594 Fuß). Den Sperrpunkt der Teufelsbrücke erstürmte er am 24. bis 26. September; aber bei Altdorf angekommen, vor sich den See und auf allen andern Seiten die Franzosen, blieb ihm nichts, als das Schächen
tal hinauf über den Kinzig-Kulm ins Muotatal zu gehen. Dort angekommen, nachdem er alle Artillerie und Bagage im Reußtal gelassen, fand er die Franzosen wieder in Übermacht vor sich, während Lecourbe ihm auf den Fersen saß. Suworow ging über den Pragel ins Klöntal, um auf diesem Wege die Rheinebene zu gewinnen. Im Defilee von Näfels stieß er auf unüberwindlichen Widerstand, und nun blieb ihm nichts übrig, als auf dem Fußpfad über den Panixer Paß, 8000 Fuß hoch, das obere Rheintal und die Verbindung mit dem Splügen zu gewinnen. Am 6.Oktober begann der Übergang, am 10. war das Hauptquartier in Ilanz. Diese Passage war bis dahin der großartigste aller modernen Alpenübergänge. Von Napoleons Übergang über den Großen Bernhard wollen wir nicht viel sagen. Gegen die übrigen ähnlichen Operationen jener Zeit steht sie zurück. Die Jahreszeit war günstig, und das einzig Bemerkenswerte ist die geschickte Manier, wie der Sperrpunkt Fort Bard umgangen wurde. Dagegen verdienen besonders rühmliche Erwähnung Macdonalds Operationen im Winter 1800/1801. Bestimmt, mit 15 000 Mann als linker Flügel der französischen Armee von Italien den rechten Flügel der Östreicher an Mincio und Etsch zu umgehen, passierte er im tiefsten Winter mit allen Waffengattungen den Splügen (6510 Fuß). Unter den größten Mühseligkeiten, oft durch Lawinen und Schneestürme unterbrochen, führte er vom 1. bis 7. Dezember seine Armee über den Paß und marschierte die Adda hinauf durchs Veltlin an den Aprica. Die Östreicher scheuten sich ebensowenig vor dem Hochgebirgswinter. Sie behielten den Albula, Julier und Braulio (Wormser Joch) besetzt und machten am letzteren sogar einen Uberfall, bei dem sie ein Detachement demontierter französischer Husaren gefangennahmen. Nachdem Macdonald den Apricapaß vom Adda- ins Ogliotal überstiegen hatte, erstieg er den sehr hohen Paß des Tonale auf Fußpfaden und griff die Östreicher am 22. Dezember an, die das Defilee im Paß mit Eisblöcken verschanzt hatten. Sowohl an diesem Tage wie im zweiten Angriff (31 .Dezember - er war also neun Tage im Hochgebirge geblieben!) zurückgeworfen, ging er die Val Camonica herab bis zum Lago d'Iseo, schickte Kavallerie und Artillerie1 durch die Ebene und überstieg mit der Infanterie die drei Bergrücken, die nach Val Trompia, Val Sabbia und nach Judikarien führten, wo er, in Storo, schon am 6. Januar ankam. Baraguay d'Hilliers war gleichzeitig aus dem Inntal über die Reschen-Scheideck (Finstermünzpaß) ins obere Etschtal gegangen. - Wenn solche Manöver vor sechzig Jahren mög
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lieh waren, was können wir jetzt nicht tun, wo wir in den meisten Pässen die schönsten Chausseen haben! Schon aus diesen Skizzen sehen wir, daß von allen Sperrpunkten nur diejenigen einige Haltbarkeit besaßen, die aus Ungeschick oder Mangel an Zeit nicht umgangen wurden. Der Tonale z. B. war unhaltbar, sobald Baraguay d'Hilliers im oberen Etschtal erschien. Die übrigen Kampagnen beweisen, daß sie entweder durch Umgehung, aber oft auch durch Sturm genommen wurden. Luziensteig wurde zwei- oder dreimal gestürmt, ebenso Malborgeth im Pontafelpaß 1797 und 1809. Die Tiroler Sperrpunkte hielten weder Joubert 1797 noch Ney 1805 auf. Man weiß, was Napoleon behauptet, daß auf Wegen umgangen werden könne, die für eine Ziege praktikabel seien. Und seitdem man auf diese Weise Krieg führt, sind alle Sperrpunkte zu umgehen. Eis ist demnach nicht abzusehen, wie bei gleichen Kräften eine feindliche Armee die Lombardei östlich von der Adda gegen eine über die Alpen vordringende deutsche Armee im freien Felde verteidigen kann. Es bliebe ihr nur noch die Chance, sich zwischen den bestehenden oder neu zu errichtenden Festungen aufzustellen und zwischen diesen zu manövrieren. Diese Möglichkeit werden wir weiter unten erwägen. Welche Pässe stehen nun Frankreich offen, um in Italien einzudringen? Während Deutschland die eine Hälfte der Nordgrenze Italiens ganz umfaßt, läuft die französische Grenze in ziemlich grader Linie von Norden nach Süden, umfaßt und umgeht gar nichts. Erst wenn Savoyen und ein Teil des genuesischen Küstenlandes erobert ist, können über den Kleinen Bernhard und einige Seealpenpässe Umgehungen vorbereitet werden, deren Wirkung indes bloß bis an die Sesia und die Bormida geht, also weder die Lombardei noch die Herzogtümer, geschweige denn die Halbinsel erreicht. Nur eine Landung in Genua, die indes für eine große Armee doch wohl ihre Schwierigkeiten haben wird, könnte zu einer Umgehung von ganz Piemont führen; eine Landung weiter östlich, z. B. in der Spezia, könnte sich schon nicht mehr auf Piemont und Frankreich basieren, sondern nur auf die Halbinsel und wäre daher in demselben Maße umgangen, wie sie selbst umginge. Bis jetzt haben wir die Schweiz als neutral vorausgesetzt. Für den Fall, daß sie in den Krieg hineingezogen würde, bekäme Frankreich einen Paß mehr zur Verfügung: den Simplon (der Große Bernhard, auf Aosta führend wie der Kleine, würde keine neuen Vorteile bieten außer der kürzeren Linie). Der Simplon führt an den Tessin und deckt dadurch den Franzosen Piemont. Die Deutschen erhielten in derselben Weise den untergeordneten Splügen, der am Corner See mit der Stilfser Straße zusammenstößt, und den Bernhardin, dessen Wirkung bis an den Tessin reicht. Der Gotthard könnte nach
Umständen beiden Parteien dienen, würde ihnen aber wenig neue Flankenvorteile eröffnen. So sehen wir, daß der Einfluß einer französischen Umgehung durch die Alpen einerseits und der einer deutschen andererseits bis zur jetzigen lombardisch-piemontesischen Grenze, bis an den Tessin reicht. Wenn aber die Deutschen am Tessin, wenn sie nur bei Piacenza und Cremona stehen, so verlegen sie den Franzosen den Landweg nach der italienischen Halbinsel. Mit andern Worten: Wenn Frankreich Piemont dominiert, so dominiert Deutschland das ganze übrige Italien. Ein taktischer Vorteil kommt den Deutschen außerdem noch zugut: Auf der ganzen deutschen Grenzlinie ist bei allen wichtigen Pässen - das Stilfser Joch ausgenommen - die Wasserscheide auf deutschem Gebiet. Der Fella im Pontafelpaß entspringt in Kärnten, der Boite im Peutelsteiner Paß in Tirol. In dieser letzteren Provinz ist der Vorteil entscheidend. Das obere Brentatal (Val Sugana), das obere Chiesetal (Judikarien) und mehr als die Hälfte des Laufs der Etsch gehören zu Tirol. Wenn auch im einzelnen Fall nicht ohne genaues Studium der Lokalität zu entscheiden ist, ob wirklich taktischer Vorteil aus dem Besitz der Wasserscheide bei Hochgebirgspässen hervorgeht, so ist doch so viel sicher, daß im Durchschnitt die Chancen der Überhöhung wie der Umgehung auf Seiten dessen sind, der den Gebirgskamm und ein Stück des Abhangs auf der feindlichen Seite besetzt hält; und daß man ferner dadurch in den Stand gesetzt wird, die unpraktikabelsten Stellen der Nebenpässe schon vor Ausbruch des Kriegs für alle Waffen gangbar zu machen, was in Tirol von entscheidender Wichtigkeit für die Verbindungen werden kann. Wenn dies Vordringen unseres Gebiets auf die feindliche Seite erst die Ausdehnung erhält, die das deutsche Bundesgebiet in Südtirol hat; wenn, wie hier, die beiden Hauptpässe, der Brenner- und Finstermünzpaß, weitab von der feindlichen Grenze zurückliegen; wenn außerdem entscheidende Nebenpässe wie die durch Judikarien und die Val Sugana ganz dem deutschen Gebiet angehören, so sind dadurch die taktischen Bedingungen einer Invasion Oberitaliens so enorm erleichtert, daß sie im Kriegsfall nur mit Verstand benutzt zu werden brauchen, um den trfolg sicherzustellen. Solange die Schweiz neutral bleibt, ist also Tirol, und sobald die Neutralität der Schweiz aufhört, ist Graubünden und Tirol (das Inntal und Rheintal) der geradeste Weg für ein deutsches Heer, das gegen Italien operiert. Auf dieser Linie drangen die Hohenstaufen nach Italien; auf keiner andern kann ein militärisch wie ein Staat agierendes Deutschland mit raschen Schlägen entscheidend in Italien wirken. Für diese Linie aber ist nicht Inneröstreich, sondern Oberschwaben und Bayern, vom Bodensee bis Salzburg, die Opera
tionsbasis. Im ganzen Mittelalter hat dies gegolten. Erst als Ostreich sich an der Mitteldonau konsolidierte, als Wien Zentralpunkt der Monarchie wurde, als das deutsche Reich zerfiel und in Italien nicht mehr deutsche, sondern nur noch östreichische Kriege geführt wurden, erst da wurde die alte, kurze, grade Linie von Innsbruck auf Verona und von Lindau auf Mailand verlassen, erst da trat die lange, krumme, schlechte Linie von Wien über Klagenfurt und Treviso auf Vicenza ein ihre Stelle, eine Linie, auf die sich früher eine deutsche Armee nur im äußersten Notfall des bedrohten Rückzugs, nie aber für den Angriff verlassen hätte. Solange das deutsche Reich als eine wirkliche Militärmacht bestand, solange es demgemäß seine Angriffe gegen Italien auf Oberschwaben und Bayern basierte, solange mochte es die Unterwerfung Oberitaliens aus politischen Gründen anstreben, nie aber aus rein militärischen. In den langen Kämpfen um Italien ist die Lombardei bald deutsch, bald unabhängig, bald spanisch, bald östreichisch gewesen; die Lombardei aber, was nicht zu vergessen ist, war von Venedig getrennt, und Venedig war unabhängig. Und obwohl die Lombardei Mantua besaß, so schloß sie doch grade die Minciolinie und das Gebiet zwischen Mincio und Isonzo aus, ohne dessen Besitz, wie uns jetzt versichert wird, Deutschland nicht ruhig schlafen kann. Deutschland (durch Vermittelung Ostreichs) ist erst seit 1814 in den vollen Besitz der Minciolinie gekommen. Und wenn auch Deutschland, als politischer Körper, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eben nicht die brillanteste Rolle gespielt hat, so war doch der mangelnde Besitz der Minciolinie jedenfalls nicht schuld daran. Allerdings ist die strategische Arrondierung der Staaten und ihre Begrenzung durch verteidigungsfähige Linien mehr in den Vordergrund getreten, seit die Französische Revolution und Napoleon beweglichere Armeen geschaffen und mit diesen Armeen Europa in allen JRichtungen durchzogen haben. War im Siebenjährigen Kriegetll2] noch das Operationsfeld einer Armee auf eine bloße Provinz beschränkt, drehten sich monatelange Manöver um einzelne Festungen, Stellungen oder Operationsbasen, so kommt heute in jedem Kriege die Terrainkonfiguration ganzer Länder in Betracht, und die Wichtigkeit, die früher an einzelne taktische Positionen geknüpft war, klebt jetztnur noch an großen Festungsgruppen, langen Flußlinien oder hohen, stark ausgesprochenen Gebirgsketten. Und in dieser Beziehung sind Linien wie die des Mincio und der Etsch allerdings von weit größerer Bedeutung als früher. Sehen wir uns also diese Linien einmal an. Alle Flüsse, die östlich vom Simplon von den Alpen in die oberitalienische Ebene zum Po oder direkt zum Adriatischen Meer fließen, bilden mit dem
Po oder allein einen nach Osten konkaven Bogen. Sie sind dadurch der Verteidigung einer im Osten stehenden Armee günstiger als der einer im Westen stehenden. Man sehe den Tessin, die Adda, den Oglio, den Chiese, den Mincio, die Etsch, die Brenta, die Piave, den Tagliamento darauf an; jeder Fluß, allein oder mit dem anstoßenden Teil des Po zusammen, bildet einen Kreisbogen, dessen Zentrum nach Osten zu liegt. Dadurch wird die auf dem linken (östlichen) Ufer stehende Armee befähigt, eine Zentralstellung rückwärts zu nehmen, von der aus sie jeden ernsthaft angegriffenen Punkt des Flußlaufs in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichen kann; sie hält die Jominische „innere Linie" [U31, sie marschiert auf dem Radius oder der Sehne, während der Feind auf der längeren Peripherie manövrieren muß. Findet sich die Armee des rechten Ufers in der Defensive, so wird umgekehrt dieser Umstand ihr ungünstig sein; der Feind ist in seinen falschen Angriffen durch die Lokalität unterstützt, und dieselben kürzeren Entfernungen von den einzelnen Punkten der Peripherie, die ihm bei der Verteidigung zugut kommen, geben nun seinem Angriff ein entscheidendes Übergewicht. So sind also die lombardisch-venetianischen Flußlinien durchaus für eine deutsche Armee in Defensive und Offensive günstig, für eine italienische oder italienischfranzösische Armee ungünstig; und wenn hierzu noch der schon entwickelte Umstand kommt, daß die Tiroler Pässe diese sämtlichen Linien umgehen, so ist wahrlich kein Grund vorhanden, an der Sicherheit Deutschlands zu verzweifeln, selbst wenn kein östreichischer Soldat mehr auf italienischem Boden stände; denn dieser lombardische Boden gehört uns, sooft wir wollen. Diese lombardischen Flußlinien sind übrigens meist sehr unbedeutend und zur ernsthaften Verteidigung wenig geeignet. Abgesehen vom Po selbst, über den wir weiter unten sprechen werden, finden sich im ganzen Bassin nur zwei für Frankreich oder Deutschland wirklich bedeutende Positionen; sie sind von den betreffenden Generalstäben richtig in ihrer Stärke erfaßt und befestigt worden und werden im nächsten Kriege unbedingt die entscheidende Rolle spielen. In Piemont, eine Meile unterhalb Casale, biegt der Po seinen bis dahin östlichen Lauf nach Süden, verläuft auf stark drei Meilen nach Südsüdost und wendet sich dann wieder nach Osten. An der nördlichen Biegung fließt von Norden die Sesia, ein der südlichen von Südwesten der Tanaro ein. Mit diesem vereinigen sich unmittelbar vor ihrem Einfluß, dicht bei Alessandna, die Bormida, die Orba und der Belbo und bilden zusammen ein System strahlenförmig nach einem Mittelpunkt zusammenströmender Flußlinien, deren wichtigster Knotenpunkt durch das verschanzte Lager von Alessandria gedeckt wird. Von Alessandria aus kann eine Armee beliebig die Ufer der kleineren Flüsse wechseln, kann die vor der Front liegende Linie
des Po verteidigen, kann bei dem ebenfalls befestigten Casale über den Po gehn oder auf dem rechten Po-Ufer flußabwärts operieren. Diese Stellung, durch hinreichende Befestigungen verstärkt, ist die einzige, die Piemont deckt oder zur Basis offensiver Operationen gegen die Lombardei und die Herzogtümer dienen kann. Sie leidet indes daran, daß sie keine Tiefe hat, und da sie sowohl umgangen als in der Front durchbrochen werden kann, so ist dieser Umstand sehr ungünstig; ein kräftiger und geschickter Angriff würde sie bald auf das noch unvollendete verschanzte Lager von Alessandria reduzieren, und wieweit dies die Verteidiger vor der Notwendigkeit schützen würde, sich unter ungünstigen Umständen zu schlagen, darüber fehlen alle Anhaltspunkte, da weder die neuesten dortigen Befestigungsanlagen noch der erreichte Grad ihrer Vollendung bekannt sind. Die Wichtigkeit dieser Position für die Verteidigung Piemonts gegen Angriffe von Osten hatte schon Napoleon erkannt und Alessandria demzufolge heu befestigen lassen. 1814 bewährte der Platz seine schützende Kraft nicht; wieweit er dies heutzutage vermag, werden wir vielleicht bald zu sehn Gelegenheit haben. Die zweite Position, die für das Venetianische dasselbe und noch viel mehr gegen Angriffe aus Westen leistet, was Alessandria für Piemont, ist die des Mincio und der Etsch. Aus dem Gardasee heraustretend, fließt der Mincio vier Meilen weit, bis Mantua, in südlicher Richtung, erleidet bei Mantua eine seeartige, von Sümpfen umgebene Ausbuchtung und fließt dann in südöstlicher Richtung dem Po zu. Die Flußstrecke unterhalb der Mantuaner Sümpfe bis zur Mündung ist zu kurz, um einer Armee zum Übergang zu dienen, indem der aus Mantua debouchierende Feind sie in den Rücken nehmen und zu einer Schlacht unter den ungünstigsten Umständen zwingen könnte. Eine Umgehung von Süden her müßte weiter ausholen und bei Revere oder Ferrara über den Po gehn. Von Norden ist die Stellung am Mincio durch den Gardasee auf weithin vor Umgehung geschützt, so daß die wirklich zu verteidigende Linie des Mincio von Peschiera bis Mantua nur vier Meilen lang ist und an jedem Flügel sich an eine Festung anlehnt, die ein Debouche auf das rechte Ufer sichert. Der Mincio selbst ist kein beträchtliches Hindernis, und die Ufer überhöhen sich je nach der Lokalität wechselseitig; hierdurch war die Linie vor 1848 einigermaßen in Verruf gekommen, und wenn sie nicht durch einen besondern Umstand bedeutend verstärkt würde, so hätte sie schwerlich je große Berühmtheit erlangt. Dieser besondere Umstand ist aber der, daß vier Meilen weiter rückwärts der zweite Fluß Oberitaliens, dieEtsch, in einemmit demMincio undunterenPo ziemlich parallelen Bogen läuft und so eine zweite, stärkere Stellung bildet, die durch die beiden Etschfestungen Verona und Legnago verstärkt wird. Die beiden Flußlinien
aber, mit ihren vier Festungen, bilden zusammen für eine deutsche oder östreichische, von Italien oder Frankreich angegriffene Armee eine so starke Defensivposition, daß keine zweite in Europa ihr an die Seite gesetzt werden kann und daß eine Armee, die nach Abgabe der Garnison noch im Felde auftreten kann, ruhig dem Angriff einer doppelt so starken Macht in dieser Stellung entgegensehen kann. Was diese Position leistet, hat Radetzky 1848 bewiesen. Nach der Mailänder Märzrevolution[3ö], dem Abfall der italienischen Regimenter und dem Übergang der Piemontesen über den Tessin zog er sich mit dem Rest seiner Truppen, ungefähr 45 000 Mann, nach Verona. Nach Abzug der 15 000 Mann starken Garnisonen blieben ihm etwas über 30 000 Mann disponibel. Ihm gegenüber standen zwischen Mincio und Etsch ungefähr 60 000 Piemontesen, Toskaner, Modeneser und Parmesaner. In seinem Rücken erschien Durandos Armee, ungefähr 45 000 Mann päpstliche und neapolitanische Truppen und Freiwillige^141. Nur die Verbindung durch Tirol war ihm geblieben, und auch diese war, wenn auch nur leicht, durch lombardische Freischaren im Gebirg bedroht. Trotzdem hielt sich Radetzky. Die Beobachtung Peschieras und Mantuas nahm den Piemontesen so viel Truppen weg, daß sie am 6. Mai bei dem Angriff auf die Stellung von Verona (Schlacht bei Santa Lucia) nur mit vier Divisionen, 40 000 bis 45 000 Mann, auftreten konnten; Radetzky mochte, mit der Garnison von Verona, 36 000 Mann verwenden. Das Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld war also, wenn die taktische starke Defensivstellung der Östreicher in Erwägung gezogen wird, schon wieder hergestellt, und die Piemontesen wurden geschlagen. Die Kontrerevolution vom 15. Mai in Neapel befreite Radetzky von der Gegenwart der 15 000 NeapolitanertU51 und reduzierte die Armee des venetianischen Festlandes auf ungefähr 30 000 Mann, wovon aber nur 5000 päpstliche Schweizer und ungefähr ebensoviel päpstliche italienische Linientruppen im offenen Felde zu verwenden waren; den Rest bildeten Freischaren. Die Nugentsche Reservearmee, die sich im April am Isonzo gebildet hatte, schlug sich leicht durch diese Truppen durch und vereinigte sich am 25.Mai mit Radetzky bei Verona, beinahe 20 000 Mann stark. Jetzt konnte der alte Feldmarschall endlich aus der passiven Verteidigung heraustreten. Um Peschiera zu entsetzen, das die Piemontesen belagerten, und um sich selbst mehr Luft zu verschaffen, unternahm er den berühmten Flankenmarsch nach Mantua mit seiner ganzen Armee (27. Mai), debouchierte von hier am 29. auf dem rechten Ufer des Mincio, erstürmte die feindliche Linie am Curtatone und drang am 30. gegen Goito, in den Rücken und die Flanke der Italiener vor. Aber an demselben Tag fiel Peschiera; das Wetter wurde ungünstig, und zu einer Entscheidungsschlacht fühlte Radetzky sich noch
nicht stark genug. Er marschierte also am 4. Juni wieder durch Mantua nach der Etsch zurück, sandte das Reservekorps nach Verona und ging mit dem Rest seiner Truppen über Legnago gegen Vicenza, das von Durando verschanzt und mit 17000 Mann besetzt war. Am 10. griff er Vicenza mit 30 0CK3 Mann an, am 11. kapitulierte Durando nach tapferer Gegenwehr. Das zweite Armeekorps (d'Aspre) unterwarf Padua, das obere Brentatal und das venetianische Festland überhaupt und folgte dann dem ersten nach Verona; eine zweite Reservearmee unter Weiden rückte vom Isonzo heran. Während dieser Zeit und bis zur Entscheidung des Feldzuges konzentrierten die Piemontesen mit abergläubischer Hartnäckigkeit alle ihre Aufmerksamkeit auf das Plateau von Rivoli, das sie seit Napoleons Sieg für den Schlüssel Italiens anzusehen schienen, das aber 1848 gar keine Bedeutung mehr hatte, seitdem die Östreicher sich eine sichere Verbindung mit Tirol durch die Vallarsa und namentlich auch die direkte Verbindung mit Wien über den Isonzo wieder eröffnet hatten. Zu gleicher Zeit indes sollte auch etwas gegen Mantua geschehen; es wurde also auf der rechten Mincioseite blockiert - eine Operation, die gar keinen andern Zweck haben konnte, als die im piemontesischen Lager herrschende Ratlosigkeit zu dokumentieren, die Armee auf der ganzen, acht Meilen langen Strecke von Rivoli bis Borgoforte zu verzetteln und sie obendrein durch den Mincio in zwei Hälften zu teilen, die sich nicht gegenseitig unterstützen konnten. Als nun der Versuch gemacht wurde, Mantua auch auf dem linken Ufer zu blockieren, entschloß sich Radetzky, der inzwischen 12 000 Mann von Weidens Truppen an sich gezogen hatte, die Piemontesen in ihrem geschwächten Zentrum zu durchbrechen und die sich sammelnden Truppen dann einzeln zu schlagen. Am 22. Juli ließ er Rivoli angreifen, das die Piemontesen am 23. räumten; am 23. rückte er selbst von Verona mit 40 000 Mann gegen die bloß von 14 000 Piemontesen verteidigte Stellung von Sona und Sommacampagna, nahm sie und sprengte dadurch die ganze feindliche Linie. Der linke piemontesische Flügel wurde am 24. vollends über den Mincio zurückgeworfen, und der inzwischen konzentrierte und gegen die Ostreicher vordringende rechte am 25. bei Custozza geschlagen; am 26. ging die ganze östreichische Armee über den Mincio und schlug die Piemontesen noch einmal bei Volta. Damit war der Feldzug beendigt; fast ohne Widerstand gingen die Piemontesen hinter den Tessin zurück. Diese kurze Erzählung des Feldzugs von 1848 beweist schlagender als alle theoretischen Gründe die Stärke der Stellung am Mincio und an der Etsch. Im Viereck zwischen den vier Festungen angekommen, mußten die Piemontesen so viel Truppen detachieren, daß ihre Offensivkraft, wie die
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Schlacht von Santa Lucia beweist, dadurch schon gebrochen war, während Radetzky, sobald die ersten Verstärkungen kamen, sich mit vollkommener Freiheit zwischen den Festungen bewegen, sich bald auf Mantua, bald auf Verona basieren, heute auf dem rechten Mincio-Ufer den Rücken des Feindes bedrohen, wenige Tage darauf Vicenza erobern und fortwährend die Initiative des Feldzugs ausüben konnte. Die Piemontesen haben allerdings Fehler über Fehler begangen; aber es ist gerade die Stärke einer Stellung, die den Feind in Verlegenheit setzt und ihn fast zwingt, Fehler zu begehen. Die Beobachtung, noch mehr die Belagerung der einzelnen Festungen nötigt ihn, sich zu teilen, seine disponible Offensivkraft zu schwächen; die Flüsse zwingen ihn, diese Teilung zu wiederholen, und setzen seine verschiedenen Korps mehr oder weniger in die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu Hülfe zu kommen. Welche Kräfte gehören dazu, Mantua zu belagern, solange eine für das Feld disponible Armee jeden Augenblick aus den detachierten Forts von Verona vorbrechen kann? Mantua allein war imstande, 1797 die siegreiche Armee des Generals Bonaparte aufzuhalten. Nur zweimal imponierte ihm eine Festung: Mantua und zehn Jahre später DanzigI82]. Der ganze zweite Teil der Kampagne von [1796 und] 1797: Castiglione, Medole, Calliano, Bassano, Arcole, Rivoli[81] alles dreht sich um Mantua, und erst nachdem diese Festung gefallen, wagt der Sieger nach Osten und über den Isonzo vorzudringen. Damals war Verona nicht befestigt; 1848 war von Verona auf dem rechten Etschufernur die Ringmauer fertig, und die Schlacht von Santa Lucia wurde auf dem Terrain geschlagen, wo gleich darauf die östreichischen Redouten und seitdem permanente detachierte Forts angelegt worden sind, und erst hierdurch wird das verschanzte Lager von Verona der Kern, das Reduit der ganzen Stellung, die hierdurch enorm an Stärke gewonnen. Man sieht, wir denken nicht daran, die Wichtigkeit der Minciolinie zu bemäkeln. Aber vergessen wir nicht: Diese Linie ist erst von Wichtigkeit geworden, seitdem Ostreich auf eigne Faust in Italien Kriege führt und seitdem die Verbindung Bozen — Innsbruck — München durch die andere, Treviso — Klagenfurt—Wien, in den Hintergrund gedrängt worden ist.Undfür Ostreich in seiner jetzigen Gestalt ist der Besitz der Minciolinie allerdings eine Lebensfrage. Ostreich als selbständiger Staat, der als europäische Großmacht auch unabhängig von Deutschland agieren will, muß entweder den Mincio und unteren Po beherrschen oder auf die Verteidigung Tirols verzichten; Tirol wäre sonst nach beiden Seiten umgangen und nur durch den Toblacher Paß mit dem Rest der Monarchie verbunden (die Straße von Salzburg nach Innsbruck geht durch Bayern). Nun existiert zwar eine Ansicht unter älteren
Militärs, daß Tirol eine große Verteidigungsfähigkeit besitze und sowohl das Donau- wie das Po-Bassin beherrsche. Aber diese Ansicht ist unbedingt auf Phantasterei basiert und nie durch die Erfahrung bewährt, denn ein Insurrektionskrieg wie der von 1809[1161 beweist nichts für die Operationen einer regelmäßigen Armee. Der Urheber dieser Ansicht ist Biilou); er spricht sie unter anderm in seiner Geschichte der Feldzüge von Hohenlinden und Marengo11171 aus. Ein Exemplar der französischen Übersetzung dieses Buches, einem englischen Ingenieuroffizier Emmett gehörig, der zu Napoleons Zeit in St. Helena kommandiert war, fiel dem gefangenen Feldherrn 1819 in die Hände. Er machte zahlreiche Randglossen dazu, und Emmett ließ das Buch 1831 mit Napoleons Noten wieder abdrucken. Napoleon ging offenbar mit günstigen Eindrücken an die Lektüre. Bei Bülows Vorschlag, die ganze Infanterie in Tirailleurs aufzulösen, bemerkt er wohlwollend: „De l'ordre, toujours de l'ordre - les tirailleurs doivent toujours etre soutenus par des lignes."1 Dann folgt ein paarmal: „Bien - c'est bien"2 - und wieder: „Bien". Aber von der zwanzigsten Seite an wird es Napoleon doch zu toll, wenn er den armen Bülow sich abarbeiten sieht, alle Wechselfälle des Kriegs aus seiner Theorie der exzentrischen Rückzüge und konzentrischen Angriffe mit seltnem Unglück und Ungeschick sich zu erklären und durch eine schülerhafte Interpretation die meisterhaftesten Schachzüge ihres Sinns zu berauben. Erst ein paarmal: „Mauvais - cela est mauvais mauvais principe"3 - dann heißt es: „Cela n'est pas vrai - absurde - mauvais plan bien dangereux - restez unis si vous voulez vaincre - il ne faut jamais separer son armee par un fleuve - tout cet echafaudage est absurde"4 usw. Und wenn Napoleon gar fortwährend findet, daß Bülow stets schlechte Operationen lobt und gute tadelt, daß er den Generälen die närrischsten Motive unterschiebt und ihnen die komischsten Ratschläge gibt, daß er endlich das Bajonett abschaffen und dafür das zweite Glied der Infanterie mit Lanzen bewaffnen will, so ruft er aus: „Bavardage inintelligible, quel absurde bavardage, quelle absurdite, quel miserable bavardage, quelle ignorance de la «5 guerre .
1 „Ordnung, zu jeder Zeit Ordnung - die Schützen müssen stets durch Linientruppen unterstützt werden." - 2 „Gut - das ist gut" - 3 „Schlecht - das ist schlecht - schlechtes Prinzip" — 4 „Das ist nicht richtig - unsinnig - schlechter, sehr gefährlicher Plan - bleiben Sie vereint, wenn Sie siegen wollen — man darf nie seine Armee durch einen Fluß teilen dieses ganze Gerede ist unsinnig" — 5 „Unverständliches Geschwätz, welch unsinniges Geschwätz, welche Abgeschmacktheit, welch miserables Geschwätz, welche Unkenntnis des Krieges."
Bülow wirft hier der östreichischen Donauarmee unter Kray vor, nach Ulm statt nach Tirol gegangen zu sein. Tirol, diese uneinnehmbare Bastion von Bergen und Felsen, beherrsche Bayern und einen Teil der Lombardei zu gleicher Zeit, sobald es von hinreichenden Truppen besetzt sei (Napoleon: „On n'attaque pas les montagnes, pas plus le Tirol que la Suisse, on les observe et on les tourne par les plaines"1). Dann wirft Bülow Moreau vor. er habe sich durch Kray bei Ulm festhalten lassen, statt ihn stehenzulassen und Tirol, das schwach besetzt war, zu erobern: Die Eroberung Tirols hätte die östreichische Monarchie niedergeworfen (Napoleon: „Absurde, quand meme le Tirol eüt ete ouvert, il ne fallait pas y entrer"2). Nachdem Napoleon die Lektüre des ganzen Buchs beendigt, charakterisierte er das System der exzentrischen Rückzüge und konzentrischen Angriffe und der Beherrschung der Ebenen durch die Berge mit folgenden Worten: „Si vous voulez apprendre la maniere de faire battre une armee superieure par une armee inferieure, etudiez les maximes de cet ecrivain; vous aurez des idees sur la science de la guerre, il vous prescrit le contre-pied de ce qu'il faut enseigner."3 Drei- bis viermal wiederholte Napoleon die Warnung: „II ne faut jamais attaquer les pays des montagnes." 4 Diese Scheu vor dem Gebirg datiert offenbar aus seinen späteren Jahren, wo seine Armeen eine so kolossale Stärke erreichten und sowohl der Verpfiegung wie der taktischen Entwicklung halber an die Ebenen gebunden waren. Spanien[118] und Tirol mögen auch das Ihrige dazu beigetragen haben. Sonst fürchtete er sich doch nicht so sehr vor den Bergen. Die erste Hälfte seines Feldzugs von [ 1796 und] 1797 wurde ganz im Gebirge geschlagen, und in den folgenden Jahren bewiesen Massena und Macdonald hinlänglich, daß man auch im Gebirgskrieg - und grade da am allerersten mit geringen Kräften Großes leisten kann. Aber im ganzen ist es Idar, daß unsre modernen Armeen im gemischten Terrain der Ebnen und des niederen Hügellandes ihre Kräfte am besten zur Geltung bringen können und daß eine Theorie falsch ist, die vorschreibt, eine große Armee ins Hochgebirg zu werfen - nicht zum Durchzug, sondern um dort dauernd Stellung zu nehmen solange rechts und links Ebenen wie die bayerische und lombardische
1 „Man greift die Berge nicht an, weder Tirol noch die Schweiz, man beobachtet sie nur und umgeht sie durch die Ebenen" - 2 „Unsinnig, selbst wenn Tirol offen gewesen wäre, dürfte man nicht dort einrücken" - 3 „Wenn Sie lernen wollen, wie man es anstellt, eine überlegene Armee von einer schwächeren Armee schlagen zu lassen, so studieren Sie nur die Grundsätze dieses Schriftstellers, Sie werden schöne Begriffe von der Kriegswissenschaft bekommen, er schreibt Ihnen das Gegenteil von dem vor, was man lehren muß." - 4 „Man darf niemals die Bergländer angreifen."
frei liegen, in denen man den Krieg entscheiden kann. Wie lange kann eine Armee von 150 000 Mann in Tirol ernährt werden? Wie bald würde der Hunger sie in die Ebene hinuntertreiben, wo sie inzwischen dem Gegner Zeit gelassen hat, sich festzusetzen, wo sie gezwungen werden kann, eine Schlacht unter den ungünstigsten Bedingungen zu schlagen? Und wo könnte sie in den engen Tälern eine Position finden, in der sie ihre ganze Stärke entwickeln kann ? Für Ostreich wäre, sobald es den Minciq und die Etsch nicht mehr besitzt, Tirol ein verlorner Posten, den es aufzugeben genötigt wäre, sobald er von Norden oder Süden angegriffen wird. Für Deutschland umgeht Tirol die Lombardei bis an die Adda durch seine Pässe; für ein separat handelndes Ostreich umgeht die Lombardei und das Venetianische bis an die Brenta Tirol. Nur solange Bayern Tirol im Norden und der Besitz der Minciolinie es im Süden deckt, ist es für Ostreich haltbar. Die Stiftung des Rheinbundes11191 machte es für Ostreich unmöglich, selbst Tirol und das Venetianische zusammengenommen ernsthaft zu verteidigen, und daher war es ganz konsequent, wenn Napoleon im Preßburger Frieden11203 beide Provinzen von Ostreich trennte. Für Ostreich also ist der Besitz der Minciolinie mit Peschiera und Mantua eine absolute Notwendigkeit. Für Deutschland als Ganzes ist ihr Besitz keineswegs notwendig, obwohl er militärisch immernoch ein großer Vorteil ist. Worin dieser Vorteil besteht, liegt auf der Hand. Nur darin, daß er uns von vornherein eine starke Position in der lombardischen Ebene sichert, die wir dann nicht erst zu erobern brauchen, und daß er unsere Verteidigungsstellung bequem arrondiert, unsre Offensive aber bedeutend unterstützt. Wenn aber Deutschland die Minciolinie nicht hat? Nehmen wir an, ganz Italien .sei unabhängig, einig und mit Frankreich zum Offensivkriege gegen Deutschland verbündet. Aus allem, was wir bisher gesagt haben, geht hervor, daß in diesem Falle die Operations- und Rückzugslinie der Deutschen nicht Wien—Klagenfurt—Treviso, sondern München— Innsbruck—Bozen und München—Füssen—Finstermünz—Glums wären, und daß ihre Debouches in der lombardischen Ebene zwischen der Val Sugana und der Schweizer Grenze liegen. Wo ist nun der entscheidende Angriffspunkt? Offenbar derjenige Teil Oberitaliens, der die Verbindung der Halbinsel mit Piemont und Frankreich vermittelt, der mittlere Po von Alessandria bis Cremona. Aber die Pässe zwischen Gardasee und Corner See reichen vollständig hin, um den Deutschen das Vordringen in diese Gegend zu gestatten und ihnen den Rückzug auf demselben Wege, im schlimmsten Fall über das Stilfser Joch, offenzuhalten. In diesem Fall würden die Mincio- und Etschfestungen, die wir im Besitz der Italiener angenommen haben, weitab vom
entscheidenden Schlachtfeld liegen. Eine Besatzung des verschanzten Lagers von Verona mit entsprechenden, zur Offensive hinlänglichen Kräften würde nur eine unnütze Zersplitterung der feindlichen Truppen sein. Oder erwartet man, daß die Italiener in Masse auf dem vielbeliebten Plateau von Rivoli den Deutschen das Etschtal verlegen würden? Seitdem die Stelviostraße (über das Stilfser Joch) gebaut ist, hat das Debouche aus dem Etschtal viel von seiner Wichtigkeit verloren. Aber gesetzt den Fall, daß Rivoli wieder als Schlüssel Italiens figurieren sollte und daß die Deutschen von der Attraktionskraft der dort stehenden italienischen Armee stark genug angezogen würden, um den Angriff zu machen - wozu sollte dann noch Verona dienen? Es schließt das Etschtal nicht, sonst wäre der Marsch der Italiener nach Rivoli überflüssig. Um den Rückzug im Fall einer Niederlage zu decken, ist Peschiera hinlänglich, das einen sichern Übergang über den Mincio bietet und damit den weiteren Marsch nach Mantua oder Cremona sicherstellt. Eine Massenaufstellung der ganzen italienischen Streitmacht zwischen den vier Festungen, etwa um die Ankunft der Franzosen hier zu erwarten, ohne zur Schlacht provoziert werden zu können, würde aber gerade von Anbeginn des Feldzugs an die uns feindlichen Kräfte in zwei Hälften teilen und es uns möglich machen, auf ihre Vereinigungslinie mit gesammelten Kräften erst gegen die Franzosen vorzudringen und, nachdem diese geschlagen, den allerdings etwas langwierigen Prozeß der Delogierung der Italiener aus ihren Festungen vorzunehmen. Ein Land wie Italien, dessen nationale Armee bei jedem erfolgreichen Angriff aus Norden und Osten sofort in das Dilemma versetzt ist, zwischen der Basis Piemont und der Basis der Halbinsel zu wählen, solch ein Land muß offenbar seine großen Defensivanlagen in der Gegend haben, wo die Armee in dies Dilemma kommen kann. Hier bieten der Einfluß des Tessin und der Adda in den Po Anhaltspunkte dar. Der General von Willisen („Italienischer Feldzug des Jahres 1848") wünschte beide Punkte von den Östreichern befestigt. Abgesehen davon, daß dies schon deswegen nicht geht, weil ihnen das nötige Terrain nicht gehört (bei Cremona ist das rechte Po-Ufer parmesanisch, und in Piacenza haben sie nur das Garnisonsrecht), so sind auch beide Punkte für eine große Defensivstellung zu weit vorgeschoben in einem Lande, wo die Östreicher in jedem Kriege von Insurrektionen umgeben sein werden; ferner vergißt Willisen, der nie zwei Flüsse sich vereinigen sehen kann, ohne gleich für ein großes verschanztes Lager Pläne zu machen, daß weder Tessin noch Adda verteidigungsfähige Linien sind, also auch nach seiner eignen Ansicht das dahinterliegende Land nicht decken. Aber was für die Östreicher nutzlose Verschwendung wäre, das ist für die Italiener unbedingt eine gute Position. Für sie ist der Po die Haupt
Verteidigungslinie; das DreieckPizzighettone—Cremona—Piacenza, mit Alessandria links und Mantua rechts, würde eine wirksame Verteidigung dieser Linie herstellen und der Armee erlauben, sowohl gedeckt die Ankunft entfernter Bundesgenossen zu erwarten als auch im gegebnen Fall offensiv in der entscheidenden Ebene zwischen Sesia und Etsch vorzugehn. Der General von Radowitz sprach sich in der Frankfurter Nationalversammlung dahin aus: Wenn Deutschland die Minciolinie nicht mehr besitze, so sei es in die Stellung versetzt, in die es jetzt erst nach einem ganzen unglücklichen Feldzug komme. Der Krieg sei dann sofort auf deutsches Gebiet gespielt; er fange am Isonzo und in Welschtirol an, und alles süddeutsche Gebiet bis nach Bayern hinein sei umgangen, so daß der Krieg auch in Deutschland statt am Oberrhein dann an der Isar ausgefochten werden müsse.11®53 Der General von Radowitz scheint die militärischen Kenntnisse seines Publikums ziemlich richtig beurteilt zu haben. Es ist richtig: Wenn Deutschland die Minciolinie aufgibt, so gibt es an Terrain und Positionen so viel auf, als den Franzosen und Italienern ein ganzer glücklicher Feldzug einbringen würde. Aber damit ist Deutschland denn doch noch lange nicht in die Stellung versetzt, in die ein unglücklicher Feldzug es bringen würde. Oder ist eine starke, intakte deutsche Armee, die sich am bayrischen Fuß der Alpen versammelt und über die Tiroler Pässe marschiert, um in die Lombardei einzufallen, in derselben Lage wie ein durch eine unglückliche Kampagne ruiniertes und demoralisiertes Heer, das vom Feinde gejagt dem Brenner zueilt? Ist die Chance einer erfolgreichen Offensive von einer Position aus, die den Vereinigungspunkt der Franzosen und Italiener in vieler Beziehung beherrscht, gleich der Chance einer geschlagenen Armee, ihre Artillerie über die Alpen zu bringen? Ehe wir die Minciolinie hatten, haben wir Italien viel öfter erobert, als seitdem wir sie haben; wer will bezweifeln, daß wir im Notfall das Kunststück noch einmal machen? Was nun den Punkt betrifft, daß ohne die Minciolinie der Krieg sofort nach Bayern und Kärnten hineingespielt wird, so ist auch das nicht richtig. Unsre ganze Darstellung läuft darauf hinaus, daß ohne die Minciolinie die Verteidigung der deutschen Südgrenze nur offensiv geschehen kann. Dazu führt die gebirgige Natur der deutschen Grenzprovinzen, die nicht zum entscheidenden Schlachtfeld dienen können; dazu führt die günstige Lage der Alpenpässe. Das Schlachtfeld liegt in den Ebenen vor ihnen. Dort müssen wir hinabsteigen, und das kann uns keine Macht der Erde wehren. Eine günstigere Einleitung der Offensive als diejenige, die uns hier für den ungünstigsten Fall einer französisch-italienischen Allianz geboten wird, ist nicht
leicht zu denken. Unterstützt kann sie werden durch Verbesserung der Alpenstraßen und durch Befestigungen an den Straßenknoten in Tirol, die einsehnlich genug sein müssen, um im Fall des Rückzugs den Feind, wo nicht ganz aufzuhalten, doch zu starken Detachierungen zum Schutz seiner Verbindungen zu nötigen. Was die Alpenstraßen angeht, so beweisen uns sämtliche Kriege in den Alpen, daß auch die meisten nichtchaussierten Hauptwege und viele Saumpfade für alle Waffengattungen ohne übergroße Mühe passierbar sind. Unter diesen Umständen sollte eine deutsche Offensive in die Lombardei doch wahrlich so einzurichten sein, daß sie alle Aussicht auf Erfolg hat. Freilich, wir können trotzdem geschlagen werden; und dann würde der Fall eintreten, von dem Radowitz spricht. Wie steht es dann mit dem Entblößen Wiens und dem Umgehen Bayerns durch Tirol? Erstens ist es klar, daß kein feindliches Bataillon wagen darf, über den Isonzo zu gehn, solange nicht die deutsche Armee von Tirol ganz und unwiederbringlich über den Brenner zurückgeworfen ist. Von dem Augenblick an, wo Bayern die deutsche Operationsbasis gegen Italien bildet, von dem Augenblick an hat eine italienisch-französische Offensive in der Richtung auf Wien gar keinen Zweck mehr, sie wäre eine nutzlose Zersplitterung der Kräfte. Wäre aber auch Wien dann noch ein so wichtiges Zentrum, daß es der Mühe wert wäre, die Hauptmacht der feindlichen Armee zu seiner Eroberung zu detachieren, so beweist das bloß, daß Wien befestigt werden muß. Napoleons Zug 17971, die Invasionen in Italien und Deutschland 1805 und 1809 hätten sehr schlimm für die Franzosen endigen können, wäre Wien befestigt gewesen. Eine auf solche Entfernungen vorgedrungene Offensive läuft immer Gefahr, an einer befestigten Hauptstadt ihre letzten Kräfte zu zerschellen. Übrigens angenommen, der Feind habe die deutsche Armee über den Brenner geworfen, welches Maß von Überlegenheit wird nicht vorausgesetzt, um eine wirksame Detachierung nach Inneröstreich möglich zu machen! Wie steht es aber mit der Umgehung von ganz Süddeutschland durch Italien? In der Tat, wenn die Lombardei Deutschland bis München umgeht, wie weit umgeht dann Deutschland Italien? Doch jedenfalls bis Mailand und Pavia. Die Chancen sind also soweit gleich. Aber infolge der viel größeren Breite Deutschlands braucht eine Armee am Oberrhein, die über Italien auf München „umgangen" wird, darum nicht sogleich zurückzugehen. Ein verschanztes Lager in Oberbayern oder eine passagere Befestigung Münchens würde die geschlagene Tiroler Armee aufnehmen und die Offensive des nachdringenden Feindes bald zum Stehen bringen, während der Oberrhein
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armee die Wahl bliebe, sich auf Ulm und Ingolstadt oder auf den Main zu basieren, schlimmstenfalls also die Operationsbasis zu wechseln. In Italien dagegen ist das alles anders. Ist eine italienische Armee durch die Tiroler Pässe im Westen umgangen, so braucht sie nur noch aus ihren Festungen vertrieben zu werden, und ganz Italien ist erobert. Deutschland, in einem Kriege gegen Frankreich und Italien zusammen, hat stets mehrere Armeen, mindestens drei, und der Sieg oder die Niederlage hängt ab von dem Gesamtresultat aller drei Feldzüge. Italien bietet nur Raum für eine Armee; jede Teilung wäre ein Fehler; und ist diese eine Armee vernichtet, so ist damit Italien erobert. Für eine französische Armee in Italien ist die Verbindung mit Frankreich unter allen Umständen Hauptsache; und solange diese Verbindungslinie nicht auf den Col di Tenda und Genua beschränkt wird, solange bietet sie den Deutschen in Tirol die Flanke dar - und um so mehr, je weiter die Franzosen in Italien vorrücken. Der Fall eines Eindringens der Franzosen und Italiener nach Bayern durch Tirol muß allerdings von dem Augenblick an vorgesehen werden, wo wieder deutsche Kriege in Italien geführt werden und die Operationsbasis von Ostreich nach Bayern verlegt wird. Aber mit geeigneten fortifikatorischen Anlagen im modernen Sinn, wo die Festungen um der Armeen, nicht aber die Armeen um der Festungen willen da sind, kann dieser Invasion weit leichter die Spitze abgebrochen werden als einer deutschen Invasion nach Italien. Und darum brauchen wir aus dieser sogenannten „Umgehung" von ganz Süddeutschland kein Schreckbild zu machen. Der Feind, der eine deutsche Oberrheinarmee durch Italien und Tirol umgeht, muß bis an die Ostsee vorrücken, ehe er die Früchte dieser Umgehung pflücken kann. Der Marsch Napoleons von Jena nach Stettin[121] läßt sich aber in der Richtung von München auf Danzig schwerlich wiederholen. Daß Deutschland, wenn es die Etsch- und Minciolinie aufgibt, einer sehr starken Defensivposition entsagt, dies bestreiten wir in keiner Weise. Daß aber diese Position zur Sicherheit der deutschen Südgrenze notwendig sei, dies bestreiten wir durchaus. Wenn man freilich, wie die Vertreter der entgegengesetzten Ansicht zu tun scheinen, von der Voraussetzung ausgeht, daß eine deutsche Armee, wo sie sich auch zeigt, jedesmal geschlagen wird dann mag man sich einbilden, daß Etsch, Mincio und Po uns unbedingt nötig seien. Dann aber können sie in Wirklichkeit erst recht nichts nützen; dann helfen uns weder Festungen noch Armeen, dann gehen wir am besten gleich durch das Kaudinische Joch[122]. Wir haben andre Ansichten von der Wehrkraft Deutschlands, und wir sind deshalb ganz zufrieden, unsre Südgrenze gesichert zu sehn durch die Vorteile, die sie der Offensive auf lombardischem Boden darbietet.
Hier aber kommen auch politische Erwägungen ins Spiel, die wir nicht beiseite lassen können. Die nationale Bewegung in Italien ist seit 1820[123] aus jeder Niederlage verjüngt und gewaltiger hervorgegangen. Es gibt wenig Länder, deren sogenannte natürliche Grenzen so nahe mit den Grenzen der Nationalität zusammenfallen und zugleich so prononciert sind. Wenn in einem solchen Lande, das obendrein an fünfundzwanzig Millionen Einwohner zählt, die nationale Bewegung einmal erstarkt ist, so kann sie nicht wieder ruhen, solange einer der besten, politisch und militärisch wichtigsten Landesteile und damit beinahe ein Viertel der Gesamteinwohnerzahl einer antinationalen Fremdherrschaft unterworfen ist. Seit 1820 herrscht Ostreich in Italien nur noch durch die Gewalt, durch das Niederschlagen wiederholter Insurrektionen, durch den Terrorismus des Belagerungszustandes. Um seine Herrschaft in Italien zu behaupten, ist Ostreich genötigt, seine politischen Gegner, d. h. jeden Italiener, der sich als Italiener fühlt, schlimmer als gemeine Verbrecher zu behandeln. Die Art und Weise, wie die italienischen politischen Gefangenen von Ostreich behandelt wurden und noch stellenweise behandelt werden, ist in zivilisierten Ländern unerhört. Die Östreicher haben politische Verbrecher in Italien mit besonderer Vorliebe durch Stockprügel zu infamieren gesucht, sei es um Geständnisse zu erpressen, sei es unter dem Vorwand der Strafe. Man hat über den italienischen Dolch, über den politischen Meuchelmord viel sittliche Entrüstung ergossen; man scheint aber ganz vergessen zu haben, daß der östreichische Stock ihn provozierte. Die Mittel, deren Ostreich sich bedienen muß, um seine Herrschaft in Italien zu behaupten, sind der allerbeste Beweis, daß diese Herrschaft unmöglich von Dauer sein kann; und Deutschland, das trotz Radowitz, Willisen und Hailbronner nicht dasselbe Interesse an ihr hat als Ostreich, Deutschland ist allerdings in den Fall versetzt, sich zu fragen, ob denn dies Interesse groß genug ist, um die vielen Nachteile aufzuwiegen, die mit ihr verbunden sind. Oberitalien ist ein Anhängsel, das Deutschland unter allen Umständen nur im Kriege nutzen, im Frieden aber nur schaden kann. Die zu seiner Niederhaltung nötigen Armeen sind seit 1820 immer stärker geworden und übersteigen seit 1848 im tiefsten Frieden 70 000 Mann, die sich fortwährend wie in Feindesland befinden, jeden Augenblick auf Angriffe gefaßt sein müssen. Der Krieg 1848 und 1849 und die Okkupation Italiens bis heute - trotz der piemontesischen Kriegskontribution, trotz der wiederholten lombardischen Kontributionen, Zwangsanleihen und Extrasteuern - hat Ostreich offenbar weit mehr gekostet, als ihm Italien seit 1848 eingebracht hat. Und doch ist von 1848 bis 1854 das Land systematisch als eine bloß provisorische Besitzung behandelt worden, aus der man zieht, soviel man kann, ehe man sie
räumt. Erst seit dem orientalischen Krieg1723 ist die Lombardei auf ein paar Jahre in einen weniger abnormen Zustand getreten; und wie lange wird der dauern, bei den jetzigen Verwicklungen, wo das italienische Nationalgefühl wieder so heftig pulsiert? Was aber viel wichtiger ist, wiegt der Besitz der Lombardei all den Haß, alle die fanatische Feindschaft auf, die er uns in ganz Italien zugezogen hat? Wiegt er die Mitverantwortlichkeit auf für die Maßregeln, durch die Ostreich - im Namen und Interesse Deutschlands, wie uns versichert wird - seine Herrschaft dort sicherstellt? Wiegt er die fortwährenden Einmischungen in die inneren Angelegenheiten des übrigen Italiens auf, ohne die, nach der bisherigen Praxis und den östreichischen Versicherungen, die Lombardei nicht festgehalten werden kann und die den Haß der Italiener gegen uns Deutsche nur noch flammender machen? In allen bisherigen militärischen Erwägungen haben wir immer den schlimmsten Fall, den einer Allianz Frankreichs mit Italien, vorausgesetzt. Solange wir die Lombardei behalten, ist Italien unbedingt der Bundesgenosse Frankreichs in jedem französischen Kriege gegen Deutschland. Sobald wir sie aufgeben, hört das auf. Ist es aber unser Interesse, vier Festungen zu behalten und uns dagegen die fanatische Feindschaft und den Franzosen die Allianz von 25 Millionen Italienern zu sichern? Das interessierte Gerede von der politischen Unfähigkeit der Italiener und ihrem Beruf, unter deutscher oder französischer Herrschaft zu stehn, sowie die verschiedenen Spekulationen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines einigen Italiens kommen uns im Munde von Deutschen etwas befremdlich vor. Wie lange ist es denn her, daß wir, die große deutsche Nation, die doppelt soviel Seelen zählt als die Italiener, seit wir dem „Beruf" entgangen sind, entweder unter französischer oder unter russischer Herrschaft zu stehn? Und hat die Praxis von heute die Frage von der Einheit oder Uneinheit Deutschlands gelöst? Stehen wir nicht in diesem Augenblick aller Wahrscheinlichkeit nach am Vorabend von Ereignissen, die über unsre Zukunft nach beiden Richtungen hin erst die Frage der Entscheidung entgegenreifen werden? Haben wir denn Napoleon in Erfurt ganz vergessen oder den östreichischen Appell an Rußland auf den Warschauer Konferenzen oder die Schlacht von Bronzell?11241 Wir wollen für den Augenblick zugeben, daß Italien entweder unter deutschem odier französischem Einfluß stehen muß. In diesem Fall entscheidet außer den Sympathien namentlich auch noch die militärgeographische Lage der beiden beeinflussenden Länder. Die Streitkräfte Frankreichs und Deutschlands wollen wir für gleich stark annehmen, obwohl Deutschland offenbar weit stärker sein könnte. Nun aber glauben wir bewiesen zu haben, daß im
allergünstigsten Fall, wenn nämlich das Wallis und der Simplon den Franzosen offenstehn, ihr unmittelbarer kriegerischer Einfluß nur Piemont umfaßt und sie erst eine Schlacht gewinnen müssen, um ihn auf weiterliegende Gebiete auszudehnen, während unser Einfluß sich auf die ganze Lombardei und auf den Verbindungspunkt zwischen Piemont und der Halbinsel erstreckt und man uns erst schlagen muß, um uns diesen Einfluß zu nehmen. Wo aber eine solche geographische Anlage zur Herrschaft gegeben ist, da hat der Einfluß Deutschlands nichts von der französischen Konkurrenz zu fürchten. Der General Hailbronner sagte in der A[ugsburgerl „Afllgemeinenl Zfeitungl" neulich ungefähr: Deutschland hat einen andern Beruf, als zum Blitzableiter für die Donnerschläge zu dienen, die sich über dem Haupt der bonapartischen Dynastie zusammenziehn. Mit demselben Recht können die Italiener sagen: Italien hat einen andern Beruf, als den Deutschen zum Puffer zu dienen gegen die Stöße, die Frankreich gegen sie führt, und zum Dank dafür von den Östreichern mit Stockprügeln regaliert zu werden. Wenn aber Deutschland ein Interesse daran hat, sich hier einen solchen Puffer zu erhalten, so geschieht das jedenfalls viel besser dadurch, daß es sich mit Italien auf einen guten Fuß stellt, der nationalen Bewegung ihr Recht widerfahren läßt und die italienischen Dinge solange den Italienern überläßt, als sie sich nicht in deutsche Dinge mischen. Die Radowitzsche Behauptung, daß Frankreich morgen in Oberitalien herrschen müsse, wenn Ostreich heute hinausgeht, war zu ihrer Zeit ebenso unbegründet, als sie es noch vor drei Monaten war; wie die Dinge heute stehn, scheint sie eine Wahrheit werden zu wollen, aber in einem dem Radowitzschen entgegengesetzten Sinn. Wenn die fünfundzwanzig Millionen Italiener nicht ihre Unabhängigkeit behaupten können, so müssen es die zwei Millionen Dänen, die vier Millionen Belgier, die drei Millionen Holländer noch weniger. Trotzdem hören wir die Verteidiger der deutschen Herrschaft in Italien nicht über französische oder schwedische Herrschaft in diesen Ländern lamentieren und ver lein gen, daß sie durch deutsche Herrschaft ersetzt werde. Was die Einheitsfrage angeht, so denken wir: Entweder kann Italien einig werden, und dann hat es eine eigne Politik, die notwendigerweise weder deutsch noch französisch ist und daher uns nicht schädlicher sein kann als den Franzosen; oder es bleibt zersplittert, und dann sichert uns die Zersplitterung Bundesgenossen in Italien bei jedem Krieg mit Frankreich. Soviel ist jedenfalls sicher: Ob wir die Lombardei haben oder nicht, einen bedeutenden Einfluß in Italien haben wir immer, solange wir zu Hause stark, sind. Überlassen wir es Italien, seine eignen Sachen selbst abzumachen, so
Kört der Haß der Italiener gegen uns von selbst auf, und unser natürlicher Einfluß auf sie wird jedenfalls viel bedeutender und kann sich unter Umständen zur wirklichen Hegemonie steigern. Statt also unsre Stärke im Besitz fremden Bodens zu suchen und in der Unterdrückung einer fremden Nationalität, der nur das Vorurteil die Zukunftsfähigkeit absprechen kann, werden wir besser tun, dafür zu sorgen, daß wir in unsrem eignen Hause eins und stark sind.
Iii
Was dem einen recht, das ist dem andern billig. Verlangen wir den Po und den Mincio zum Schutz nicht sowohl gegen die Italiener als gegen die Franzosen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Franzosen ebenfalls Flußlinien zum Schutz gegen uns in Anspruch nehmen. Der Schwerpunkt Frankreichs liegt nicht im Zentrum an der Loire, bei Orleans, sondern im Norden, an der Seine, in Paris; und zweimalige Erfahrung beweist, daß mit Paris ganz Frankreich fällttl25]. Die militärische Bedeutung der Grenzkonfiguration Frankreichs richtet sich also vor allem nach dem Schutz, den sie Paris gewährt, Von Paris bis Lyon, Basel, Straßburg, Lauterburg in gerader Linie ist [es] ungefähr gleich weit, fünfundfünfzig Meilen etwa. Jede Invasion Frankreichs von Italien aus, mit Paris zum Objekt, muß aber in der Gegend von Lyon, zwischen Rhone und Loire, oder nördlicher vordringen, wenn sie nicht ihre Verbindungen gefährden will. Die Alpengrenze Frankreichs also, südlich von Grenoble, kommt bei einem Vorrücken gegen Paris nicht in Betracht; Paris ist von dieser Seite her vollständig gedeckt. Von Lauterburg an verläßt die französische Grenze den Rhein und wendet sich, im rechten Winkel gegen ihn, nach Nordwesten; sie bildet von Lauterburg bis Dünkirchen eine so gut wie gerade Linie. Der Kreisbogen, den wir mit dem Radius Paris — Lyon über Basel und Straßburg bis Lauterburg beschrieben, wird also hier unterbrochen; die französische Nordgrenze bildet vielmehr die Sehne zu diesem Bogen, und das Kreissegment jenseits dieser Sehne gehört nicht zu Frankreich. Die kürzeste Verbindungslinie von Paris nach der Nordgrenze, die Linie Paris — Möns, ist nur halb so lang wie der Radius Paris — Lyon oder — Straßburg. In diesen einfachen geometrischen Verhältnissen ist der Grund gegeben, warum Belgien das Schlachtfeld aller im Norden geführten Kriege zwischen Deutschland und Frankreich sein muß. Belgien umgeht das ganze östliche Frankreich von Verdun und der Obermarne bis an den Rhein. Das heißt: Eine
von Belgien eindringende Armee kann eher bei Paris sein als eine über Verdun oder Chaumont hinaus nach dem Rhein zu stehende französische Armee zurück sein kann; die aus Belgien vordringende Armee kann sich also bei erfolgreicher Offensive stets zwischen Paris und die französische Mosel- oder Rhein armee einkeilen; um so mehr, als der Weg von der belgischen Grenze nach den die Umgehimg entscheidenden Punkten an der Marne (Meaux, ChäteauThierry, Epernay) noch kürzer ist als der nach Paris selbst. Damit nicht genug. Auf der ganzen Linie, von der Maas bis zur See, steht in der Richtung auf Paris dem Feinde nicht das allergeringste Terrainhindernis entgegen, bis er an die Aisne und die untere Oise kommt, die aber für die Verteidigung von Paris gegen Norden ziemlich ungünstig verlaufen. Weder 1814 noch 1815 legten sie dem Angriff ernsthafte Schwierigkeiten in den Weg. Aber auch zugegeben, daß sie in den Bereich des durch die Seine und ihre Nebenflüsse gegebenen Verteidigungssystems gezogen werden können und 1814 teilweise hineingezogen wurden, so ist doch damit gleichzeitig als Tatsache ausgesprochen, daß die eigentliche Verteidigung Nordfrankreichs erst bei Compiegne und Soissons anfängt und daß die erste Defensivposition, die Paris gegen Norden deckt, nur zwölf Meilen von Paris liegt. Eine schwächere Grenze als die französische gegen Belgien ist für einen Staat nicht leicht zu denken. Man weiß, welche Mühe sich Vauban gegeben hat, den Mangel natürlicher Verteidigungsmittel durch künstliche zu ersetzen; man weiß auch, wie 1814 und 1815 der Angriff durch den dreifachen Festungsgürtel hindurchdrang, fast ohne Notiz von ihm zu nehmen. Man weiß, wie 1815 Festung auf Festung den Angriffen eines einzigen preußischen Korps nach unerhört kurzer Belagerung und Beschießung erlag. Avesnes ergab sich am 22. Juni 1815, nachdem es einen halben Tag aus zehn Feldhaubitzen beschossen worden. Guise ergab sich an zehn Feldgeschütze, ohne einen Schuß zu tun. Maubeuge kapitulierte nach 14 Tagen offener Tranchee am 13. Juli. Landrecies öffnete seine Tore am 21. Juni nach 36 Stunden offener Tranchee und zweistündiger Beschießung, nachdem nur 126 Bomben und 52 Vollkugeln von den Belagerern abgefeuert waren. Mariembourg verlangte nur pro forma die Ehren einer offenen Tranchee und einer einzigen vierundzwanzigpfündigen Kugel und kapitulierte am 28. Juli. Philippeville hielt zwei Teige offener Tranchee und einige Stunden Beschießung, Rocroi 26 Stunden offener Laufgräben und zwei Stunden Bombardement aus. Nur Mezieres hielt sich 18 Tage lang nach Eröffnung der Laufgräben. Es war eine Kapitulationswut unter den Kommandanten, die der in Preußen nach der Schlacht von Jena nicht viel nachgab; und wenn man anführt, daß diese Plätze 1815 verfallen, schwach garnisoniert und schlecht ausgerüstet waren, so ist doch nicht
zu vergessen, daß mit einzelnen Ausnahmen diese Festungen stets vernachlässigt sein müssen. Der Vaubansche dreifache Gürtel hat heutzutage allen Wert verloren, er ist ein positiver Schaden für Frankreich. Keine der Festungen westlich der Maas deckt, für sich, irgendeinen Terrainabschnitt, und nirgends lassen sich vier oder fünf auffinden, die zusammen eine Gruppe bilden, innerhalb deren eine Armee Deckung findet und zugleich Manövrierfähigkeit behält. Dies kommt daher, daß keine an einem großen Flusse liegt. Die Lys, die Scheide, die Sambre bekommen Bedeutung für den Krieg erst auf belgischem Gebiet; und so erstreckt sich die Wirkung dieser im freien Felde zerstreut liegenden Festungen nicht über die Schußweite ihrer Kanonen hinaus. Mit Ausnahme von ein paar großen Depotplätzen an der Grenze, die einer Offensive nach Belgien zur Basis dienen können, und einigen Punkten an der Maas und Mosel, die strategische Wichtigkeit haben, dienen alle übrigen festen Plätze und Forts an der französischen Nordgrenze nur zur nutzlosesten Verzettelung der Streitkräfte. Jede Regierung, die sie schleifte, würde Frankreich einen Dienst tun; aber was würde der französische traditionelle Aberglaube dazu sagen? Die französische Nordgrenze ist also im höchsten Grade ungünstig zur Verteidigung, sie ist in der Tat gar nicht zu verteidigen, und der Vaubansche Festungsgürtel, statt sie zu verstärken, ist heutzutage nur noch ein Eingeständnis und Denkmal ihrer Schwäche. Wie die mitteleuropäischen Großmachtstheoretiker in Italien, so sehen sich auch die Franzosen jenseits ihrer Nordgrenze nach einer Flußlinie um, die ihnen eine gute Defensivstellung gewähren würde. Welche könnte dies sein? Die erste Linie, die sich darbietet, wäre die der Unterscheide und der Dyle, fortgesetzt bis an die Mündung der Sambre in die Maas. Diese Linie würde die bessere Hälfte Belgiens zu Frankreich schlagen. Sie würde fast alle berühmten belgischen Schlachtfelder in sich schließen, auf denen Franzosen und Deutsche sich bekämpft haben: Oudenarde, Jemappes, Fleurus, Ligny, Waterlootl26]. Aber sie bildet noch immer keine Defensivlinie, sie ließe zwischen Scheide und Maas eine große Lücke, durch die der Feind ungehindert eindringen kann. Die zweite Linie wäre die Maas selbst. Wenn Frankreich das linke Maasufer hätte, so würde es noch nicht einmal so günstig gestellt sein wie Deutschland, wenn es in Italien nur die Etschlinie besäße. Die Etschlinie arrondiert ziemlich vollständig, die Maas nur sehr unvollkommen. Wenn sie von Namur nach Antwerpen flösse, so würde sie eine viel bessere Grenzlinie bilden. Statt dessen aber verläuft sie von Namur aus nordöstlich und strömt erst jenseits Venlo in einem großen Bogen der Nordsee zu.
Das ganze nördlich von Namur zwischen Maas und See gelegene Gebiet würde im Kriege nur durch seine Festungen gedeckt sein; denn ein feindlicher Maasübergang würde die französische Armee immer in der Ebene von Südbrabant finden, und eine französische Offensive auf das deutsche linke Rheinufer stieße sofort auf die starke Rheinlinie, und zwar ganz direkt auf das verschanzte Lager von Köln. Der einspringende Winkel der Maas zwischen Sedan und Lüttich trägt ferner dazu bei, die Linie zu schwächen, trotzdem er durch die Ardennen ausgefüllt wird. Die Maaslinie gibt also den Franzosen an einer Stelle zuviel, an der andern zuwenig für eine gute Grenzverteidigung. Gehen wir also weiter. Setzen wir den einen Fuß unseres Zirkels auf der Karte wieder auf Paris und beschreiben mit dem Radius Paris — Lyon einen Bogen von Basel bis an die Nordsee, so finden wir, daß der Lauf des Rheins von Basel bis zu seiner Mündung mit einer merkwürdigen Genauigkeit diesem Bogen folgt. Bis auf wenige Meilen sind alle wichtigen Punkte am Rhein gleich weit von Paris entfernt. Dies ist der eigentliche, reelle Grund des französischen Verlangens nach der Rheingrenze. Hat Frankreich den Rhein, so ist Paris, Deutschland gegenüber, wirklich der Mittelpunkt Frankreichs. Alle Radien, die von Paris der angreifbaren Grenze zulaufen, sei es an den Rhein, sei es an den Jura, sind gleich lang. Überall wird dem Feind die konvexe Peripherie des Kreises dargeboten, hinter der er auf Umwegen manövrieren muß, während die französischen Armeen auf der kürzeren Sehne sich bewegen und dem Feind zuvorkommen können. Die gleich langen Operations- und Rückzugslinien der verschiedenen Armeen erleichtern einen konzentrischen Rückzug ungemein und damit an einem gegebenen Punkt die Möglichkeit, zwei dieser Armeen zu einem Hauptschlage gegen den noch getrennten Feind zu vereinigen. Mit dem Besitz der Rheingrenze würde das Verteidigungssystem Frankreichs, was die natürlichen Voraussetzungen betrifft, eins von denjenigen sein", die der General Willisen „ideale" nennt,die garnichts mehr zu wünschen übriglassen. Das starke innere Verteidigungssystem des Seinebassins, durch die fächerförmig der Seine zuströmenden Flüsse Yonne, Aube, Marne, Aisne und Oise gebildet, dies Flußsystem, an dem Napoleon 1814 den Alliierten so derbe strategische Lektionen erteilte11273, wird dadurch erst nach jeder Richtung gleichmäßig gedeckt; der Feind kommt von allen Seiten ziemlich gleichzeitig heran und kann an den Flüssen aufgehalten werden, bis die französischen Armeen mit vereinigten Kräften jede seiner isolierten Kolonnen einzeln anzugreifen imstande sind; während ohne die Rheinlinie am entscheidendsten Punkt, bei Compiegne und Soissons, die Verteidigung erst 12 Meilen von
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Paris zum Stehen kommen kann. In keinem Gebiet Europas würde die Verteidigung in der plötzlichen Konzentration großer Kräfte so durch die Eisenbahnen unterstützt werden wie in dem Lande zwischen Seine und Rhein. Von dem Zentrum Paris laufen die Eisenbahnradien nach Boulogne, Brügge, Gent, Antwerpen, Maastricht, Lüttich und Köln, nach Mannheim und Mainz über Metz, nach Straßburg, nach Basel, nach Dijon und Lyon. An welchem Punkt auch der Feind am stärksten auftreten möge, überall kann ihm von Paris aus auf der Eisenbahn die ganze Macht der Reservearmee entgegengeworfen werden. Die innere Verteidigung des Seinebassins wird speziell noch dadurch verstärkt, daß innerhalb desselben alle Eisenbahnradien durch die Flußtäler verlaufen (Oise, Marne, Seine, Aube, teilweise Yonne). Damit aber nicht genug. Drei konzentrische Eisenbahnbogen laufen in der Länge mindestens eines Quadranten um Paris in ziemlich gleichen Entfernungen herum: der erste durch die linksrheinischen Eisenbahnen, die nun schon fast ohne Unterbrechung von Neuß bis Basel laufen; der zweite geht von Ostende und Antwerpen über Namur, Ar Ion, Thionville, Metz und Nancy auf Epinal und ist ebenfalls so gut wie vollendet; der dritte endlich läuft von Calais über Lille, Douai, St.-Quentin, Reims, Chälons-sur-Marne und St.-Dizier nach Chaumont. Hier sind also in allen Ecken und Enden die Mittel gegeben, Massen von Truppen in der kürzesten Zeit auf einem beliebigen Punkt zu konzentrieren, und hier wäre durch Natur und Kunst und ohne alle Festungen die Verteidigung durch Manövrierfähigkeit so stark, daß eine Invasion Frankreichs auf ganz andern Widerstand zu rechnen hätte, als sie 1814 und 1815 fand. Eins nur würde dem Rhein als Grenzstrom fehlen. Solange das eine Ufer ganz deutsch, das andere ganz französisch ist, solange beherrscht keines der beiden Völker ihn. Einer überlegnen Armee, welcher Nation sie auch angehöre, könnte der Übergang nirgends bestritten werden; das haben wir hundertmal gesehen, und die Strategie gibt die Gründe an, warum dem so sein muß. Bei einer überlegnen deutschen Offensive käme die französische Verteidigung erst weiter zurück zum Stehen: die Nordarmee an der Maas zwischen Venlo und Namur; die Moselarmee an der Mosel, beim Einfluß der Saar etwa; die Oberrheinarmee an der Obermosel und Obermaas. Um den Rhein vollständig zu beherrschen, um einem feindlichen Flußübergang energisch entgegentreten zu können, müßten die Franzosen also Brückenköpfe auf dem rechten Rheinufer haben. Es war von Napoleon also ganz konsequent, daß er Wesel, Kastel und Kehl dem französischen Kaiserreich ohne weiteres einverleibte11281. Wie die Sachen jetzt stehn, würde sich sein Neffe zur Ergänzung der schönen Festungen, die ihm die Deutschen aufs linke Rheinufer gebaut haben, außer
dem noch Ehrenbreitstein, Deutz und zur Not auch den Germersheimer Brückenkopf ausbitten. Dann wäre das militärgeographische System Frankreichs nach Offensive und Defensive vollkommen, und jedes neue Anhängsel könnte nur schaden. Und wie sehr in der Natur begründet und sich von selbst verstehend dies System aussieht, davon haben die Alliierten 1813 ein schlagendes Zeugnis abgelegt. Seit kaum 17 Jahren hatte Frankreich dies System sich eingerichtet, und doch verstand es sich schon so von selbst, daß die hohen Verbündeten, trotz ihrer Übermacht und der Wehrlosigkeit Frankreichs, zurückschauderten vor dem Gedanken, daran zu rütteln, wie vor einem Sakrileg; und wenn die deutschnationalen Elemente der Bewegung sie nicht fortgerissen hätten, so wäre der Rhein noch heute ein französischer Strom. Wenn wir aber den Franzosen nicht nur den Rhein, sondern auch die Brückenköpfe des rechten Ufers abgetreten haben, dann erst haben die Franzosen sich selbst gegenüber die Pflicht erfüllt, die wir nach der Meinung von Radowitz, Willisen und Hailbronner gegen uns erfüllen, indem wir Etsch und Mincio mit den Brückenköpfen Peschiera und Mantua behaupten. Dann aber haben wir auch Deutschland den Franzosen gegenüber so total ohnmächtig gemacht, wie Italien es jetzt gegenüber Deutschland ist. Und dann würde, wie 1813, Rußland der natürliche „Befreier" Deutschlands (wie Frankreich oder vielmehr die französische Regierung jetzt als „Befreier" Italiens auftritt) und würde sich zum Lohn seiner uneigennützigen Anstrengungen nur einige kleine Landstriche zur Arrondierung Polens ausbitten - etwa Galizien und Preußen; denn durch diese ist Polen ja auch „umgangen"! Was für uns die Etsch und der Mincio, das, und noch viel Wichtigeres, ist für Frankreich der Rhein. Umgeht das Venetianische in den Händen Italiens, und eventuell Frankreichs, Bayern und den Oberrhein und legt die Straße nach Wien bloß, so umgeht Belgien und Deutschland durch Belgien ganz Ostfrankreich und legt die Straße nach Paris noch viel wirksamer bloß. Vom Isonzo bis Wien sind immer noch sechzig Meilen, in einem Terrain, wo die Verteidigung immer noch einigermaßen zum Stehen kommen kann; von der Sambre bis Paris sind dreißig Meilen, und erst zwölf Meilen vor Paris, bei Soissons oder Compiegne, findet die Defensive eine einigermaßen deckende Flußlinie. Begibt sich Deutschland, nach Radowitz, durch Aufgeben des Mincio und der Etsch von vornherein in die Lage, in die es sonst durch den Verlust eines ganzen Feldzugs käme, so ist Frankreich mit seinen jetzigen Grenzen so gestellt, als hätte es die Rheingrenze gehabt und zwei Kampagnen verloren, die eine um die Festungen an Rhein und Maas, die zweite im Feld in der belgischen Ebene. Selbst die starke Position der oberitalischen Festungen findet sich einigermaßen wiederholt am Niederrhein und der Maas;
wäre nicht aus Maastricht, Köln, Jülich, Wesel und Venlo mit geringer Nachhülfe und etwa zwei Zwischenpunkten ein ebenso starkes System zu machen, das Belgien und Nordbrabant vollständig deckte, das einer für das Feld zu schwachen französischen Armee erlaubte, eine viel stärkere feindliche durch Manövrieren an den Flüssen festzuhalten und schließlich mittelst der Eisenbahnen sich ungehindert in die belgische Ebene oder auf Douai zurückzuziehen? Wir haben während dieser ganzen Untersuchung angenommen, daß Belgien den Deutschen zum Angriff auf Frankreich vollständig offenstehe und mit ihnen alliiert sei. Da wir vom französischen Standpunkt aus argumentieren mußten, so hatten wir dasselbe Recht dazu wie unsre Gegner am Mincio, wenn sie Italien - auch ein freies und vereinigtes Italien - als den Deut» sehen stets feindlich annahmen. In allen solchen Dingen ist es ganz in der Ordnung, daß man den schlimmsten Fall zuerst untersucht, sich auf ihn zunächst gefaßt macht; und so müssen die Franzosen verfahren, wenn sie heute die Verteidigungsfähigkeit und die strategische Konfiguration ihrer Nordgrenze ins Auge fassen. Daß Belgien durch europäische Verträge ein neutrales Land ist, ebenso wie die Schweiz, können wir hier unbeachtet lassen. Erstens muß die geschichtliche Praxis erst noch beweisen, daß diese Neutralität bei einem europäischen Kriege mehr ist als ein Blatt Papier, und zweitens wird Frankreich in keinem Fall so fest auf sie rechnen können, daß es die ganze Grenze gegen Belgien militärisch so behandeln dürfte, als bildete dies Land einen deckenden Meerbusen zwischen Frankreich und Deutschland. Die Schwäche der Grenze bleibt also schließlich dieselbe, ob sie nun wirklich aktiv verteidigt wird oder ob nur Truppen detachiert werden, die sie gegen mögliche Angriffe besetzen. Wir haben die Parallele zwischen Po und Rhein nun so ziemlich durchgeführt. Abgesehen von den größeren Dimensionen am Rhein, die aber den französischen Anspruch nur verstärken würden, ist die Analogie so vollkommen, wie sie nur gewünscht v/erden kann. Man muß hoffen, daß im Falle des Kriegs die deutschen Soldaten den Rhein am Po praktisch mit besserem Erfolg verteidigen, als die mitteleuropäischen Großmachtspolitiker dies theoretisch tun. Sie verteidigen am Po allerdings den Rhein, aber - nur für die Franzosen. Für den Fall übrigens, daß die Deutschen auch einmal so unglücklich sein sollten, ihre „natürliche Grenze", den Po und Mincio, zu verlieren, für diesen Fall wollen wir doch die Analogie noch etwas weiterführen. Die Franzosen besaßen ihre „natürliche Grenze" nur siebenzehn Jahre und haben sich nun schon fast fünfundvierzig Jahre ohne sie behelfen müssen. Während dieser
Zeit sind ihre besten Militärs denn auch noch theoretisch zu der Einsicht gekommen, daß die Nutzlosigkeit des Vaubanschen Festungsgürtels gegen eine Invasion in den Gesetzen der modernen Kriegskunst begründet ist, daß also 1814 und 1815 weder Zufall noch die vielbeliebte „trahison"1 den Alliierten erlaubte, unbekümmert zwischen den Festungen durchzumarschieren. Daß zur Sicherung der exponierten Nordgrenze etwas geschehen mußte, war hiernach erst recht augenscheinlich. Trotzdem lag auf der Hand, daß keine Aussicht da war, die Rheingrenze so bald zu erhalten. Was war zu tun? Die Franzosen halfen sich in einer Weise, die einem großen Volk Ehre macht: Sie befestigten Paris, sie machten zum ersten Male in der neueren Geschichte den Versuch, ihre Hauptstadt in ein verschanztes Lager im kolossalsten Maßstab umzuwandeln. Die Kriegsgelehrten* der alten Schule schüttelten den Kopf über dies unverständige Unternehmen. Geld weggeworfen, rein der französischen Großprahlerei zu Gefallen! Nichts dahinter, pure Windbeutelei, wer hat je von einer Festung gehört, die neun Meilen im Umkreis und eine Million Bewohner hat! Wie soll sie verteidigt werden, wenn man nicht die halbe Armee als Garnison hineinlegt? Wie soll man diese Menschen alle verproviantieren? Wahnsinn, französische Überhebung, gottloser Frevel, Wiederholung des Turmbaus zu Babel! So beurteilte der militärische Zopf das neue Unternehmen, derselbe Zopf, der den Belagerungskrieg an einem Vaubanschen Sechseck studiert und dessen passive Methode der Verteidigung keinen größeren offensiven Rückschlag kennt als den Ausfall eines Zugs Infanterie vom bedeckten Weg bis an den Glacisfuß! Die Franzosen aber bauten ruhig fort und haben die Genugtuung gehabt, daß, obwohl Paris die Feuerprobe noch nicht bestanden, die zopflosen Militärs von ganz Europa ihnen recht gegeben haben, daß Wellington Pläne zur Befestigung von London machte, daß um Wien, wenn wir nicht irren, der Bau detachierter Forts schon begonnen hat und daß die Befestigung Berlins wenigstens diskutiert wird. Sie haben selbst an dem Beispiel von Sewastopol erfahren müssen, welche enorme Stärke ein kolossales verschanztes Lager hat, wenn es von einer ganzen Armee besetzt, die Verteidigung im größten Maßstabe offensiv geführt wird. Und Sewastopol hatte nur einen Ringwall, keine detachierten Forts, nur Feldwerke, keine gemauerten Eskarpen! Seitdem Paris befestigt ist, kann Frankreich die Rheingrenze entbehren. Wie Deutschland in Italien, wird es seine Verteidigung an der Nordgrenze zunächst offensiv zu führen haben. Daß dies verstanden worden ist, das beweist die Disposition des Eisenbahnnetzes. Wird diese Offensive zurück
1 „Verräterei"
geschlagen, so kommt die Armee an Oise und Aisne zum Stehen, und zwar definitiv; denn ein weiteres Vordringen des Feindes würde keinen Zweck mehr haben, da die aus Belgien kommende Invasionsarmee doch allein zu schwach wäre, gegen Paris zu agieren. Hinter der Aisne, in sichrer Verbindung mit Paris, im schlimmsten h alle hinter der Marne, den linken Flügel an Paris angelehnt, in offensiver Seitenstellung, könnte die französische Nordarmee die Ankunft der übrigen Armeen abwarten. Dem Feind bliebe nichts übrig, als auf Chäteau-Thierry vorzugehn und gegen die Verbindungen der französischen Mosel- und Rheinarmeen zu operieren. Aber die Aktion wäre lange nicht mehr von der entscheidenden Wichtigkeit wie vor der Befestigung von Paris. Im schlimmsten Fall kann den übrigen französischen Armeen der Rückzug hinter die Loire nicht abgeschnitten werden; dort konzentriert, werden sie immer noch stark genug sein, der durch die Zernierung von Paris geschwächten und geteilten Invasionsarmee gefährlich zu werden oder sich nach Paris hinein durchzuschlagen. Mit einem Wort: Der Umgehung durch Belgien ist durch die Befestigung von Paris die Spitze abgebrochen, sie entscheidet nicht mehr, und man kann die Nachteile, die sie bringt, und die Mittel, die dagegen anzuwenden sind, einfach berechnen. Das Beispiel der Franzosen werden wir wohl tun nachzuahmen. Statt uns betäuben zu lassen durch das Geschrei von der Unentbehrlichkeit einer außer deutschen Besitzung, die Tag für Tag unhaltbarer für Deutschland wird, täten wir besser, uns auf den unvermeidlichen Moment vorzubereiten, wo wir Italien aufgeben werden. Je früher die uns dann nötigen Befestigungen im voraus angelegt werden, desto besser. Wo und wie sie anzulegen sind, darüber mehr zu sagen als die früher hingeworfenen Andeutungen, ist nicht unseres Amts. Nur lege man nicht illusorische Sperrpunkte an und vernachlässige, im Verlaß darauf, die einzigen Befestigungen, die eine zurückgehende Armee zum Stehen bringen können: verschanzte Lager und Festungsgruppen an Flüssen.
IV
Wir haben jetzt gesehen, wohin die von den mitteleuropäischen Großmachtspolitikern aufgestellte Theorie der natürlichen Grenzen führt. Dasselbe Recht, das Deutschland auf den Po hat, hat Frankreich auf den Rhein. Soll Frankreich nicht um einer guten militärischen Position willen sich neun Millionen Wallonen, Niederländer und Deutsche einverleiben, so haben wir auch kein Recht, sechs Millionen Italiener um einer militärischen Stellung willen zu unterjochen. Und diese natürliche Grenze, der Po, ist doch am Ende nur eine militärische Position, und nur darum, sagt man uns, soll Deutschland ihn behaupten. Die Theorie der natürlichen Grenzen macht der schleswig-holsteinischen Frage mit dem einen Ruf ein Ende: Danmark til Eideren! Dänemark bis zur Eiderl11293 Was verlangen denn die Dänen anders als ihren Po und Mincio, der Eider heißt, ihr Mantua, genannt Friedrichstadt? Die Theorie der natürlichen Grenzen verlangt mit demselben Recht, auf das Deutschland sich am Po stützt, für Rußland Galizien und die Bukowina und eine Arrondierung nach der Ostsee zu, die mindestens das ganze preußische rechte Weichselufer in sich schließt. Sie wird wenige Jahre später mit demselben Recht die Anforderung stellen können, daß die Oder die natürliche Grenze Russisch-Polens sei. Die Theorie der natürlichen Grenzen, auf Portugal angewandt, ist gezwungen, dies Land bis an die Pyrenäen auszudehnen und ganz Spanien in Portugal auf gehn zu lassen. Die natürliche Grenze von Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein[130] wird ebenfalls mindestens bis an die Grenze des deutschen Bundesgebiets und darüber hinaus bis an den Po und vielleicht an die Weichsel ausgedehnt werden müssen, wenn anders den Gesetzen der ewigen Gerechtigkeit Rechnung getragen werden soll, und Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein hat ebensoviel Anspruch, daß ihm sein Recht werde, wie Ostreich.
Wenn die Theorie der natürlichen, d.h. ausschließlich durch militärische Erwägungen festgestellten Grenzen richtig ist, welchen Namen sollen wir dann den deutschen Diplomaten geben, die auf dem Wiener Kongreß[131] uns an den Rand eines Kriegs Deutscher gegen Deutsche brachten, uns die Maaslinie entgehen ließen, die deutsche Ostgrenze bloßlegten und es dem Ausland überließ[en], Deutschland einzugrenzen und zu repartieren? Wahrlich, kein Land hat soviel Ursache, sich über den Wiener Kongreß zu beklagen, als Deutschland; aber wenn wir den Maßstab der natürlichen Grenzen anlegen, wie sieht es dann erst mit der Reputation der deutschen Staatsmänner von damals aus? Und gerade dieselben Leute, die die Theorie der natürlichen Grenzen am Po verteidigen, leben von dem Nachlaß der Diplomaten von 1815 und setzen die Tradition des Wiener Kongresses fort. Wollt ihr ein Beispiel davon? Als Belgien sich 1830 von Holland losriß[132], da erhoben dieselben Leute ihre Stimme, die jetzt den Mincio zu einer Lebensfrage machen. Sie riefen Zeter über die Zerstückelung der starken niederländischen Grenzmacht, die ein Bollwerk gegen Frankreich bilden sollte und die sich sogar - nach allen Erfahrungen von zwanzig Jahren noch soviel Aberglaube! - hatte verpflichten müssen, um den in seiner Art wenigstens großartigen Vaubanschen Festungsgürtel ein dünnes Bändchen von Festungen herumzulegen. Als fürchteten die Großmächte, Arras und Lille und Douai und Valenciennes würden eines schönen Morgens mit all ihren Bastionen, Demilünes und Lünetten nach Belgien hineinmarschieren und sich dort häuslich niederlassen! Damals wehklagten die Repräsentanten derselben bornierten Richtung, die wir hier bekämpfen, Deutschland sei in Gefahr, denn Belgien sei nur ein willenloses Anhängsel von Frankreich, ein notwendiger Feind Deutschlands, und die wertvollen Festungen, die mit deutschem (d.h. den Franzosen abgenommenem) Gelde gebaut seien als Schutz gegen Frankreich, die ständen jetzt den Franzosen gegen uns zu Gebote. Die französische Grenze sei bis an und über die Maas und Scheide vorgerückt, wie lange werde es dauern, bis sie an den Rhein vorgeschoben werde. Die meisten von uns erinnern sich dieser Lamentationen noch ganz deutlich. Und was ist geschehen? Belgien hat sich seit 1848 und besonders seit der bonapartischen Restauration immer entschiedner von Frankreich abgewandt und Deutschland genähert. Es kann jetzt sogar schon für ein auswärtiges Mitglied des Deutschen Bundes1611 gelten. Und was taten die Belgier, sobald sie sich mit Frankreich in eine Art Opposition setzten? Sie schleiften alle die Festungen, die die Weisheit des Wiener Kongresses dem Lande oktroyiert hatte, als vollständig nutzlos gegen Frankreick und errichteten um Antwerpen ein verschanztes Lager, groß genug, die ganze
Armee aufzunehmen und dort im, Falle einer französischen Invasion englischen oder deutschen Sukkurs abwarten zu können. Und mit Recht. Dieselbe weise Politik, die 1830 mit Gewalt das katholische, vorzugsweise französisch sprechende Belgien an das protestantische, holländisch redende Holland gefesselt halten wollte, dieselbe weise Politik will seit 1848 Italien mit Gewalt unter dem östreichischen Druck halten und uns Deutsche für Ostreichs Handlungen in Italien verantwortlich machen. Und alles das aus reiner Furcht vor Frankreich. Der ganze Patriotismus dieser Herren scheint darin zu bestehen, daß sie in eine fieberhafte Aufregung geraten, sobald von Frankreich die Rede ist. Sie scheinen die Schläge noch immer nicht verwunden zu haben, die der alte Napoleon vor fünfzig und sechzig Jahren austeilte. Wir gehören wahrlich nicht zu denen, die die Kriegsmacht Frankreichs unterschätzen. Wir wissen sehr gut, daß z.B., was leichte Infanterie angeht und Erfahrung und Geschick im kleinen Krieg und gewisse Seiten der Artilleriewissenschaft, keine Armee in Deutschland sich mit der französischen messen kann. Aber wenn Leute erst mit den zwölfhunderttausend Soldaten Deutschlands um sich werfen, als ständen sie da, fix und fertig wie Schachfiguren, mit denen der Herr Dr. Kolb eine Partie gegen Frankreich um Elsaß und Lothringen spielt[133] - und wenn dieselben Leute dann bei jeder Gelegenheit eine Zaghaftigkeit an den Tag legen, als verstände es sich von selbst, daß diese zwölfhunderttausend Mann von halb soviel Franzosen in die Pfanne gehauen werden müßten, es sei denn, daß besagte Zwölfhunderttausend sich in lauter uneinnehmbare Positionen verkriechen - so ist es wahrlich hohe Zeit, daß man die Geduld verliert. Es ist Zeit, dieser Politik der passiven Defensive gegenüber daran zu erinnern, daß, wenn auch Deutschland im ganzen und großen auf eine Defensive mit offensiven Rückschlägen angewiesen sein mag, doch keine Defensive wirksamer ist als die aktive, die offensiv geführte. Es ist Zeit, daran zu erinnern, daß wir den Franzosen und andern Nationen gegenüber uns im Angriff oft genug überlegen gezeigt haben.
„Im übrigen ist das Genie von unseren Soldaten, zu attackieren; es ist solches auch schon ganz recht", sagt Friedrich der Große von seiner Infanterie[134]; wie seine Kavallerie zu attackieren verstand, davon mögen Roßbach, Zorndorf, Hohenfriedberg Zeugnis ablegen[135]. Wie die deutsche Infanterie 1813 und 1814 anzugreifen gewohnt war, dafür ist der beste Beweis die bekannte Instruktion Blüchers bei Eröffnung des Feldzugs von 1815: „Da die Erfahrung gelehrt hat, daß die französische Armee den Bajonettangriff unsrer Bataillonsmassen nicht auszuhalten vermag, so ist es Regel, diesen stets auszu
führen, wo es darauf ankommt, den Feind über den Haufen zu werfen oder einen Posten zu gewinnen." Unsre schönsten Schlachten sind Offensivschlachten gewesen, und wenn der deutsche Soldat einer bestimmten Qualifikation des französischen entbehrt, so ist es erwiesenermaßen derjenigen, sich defensiv in Dörfern und Häusern einzunisten: im Angriff kann er sich schon neben ihm sehen lassen und hat es oft genug getan. Was übrigens diese Politik selbst betrifft, abgesehen von den zugrunde liegenden Motiven, so besteht sie darin: zuerst unter dem Vorwande der Verteidigung angeblicher oder bis ins Absurde übertriebener deutscher Interessen uns bei allen kleineren Grenznachbarn verhaßt zu machen und dann sich darüber zu entrüsten, daß diese sich mehr an Frankreich anschließen. Es waren fünf Jahre bonapartischer Restauration nötig, um Belgien von der französischen Allianz zu trennen, in die die Politik von 1815, fortgesetzt 1830, die Politik der Heiligen Allianz[136], es gejagt hatte; und in Italien haben wir den Franzosen eine Position gemacht, die die Minciolinie wahrlich aufwiegt. Und dennoch ist die französische Politik gegenüber Italien immer borniert, engherzig, ausbeutend gewesen, so daß die Italiener bei irgend loyaler Behandlung von unserer Seite unbedingt mehr zu uns gehalten hätten als zu Frankreich. Wie sie von 1796 bis 1814 von Napoleon und seinen Statthaltern und Generalen an Geld, Naturalien, Kunstschätzen und Menschen ausgesogen worden sind, ist bekannt genug. 1814 kamen die Östreicher als „Befreier" und wurden als Befreier aufgenommen. (Wie sie Italien befreit haben, davon zeugt der Haß, den heute jeder Italiener gegen die Tedeschi1 hat.) Soviel über die Praxis der französischen Politik in Italien; über die Theorie brauchen wir bloß zu sagen, daß sie nur einen Grundsatz kennt: Frankreich kann nie ein einheitliches und unabhängiges Italien dulden. Bis auf Louis-Napoleon herab steht dieser Grundsatz fest, und damit allen Mißverständnissen vorgebeugt werde, muß La Gueronniere ihn jetzt abermals als ewige Wahrheit proklamieren^371. Und einer so bornierten spießbürgerlichen Politik Frankreichs gegenüber, einer Politik, die das Recht der Einmischung in die innern Angelegenheiten Italiens ohne weiteres in Anspruch nimmt - einer solchen Politik gegenüber sollten wir Deutsche zu befürchten haben, daß ein nicht mehr unter direkter deutscher Herrschaft stehendes Italien stets Frankreichs gehorsamer Diener gegen uns sein werde? Es ist wahrhaft lächerlich. Es ist das alte Zeter von 1830 wegen Belgien. Belgien ist uns trotzdem gekommen, ungebeten gekommen, Italien müßte uns ebenso kommen.
1 Deutschen
Es muß übrigens durchaus festgehalten werden, daß die Frage um den Besitz der Lombardei eine Frage zwischen Italien und Deutschland ist, nicht aber zwischen Louis-Napoleon und Ostreich. Gegenüber einem Dritten wie Louis-Napoleon, einem Dritten, der um seiner eignen, in andrer Beziehung antideutschen Interessen willen sich einmischt, handelt es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr halten kann. Die politische Frage tritt in diesem Fall sogleich hinter die militärische zurück; werden wir angegriffen, so wehren wir uns. Wenn Louis-Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit auftreten will, so kann er sich den Krieg gegen Ostreich sparen. Charite bien ordonnee commence chez soi-meme.1 Das „Departement" Korsika ist eine italienische Insel, italienisch, trotzdem es das Vaterland des Bonapartismus ist. Möge Louis-Napoleon seinem Onkel Viktor Emanuel vorerst Korsika abtreten, vielleicht lassen wir dann auch mit uns reden. Bis er dies getan hat, wird er wohl tun, seine Begeisterung für Italien für sich zu behalten. Es ist in ganz Europa keine größere Macht, die nicht Teile andrer Nationen mit ihrem Gebiete vereinigt hätte. Frankreich hat flämische, deutsche, italienische Provinzen. England, das einzige Land, das wirklich natürliche Grenzen besitzt, ist in jeder Richtung über sie hinausgegangen, hatEroberungen in allen Ländern gemacht und ist jetzt auch mit einer seiner Dependenzen, den Ionischen Inseln[138], in Streit, nachdem es eben eine kolossale Rebellion in Indien[139] mit echt östreichischen Mitteln niedergeschlagen hat. Deutschland hat halbslawische Provinzen, slawische, magyarische, walachische und italienische Anhängsel. Und über wieviel Zungen herrscht der weiße Zar von Petersburg! Daß die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein Mensch behaupten. Alle Veränderungen, sofern sie Dauer haben, müssen aber im ganzen und großen darauf hinausgehn, den großen und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre wirklichen natürlichen Grenzen zu geben, die durch Sprache und Sympathien bestimmt werden, während gleichzeitig die Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer nationalen Existenz nicht mehr fähig sind, den größeren Nationen einverleibt bleiben und entweder in ihnen aufgehen oder sich nur als ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.[140] Militärische Erwägungen können nur in zweiter Linie gelten. Soll aber die Karte von Europa revidiert werden, so haben wir Deutsche
1 Eine wohlbeschaffene Mildherzigkeit betätigt sich zunächst daheim.
das Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe und daß man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle Opfer bringen, während alle andern Nationen von ihnen Vorteil haben, ohne das geringste aufzugeben. Wir können manches entbehren, das an den Grenzen unsres Gebiets herumhängt und uns in Dinge verwickelt, in die wir uns besser nicht so direkt einmischten. Aber geradeso geht es andern auch; mögen sie uns das Beispiel der Uneigennützigkeit geben oder schweigen. Das Endresultat aber dieser ganzen Untersuchung ist, daß wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten gegen die Einheit, die uns vor einer Wiederholung von Warschau und Bronzell schützt und die allein uns nach innen und außen stark machen kann. Haben wir diese Einheit, so kann die Defensive aufhören. Wir brauchen dann keinen Mincio mehr; „unser Genie" wird wieder sein, „zu attackieren"; und es gibt noch einige faule Flecke, wo dies nötig genug sein wird.
Karl Marx Frieden oder KriegI141]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5593 vom 25. März 1859, Leitartikel] An anderer Stelle bringen wir den kürzlich im „Moniteur" erschienenen Artikel11421, der orakelhaft jede Absicht seitens seines Meisters und Inspirators Louis-Napoleon, Europa in einen Krieg zu stürzen, ableugnet - ein Artikel, der anscheinend die Börsenkurse hochgetrieben und die Befürchtungen der Alten Welt halb zerstreut hat. Wer diesen Artikel jedoch aufmerksam liest, wird darin wenig Gewähr für die Hoffnungen finden, die er erweckt hat. Außer der einfachen Behauptung, daß die Verpflichtungen des Kaisers gegenüber dem König von Sardinien sich nicht weiter als auf Beistandszusicherungen gegen eine österreichische Aggression erstrecken - Zusicherungen, die Viktor Emanuel keinesfalls nötig hatte, da es seine Truppen waren, die zur Verstärkung der französischen und englischen Armee vor Sewastopol gesandt worden waren -, sehen wir in diesem Manifest weiter nichts als eine neue Verhöhnung der öffentlichen Meinung. Praktisch fordert es die Welt auf, im Interesse des französischen Usurpators zu vergessen, daß er es war und nicht die Zeitungen, der Europa am ersten Tag dieses Jahres mit einer an Österreich über dessen Gesandten gerichteten willkürlichen und prahlerischen Drohung1361 beunruhigte und erschütterte, daß seine Presse, seine Pamphletisten, sein Vetter1, seine Rüstungen und Materialeinkäufe die von ihm selbst vorsätzlich erregte Kriegspanik hochgepeitscht und verbreitet haben. Dieser Artikel enthält keine Zeile, keinen Satz, aus denen sich eine Minderung seiner Ansprüche oder seiner Intrigen in Italien oder in der Moldau-Walachei11431 entnehmen läßt. Er hann beschlossen haben, vor der öffentlichen Meinung Europas (Italien ausgenommen, Frankreich nicht aus
1 Joseph-Charles-Paul Bonaparte
genommen) zurückzuweichen; er kann aber auch beschlossen haben, die Sprache des Friedens und der Mäßigung vorzutäuschen, um gewaltige Börsenspekulationen zu vertuschen oder um diejenigen, die er überfallen will, in eine trügerische und verhängnisvolle Sicherheit zu wiegen. Sein neues Manifest deutet mit keinem Wort an, daß irgendeine Mäßigung in der Haltung Österreichs, eine Klärung des diplomatischen Himmels diesen Wechsel, der sich mehr im Ton als in der Haltung zeigt, bewirkt und gerechtfertigt habe. Und wer es für unwahrscheinlich hält, daß jemand, der in Kürze seine Blitze zu schleudern gedenkt, mit solchen Friedensversicherungen hervortritt, den müssen wir daran erinnern, daß es derselbe Louis-Napoleon ist, der unmittelbar vor seinem verräterischen Meuchelmord an der Französischen Republik sich bei einem Republikaner über den Zynismus beschwerte, ihn für fähig zu halten, eine solche Gemeinheit zu beabsichtigen. Wir betrachten daher dieses Manifest Napoleons als „einen Beschluß, durch den nichts beschlossen ist". Es ist nur ein weißer Haufen, der sich als harmloses Mehl oder als ein mehliger Kater entpuppen kann; aber darüber kann allein die Zeit entscheiden. Was die Kommentare der Londoner „Times" durch bewußte Zurückhaltung andeuten, ist noch bedeutungsvoller als das, was sie offen aussprechen. Louis-Napoleon kann nie wieder der Halbgott der Börse und des Bourgeois werden. Hinfort regiert er allein durch das Schwert.
Geschrieben um den 8. März 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Ein Seufzer aus den Tuilerien
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5594 vom 26. März 1859, Leitartikel] Kaiser Napoleon muß in der Tat in einer sehr traurigen Verfassung gewesen sein, denn er hat nicht nur einen höchst weinerlichen Brief geschrieben, sondern er hat ihn an Sir F. Head geschrieben, der nicht zu den lebensfrohesten unter den unbedeutenden Staatsmännern gehört und der ihn in der Londoner „Times" abdrucken ließ, die nicht die lustigste unter den britischen Zeitungen ist. Dadurch wird die ganze Angelegenheit ungefähr zu dem Feierlichsten, das je aus dem heiteren Lande Gallien hervorgegangen und das im nebligen England einem Leichenbegängnis gleicht. „Mein lieber Sir Francis" ist die herzliche Anrede des Kaisers an den Baronet der Bubbles[144] und „Mein lieber Sir Francis" steht in der Unterschrift. Sir Francis hat, wie es scheint, vorher gewisse Briefe an die Londoner „Times" zur Verteidigung des Kaisers geschrieben - ohne Zweifel ausgezeichnete Briefe, wie es aus eigenem Antrieb der Presse übergebene Mitteilungen oft sind, aber die gelesen oder auch nur flüchtig bemerkt zu haben wir uns nicht erinnern können und über die, dessen sirid wir sicher, wenig oder gar nicht im britischen Parlament gesprochen wurde. Sire Napoleon hat diese Erzeugnisse vom Verfasser erhalten, und da große Leute oft dankbar sind für kleine Geschenke wie Abziehriemen oder anderen Käse, so ist Sire Napoleon schrecklich dankbar für Sir Francis Heads Artikel. Der Kaiser freut sich sehr, daß er in England nicht vergessen ist, und erinnert sich gerührt der Tage, als die Handelsleute jenes Landes ihm vertrauten, wie keinem vagabundierenden Prinzen je zuvor vertraut wurde.[145]
„Heute", sagt er, „erblicke ich klar die Sorgen, welche die Macht mit sich bringt, und eine der größten mich umringenden Sorgen besteht darin, sich mißverstanden und falsch beurteilt zu sehen von jenen, die man am höchsten schätzt und mit denen man in gutem Einvernehmen zu leben wünscht."
Sodann erklärt er offen, Freiheit sei Humbug. „ Ich bedauere tief", sagt er, „daß Freiheit, gleich allen guten Dingen, ihr Übermaß hat. Weshalb bemüht sie sich, statt die Wahrheit kund zu tun, mit allen Kräften, sie zu verdunkeln? Weshalb sät sie, statt hochherzige Gefühle anzufeuern und zu beieben, Argwohn und Haß?" Und der Kaiser, der seine geheiligte Person m dieser Weise von der Freiheit angegriffen sieht, dankt dem lieben Sir Francis, daß er nicht gezögert hat, solchen falschen Anschuldigungen auf loyale und unparteiische Art energisch entgegenzutreten. Nun, ohne überhaupt auf die politischen Details seines gegenwärtigen Kummers einzugehen, verstehen wir nicht, wieso Sire Napoleon III. erwarten durfte, stets gutgelaunt und frohgestimmt sein zu können. Waren die Erfahrungen der Familie, deren angebliches Mitglied er ist, von so heiterer und sonniger Natur, daß er, als er den Thron von Frankreich zu erlangen suchte und sein Leben, seine Freiheit und all das Geld, das er zu borgen vormochte, bei kleinen Invasionen1631 aufs Spiel setzte, annehmen konnte, ihn erwarte ein Rosengebinde sybaritischer Vergnügungen, menschlicher Gutwilligkeit und persönlichen Wohlergehens, der Segen John Bulls und die erzwungene Ehrerbietung Europas? Hatte er niemals die Bemerkung des „göttlichen William" gehört: Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt1'46*? Nahm er an, daß von allen Menschen gerade er durch Schicksal undPflicht berufen war, für das Wohl des Volkes in den Tuilerien Kopfschmerzen zu ertragen? Weshalb mußte er sich dann an die breite Brust des ehrenwerten Sir F.Head werfen und weinen, weil die heißbegehrte Krone auf seine Stime drückt? Und wenn er es für notwendig hält, an die „Times" zu schreiben, warum tut er es nicht selbst, sondern durch Vermittlung eines heruntergekommenen Baronets? Er hat die arme Etikette mehr als einmal aus der Tür gejagt. Hätte er das nicht noch einmal tun können? Die schmerzliche Pose, wenn wir einen so unwürdigen Ausdruck bei Würdenträgern gebrauchen dürfen, war bei seinem Onkel beliebt und scheint vom Neffen leidlich kopiert zu werden. Der Gründer der Familie1 war gewohnt, sich in großer Länge mit vielen Tränen und mit fast krankhafter Sentimentalität zu verbreiten über seine Leiden, Plagen, Prüfungen, Gefährdungen und besonders über die schlechte Behandlung, die ihm das perfide Albion1401 zuteil werden ließ. Aber es glückte ihm wohl niemals, einen an einen
1 Napoleon I.
Engländer gerichteten Brief in die Londoner „Times" zu bringen. Es gelang ihm, in England aufrichtig verlacht und in Frankreich ebenso aufrichtig betrauert zu werden, und manchmal erreichte er, daß seinen kichernden Nachbarn das Lachen im Halse steckenblieb. Aber wenn er nie etwas Besseres getan hätte, als Briefe an die Sir Francis Heads seiner Zeit zu schreiben, würde er wahrscheinlich von seinen qualvollen Pflichten in den Tuilerien zu einem viel früheren Zeitpunkt erlöst worden sein als zu jenem, der ihn an die friedlichen Gestade von St. Helena führte.
Geschrieben um den 8. März 1859. Aus dem Englischen.
18 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
Karl Marx Die Kriegsaussichten in Frankreich
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5598 vom 31. März 1859] Paris, 9.März 1859[44] Zu der Zeit, als die Kriegsfurcht alle Börsen Europas erfaßt hatte, schrieb ich, daß Bonaparte weit davon entfernt sei, wirklich Krieg zu führen, daß aber, was auch immer seine wahren Absichten sein mögen, die Kontrolle der Läge wahrscheinlich seinen Händen entgleiten wird.1 Im gegenwärtigen Augenblick, wo der größere Teil der europäischen Presse anscheinend geneigt ist, an den Frieden zu glauben, bin ich überzeugt, daß es Krieg geben wird, wenn nicht ein günstiger Umstand zu einem plötzlichen Sturz des Usurpators und seiner Dynastie führt. Der oberflächlichste Beobachter wird wohl zugeben müssen, daß die Friedensaussichten nur auf Gerede, die Kriegsaussichten dagegen auf Tatsachen beruhen. In Frankreich und Osterreich gehen Kriegsvorbereitungen in einem noch nicht dagewesenen Maße vor sich; und wenn man den trostlosen Zustand der beiden kaiserlichen Schatzkammern betrachtet, braucht man keine umfangreiche Beweisführung für die Schlußfolgerung, daß es eine Auseinandersetzung geben wird, und zwar recht bald. Ich möchte darauf hinweisen, daß Österreich von einem erbarmungslosen Schicksal verfolgt wird, dessen Fäden uns vielleicht bis nach St.Petersburg führen und das dieses Land, sobald sich seine Finanzen erholt zu haben scheinen, genauso gewiß in einen Abgrund finanzieller Not zurückwirft, wie der tückische Felsblock, den Sisyphus mit viel Mühe den Berg hinaufgewälzt hat, von unsichtbaren Händen zurückgestoßen wurde, sobald der Verdammte sich dem Gipfel näherte. So war es Österreich nach jahrelangen ununterbrochenen Anstrengungen gelungen, sich 1845 dem Punkte zu nähern, wo
1 Siehe vorl. Band, S. 172-176
Einnahmen und Ausgaben sich deckten, als die Krakauer Revolution11471 ausbrach und von ihm eine Extraausgabe forderte, was zur Katastrophe von 1848[148] führte. 1858 verkündete Österreich wiederum der Welt die Aufnahme der Barzahlung durch die Bank von Wien, als ganz plötzlich die Neujahr sgratulation aus Paris[36] alle Pläne zur Sparsamkeit brutal zunichte machte und es zwang, die Staatsgelder zu vergeuden und die Reservefonds zu erschöpfen, was dazu führte, daß selbst in den Augen des nüchternsten österreichischen Staatsmannes der Krieg als die letzte Chance zur Rettung erscheint. Von allen Zeitungen, die sich rühmen können, mehr als nur lokalen Einfluß zu haben, ist die „Tribüne"[71 vielleicht die einzige, die sich nie dazu hergegeben hat, in den gängigen Tonfall einzustimmen - ich meine damit nicht, Louis-Napoleons Charakter zu loben, denn das wäre zu arg gewesen, aber ihn als Genie und einen Mann von überragender Willenskraft hinzustellen. Die „Tribüne" analysierte seine politischen, militärischen und finanziellen Heldentaten und hat meines Erachtens eindeutig bewiesen, daß sein nach Ansicht der Menge so verblüffend anmutender Erfolg auf eine Verkettung von Umständen zurückzuführen ist, für die er nicht selbst verantwortlich war und bei deren Ausnutzung er nie über das Können eines mittelmäßigen Berufsspielers hinaus kam, der mit einem Kennerblick für Ausflüchte, Überraschungen und coups de main1 begabt ist, aber immer ein demütiger Diener des Zufalls bleibt, und der eifrig darauf bedacht ist, unter einer Maske von Eisen eine Guttapercha-Seele zu verbergen. Zu derselben Meinung über den grand saltimbanque2, wie ihn russische Diplomaten nannten, waren auch von Anfang an alle Großmächte Europas stillschweigend und unabhängig voneinander gekommen. Als sie erkannten, daß er gefährlich wurde, weil er sich in eine gefährliche Situation begeben hatte, kamen sie überein, ihn den Nachfolger Napoleons spielen zu lassen unter der ausdrücklichen,, wenn auch unausgesprochenen Bedingung, daß er sich stets mit dem bloßen Anschein des Einflusses begnügen und niemals die Grenzen überschreiten sollte, welche den Schauspieler von dem Helden, den er darstellt, trennen. Dieses Spiel ging eine Weile gut, aber die Diplomaten übersahen wie gewöhnlich bei ihren weisen Kalkulationen einen wichtigen Faktor - das Volk. Als Orsinis Bomben^71 explodierten, tat der Held von Satory[62] so, als wolle er England Vorschriften machen, und die britische Regierung war durchaus gewillt, ihm das zu erlauben; aber der Protest des Volkes übte einen so heftigen Druck auf das Parlament aus, daß nicht nur Palmerston gestürzt[149], sondern eine anti
1 Uberrumpelungen - 2 großen Gaukler
bonapartistische Politik zur wesentlichen Voraussetzung für ein Verbleiben in der Downing Street[150] wurde. Bonaparte gab nach, und von diesem Augenblick an hat sich seine Außenpolitik als eine ununterbrochene Kette von Schnitzern, Demütigungen und Fehlschlägen erwiesen. Ich erinnere nur an seinen Plan der freien Negereinwanderung und an seine portugiesischen Abenteuer[151]. Inzwischen hatte Orsinis Attentatsversuch zu einer Wiederbelebung des Despotismus im Innern Frankreichs geführt, während die Wirtschaftskrise, durch eine stümperhafte Quacksalberei aus einem akuten Fieber in eine chronische Krankheit verwandelt, dem Thron des Parvenüs die einzige feste Grundlage entzog - die materielle Prosperität. In den Reihen der Armee machten sich Anzeichen der Unzufriedenheit bemerkbar; im Lager der Bourgeoisie wurden Signale der Meuterei hörbar; Androhungen persönlicher Rache von Seiten der Landsleute Orsinis vergifteten den Schlaf des Usurpators. In dieser Situation versuchte er ganz plötzlich, eine neue Lage zu schaffen, indem er mutatis mutandis1 Napoleons grobe Rede wiederholte, die dieser nach dem Frieden von Luneville[152] an den englischen Gesandten gerichtet hatte, und Österreich im Namen von Italien den Fehdehandschuh hinwarf. Es geschah nicht aus freien Stücken, sondern auf Grund zwingender Umstände, daß er, die personifizierte Zurückhaltung, der Meister der Ausflüchte, der Held nächtlicher Überraschungen, solch einen verzweifelt waghalsigen Schritt unternahm. Zweifellos wurde er von falschen Freunden angetrieben. Palmerston, der ihm in Compiegne mit den Sympathien der englischen Liberalen geschmeichelt hatte, wandte sich bei Eröffnung des Parlaments demonstrativ gegen ihn.[153] Rußland, das ihn mit Geheimnoten und öffentlichen Zeitungsartikeln aufgestachelt hatte, bahnte offensichtlich diplomatische pourparlers2 mit seinem österreichischen Nachbarn an. Aber der Würfel war gefallen, die Kriegsfanfaren hatten geschmettert, und Europa war sozusagen gezwungen, sich wieder einmal mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des erfolgreichen Gauners zu beschäftigen, der jetzt bei dem italienischen Feldzug angelangt war, mit dem sein Onkel seine Laufbahn begonnen hatte. In den Tagen des Dezember[42] hatte er den Napoleonismus in Frankreich wiederhergestellt; nun schien er entschlossen zu sein, ihn durch einen italienischen Feldzug in ganz Europa wiederherzustellen. Was er jedoch beabsichtigte, war nicht ein italienischer Krieg, sondern eine Demütigung Österreichs ohne Krieg. Die Erfolge, die sein Namensvetter sich mit Kanonen erkämpft hatte, hoffte er mit Hilfe der Furcht vor der Revolution zu erringen. Daß er keinen
1 mit den notwendigen Abänderungen - 2 Unterhandlungen
Krieg wollte, sondern nur einen succes d'estime1, ist klar. Andernfalls hätte er mit diplomatischen Verhandlungen begonnen und mit Krieg aufgehört, anstatt den entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Er hätte sich auf den Krieg vorbereitet, bevor er kriegerische Äußerungen zu machen begann. Kurz gesagt, er hätte nicht den Wagen vor die Pferde gespannt. Aber er hatte sich schwer in der Macht getäuscht, mit der er Händel suchte. England, Rußland und die Vereinigten Staaten können ziemlich viele scheinbare Zugeständnisse machen, ohne auch nur das geringste ihres tatsächlichen Einflusses einzubüßen; Österreich aber kann - besonders im Hinblick auf Italien - nicht von seinem Weg abweichen, ohne sein ganzes Reich zu gefährden. Darum waren die einzigen Antworten, die Bonaparte von Österreich erhielt, Kriegsvorbereitungen, die ihn zwangen, den gleichen Weg einzuschlagen. Ganz Unabhängig von seinem Willen und ganz wider sein Erwarten nahm der zum Schein geführte Streit allmählich Ausmaße eines tödlichen Konflikts an. Außerdem ging auch alles andere schief. In Frankreich stieß er auf passiven, aber hartnäckigen Widerstand, und die besorgten Bemühungen seiner am meisten interessierten Freunde, ihn zu hindern, Unheil zu stiften, ließen keinen Zweifel darüber, daß sie seinen napoleonischen Fähigkeiten mißtrauten. In England zeigte ihm die liberale Partei die kalte Schulter und spottete darüber, daß er sich anmaßte, die Freiheit als einen französischen Exportartikel zu behandeln. In Deutschland bewies ihm ein einmütiges Hohngeschrei, daß - was auch die einfältige französische Bauernschaft 1848 in ihm erblickt haben mochte - jenseits des Rheins die feste Uberzeugung herrschte, er sei nur ein unechter Napoleon und die Ehrerbietung, die ihm die dortigen Herrscher erwiesen, sei eine reine Formsache gewesen, kurzum, er sei genauso ein Napoleon „by courtesy" wie die jüngeren Söhne der englischen Herzöge „Lords by courtesy"[154] sind. Glauben Sie im Ernst, daß die zwingenden Umstände, die im Januar 1859 Louis Bonaparte veranlaßten, die Beziehungen zu Österreich zu verschärfen, durch eine lächerliche und schmachvolle reculade2 beseitigt werden, oder daß der Held von Satory selbst glaubt, er habe durch die größte und unmißverständlichste Niederlage, die er jemals erlebt hat, seine hoffnungslose Lage verbessert? Er weiß, daß die französischen Offiziere nicht einmal versuchen, ihre verzweifelte Wut über seine lächerlichen Lügen zu verbergen, die der „Moniteur" in bezug auf die gegenwärtigen Kriegsvorbereitungen veröffentlichte; er weiß, daß der Pariser Krämer bereits anfängt, Parallelen zu ziehen zwischen Louis-Philippes Rückzug vor einer europäischen Koalition im Jahre
1 Achtungserfolg - 2 Rückzugsbewegung
1840[155] und Louis Bonapartes grande retirade1 von 1859. Er weiß, daß die Bourgeoisie von einem offenkundigen, wenn auch unterdrückten Zorn ergriffen ist, einem Abenteurer unterworfen zu sein, der sich als feige herausstellt. Er weiß, daß ihm gegenüber in Deutschland eine unverhohlene Verachtung herrscht und daß noch einige solche Schritte in der gleichen Richtung ihn in der ganzen Welt zum Gegenstand des Gelächters machen würden. „N'est pas monstre qui veut"2, sagte Victor Hugo; aber der holländische Abenteurer bedarf des Ruhms, ein schrecklicher Quasimodo und nicht nur ein Quasimodo schlechthin zu sein. Die Gegebenheiten, auf die er baut, wenn der Krieg wirklich beginnt - und er weiß, daß er ihn beginnen muß -, sind folgende: Österreich wird während der noch schwebenden diplomatischen Verhandlungen nicht die geringste Konzession machen und ihm auf diese Weise einen guten Vorwand geben, zur Waffe zu greifen. Preußen war in seiner Antwort auf die österreichische Note vom 22. Februar[156] sehr zurückhaltend, und der Antagonismus zwischen diesen beiden deutschen Mächten dürfte sich noch verstärken. Englands Außenpolitik wird nach dem Zusammenbruch des Derby-Kabinetts in die Hände Lord Palmerstons fallen. Rußland wird sich an Österreich rächen, ohne selbst dabei einen Mann oder einen Rubel zu riskieren, und vor allem wird es europäische Verwicklungen schaffen, die ihm ermöglichen werden, Vorteile aus den Schlingen zu ziehen, die es der Hohen Pforte[157] m den Donaufürstentümern, in Serbien und Montenegro gelegt hat. Italien schließlich wird aufflammen, während der diplomatische Rauch die Konferenzen in Paris einhüllt, und die Völker Europas werden dem sich erhebenden Italien das zugestehen, was sie jenem, der sich selbst angemaßt hat, als sein Beschützer aufzutreten, verweigert haben. Das sind die Gegebenheiten, von denen Louis Bonaparte hofft, daß sie das Schiff seines Schicksals noch einmal in günstiges Fahrwasser gelangen lassen. Die Angstzustände, unter denen er jetzt leidet, können Sie aus der einen Tatsache folgern, daß er vor kurzem bei einer Zusammenkunft des Ministerrats einen schweren Brechanfall erlitt. Die Furcht vor der italienischen Rache ist nicht das unwesentlichste Motiv, das ihn um jeden Preis zum Krieg drängt. Vor drei Wochen stellte er erneut fest, daß die Richter der italienischen Feme[1581 ihn beobachten. Im Garten der Tuilerien wurde ein Mann gestellt und durchsucht, wobei sich herausstellte, daß er einen Revolver und zwei oder drei Handgranaten mit Zündern, wie sie auch Orsini hatte, bei sich trug. Er wurde natürlich verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Er gab einen italienischen Namen an und sprach mit italienischem Akzent. Er sagte, er könne der Polizei
1 großen Rückzug - 2 „Nicht jeder kann ein Ungeheuer sein"
viele Informationen geben, da er mit einer Geheimgesellschaft in Verbindung stehe. Zwei oder drei Tage lang blieb er jedoch sehr verschlossen, endlich bat er um einen Zellengenossen und sagte, er könne und wolle keinerlei Aussagen machen, solange er in Einzelhaft gehalten werde. Man gab ihm einen Zellengenossen, und zwar einen Gefängnisangestellten, eine Art von Archivar oder Bibliothekar. Der Italiener enthüllte dann viele Dinge bzw. schien sie zu enthüllen. Aber nach ein oder zwei Tagen kamen die Untersuchungsbeamten wieder und teilten ihm mit, eine Uberprüfung habe ergeben, daß alle seine Aussagen nicht den Tatsachen entsprechen und daß er sich entschließen müsse, aufrichtig zu sein. Er sagte, er wolle das am nächsten Tag tun. Er blieb die Nacht über sich selbst überlassen. Gegen 4 Uhr morgens stand er auf, borgte sich von seinem Zellengenossen das Rasiermesser und schnitt sich die Kehle durch. Der herbeigerufene Arzt stellte fest, daß der Schnitt so kräftig geführt worden war, daß er den sofortigen Tod zur Folge hatte.
Geschrieben um den 11. März 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Die Kriegsaussichten in Preußen
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5598 vom 3I.März 1859] Berlin, 15. März 1859[44] Hier wird der Krieg als unvermeidbar betrachtet, aber die Rolle Preußens bei der bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Osterreich ist Gegenstand allgemeiner Diskussion; weder die Regierung noch die Öffentlichkeit scheinen zu einer festen Meinung gelangt zu sein. Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß die einzigen kriegerischen Petitionen, die nach Berlin geschickt werden, nicht aus Preußen selbst, sondern aus Köln, der Hauptstadt der Rheinprovinz, kommen. Man sollte jedoch diesen Petitionen nicht allzuviel Bedeutung beimessen, da sie offensichtlich das Werk der katholischen Partei sind, die sich in Deutschland ebenso wie in Frankreich undBelgien natürlicherweise mit Österreich eins fühlt. In einer Beziehung allerdings ist ganz Deutschland von einer außergewöhnlichen Einheitlichkeit des Gefühls durchdrungen. Niemand erhebt seine Stimme zugunsten von Louis-Napoleon, niemand empfindet Sympathie für den „Befreier", im Gegenteil, eine wahre Sturzflut von Haß und Verachtung ergießt sich täglich gegen ihn. Die katholische Partei betrachtet ihn als einen Rebellen gegen den Papst1 und verflucht natürlich das ruchlose Schwert, das gegen eine Macht gerichtet werden soll, die durch ihr Konkordat mit Rom[159] einen großen Teil Europas von neuem dem Päpstlichen Stuhl unterworfen hat. Die feudale Partei, die vorgibt, den französischen Usurpator zu verabscheuen, verabscheut in Wirklichkeit die französische Nation und bildet sich ein, daß die schrecklichen Neuerungen, die aus dem Lande Voltaires und Jean-Jacques Rousseaus eingeführt wurden, durch einen ordentlichen Krieg hinweggefegt werden könnten. Die kommerzielle und industrielle Bourgeoisie, die Louis Bonaparte als den großen
l?m IX,
„Retter der Ordnung, des Eigentums, der Religion und der Familie" zu preisen pflegte, bringt nun Anklage über Anklage gegen den ruchlosen Friedensbrecher vor, der, anstatt sich damit zu begnügen, die überschäumenden Kräfte Frankreichs niederzuhalten und die sozialistischen Desperados durch heilsame Beschäftigung in Lambessa und Cayenne[160J zum Schweigen zu bringen, auf die ausgefallene Idee gekommen ist, die Aktien zum Sinken zu bringen, dadurch den regelmäßigen Geschäftsgang zu stören und die revolutionären Leidenschaften erneut zu wecken. Die große Masse des Volkes schließlich ist außerordentlich froh, daß es ihr nach Jahren erzwungenen Schweigens gestattet ist, ihrem Haß gegen den Mann Ausdruck zu verleihen, dem sie die Hauptschuld an den Fehlschlägen der Revolution von 1848/49 zuschreibt. Grimmige Erinnerungen an die napoleonischen Kriege und der heimliche Argwohn, daß ein Krieg gegen Österreich einen versteckten Schritt gegen Deutschland darstellt, genügen völlig, um die Philippika gegen Bonaparte, die so vielen verschiedenen Motiven entspringt, mit dem Anschein eines gemeinsamen Nationalgefühls zu umgeben. Die dummen Lügen im „Moniteur", die frivolen Pamphlete, die von den literarischen Condottieri des Kaisers verfaßt wurden, und die offensichtlichen Anzeichen von Wankelmut, von Besorgnis und sogar von Furcht seitens des Fuchses, der gezwungen ist, den Löwen zu spielen, haben ihr übriges dazu getan, um den allgemeinen Haß in allgemeine Verachtung zu verwandeln. Es wäre jedoch der größte Fehler, anzunehmen, daß ganz Deutschland auf der Seite Österreichs steht, weil ganz Deutschland gegen Bonaparte aufgebracht ist. Als erstes brauche ich Ihnen wohl nur den eingefleischten und unvermeidlichen Antagonismus zwischen der österreichischen und der preußischen Regierung ins Gedächtnis zu rufen - ein Antagonismus, der gewiß nicht durch die Erinnerungen an den Warschauer Kongreß, an die unblutige Schlacht von Bronzell[124], an den bewaffneten Spaziergang Österreichs nach Hamburg und Schleswig-Holstein oder vielleicht an den Russisch-Türkischen Krieg[161] gemildert wird. Sie kennen die vorsichtige, lauwarme Tendenz in den letzten Manifestationen der preußischen Regierung. Sie bringen zum Ausdruck, daß Preußen als europäische Macht in der Tat keine Veranlassung sieht, sich für die eine oder andere Partei zu entscheiden, und als deutsche Macht behält sie sich das Recht vor, zu untersuchen, inwieweit die österreichischen Ansprüche in Italien mit den wahren deutschen Interessen im Einklang stehen. Preußen ging sogar noch weiter. Es erklärte, daß Österreichs Separatverträge mit Parma, Modena, Toskana und Neapel und folglich die erörterte Aufhebung dieser Verträge von einem europäischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden müßten, also gar nicht im Bereich des Deutschen
Bundes[61] lägen. Es ergriff in der Donaufrage offen gegen Österreich Partei; es hat seinen Bevollmächtigten1 beim Deutschen Bundestag in Frankfurt abberufen, weil er offenbar zu entschieden für die Interessen Österreichs eintrat.tl62] Schließlich ist Preußen, um dem Argwohn zu begegnen, daß es unpatriotisch handle, in die Fußtapfen der deutschen Kleinstaaten getreten und hat den Export von Pferden verboten. Um diesem Verbot den antifranzösischen Stachel zu nehmen, wurde es jedoch auf den ganzen Zollverein[163] ausgedehnt, so daß es ebenso gegen Österreich wie gegen Frankreich gerichtet ist. Preußen ist immer noch die gleiche Macht, die den Separatfrieden von Basel[79J abschloß und die 1805 Haugwitz mit zwei verschiedenen Depeschen ins Lager Napoleons schickte; die eine sollte übergeben werden, wenn die Schlacht bei Austerlitztl64] für Napoleon ungünstig verliefe, die andere enthielt servile Glückwünsche für den fremden Eindringling. Abgesehen von der traditionellen Familienpolitik, auf der das Haus der Hohenzollern beharrt, wird es von Rußland eingeschüchtert, Von dem es weiß, daß es mit Bonaparte geheime Beziehungen unterhält und ihn auch zu seiner verhängnisvollen Erklärung am Neujahrstage[36] getrieben hat. Wenn ein Blatt wie die „Neue Preußische Zeitung"[165] für den König von Piemont gegen Franz Joseph eintritt, bedarf es keiner großen Sehergabe, um zu erraten, aus welcher Richtung der Wind weht. Um alle Zweifel zu beseitigen, hat Herr von Manteuffel ein anonymes Pamphlet^1661 veröffentlicht, in dem er eine russischfranzösische gegen eine österreichisch-englische Allianz empfiehlt. Aber die wesentliche Frage dabei ist nicht so sehr, welche Absichten die Regierung verfolgt, sondern auf welcher Seite die Sympathien des Volkes sind. Nun muß ich Ihnen sagen, daß außer der katholischen Partei, der feudalen Partei und einigen stupiden Überresten der teutonischen Polterer von 1813 bis 1815 das deutsche Volk im allgemeinen und die Bevölkerung Norddeutschlands im besonderen sich in einem großen Dilemma befinden. Während sie entschieden für Italien gegen Österreich Partei ergreifen, können sie nicht umhin, gegen Bonaparte für Österreich Partei zu ergreifen. Natürlich, wenn wir uns an die Augsburger „Allgemeine Zeitung" hielten, könnte man zu der Ansicht gelangen, daß Österreich das Idol jedes deutschen Herzens sei. Die von dieser Zeitung in die Welt gesetzte Theorie ist, kurz gesagt, folgende: Jede Rasse in Europa, mit Ausnahme der Deutschen, steht vor dem Zusammenbruch. Frankreich ist am Absterben; Italien muß sich außerordentlich begnadet vorkommen, weil es in eine deutsche Kaserne verwandelt wird; die slawischen Rassen ermangeln der ethischen Qualitäten, um sich selbst
1 Bismarck
regieren zu können, und England ist durch den Handel korrumpiert. So bleibt nur das solide Deutschland übrig - und Osterreich ist der europäische Repräsentant Deutschlands. Mit der einen Hand hält es Italien, mit der anderen die Slawen und Magyaren unter dem veredelnden Einfluß der deutschen Sittlichkeit1 (es ist unmöglich, dieses Wort zu übersetzen). Österreich schützt das Vaterland gegen die russische Invasion, indem es Galizien, Ungarn, die dalmatinische Küste und Mähren besetzt hält und die Donaufürstentümer zu okkupieren beabsichtigt, und verteidigt Deutschland, dieses Herz der menschlichen Zivilisation, gegen das besudelnde Gift der französischen Demoralisation, Frivolität und Ehrsucht, indem es Italien in seiner Gewalt hält. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß diese Theorie außerhalb der Grenzen Österreichs von niemandem begrüßt wurde mit Ausnahme von einigen bayrischen Krautjunkern2, deren Anspruch, die deutsche Zivilisation zu repräsentieren, ebenso wohlfundiert ist, wie jener der alten Böotier[1671, die Repräsentanten des griechischen Genius zu sein. Aber es gab und gibt auch gegenwärtig eine andere, prosaischere Ansicht über die Angelegenheit, die aus der gleichen Quelle stammt. Es wird gesagt, daß der Rhein am Po verteidigt werden muß und daß die österreichischen Positionen an Po, Etsch und Mincio die natürlichen militärischen Grenzen Deutschlands gegen eine französische Invasion bilden. Als diese Doktrin 1848 von General Radowitz in der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt vorgebracht wurde[105], setzte sie sich durch und bewegte die Versammlung dazu, sich auf die Seite Österreichs gegen Italien zu stellen3, aber die Entscheidung jenes sogenannten revolutionären Parlaments, das sich erlauben konnte, einen österreichischen Erzherzog mit der Exekutivgewalt auszustatten11681, ist schon seit langem verurteilt worden. Die Deutschen beginnen zu begreifen, daß sie durch ein quid pro quo irregeführt wurden, daß die zur Verteidigung Österreichs benötigten militärischen Positionen keineswegs zur Verteidigung Deutschlands gebraucht werden, und daß die Franzosen mit dem gleichen und sogar noch größerem Recht den Rhein als ihre natürliche militärische Grenze beanspruchen können wie die Deutschen den Po, den Mincio und die Etsch.
Aus dem Englischen.
1 Sittlichkeit: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch - 2 ebenso: Krautjunkern — 3 siehe Band 5 unserer Ausgabe, S. 98/99
Karl Marx Eine historische Parallele
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5598 vom 3I.März 1859, Leitartikel] Als Louis-Napoleon, dem weniger glücklichen Marino Faliero von Venedig nacheifernd, durch Eidbruch und Verrat, durch mitternächtliche Verschwörung und die Verhaftung der unbestechlichen Mitglieder der Nationalversammlung aus ihren Betten heraus, unterstützt von einem überwältigenden Truppenaufgebot in den Straßen von Paris, sich des Thrones bemächtigte, da frohlockten die regierenden Fürsten und der Adel Europas, die großen Grundbesitzer, Fabrikanten, Rentiers und Börsenspekulanten fastausnahmslos über seinen Erfolg als ihren eigenen. „Die Gewalttaten gehen auf seine Rechnung", so lachten sie sich allgemein ins Fäustchen, „aber die Früchte kommen uns zugute. Louis-Napoleon herrscht in den Tuilerien. während wir noch sicherer und despotischer auf unseren Ländereien, in unseren Fabriken, an der Börse und in unseren Kontoren herrschen. Nieder mit allem Sozialismus! Vive l'Empereur !liS Neben der militärischen Gewalt ließ der vom Glück begünstigte Usurpator all seine Künste spielen, um die Reichen und Mächtigen, die Geschäftstüchtigen und Spekulanten unter seiner Fahne zu sammeln. „Das Kaiserreich ist der Friede"[53], verkündete er, und die Millionäre erhoben ihn beinahe zum Gott. „Unser sehr lieber Sohn in Jesu Christo", nannte ihn der Papst2 liebevoll, und der römisch-katholische Klerus huldigte ihm (pro tempore) mit allen Zeichen des Vertrauens und der Ergebenheit. Die Aktien stiegen, Banken des Credit mobilier[18] schössen wie Pilze aus der Erde und florierten; mit einem Federstrich wurden durch neue Eisenbahnen, neuen Sklavenhandel und neue Spekulationen aller Art Millionengewinne gemacht. Die britische Aristokratie kehrte der Vergangenheit den Rücken, zog den Hut und entbot dem neuen Bonaparte ihren Gruß. Dieser stattete Königin Victoria einen Familienbesuch ab[169] und wurde von der Londoner City gefeiert. Die eng
1 Es lebe der Kaiser! - 2 Pius IX.
lische Börse trank der französischen zu, die Apostel der Börsenspekulation beglückwünschten sich und schüttelten sich die Hände, und man war davon überzeugt, daß das Goldene Kalb endlich doch zum allmächtigen Gott erhoben war und daß sein Aaron der neue französische Autokrat sei. Sieben Jahre sindins Land gegangen, undalles ist verändert. Napoleon III. hat das Wort136] ausgesprochen, das nicht mehr ungesagt noch vergessen gemacht werden kann. Gleichgültig, ob er so blind in sein Verderben stürzt wie es sein Vorgänger in Spanien und Rußland tat, oder ob er durch das aufgebrachte, allgemeine Murren der Fürstlichkeiten und Bourgeoisien Europas dazu gezwungen wird, sich zeitweilig ihrem Willen zu beugen - der Zauber ist endgültig gebrochen. Sie wußten schon lange, daß er ein Halunke ist, aber sie haben ihn für einen nützlichen, fügsamen, gehorsamen, dankbaren Halunken gehalten; doch jetzt sehen sie ihren Fehler ein und bereuen ihn. Die ganze Zeit über hat er sie ausgenutzt, während sie ihn auszunutzen glaubten. Er liebt sie genauso wie er sein Essen oder seinen Wein liebt. Bisher haben sie ihm schon in gewisser Weise gedient, und nun müssen sie ihm auch in anderer Weise dienen oder seine Rache herausfordern. Wenn künftighin „das Kaiserreich der Friede ist", so ist es ein Friede am Mincio oder an der Donau ein Friede,in dem seineAdler im Triumph amPoundan der Etsch, wenn nicht gar am Rhein und auch an der Elbe prunken; es ist ein Friede mit der eisernen Krone[170] auf dem kaiserlichen Haupt, mit Italien als einer französischen Satrapie und mit Großbritannien, Preußen und Österreich als bloßen Satelliten, die um das Zentralgestirn Frankreich, das Reich Karls des Großen, kreisen und von ihm ihr Licht empfangen, Natürlich wird in den königlichen Palästen mit den Zähnen geknirscht, aber nicht weniger in den Häusern der Bankiers und der Handelsfürsten. Denn das Jahr 1859 begann unter günstigen Anzeichen, die eine Restauration der goldenen Tage von 1836 und 1856[171] erwarten ließen. Die langanhaltende Stagnation der Industrie hatte die Vorräte an Metallen, Waren und Fabrikaten erschöpft. Die zahlreichen Bankrotte hatten die Atmosphäre des Handels merklich gereinigt. Schiffe bekamen wieder einen Marktwert, Lagerhäuser sollten wieder gebaut und gefüllt werden. Aktien stiegen, und die Millionäre waren in ausgezeichneter Stimmung; kurz, nie hatte es glänzendere Handelsaussichten, nie einen so heiteren, glückverkündenden Himmel gegeben. Und all das wird durch ein Wort verändert, und dieses Wort wird gesprochen vom Helden des coup d'etat - dem Erkorenen des Dezembers - dem Retter der Gesellschaft. Es wird mutwillig, unverfroren, mit klarem Vorbedacht gegenüber Herrn Hübner, dem österreichischen Gesandten, geäußert und deutet unverkennbar auf das beschlossene Vorhaben hin, mit Franz Joseph
Streit zu suchen oder ihn durch Einschüchterung verhängnisvoller zu demütigen, als es drei verlorene Schlachten vermöchten. Obwohl offenbar dazu bestimmt, eine immittelbare Wirkung an der Börse im Interesse spekulativer Börsengeschäfte auszulösen, verriet es den festen Vorsatz, die Landkarte Europas neu zu gestalten. Österreich müsse sich aus all jenen nominell unabhängigen italienischen Staaten zurückziehen, die es jetzt, kraft der Verträge mit ihren gefügigen Herrschern, praktisch besetzt hält, oder Frankreich und Sardinien würden Mailand besetzen und Mantua mit solch einer Armee bedrohen, wie sie General Bonaparte niemals in Italien befehligt hatte. Der Papst müsse die Mißbräuche der klerikalen Herrschaft in seinen Staaten beseitigen Mißbräuche, die bisher von französischen Waffen verteidigt wurden - oder es den kleinen Despoten von Toskana, Parma, Modena usw. in ihrem überstürzten Wettrennen, Schutz in Wien zu finden[172], gleichtun. Die Rothschilds stöhnen über den Verlust ihrer elf Millionen Dollar, den sie durch die infolge der Drohung gegenüber Hübner eingetretene Entwertung von Aktien erlitten, und sind absolut untröstlich. Die Fabrikanten und Händler erkennen voller Trauer, daß die erhoffte Ernte von 1859 wahrscheinlich einer „Todesernte" Platz machen wird. Uberall beklemmen Befürchtungen, Unzufriedenheit und Unwille die Herzen derer, auf denen der Thron des Dezembermannes noch vor wenigen Monaten so sicher ruhte. Und das gestürzte, zerbrochene Götzenbild kann nie wieder auf sein Postament gesetzt werden. Louis-Napoleon kann vor dem Sturm, den er entfacht hat, zwar zurückweichen und wieder den Segen des Papstes und die Schmeicheleien der britischen Königin entgegennehmen, aber beides werden nur Lippenbekenntnisse sein. Jetzt erkennen auch sie, was die Völker schon lange wissen: Er ist ein gewissenloser Spieler, ein verwegener Abenteurer, der ebenso gut mit königlichen Gebeinen wie mit allen anderen bei dem Spiel würfeln würde, das ihm Gewinn verspricht. Sie wissen, daß er, nachdem er wie Macbeth durch Menschenblut zur Krone watete, es leichter findet, auf diesem Wege fortzuschreiten, als zu Frieden und Redlichkeit zurückzukehren. Von der Stunde ein, zu der er Österreich herausforderte, haben sich die Potentaten von Louis-Napoleon zurückgezogen. Der junge Kaiser von Rußland mag seine Gründe dafür haben, noch immer als sein Freund zu erscheinen, aber dieser Schein trügt. Der Napoleon I. von 1813 war der Prototyp für Napoleon III. von 1859. Und dieser wird sich wahrscheinlich ebenso tief in sein Verhängnis stürzen wie jener.[173]
Geschrieben um den 18. März 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der beabsichtigte Friedenskongreß
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5618 vom 23. April 1859, Leitartikel] Die Bereitwilligkeit, mit der Louis-Napoleon dem Vorschlag zustimmte, einen Kongreß zur Beratung der italienischen Frage einzuberufen, war eher unheilverkündend als dem Frieden Europas dienlich. Wenn ein Monarch, dessen gesamte Handlungen während der letzten sechs Monate eindeutig auf Krieg gerichtet waren, plötzlich eine scharfe Wendung vollführt und einem Vorschlag, der scheinbar die Erhaltung des Friedens zum Ziele hat, sofort seine Zustimmung gibt, dann ist unsere erste Schlußfolgerung, daß sich hinter den Kulissen Dinge abspielen, die - wären sie bekannt - seiner Handlungsweise den Anschein der Inkonsequenz nehmen würden. Das trifft auch auf den europäischen Kongreß zu. Was auf den ersten Blick nach einem Versuch aussah, den Frieden zu erhalten, erweist sich jetzt als ein neuer Vorwand, um Zeit zur Vollendung der Kriegsvorbereitungen zu gewinnen. Der Kongreß wurde eben erst vorgeschlagen, und während noch nichts über den Ort und die Verhandlungsbasis entschieden ist, während die Zusammenkunft, falls sie überhaupt stattfindet, mindestens bis Ende April verschoben ist, hat die französische Armee den Befehl erhalten, jedes Regiment um ein viertes Bataillon zu verstärken und sechs französische Divisionen auf Kriegsfuß zu bringen. Das sind Tatsachen, die eine nähere Betrachtung verdienen. Die französische Infanterie besteht außer den Jägern, den Zuaven, der Fremdenlegion, den eingeborenen algerischen Truppen und anderen Spezialkorps aus acht Garderegimentern und hundert Linienregimentern. Diese hundert Linienregimenter haben einen Friedensstand von je drei Bataillonen, zwei für den aktiven Dienst und ein Depotbataillon. Die Stärke eines Regiments schwankt demnach zwischen 1500 und 1800 Kombattanten. Außerdem hat es genau so viele, wenn nicht noch mehr Beurlaubte, die sofort zu
ihrem Truppenteil gerufen werden, wenn das Regiment auf Kriegsfuß gebracht wird. In diesem Fall werden die drei Bataillone zusammen 3600 bis 4000 Mann stark. Wenn man davon 500-600 Mann für das Depotbataillon abrechnet, würden die beiden aktiven Bataillone eine Stärke von je 1500 bis 1700 Mann aufweisen, also äußerst schwerfällig werden. Um alle diese ausgebildeten Soldaten wirklich einsatzfähig zu machen, ist also erforderlich, sofort in jedem Regiment ein neues aktives Bataillon aufzustellen, wodurch die Stärke des Bataillons, der taktischen Einheit, auf ungefähr 1000 Mann reduziert wird, was einer Durchschnittszahl entspricht, die sich jetzt in den meisten europäischen Armeen durchgesetzt hat. Die Formierung der vierten Bataillone ist deshalb eine notwendige Voraussetzung, um die französische Armee auf Kriegsfuß zu bringen, und die einzige Möglichkeit, sie mit den Organisationsformen zu versehen, die erforderlich sind, um die verfügbare Anzahl ausgebildeter Soldaten aufnehmen zu können. Dieser Umstand verleiht der Formierung dieser vierten Bataillone eine besondere Bedeutung; er besagt, daß die Kriegsbereitschaft hergestellt ist. Die Art und Weise, wie sie gebildet werden, ist sehr einfach: Die 5. und 6.Kompanie der drei bestehenden Bataillone (von denen jedes sechs Kompanien hat) werden zu einem vierten Bataillon zusammengefaßt, während von den verbliebenen vier Kompanien die notwendigen Offiziere und Soldaten abgezogen werden, um für jedes Bataillon zwei neue Kompanien zu bilden. Das neue Bataillon geht ins Depot, während das dritte zu einem aktiven Bataillon umgebildet wird. Zusammen mit der Garde, den Jägern und anderen Spezialkorps wird dann die Zahl der Bataillone in der französischen Armee ungefähr 480 betragen, eine Anzahl, die ausreicht, um ca. 500 000 Mann aufzunehmen; und wenn das nicht genügen sollte, könnten die vierten Bataillone in aktive Bataillone umgewandelt und in den Depots durch neuformierte fünfte Bataillone ersetzt werden. Dieses Verfahren wurde in der Tat gegen Ende des russischen Krieges[72] angewandt, als die Armee 545 Bataillone zählte. Daß dieser Schritt der französischen Regierung tatsächlich nichts anderes bedeutet als die Herstellung der sofortigen Kriegsbereitschaft, beweist eine andere Maßnahme, die ihm unmittelbar folgte. Sechs Divisionen erhielten den Befehl, sich auf Kriegsfuß zu bringen, d.h. diejenigen, die beurlaubt waren, einzuberufen. Eine französische Infanteriedivision besteht aus vier Regimentern oder zwei Linienbrigaden und einem Bataillon Jäger zu Fuß, also aus insgesamt dreizehn Bataillonen mit ungefähr 14000 Mann. Obwohl die sechs Divisionen nicht näher bezeichnet sind, ist es unschwer zu erraten, an welche sich der Befehl richtet. Da sind zunächst die vier Divisionen, die jetzt bereits an der Rhone sind, und unter denen sich auch die Division General
Renaults befindet, die gerade aus Algerien zurückgekehrt ist; dann die Division Bourbakis, die jetzt Befehl hat, sich in Algerien einzuschiffen; und schließlich eine Division der Pariser Armee, die Berichten zufolge den Befehl erhielt, sich für einen sofortigen Abmarsch bereit zu halten. Diese sechs Divisionen umfassen ungefähr 85 000 Mann Infanterie, die zusammen mit der erforderlichen Artillerie, der Kavallerie und dem Train eine Armee von etwas mehr als 100000 Mann bilden würden, die als Kern der Italienarmee im bevorstehenden Feldzug angesehen werden kann. Angesichts des allgemeinen Rufs nach Frieden in Frankreich, der heftigen nationalen und antifranzösischen Agitation in Deutschland und der Haltung Englands scheint Louis-Napoleon gezögert zu haben, solch einen Schritt wie die Mobilisierung seiner Armee zu unternehmen, ohne gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, daß er nicht unwiderruflich zum Krieg entschlossen sei, sondern sich mit einer beliebigen Verbesserung der Situation in Italien zufrieden geben würde, die mit Hilfe eines Kongresses erreicht werden könnte. Ein Blick auf die Geschichte der militärischen Vorbereitungen bestätigt diese Ansicht und ergibt neue Beweise dafür, daß dieses Täuschungsmanöver in seine Pläne einbezogen war. Nachdem der Empfang in den Tuilerien am Neujahrstag gezeigt hatte, daß es seine Absicht war, Schwierigkeiten mit Osterreich heraufzubeschwören136 begann sogleich eine Art Wettrüsten zwischen Frankreich und Sardinien auf der einen und Österreich auf der anderen Seite. Es Zeigte sich jedoch sofort, daß Österreich den Vorteil auf seiner Seite hatte. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurde innerhalb weniger Tage ein ganzes Armeekorps nach Italien geworfen. Als die Berichte von französischen und sardinischen Truppenkonzentrationen einen noch drohenderen Charakter annahmen, wurden die Beurlaubten, die zur österreichischen Armee in Italien gehörten, innerhalb drei Wochen zurückgerufen und wieder in ihre Regimenter eingereiht; gleichzeitig wurden die Beurlaubten und Rekruten aus den italienischen Provinzen ebenfalls einberufen und zu den Garnisonen ihrer entsprechenden Korps ins Landesinnere geschickt. Das alles wurde mit einer Ruhe und in einer Schnelligkeit durchgeführt, die der beste Beweis sind für die Vollkommenheit des österreichischen Militärsystems und die ausgezeichnete Leistungsfähigkeit der österreichischen Armee. Die Österreicher, früher bekannt für Langsamkeit, Pedanterie und Unbeweglichkeit, hatten allerdings durch die Art und Weise, wie Radetzky 1848/49 seine Truppen einsetzte, sehr eindrucksvoll bewiesen, daß sie auch anders konnten, aber ein so reibungsloses Funktionieren des Mechanismus und eine Herstellung der Einsatzbereitschaft in derartig kurzer Frist konnten kaum erwartet werden. Hier waren keine neuenTruppen
19 Marx/Engels, Werke, Bd .13
formationen nötig; die aktiven Bataillone in Italien mußten nur auf ihre volle Stärke gebracht werden, während die Umwandlung der Depotbataillone in aktive Bataillone und die Organisation von neuen Depots weit im Innern der Monarchie vor sich gehen, ohne in irgendeiner Weise die Vervollständigung der aktiven Armee zu verzögern. Ebenso trifft zu, daß Sardinien keine neuen Formationen benötigte; die Organisation seiner Armee war ausreichend. Bei den Franzosen allerdings lagen die Dinge anders. Die Mobilisierung erforderte ziemlich viel Zeit. Die Formierung der vierten Bataillone mußte der Einberufung der Beurlaubten vorangehen. Sodann mußte Louis-Napoleon im Falle eines Angriffs auf Österreich die Möglichkeit eines Krieges mit dem Deutschen Bund[61] im Auge behalten. Während daher Österreich, das nur an seiner italienischen oder südlichen Grenze für einen Angriff offen und durch Deutschland gegen Westen gedeckt ist, einen sehr großen Teil seiner Truppen nach Italien werfen und, wenn erforderlich, sofort in den Krieg eintreten kann, muß die französische Regierung erst alle ihr zur Verfügung stehenden Streitkräfte sammeln, bevor sie offensive Operationen wagen kann. Deshalb war es erforderlich, erst einmal die neue Rekrutenaushebung von 1859 und die 50 000 Freiwilligen, mit denen Frankreich im Kriegsfall im allgemeinen rechnet, zusammenzubringen. All dies erfordert eine beträchtliche Zeit, und ein überstürzter Beginn des Feldzuges lag daher überhaupt nicht im Interesse LouisNapoleons. Wenn wir uns an den berühmten Artikel des „Constitutionnel" über die französische Armee halten, der - wie Sie sich erinnern werden - direkt von Louis-Napoleon selbst stammt1, können wir feststellen, daß er dort Ende Mai als den Zeitpunkt genannt hat, an dem sich die französischen Truppen auf ungefähr 700 000 Mann belaufen werden. Bis dahin würde Österreich also einen relativen Vorteil gegenüber Frankreich haben; und da die Ereignisse auf dem besten Wege waren, einen offenen Bruch herbeizuführen, wurde dieser Kongreß zu einem vorzüglichen Mittel, Zeit zu gewinnen. Aber da ist noch ein anderer Punkt, den man nicht außer acht lassen darf. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Rußland seine Hand im Spiele hat. Es ist offensichtlich, daß es Österreich zu demütigen beabsichtigt und daß ihm eine Verwicklung in Westeuropa Handlungsfreiheit an der Donau gewährt, um das wiederzuerlangen, was es durch den Pariser Frieden1171 verlor. Daß Rußland eigene Ansichten über die rumänischen Fürstentümer, über Serbien und die slawische Bevölkerung der Türkei hat, beweist seine Politik, die es in letzter Zeit in diesen Ländern betrieb11741. Es gibt für Ruß
land kein besseres Mittel, sich an Österreich zu rächen, als die panslawistische Agitation unter den Millionen österreichischer Slawen zu erneuern, während Österreich Krieg führt. Um das alles und, wenn sich die Gelegenheit bietet, noch mehr tun zu können, muß auch Rußland seine Truppen konzentrieren und Vorbereitungen treffen. Dafür braucht es Zeit. Außerdem ist ein Vorwand nötig, um eine passive feindliche Haltung gegenüber Österreich einnehmen zu können, und nirgends findet sich eine so gute Gelegenheit, einen kleinen Streit vom Zaune zu brechen, als auf solch einem Kongreß. Dieser Kongreß wird sich daher - sollte er jemals stattfinden - nur als „ein Betrug, ein Hohn und eine Falle" erweisen, anstatt als ein ernsthafter oder zumindest ehrlicher Versuch, den Frieden zu erhalten. Es kann kaum bezweifelt werden, daß alle Großmächte sich inzwischen völlig davon überzeugt haben, daß die ganze Angelegenheit eine bloße Formalität sein wird, die man durchführt, um die Öffentlichkeit zu täuschen und andere Pläne, die noch nicht ans Licht dringen sollen, zu verschleiern.
Geschrieben Anfang April 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Schwere Zerrüttung der indischen Finanzen
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5624 vom 30. April 1859]
I
London, 8. April 1859 Die indische Finanzkrise, die augenblicklich gemeinsam mit den Kriegsgerüchten und der Wahlagitation der Ehre teilhaftig wird, das Interesse der englischen Öffentlichkeit ganz in Anspruch zu nehmen, muß unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Sie kennzeichnet sowohl eine vorübergehende Notlage als auch eine ständige Schwierigkeit. Am H.Februar brachte Lord Stanley im Unterhaus eine Bill ein, der zufolge die Regierung ermächtigt werden soll, eine Anleihe von 7 Millionen Pfd.St. in England aufzunehmen, um die Sonderausgaben der Indienverwaltung für das laufende Jahr zu decken. Etwa sechs Wochen danach wurden John Bulls Selbstbeglückwünschungen über die geringen Kosten der indischen Rebellion[139] jäh unterbrochen durch das Eintreffen der Überlandpost, die ein Wehgeschrei der Regierung in Kalkutta über ihre Finanzschwierigkeiten enthielt. Am 25.März erhob sich Lord Derby im Oberhaus, um zu verkünden, daß außer der 7-Millionen-Pfd.-St.-Anleihe, die dem Parlament zur Beratung vorliegt, eine weitere Anleihe von 5 Millionen Pfd.St. für Indien benötigt würde, um die Anforderungen dieses Jahres zu decken, und daß selbst dann noch gewisse Ansprüche auf Entschädigung und Prisengeld[175], die sich auf mindestens 2 Millionen Pfd.St. belaufen, aus einer bisher noch unbekannten Quelle beglichen werden müßten. Um die Dinge in ein angenehmeres Licht zu rücken, hatte Lord Stanley in seiner ersten Erklärung nur den Bedarf des in London befindlichen Schatzamtes für Indien berücksichtigt und es der britischen Regierung in Indien überlassen, sich mit ihren eigenen Ressourcen zu behelfen, obwohl er aus den eingegangenen
Depeschen genau wußte, daß diese bei weitem nicht ausreichten. Ganz abgesehen von den Ausgaben der englischen Regierung oder der Indienverwaltung in London veranschlagte Lord Canning das Defizit der Regierung in Kalkutta für das laufende Rechnungsjahr 1859/1860 auf 12 Millionen Pfd.St., wobei eine Zunahme der gewöhnlichen Revenue um 800 000 Pfd.St. und eine Abnahme der Militärausgaben um 2 Millionen Pfd. St. bereits einkalkuliert sind. Die Geldknappheit der Regierung in Kalkutta war derart groß, daß sie die Bezahlung eines Teils ihrer Zivilverwaltung einstellen mußte, ihr Kredit derart gesunken, daß die fünfprozentigen Staatspapiere mit 12% Abzug notiert wurden, und ihre Finanzen waren derart zerrüttet, daß sie nur vor dem Bankrott gerettet werden konnte, weil innerhalb weniger Monate Silber im Werte von 3 Millionen Pfd.St. von England nach Indien gesandt wurde. Drei Punkte werden also offensichtlich. Erstens: Lord Stanleys ursprüngliche Erklärung war ein „Kniff" und weit davon entfernt, alle indischen Verpflichtungen zu umfassen; sie berücksichtigte nicht einmal den unmittelbaren Bedarf der Regierung Indiens im Lande selbst. Zweitens: Während der ganzen Zeit der Insurrektion wurde es, wenn wir von der Silbersendung im Werte von einer Million Pfd.St. von London nach Indien im Jahre 1857 absehen, der Regierung in Kalkutta überlassen, selbst einen Weg zu finden, um aus eigenen Ressourcen den Hauptteil der außerordentlichen Kriegskosten zu bestreiten, die Indien auf jeden Fall für den Unterhalt von mehr als 60 000 europäischen Soldaten zusätzlich, für die Wiedererstattung der geraubten Schätze und für den Ersatz der ganzen verlorengegangenen Revenuen der örtlichen Verwaltungen aufbringen mußte. Drittens: Neben der Deckung des Bedarfs der Indienverwaltung in England ist in diesem Jahr noch ein Defizit von 12 Millionen Pfd.St. auszugleichen. Durch Operationen, mit deren zweifelhaften Charakter wir uns nicht befassen wollen, soll diese Summe auf 9 Millionen Pfd.St. reduziert werden, wovon 5 Millionen Pfd.St. in Indien und 4 Millionen Pfd.St. in England geliehen werden sollen. Von der letzteren Summe sind bereits eine Million Pfd.St. in Gestalt von Silberbarren von London nach Kalkutta abgegangen, und weitere 2 Millionen Pfd.St. sollen in möglichst kurzer Frist folgen. Aus dieser kurzen Auf Stellung ist zu erkennen, daß die Regierung Indiens von ihren englischen Herren recht unfair behandelt worden ist; sie ließen sie im Stich, um John Bull Sand in die Augen zu streuen. Andererseits muß man jedoch zugeben, daß die Finanzoperationen Lord Cannings sogar seine militärischen und politischen Leistungen an Ungeschicklichkeit übertreffen. Bis Ende Januar 1859 hatte er es fertiggebracht, die notwendigen Mittel durch Anleihen in Indien zu beschaffen, die teils in Regierungsobligationen, teils in
Schatzkammerscheinen ausgeschrieben wurden; doch während seine Bemühungen in der Zeit der Rebellion Erfolg hatten, scheiterten sie seltsamerweise gänzlich von dem Augenblick an, da die englische Herrschaft durch Waffengewalt wiederhergestellt war. Und sie scheiterten nicht nur, sondern es gab eine Panik in bezug auf die Staatspapiere; bei allen Fonds trat eine beispiellose Entwertung ein, begleitet von Protesten seitens der Handelskammern in Bombay und Kalkutta und von öffentlichen Versammlungen englischer und einheimischer Geldmakler in Kalkutta, die die Unentschlossenheit, den willkürlichen Charakter und das hilflose Unvermögen der Regierungsmaßnahmen verurteilten.Das leihbare Kapital Indiens, das die Regierung bis zum Januar 1859 mit Geld versorgt hatte, begann nunmehr auszubleiben, da die Kraft zum Verleihen anscheinend erschöpft war. Tatsächlich absorbierten die Anleihen, die sich von 1841 bis 1857 auf insgesamt 21 Millionen Pfd. St. beliefen, allein in den zwei Jahren 1857und 1858 etwa9MillionenPfd.St., das entspricht beinahe der Hälfte der während der vorangegangenen sechzehn Jahre geliehenen Geldsumme. Ein derartiges Versagen der Ressourcen begründet zwar die Notwendigkeit, den Zinsfuß für Regierungsanleihen nach und nach von 4 auf 6 Prozent hochzuschrauben, erklärt aber selbstverständlich keineswegs die kommerzielle Panik auf dem indischen Wertpapiermarkt und die völlige Unfähigkeit des Generalgouverneurs, die dringendsten Forderungen zu befriedigen. Das Rätsel wird durch die Tatsache gelöst; daß es bei Lord Canning zu einem ständig wiederkehrenden Manöver geworden ist, ohne vorherige Unterrichtung der Öffentlichkeit und bei größter Ungewißheit über die weiterhin geplanten Finanzoperationen neue Anleihen zu einem höheren Zinsfuß als bei den offenen Anleihen auszuschreiben. Die Entwertung der Staatspapiere infolge dieser Manöver ist auf nicht weniger als 11 Millionen Pfd.St. errechnet worden. Bedrängt durch die Armut der Staatskasse, beängstigt durch die Panik auf dem Effektenmarkt und beunruhigt durch die Proteste der Handelskammern und die Versammlungen in Kalkutta, hielt es Lord Canning für das beste, artig zu sein und zu versuchen, den Wünschen der Geldleute nachzukommen; doch seine Bekanntmachung von 2I.Februar 1859H76] zeigt aufs neue, daß der menschliche Verstand nicht vom menschlischen Willen abhängt. Was wurde von ihm verlangt? Nicht gleichzeitig zwei Anleihen zu unterschiedlichen Bedingungen auszuschreiben und den Geldleuten sofort die für das laufende Jahr benötigte Summe zu nennen, statt sie durch aufeinanderfolgende Verlautbarungen, die einander widersprechen, zu täuschen. Und was tut er in seiner Bekanntmachung? Zuerst sagt er, für das Jahr 1859/1860 seien 5 Millionen Pfd.St. zu 5% Prozent durch Anleihe auf dem indischen Markt aufzubringen, und
„wenn diese Summe realisiert ist, wird die Anleihe für 1859/1860 geschlossen und keine weitere Anleihe während dieses Jahres in Indien aufgenommen werden".
Er hebt jedoch den ganzen Wert der gerade gegebenen Versicherungen auf, indem er in der gleichen Proklamation fortfährt: „Im Laufe des Jahres 1859/1860 wird in Indien keine Anleihe mit höherem Zinsfuß ausgeschrieben werden, es sei denn auf Anweisung der englischen Regierung." Das ist aber noch nicht alles. Tatsächlich schreibt er eine Doppelanleihe zu unterschiedlichen Bedingungen aus. Zugleich mit der Ankündigung, daß „die Ausgabe von Schatzkammerscheinen zu den am 26. Januar 1859 bekanntgegebenen Bedingungen am 30. April beendet wird", gibt er bekannt, „daß eine neue Ausgabe von Schatzkammerscheinen mit dem 1. Mai beginnen wird", die zu ungefähr 5% Prozent verzinst und ein Jahr nach dem Tage der Ausgabe eingelöst werden. Beide Anleihen werden gleichzeitig offengehalten, da die im Januar ausgeschriebene Anleihe noch nicht abgeschlossen ist. Der einzige Finanzgegenstand, den Lord Canning anscheinend zu begreifen vermag, ist, daß sein Jahresgehalt nominell 20 000 Pfd.St., tatsächlich aber ungefähr 40 000 Pfd. St. beträgt. Trotz der Anwürfe des Derby-Kabinetts und seiner offenkundigen Unzulänglichkeit hält er daher aus „Pflichtgefühl" an seinem Posten fest. Die Auswirkungen der indischen Finanzkrise auf den englischen Binnenmarkt sind bereits offensichtlich geworden. Die Silbersendungen seitens der Regierung, die von großen Sendungen auf Rechnung der Kaufleute begleitet werden und die in eine Periode fallen, in der die üblichen Silberlieferungen aus Mexiko infolge der zerrütteten Lage dieses Landes11773 ausbleiben, haben natürlich als erstes den Preis von Barrensilber ansteigen lassen. Am 25. März war er auf den künstlich hochgetriebenen Preis von 623/4 Pence für die Standardunze gestiegen, was einen solchen Zustrom von Silber aus allen Teilen Europas hervorrief, daß der Preis in London wieder auf 623/8 Pence fiel, die Diskontrate in Hamburg indessen von lx/2 auf 3 Prozent stieg. Auf Grund dieser starken Silbereinfuhr haben sich die Wechselkurse zuungunsten Englands verändert, und es setzte ein Abfluß von Gold ein, der den Londoner Goldmarkt im Augenblick nur von seinem Uberfluß befreit, ihn aber auf die Dauer ernsthaft gefährden kann, da er bestimmt mit großen kontinentalen Anleihen verbunden sein wird. Jedoch die Entwertung der indischen Staatspapiere und der von der indischen Regierung garantierten Eisenbahnaktien auf dem Londoner Geldmarkt, die sich nachteilig auf die im Laufe dieses Jahres noch aufzunehmenden Regierungs- und Eisenbahnanleihen auswirken wird, ist gewiß die ernsthafteste Auswirkung, die die indische Finanzkrise
bisher auf dem englischen Binnenmarkt gehabt hat. Die Aktien vieler indischer Eisenbahnen werden jetzt mit 2 oder 3 Prozent Diskont gehandelt, obwohl die Regierung 5 Prozent Zinsen für sie garantiert hat. Alles in allem sehe ich jedoch die augenblickliche indische Finanzpanik als eine Angelegenheit von zweitrangiger Bedeutung an, wenn man sie mit der allgemeinen Krise des indischen Schatzamtes vergleicht, die ich vielleicht bei anderer Gelegenheit einer Betrachtung unterziehen werde.
II
London, 12. April 1859 Die neueste Überlandpost zeigt keineswegs ein Nachlassen der Finanzkrise in Indien, sondern enthüllt einen Zustand der Zerrüttung, wie er kaum vermutet wurde. Die Manipulationen, zu denen die Regierung Indiens getrieben wird, um ihren dringendsten Bedarf zu decken, lassen sich am besten durch eine kürzliche Maßnahme des Gouverneurs von Bombay1 illustrieren. Bombay ist der Markt, wo das Malwa-Opium, im Durchschnitt 30 000 Kisten pro Jahr, in monatlichen Teillieferungen von 2000 oder 3000 Kisten Absatz findet, wofür auf Bombay Wechsel gezogen werden. Da die Regierung jede nach Bombay eingeführte Kiste mit einer Gebühr von 400 Rupien belegt, nimmt sie für Malwa-Opium eine jährliche Revenue von 1 200 000 Pfd. St. ein. Um nun seine erschöpfte Staatskasse wieder aufzufüllen und den unmittelbaren Bankrott abzuwenden, hat der Gouverneur von Bombay eine Bekanntmachung erlassen, derzufolge der Zoll auf jede Kiste MalwaOpium von 400 auf 500 Rupien erhöht wird; gleichzeitig teilt er jedoch mit, daß diese erhöhte Zollgebühr erst nach dem I.Juli erhoben wird, so daß die Opiumbesitzer in Malwa das Narkotikum noch weitere vier Monate zu dem alten Zollsatz nach Bombay einführen können. Tatsächlich kann das Opium in der Zeit von Mitte März, als die Bekanntmachung erlassen wurde, bis zum I.Juli nur während zweieinhalb Monaten importiert werden, da am 15.Juni bereits der Monsun einsetzt. Die Opiumbesitzer in Malwa werden sich natürlich den Zeitraum, in dem es ihnen noch gestattet ist, Opium zu der alten Zollgebühr einzuführen, zunutze machen und während der zweieinhalb Monate ihre gesamten Bestände in diePräsidentschaft[1781 senden. Da sich der noch in Malwa befindliche Opiumvorrat aus der alten und der neuen Ernte auf 26000 Kisten beläuft und Malwa-Opium einen Preis von 1250 Rupien
pro Kiste erzielt, werden die Kaufleute aus Malwa von den Bombayer Kaufleuten nicht weniger als 3 Millionen Pfd.St. zu fordern haben, wovon über 1 Million Pfd.St. in das Bombayer Schätzamt gelangen muß. Der Zweck dieses finanziellen Schachzuges ist offensichtlich. Um die Jahreseinkünfte aus dem Opiumzoll vorwegzunehmen und die Opiumhändler zu bewegen, den Zoll sofort zu bezahlen, wird in terrorem1 eine Zollerhöhung in Aussicht gestellt. Es ist völlig überflüssig, auf den empirischen Charakter dieses Kunstgriffs näher einzugehen, der die Staatskasse im Augenblick füllt, um wenige Monate später eine empfindliche Lücke zu schaffen; jedoch gibt es kein treffenderes Beispiel für die Erschöpfung der Budgetmittel seitens der Nachfolger des Großmoguls11793. Wenden wir uns nun dem allgemeinen Zustand der indischen Finanzen zu, wie er sich im Gefolge der kürzlichen Insurrektion entwickelt hat. Nach den letzten offiziellen Berechnungen beträgt der Reingewinn, der von den Briten aus ihrer indischen Farm gezogen wird, 23208000 Pfd.St., also rund 24 Millionen Pfd. St. Diese jährliche Revenue hat niemals ausgereicht, um die jährlichen Ausgaben zu decken. Von 1836 bis 1850 belief sich das Nettodefizit auf 13 171 096 Pfd.St. oder durchschnittlich etwa 1 Million Pfd.St. jährlich. Selbst 1856, als die im großen betriebenen Annexionen, Räubereien und Erpressungen Lord Dalhousies die Staatskasse außergewöhnlich gefüllt hatten, glichen sich Einnahmen und Ausgaben nicht aus, sondern im Gegenteil, es kam ein weiteres Defizit von etwa einer viertel Million zu der gewöhnlichen Defiziternte hinzu. 1857 betrug das Defizit 9 Millionen Pfd. St., 1858 stieg es auf 13 Millionen Pfd.St. an, und für 1859 wird es von der Regierung Indiens selbst auf 12 Millionen Pfd.St. geschätzt. Die erste Schlußfolgerung, zu der wir gelangen, ist also, daß die selbst unter gewöhnlichen Umständen ständig anwachsenden Defizite unter außergewöhnlichen Umständen solche Dimensionen annehmen, daß sie die Hälfte oder noch mehr der Jahreseinnahmen ausmachen. Als nächstes drängt sich die Frage auf, in welchem Maße diese bereits existierende Kluft zwischen den Ausgaben und den Einnahmen der Regierung Indiens durch die jüngsten Ereignisse erweitert wurde? Die neuen permanenten Schulden Indiens, die sich aus der Unterdrückung des Aufstandes ergaben, werden von den optimistischsten englischen Finanzleuten auf 40 bis 50 Millionen Pfd.St. geschätzt, während Herr Wilson das permanente Defizit oder die aus der jährlichen Revenue zu deckenden Jahreszinsen für diese neuen Schulden auf nicht weniger als 3 Millionen Pfd.St. schätzt. Es wäre
jedoch ein großer Fehler anzunehmen, daß dieses permanente Defizit von 3 Millionen Pfd. St. das einzige Erbe ist, das die Aufständischen ihren Überwindern hinterlassen haben. Die Begleichung der Kosten der Insurrektion ist keineswegs nur eine Sache der Vergangenheit, sondern steht in großem Ausmaß noch bevor. Selbst in ruhigen Zeiten, vor dem Ausbruch der Meuterei, verschlangen die Militärausgaben mindestens sechzig Prozent der gesamten regulären Einnahmen, denn sie betrugen mehr als 12 Millionen Pfd.St. Aber jetzt hat sich die Sachlage geändert. Zu Beginn der Meuterei beliefen sich die europäischen Streitkräfte in Indien auf 38 000 kampffähige Männer und die Eingeborenenarmee auf260 000 Mann. Die gegenwärtig in Indien eingesetzten Streitkräfte zählen 123 000 europäische und einschließlich der Eingeborenenpolizei 320000 eingeborene Soldaten. Man kann mit Recht einwenden, daß diese außergewöhnliche Anzahl mit dem Verschwinden der außergewöhnlichen Umstände, die ihre augenblickliche Höhe verursacht haben, wieder auf ein bescheideneres Maß reduziert werden wird. Die von der britischen Regierung eingesetzte Militärkommission ist jedoch zu dem Schluß gelangt, daß in Indien eine ständige europäische Streitkraft von 80 000 Mann und eine Eingeborenentruppe von 200 000 Mann nötig sein wird, wodurch die Militärausgaben auf beinahe das Doppelte ihrer ursprünglichen Höhe gesteigert werden. In den Debatten über die indischen Finanzen im Oberhaus am 7a April waren sich alle Redner von Autorität über zwei Punkte einig: Einerseits erklären sie, daß es mit einem Nettoeinkommen Indiens von nur vierundzwanzig Millionen Pfd.St. unvereinbar sei, allein für die Armee jährlich fast zwanzig Millionen auszugeben; andererseits sei es schwierig, sich einen Zustand vorzustellen, der den Engländern auf längere Zeit ermöglichen könnte, in Indien eine europäische Streitkraft zu unterhalten, die nicht doppelt so groß ist wie die vor dem Ausbruch der Meuterei. Aber selbst angenommen, es würde für die Dauer genügen, die europäischen Streitkräfte nur um ein Drittel ihrer ursprünglichen Stärke zu erhöhen, so kommen wir doch auf ein neues permanentes Defizit von mindestens 4 Millionen Pfd.St. pro Jahr. Das neue permanente Defizit, das einerseits von den während der Meuterei eingegangenen konsolidierten Schulden und andererseits vom ständigen Anwachsen der britischen Streitkräfte in Indien herrührt, kann also bei vorsichtigster Berechnung nicht unter 7 Millionen Pfd.St. betragen. Zwei weitere Posten müssen noch hinzugefügt werden: der eine rührt aus dem Anwachsen der Passiva, der andere aus einer Verminderung der Einnahmen her. Aus einer kürzlichen Erklärung der Eisenbahnabteilung der Indienverwaltung in London geht hervor, daß die ganze Länge der für Indien genehmigten Eisenbahnen 4847 Meilen beträgt, wovon bisher nur 559 Meilen
eröffnet sind. Die gesamte Summe des von den verschiedenen Eisenbahngesellschaften investierten Kapitals beläuft sich auf 40 Millionen Pfd.St., wovon 19 MillionenPfd. St. schon eingezahlt sind und 21 Millionen Pfd. St. noch ausstehen; 96Prozent der Gesamtsumme waren in England und nur 4Prozent in Indien gezeichnet worden. Für diesen Betrag von 40 Millionen Pfd. St. hat die Regierung 5 Prozent Zinsen garantiert, so daß die Jahreszinsen, die aus den Einkünften Indiens zu begleichen sind, sich auf 2 Millionen Pfd. St. belaufen, die gezahlt werden müssen, ehe die Eisenbahnen in Betrieb sind und irgendeinen Ertrag abwerfen. Der Earl of Ellenborough schätzt den Verlust, der den indischen Finanzen für die nächsten drei Jahre daraus erwächst, auf 6 Millionen Pfd. St. und das endgültige permanente Defizit durch diese Eisenbahnen auf eine halbe Million Pfd.St. jährlich. Dazu kommt noch, daß von den 24 Millionen Pfd.St. des indischen Nettoeinkommens eine Summe von 3619 000 Pfd. St., aus dem Verkauf des Opiums an andere Länder herrührt eine Einkommensquelle, die jetzt nach allgemeinem Eingeständnis durch den neuen Vertrag mit China[180] beträchtlich vermindert werden dürfte. Es wird also offenbar, daß außer den Sonderausgaben, die noch notwendig sind, um die Unterdrückung der Meuterei zu vollenden, ein jährliches permanentes Defizit von mindestens 8 Millionen Pfd.St. aus einem Nettoeinkommen von 24 Millionen Pfd.St., das die Regierung vielleicht durch Auferlegung neuer Steuern auf 26 Millionen Pfd.St. zu erhöhen vermag, zu decken ist. Das unvermeidliche Resultat dieser Sachlage wird sein, daß der englische Steuerzahler die Haftung für die indischen Schulden übernehmen muß und daß, wie Sir G.C.Lewis im Unterhaus erklärte,
„vier bis fünf Millionen jährlich als Subsidien für etwas aufgebracht werden müssen, was eine wertvolle Dependenz der britischen Krone genannt wurde".11811 Man wird zugeben müssen, daß diesefinanziellenFrüchte der „glorreichen" Rückeroberung Indiens kein bezauberndes Aussehen haben und daß John Bull außerordentlich hohe Schutzzölle zahlt, um den Freihändlern aus Manchester das Monopol des indischen Marktes zu sichern.
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels [Die Unvermeidlichkeit des Krieges]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5624 vom 30. April 18591 London, Freitag, 15. April 1859 Obwohl die Diplomatie sich weiterhin angestrengt bemüht, einen Kongreß und mit seiner Hilfe eine friedliche Regelung der italienischen Frage zustande zu bringen, glaubt niemand mehr an die Möglichkeit, den Krieg zu vermeiden. Das englische Kabinett und Preußen haben unzweifelhaft den aufrichtigen Wunsch nach Frieden; Rußland und Frankreich jedoch verfolgen mit den gegenwärtigen Verhandlungen ausschließlich die Absicht, Zeit zu gewinnen = Tiefer Schnee liegt noch auf dem Mont Cenis, den die französische Armee auf ihrem Weg nach Italien passieren muß. Einige zusätzliche französische und arabische Regimenter in Frankreich und Algerien sind noch auszuheben und die Vorbereitungen zum Transport der Truppen von Marseille und Toulon nach Genua sind noch nicht abgeschlossen, während die Russen Zeit zur Organisierung der walachischen Miliz und der irregulären serbischen Armee benötigen. Inzwischen gewinnt die Kriegspartei in Wien an Einfluß, und Franz Joseph wünscht nichts sehnlicher als das erste Donnern der Kanonen. Warum unterstützt er dann die Vorschläge für einen Kongreß, wenn er weiß, daß der durch die Diplomatie herbeigeführte Aufschub nur seine finanziellen Ressourcen erschöpft und die Stärke seiner Feinde erhöht? Die Antwort ist in der Haltung des Prinzen von Preußen zu suchen, der, unberührt vom deutschen Enthusiasmus, einen ehrenhaften Vorwand zu finden sucht, um eine ehrbare Neutralität beizubehalten und die enormen Kosten einer bewaffneten Neutralität, die früher oder später zum Kriege führen würde, zu vermeiden. Sollte Österreich in seiner Begierde, die piemontesische Armee zu schlagen, den Krieg beginnen, wäre eine solche Politik des Berliner Kabinetts sogar in den Augen Deutschlands gerechtfertigt; dagegen würde ein Angriff der Franzosen auf Österreich in der Lombardei notwendigerweise zu
einem offiziellen Appell Franz Josephs an den Deutschen Bund[611 führen, die Bundesarmeen in Kriegsbereitschaft zu versetzen. Das sind die wahren Absichten Österreichs, und es ist spaßhaft anzuschauen, wie die Diplomaten der verschiedenen Parteien versuchen, sich gegenseitig mit schlauen Schachzügen zu überlisten, um den Gegner zu zwingen, den ersten Schlag zu führen. Freinkreich tadelt Österreichs Despotismus; der Mann, der Lambessa und Cayenne11601 mit französischen Republikanern bevölkerte, ist schockiert darüber, daß Franz Joseph seine Gefängnisse mit italienischen Republikeinern füllt. Andererseits beruft sich Österreich, das Krakau konfisziert und die ungarische Verfassung aufgehoben hat[1821, ernstlich auf die Heiligkeit von Verträgen. Rußland, das jetzt auf einmal feststellte, daß Papiergeld ein großes Übel ist und daher eine sehr hohe Anleihe aufnimmt, hat natürlich keine kriegerischen Absichten, sondern schlägt vier Punkte als Grundlage für einen Kongreß vor. Sie sind das genaue Gegenstück zu den berühmten vier Punkten, die Österreich während des Krimkrieges Rußland vorlegte.11831 Sie enthalten den Verzicht Österreichs auf das Protektorat über die italienischen Herzogtümer, die Durchführung eines Kongresses zur Festlegung der staatlichen Ordnung und der notwendigen Reformen in Italien, sowie eine Revision der untergeordneten Punkte der großen Verträge, wie das Recht, in Ferrara, Comacchio und Piacenza Garnisonen zu unterhalten11841, das durch eine Neutralitätserklärung Italiens überflüssig werde. England nimmt diese Vorschläge in gutem Glauben auf, mildert sie in der Form und gibt sie Österreich zur Kenntnis. Graf Buol beeilt sich natürlich, sie zu akzeptieren, aber in einer so zweideutigen Sprache, daß keinerlei Zweifel an seinem Wunsch aufkommt, sie rundweg zu verwerfen. Er fügt indessen einen neuen Punkt hinzu, und zwar eine vorherige allgemeine Abrüstung. Lord Malmesbury hält diesen Vorschlag für sehr vernünftig und fordert Graf Cavour auf, einen Teil der sardinischen Armee zu entlassen und damit das Land von einer großen Last zu befreien. Graf Cavour hat keinen Einwand gegen eine so vortreffliche Anregung, wendet sich aber mit dem Hinweis auf die gewaltige österreichische Kriegsmacht in der Lombardei an Graf Buol und sagt: „Nach Ihnen." Graf Buol antwortet, er könne mit der Auflösung seiner kostspieligen Bataillone nicht beginnen, ehe Napoleon nicht dasselbe täte. Napoleon antwortet unverfroren: „Ich habe nicht gerüstet, folglich kann ich nicht abrüsten. Ich habe weder Rothschild nochPereire um eine Anleihe gebeten; ich habe kein Kriegsbudget. Ich unterhalte meine Armee aus den regulären Ressourcen des Landes; wie kiann ich dann abrüsten?" Verblüfft über diese unverschämte Antwort, jedoch mmer noch bemüht, sein diplomatisches Glück zu versuchen, schlägt Lord Malmesbury als nächstes vor, daß der Kongreß mit der Abrüstungsfrage
beginnen und sie als erste entscheiden solle; aber die Börse und jeder vernünftige Mensch in Europa lachen über seine Leichtgläubigkeit und bereiten sich auf das Schlimmste vor. Die deutsche Nation ist ziemlich erregt; doch die vom Hof in Hannover gegen Frankreich geschürte Agitation hat plötzlich eine andere Richtung genommen. Aus seiner Apathie erwacht, hält das Volk die Zeit für gekommen, nicht nur im Ausland, sondern auch zu Hause abzurechnen, und wenn der gegenwärtige Zustand der Ungewißheit noch ein paar Monate länger dauern sollte, wird Deutschland sicherlich bereit sein, gegen Frankreich zu den Waffen zu greifen, aber nur unter der Bedingung, daß es zu Hause Freiheit und Einheit erhält. Der Prinz von Preußen kennt seine Landsleute in dieser Hinsicht besser als Franz Joseph oder der König von Bayern und versucht daher, das Umsichgreifen der Erregung zu verhindern, die unweigerlich seinen halbdespotischen Bestrebungen gefährlich werden muß. Rußland hat jetzt eine günstige Gelegenheit, entweder das Türkische Reich durch Revolutionen in Bosnien, Bulgarien und Albanien zu zerrütten oder am Kaiser von Österreich Rache zu nehmen. Natürlich würde es nicht gegen Franz Joseph in den Krieg ziehen, aber es könnte einen moldauischwalachischen Einfall in Transsylvanien und einen serbischen in Ungarn anstiften und unterstützen. Der Zar wird natürlich mit Hilfe der walachischen und slawonischen Elemente versuchen, besonders Ungarn zu beunruhigen, denn ein unabhängiger, freier ungarischer Staat könnte eine wirkungsvollere Schranke für seine aggressive Politik werden als der altersschwache zentralisierende Despotismus Österreichs. Der König von Neapel liegt in den letzten Zügen. Im Königreich herrscht große Aufregung; einige sprechen von einer Verfassung, andere von einer Erhebung der Anhänger Murats. Am wahrscheinlichsten ist die Bildung eines Ministeriums unter Filangieri, dem Herzog von Satriano, das einen aufgeklärten Absolutismus gemäß der ursprünglichen preußischen Form vertritt. Ein solches System kann jedoch angesichts einer italienischen Krise nicht von Dauer sein und würde bald zunächst einer Verfassung und dann einer sizilianischen Rebellion weichen müssen, währenddessen Murat im Trüben fischen würde.
Aus dem Englischen.
Karl Marx Der beabsichtigte Friedenskongreß
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5624 vom 30. April 1859] Paris, 14. April 1859[44J Die britische Regierung hat es endlich für angebracht gefunden, die Öffentlichkeit in die offizielle Geschichte des europäischen Kongresses einzuweihen, diesem Deus ex machina[185], den die russischen und französischen Drahtzieher auf der Bühne auftauchen ließen, als sie merkten, wie weit sie mit ihren Kriegsvorbereitungen hinter Österreich zurückgeblieben waren. Dazu möchte ich als erstes bemerken, daß die Note von Graf Buol an Herrn Balabin, den russischen Botschafter, datiert Wien, 23.März 1859, und die andere Note des österreichischen Ministers an Lord A.Loftus, den britischen Botschafter am Wiener Hof, mit dem Datum Wien, 31. März, von der österreichischen Regierung den Wiener Zeitungen am 8. April vertrauensvoll mitgeteilt wurden, während John Bull erst am 13. April davon Kenntnis erhielt. Aber das ist nicht alles. Der Wortlaut der Note des Grafen Buol an Herrn Balabin, wie er vom englischen Ministerium der Londoner „Times" übermittelt wurde, gibt nur einen Teil der österreichischen Note wieder und läßt einige hochwichtige Stellen aus, die ich in diesen Brief einfügen werde, damit John Bull via New York die diplomatischen Neuigkeiten erfahren kann, die man seinem scharfsinnigen Geist nicht anvertraut, weil das englische Ministerium dies für riskant hält. Auf den ersten Blick kann man aus Buols Note an Herrn Balabin ersehen, daß der Vorschlag für einen Kongreß von Rußland ausging, oder, mit anderen Worten, daß er ein Zug ist, den die verbündeten Schachspieler aus St. Petersburg und Paris verabredet haben - eine Tatsache, die kaum dazu angetan ist, uns mit besonderer Bewunderung für den Scharfsinn oder die Aufrichtigkeit der Herren aus der Downing Street[150J zu erfüllen, die selbst im Parlament nicht davor zurückschreckten, ein Patent für diese Erfindung zu beanspruchen.
Aus der Note ist weiter ersichtlich, daß Österreich (und diese Tatsache wurde sorgfältig vom französischen „Moniteur" verschwiegen, als er meldete, daß Österreich sich dem Vorschlag für einen allgemeinen Kongreß angeschlossen habe) nur bedingt mit den anderen Großmächten auf einem Kongreß zusammenkommen wollte.
W7 " . p f D 1 0.1' . T? «/III- "7.. 1 1 T.' „ wenn , so sagt vaiäi uuoi, „auüer dieser rrage va.n. aer zjjgeiung aes „politischen Systems in Sardinien") „die Mächte es für nötig befänden, andere Fragen zur Erörterung zu bringen, so müßten diese schon im voraus möglichst präzisiert werden, und kämen dabei die inneren Verhältnisse anderer souveräner Staaten zur Sprache, könnte Endesunterfertigter nicht umhin, vor allem darauf zu bestehen, daß die Verfahrensweise in diesem Falle den Grundsätzen entspräche, die im Aachener Protokoll vom IS.November 1818 aufgestellt worden sind." Damit akzeptierte Österreich den russischen Vorschlag für einen allgemeinen Kongreß unter folgenden vier Bedingungen: Erstens sollte die Hauptaufgabe des Kongresses sein, Sardinien zu zügeln und im österreichischen Interesse zu handeln; zweitens sollte das Aachener Protokoll11861 als Grundlage für die Konferenzen gelten; drittens „müßte jeder Konferenz die Entwaffnung Sardiniens vorangehen"; und schließlich sollten die zu besprechenden Fragen „im voraus genau präzisiert werden". Zum ersten Punkt ist ein Kommentar überflüssig. Um keinen Zweifel über seine Bedeutung aufkommen zu lassen, fügt Graf Buol ausdrücklich hinzu, daß er diesen Punkt „als den einzigen wirklich wesentlichen für die moralische Pazifikation Italiens" betrachtet. Der zweite Punkt, die Anerkennung des Aachener Protokolls, würde von Seiten Frankreichs eine direkte Anerkennung der Verträge von 1815 und der österreichischen Spezialverträge mit den italienischen Staaten bedeuten. Aber was Bonaparte will, ist gerade die Annullierung der Verträge von 1815, auf denen Österreichs Herrschaft über das Lombardo-Venetianische Königreich beruht, und der Spezialverträge, die Österreich einen maßgeblichen Einfluß auf Neapel, Toskana, Parma, Modena und Rom sichern. Die dritte Bedingung, die vorhergehende Abrüstung Sardiniens, nimmt einen Erfolg vorweg, den Österreich sonst nur durch einen gelungenen Feldzug erringen könnte; und die letzte Bedingung, die zu besprechenden Fragen im voraus festzulegen, würde Bonaparte seines Haupterfolges berauben, den er neben dem notwendigen Zeitgewinn für seine Kriegsvorbereitungen vom Kongreß zu erreichen hofft, nämlich Österreich zu überrumpeln und dann, wenn es sich erst einmal in den Netzen diplomatischer Konferenzen verwickelt hat, in der öffentlichen Meinung Europas dadurch bloßzustellen, daß er Österreich zwingt, das
Signal zum Abbruch der Friedensverhandlungen zu geben, weil es die ihm von Frankreich und Rußland unvermittelt gestellten Forderungen rundweg ablehnt. Die Bedingungen, die Österreich in seiner Note an den russischen Botschafter als Voraussetzung für seine Teilnahme an einem allgemeinen Kongreß stellte, können also folgendermaßen zusammengefaßt werden: Österreich wird an einer europäischen Konferenz zur Lösung der italienischen Frage teilnehmen, wenn die europäischen Mächte vor Zusammentritt dieser Konferenz übereinkommen, sich auf die Seite Österreichs gegen Sardinien zu stellen und Sardinien zur Abrüstung sowie zur Anerkennung des Wiener Vertrages und der darauf beruhenden Zusatzverträge zu zwingen; und schließlich, wenn Bonaparte jeder Vorwand genommen wird, den Frieden zu brechen. Mit anderen Worten, Österreich wird sich auf einen Kongreß einlassen, wenn dieser Kongreß sich bereits vor seinem Zusammentritt verpflichtet, Österreich alles zuzugestehen, was es jetzt mit dem Schwert in der Hand durchzusetzen bereit ist. Wenn man bedenkt, daß Österreich sich völlig darüber im klaren war, daß dieser Kongreß nur einen Hinterhalt darstellt, der ihm von zum Krieg entschlossenen Feinden gelegt wurde, so kann man es nicht tadeln, den russisch-französischen Vorschlag in solch ironischer Weise behandelt zu haben. Die Stellen des österreichischen Dokuments, die ich bisher kommentiert habe, sind diejenigen, die das britische Ministerium für die Veröffentlichung als geeignet erachtete. Die folgenden Sätze aus Buols Depesche wurden in Malmesburys Fassung der österreichischen Note verschwiegen:
„Österreich wird entwaffnen, sobald Piemont entwaffnet hat. Österreich ist sehr darauf bedacht, den Frieden zu erhalten, denn es will den Frieden und weiß ihn zu schätzen, aber es will einen aufrichtigen und dauerhaften Frieden, den es, davon ist es ehrlich überzeugt, ohne Verlust seiner eigenen Macht und Ehre sichern kann. Es hat schon viele Opfer gebracht, um in Italien Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Solange jedoch die geforderten Präliminarien noch nicht aufgestellt und festbeschlossene Sache seien, könne Österreich wohl seine Rüstungen gemessener betreiben, aber nicht einstellen. Seine Trappen werden fortfahren, nach Italien zu marschieren." Nachdem die russisch-französische Finte auf diese Weise zunichte gemacht worden war, griff England ein, angestachelt von seinem erlauchten, Verbündeten auf der anderen Seite des Kanals, um Österreich zu zwingen, dem Vorschlag für einen Kongreß der Großmächte zur Erörterung der italienischen Komplikationen zuzustimmen. England verlieh seinem Wunsch Ausdruck, die kaiserliche Regierung möge die in der Downing Street ausgeheckten Entwürfe akzeptieren. Es gibt in den Annalen der Gesqhichte der
20 Mars/Engels, Werke, Bd. 13
Diplomatie wohl kaum ein Schriftstück von solch unverfrorener Ironie wie Graf Buols Antwortschreiben an den englischen Botschafter in Wien. Zuerst wiederholt Buol seine Forderung, daß Sardinien bereits vor einem Kongreß die Waffen niederlegen und sich so Österreich auf Gnade oder Ungnade ergeben solle. „Osterreich", so sagt er, „konnte nicht eher auf dem Kongreß erscheinen, als bis Sardinien völlig entwaffnet und die corps francs1 aufgelöst habe. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt und eingehalten sind, erklärt sich die kaiserliche Regierung bereit, in offizieller Form die Versicherung abzugeben, daß Österreich Sardinien während der Dauer des Kongresses nicht angreifen wird, solange letzteres das kaiserliche Gebiet und das seines Verbündeten respektiert." Wenn also Sardinien abrüstet, wird sich Österreich nur dazu verpflichten, das entwaffnete Sardinien während der Dauer des Kongresses nicht anzugreifen. Buols Antwort auf Englands Vorschläge ist in echt juvenalischem Geist abgefaßt. Zu der britischen Empfehlung, die „territorialen Verhältnisse und die Verträge von 1815 nicht anzutasten", erklärt Buol laut: „Ganz meiner Meinung!" und fügt noch hinzu, daß auch „die Durchführungsbestimmungen zu den Verträgen nicht angetastet werden sollen". Das englische Bestreben, Wege zu finden, den Frieden zwischen Österreich und Sardinien aufrechtzuerhalten, legt Buol so aus, daß „der Kongreß die Mittel aufsuchen soll, Sardinien wieder zur Erfüllung seiner internationalen Pflichten zu bewegen". Buol will Europa erlauben, die vorgesehene „Räumung des Kirchenstaates und die etwa erforderlichen Reformen in den italienischen Staaten" zu „diskutieren" und zu „debattieren", aber mit der Einschränkung, daß „die endgültige Annahme dieses Vorschlages der Entscheidung der unmittelbar interessierten Staaten" unterliege. Gegenüber dem britischen „Kompromißvorschlag, der die Spezialverträge zwischen Österreich und den italienischen Staaten ersetzen soll", besteht Buol auf „der Rechtsgültigkeit der Verträge", will aber einer Revision zustimmen, wenn Sardinien und Frankreich einwilligen, ihren entsprechenden Besitz von „Genua" und „Korsika" zur Sprache zu bringen. Es ist eine Tatsache, daß Österreich auf die englischen Vorschläge die gleiche Antwort gab wie schon vorher auf die russische Depesche. Auf diese zweite Enttäuschung hin veranlaßten Rußland und Frankreich den armen Lord Malmesbury, Österreich als vorausgehenden Schritt eine allgemeine Abrüstung vorzuschlagen. In den Tuilerien nahm man natürlich an, daß Österreich solch einen Vorschlag rundweg ablehnen würde, da es gegenüber allen seinen Rivalen einen Vorsprung in der Aufrüstung besitzt,
aber wieder hatte Bonaparte seine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Österreich weiß, daß Bonaparte nicht abrüsten kann, ohne sich zugleich der beschwerlichen Last der kaiserlichen Krone zu entledigen. Also stimmte Österreich einem Vorschlag zu, der nur gemacht worden war, um abgelehnt zu werden. Darüber herrschte große Bestürzung in den Tuilerien, die nach 24stündigem Uberlegen die Welt um die Entdeckung bereicherten, daß „eine gleichzeitige Abrüstung der Großmächte nichts anderes bedeute als die Abrüstung Österreichs". Man lese nur das folgende unverschämte Elaborat der „Patrie"[1871, einer Zeitung, die direkt von Napoleon III. inspiriert wird:
„Auf jeden Fall gilt der Abrüstungsvorschlag nur für zwei Mächte, Osterreich und Piemont - Österreich, das in einem nie dagewesenen Ausmaß seine Streitkräfte in Italien konzentriert hat, und Piemont, das angesichts der österreichischen Armee in der Lombardei gezwungen ist, auf die Kriegsdrohungen mit Verteidigungsvorbereitungen zu antworten. Die Abrüstungsfrage, die Österreich aufgeworfen hat, ist eine Frage; die zuerst geregelt werden muß; sobald Österreich seine Armee aus Italien zurückzieht, kann Piemont das Beispiel nicht übersehen, das ihm damit gegeben wird. Was Frankreich betrifft, so braucht es nicht abzurüsten (eile n'a pas ä desarmer), einfach weil es nicht über das übliche Maß hinaus gerüstet ist, weil es an seinen Grenzen keine Truppen zusammengezogen hat und weil es noch nicht einmal sein Recht ausnützen will, auf die Drohungen Österreichs zu antworten - Drohungen, die gegen Piemont und gegen den Frieden Europas gerichtet sind. Für Frankreich kann es gar keine Frage geben, auch nur einen einzigen waffenfähigen Soldaten aus der Armee zu entlassen oder auch nur eine einzige weitere Kanone ins Arsenai zu stellen. Die Abrüstung kann für Frankreich nur bedeuten, sich zu verpflichten, nicht aufzurüsten. Wir können nicht glauben, daß Österreich weitergehende Ansprüche stellt; das würde das Unterpfand wertlos machen, das Osterreich, zweifellos in einer freundlicheren Stimmung (mieux inspiree), für den Frieden Europas geben wollte, als es eine Abrüstung vorschlug, bei der es - wie es genau weiß - selbst den Anfang machen müßte."
Aus dem Englischen,
Karl Marx/Friedrich Engels Symptome des herannahenden Krieges Deutschland rüstet11881
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5631 vom 9. Mai 1859] London, 22.April 1859 Wenn die Studenten der deutschen Universitäten um 11 Uhr abends von den akademischen Obrigkeiten aus ihren verschiedenen Bierhäusern hinausgeworfen worden sind, treffen sich die einzelnen Verbindungen der Studentenkorps, wenn es das Wetter erlaubt, gewöhnlich auf dem Marktplatz. Dort beginnen die Mitglieder einer jeden Verbindung oder „Couleur" ein Spiel der „Sticheleien" mit Studenten einer anderen Couleur, dessen Ziel es ist, eines jener häufigen und nicht sehr gefährlichen Duelle herbeizuführen, die zu den Hauptmerkmalen des studentischen Lebens gehören. Bei diesen vorbereitenden Kontroversen auf dem Marktplatz besteht die große Kunst darin, seine Hiebe im Wortgefecht so geschickt auszuteilen, daß darin keine direkte oder formale Beleidigung enthalten ist, der Gegner aber doch aufs höchste gereizt wird, schließlich seine Geduld verliert und jene konventionelle, formale Beleidigung ausspricht, durch die man gezwungen wird, ihn zu fordern. Dieses Vorspiel wurde jetzt einige Monate lang von Österreich und Frankreich praktiziert. Frankreich begann damit am 1 .Januar dieses Jahres[36] und Österreich blieb die Antwort nicht schuldig. Von Wort zu Wort, von Geste zu Geste kamen die Gegner einer Forderung näher; jedoch die diplomatische Etikette verlangt, daß ein solches Spiel bis zu Ende gespielt wird. Also gab es Vorschläge und Gegenvorschläge, Konzessionen, Bedingungen, Einschränkungen und Winkelzüge ohne Ende. Die diplomatische Stichelei nahm zuletzt folgende Form an: Am 18. April erklärte Lord Derby im Oberhaus, daß England noch einen letzten Versuch unternehme, nach dessen Scheitern es seine Vermittlungsbemühungen einstellen würde. Schon drei Tage später, am 21 .April, erklärte der „Moniteur", daß England den vier anderen Großmächten folgende Vorschläge gemacht
habe: 1. Vor dem Kongreß soll eine allgemeine und gleichzeitige Abrüstung erfolgen. 2. Die Abrüstung soll durch eine militärische oder zivile Kommission, unabhängig vom Kongreß, geregelt werden. (Diese Kommission soll sich aus sechs Mitgliedern zusammensetzen, davon ein Vertreter Sardiniens.) 3. Sobald die Kommission ihreTätigkeitaufgenommen hat, soll der Kongreß zusammentreten und mit der Diskussion der politischen Fragen beginnen. 4. Die Vertreter der italienischen Staaten sollen vom Kongreß sofort nach seinem Zusammentritt eingeladen werden, ihre Sitze neben den Vertretern der Großmächte einzunehmen, genau wie auf dem Kongreß von 1821tl89J. Zur gleichen Zeit verkündete der „Moniteur", daß Frankreich, Rußland und Preußen ihre Zustimmung zu den Vorschlägen Englands gegeben haben, und ein Telegramm aus Turin erfreute die verschiedenen Börsen Europas mit der willkommenen Nachricht, daß Piemont von Louis-Napoleon veranlaßt worden wäre, dasselbe zu tun. Soweit sahen die Dinge ungewöhnlich friedlich aus, und es schieb Hoffnung zu bestehen, daß alle Hindernisse für den Kongreß beseitigt werden. In Wirklichkeit war der Plan jedoch recht durchsichtig. Frankreich war noch nicht „in der Lage", den Kampf aufzunehmen. Österreich jedoch war es. Um keinen Zweifel ein seinen wirklichen Absichten zu lassen, gab Louis-Napoleon durch seine offiziöse Presse bekannt, daß diese Abrüstung nur für Österreich und Piemont in Betracht komme, da Frankreich nicht abrüsten könne, weil es nicht gerüstet habe; zugleich faßte er in seiner offiziellen Zeitung, dem „Moniteur", seine Artikel so ab, daß er keinerlei Versprechen gab, Frankreich in das „Prinzip der Abrüstung" einzubeziehen. Sein nächster Schritt sollte offensichtlich sein, die offiziöse Behauptung, daß Frankreich nicht gerüstet habe, zu einer offiziellen zu machen, wodurch die Frage mit Erfolg auf das unabgrenzbare Gebiet militärischer Einzelheiten gelenkt worden wäre, auf dem es leicht ist, eine solche Kontroverse durch Behauptungen, Gegenbehauptungen, Beweisforderungen, Dementis, offizielle Erwiderungen und andere ähnliche Kniffe beinahe endlos fortzuführen. Inzwischen wäre es Louis-Napdleon möglich, in aller Ruhe seine Vorbereitungen zu vollenden, von denen er gemäß seinem neuen Prinzip sagen könnte, daß sie]keine Aufrüstung darstellen, denn er fordert nicht Soldaten (die kann er jederzeit einberufen), sondern Materiell und neue Formationen. Er hat selbst erklärt, daß seine Kriegsvorbereitungen nicht vor dem kommenden I.Juni abgeschlossen sein werden. Tatsächlich ist es so, daß er seine Vorbereitungen am 15.Mai beenden und seine beurlaubten Soldaten an diesem Tage einberufen müßte, damit sie mit Hilfe der Eisenbahnen bis zum 1 .Juni bei ihren Truppenteilen angelangt sind. Man kann jedoch mit gutem Grund annehmen, daß infolge der kolossalen Unordnung, Vergeudung, Bestechung und Veruntreuung, die
nach dem vom Hof gegebenen guten Beispiel in der französischen Militärverwaltungherrschen, die Bereitstellung des notwendigen Materials nicht einmal zu dem ursprünglich festgesetzten Zeitpunkt völlig abgeschlossen sein wird. Wie es auch sei, soviel ist sicher, jede Woche der Verzögerung bedeutet ebensoviel Gewinn für Louis-Napoleon wie Verlust für Österreich, das infolge eines solchen diplomatischen Zwischenspiels nicht nur die durch seinen Rüstungsvorsprung erlangten militärischen Vorteile aufgeben, sondern auch von den gewaltigen Ausgaben erdrückt würde, die zur Aufrechterhaltung seiner gegenwärtigen Kriegsbereitschaft erforderlich wären. In vollem Bewußtsein dieser Lage hat Österreich nicht nur den englischen Vorschlag abgelehnt, einen Kongreß unter den gleichen Bedingungen wie in Laibach abzuhalten, sondern auch das erste Signal zum Kriege ertönen lassen. Im Namen Österreichs hat General Gyulay dem Hof in Turin ein Ultimatum überreicht, in dem auf Abrüstung und Entlassung der Freiwilligen bestanden wird, wobei Piemont für eine Entscheidung nur drei Tage Bedenkzeit gegeben wurden, nach deren Ablauf der Krieg erklärt werden würde. Gleichzeitig sind zwei weitere Divisionen der österreichischen Armee in Stärke von 30 000 Mann an den Ticino beordert worden. In diplomatischer Hinsicht gelang es also Napoleon, Österreich an die Wand zu drücken, indem er es gezwungen hat, das sakramentale Wort - die Kriegserklärung - zuerst auszusprechen. Allerdings, wenn Österreich jetzt nicht durch drohende Noten aus London und St.Petersburg bewogen wird, seine Schritte zurückzunehmen, kann es passieren, daß der diplomatische Sieg Bonapartes ihm den Thron kostet. Inzwischen hat das Kriegsfieber auch andere Staaten erfaßt. Die kleineren deutschen Mächte, die sich zu Recht durch die Vorbereitungen Louis-Napoleons bedroht fühlen, haben nationale Gefühle zum Ausdruck gebracht, wie man sie in Deutschland seit 1813 und 1814 nicht wieder vernommen hat. Sie handeln diesen Gefühlen entsprechend. Bayern und die angrenzenden Staaten organisieren neue Formationen, rufen Reserven und Landwehr1 ein. Das siebente und achte Korps der deutschen Bundesarmee (von diesen Staaten gestellt), die offiziell eine Stärke von 66 000 Soldaten für den Felddienst und 33 000 Mann Reserve haben sollen, werden höchstwahrscheinlich mit 100 000 aktiven und 40000 Reservesoldaten in den Krieg eintreten. Hannover und die anderen norddeutschen Staaten, die das zehnte Korps stellen, rüsten im gleichen Maße und befestigen gleichzeitig ihre Küsten gegen Angriffe von der See her. Preußen, dessen Kriegsausrüstung durch die Vorbereitungen,
1 Landwehr: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch
die während der Mobilisierung von 1850tl9o] und danach getroffen worden waren, auf einen höheren Leistungsstand gebracht wurde als je zuvor, bereitet sich seit einiger Zeit in aller Ruhe auf eine Mobilisierung seiner Armee vor, bewaffnet seine Infanterie in zunehmendem Maße mit dem Zündnadelgewehr, versorgt gegenwärtig die gesamte Fußartillerie mit Zwölfpfündern und bringt gleichzeitig seine Festungen am Rhein in Kriegsbereitschaft. Es hat drei corps d'armee den Befehl erteilt, sich in Kriegsbereitschaft zu halten. Preußens Tätigkeit in der Bundesmilitärkommission in Frankfurt ist ebenfalls ein klarer Beweis dafür, daß es sich der Gefahr sehr wohl bewußt ist, die ihm von der Politik Louis-Napoleon droht. Und wenn seine Regierung sich noch immer zögernd verhält, die öffentliche Meinung ist völlig auf dem Posten. Louis-Napoleon wird ohne Zweifel feststellen müssen, daß Deutschland einmütig und entschlossen wie noch nie Frankreich gegenübersteht, und das zu einem Zeitpunkt, da es zwischen den Deutschen und den Franzosen weniger Feindschaft gibt als jemals zuvor.
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Kriegsaussichten
[„New-Yorlc Daily Tribüne" Nr. 5634 vom 12. Mai 1859, Leitartikel] Wir haben es nicht für nötig gehalten, auf verschiedene oberflächliche Kritiken einzugehen, die in den letzten zwei Monaten immer dann auftauchten, wenn wir es unternommen hatten, die Ressourcen und die strategischen Bedingungen für den Ausbruch des großen und blutigen Krieges, in den Europa jetzt verwickelt ist, zu erörtern. Wir finden jedoch in den vielen Einzelheiten, die heute die Seiten unserer Zeitung füllen und die ein eindrucksvolles Bild von den ersten Szenen dieses schrecklichen und ergreifenden Dramas vermitteln, eine so vollständige und so ins einzelne gehende Bestätigung unserer Auffassungen, die ganz gewiß die Öffentlichkeit interessieren wird, so daß wir mit Recht die Aufmerksamkeit darauf lenken können. Es ist zwei volle Monate her, da bezeichneten wir die Offensive als die richtige Methode für Österreich, um sich zu verteidigen.1 Wir behaupteten, daß die Österreicher, die ihre italienische Armee vollkommen aktionsbereit in der Nähe der Verteidigungsposition der Piemontesen konzentriert hatten, einen großen Fehler begehen würden, wenn sie diese augenblickliche Überlegenheit über ihre noch räumlich getrennten Gegner nicht dazu ausnutzen, sofort in sardinisches Gebiet einzudringen, um zuerst die sardinische Armee zu schlagen und dann gegen die Franzosen zu marschieren, die die Alpen in mehreren Kolonnen passieren müssen und so Gefahr laufen, einzeln geschlagen zu werden. Diese unsere Schlußfolgerung löste ein gut Teil entgegengesetzte Meinungsäußerungen von einigen mehr oder weniger bedeutenden und mehr oder weniger strategisch bewanderten Kritikern aus; andererseits fanden wir unsere Einschätzung von jedem Militärfachmann bestätigt, der
über diese Frage geschrieben hat; und schließlich erweist es sich, daß die österreichischen Generale genauso urteilen. So viel zu diesem Punkt. Wie sind nun, da der Krieg bereits begonnen hat, die jeweiligen Kräfte der Parteien und ihre Aussichten auf Erfolg einzuschätzen? Die Österreicher haben in Italien fünf Armeekorps, das 2., 3., 5., 7. und 8., die aus mindestens 26 Infanterieregimentern, jedes mit fünf Bataillonen (wovon eines ein Grenadierbataillon ist), und 26 leichten Bataillonen bestehen - im ganzen also 156 Bataillone oder 192 000 Mann. Ihre Streitkraft beträgt mit Kavallerie, Artillerie, Genie- und Garnisonstruppen bei allerniedrigster Schätzung 216 000 Mann. Wir wissen nicht, wie weit diese Zahl durch die Entsendung von neuen Grenzregimentern und Reservisten nach Italien überschritten wurde. Daß sie überschritten worden ist, kann kaum bezweifelt werden doch wir wollen die niedrigste Veranschlagung von 216 000 Mann zugrunde legen. Von diesen genügen 56 000 Mann vollkommen, um alle Festungen, Forts und verschanzten Lager zu halten, die die Österreicher in der Lombardei zu halten wünschen, doch wir nehmen die größtmögliche Anzahl und sagen 66 000 Mann. Somit bleiben noch 150 000 Mann für die Invasion in Piemont. Die Telegramme geben die Stärke der österreichischen Invasionsarmee mit 120 000 an, aber auf diese Meldungen kann man sich natürlich nicht fest verlassen. Um jedoch sicher zu gehen, wollen wir annehmen, daß die Österreicher nicht mehr als 120 000 Mann für die Feldarmee zur Verfügung haben. Wie wird die Aufstellung der französischen und piemontesischen Streitkräfte erfolgen, um dieser kompakten Armee entgegentreten zu können? Die piemontesische Armee ist zwischen Alessandria und Casale in einer Position konzentriert, die wir vor einigen Wochen beschrieben haben1. Sie besteht aus fünf Infanteriedivisionen und einer Kavalleriedivision oder 45 000 Mann Linieninfanterie einschließlich Reserven, 6000 Schützen und ungefähr 9000 Mann Kavallerie und Artillerie - insgesamt 60 000 Mann, das Äußerste, was Piemont aufs Schlachtfeld werfen kann. Die restlichen 15 000 Mann werden für die Garnisonen benötigt. Die italienischen Freiwilligen sind noch nicht fähig, einem Feind auf offenem Felde entgegenzutreten. Wie wir bereits feststellten, kann die Position der Piemontesen aus strategischen Gründen nicht gut im Süden umgangen werden, jedoch im Norden ist eine Umgehung möglich; hier wird sie allerdings von der Sesia gedeckt, die etwa vier Meilen östlich von Casale in den Po mündet und die die Sardinier, wenn wir den telegraphischen Depeschen Glauben schenken sollen, zu halten beabsichtigen.
Es wäre vollkommen lächerlich, in dieser Position mit 60 000 Mann eine entscheidende Schlacht anzunehmen, wenn der Gegner in doppelter Stärke angreift. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird an diesem Fluß nur ein solcher Widerstand geleistet werden, der die Österreicher zwingt, ihre volle Stärke zu zeigen, und dann werden sich die Sardinier hinter Casale und den Po zurückziehen, wobei sie die direkte Straße nach Turin offen lassen. Das könnte am 29. oder 30. April geschehen sein, falls die englische Diplomatie nicht eine neue Verzögerung der militärischen Operationen verursacht hat. Am darauffolgenden Tage würden die Österreicher versuchen, den Po zu überqueren und, wenn ihnen das glücken sollte, die Sardinier über die Ebene nach Alessandria zu treiben. Dort könnten die Österreicher sie zunächst belassen; wenn erforderlich, wäre die österreichische Kolonne in der Lage, südlich des Po von Piacenza aus zu debouchieren, die Eisenbahnlinie zwischen Genua und Alessandria zu zerstören und jedes französische Korps anzügreifen, das vom ersteren zum letzteren Ort marschiert. Doch was werden die Franzosen unserer Meinung nach in dieser Zeit unternehmen? Nun, sie bewegen sich in aller Eile auf den zukünftigen Kriegsschauplatz, das Tal des oberen Po, zu. Als die Nachricht von dem österreichischen Ultimatum Paris erreichte, umfaßten die für die Alpenarmee bestimmten Kräfte kaum mehr als vier Infanteriedivisionen bei Lyon und drei weitere, die sich entweder im Süden Frankreichs und auf Korsika oder im Stadium der Konzentration befanden. Eine weitere Division war von Afrika unterwegs. Diese acht Divisionen sollten vier Korps bilden. Als erste Reserve stand die Division der Linientruppen von Paris und als zweite Reserve die Garde zur Verfügung. Das würde im ganzen zwölf Linien- und zwei Gardedivisionen ergeben, was sieben Armeekorps entspricht. Die zwölf Liniendivisionen würden vor dem Eintreffen ihrer Beurlaubten jede etwa 10000 Mann zählen, zusammen also 120 000 oder mit Kavallerie und Artillerie 135 000, und die Garde 30 000, was insgesamt 165 000 Mann ergibt. Mit den zurückbeorderten Beurlaubten wäre diese Armee insgesamt 200 000 Mann stark. Soweit gut. Es ist eine vorzügliche Armee, stark genug, um ein Land zu erobern, das zweimal so groß wie Italien ist. Doch wo konnte sie am oder um den 1. Mai sein, zu der Zeit, wo man sie in den Ebenen von Piemont benötigte? Nun, das Korps von Mac-Mahon wurde etwa am 23. oder 24. April nach Genua geschickt; da es zuvor nicht konzentriert worden war, wird es Genua nicht vor dem 30. April verlassen können. Das Korps von Baraguay d'Hilliers ist in der Provence und sollte - einigen Berichten zufolge - über Nizza und den Col di Tenda vorrücken; nach anderen Berichten sollte es sich einschiffen und an der Mittelmeerküste landen. Das Korps von Canrobert sollte
über den Mont Cenis und Mont Genevre nach Piemont geben, und alle anderen Truppen sollten jeweils nach ihrem Eintreffen auf den gleichen Wegen folgen. Nun ist sicher, daß keinerlei französische Truppen vor dem 26. April sardinisches Territorium betraten, daß drei Divisionen der Pariser Armee noch am 24. in Paris waren, von denen nur eine an diesem Tage mit der Eisenbahn nach Lyon aufbrach, und daß die Garde nicht vor dem 27. marschbereit war. Somit stehen also, vorausgesetzt, daß alle anderen oben aufgezählten Truppen an der Grenze konzentriert und marschbereit sind, acht Infanteriedivisionen oder 80 000 Mann zur Verfügung. Von diesen gehen 20 000 nach Genua; 20 000 unter Baraguay gehen, wenn überhaupt nach Piemont, über den Col di Tenda; die restlichen 40 000 unter Canrobert und Niel gehen über den Mont Cenis und Mont Genevre. Das wird alles sein, was Louis-Napoleon bis zu der Zeit einsetzen kann, in der sein Beistand am dringendsten benötigt wird d.h. die Zeit, wo die Österreicher vor Turin sein können. AH dies befindet sich, nebenbei bemerkt, in völliger Ubereinstimmung mit den Hinweisen, die wir vor Wochen zu dieser Frage gaben. Selbst mit Hilfe aller Eisenbahnen der Welt ist Louis-Napoleon nicht imstande, seine restlichen vier Divisionen der Pariser Armee so rechtzeitig heranzubringen, daß sie an den ersten Gefechten teilnehmen können, es sei denn, er gestattet den Österreichern, mit den Piemontesen volle zwei Wochen nach Belieben umzuspringen. Sogar dann, wenn er acht Divisionen über die zwei Gebirgspässe brächte, und der Feind an deren Vereinigungspunkt nur ebenso stark ist, bleibt ihm recht wenig Aussicht auf Erfolg. Doch ein Mann in seiner Position kann es aus politischen Gründen nicht zulassen, daß Piemont vierzehn Tage lang vom Feind überrannt wird, und darum wird er eine Schlacht annehmen müssen, sobald die Österreicher sie anbieten; und in dieser Schlacht muß er unter unvorteilhaften Umständen kämpfen. Je schneller die Franzosen über die Alpen kommen, um so besser ist es für die Österreicher.
Geschrieben am 28. April 1859. Aus dem Englischen.
V. .1 HJ „ rvan lviarx Die Finanzpanik
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5634 vom 12. Mai 1859] London, 29. April 1859 Gestern war Abrechnungstag für ausländische Staatspapiere und Aktien* Damit erreichte die Panik an der Börse, die am 23. April begonnen hatte, eine Art Höhepunkt. Seit dem letzten Montag erklärten nicht weniger als 28 Mitglieder der Börse ihre Zahlungsunfähigkeit, davon 18 am 28. d. M. Die Summen, um die es sich dabei handelt - in einem Falle um 100 OOOPfd. St. -, übersteigen bei weitem den üblichen Durchschnitt solcher „Exekutionen". Die gleichzeitige Erhöhung der Diskontrate durch die Bankdirektoren von 2^2 Prozent, wie sie am 9.Dezember 1858 festgesetzt worden war, auf 31/2 Prozent - eine Erhöhung, die durch den Abfluß von Goldbarren infolge des Ankaufs von Silber zum Versand nach Indien notwendig geworden war - trug auch etwas dazu bei, die Unruhe zu steigern. Dreiprozentige Konsols, die am 2. April mit 961U notiert wurden, waren am 28. April auf 89 und einige Stunden lang sogar auf 88V4 gesunken. Russische 41/2 prozentige Staatspapiere, die am 2. April mit 100 notiert wurden, fielen am 28. auf 87. Im gleichen Zeitraum sanken die sardinischen Staatspapiere von 81 auf 65, während die türkische sechsprozentige Anleihe einen Fall von 931j2 auf 57 erlitt und einige Stunden später wieder auf 61 anstieg. Osterreichische fünfprozentigeStaatspapiere wurden sogar nur mit 49 notiert. Die Hauptursachen, welche diese enorme Entwertung von in- und ausländischen Anleihen hervorbrachten, die von einem ähnlichen Fallen der Eisenbahnaktien, besonders der italienischen Eisenbahnen, begleitet wurde, waren die Nachrichten über die Invasion Sardiniens durch die Österreicher, über den Einmarsch einer französischen Armee in Piemont und über die zwischen Frankreich, Rußland und Dänemark abgeschlossenen Offensiv- und Defensiwerträge[191]. Zwar übermittelte der Telegraph im Laufe des Tages ein Dementi des
„Constitutionnel" über den Offensiv-undDefensiwertrag zwischen Frankreich und Rußland. Aber obwohl die Börse zweifellos recht leichtgläubig und optimistisch ist, diesmal wagte sie es, die Glaubwürdigkeit offiziöser französischer Erklärungen zu bezweifeln. Sie konnte es noch nicht vergessen, daß der „Moniteur" vor kaum einer Woche sich erdreistet hatte, zu dementieren, daß Frankreich sich bewaffne oder vorhabe, sich zu bewaffnen. Außerdem, während es den Vertrag dementierte, gestand das französische Orakel, daß zwischen dem östlichen und dem westlichen Autokraten ein „Übereinkommen" erzielt worden wäre, wodurch das Dementi im besten Fall zur Sophisterei wurde. Zur gleichen Zeit, als die britischen Börsenspekulanten Bankrott machten, zerschlug sich die russische Anleihe von 12 Millionen Pfd.St., deren sich die Lombard Street149 ] bemächtigt hätte, wenn der plötzliche Entschluß Österreichs nicht dazwischen gekommen wäre. Herr Simpson, der für die Londoner „Times" die Finanzartikel schreibt, macht folgende eigenartige Bemerkungen über das Zerplatzen dieser Anleihenseifenblase:
„Einer der Punkte, der beim augenblicklichen Stand der Dinge eine besondere Bemerkung verdient, ist, daß das Publikum der vorgesehenen Anleihe an Rußland entronnen ist. Obwohl die Pläne dieser Macht seit der vorzeitigen Beendigung des Krimkrieges immer sehr durchsichtig gewesen sind, war Rußland infolge des Einflusses unseres .Verbündeten' und des nachfolgenden Treffens der Kaiser in Stuttgart sicher, daß keinerlei Warnungen, außer völlig unwiderlegbaren Beweisen, ausreichen würden, um zu verhindern, daß es jede gewünschte Summe erhält, wenn sich ein angesehenes Haus bereit fände, die Transaktionen vorzunehmen. Demzufolge wurde von allen interessierten Parteien die gehobenste Stimmung und die größte Zuversicht zum Ausdruck gebracht, als vor ein oder zwei Monaten der Plan herauskam, 12 Millionen Pfd.St. aufzulegen. ,Die englischen Kapitalisten müßten sich entscheiden!' ,Es würde ihnen nur ein ganz geringer Anteil zur Verfügung stehen!' ,In Berlin und anderswo wären die Leute bereit, die Anteile zu einem Preis zu kaufen, der ein oder zwei Prozent über dem liege, der auf dem Londoner Markt zu erwarten sei.' Unter diesen Umständen bestand wenig Hoffnung, daß ein zur Vorsicht mahnendes Wort Gehör finden würde. Allerdings zeigten weder die Herren Baring noch Rothschild, die gewöhnlich so begierig sind, in diesen Dingen miteinander zu konkurrieren, irgendwelche Bereitwilligkeit, sich damit zu befassen. Es gab auch Berichte über eine geheimnisvolle Konzentration von 100 000 Mann russischer Truppen in Georgien. Es wurde ebenfalls erzählt, der russische Botschafter in Wien1 habe offen erklärt, daß Kaiser Napoleon ganz recht habe, eine Revision der Verträge von 1815 zu fordern; und schließlich konnte man annehmen, daß die kürzlichen Pläne, den Pariser Vertragt in bezug auf die Donaufürstentümer zu annullieren, die Mittelmeerreise des Großfürsten Konstantin und die hinterhältigen Schritte, mit denen der Friedensmission Lord Cowleys entgegengewirkt
wurde, gewisse Bedenken hervorrufen würden. Doch nichts kann einen optimistischen Engländer beeinflussen, der Geld anlegen will und sein Auge auf etwas geworfen hat, das er als eine Anleihe ansieht, die ihm 5 Prozent bringt, und dessen Verachtung für die Unglückspropheten grenzenlos ist. Deshalb blieben die Hoffnungen der Vertragspartner ungemindert, und tatsächlich fanden noch ein oder zwei Tage vor der Verkündung des österreichischen Ultimatums die letzten Beratungen statt, um alles vorzubereiten, diesen Vorschlag jeden Moment herausbringen zu können. Man rechnete damit, daß die ganze Angelegenheit sich als ein großer Erfolg erweisen würde, sobald die nächsten beruhigenden Versicherungen des französischen ,Moniteur' eintreffen, die die bereits gebrachten unterstützen, daß Frankreich nicht gerüstet habe und nicht zu rüsten beabsichtige. Der .verbrecherische' Schritt Österreichs jedoch, das nicht wartete, bis seine Gegner alles, was sie brauchten, erreicht hatten, verdarb den ganzen Plan, und die 12 Millionen Pfd. St. werden nun wohl zu Hause bleiben müssen."
In Paris ließen die Panik des Geldmarktes und die sich daraus ergebenden Zahlungseinstellungen natürlich die Londoner Aufregungen im Rennen weit hinter sich, doch hatte Louis-Napoleon, der sich selbst gerade eine neue Anleihe von 500 Millionen frs. durch seine Lakaien im Corps legislatif hatte bewilligen lassen, den Zeitungen streng verboten, von diesen verdrießlichen Zwischenfällen irgendwie Notiz zu nehmen. Dennoch können wir zu einer richtigen Einschätzung des augenblicklichen Standes der Dinge kommen, wenn wir die folgende Tabelle untersuchen, die ich den offiziellen Notierungen ciiLiiuiiiiiicii nauc. 24. März 7. April 28. April frs. cts. frs. cts. frs. cts.
Dreiprozentige 69 20 67 95 62 00 Aktien der Bank von Frankreich .. 2865 00 2840 00 2500 00 Credit mobilier .. 805 00 707 50 530-542 00 Orleans .. 1368 00 1257 50 1150 00 Nord ... • .. 940 00 915 00 835 00 Ost .. 682 00 627 50 550 00 Mittelmeer .. 850 00 830 00 752 00 Süd .. 523 00 503 75 412 50 West .. 600 00 537 50 485 00 Genf .. 540 00 520 00 445 00 Österreich 560 00 536 25 406 25 Viktor Emanuel ........ .. 400 00 390 00 315 00 Lombardo-Venetien .. 527 50 512 50 420 00
Die Stimmung der englischen Geldleute ist augenblicklich erhitzt von einem maßlosen Arger über die britische Regierung, die sie anklagen, sich im
diplomatischen Europa lächerlich gemacht und, was noch viel mehr bedeutet, die kommerzielle Welt durch ihre hartnäckige Blindheit und ihr Unverständnis irregeführt zu haben. In der Tat ließ sich Lord Derby während der ganzen Dauer der zum Schein geführten Verhandlungen zum Spielball Frankreichs und Rußlands machen. Doch nicht genug der bisherigen ununterbrochenen Fehlgriffe, beim Eintreffen der Nachrichten von dem österreichischen „Ultimatum fiel er wieder in die gleiche Falle, indem er bei dem Bankett im Mansion House11931 diesen Schritt als „verbrecherisch" brandmarkte und noch immer nichts von dem russisch-französischen Vertrag merkte. Sein letztes Vermittlungsangebot, das Osterreich nicht ablehnen konnte, war lediglich ein Wahltrick, dessen Resultat nichts anderes sein konnte, als Napoleon Weitere achtundvierzig Stunden für die Konzentration seiner Truppen zu geben und die unumgänglichen Operationen der Österreicher zu lähmen. So sieht der diplomatische Scharfsinn jener stolzen Aristokratie aus, die sich anmaßt, gegen die volkstümliche Reformbill aufzutreten11001, weil durch diese möglicherweise die Erledigung der ausländischen Angelegenheiten den tüchtigen Händen der erblichen Politiker entwunden werden könnte. Lassen Sie mich zum Abschluß bemerken, daß die Aufstände in Toskana und den Herzogtümern11941 genau das waren, was Österreich brauchte, um einen Vorwand zu haben, diese Gebiete besetzen zu können.
Aus dem Englischen.
Karl Marx Honigsüße Versicherungen
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5639 vom 18. Mai 1859, Leitartikel] .Das von Louis-Napoleon über seine diplomatischen Vertreter an alle Regierungen Europas übermittelte Zirkular vom 27. April und seine Botschaft an das Corps legislatif vom 3. Mai11953 beweisen, daß sich der Kaiser des Mißtrauens, das seinen Motiven und den wirklichen Zielen seiner Einmischung in die italienischen Angelegenheiten allgemein entgegengebracht wird, voll bewußt ist und sich angestrengt bemüht, es zu zerstreuen. In dem Zirkular versucht er nachzuweisen, daß er diese Intervention stets nur in Übereinstimmung mit England, Preußen und Rußland durchführte, und behauptet, diese Mächte seien ebenso unzufrieden mit der Sachlage in Italien, ebenso überzeugt von den Gefahren, die aus der dort herrschenden Unzufriedenheit und heimlichen Agitation entstehen, und ebenso entschlossen, durch kluge Voraussicht einer unvermeidlichen Krise zuvorzukommen, wie er selbst. Doch wenn er sich zum Beweis auf die Mission Lord Cowleys nach Wien[196], auf den russischen Vorschlag für einen Kongreß und die Unterstützung dieser Schritte durch Preußen beruft, scheint er zu vergessen, daß diese Aktionen nicht Italien zum Hauptgegenstand haben, sondern von dem drohenden Zwist zwischen Österreich und Frankreich ausgelöst und bestimmt wurden, demgegenüber die italienische Unzufriedenheit und Agitation zur Bedeutungslosigkeit herabsank. Erst als Napoleon plötzlich ein ungewöhnliches Interesse an den italienischen Angelegenheiten zeigte, erhielt die italienische Frage in den Augen der anderen Mächte Europas eine dringliche Bedeutung. Obgleich Österreich als erstes die Feindseligkeiten begonnen hat, bleibt dennoch die Tatsache bestehen, daß es keinen Grund zur Eröffnung der Feindseligkeiten gegeben hätte, wenn Sardinien nicht durch Napoleon ermutigt worden wäre - wobei
weder Preußen noch England mitwirkten - und infolgedessen entsprechende Schritte unternommen hätte. Es ist also keineswegs so, daß Frankreich lediglich den anderen Mächten seine Mitwirkung bei der friedlichen Regelung der strittigen Fragen zwischen Österreich und Sardinien angeboten hat, sondern es ist eine unumstößliche Tatsache, daß sich die anderen Mächte erst veranlaßt fühlten, größeres Interesse dafür zu zeigen, als Frankreich sich weitgehend an diesem Streit beteiligte und es somit für sie nicht mehr eine italienische, sondern eine europäische Frage geworden war. Gerade die Tatsache, daß nur Frankreich sich veranlaßt fühlte, Sardinien gegen den österreichischen Angriff zu schützen, widerspricht der aufgestellten Behauptung, es handele hinsichtlich der italienischen Angelegenheiten in Übereinstimmung mit den anderen Mächten. Sowohl in diesem Zirkular als auch in seiner Botschaft an das Corps legislatif leugnet der französische Kaiser mit großem Eifer allen persönlichen Ehrgeiz, alle Eroberungsgelüste, jeden Wunsch, den französischen Einfluß in Italien zu befestigen. Er möchte glauben machen, daß er sich ausschließlich bemüht um die Herbeiführung der italienischen Unabhängigkeit und die Wiederherstellung jenes Mächtegleichgewichts, das durch das Übergewicht Österreichs gestört wurde. Diejenigen, die sich erinnern an die Versicherungen, die der Kaiser abgab, und an die Schwüre, die er als Präsident der Französischen Republik leistete, werden kaum geneigt sein, seinen bloßen Erklärungen unbedingtes Vertrauen zu schenken; und selbst diese seine Bemühungen, die Befürchtungen zu dämpfen und den Argwohn Europas zu zerstreuen, enthalten Andeutungen, die in hohem Maße geeignet sind, eine gegenteilige Wirkung hervorzurufen. Daß Louis-Napoleon in diesem Augenblick aufrichtig wünscht, jede Einmischung Englands oder Deutschlands in seinen Krieg mit Österreich zu verhindern, kann niemand bezweifeln; doch das beweist keineswegs, daß er nichts weiter als nur eine Regelung der italienischen Angelegenheiten beabsichtigt. Angenommen, er erstrebt die Vorherrschaft in Europa, so würde er es natürlich vorziehen, die verschiedenen Mächte einzeln zu bekämpfen. Er wundert sich über die Aufregung in einigen deutschen Staaten, obgleich diese Aufregung durch dieselben Ursachen hervorgerufen wird, mit denen er seine eigene Hast, Sardinien zu Hilfe zu eilen, zu erklären sucht. Wenn Frankreich eine gemeinsame Grenze mit Sardinien besitzt, mit ihm durch alte Erinnerungen, durch gemeinsamen Ursprung und durch das kürzlich geschlossene Bündnis verbunden ist, so ist die Verwandtschaft Deutschlands und Österreichs die gleiche, ja noch näher; und wenn Napoleon nicht warten will, bis er selbst einer vollendeten Tatsache gegenübersteht, nämlich dem Triumph Österreichs über Sardinien, so sind die Deutschen ebenfalls
21 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
nicht geneigt, auf die vollendete Tatsache eines Triumphes Frankreichs über Österreich zu warten. Daß Louis-Napoleon eine Demütigung Österreichs erstrebt, insbesondere durch dessen Vertreibung aus Italien, bestreitet er nicht. Jedoch bestreitet er, italienisches Gebiet erobern oder Einfluß darauf gewinnen zu wollen, indem er erklärt, der Zweck des Krieges sei, Italien sich selbst wiederzugeben und nicht, ihm einen bloßen Herrenwechsel aufzuzwingen. Aber angenommen, was sehr wahrscheinlich ist, die italienischen Regierungen, deren Unabhängigkeit gegenüber Österreich also verteidigt werden soll, würden von denjenigen bedrängt, die Louis-Napoleon „die Freunde der Unordnung" und „die unverbesserlichen Anhänger alter Parteien" nennt. Was dann? „Frankreich", sagt Louis-Napoleon, „hat seinen Haß gegen die Anarchie gezeigt." Er versichert, eben diesem Haß gegen die Anarchie seine gegenwärtige Macht zu verdanken. In diesem Haß gegen die Anarchie erblickte er seine Befugnis, die republikanische Kammer aufzulösen, seine eigenen Eide zu brechen, die republikanische Regierung durch militärische Gewalt zu stürzen, die Pressefreiheit vollkommen zu vernichten und alle Gegner seiner alleinigen Gewaltherrschaft ins Exil zu treiben oder nach Cayenne[160] zu verfrachten. Könnte die Unterdrückung der Anarchie seinen Interessen in Italien nicht ebenso gut dienen? Wenn „die Unterdrückung der Freunde der Unordnung und der unverbesserlichen Anhänger alter Parteien" die Zerstörung der französischen Freiheit rechtfertigte, könnte sie nicht ebenso gut als Vorwand zum Sturz der italienischen Unabhängigkeit dienen?
Geschrieben um den 6. Mai 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Osterreich, Preußen und Deutschland im Krieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5647 vom 27. Mai 1859] Wien, 10. Mai 1859[ 44 Die Ungeduld und die Enttäuschung der Wiener über das Schneckentempo, in dem der Krieg, der in scheinbar so forscher Weise begonnen wurde, vorangeht, veranlaßte die Regierimg, an alle Mauern der Hauptstadt folgendes Plakat anschlagen zu lassen: „Die Möglichkeit, daß der Gegner alle Nachrichten, die in den inländischen Blättern über die Bewegungen der k. k. Armee mitgeteilt werden, binnen einigen Stunden erfahren und zu seinem Vorteil ausbeuten kann, legt hierorts die Verpflichtung auf, bei den diesfälligen Mitteilungen mit der größten Vorsicht zu Werke zu gehen. Die letzten Nachrichten lauten derart, daß die operierende k. k. Armee eine Aufstellung zwischen dem Po und der Sesia innehat, aus welcher jede Offensivbewegung ermöglicht wird. Sie ist im Besitz aller Ubergänge der Sesia, und obwohl das anhaltende Hochwasser des Po entscheidende Bewegungen auf das rechte Ufer dieses Flusses noch immer verhindert, werden die Terrainabschnitte zwischen Pontecurone und Voghera dennoch mit bedeutenden Teilen der Armee fortwährend festgehalten; zugleich wurde die Eisenbahnbrücke bei Valenza von uns gesprengt." Die Regierung betrachtet die Bewegungen in den kleineren italienischen Staaten natürlich mit einigem Unbehagen. Das Kriegsministerium veröffentlichte folgende Aufstellung über Streitkräfte dieser Staaten: Toskana. Vier Regimenter Linieninfanterie, jedes Regiment besteht aus zwei Bataillonen, jedes Bataillon aus sechs Kompanien - 6833 Mann; ein Bataillon Schützen, sechs Kompanien - 780 Mann; ein Bataillon Insularschützen - 780 Mann; Bataillone freiwilliger Jäger - 2115 Mann; ein Bataillon Veteranen - 320 Mann; eine Strafabteilung - 150 Mann; zwei Eskadronen Dragoner - 360 Pferde; ein Regiment Artillerie - acht Batterien mit je sechs Geschützen; ein Bataillon Küstenartillerie - 2218 Mann; ein
Regiment Gendarmen - 1800 Mann. Das ergibt mit den entsprechenden Stäben, Genietruppen, Marineeinheiten usw. 15 769 Mann. Parma. Gardes du corps, Hellebardiere, Guiden - 179 Mann; zwei Linienbataillone, ein Jägerbataillon - 3254 Mann; eine Kompanie Artillerie 84 Mann; Genietruppen - 14 Mann; Gendarmen, vier Kompanien 417 Mann; mit den Stäben, Kommandos, Schulen, Arbeiterkompanien 4294 Mann. Modern. Vier Linienregimenter zu nur je einem Bataillon - 4880 Mann; eine Kompanie Jäger - 120 Mann; drei Kompanien Dragoner - 300 Mann; eine Feldbatterie mit sechs Geschützen - 150 Mann; eine Küstenbatterie mit zwölf Geschützen - 250 Mann; eine Arbeiterkompanie - 130 Mann; eine Kompanie Pioniere - 200 Mann; außerdem etliche Veteranen, Hellebardiere usw., zusammen 7594 Mann. San Marino. Die kleine Republik bringt 800 Mann auf. Rom. Zwei Schweizer Infanterieregimenter (ein drittes Regiment wird jetzt gebildet) - 1862 Mann; zwei italienische Regimenter von gleicher Stärke; zwei Sedentärbataillone (eine merkwürdige Art Soldaten) -1200 Mann; ein Regiment Dragoner - 670 Mann und Pferde; ein Regiment Artillerie mit sieben Batterien und vier Geschützen - 802 Mann; Gendarmen - 4323 Mann; mit Stäben, Genietruppen usw. 15 255 Mann. Neapel und Sizilien, Vier Schweizer Regimenter, zwei neapolitanische Garde-Grenadierregimenter, sechs Grenadierregimenter, dreizehn Infanterieregimenter, ein Karabinierregiment, mit den Depotkompanien insgesamt 57 096 Mann; zwölf Jägerbataillone mit 14 976 und mit den Depotkompanien 16 740; neun Kavallerieregimenter, zwei Regimenter schwere Dragoner, drei Regimenter Dragoner, ein Karabinierregiment, zwei Lanzierregimenter, ein reitendes Jägerregiment-8415 Mann undPferde; zwei Regimenter Artillerie, jedes aus zwei Feld- und einem Festungsbataillon bestehend, oder sechzehn Feldbatterien mit 128 Geschützen und 12 Festungskompanien - zusammen einschließlich Train 52 000 Mann. Die Hellebardiere, Genietruppen, Guiden, gardes du corps usw. hinzugezählt, erhält man eine Gesamtstärke von 130 307 Mann. Die neapolitanische Flotte besteht aus zwei Linienschlachtschiffen mit 80 und 84 Kanonen, fünfzig Segelfregatten, zwölf Dampffregatten mit je 10 Kanonen, zwei Segelkorvetten, vier Dampfkorvetten, zwei Segelgoeletten, elf kleineren Dampfschiffen, zehn Mörserbooten und achtzehn Kanonenbooten. Die österreichische Regierung hat tatsächlich die Ereignisse in Toskanatl94] mehr oder weniger vorausgesehen und dürfte sie bis zu einem gewissen Grade
mit in Rechnung gesetzt haben; was sie jedoch mit echter Besorgnis erfüllt, ist die reservierte, schwankende und alles andere als freundliche Haltung, welche die preußische Regierung einnimmt. Die preußische Regierung rüstet, weil sie durch den Lärm der Öffentlichkeit dazu gezwungen wird, zugleich aber macht sie die Rüstung durch ihre diplomatischen Schritte sozusagen unwirksam. Es ist bekannt, daß das gegenwärtige preußische Ministerium und insbesondere der Außenminister von Schleinitz der Gothaer Partei [1981 angehört, wie man sie in Deutschland nennt; das ist eine Partei, die sich in dem Wahn gefällt, der Zusammenbruch Österreichs könne Preußen die Möglichkeit bieten, ein neues Deutschland unter der Herrschaft der Hohenzollern zu schaffen. Diese Partei lauscht mit geheuchelter Leichtgläubigkeit der bonapartistischen Diplomatie, die ihr versichert, der Krieg solle in Italien „lokalisiert" werden und die Aufstellung eines französischen Beobachtungskorps unter Pelissier in Nancy bedeute nichts weiter als eine kleine Schmeichelei für diesen „berühmten Krieger". En passant darf ich bemerken, daß die gleiche Nummer des „Moniteur", die diese tröstliche Theorie enthält, einen kaiserlichen Befehl zur Aufstellung einer Humboldt-Statue in Paris veröffentlicht, ein Manöver, welches jedenfalls zeigt, daß Bonaparte glaubt, die Gothaer Partei mit Statuen zu kaufen sei nicht schwieriger als die französischen Zuaven mit Würsten[62]. Der österreichische Bevollmächtigte beim Deutschen Bundestag in Frankfurt1 hat, soviel steht fest, einen Antrag gestellt, worin der Bund aufgefordert wird, zu erklären, ob nicht seine eigene Sicherheit durch Bonapartes Teilnahme am italienischen Krieg gefährdet sei; aber infolge preußischer Intrigen hat sich der Bundestag bis heute der Antwort auf die Frage enthalten. Preußen mag im Recht sein, wenn es dagegen protestiert, von einer Mehrheit der kleinen deutschen Landes väter 2 kommandiert zu werden; aber dann wäre es seine Pflicht, die Initiative zu ergreifen und selbst die zur Verteidigung Deutschlands unerläßlichen Maßnahmen vorzuschlagen. Bis jetzt ist es gerade den entgegengesetzten Weg gegangen. Am 29. April richtete es ein Rundschreiben an die verschiedenen Mitglieder des Bundes, das ihnen in ziemlich anmaßendem Ton Zurückhaltung und Vorsicht predigte. Als Antwort auf dieses Schreiben haben die süddeutschen Regierungen das Berliner Kabinett in sehr eindrucksvoller Sprache an die römische Formel erinnert: „Caveant consules ne quid respublica detrimenti capiat" [1991. Sie haben erklärt, ihrer Überzeugung nach sei der Augenblick ernster Gefahr für die Sicherheit Deutschlands bereits eingetreten und die Zeit des Nichtstuns entschieden vorüber. In seinem eigenen Lande findet das
1 Rechberg - 2 Landesväter: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch
preußische Ministerium Verbündete der verschiedensten Art. Neben der Gothaer Partei selbst gibt es zunächst die „russische" Partei, die Neutralität predigt; sodann die sehr einflußreiche, von der „Kölnischen Zeitung" t200J repräsentierte Partei der Bankiers, Börsenspekulanten und der Leute des Credit mobilier t18^, die auf Grund ihrer materiellen Interessen dem Credit mobilier in Paris und folglich dem Bonapartismus ergeben sind; schließlich die pseudo-demokratische Partei, die so tut,als sei sie über die österreichische Brutalität so erbittert, daß sie in der Politik des Dezemberhelden Liberalismus entdecke. Ich darf mit Gewißheit behaupten, daß einige Mitglieder der letztgenannten Partei mit Napoleondors gekauft worden sind und daß der Hauptagent dieses Gesinnungsschachers in der Schweiz wohnt und nicht nur ein Deutscher »sondern sogar ein ehemaliges Mitglied der Deutschen Nationalversammlung von 1848 und ein zügelloser Radikaler ist [2013. Sie verstehen, daß hier unter diesen Umständen auf jegliche gegen die Neutralität gerichtete Erklärung preußischer Herkunft eifrig geachtet wird und daß ein kurzes Manifest des Herrn Friedrich von Raumer, des preußischen Historikers der Kreuzzüge, viel Aufsehen erregt;es trägt den Titel „Der Standpunkt Preußens "f2021 und bekämpft offen die Theorie der Gothaer Partei. Aus den folgenden Auszügen können Sie den Gehalt der Raumerschen Ergüsse beurteilen:
„Es wurde von einer gewissen Partei behauptet, Preußen müsse die vollste Selbständigkeit bewahren, sich weder von den Ereignissen noch von dem ungeduldigen Treiben derer fortreißen lassen, welche die Politik Deutschlands in falsche Bahnen drängen und zu voreiligen Maßregeln bestimmen möchten. Die Regierung müsse demgegenüber ihren Standpunkt mit unverrückbarer Festigkeit behaupten, und man hoffe, daß die Staaten Deutschlands, da die Kräfte der andern deutschen Großmacht durch den italienischen Krieg in Anspruch genommen sind, um Preußen, als den natürlichen Mittelpunkt der deutschen Politik, sich scharen werden. Wir können es nicht über uns gewinnen, ohne Prüfung diesen Erklärungen beizutreten, uns diesen Weisungen zu unterwerfen. Zuvörderst ist die Behauptung von der vollsten Selbständigkeit Preußens eine Übertreibung. Es hat vielmehr mit Recht umhergesehen, gefragt, gewünscht, gewarnt, empfohlen, weil es, zwischen vier mächtigen Staaten eingeklemmt, eben keine volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit behaupten kann, sondern deren Tun und Lassen berücksichtigen muß, ohne jedoch sich selbst und seinen wahren Beruf aufzugeben. Preußen ist in die Reihe der Großmächte eingetreten, nicht vermöge seiner Masse, sondern vermöge der Bewegung seines Geistes, seiner Entschlossenheit und Tätigkeit. Sobald dies fehlt (die Geschichte hat es bewiesen), sinkt es hinab in niedere Regionen und wird von andern vernachlässigt oder gar beherrscht. Vier Monate lang hat die Diplomatie sich abgemüht, einem Gegner wie Napoleon III. gegenüber, aber auch gar nichts ausgerichtet, sondern völlig Bankrott gemacht. Ist es
nicht natürlich, nicht löblich, wenn die Deutschen (durch bittere Erfahrungen belehrt und im richtigen Gefühle, was Ehre, Pflicht und Selbsterhaltung fordern) ungeduldig werden und Wolkenphantasmen nicht mehr für sichernde Felsen halten wollen? Wie kann man auf einem Standpunkte unverrückbar verharren, wenn alle wesentlichen Verhältnisse sich ringsum verändert haben und entscheidende Ereignisse eingetreten sind! Da man nun von dem Standpunkte des Vermitteins gar nichts ausgerichtet hat, so darf man wohl bezweifeln, ob er von Anfang an der richtige, ob es nicht ein großer Irrtum war, sich zwischen Frankreich und Osterreich so hinzustellen, als sei von Frankreich und der Türkei die Rede. Diese angebliche Unparteilichkeit, ohne entschiedenes Übergewicht nach der deutschen Seite hin, hat die Franzosen nicht gewonnen, wohl aber im übrigen Deutschland die Gemüter von Preußen abgewandt und das Vertrauen gemindert. Wir wiederholen es: Ohne Deutschland ist Preußen auf die Dauer keine Großmacht. Der Vorschlag und Rat, Osterreich in Wahrheit seinem Schicksale zu überlassen und sich um Preußen zu scharen, heißt Deutschland zugrunde richten. Nach Weise der Medea soll das gottlob endlich sich als unteilbares Ganzes fühlende Deutschland zerstückelt in den Hexenkessel geworfen werden und sich aufreden lassen, diplomatische Köche würden es erneut und verjüngt daraus hervorgehen lassen! Wir kennen nichts, was törichter, unpatriotischer, unheilbringender wäre als die offen verkündigte oder heimlich eingeschmuggelte Lehre von einem österreichischen und preußischen Deutschland: Es ist die verdammliche Lehre von einer quer durch unser deutsches Vaterland hindurchgehenden, es jammervoll zerschneidenden Demarkationslinie, es ist die anmaßliche, kurzsichtige Lehre des Jahres 1805, auf welches unausbleiblich 1806 folgte. Die Interessen von ganz Deutschland sind die Interessen Preußens, und Osterreich ist seit Jahrhunderten (trotz aller Mängel, Irrtümer und Unfälle) der Schutz Deutschlands gewesen gegen Slawen, Türken und Franzosen. In wenigen Wochen muß der italienische Krieg eine entscheidende Wendung nehmen; ist Deutschland in wenig Wochen gerüstet gegen Napoleon, wenn er die Franzosen mit der natürlichen Grenze des linken Rheinufers ködert und mit Bezug auf den Baseler Frieden'-79^ Preußens Zustimmung fordert? Vorsicht hat bis jetzt nicht gefehlt, wohl aber Voraussicht; die Ereignisse haben alle Abwartenden überflügelt und das alte bewährte Sprichwort vergessen lassen: Zeit verloren, alles verloren!" Um heute die Absendung nicht zu verzögern, werde ich bei anderer Gelegenheit über die Handelspanik und die Strömungen unter der Bevölkerung dieser fröhlichen und naiven Stadt berichten1.
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der Krieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5643 vom 23. Mai 1859, Leitartikel]
Napoleon III. begab sich am 11. d. M. auf dem Wasserwege von Marseille nach Genua, um dort das Kommando über die französischen Streitkräfte zu übernehmen; es waren Vorbereitungen getroffen worden, um ihn mit außergewöhnlichemPomp zu empfangen. Ob seine militärischen Heldentaten den unbestreitbaren Triumphen seiner Diplomatie gleichkommen werden, ist eine Frage, auf die wir wahrscheinlich bald eine zuverlässige Antwort erhalten; bisher ist der einzige von ihm gelieferte Beweis seiner strategischen Fähigkeiten sein Plan für Operationen auf der Krim, dessen veraltete Grundzüge der militärischen Schule von Bülow entstammten, von dem der große Napoleon sagte, daß seine Wissenschaft die Wissenschaft der Niederlage und nicht des Sieges sei [2031. Es steht außer Frage, daß der französische Kaiser Italien mit dem Prestige eines unerhörten moralischen Erfolges betritt. Nachdem er durch überlegene Verschlagenheit und List die Österreicher dazu getrieben hatte, die schwere Verantwortung der Kriegserklärung auf sich zu nehmen, hatte er das große Glück, daß sie durch vierzehn Tage ausgesprochener Inaktivität den einzigen Vorteil aufgaben, den sie durch diesen bedeutungsvollen Schritt zu gewinnen hofften. Anstatt die piemontesische Armee durch zahlenmäßige Überlegenheit und Schnelligkeit der Bewegung zu zerschmettern, bevor französische Verstärkung herankommen konnte, hat Österreich seine Chance verpaßt und steht nun einer alliierten Armee gegenüber, die seiner eigenen völlig ebenbürtig ist und jeden Tag überlegener wird. Anstatt offensive Operationen und einen Eroberungsfeldzug durchzuführen, wirdes höchstwahrscheinlich bald gezwungen sein, selbst Mailand aufzugeben, sich auf die Minciolinie zurückzuziehen und dort im Schutze seiner großen Festungen eine rein defensive
Haltung einzunehmen. So beginnt Louis-Napoleon seine Karriere als Feldherr mit dem Vorteil, daß sein Gegner große und fast unerklärliche Fehler begangen hat. Sein Glücksstern ist noch im Aufstieg begriffen. Die ersten vierzehn Tage des Krieges bieten uns auf österreichischer Seite eine merkwürdige, wenn auch monotone Geschichte dar, ähnlich dem berühmten Couplet auf den König von Frankreich. Am 29. April überquerte die österreichische Avantgarde den Ticino, ohne auf großen Widerstand zu stoßen, und am nächsten Tage folgte der Hauptteil der Armee. Nach den ersten Bewegungen in Richtung Arona (am Lago Maggiore), Novara und Vigevano schien der Angriff auf Vercelli und die Turiner Straße gerichtet zu sein. Die Besetzung Vercellis, die am 1. oder 2. Mai morgens erfolgte, und Telegramme aus der Schweiz, die behaupteten, daß die Kräfte der eindringenden Armee an der Sesia konzentriert seien, dienten zur Bestätigung dieser Ansicht. Jedoch scheint diese Demonstration lediglich eine Finte gewesen zu sein, dazu bestimmt, das ganze Land zwischen Ticino und Sesia in Kontribution zu setzen und die telegraphische Verbindung zwischen Piemont und der Schweiz zu zerstören. Der wirkliche Angriffspunkt wird aus einem Bulletin General Gyulays ersichtlich, nach dem Cozzo und Cambio die Hauptkonzentrationspunkte bildeten und am Abend des 2. Mai sein Hauptquartier in Lomello war. Nun ist der erstgenannte Ort in der Nähe des Zusammenflusses von Sesia und Po (etwas östlich davon), der zweite am Po, etwas östlich von der Mündung des Tanaro in diesen Fluß, und der dritte etwas mehr rückwärts, doch in gleicher Entfernung von beiden; ein Blick auf die Karte zeigt, daß die Österreicher in Richtung auf die Front der piemontesischen Stellung marschieren, die sich hinter dem Po von Casale nach Alessandria erstreckt und ihr Zentrum in der Gegend von Valenza hat. Weitere Nachrichten, die wir über Turin erhielten, besagen, daß die Österreicher am 3. in der Nähe von Cambio Brücken über den Po schlugen und Spähtrupps nach Tortona auf das südliche Ufer des Flusses schickten, und daß sie außerdem fast die ganze Front der piemontesischen Position rekognoszierten, ganz besonders in der Nähe von Valenza, wo sie den Feind an mehreren Punkten in Kämpfe verwickelten, um ihn zu veranlassen, seine Kräfte zu zeigen. Es gab auch noch Gerüchte, daß ein österreichisches Korps, von Piacenza kommend, am südlichen Ufer des Po nach Alessandria marschiere, aber sie haben sich nicht bestätigt; im Zusammenhang mit dem Bau von Brücken über den Po bei Cambio wäre diese Bewegung jedoch nicht unwahrscheinlich. So sah die Kampagne bis zum 5. Mai aus. Bis dahin und die ganze Zeit seither zeichneten sich die österreichischen Manöver, gelinde gesagt, durch einen außergewöhnlichen Grad von Langsamkeit und Vorsicht aus. Vom
Ticino bis zum Po bei Valenza sind es gewiß nicht mehr als 25 Meilen oder zwei leichte Märsche, und da die Feindseligkeiten am 29. April begannen, hätte die gesamte Invasionsarmee am 1. Mai mittags gegenüber von Valenza konzentriert, die Avantgarde am gleichen Tage ihre Rekognoszierung beenden und während der Nacht der Entschluß für entscheidende Operationen am folgenden Tage gefaßt werden können. Wir sind immer noch nicht in der Lage, die entstandene Verzögerung zu erklären, auch nachdem wir die von der „Vanderbilt" herübergebrachte Post in Händen haben. Da jedoch Schnelligkeit der (Aktion den Österreichern durch die Umstände gebieterisch aufgezwungen war, und da General Gyulay den Ruf eines entschlossenen und kühnen Offiziers besitzt, liegt die Vermutung nahe, daß unvorhergesehene Umstände sie zu dieser vorsichtigen Art des Vorgehens gezwungen haben müssen. Ob ein Marsch auf Turin über Vercelli zuerst wirklich beabsichtigt war und nur aufgegeben wurde, weil die Nachricht eintraf, die Franzosen seien in solcher Anzahl in Genua angekommen, daß eine Umgehungsbewegung gefährlich werde; ob der Zustand der Straßen, die überall aufgerissen und von den Piemontesen verbarrikadiert waren, etwas damit zu tun hatte; oder ob General Gyulay, über dessen Qualitäten als Oberbefehlshaber gar nichts bekannt ist, sich von der Schwerfälligkeit der Massen, die er befehligen mußte, behindert fand - all das ist schwer zu klären. Ein Blick auf die Position der anderen Partei mag jedoch die Situation etwas erhellen. Die F ranzosen begannen nach Piemont einzuströmen, bevor ein Österreicher die Grenze überschritten hatte. Am 26. April kamen die ersten Truppen in Genua an. Am gleichen Tage erreichte die Division des Generals Bouat Savoyen, überschritt den Mont Cenis und kam am 30. in Turin an. An diesem Tage befanden sich 24 000 Franzosen in Alessandria und ungefähr 16000 in Turin und Susa. Seitdem hielt der Zustrom ununterbrochen an, aber mit weit größerer Schnelligkeit nach Genua als nach Turin, und von beiden Stellen wurden Truppen nach Alessandria geschickt. Die Zahl der auf diese Weise an die Front beförderten Franzosen kann natürlich nicht festgestellt werden, aber auf Grund von Umständen, auf die wir uns direkt beziehen werden, kann es keinen Zweifel darüber geben, daß sie ab 5. Mai anscheinend für ausreichend erachtet wurde, um die alliierten Armeen schlagkräftig zu machen und jede Umgehungsbewegung der Österreicher über Vercelli zu verhindern. Der ursprüngliche Plan war, die Linie des Po von Alessandria bis Casale mit dem Hauptteil der Piemontesen und den von Genua kommenden französischen Truppen zu halten, während der Rest der Piemontesen (die Garden der Brigade Sa voyen) zusammen mit den Franzosen, die über die Alpen kommen, die Dora-Baltea-Linie von Ivrea bis Chivasso halten und so
Turin decken sollten. Jeder österreichische Angriff auf die Dora-Linie könnte so von den aus Casale debouchierenden Piemontesen in die Flanke genommen werden, und die Eindringlinge wären gezwungen, ihre Kräfte zu teilen. Aber trotzdem war die alliierte Position ein bloßer Notbehelf und ausgesprochen schlecht. Sie nahm von Alessandria bis Ivrea eine Strecke von fast fünfzig Meilen ein mit einem ausspringenden und einem einspringenden Winkel. Obgleich sie durch die vorhandene Möglichkeit zu Flankenattacken beträchtlich verstärkt wurde, bot eine so lange Linie jedoch günstige Gelegenheiten zu Scheinangriffen und konnte einem entschlossenen Angriff keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzen. Sobald die Dora-Linie erobert und gleichzeitig eine Flankenattacke der Piemontesen durch ein kleineres österreichisches Korps für den Augenblick gelähmt worden wäre, hätten die siegreichen Österreicher nach Gutdünken auf jedes Ufer des Po zurückkehren und mit zahlenmäßiger Überlegenheit die Armee von Alessandria unter den Kanonen dieser Festung zurücktreiben können. Dies wäre leicht zu bewerkstelligen gewesen, wenn die Österreicher während der ersten zwei oder drei Kriegstage energisch gehandelt hätten. Damals waren zwischen Alessandria und Casale noch keine Kräfte konzentriert, die ihre Operationen gefährden konnten. Am 3.,4. und 5. Mai sah jedoch die Sache anders aus; die Zahl der Franzosen, die in der Position angelangt waren und noch von Genua kamen, muß groß genug gewesen sein, um die Streitkraft auf ungefähr 100 000 Mann anwachsen zu lassen, von denen 60 000 zu einem Angriff von Casale aus hätten verwendet werden können. Daß diese Stärke für genügend erachtet wurde, um Turin zu decken, beweist indirekt die Tatsache, daß sogar schon am 3. französische und sardinische Truppen von der Dora-Linie nach Alessandria gesandt wurden. So gestattete die Langsamkeit der Österreicher den Alliierten, dieses gefährliche Manöver, nämlich die Konzentration ihrer Kräfte in der Position von Alessandria, ruhig und sicher zu Ende zu führen. Damit war der ganze Zweck und das Ziel der österreichischen Offensive zunichte gemacht und das vollendet, was wir als moralischen Sieg der Alliierten bezeichneten. Der österreichische General scheint also hintereinander nach mindestens drei verschiedenen Kampagneplänen gehandelt zu haben. Zuerst wollte es scheinen, daß er, als er den Ticino überquerte, einen direkten Marsch auf Vercelli und die Dora vorhatte; dann, als er von der Ankunft der vielen französischen Truppen in Genua hörte und den Flankenmarsch um Casale für zu gefährlich hielt, änderte er seinen Angriff und wandte sich nach Lomello und zum Po; und schließlich ändert er wieder seinen Sinn, gibt die Offensive ganz auf, befestigt seine Stellung an der Sesia und wartet auf den
Vormarsch der Alliierten, um sie dann angreifen zu können. Unsere Informationen über seine Bewegungen sind zwar sehr unvollkommen, da sie fast ausschließlich aus französischen und sardinischen Telegrammen stammen, doch scheint dies die einzige Schlußfolgerung zu sein, die man aus der anhaltenden Inaktivität des Hauptteiles der Österreicher und den verschiedenen unbedeutenden und scheinbar unentschlossenen Bewegungen ihrer vorgeschobenen Detachements zwischen dem 5. und 11. Mai ziehen kann. Sollte der alliierte Vormarsch durch irgendeinen Zwischenfall sich um einige Tage verzögern, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß wir noch einen weiteren Wechsel der österreichischen Strategie in Form eines Rückzuges zum Ticino, sogar ohne Schlacht, erleben. Gyulays Armee kann nicht für längere Zeit inaktiv in den pestilenzialischen Reissümpfen bleiben, wo sie sich nach unseren letzten Informationen befand. Sie muß entweder einen Angriff gegen eine sehr bedenkliche Überzahl riskieren oder in einem weniger ungesunden Gebiet eine neue Position einnehmen. Jedoch ist mit einem sofortigen Vormarsch der Alliierten und einer Schlacht zu rechnen; wahrscheinlich werden wir darüber mit der nächsten Post Nachricht erhalten. Allerdings ist es unter diesen Umständen nicht erstaunlich, aus Wien zu hören, daß Heß, der natürliche Nachfolger Gyulays im Kommando, dessen Operationen mißbilligt. Es ist auch ziemlich sicher, daß die Österreicher, falls sie die bevorstehende Schlacht nicht gewinnen, einen neuen Oberbefehlshaber haben werden, noch ehe der erste Monat des Krieges vorbei ist. Das ist jedoch in der Geschichte ihrer Kriege kein außergewöhnliches Ereignis.
Geschrieben am 12. Mai 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Hochbedeutendes aus Wien
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5655 vom 6. Juni 1859] Wien, 14. Mai 1859^ Der preußische General Willisen (Bruder des anderen preußischen Generals gleichen Namens, der sich einigen Ruhm durch seine Werke über Militärwissenschaft [2041 erwarb und ihn durch seine Führung des schleswigholsteinischen Krieges wieder verlor) ist hier angekommen, angeblich aus Berlin geschickt, um den schwachsinnigen König von Preußen und seine Königin1 auf ihrer Heimreise von Italien zu empfangen. Sein wirklicher Auftrag soll auf zwei Punkte beschränkt sein - erstens, Österreich zu warnen, seine Intrigen im Frankfurter Bundestag fortzusetzen, da Preußen nicht gewillt ist, sich vom Wiener Kabinett unter dem Deckmantel des auf dem Papier stehenden Deutschen Bundes t61] diktieren zu lassen; zweitens, die so verabreichte Pille durch die bestimmte Versicherung zu versüßen, daß Preußen jetzt definitiv zur „bewaffneten Vermittlung" entschlossen ist. Dieser zweideutige Ausdruck wird folgendermaßen interpretiert: Preußen wird, nachdem es sein Haus in Ordnung gebracht und sich bis an die Zähne bewaffnet hat, einige neue Friedensvorschläge an Bonaparte richten und nach deren Ablehnung sein Schwert in die Waagschale werfen. Gleichzeitig mit dieser wichtigen Mitteilung hat die österreichische Regierung über Bern die Nachricht erhalten, daß der russisch-französische Vertrag[191], abgesehen von seinen noch unbekannten geheimen Abmachungen, Frankreich dazu verpflichtet, den Krieg auf die seinem vorgeblichen Ziel, der Befreiung Italiens, entsprechenden Grenzen zu beschränken, während Rußland sich verpflichtet, bei dem ersten tatsächlichen Eingreifen des Deutschen Bundes in den Kampf eine Armee von mindestens 300 000 Mann über seine Grenzen zu schicken. Es herrscht hier große Unzufriedenheit über General Gyulays altmodische Strategie, und es werden Gerüchte über seine Entlassung verbreitet. General
1 Friedrich Wilhelm IV. und Elisabeth
Heß wird als sein Nachfolger genannt. Aber bisher scheint kein solcher Schritt beabsichtigt, da Oberst Kuhn, der hervorragendste Offizier des österreichischen Stabes, entsandt wurde, um General Gyulays schwankende Entschlüsse zu stützen. Gyulay selbst ist Magyare. Er wurde in Pest am 1. September 1798 geboren. Mit 16 Jahren trat er als Unterleutnant in ein von seinem Vater befehligtes Infanterieregiment ein; er wurde dann den Husaren zugeteilt, im September 1827 zum Major der Kaiser-Ulanen ernannt, bald danach zum Oberst des 19. Infanterieregiments und avancierte 1837 zur Würde eines Generalmajors und Brigadegenerals in St. Pölten. 1845 befehligte er das 33. Infanterieregiment in Wien; 1846, nachdem er die Würde eines Feldmarschall-Leutnants erlangt hatte, wurde er in der Eigenschaft eines Divisionskommandeurs und Obersten Militärkommandanten nach Triest geschickt. 1848 fand er Gelegenheit, auf diesem Platze gute Dienste zu leisten. Nachdem er selbst, auf eigene Verantwortung, das Kommando über die Marine übernommen hatte, entließ er die verdächtigen italienischen Offiziere und Matrosen, brachte die Kriegsschiffe in den verschiedenen Stationen an der dalmatinischen Küste in Sicherheit und rettete einige Kriegsschiffe, die schon auf der Fahrt nach Venedig12051 waren. Er ordnete die notwendigen Verteidigungsmaßnahmen in Triest, Pola, Pirano und anderen wichtigen Punkten der Küste an, sicherte die vom Aufruhr bedrohten Grenzen und bereitete die Offensive vor, die von Feldzeugmeister Graf Nugent am 17. April 1848 nach dem Eintreffen der Verstärkungen aus den inländischen Provinzen begonnen wurde. Eine von Gyulay organisierte Ruderflottille unterstützte die Küstenoperationen der Armee. Am 23. Mai erschien die piemontesische Flotte vor Triest, wurde aber durch die von ihm getroffenen Vorbereitungen in Schach gehalten; ihr Versuch, die entfernter gelegene Batterie von St. Barcola zu überrumpeln, wurde gleichfalls vereitelt. Die piemontesische Flotte alarmierte Triest zum letzten Male am 8. Juni, da sie aber Gyulay für alle Fälle vorbereitet fand, zog sie sich am 4. Juli aus dem Gesichtskreis der Stadt und nach der Schlacht von Custozza[83] aus dem Adriatischen Meer zurück. Als Belohnung für diese Dienste erhielt Gyulay vom Kaiser verschiedene Orden und vom Triester Magistrat die Ehrenbürgerschaft. Nachdem er Anfang Juni 1849 mit der Leitung des österreichischen Kriegsministeriums betraut wurde, soll er große Energie und Aktivität entfaltet haben. Bei der Einnahme von Raab12061 befand er sich im Gefolge des Kaisers. Von Wien, wohin er in sein Amt zurückgekehrt war, eilte er auf Grund der Nachrichten über die Niederlage bei Acs[207] sofort nach Komorn, um dort die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Später wurde er auf eine Inspektionsreise durch das ganze Kaiserreich gesandt und präsentierte Franz
Joseph seinen Bericht. Nachdem er im Juli 1850 das Kriegsministerium abgegeben und das Kommando des fünften Korps in Mailand übernommen hatte, wurde er zum Feldzeugmeister ernannt und erhielt den Orden vom Goldenen Vlies. Nach dem Rücktritt Radetzkys erhielt er das Kommando über die zweite Armee, die er jetzt gegen Piemont geführt hat. Er ist einer der österreichischen Generale, die, meist Slawonier oder Magyaren von Geburt, sich durch das Auspeitschen von Frauen und andere scheußliche Brutalitäten mit Schande bedeckt haben. Zwei Bataillone von Wiener Freiwilligen sind bereits zum Kriegsschauplatz abmarschiert, und ein drittes Bataillon folgt ihnen heute. Diese Freiwilligen, die zum autochthonen Vorstadtadel gehören, wurden in die Uniformen der Legionäre von 1848[208] gekleidet und waren zuerst die Helden des Tages. Bälle, Konzerte und Theaterveranstaltungen gab es für sie im Überfluß, und sogar der österreichische Walzer-Orpheus, Herr Strauß, komponierte ihnen zu Ehren einen neuen Marsch vor seiner recht unpatriotischen Abreise nach Petersburg. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß neuerdings die Popularität dieser neugebackenen Krieger erschreckend gesunken ist. Diese primitiven Grobiane aus den Vorstädten trieben es etwas zu frei mit Bier und Zigarren und gegenüber dem schönen Geschlecht und überschritten bisweilen erheblich die Grenzen selbst des Wiener „Humors". Was sie sind, sagen sie selbst in ihrem Lieblingslied:
Ich bin ein ächter Wiener, Führ ein lustiges Leben, Und da hat mich mein Vater Zu den Deutschmeistern geben; Deutschmeister ist ein Gar lustiges Regiment, Hält in der einen Hand den Säbel, In der andern das Ziment.1 (Ziment, muß ich hinzufügen, ist ein Trinkgefäß für Bier, das eine ganz ungeheure Menge Flüssigkeit faßt.) Eine der Heldentaten dieser „freien und fröhlichen" Männer nahm eine recht ernsthafte Wendung und wurde von der Presse mit Recht getadelt. Die Kasernen unserer Freunde liegen am Salzgries, einem Platz, der, ebenso wie die zu ihm führenden Straßen, hauptsächlich von Israeliten bewohnt wird. Die Juden aus Galizien, die in Wien Geschäfte abzuwickeln haben, pflegen sich auch in diese ziemlich schmutzigen Regionen zu begeben. Als nun unsere
1Die Verse in der „New-York Daily Tribüne" deutsch und englisch
heroischen Kerle eines Abends vom „Sperl"1, wo man sie öffentlich gefeiert und ihnen zu ihrem etwaigen Heldenmut gratuliert hatte, in ihre Kasernen zurückkehrten, gaben sie in ihrer ziemlich erregten Gemütsverfassung einen Vorgeschmack von ihren zukünftigen Taten, indem sie unvermittelt über die unglücklichen Israeliten herfielen. Sie schlugen einigen die Fenster ein, trampelten andere nieder, schnitten vielen die Bärte ab und warfen sogar ein unglückliches Opfer in eine Teertonne. Ruhig vorbeigehende Leute wurden mit der Frage „Bist du ein Jude?" angesprochen, und wenn die Antwort bejahend ausfiel, unter lauten Ausrufen wie „Macht nichts, der Jud wird geprügelt!"2 unbarmherzig geschlagen. Auf die überspitzte Sentimentalität dieser Wiener Kerle kann man aus folgender Tatsache schließen: Ein Schuhmacherlehrling von fünfzehn Jahren, dem die Aufnahme ins Freiwilligenkorps vom Rekrutenwerber verweigert wurde, erhängte sich aus Verzweiflung. Die Geld- und Finanzschwierigkeiten werden in allen Sphären, von den höchsten bis zu den niedrigsten, sichtbar. Erstens, wie Sie bereits der europäischen Presse entnommen haben werden, hat der Kaiser selbst die Kronjuwelen verpfändet. Zweitens, was für ein Organ der WienerPresse man auch zur Hand nimmt, stets erscheint an auffallender Stelle eine Spalte mit dem Titel „Patriotische Spenden". Diese patriotischen Opfer, die entweder für Kriegszwecke im allgemeinen oder für die Bildung von Freiwilligenkorps im besonderen gebracht werden, variieren erheblich in ihrer Größe, einige betragen nur 2 Gulden 12 Kreuzer, andere erreichen die respektable Höhe von 10 000 bis 12 000 Gulden. Neben den Geldschenkungen werden hier und da Geschenke mehr mittelalterlicher Art aufgeführt wie ein Paar Revolver von einem Waffenhändler, Papier für Patronen von einem Papierfabrikanten, Stoff für Uniformen von einem Kleiderhändler usw. Zwischen den Geschenken von Einzelpersonen figurieren mehr oder weniger verdächtige Sammlungen von Provinzgemeinden, die unter dem offiziellen Druck ihrer kleinen Amtspersonen und Bürgermeister3 zustande kommen. Ein gemeinsamer Zug zeichnet jedoch alle größeren Beiträge aus, daß sie nämlich nicht in Geldform, sondern in Form von Staatsobligationen und Kupons staatlicher Fonds entrichtet werden, so daß dem Staat buchstäblich mit „seiner eigenen Münze" gezahlt wird. Das untrüglichste Zeichen der Geldschwierigkeiten, das Ihnen auf Schritt und Tritt begegnet, ist das völlige Verschwinden der kleinen Münzen für die Bargeldtransaktionen des täglichen Lebens. In dem Moment,
1 bekanntes Wiener Kaffeehaus - 2 Der Ausruf in der „New-York Daily Tribüne" deutsch und englisch - 3 Bürgermeister: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch und englisch
als die Einstellung der Barzahlungen durch die Bank gemeinsam mit den sie begleitenden Finanzmaßnahmen angekündigt wurde, verschwand das kleine Metallgeld, sowohl Kupfer als auch Silber, wie von einem Zauberstab berührt. Man nahm zu der gleichen primitiven Methode des Zerstückeins großer Banknoten in aliquote Teile Zuflucht, die den ausländischen Besucher Wiens im Jahre 1848 so sehr befremdet hatte: Jeder Besitzer einer EinGulden-Banknote zerschneidet diese in so viele Teile, wie er braucht, um seine kleinen Einkäufe tätigen zu können. Die Regierung hat versucht, diesen Zerstückelungsprozeß in Wien und in den Provinzen durch eine Proklamation aufzuhalten, in der sie der Öffentlichkeit ankündigte, daß vom Steuereinnehmer und von der Bank keine Fragmente von Banknoten mehr in Zahlung genommen werden. Hinsichtlich der Bank scheint diese Ankündigung ungesetzlich zu sein, da noch immer ein Gesetz aus dem Jahr 1848 existiert, welches die Bank verpflichtet, solche Bruchteile von Geldscheinen anzunehmen, und es gibt sogar ein ganzes System bei der Bank, um sie zu berechnen. Es ist offiziell erklärt worden, daß 28 000 000 Gulden Kleingeld im Umlauf waren, eine Summe, die, wie hinzugefügt wird, den wirklichen Bedarf um das Doppelte überstieg. Daher sind die Behörden „entschlossen, der törichten Spekulation entgegenzutreten, die gegenwärtig das Kleingeld knapp macht". Mit der Feststellung, daß Kleingeld im Überfluß vorhanden sei, ist allerdings dem offensichtlichen Mangel an dieser notwendigen Sache nicht abgeholfen. Die Behörden hätten wissen müssen, daß das Agio auf Silber mächtig gestiegen ist, daß sogar Kupfer ein Agio von 10 Prozent trägt und daß überall die Bauernschaft alles hortet, das wie Metall klingt. Die Gouverneure von Böhmen und Niederösterreich haben die Öffentlichkeit an ein Gesetz erinnert, das jede Agiotage mit Silber- und Kupfermünzen mit einer Strafe von fünfzig Gulden und mehr belegt - aber alles vergebens. Derartige Abwehrmaßnahmen verfehlen ihre Wirkung um so sicherer, wenn sie mit solchen offiziellen Ankündigungen verknüpft sind wie die Bekanntmachung im offiziellen Teil der „Wiener Zeitung"[209], daß die Silberstücke zu sechs Kreuzern im Lombardisch-Venetianischen Königreich ab I.Juni aus dem legalen Umlauf gezogen werden. Die Regierung wird schließlich gezwungen sein, der Petition der Handelskammer von Niederösterreich nachzukommen und, so beschämend es auch sein mag, Banknoten mit dem beachtlichen Wert von 5, 10 und 25 Kreuzern für Einzelhandels-Transaktionen auszugeben. Erheben wir uns von den niedrigen Regionen der Einzelhandels-Transaktionen zu jenen des Geldmarkts und des Handels im wahrsten Sinne des Wortes, dann müssen wir zuerst den Ihnen bereits bekannten Bankrott der
22 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
bedeutenden Firma Arnstein& Eskeles vermerken, der am5. Mai erklärt wurde. Sie waren die führenden Wechselmakler der Hauptstadt, denen hauptsächlich die Diskontierung der Wechsel, die nicht sofort an der Bank gehandelt wurden, und die Rediskontierung der Wechsel von Fabrikanten und Kaufleuten aus den Provinzen oblag. Außer den Geldtransaktionen der Hauptstadt waren auch die der Fabrikanten von Ungarn, Böhmen und Schlesien in ihren Händen konzentriert. Die Firma rühmte sich eines 80jährigen Bestehens, und ihr Chef, Baron von Eskeles, vereinigte in seinen Händen die Ämter des Direktors der Nationalbank, des Generalkonsuls von Dänemark, des Vorsitzenden der Diskonto-Gesellschaft von Niederösterreich, des Präsidenten der Gesellschaft für Staatsbahnen, des Verwalters der Südbahn usw. Er war, mit einem Wort, neben Rothschild die höchste Finanzautorität des Reiches . Arnstein & Eskeles hatten zur Zeit des Wiener Kongresses eine bedeutende Rolle gespielt, als der Salon der Frau von Arnstein ein Zentrum für die geselligen Zusammenkünfte der politischen und literarischen Berühmtheiten der Zeit bildete. Eine der unmittelbaren Ursachen, die zu diesem Bankrott führten, bei dem es sich um eine Summe von ca. 30 000 000 Dollar handelt, war die Weigerung des Pariser Credit mobilier[18], die Wechsel der Wiener Firma zu honorieren. Nach ihrem Zusammenbruch verging kein Tag, ohne daß an der Wiener Börse eine ganze Liste von Bankrotten registriert wurde; die bedeutendsten unter diesen Firmen sind: Solomon Cammando, Eidam & Co., G. Blanc,Plecher&Co.,Diem&English, I.F. Gaartner, F.C.Schmidt, M. Greger & Co., die Gebrüder Pokaray, Moritz Kollinsky, Karl Zohler, A. Kirschmann u. a. Auf diese Katastrophe folgten unmittelbar damit in Verbindung stehende Bankrotte in den österreichischen Provinzen, so in Brünn, Prag, Reichenberg, Lemberg usw.; der bedeutendste davon war der Zusammenbruch der Firma Lutteroth & Co. in Triest, deren Chef preußischer Konsul und Direktor des Österreichischen Lloyd[210] ist. Über die Grenzen des österreichischen Staates hinaus haben einige erstklassige Häuser in Breslau, Magdeburg, München, Frankfurt sowie die Leih- und Kommerzbank in Kassel falliert. Ganz allgemein erinnert die gegenwärtige Panik an die Handelspanik in Hamburg im Herbst 1857[211], und die Hamburger Maßnahmen zur Beruhigung der Panik werden ebenfalls von der Regierung imitiert. Die Wechselgesetzgebung soll eine Milderung erfahren, die Nationalbank wird eine Kommission zur Unterstützung der nur durch den augenblicklichen allgemeinen Mißkredit zur Zahlungseinstellung gezwungenen Firmen bilden, und den Banken von Prag und Brünn sollen zwei Millionen Papiergeld bewilligt werden. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der Krieg geht nicht vorwärts
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5647 vom 27. Mai 1859, Leitartikel] Unsere letzten Telegramme vom Kriegsschauplatz, die gestern mit der „Asia" ankamen, erstrecken sich bis zum 13. d. M., also auf genau drei Tage länger als die Nachrichten von der „Vanderbilt". Diese Telegramme bestehen aus kurzen und ziemlich konfusen Bulletins der sardinischen Regierung; die Österreicher geben keine Berichte über ihre Bewegungen. In diesen drei Tagen ereignete sich nichts von großer Bedeutung. Der Feldzug behauptet in bezug auf Langsamkeit weiterhin seinen Vorrang in den Annalen der modernen Kriegführung. Wir glauben uns fast in jene vorsündflutlichen Zeiten einer pomphaften und untätigen Kriegführung zurückversetzt, denen Napoleon solch ein plötzliches und entschiedenes Ende bereitet hatte. Da stehen sich zwei riesige Armeen auf einer mehr als 40 Meilen langen Linie gegenüber, von denen jede in der Lage ist, mit 100 000 bis 140 000 Mann auf dem Felde zu operieren. Die eine rückt heran, die andere rekognosziert, streckt mal an diesem, mal an jenem Punkt der feindlichen Position ihre Fühler aus und zieht sich dann zurück, während die erstere Armee auf dem Gelände, das sie besetzt hält, verharrt, so daß nunmehr eine Entfernung von acht bis zwanzig Meilen beide voneinander trennt. Es gibt einige Tatsachen, die eine vernünftige Erklärung für diese Anomalie geben; doch es bleibt trotzdem eine Anomalie, und zwar infolge des Fehlers, den die angreifende Partei zu Beginn des Feldzuges beging. Wie wir bereits dargelegt haben1, wurde der ganze Zweck und das Ziel der österreichischen Invasion in Piemont durch eine Indolenz und Unentschlossenheit der österreichischen Bewegungen vereitelt, die kaum etwas anderem als der
Wankelmütigkeit des Generals Gyulay zuzuschreiben sind. Die seitdem erhaltenen Berichte bestätigen diese Ansicht vollauf. Die Österreicher geben keine Erklärungen für das merkwürdige Verhalten ihrer Armee - ein klarer Beweis, daß die volle Verantwortung dafür ihren Oberbefehlshaber trifft.Tatsächlich begannen die österreichischen Bulletins bereits eine Woche nach Beginn des Feldzuges vom schlechten Wetter und vom überschwemmten Zustand des Landes zu sprechen, um damit zu begründen, daß ihr General gezwungen war, seine Truppen aus den fieberschwangeren Reissümpfen des Po zurückzuziehen. Und nun schreibt uns unser gut informierter Londoner Korrespondent, daß der österreichische Kaiser Gyulay seines Oberbefehls enthoben und, in Nachahmung des Beispiels von Louis-Napoleon, gemeinsam mit General Heß das Kommando übernehmen wird. Soweit wir es jetzt beurteilen können, scheint der Feldzug folgendermaßen verlaufen zu sein: Zuerst wurde der österreichische rechte Flügel gegen Novara und Vercelli vorgeschoben, verbunden mit Demonstrationen am Lago Maggiore. Das Zentrum und wohl auch der linke Flügel, die über Vigevano und Pavia in parallelen Linien marschierten, blieben ziemlich weit zurück. Die Kolonne von Pavia erreichte mit ihrem Hauptteil Lomello erst am 2. Mai. Die vorgeschobene Stellung des rechten Flügels hatte anscheinend zum Ziel, erstens die Aufmerksamkeit der Verbündeten durch einen angedrohten Angriff auf die Dora und auf Turin abzulenken und zweitens die Ressourcen des oberen Teils der Lomellina zum Nutzen der österreichischen Armee zu requirieren. Erst am 3.Mai entwickelte sich der Angriff des Hauptteils der österreichischen Armee gegen die Linie von Casale und Valenza. Am 4. Mai wurden Demonstrationen gegen Frassineto (gegenüber der Mündung der Sesia in den Po) und Valenza unternommen, während der rechte Flügel näher an das Zentrum herangezogen wurde; gleichzeitig wurde eine Brücke über den Po zwischen Cambio und Sale geschlagen und am südlichen Ufer des Flusses ein Brückenkopf errichtet. Einigen Berichten zufolge stellte hier das achte österreichische Armeekorps, das von Piacenza aus am südlichen Ufer des Po entlang marschiert sein soll, die Verbindung mit dem Hauptteil her und überquerte den Fluß nach einer kurzen Exkursion nach Tortona und Voghera und der Zerstörung der Eisenbahnbrücke über die Scrivia. Anderen Berichten und einigen unserer letzten Telegramme zufolge befindet sich jedoch noch eine österreichische Streitkraft auf der Straße zwischen Piacenza und Stradella. Es ist schwer zu sagen, ob die gemeldete Exkursion nach Voghera als Scheinangriff gegen Novi und die Kommunikationen zwischen Genua und Alessandria beabsichtigt war; jedenfalls verführte sie die meisten der erfahrenen Redakteure von Turin, Paris und London dazu, eine ent
scheidende Schlacht auf dem alten Schlachtfeld von Novi oder in der Nähe von Marengo zu prophezeien; diese Prophezeiung wurde sofort durch den Rückzug der Österreicher auf die nördliche Seite des Po und den Abbruch ihrer Brücken zunichte gemacht. Nach den ersten Maitagen hatten sehr schwere Regenfälle eingesetzt. Der Po stieg damals bei Pavia um zehn bis zwölf Fuß und die Nebenflüsse dementsprechend. Die Überschwemmungen der Reisfelder im Po-Tal-gewöhnlich kein Hindernis für eine marschierende Armee, da die Straßen von den Deichen über dem Hochwasserstand gebildet werden - wurden nun eine ernste Angelegenheit; das ganze Land und viele Straßen wurden überflutet. Außerdem marschierten die Österreicher nicht; sie blieben in diesem Sumpf und mußten entweder auf den Straßen oder den nassen Feldern kampieren. Nachdem sie einige Tage inmitten dieser Überschwemmung ausgeharrt hatten, waren sie gezwungen, sich auf höher-! gelegeneren und trockeneren Boden zurückzuziehen. Sie müssen jedenfalls schwere Verluste durch Krankheit, besonders Cholera und Fieber, erlitten haben. Es folgte nun eine Konzentrationsbewegung auf die Gegend um Mortara und Novara, ein Rückzug nicht vor dem Feind (denn der blieb ganz ruhig in seinen Linien), sondern vor den Elementen. Seitdem haben die Österreicher Befestigungen an der Linie der Sesia errichtet und rekognoszierende und fouragierende Truppen bis dicht an die Dora-Linie geschickt, die die äußerste Linke der alliierten Position bildet. Bei all diesen Operationen können wir kein einziges Merkmal guter Feldherrnkunst entdecken. In der Tat, nachdem der erste günstige Moment für einen Angriff auf die alliierte Position einmal verpaßt war, wurde der ganze Vormarsch nach der Lomellina vollkommen zwecklos und verlor seine Bedeutung. Das Vorschieben des österreichischen rechten Flügels war ein entschiedener Fehler. Es durfte keine Zeit mit Täuschungsmanövern vergeudet werden. Der einzig richtige Operationsplan war, geradewegs auf den Feind loszumarschieren, ihn anzugreifen und zu schlagen, bevor er seine Kräfte völlig konzentrieren konnte. Wenn es stimmt, daß Benedeks achtes Korps das südliche Ufer des Po entlangmarschierte, so war dies ein weiterer Fehler; es wurde von dem Hauptteil der Armee durch einen großen Fluß getrennt, und wenn der Regen ein oder zwei Tage früher eingesetzt hätte, dann wäre der Brückenschlag bei Cambio unmöglich gewesen, und die Österreicher hätten sich selbst in jener abgetrennten Position befunden, in der sie den Feind zu finden hofften. Die ganze Überquerung des Po wurde ihnen anscheinend von der Notwendigkeit aufgezwungen, Benedek herüberzubringen. Warum war er nicht von Anfang an auf dem nördlichen Ufer? Durch das Brückenschlagen über den Po und die damit verbundenen Operationen waren
sie gezwungen, sich einige Tage länger in den pestilenzialischen Sümpfen aufzuhalten, als es sonst nötig gewesen wäre. Schließlich scheint der ganze Feldzug schlecht geführt worden zu sein. In all diesen österreichischen Bewegungen gibt es keine Entschlossenheit. Demonstrationen werden nach allen Richtungen unternommen, doch wir sehen nirgends eine Bewegung zu einem wirklichen Angriff. So tasten sie sich auf ihrem Weg die ganze Linie des Feindes entlang, bis schließlich die Überschwemmung eine unüberwindliche Barriere in der Breite von einigen Meilen zwischen den streitenden Heeren aufrichtet. Aus Mangel an besserer Beschäftigung und um wenigstens tätig zu erscheinen, rekognoszieren sie nunmehr in Richtung auf die Dora; doch all diese Erkundungen wurden von kleinen fliegenden Kolonnen ausgeführt, die nicht schlagkräftig handeln können und umkehren müssen, sobald sie auf irgendeine vorgeschobene Stellung stoßen. Während die Österreicher also in Wirklichkeit nichts tun, scheinen ihre Gegner mit demselben Spiel beschäftigt zu sein. Sie sind jetzt soweit konzentriert, wie sie es auf der langen Linie, die sie besetzt halten, nur sein können. Ihre Stellungen sind folgende: Die äußerste linke Linie, gebildet von der Dora und dem Po bis Casale, wird von dem französischen Korps des Generals Niel besetzt, das zwei Divisionen umfaßt. Der linke Flügel befindet sich bei Casale und besteht aus zwei piemontesischen Divisionen und 3000 Freiwilligen unter Garibaldi. Das Zentrum bei Valenza wird von dem französischen Korps des Generals Mac-Mahon und einer piemontesischen Division gebildet - zusammen drei Divisionen. Der rechte Flügel, bei Alessandria, besteht aus dem französischen Korps Canroberts und einer piemontesischen Division - zusammen drei Divisionen. Auf der äußersten Rechten bei Novi und Arquata ist das französische Korps von Baraguay d'Hilliers und eine piemontesische Division - zusammen drei Divisionen. Die Reserve bilden zwei Divisionen der französischen Garde in Genua. Wenn wir die Division auf 10 000 Mann schätzen - das wird hoch genug sein, da die Franzosen keine Zeit hatten, ihre Beurlaubten zurückzurufen und deshalb weniger zählen, während die sardinischen Divisionen stärker sind -, kämen wir auf insgesamt 150 000 Mann; das ist ungefähr die Stärke der jetzt auf Seiten der Alliierten aufgestellten Truppen. Davon könnten 110 000 bis 120 000 Mann im Kampf eingesetzt werden. Ihr bisheriges außerordentlich passives Verhalten mag teilweise von der mangelnden Vorbereitung seitens der Franzosen herrühren, die sehr wenig Artillerie und Munition bei sich führen, und teilweise auf Befehle von Louis-Napoleon zurückzuführen sein, der zweifellos beabsichtigt, selbst die ersten Lorbeeren des Feldzuges zu ernten. Dieser neue General traf am 12. in Genua ein, wo er vom Volk mit Beifall empfangen wurde. Am
13. sah er den König1, der zur Unterredung aus dem Lager kam. Am gleichen Tage erließ er eine napoleonische Proklamation, deren Wortlaut wir auf einer anderen Seite bringen, und am 14. wollte er sich zur Armee begeben. Die Regenfälle scheinen nun auch nachgelassen zu haben, und die nächste oder übernächste Post kann uns Nachrichten bestimmteren Charakters bringen. Dieser Zustand des Zögerns und der Inaktivität kann nicht mehr lange anhalten. Entweder müssen die Österreicher wieder über den Po zurück, oder es muß eine Schlacht in der Lomellina geschlagen werden. Es mag sein, daß die Österreicher eine starke Verteidigungsposition gesucht und vorbereitet haben, um dort den Ansturm der alliierten Truppen aufzufangen. Falls sie eine gefunden haben, wäre dies das Klügste, was sie tun konnten; sie können nicht gut ohne jeden Kampf zurückgehen und wären in einer solchen Position gleichzeitig imstande, ihre ganze Streitkraft, die sie nunmehr zur Verfügung haben, ins Gefecht zu werfen, während die Alliierten durch die Garnisonen geschwächt würden, die sie in Casale, Alessandria und Valenza zurücklassen müßten. In der Zwischenzeit halten beide Parteien nach Verstärkung Ausschau. Österreich hat ein Korps von 50 000 Mann unter General Wimpffen nach Triest und Umgebung geschickt, das als eine Reserve für die Italienarmee dienen soll, währenddessen Louis-Napoleon zwei weitere Armeekorps für Italien organisiert hat; außerdem schwirren Gerüchte umher, daß Prinz Napoleon ein buntscheckiges Heer führen wird, das irgendwo auf der Halbinsel landen soll, um dort für ihn ein Königreich zu erobern.
Geschrieben am 16. Mai 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Endlich eine Schlacht
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5655 vom 6. Juni 1859, Leitartikel] Die „City of Washington", die am 25. vorigen Monats von Liverpool abfuhr und am letzten Donnerstag abend das Cape Race passierte, bringt vom Kriegsschauplatz außergewöhnlich interessante Nachrichten. Die Rückzugsbewegung der Österreicher und der alliierte Vormarsch zur Wiederbesetzung der Lomellina haben ohne Zweifel begonnen, wenn sie auch anscheinend nicht sehr rasch vor sich gehen, da das österreichische Hauptquartier, das am 19. nach Garlasco, einem Gehöft in der Nähe des Ticino auf der Strecke von Vigevano nach Groppello, verlegt worden war, sich am 24. noch immer dort befand. Südlich des Po fand jedoch bei Montebello, einer kleinen Stadt an der Straße von Stradella nach Voghera, ein Gefecht zwischen einer Einheit des Korps von Stadion und der Avantgarde von Baraguay d'Hilliers statt, bei dem die Alliierten nach ihren eigenen Angaben entschieden im Vorteil waren. Unsere Informationen über diese Affäre sind notgedrungen noch recht kurz. Die Franzosen berichten, daß Foreys Division mit 6000 bis 7000 Mann (ihre Gesamtstärke beträgt 10 000) und einem Regiment piemontesischer Kavallerie eine österreichische Streitmacht von 15 000 oder die Hälfte des gesamten von Stadion geführten Korps engagierte und daß die Österreicher nach vierstündigem harten Kampf zurückgeschlagen wurden; dabei verloren sie 1500 bis 2000 Tote und Verwundete und 200 Gefangene, von denen einige bereits in Marseille eingetroffen sind, während der Verlust der Alliierten nur 600 bis 700 betrug. Die Niederlage der Österreicher war jedoch nicht so entscheidend, daß sie den Alliierten gestattet hätte, den auf dem Rückzug befindlichen Feind zu verfolgen. Der österreichischen Version zufolge hatte Stadion eine Truppeneinheit zum Rekognoszieren über den Po geschickt. Sie war in Richtung auf Voghera bis nach Montebello vorgestoßen, wo sie auf eine überlegene französische Einheit stieß
und sich nach heftigem Kampf in guter Ordnung hinter den Po zurückzog. Diese Diskrepanz in den Berichten ist nicht außergewöhnlich, wenn man die Übertreibungen bedenkt, die bei solchen Gelegenheiten in Ermangelung positiver offizieller Zahlen stets auftreten. Wir müssen auf präzisere Nachrichten warten, bevor wir die Bedeutung und die wesentlichen Grundzüge des Gefechtes beurteilen können. Auf jeden Fall war es bloß ein Handgemenge zwischen Vorposten und keine große Schlacht, in der die Stärke der sich gegenüberstehenden Armeen und die Fähigkeit der Generale wirklich erprobt wird. Während der zweite Akt des Dramas so leidlich begonnen hat, haben die Materialien für eine kritische Untersuchung der Operationen im ersten Akt durch die Briefe der Korrespondenten der Londoner „Times" und der Augsburger „Allgemeinen Zeitung" beim österreichischen Hauptquartier eine wertvolle Ergänzung erfahren. Ohne diese wären wir gezwungen, die österreichischen Manöver zu beurteilen nach den piemontesischen Bulletins, die natürlicherweise nicht die volle Wahrheit darüber enthalten, und nach den österreichischen Bulletins, die fast gar nichts berichten. Um die vielen Lücken zu füllen, hatten wir vorerst nichts weiter als die widersprechenden Gerüchte und Mutmaßungen, die bei den gegenwärtig in Piemont weilenden Offizieren und Zeitungskorrespondenten umliefen - Gerüchte, deren Glaubwürdigkeit in der Tat sehr gering war. Da die Österreicher die Initiative des Feldzuges ergriffen hatten und sie bis zu ihrem Rückzug aus Vercelli behielten, während die Alliierten eine verhältnismäßig passive Haltung bewahrten, stand die Armee im Mittelpunkt des Interesses, von der wir keinerlei oder bestenfalls nur nichtssagende Informationen erhielten. Es ist daher nicht verwunderlich, daß wir in Detailfragen zu Schlußfolgerungen gelangten, die jetzt durch die Tatsachen nicht bestätigt wurden. Im Gegenteil, es ist erstaunlich, daß es uns im großen und ganzen gelang, die Wesenszüge des Feldzuges richtig einzuschätzen. Es gibt nur einen wichtigen Punkt, in dem wir von dem abwichen, was nun als der ursprüngliche Plan der Österreicher dargestellt wird. Jedoch ist noch sehr fraglich, ob dieser Plan von Anbeginn genau verfolgt wurde, wie dies jetzt behauptet wird, oder ob der gegenwärtige „Originalplan" nichts anderes ist als ein nachträglicher Einfall. Wir glaubten, als uns die erste Nachricht von der Invasion Piemonts durch die Österreicher erreichte, daß ihre Absicht weiterhin wie bisher offensichtlich darin bestand, die piemontesische Armee und die französische Vorhut mit einem Eilmarsch zu überfallen, bevor der Hauptteil der Franzosen eintreffen konnte. Jetzt erhalten wir die Information, daß diese Idee schon vorher aufgegeben worden war. Die Österreicher standen scheinbar unter
dem Eindruck, daß die Franzosen am 24. begonnen hätten, das piemontesische Territorium zu betreten, obgleich kein französisches Regiment vor dem 26. seinen Fuß auf piemontesischen Boden setzte, und diese falsche Nachricht mag sie veranlaßt haben, alle Versuche eines coup de main gegen jegliche Truppen, die ihnen gegenüberstehen sollten, aufzugeben. Infolgedessen verlor die Invasion jenen ungestümen Charakter, den ihr die Verfolgung des größeren Zieles verliehen hätte. Sie war lediglich ein Beginn der vom Kaiser befohlenen Feindseligkeiten und hatte kein anderes Ziel, als einen Teil des feindlichen Territoriums zu besetzen, seine Ressourcen den Eindringlingen zugänglich zu machen und die verteidigende Armee der Nutznießung dieser Ressourcen zu berauben. Bei einer solchen Zielsetzung war es ziemlich klar, daß die Invasion an der Sesia und am Po, bei Vercelli und Valenza haltmachen mußte. In diesem Fall war keine Eile erforderlich. Methodisch, langsam und sicher marschierte die österreichische Armee ins piemontesische Gebiet. Es gab noch einen anderen Gesichtspunkt, der großen Einfluß auf diesen Verlauf der Aktion hatte. Die Österreicher bewegten sich auf den zwei Hauptstraßen, die von Osten nach Westen durch die Lomellina führen, die eine von Pavia nach Valenza, die andere von Abbiategrasso nach Vigevano und Casale. Die nördliche Straße von Boffalora nach Vercelli wurde von ihnen überhaupt nicht benutzt. Diese beiden Straßen führen über zahlreiche Flüsse, die von Nordwesten nach Südosten fließen, von denen zwei, Terdoppio und Agogna, einige Bedeutung besitzen. Da die Brücken zerstört, die Straßen an vielen Stellen aufgebrochen und die Niederungen rechts und links der Straßen entweder überschwemmt oder vom Wasser aufgeweicht waren, wurde der Vormarsch sehr verzögert, und die ganze Armee, 150 000 bis 180000 Mann, mußte auf diesen zwei Straßen marschieren. Wir sind daher gar nicht erstaunt, wenn wir jetzt erfahren, daß das letzte Korps der österreichischen Armee den Ticino nicht vor dem 1. Mai überquerte, denn ein Korps von 30 000 bis 35 000 Mann, das auf einer einzigen Straße mit Gepäck und Train marschiert, nimmt wenigstens eine Länge von 12 bis 15 Meilen ein, was einem Tagesmarsch entspricht; da drei Korps auf der Straße von Pavia nach Casale marschierten, folgt daraus, daß das dritte dieser Korps den Ticino bei Pavia zwei Tage nach dem ersten überquerte. Die Avantgarde passierte am 29. Pavia; es war eine Brigade des fünften Korps unter General Festetics. Ihr folgte das ganze dritte Korps (Schwarzenberg), das nach Groppello vormarschierte. Am gleichen Tage passierte ein anderes Korps, das siebente (General Zobel), weiter nördlich bei Bereguardo und ging nach Gambolo. Am 30. folgte das achte Korps (Benedek) dem dritten bei Pavia, und das fünfte (Stadion) folgte dem siebenten bei
Bereguardo. Am l.Mai passierte das zweite Korps (Liechtenstein) Pavia. In dieser Formation passierte die Armee, deren äußerste Rechte das siebente Korps, deren Zentrum das fünfte, dritte und zweite und deren äußerste Linke das achte Korps bildete, zuerst den Terdoppio, dann die Agogna und gelangte schließlich gegen Abend des 2. an den Po und die Sesia. Daraus ersehen wir, daß die piemontesischen Berichte über große Truppendurchmärsche bei Boffalora und Arona völlig falsch waren (eine Tatsache, die Garibaldis widerstandsloser Vormarsch nach Graveilona am Lago Maggiore vollauf bestätigt); ebenso irrten sie mit der Annahme, General Benedek wäre mit dem achten Korps von Piacenza ausgezogen und als vereinzelte Kolonne am südlichen Ufer des Po entlangmarschiert. Im Gegenteil, die Österreicher marschierten auf einer so engen Frontlinie (12 Meilen), wie eine Armee von 150 000 Mann nur marschieren kann. Sie hielten sich so dicht und reglementsgemäß wie möglich zusammen und hatten nur einige wenige fliegende Kolonnen an ihren Flanken bei Novara, Arona und südlich vom Po. Nun scheint uns gerade dieser streng methodische Marsch zu beweisen, daß die Österreicher die Absicht, die Piemontesen anzugreifen, nicht völlig aufgegeben hatten. Da der Feind offenkundig vor Erreichung seiner Verteidigungslinie nicht in der Lage war, ernsthaften Widerstand zu leisten, hätte dies andererseits bedeutet, die Truppen unnötigen Strapazen und Mühsalen auszusetzen, indem man sie auf solch engen Raum beschränkte. Die Straße nach Novara hätte ohne Nachteil und mit unermeßlichem Vorteil benutzt werden können, da Vercelli unter allen Umständen eines der unumgänglichen Objekte bei einer bloßen Okkupation der Lomellina und von Novarese war. Daß dieser Vorteil ungenutzt blieb, scheint uns ein sicherer Beweis dafür zu sein, daß im österreichischen Hauptquartier noch Hoffnung vorhanden war, eine Chance zu finden, mit überlegener Stärke und unter günstigen Umständen die feindlichen Kräfte bei Casale oder Alessandria anzugreifen. Ein coup de main gegen Novi (dem Knotenpunkt der Eisenbahnverbindung zwischen Genua, Alessandria und Stradella) scheint jedenfalls in Betracht gezogen worden zu sein. Um ihn zu ermöglichen, wurde in der Nacht zum 3. bei Cornale eine Brücke über den Po geschlagen, und General Benedek passierte sie mit seinem achten Korps. Er entwickelte große Aktivität; in weniger als zwölf Stunden besetzte er Voghera, Castelnuovo an der Scrivia und Tortona, zerstörte die Eisenbahnbrücken und wäre sehr wahrscheinlich gegen Novi vorgegangen, wenn ihn nicht der Regen und das plötzliche Steigen des Po, das seine Brücke teilweise zerstörte, zum Rückzug gezwungen hätte, da er seine Verbindung mit der Hauptarmee nicht verlieren durfte. Die Brücke wurde in Ordnung gebracht, und die gesamte österreichische Streitkraft war wieder auf dem nördlichen
Ufer des Po konzentriert. Das Wetter machte einen Aufenthalt in den überschwemmten Niederungen des Po unmöglich. Deshalb ging die Armee weiter nördlich zwischen Garlasco, Mortara und Vercelli in Stellung und benutzte den Umstand, daß die Hauptstreitkräfte in der Nähe der Sesia standen, um in dem westlich von diesem Fluß gelegenen Bezirk zu rekognoszieren und zu fouragieren. Dies gelang ihnen, ohne nennenswerten Widerstand zu finden. Am 9. gaben sie das westliche Ufer der Sesia, ausgenommen Vercelli, auf und verlegten ihr Hauptquartier nach Mortara, wo sie, wie bereits berichtet, bis zum 19. blieben. Während sie sich in Mortara aufhielten, schlugen sie eine Brücke über den Po, nahe der Mündung des Ticino, und ein Korps - über seine Stärke und Zusammensetzung ist nichts bekannt - besetzte die Position der Stradella und fouragierte in den südlichen Gebieten Piemonts, die an das Herzogtum Parma angrenzen. Wir vermuten, daß dies das Korps war, mit dem Forey im Gefecht von Montebello aneinander geriet. Aber hierüber müssen wir genauere Information abwarten. Die Sardinier sind anscheinend dabei, die ganzen Freuden der französischen Allianz kennenzulernen. Ihre Armee soll zerstückelt werden; anstatt ein separates Korps zu bilden und eigenen Ruhm zu ernten, soll jede ihrer fünf Divisionen ein Anhängsel eines der fünf französischen Armeekorps werden, in denen sie natürlich ganz aufgehen, so daß die gesamte Befehlsgewalt und der ganze Ruhm ausschließlich den Franzosen gehören wird. Genua mit Forts und allem ist bereits vollkommen in den Besitz der Franzosen übergegangen, und nun wird die sardinische Armee nur noch als eine Art Anhängsel der Franzosen existieren. Die napoleonische Befreiung Italiens beginnt ihre ersten Früchte zu tragen. Obwohl gar nichts Erstaunliches oder Unwahrscheinliches an den Anklagen ist, die die Sardinier gegen die Osterreicher wegen brutaler Greueltaten und Plünderei in der Lomellina vorbringen, ist es nur gerecht zu sagen, daß die Korrespondenzen der Londoner „Times" und der Augsburger „Allgemeinen Zeitung" vom österreichischen Hauptquartier ein anderes Licht auf die Angelegenheit werfen. Diesen Quellen zufolge übersteigt in der Lomellina und in der Lombardei der Haß der Bauernschaft gegen die Gutsbesitzer bei weitem ihre Abneigung gegen die ausländischen Unterdrücker. Nun sind die Gutsbesitzer der Lomellina (ehemals eine österreichische Provinz) meist sudditi misti, gemischte Untertanen, die sowohl zu Österreich wie zu Piemont gehören. Alle hohen Adligen von Mailand haben große Besitzungen in der Lomellina. Sie sind Piemontesen und im Herzen anti-österreichisch; im Gegensatz dazu ist die Bauernschaft der Provinz Österreich ziemlich gewogen. Das bewies der herzliche Empfang, den die Österreicher in der Lomellina fanden, und es scheint, daß
ihre Requirierungen und Eintreibungen so weit wie möglich auf den Besitz der Adligen und auf die Städte, den Sitz des italienischen Patriotismus, beschränkt waren, während die Bauernschaft weitmöglichst verschont wurde. Diese Politik ist typisch österreichisch und die gleiche wie 1846[212]; dies erklärt zugleich das Geschrei der piemontesischen Presse über Requirierungen, die im Grunde genommen nicht das übersteigen, was bei moderner Kriegführung üblich ist, und nicht das erreichen, was französische Truppen gewöhnlich eingetrieben haben.
Geschrieben um den 24. Mai 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Schlacht von Montebello
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5659 vom 10. Juni 1859, Leitartikel] Die Post, die mit der „Africa" eingetroffen ist, vergrößert kaum unser bisheriges Wissen über diese berühmte Schlacht, von der die bonapartistische Presse beiderseits des Atlantiks so viel Wesens gemacht hat. Von Gyulays Bericht haben wir bis jetzt nur einen kurzen telegraphischen Auszug, und die meisten französischen und sardinischen Darstellungen sind lediglich Turiner und Pariser Geschwätz und können nur geringe Ansprüche auf Genauigkeit erheben, da sie noch nicht einmal die Nummern der beteiligten Regimenter richtig angeben. Dieser Mangel wird zwar einigermaßen ausgeglichen durch General Foreys Bericht, den wir durch die „City of Washington" am Montag abend erhielten, aber Forey vermeidet es, die Stärke oder die Verluste der Österreicher anzugeben. Von Baraguay d'Hilliers erfuhren wir leider gar nichts; sein Bericht würde bestimmt einige unklare Fragen aufhellen, da neben Foreys Division auch Truppen seines Korps eingesetzt waren. Während wir also ausführlichere und authentischere Nachrichten abwarten, können wir doch einige Betrachtungen anstellen, die sich auf ein sorgfältiges Studium des gesamten uns vorliegenden Materials stützen und die nicht ohne Wert sein mögen. Als die Österreicher die Nachricht erhielten, daß die Franzosen eine Bewegung auf die Po-Linie, zwischen Pavia und Piacenza, in Erwägung gezogen hätten, schlugen sie bei Vaccarizza in der Nähe von Pavia eine Brücke über den Po. Das Korps von General Stadion wurde hinübergeschickt, um die Lage und die Absichten des Feindes zu rekognoszieren. Stadion besetzte die Position der Stradella, einem Engpaß nahe am Fluß, wo sich ein Ausläufer der Apenninen, über den es keine chaussierten Straßen gibt, dem Po nähert, und schickte drei Brigaden (15 Bataillone mit ungefähr 18 Geschützen und vielleicht etwas Kavallerie)
gegen Voghera. Die Österreicher, die zweifellos starke Abteilungen auf ihrer Marschroute zurückließen, um sich den Rückzug zu sichern, stießen vor Casteggio auf die Vorposten des Feindes, die sie durch diese Stadt und durch das Dorf Montebello trieben. Sie drangen zum nächsten Dorf, Genestrello, vor, trafen dort aber auf eine Brigade der Division General Foreys (Brigade Beuret, 17. Jägerbataillon, 74. und 84. Linienregiment), und das Gefecht wurde stationär. Zu diesem Zeitpunkt waren offensichtlich nur wenige österreichische Truppen am Kampf beteiligt - ungefähr eine Brigade. Die Franzosen wurden unverzüglich durch vier Bataillone der anderen Brigade Foreys verstärkt (98. Regiment unter Blanchard und ein Bataillon des 91. Linienregiments). Das gab ihnen die zahlenmäßige Überlegenheit. Beurets Brigade formierte sich zum Angriff, nahm Genestrello und darauf nach hartnäckigem Kampf Montebello, aber bei Casteggio, jenseits des kleinen Flusses, an dem es liegt, verstärkten die Österreicher ihren Widerstand. Hier erhielten sie höchstwahrscheinlich frischen Nachschub, denn sie trieben die in Unordnung geratenden Franzosen nach Montebello zurück und waren gerade dabei, wieder in das Dorf einzudringen, als sie auf einen Teil der Division General Vinoys, bestehend aus dem 6. Jägerbataillon und dem 52. Linienregiment, stießen. Das gab wiederum den Ausschlag zugunsten der Franzosen, und die Österreicher zogen sich wohlgeordnet nach Casteggio zurück, wo sie eine Nachhut ließen, bis sie ihre Truppen wieder in Marschordnung gebracht hatten. Nachdem sie so ihren Auftrag erfüllt und sich vergewissert hatten, wo das Korps Baraguay d'Hilliers (das den äußersten rechten Flügel der Franzosen bildete) stand, zogen sie sich unbelästigt über den Po zurück, mit der Gewißheit, daß die Alliierten bis dahin nicht die Absicht hatten, auf Piacenza zu marschieren. Die Österreicher können nicht mehr als etwa zwei Brigaden auf dem Schlachtfeld gehabt haben, denn mindestens drei Bataillone mußten auf der Straße zurückgelassen werden und weitere zwei waren erforderlich, um zwei Bataillone des französischen 91. Regiments bei Oriolo abzuwehren, von dem also nur ein Bataillon bei Montebello focht. Von diesen zwei Brigaden oder zehn Bataillonen kann nur ein Teil engagiert gewesen sein, denn der österreichische General, der seine letzten Reserven bei einer Rekognoszierung eingesetzt haben würde, hätte dafür bestimmt einen sehr strengen Verweis erhalten. Auf französischer Seite standen drei Regimenter (das 74., 84. und 98.) und ein Linienbataillon (des 91.), außerdem ein Jägerbataillon - insgesamt elf Bataillone, die gegen Ende der Schlacht durch zwei Bataillone des 52. und eines der 6. Jäger verstärkt wurden. So haben wir, alles in allem, fünf
zehn französische Bataillone gegen rund zehn österreichische Bataillone; und obwohl diese sicher stärker waren, war die zahlenmäßige Überlegenheit dennoch auf französischer Seite, als der Kampf eine andere Wendung nahm. Außerdem sollte man bedenken, daß die Österreicher nicht so sehr um einen Sieg kämpften, sondern vielmehr ihre Gegner zwingen wollten, zu zeigen, welche Kräfte sie an einer bestimmten Stelle zur Verfügung hatten. Dieses Ziel hatten sie voll und ganz erreicht. Es ist daher absurd, dieses unbedeutende Gefecht als einen bedeutenden Sieg zu betrachten. Bei solchen riesigen Armeen, wie sie sich jetzt auf den italienischen Ebenen gegenüberstehen, ist eine Affäre wie die von Montebello von keiner größeren Bedeutung als ein bloßer Zusammenstoß von Vorposten in Kriegen geringen Ausmaßes. Und wenn dies schon ein Sieg sein soll, wo sind dann seine Früchte? Die Franzosen berichten, daß sie 140 Verwundete und 60 Unverwundete gefangennahmen; das ist nicht mehr, als sie billigerweise nach einem mehrstündigen Kampf um ein Dorf erwarten konnten. Sie erbeuteten auch einen Munitionswagen und verloren einen. Aber keine Verfolgung, kein Versuch, die Früchte des Sieges zu ernten, obwohl die Franzosen über genügend piemontesische Kavallerie verfügten. Die Österreicher erteilten offensichtlich den letzten Schlag und marschierten dann in tadelloser Ordnung und unbelästigt zurück,
Geschrieben um den 24. Mai 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Eine preußische Meinung zum Krieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5659 vom 10. Juni 1859] Berlin, 24. Mai 1859^ Der Krieg, den der französische Autokrat angestiftet hat, bleibt zweifellos nicht nur nicht „lokalisiert", worunter im Sinne des politischen Jargons zu verstehen ist, daß die kriegerischen Operationen nicht über die Grenzen der italienischen Halbinsel hinausgetragen werden sollen; der Krieg wird im Gegenteil nicht einmal auf den Rahmen eines üblichen Krieges beschränkt bleiben, der zwischen selbstherrlichen Regierungen ausgefochten und durch den Kampf ausgebildeter Armeen entschieden wird. In seinem weiteren Verlauf wird er sich in eine allgemeine revolutionäre Feuersbrunst des kontinentalen Europas verwandeln, aus der nicht viele der jetzigen Herrscher ihre Kronen und ihre Dynastien werden retten können. Deutschland kann zum Zentrum des Umschwungs werden, weil es in demselben Augenblick, in dem Rußland soweit ist, sein Schwert in die Waagschale zu werfen, zum Zentrum der militärischen Operationen werden muß. Es bedarf nicht vieler Überlegungen, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß eine ernsthafte Niederlage auf dem Schlachtfeld zu revolutionären Ausbrüchen in Frankreich oder Österreich führen wird, aber Berlin ist vielleicht der einzige Ort, der die notwendigen Angaben liefert für die Bestimmung der Ausmaße der schweren Prüfungen, welche Deutschland in naher Zukunft zu bestehen hat. Fast mit bloßem Auge kann man Tag um Tag das Anwachsen der Bedingungen beobachten, die nach Erreichung eines gewissen Reifegrades eine so gewaltige Krise hervorrufen werden, wie sie sich die Philister aller Stände noch kaum vorzustellen vermögen. Ich kann die Symptome des kommenden Sturms in wenigen Worten zusammenfassen: Die eifersüchtige Rivalität der deutschen Fürsten, die sie in der ersten Phase des Krieges zur Inaktivität verurteilt;
23 Mars/Engels, Werke, Bd. 13
das soziale Elend und die Unzufriedenheit, die wie ein Lauffeuer von der Weichsel bis zum Rhein um sich greift und in der zweiten Phase des Krieges zu der ausländischen Aggression innere Unruhen hinzufügen wird; und schließlich die Erhebung der Deutschland einverleibten slawischen Völkerschaften, wodurch dann der Krieg nach außen und die revolutionäre Erschütterung mit einem Kampf der Nationalitäten innerhalb des Landes zusammenfallen werden. Betrachten wir zunächst einmal die soziale Basis, auf der die deutschen Fürsten stehen, wenn die Macht der Umstände sie schließlich zwingen wird, sich für eine gemeinsame Handlungsweise zu entscheiden. Es ist Ihnen bekannt, daß die Periode von 1848 bis 1859 eine Epoche darstellt, die in der ökonomischen Entwicklung Deutschlands beispiellos ist. Während dieser Zeit hat es sich gewissermaßen aus einem landwirtschaftlichen in ein industrielles Land verwandelt. Nehmen Sie als Beispiel eine einzige Stadt, Berlin: 1848 zählte sie kaum 50 000 männliche und weibliche Fabrikarbeiter, während bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihre Zahl auf insgesamt 180 000 angewachsen ist. Nehmen Sie einen einzigen Zweig der Industrie: Vor 1848 bildete der Wollexport nach England, Frankreich und anderen Ländern eine der wichtigsten deutschen Ressourcen, während gegenwärtig die in Deutschland erzeugte Wolle kaum den Bedarf der einheimischen Fabriken deckt. Gleichzeitig mit der Entwicklung von Fabriken, Eisenbahnen, Dampfschiffahrt und der Erschließung von Bodenschätzen ist plötzlich ein Kreditsystem emporgeschossen, das nicht nur dem allgemeinen Fortschritt von Industrie und Handel entspricht, sondern durch die aus Frankreich importierten Treibhausmanipulationen des Credit mobilier[18] über seine zulässigen Grenzen hinaus hochgetrieben wurde. Die Bauernschaft und das Kleinbürgertum, bis vor kurzem noch die gewaltige Mehrheit der Nation, hatten sich vor der Revolution von 1848 einfach an die alte asiatische Methode gehalten, das Hartgeld zu horten; jetzt haben sie es aber durch zinstragende Papiere aller Sorten, Farben und Werte ersetzt. Die Hamburger Krise von 1857[211] hatte dieses Gebäude einer neuartigen Prosperität leicht erschüttert, aber nicht ernsthaft beschädigt; aber nun beim allerersten Kanonendonner an Po und Ticino geriet es ins Wanken. Zweifellos sind Sie schon unterrichtet über die Auswirkung der österreichischen Handelskrise auf das übrige Deutschland und über die Bankrotte, die sich in rascher Folge in Leipzig, Berlin, München, Augsburg, Magdeburg, Kassel, Frankfurt und anderen kommerziellen Zentren Deutschlands zugetragen haben. Diese Zusammenbrüche sind jedoch nur der Ausdruck vorübergehender Katastrophen in den höheren kommerziellen Sphären. Um eine Vorstellung von der wirk
liehen Lage zu vermitteln, halte ich es für zweckmäßig, Ihre Aufmerksamkeit auf einen eben veröffentlichten Zirkularerlaß der preußischen Regierung zu lenken, in dem sie unter Hinweis auf die bedrohlichen Folgen der Entlassung ganzer industrieller Armeen in Schlesien, Berlin, Sachsen und Rheinpreußen erklärt, daß sie den Petitionen der Handelskammern von Berlin, Breslau, Stettin, Danzig und Magedeburg, die ihr das zweifelhafte Experiment empfehlen, mehr unkonvertierbares Papiergeld auszugeben, nicht Gehör schenken kann, und daß sie noch entschiedener ablehnt, die Arbeiter nur deshalb mit öffentlichen Arbeiten zu beschäftigen, damit sie Arbeit und Lohn erhalten. Die letztere Forderung klingt gewiß sonderbar in einem Augenblick, in dem die Regierung aus Mangel an Geldmitteln gezwungen war, die schon im Gange befindlichen öffentlichen Arbeiten plötzlich einzustellen. Allein die Tatsache, daß die preußische Regierung bereits zu Anfang des Krieges gezwungen ist, eine solche Proklamation zu erlassen, spricht Bände. Fügt man dieser plötzlichen Störung des industriellen Lebens eine allgemeine Auflage neuer Steuern in ganz Deutschland, eine allgemeine Erhöhung der Preise von lebensnotwendigen Waren und eine allgemeine Desorganisierung aller Geschäftsunternehmungen durch die Einberufung der Reserven und der Landwehr1 hinzu, können Sie sich eine ungefähre Vorstellung von den Ausmaßen machen, die das soziale Elend in einigen Monaten erreichen wird. Die Zeiten sind jedoch vorbei, wo die Masse des deutschen Volkes irdische Mißgeschicke als unabwendbare Heimsuchungen des Himmels anzusehen pflegte. Man hört bereits eine leise, aber vernehmbare Stimme im Volk die Worte murmeln: „Verantwortung! Wäre die Revolution von 1848 nicht durch Betrug und Gewalt niedergeschlagen worden, stünden sich Frankreich und Deutschland nicht wieder in Waffen gegenüber. Hätten die brutalen Unterdrücker der deutschen Revolution nicht ihre gekrönten Häupter vor einem Bonaparte und einem Alexander gebeugt, würde es heute keinen Krieg geben." Das ist das leise Grollen der Stimme des Volkes, die schließlich mit Donnerschlägen sprechen wird. Ich komme nun zu dem Schauspiel, das die deutschen Fürsten vor den Augen eines ziemlich ungeduldigen Publikums aufführen. Seit Anfang Januar setzte das österreichische Kabinett alle Hilfsmittel diplomatischen Intrigenspiels in Bewegung, um die deutschen Staaten zu veranlassen, eine große Bundesarmee unter weitgehender Einbeziehung österreichischer Truppen an einem Punkt in Süddeutschland zusammenzuziehen; diese Konzentration sollte Frankreich der Gefahr eines Angriffes auf seine Ostgrenzen aussetzen.
1 Landwehr: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch
Auf diese Weise sollte der Deutsche Bund[61] in einen Angriffskrieg hineingezogen werden, wobei sich Österreich gleichzeitig die Führung dieses Krieges vorbehielt. Einer Resolution dieses Inhalts, die von Hannover am 13. Mai dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde, trat Herr von Usedom, der preußische Bevollmächtigte, mit einem formellen Protest seiner Regierung entgegen. Hierauf erfolgte ein allgemeiner Ausbruch patriotischer Entrüstung seitens der Fürsten Süddeutschlands. Nun wurde von Preußen das Gegenstück inszeniert. Bei der Vertagung ihres Landtages hatte sich die preußische Regierung eine kurzfristige Popularität gesichert, indem sie erklärte, sie wäre zu einer Politik der „bewaffneten Vermittlung" entschlossen. Kaum waren die Kammern auseinandergegangen, schrumpfte die „bewaffnete Vermittlung" zusammen auf die recht bescheidenen Ausmaße einer Weigerung Preußens, sich neutral zu erklären, wie Frankreich und Rußland von ihm gefordert hatten. Dieser negative Heldenmut reichte zwar aus, den Zorn des Hofes von St. Petersburg zu erregen, war aber weit davon entfernt, die Erwartungen des preußischen Volkes zu erfüllen. Die Armierung der Festungen im Westen und im Osten, verbunden mit der Einberufung der Reserven und der Landwehr1, sollten dazu dienen, die dadurch hervorgerufene Erregung des Volkes zu dämpfen. Unterdessen forderte am 19. Mai Herr von Usedom im Namen seiner Regierung den Deutschen Bundestag auf, die Beobachtungsarmee des Bundes unter das direkte Kommando Preußens zu stellen und ihm die ganze Initiative der zu ergreifenden militärischen Maßnahmen zu überlassen. Jetzt war die Reihe an den kleineren deutschen Fürsten, die insgeheim von Österreich unterstützt wurden, ihre patriotischen Bestrebungen zu offenbaren. Bayern erklärte, daß die Zeit noch nicht gekommen wäre, die Armee der Wittelsbacher dem Kommando der Hohenzollern zu unterstellen. Hannover erinnerte Preußen mit einem boshaften „Tu quoque"2 an dessen Protest gegen die Konzentration einer Beobachtungsarmee des Bundes an einem Punkt in Süddeutschland. Sachsen seinerseits sah keinen Grund, warum sein erlauchter Herrscher nicht selbst mit dem Oberkommando betraut werden sollte, und wäre es nur, um die rivalisierenden Bestrebungen der Habsburger und der Hohenzollern zu neutralisieren. Württemberg zog fast eine französische Invasion einer preußischen Oberherrschaft vor. Auf diese Weise feierten die übelsten Erinnerungen an das Heilige Deutsche Reich[107] eine schmähliche Auferstehung. Das Resultat dieser Zänkereien zwischen seinen kleinlichen Herrschern ist die vorläufige Mattsetzung Deutschlands. Der Ruf nach der Wiedereinsetzung der Deutschen Nationalversammlung
1 Landwehr: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch - 2 „Auch Du"
ist nur der erste schwache Protest, der nicht von den revolutionären Massen, sondern von der ängstlichen, beschwichtigenden Bourgeoisie gegen diese dynastischen Hemmnisse erhoben wird. Ich werde eine andere Gelegenheit wahrnehmen, um über die slawischen Unruhen zu sprechen, die sich in Deutschland anbahnen.
Aus dem Englischen.
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F riedrich Engels Der Feldzug in Italien12131
[„Das Volk" Nr. 4 vom 28. Mai 1859] Der Feldzug in Italien, der nunmehr beinahe einen Monat gedauert, hat einen eigentümlichen und unerwarteten Verlauf genommen. Zwei große Heere, jedes nicht viel unter 200 000 Mann betragend, haben sich in den ersten Tagen des Mai angesichts einander konzentriert. Während die Vorposten auf Kanonenschußweite aneinandergerückt, beobachten sich die beiden Massen, strecken bald hier, bald dort die Fühlhörner vor, geraten an einzelnen Punkten in leichten Konflikt, machen Frontveränderungen, verlängern den einen oder andern Flügel, aber in Masse aneinander kommen sie nicht. Diese Art der Kriegführung scheint dem modernen System der raschen Entscheidungsschläge unangemessen; es scheint im Rückschritt gegen die blitzschnellen Züge, die kurzen Feldzüge Napoleons. Seit Napoleon haben zwei neue Elemente die Kriegführung bedeutend verändert. Das erste ist die bessere Deckung der Staaten durch verschanzte Lager und Festungsgruppen an geeigneten Terrainpunkten. Die Festungen der napoleonischen Zeit waren entweder zu unbedeutend, zu isoliert voneinander oder in stragetisch zu indifferentem Terrain, um seiner Kriegführung große Hindernisse in den Weg zu legen. Ein Sieg im freien Felde oder ein Umgehungsmarsch drängte das feindliche Heer von seinen Festungen ab. Was Befestigungen zu leisten vermögen, hat Danzig im Jahre 1813, das Festungsviereck in der Lombardei im Jahre 1848, Komorn 1849, Sewastopol 1855 bewiesen. Nun aber bildet die Stellung der Franko-Piemontesen hinter Po und Tanaro, zwischen Casale, Alessandria und Valenza, ein solches Gruppensystem von Festungen, das einer Armee Schutz auch schon gegen beträchtliche Übermacht gewährt. Hinter diese Stellung nun gelang es den Franzosen vor Ankunft der Österreicher so viel Truppen zu werfen, daß ein Angriff alle Aussicht auf entscheidenden Erfolg verlor und damit Zeit zur Heranziehung der übrigen französischen Truppen und zur Komplettierung
des Materials der Ausrüstung gewonnen wurde. Die österreichische Offensive kam somit bei Casale und Valenza zum Stehen, und da weder ein Frontangriff noch eine ernstliche Umgehung der Stellung möglich war, so blieb ihr nichts übrig als Demonstrationen auf den Flanken, westlich der Sesia und südlich vom Po, verknüpft mit Beitreibung der in diesen Bezirken für die Armee benutzbaren Hülfsquellen. Das zweite Element, das die Kriegführung seit Napoleon bedeutend verändert, ist der Dampf. Nur durch Eisenbahnen und Dampfschiffe war es den Franzosen möglich, während der 5 Tage zwischen der Abgabe des österreichischen Ultimatums und dem Einrücken der Österreicher solche Massen von Truppen nach Piemont zu werfen, daß jeder österreichische Angriff auf die piemontesische Stellung ohne Resultat bleiben mußte, und während der folgenden Woche diese Massen so zu verstärken, daß am 20.Mai wenigstens 130 000 Franzosen zwischen Asti und Novi in Linie standen. Die unter der industrieritterlichen Herrschaft eines Louis Bonaparte unvermeidliche Korruption und Unordnung in der Verwaltung läßt jedoch die französischen Feldzugsbedürfnisse nur langsam und mangelhaft ankommen. Einen vorteilhaften Kontrast hierzu bildet die Ordnung und Schnelligkeit, womit die österreichischen Armeekorps in voller Schlagfertigkeit nach Italien ' versetzt wurden. Bei Fortdauer des Krieges muß dies notwendig von Einfluß sein. Die Österreicher können nicht vorgehen, weil sie auf die Stellung zwischen den piemontesischen Festungen gestoßen sind; die Franzosen nicht, weil ihre Kriegausrüstung noch nicht vollständig. Daher die Stockung der Bewegungen und daher das unverdiente Interesse, das an dem kleinen Treffen von Montebello genommen wird. Die ganze Affäre beschränkt sich auf folgendes: Die Österreicher erhielten die Nachricht, daß die Franzosen ihren rechten Flügel in der Richtung nach Piacenza verschöben, welche Bewegung die Absicht vermuten ließ, zwischen Pavia und Piacenza den Po überschreiten und so die österreichische Stellung in der Lomellina in der Richtung auf Mailand umgehen zu wollen. Das österreichische fünfte Armeekorps (Stadion) sandte also 3 Brigaden über eine bei Vaccarizza (unterhalb Pavia) geschlagene Brücke über den Po zur Besetzung der Position vor der Stradella und zur Rekognoszierung gegen Voghera. Diese 3 Brigaden stießen bei Casteggio auf die Vorposten der Verbündeten und bei Montebello auf die erste Brigade der französischen Division Forey, die sie aus Montebello zurückwarfen. Die zweite französische Brigade kam bald darauf an, und die Österreicher wurden jetzt nach hartnäckigem Kampfe aus dem Dorfe vertrieben; einen Angriff auf Casteggio schlugen sie ab und trieben die Franzosen
in Unordnung auf Montebello zurück, das sie ohne Zweifel genommen haben würden (der größte Teil ihrer Truppen war noch gar nicht im Gefecht gewesen), wenn nicht inzwischen eine Brigade der französischen Division Vinoy angekommen wäre. Bei dem Anblick dieser Verstärkungen hielten die Österreicher in ihrem Vormarsch inne. Sie hatten ihren Zweck erreicht, sie wußten jetzt, wo die nächsten Truppenmassen des französischen rechten Flügels standen, und zogen sich unbelästigt aus Casteggio gegen den Po und nachher über denselben auf die Hauptarmee zurück, mit der Gewißheit, daß die Franzosen bis jetzt noch keine ernsthafte Bewegung gegen Piacenza unternommen. Die Österreicher haben vollkommen recht, sich auf dem linken Po-Ufer konzentriert zu erhalten, solange sie keinen überwiegenden Grund haben, ihre ganze Armee auf das rechte Ufer zu werfen; jede Teilung der Armee, ä cheval1 des Flusses, wäre ein Fehler, und die Brücke von Vaccarizza, mit ihrem Brückenkopf, reicht hin, ihnen den Übergang in jedem Augenblick zu gestatten und einen französischen Vormarsch gegen die Stradella in die Flanke zu nehmen. Garibaldi hat an der Spitze von 5000 Freiwilligen den österreichischen rechten Flügel umgangen und steht nun auf lombardischem Boden. Die Österreicher sind nach den jüngsten Nachrichten bereits in seinem Rücken, und er läuft große Gefahr, abgeschnitten zu werden, was dem Befreier Bonaparte sicher sehr angenehm wäre. Prinz Napoleon Plon-Plon hat den Auftrag erhalten, in Livorno (Toskana) ein Armeekorps zu organisieren, das den Österreichern in die Flanke fallen soll. Die französischen Soldaten ärgern sich, und die Österreicher lachen. Am Samstag und Sonntag versuchten die Sardinier, sich auf dem linken Sesia-Ufer festzusetzen, wurden aber durch die Österreicher daran verhindert.
Friedrich Engels Die Strategie des Krieges
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5663 vom 15. Juni 1859, Leitartikel] Wir haben unseren letzten Betrachtungen über das Treffen von Montebello1 sehr wenig hinzuzufügen. Aus dem offiziellen österreichischen Bericht, der schließlich doch noch auftauchte und gestern unsere Spalten zierte, ist zu ersehen,daßTeile der drei Brigaden, mit denen General Stadion auf Montebello marschierte, zurückgelassen wurden, um die Flanken der Marschroute zu decken. Der Rest erreichte Casteggio, das von der Brigade des Prinzen von Hessen erobert wurde; diese Brigade hielt die Stadt besetzt, während die zwei anderen (unvollständigen) Brigaden vorstießen und Montebello und Genestrello einnahmen. Sie widerstanden dem heftigen Angriff der ganzen Division Forey und der beiden Kavallerieregimenter des Generals de Sonnaz (königlich-piemontesische und monferratische Regimenter). Als sie schließlich in Richtung Casteggio zurückgedrängt wurden, scheint sie die Brigade des Prinzen von Hessen so wirkungsvoll unterstützt zu haben, daß der Gegner keinen Angriff wagte und die Österreicher sich in tadelloser Ordnung und unbehindert zurückziehen konnten. Nach den österreichischen Berichten, die uns erreichten, befand sich anscheinend gegen Ende des Gefechts mindestens das ganze Korps des Marschalls Baraguay d'Hilliers im Kampf. Dieses Korps hat drei Infanteriedivisionen und eine Kavalleriedivision - insgesamt zwölf Infanterieregimenter, drei Jägerbataillone, vier Regimenter oder zwanzig Eskadronen Kavallerie und entsprechende Artillerie. Das stimmt überein mit den Meldungen der Österreicher über die Aussagen französischer Gefangener, daß zwölf französische Infanterieregimenter beteiligt waren, und mit zwei Berichten aus Turin, von denen der erste besagt, daß Vinoys Division, und
der zweite, daß Bazaines Division Forey unterstützte. Diese drei Divisionen bilden zusammen die gesamte Infanterie Baraguays.1 Es wird auch davon gesprochen, daß französische Kavallerie und piemontesische Infanterie dabei gewesen sein sollen; das scheint aber weniger authentisch. Somit kommen wir zu folgendem Ergebnis: Die Österreicher, die kein anderes Ziel haben konnten, als zu rekognoszieren (sonst wäre es heller Wahnsinn gewesen, mit drei schwachen Brigaden anzugreifen), erreichten dies völlig, indem sie Baraguay zwangen, seine gesamten Kräfte zu zeigen. Im Gefecht kämpften sie genausogut wie ihre Gegner; als sie aus Montebello hinausgeworfen wurden, mußten sie einer Ubermacht weichen, und die Verfolgung endete vor Casteggio, wo die Österreicher sich sogar den Verfolgern entgegenstellten und sie so energisch zurücktrieben, daß sie die Österreicher nicht mehr belästigten, obwohl die Franzosen inzwischen beinahe viermal so viel Mann im Treffen hatten als die Österreicher. Wenn nun die Franzosen den Sieg für sich beanspruchen, weil sie schließlich Montebello behielten und die Österreicher sich nach dem Treffen zurückzogen, so können die Österreicher das gleiche von sich behaupten, weil sie die Franzosen aus Casteggio hinauswarfen und den letzten Erfolg dieses Tages errangen, und weil sie insbesondere ihr geplantes Ziel in vollem Umfange erreichten, denn sie suchten dieses Gefecht mit der Absicht, schließlich auf überlegene Kräfte zu stoßen und selbstverständlich vor ihnen zurückzuweichen. Seit Montebello waren das Zentrum und der rechte Flügel der österreichischen Armee in einige Kämpfe verwickelt. Nach den Depeschen, die wir mit der „Fulton" erhielten und gestern veröffentlichten, überschritten die Sardinier am 30. Mai die Sesia bei Vercelli. Sie nahmen einige österreichische Stellungen bei Palestro, Casalino und Vinzaglio im Sturm. Viktor Emanuel selbst hatte den Oberbefehl, und das Bajonett entschied den Kampf. Die Sardinier geben die Verluste der Österreicher als sehr hoch an. Wie wir durch die „Europa", die vor Halifax liegt, erfahren, haben die Österreicher zweimal versucht, Palestro wiederzunehmen, und einmal wäre es ihnen beinahe gelungen, wenn nicht eine Zuaveneinheit zum Entsatz gekommen wäre und die Österreicher zurückgeschlagen hätte. Die Sardinier behaupten, dabei eintausend Gefangene gemacht zu haben; es ist jedoch unmöglich, sich über diese Affäre ein Urteil zu bilden, denn noch fehlen jegliche präzise Angaben. Solch einen hartnäckigen Widerstand seitens der österreichischen Vorposten an der Sesia hatten wir gar nicht erwartet, da sich die Österreicher angeblich
1 Die Division Vinoy gehörte zum fünften Korps unter General Niel, während das Korps Baraguay d'Hilliers noch die Divisxon Ladmirault umfaßte.
in voller Flucht über den Ticino befinden. Auf ihrer äußersten Rechten haben sie jedoch nicht so viel Schneid und Zähigkeit bewiesen. Garibaldi, der mit seinen Alpenjägern und einigen anderen Truppen, insgesamt etwa 5000 Mann, die äußerste Rechte der Österreicher umgangen hatte, überschritt am 25. Mai den Ticino, marschierte zwischen dem Lago Maggiore und dem Corner See auf Varese und besetzte diese Stadt. Am 26. schlug er eine ihn angreifende Abteilung der Österreicher, nutzte den Sieg mit großem Nachdruck aus, schlug am 27. wiederum dieselbe (durch die Garnison von Como verstärkte) Abteilung und drang in derselben Nacht in diese Stadt ein. Die fliegenden Kolonnen des Generals Urban marschierten ihm entgegen und drängten ihn tatsächlich in die Berge; doch unsere neuesten Depeschen, die wir gestern abend mit der „Europa" erhielten, berichten, daß Garibaldi erneut vorstieß, die Österreicher überraschte und Varese wieder eingenommen hat. Sein Erfolg bewirkte eine Insurrektion in den Städten am Corner See und im Valtellina oder oberen Tal der Adda, einem Bergdistrikt, der 1848 revolutionärer war als die Städte der lombardischen Ebene. Die Dampfschiffe auf dem Corner See sind in den Händen der Aufständischen, und 800 Männer aus dem Valtellina schlössen sich Garibaldi an. Ungeachtet seines zeitweiligen Mißerfolgs soll sich die Insurrektion in diesem Teil der Lombardei ausbreiten. Mit diesem Schritt Garibaldis haben die Alliierten einen großen Vorteil errungen, und die Österreicher haben einen großen Fehler begangen. Die Einnahme von Varese durch Garibaldi war kein Nachteil für die Österreicher, aber Como mußte durch eine starke Kolonne gehalten werden, mit der sich einzulassen er nicht gewagt hätte. Eine andere, nach Sesto Calende geschickte Abteilung konnte Garibaldi den Rückzug abschneiden und ihn in dem kleinen Gebiet zwischen den Seen einschließen, so daß ihn ein starker Angriff gezwungen hätte, entweder seine Waffen niederzulegen oder auf neutrales Schweizer Gebiet zu gehen, wo er entwaffnet worden wäre. Die Österreicher unterschätzten jedoch diesen Mann, den sie einen Banditenhäuptling nennen; sie würden aber sein außergewöhnliches militärisches Talent, seine große Furchtlosigkeit und seine hervorragenden Fähigkeiten erkannt haben, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, die Belagerung von Rom und seinen Marsch von Rom nach San Marino[214] zu studieren. So unterschätzten sie seine Vorstöße ebenso wie 1848 die Streifzüge von Allemandis lombardischen Freiwilligen1^151. Sie übersahen völlig die Tatsache, daß Garibaldi großen Wert auf Disziplin legte und daß er die meisten seiner Leute seit vier Monaten unter sich hatte - lange genug, um sie in den taktischen Manövern des Kleinkrieges auszubilden. Garibaldi mag von Louis-Napoleon Und Viktor Emanuel in die Lombardei geschickt worden sein, um ihn und seine Frei
willigen - für diesen dynastischen Krieg viel zu revolutionäre Elemente - zu vernichten, eine Annahme, die durch die Tatsache nachdrücklich bekräftigt wird, daß sein Vorgehen ohne die unerläßliche Unterstützung durchgeführt wurde; aber man darf nicht vergessen, daß er 1849 denselben Weg einschlug und ihm die Flucht gelang. Auf alle Fälle ergriff er Besitz von der Brücke bei Lecco und von den Dampfschiffen des Corner Sees, was ihm die Möglichkeit gab, nach dem Osten des Sees vorzustoßen. Dort liegt ein großer Gebirgszug, der sich im Norden bis zum Splügen und Stelviopaß, im Osten bis zum Gardasee, im Süden bis Bergamo und Brescia erstreckt - ein Gebiet, das sich besonders für den Partisanenkrieg eignet und wo es sehr schwierig sein wird, ihn zu fangen, wie Urban bereits erfahren mußte. Wenn 6000 bis 8000 Mann genügt hätten, ihn im Vareser Gebiet aufzureiben, so dürften heute mehr als 16 000 nötig sein, so daß seine eine Brigade in Zukunft drei Brigaden der Österreicher voll beschäftigen wird. Trotz seines letzten Erfolges bei Varese sehen wir noch nicht, wie er angesichts der Streitkräfte, die sich in Tirol ansammeln (ein vollständiges Armeekorps ist mit der Eisenbahn von Böhmen durch Sachsen und Bayern nach Tirol gebracht worden), und der Truppen, die die Lombardei verteidigen, sich behaupten kann, wenn nicht die Alliierten einen sehr raschen und entscheidenden Sieg über die Österreicher erringen. Das wird schwierig sein. Ein anderes österreichisches Armeekorps, das neunte, ist in die aktive Armee eingereiht worden, so daß sie nunmehr aus sechs Korps oder mindestens 200 000 Mann besteht; und weitere Korps sind im Anmarsch. Auf Grund der Tatsache, daß LouisNapoleon es sich nicht leisten kann, lange untätig zu bleiben, ist bald eine Schlacht zu erwarten; und der Bericht, daß er mit seinem Hauptquartier und seiner Garde nach Voghera auf die äußerste Rechte der alliierten Position gegangen ist, dürfte auf eine Schlacht in der Gegend von Stradella hinweisen. Wenn dies der Fall ist, werden wir höchstwahrscheinlich sehen, daß die Österreicher den Engpaß der Stradella in der Front verteidigen und versuchen, über die Brücke von Vaccarizza gegen die Flanke und im Rücken der Franzosen zu operieren.
Geschrieben am 30. Mai 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Mazzinis Manifest12161
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5665 vom 17. Juni 1859] Unter den gegenwärtigen Umständen ist jede Erklärung seitens Mazzinis ein Ereignis, das größere Aufmerksamkeit verdient als die diplomatischen Erklärungen der miteinander im Streit liegenden Kabinette oder selbst die schöngefärbten Bulletins vom Kriegsschauplatz. Wie verschieden die Meinungen der Menschen über den Charakter des römischen Triumvirn[217] auch sein mögen, niemand wird leugnen, daß fast 30 Jahre lang die italienische Revolution mit seinem Namen verbunden war und daß er während des gleichen Zeitraums von Europa als der fähigste Exponent der nationalen Bestrebungen seiner Landsleute anerkannt wurde. Er hat jetzt eine bewundernswerte Tat moralischen Muts und patriotischer Hingabe vollbracht, indem er - auf die Gefahr hin, seiner Popularität zu schaden - seine einsame Stimme gegen ein Babel von Verblendung, blindem Fanatismus und eigennütziger Falschheit erhoben hat. Seine Entlarvung der tatsächlichen Pläne, die zwischen Bonaparte, Alexander und Cavour, dem Agenten der beiden Autokraten, vereinbart worden sind, sollten um so sorgfältiger beachtet werden, da von allen Privatpersonen in Europa gerade Mazzini dafür bekannt ist, daß er über die umfassendsten Mittel verfügt, um in die verhängnisvollen Geheimnisse der regierenden Mächte einzudringen. Sein Rat an die nationalen Freiwilligen, eine ldare Trennungslinie zwischen ihrer eigenen Sache und derjenigen der gekrönten Betrüger zu ziehen und ihre Proklamationen niemals mit dem schändlichen Namen Louis-Napoleon zu entehren, ist von Garibaldi wörtlich befolgt worden. Die Nichterwähnung des Namens Frankreich in der Proklamation des letzteren[218] wird, wie der Pariser Korrespondent der Londoner „Times" berichtet, von Louis-Napoleon als eine tödliche Beleidigung angesehen; und die Furcht, die die Kenntnis von Garibaldis geheimer Verbindung zu dem römischen Triumvir einflößte, war so groß, daß sein Korps
von den ursprünglich versprochenen 10 000 Alpenjägern auf 4000 reduziert, ein ihm zugesichertes Kavalleriekorps zurückgezogen und eine auf seine Anforderung schon abgesandte Batterie angehalten wurde, und daß einige erfahrene Polizeibeamte mit der Anweisung, über jedes Wort und jede Bewegung von ihm zu berichten, als angebliche Freiwillige in sein Gefolge geschmuggelt wurden. Wir bringen anschließend eine wörtliche Übersetzung von Mazzinis Manifest, das in London in der letzten Nummer von „Pensiero ed Azione" (Gedanke und Tat) unter dem Titel „La Guerre" (Der Krieg) veröffentlicht wurde[219]:
„Der Krieg hat begonnen. Wir haben daher vor uns nicht eine Wahrscheinlichkeit, die zu diskutieren ist, sondern eine vollendete Tatsache. Der Krieg zwischen Österreich und Piemont ist ausgebrochen. Louis Bonapartes Soldaten sind in Italien. Die russisch-französische Allianz, die vor einem Jahre von uns angekündigt wurde, offenbart sich Europa. Das sardinische Parlament hat Viktor Emanuel diktatorische Vollmachten erteilt. Die herzogliche Regierung von Toskana ist durch eine militärische Insurrektion gestürzt worden und die Diktatur des Königs wurde akzeptiert (und von diesem an einen Bonaparte abgetreten). Die allgemeine Gärung in Italien wird wahrscheinlich an anderen Orten ähnliche Ereignisse hervorbringen. Die Geschicke unseres Vaterlandes werden jetzt unweigerlich auf dem Schlachtfeld entschieden. Die meisten unserer Landsleute, berauscht von dem Verlangen nach Taten, fasziniert von dem Gedanken, die mächtige Hilfe regulärer Armeen zu besitzen, fortgerissen von der Freude, gegen die mit Recht verabscheute österreichische Herrschaft Krieg zu führen, vergessen unter diesen Umständen die Lehren der Vergangenheit und ihre Grundsätze und opfern nicht nur ihre teuersten Uberzeugungen, sondern auch die Absicht, zu ihnen zurückzukehren, verzichten auf alle Vorsicht, alle Urteilsfreiheit, haben nur Worte des Beifalls für jeden, der es übernimmt, den Krieg zu führen, billigen ohne zu prüfen alles, was auch immer von Frankreich oder Piemont kommen mag, und nehmen den Kampf um die Freiheit auf, indem sie sich selber zu Sklaven machen. Andere wieder, die sehen, wie jeder Funke politischer Moralität bei den politischen Agitatoren und dem ihnen folgenden Pöbel erlischt; wie ein Volk, seit einem halben Jahrhundert der Apostel der Freiheit, sich auf einmal mit dem Despotismus verbündet; wie Männer, die bis gestern an Proudhons Anarchie glaubten, sich dem König ergeben, und wie die Landsleute von Goffredo Mameli in den Ruf ausbrechen ,Viva l'Imperatorel'1, der ihn mit Tausenden anderen ermordet hat^220\ verzweifeln an der Zukunft und erklären, unser Volk sei nicht reif für die Freiheit. Wir unsererseits teilen weder die törichten und sklavischen Hoffnungen der einen Partei noch die hoffnungslose Verzweiflung der anderen. Der Krieg beginnt unter den traurigsten Aspekten, aber die Italiener können ihn, wenn sie wollen, in bessere Bahnen
lenken; und wir vertrauen auf die edlen Instinkte unseres Volkes. Diese Instinkte bahnen sich machtvoll einen Weg durch die Irrtümer, zu welchen die Agitatoren das Volk verleitet haben. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn die Freiwilligen, statt sich um die absolutistischen Fahnen der Mächte zu scharen, die ihre Hoffnungen enttäuschen werden, in aller Stille die Insurrektion in ihren eigenen Provinzen organisiert und im Namen des italienischen Volkes proklamiert und geführt hätten; aber der Geist, der sie bewegte, ist heilig und erhaben, der Beweis der Ergebenheit gegenüber dem gemeinsamen Vaterlande, den sie liefern, kann nicht verleugnet werden, und auf diesen Kern der künftigen nationalen Armee, der sich spontan gebildet hat, konzentrieren sich die größten Hoffnungen Italiens. Die Annahme einer königlichen Diktatur ist ein Fehler, der unweigerlich Enttäuschung hervorrufen wird und der die Würde eines Volkes verletzt, das sich erhebt, um sich selbst zu befreien. In einem Lande mit einem der Monarchie ergebenen Parlament, angesichts der Präzedenzfälle von Rom und Venedig, wo das Zusammengehen der Volksvertretungen mit den Führern der Verteidigung die Quelle der Macht war, angesichts der Erinnerungen an den langen und furchtbaren Krieg gegen das Erste Kaiserreich, den England unterstützte, ohne die bürgerlichen Freiheiten im geringsten zu verletzen, ist diese Diktatur offensichtlich nichts anderes als eine Konzession an die Forderungen der verbündeten Despoten und das erste Symptom eines Planes, der die Frage des Territoriums an die Stelle der Frage der Freiheit zu setzen beabsichtigt. Aber das Volk, das begeistert die Diktatur akzeptiert, glaubt, es begehe einen Akt höchster Aufopferung zum Wohle des gemeinsamen Vaterlandes; und von der Ansicht irregeführt, daß der erfolgreiche Ausgang des Krieges von einer solchen Konzentration der Macht abhängt, wünscht es durch seinen Beifall seinen festen Entschluß kundzutun, um jeden Preis zu kämpfen und zu siegen. Die bedingungslose Unterwerfung der aufständischen Provinzen unter die absolute Herrschaft des königlichen Diktators wird mit ziemlicher Sicherheit zu verhängnisvollen Folgen führen: Die Logik der Insurrektion hätte erfordert, daß jede aufständische Provinz sich unter eine lokale revolutionäre Verwaltung stellt und durch Benennung eines Vertreters zur Bildung einer nationalen revolutionären Regierung beiträgt. Aber selbst dieser ungeheure Irrtum entspringt dem Wunsch nach nationaler Einheit und widerlegt unbestreitbar das dumme Geschwätz der europäischen Presse über unsere Zwistigkeiten. Er tritt in Italien gesetzmäßig auf. Der Patriotismus ist gegenwärtig in Italien so machtvoll, daß er edle Fehler überwinden wird. Gute Bürger, statt zu verzweifeln, müssen versuchen, ihn in die richtigen Bahnen zu lenken. Und zu diesem Zweck müssen sie ohne Furcht vor boshaften Interpretationen von der wirklichen Situation ausgehen. Der Augenblick ist zu ernst, um sich um momentane Gunstbeweise oder Verleumdungen zu kümmern.
Die wirkliche Situation ist folgende: Ebenso wie im Jahre 1848 und noch stärker strebt die italienische Bewegung nach Freiheit und nationaler Einheit. Die sardinische Monarchie und Louis Bonaparte führen jedoch den Krieg mit vollkommen anderen Absichten. Ebenso wie im Jahre1848 und noch stärker bedroht der Antagonismus zwischen den Bestrebungen der Nation
und denen der akzeptierten Führer, der damals den Kampf zum Scheitern verurteilte, Italien mit furchtbaren Mißgeschicken. Weis Italien erstrebt, ist nationale Einheit. Louis-Napoleon kann das nicht wünschen. Außer Nizza und Savoyen, die ihm schon von Piemont als Preis für seine Hilfe bei der Bildung eines nördlichen Königreichs zugestanden sind, möchte er bei dieser Gelegenheit im Süden den Thron für einen Murat und in Mittelitalien den Thron für seinen VoWgr^ errichten. Pom und ein Teil des Kirchenstaates seilen unter der weltlichen Regierung des Papstes2 bleiben. Ganz gleich, ob aufrichtig oder nicht, das Ministerium, das heute uneingeschränkt in Piemont herrscht, hat jedenfalls seine Einwilligung zu diesem Plan gegeben. Italien würde demnach in vier Staaten geteilt; zwei kämen unter direkte Fremdherrschaft, und indirekt würde Frankreich ganz Italien beherrschen. Der Papst ist seit 1849 immer ein französischer Vasall gewesen; der König von Sardinien würde durch seine Dankespflicht und seine geringe Truppenmacht der Vasall des Kaiserreichs werden. Der Plan könnte vollständig durchgeführt werden, wenn Österreich bis zuletzt Widerstand leistet. Sollte aber Österreich gleich im Beginn des Krieges geschlagen werden und die Vorschläge, die es im Jahre 1848 eine Zeitlang der britischen Regierung machte, wiederholen, nämlich die Preisgabe der Lombardei unter der Bedingung, Venedig zu behalten, so würde der natürlich von der Diplomatie ganz Europas unterstützte Friede angenommen werden. Die Bedingungen der Vergrößerung der sardinischen Monarchie und der Abtretung von Nizza und Savoyen an Frankreich würden allein zur Ausführung kommen; Italien würde der Rache seiner Gebieter überlassen, und die vollständige Ausführung des Lieblingsplans auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben werden. Dieser Plan ist den Regierungen Europas bekannt. Daher ihre allgemeine Aufrüstung; daher die kriegerische Wallung im ganzen Deutschen Bund; daher die schon vorbereiteten Elemente einer Koalition zwischen England, Deutschland und Preußen einer unvermeidlichen Koalition trotz der gegenteiligen Erklärungen der Regierungen. Wenn Italien sein nationales Leben nicht ohne Bündnis mit Bonaparte zu beschützen vermag, werden die Verteidigung Österreichs und die Verträge von 1815 unvermeidlich die Achse der Koalition bilden. Louis-Napoleon fürchtet diese Koalition. Daher sein Bund mit Rußland, einem unsicheren und treulosen Verbündeten, der aber stets bereit ist einzugreifen, wenn ihm als Gegenleistung für seine Zustimmung, das Mittelmeer in einen französischen See zu verwandeln, solche die Freiheit vernichtenden Konzessionen gemacht werden wie die völlige Auslieferung von Polen und das allgemeine Protektorat des Zaren über die europäische Türkei. Wenn der Krieg, wie anzunehmen ist, länger andauern und infolge einer Intervention Deutschlands europäische Ausmaße annehmen sollte, würde der seit langem vorbereitete Aufstand in den türkischen Provinzen und in Ungarn dieser Allianz Gelegenheit bieten, klare Formen anzunehmen.
1 Joseph-Charles-Paul Bonaparte - 2 Pius IX.
Falls die Dinge bis zu diesem Punkt gedeihen, ist beabsichtigt, bei der territorialen Neuordnung jede Spur von Völkerrecht und Freiheit zu beseitigen. Russische Fürsten würden die auf den Ruinen das Türkischen Reiches und Österreichs errichteten Staaten regieren, Prinzen der Dynastie Bonaparte die neuen Staaten Italiens und unter günstigen Umständen vielleicht noch andere. So wurde bereits Konstantin von Rußland den mit der ungarischen Regierung Unzufriedenen vorgeschlagen und Napoleon Bonaparte den monarchistischen Agitatoren in den Legationen und in Toskana. Wie Karl V. und Clemens VII., obgleich Todfeinde, sich verbanden, um die freien Städte Italiens unter sich aufzuteilent221', verbinden sich die beiden Zaren, die einander von Herzen hassen, um alle Freiheitsbestrebungen zu ersticken und Europa zu imperialisieren.Y)esha\h das Dekret, das auf eine unbestimmte Zeit die Freiheit des von Cavour verratenen Piemont knebelt. Wenn die Presse schweigen muß, wenn jeder Kommentar über die Operationen verhindert und das Volk über alles im Dunkeln gehalten wird, ist das Feld frei für die Manöver der Herrschenden. Und die Volksseele, fasziniert von dem Phantom einer Unabhängigkeit, die sich in letzter Instanz bloß als ein Wechsel der Abhängigkeit herausstellen würde, wird der Freiheit entwöhnt, der wahren Quelle aller Unabhängigkeit. Das sind die Absichten der verbündeten Despoten. Sie mögen geleugnet werden, von einigen gerade darum, weil sie an ihrer Ausführung arbeiten, genau wie LouisNapoleon die Absicht des coup d'etat verleugnete; von anderen aus Leichtgläubigkeit gegenüber jedem Wort, das die Großen fallenlassen, oder weil törichtes Verlangen ihren Verstand trübt; sie sind nichtsdestoweniger vorhanden, mir selbst und den verschiedenen Regierungen bekannt und werden teils durch die Worte, aber noch mehr durch die Taten Louis-Napoleons und des Grafen Cavour offenbart. Ich sage Graf Cavour, weil ich dazu neige, Viktor Emanuel für unbeteiligt an dem Handel von Plombieres^67' und Stuttgart[222) zu halten. Wenn Graf Cavour ein wirklicher Freund Italiens gewesen wäre, hätte er auf das ungeheure Prestige gebaut, daß der Besitz einer bedeutenden materiellen Macht und die allgemeinen, in Italien vorherrschenden Tendenzen verleihen, um italienische Bewegungen vorzubereiten, die Piemont unmittelbar unterstützt hätte. Einem Kampf, den Italien aus eigener Kraft aufgenommen hätte, wäre Europas Beifall und Gunst sicher gewesen. Und Europa, das heute Napoleon bedroht, weil er in Italien auf dessen Ruf hin und mit dem Anschein eines Befreiers einfällt, würde niemals geduldet haben, daß er ohne Aufforderung in seinem eigenen Namen Österreich zu Hilfe gekommen wäre. Es wäre ein heiliges und erhabenes Unternehmen gewesen, und Cavour hätte es durchführen können. Aber dazu wäre notwendig gewesen, sich im Namen der Freiheit und des Rechts mit der italienischen Revolution zu verbrüdern. Ein solcher Weg sagte dem Minister der sardinischen Monarchie nicht zu. Abneigung gegen das Volk und gegen die Freiheit trieben ihn, das Bündnis mit der Tyrannei zu suchen - einer Tyrannei, die alter Eroberungstraditionen wegen von allen Nationen verabscheut wird. Dieses Bestreben hat die Natur der italienischen Sache veränderte Wenn es den Sieg davonträgt und der Verbündete als Gebieter akzeptiert wird, ist die nationale Einheit verloren und Italien wird zum Gegenstand einer neuen Teilung unter französischem
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Protektorat. Wenn es zusammen mit dem Dezembermann unterliegt, wird Italien Entschädigungen zu zahlen haben und Rückschläge ohne Ende erleiden; und Europa, anstatt uns zu bemitleiden, wird sagen: ,Es geschieht euch recht!' (Voi non avete, se non quello che meritate). Alle Berechnungen, edle menschlichen Handlungen werden durch moralische Gesetze gelenkt, und kein Volk kann sich erkühnen, diese ungestraft zu verletzen. Jede Schuld zieht unvermeidlich ihre Sühne nach sich. Frankreich - und das haben wir ihm seinerzeit gesagt — büßt für die Expedition nach Rom. Möge Gott Italien vor der schweren Sühne verschonen, die sich die sardinische Monarchie verdient hat, weil sie eine durch die Opfer, das Märtyrertum und das hochsinnige Streben eines halben Jahrhunderts geheiligte Sache mit dem Banner von Egoismus und Tyrannei verbunden hat! Nichtsdestoweniger, der Krieg ist eine Tatsache - eine mächtige Tatsache, die neue Pflichten auferlegt und unsere eigene Handlungsweise wesentlich verändert. Zwischen dem Bestreben Cavours und der Gefahr einer Koalition, zwischen Louis-Napoleon und Österreich - zwischen diesen gleich verhängnisvollen Möglichkeiten steht Italien. Je ernster und gefährlicher die Situation ist, desto mehr müssen sich die Anstrengungen aller darauf konzentrieren, das gemeinsame Vaterland vor den drohenden Gefahren zu retten. Würde der Krieg zwischen den Regierungen ausgetragen, könnten wir Zuschauer bleiben und den Augenblick abwarten, bis die Gegner einander geschwächt haben und das nationale Element in den Vordergrund treten könnte. Aber dieses Element hat sich schon entladen. Verblendet oder nicht, das Land bebt in einem fieberhaften Zustand der Aktivität und glaubt, es sei fähig, sein Ziel zu erreichen, wenn es sich den Krieg des Kaisers und des Königs zunutze macht. Die toskanische Bewegung, eine spontane Bewegung von italienischen Soldaten und Bürgern, die allgemeine Agitation und der Andrang zu den Freiwilligenkorps durchbrechen den Kreis der offiziellen Intrigen; sie sind der Herzschlag der Nation. Es ist notwendig, diesem auch auf dem Kriegsschauplatz Geltung zu verschaffen; es ist notwendig, den Krieg zu erweitern, zu italienisieren (italianizzare). Die Republikaner werden wissen, wie diese Pflicht zu erfüllen ist. Italien kann, wenn es will, sich vor den Gefahren retten, die wir dargelegt haben. Es kann aus der gegenwärtigen Krisis heraus seine nationale Einheit gewinnen. Es ist notwendig, daß Österreich unterliegt. Wir mögen die kaiserliche Intervention beklagen, aber wir können nicht leugnen, daß Osterreich der ewige Feind jeder nationalen Entwicklung Italiens ist. Jeder Italiener muß zum Sturz Österreichs beitragen. Das fordert die Ehre und die Sicherheit aller. Europa muß erkennen, daß zwischen uns und Österreich ein ewiger Krieg besteht. Es ist notwendig, daß das Volk von Italien seine Würde unantastbar erhält und Europa davon überzeugt, daß, wenn wir auch die Hilfe der Tyrannei dulden, weil sie von einer italienischen Regierung angefordert wurde, wir doch nicht darum gebeten haben und ihretwegen nicht unseren Glauben an die Freiheit und das Bündnis der Völker entsagt haben. Der Ruf ,Viva la Francia!'1 kann mit reinem Gewissen von italienischen Lippen erklingen, nicht aber der Ruf ,Viva
rimperatore!' ...Es ist notwendig, daß sich Italien erhebt von einem Ende zum anderen ... im Norden, um die Freiheit zu erobern, nicht um sie zu empfangen; im Süden, um die Reserve der nationalen Armee zu organisieren. Die Insurrektion kann das militärische Kommando des Königs überall mit gebührender Zurückhaltung akzeptieren, wo immer der Österreicher sein Lager aufgeschlagen hat oder in der Nähe ist; die Insurrektion im Süden muß selbständiger operieren und unabhängig bleiben ... Neapel und Sizilien können die Sache Italiens wahren und seine Macht mit Vertretern des nationalen Lagers begründen ... Der Ruf der Insurrektion, wo immer er auch ertönt, muß lauten: .Einheit, Freiheit, nationale Unabhängigkeit!' Der Name Rom muß stets in Verbindung mit dem Namen Italien genannt werden. Die Pflicht Roms besteht nicht darin, auch nur einen Mann zur sardinischen Armee zu senden, sondern darin, dem kaiserlichen Frankreich zu beweisen, daß es für jede Macht ein schlechter Handel ist, im Namen der italienischen Unabhängigkeit zu kämpfen und gleichzeitig den päpstlichen Absolutismus zu unterstützen ... Von Rom, Neapel und dem Verhalten der Freiwilligen hängt heute das Schicksal Italiens ab. Rom repräsentiert die Einheit des Vaterlandes; Neapel und die Freiwilligen können seine Armee bilden. Die Aufgaben sind gewaltig; wenn Rom, Neapel und die Freiwilligen sie nicht zu erfüllen vermögen, verdienen sie nicht die Freiheit und werden sie nicht erlangen. Wenn der Krieg den Regierungen überlassen wird, muß er mit einem neuen Vertrag von Campoformio[223] enden. Die Disziplin, wie sie heute von denselben Männern, die die Insurrektionen von 1848 verrieten, als das Geheimnis des Sieges gepredigt wird, ist nichts als Unterwürfigkeit und Passivität des Volkes. Die Disziplin, wie wir sie verstehen, kann eine feste Einigkeit in allen Fragen der Weiterführung des regulären Krieges und Schweigen in allen Fragen der Form fordern; aber sie kann niemals darin bestehen, daß sich Italien dem Willen eines Diktators ohne Programm und eines fremdländischen Despoten auf Gedeih und Verderb unterwirft, niemals darin, daß Italien seine Entschlossenheit aufgibt, frei und geeint zu sein!"
Geschrieben Ende Mai 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der Verlauf des Krieges
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5665 vom 17. Juni 1859, Leitartikel] Bisher war es Garibaldi, der den Kriegsruhm davontrug; er scheint allerdings auch nicht vor jenem kühnen Draufgängertum zurückzuschrecken, vor dem Napoleon III. seine Soldaten warnt. Ganz plötzlich wurde dieser Freiwilligenführer zum Helden Italiens, obgleich die bonapartistische Presse auf dieser Seite des Atlantiks versucht, den Ruhm seiner Heldentaten ganz für ihren eigenen großen Helden in Anspruch zu nehmen. Die Lorbeeren des Freischärlergenerals haben anscheinend in der Brust Viktor Emanuels das Bestreben geweckt, ihm nachzueifern; und so kam es zum Gefecht von Palestro, von dem wir leider bisher nur telegraphische Berichte erhalten haben, und diese auch nur aus dem sardinischen Hauptquartier. Danach scheint die 4. piemontesische Division unter Cialdini, die einige Tage zuvor die Sesia bei Vercelli überschritten und die Folgezeit mit Plänkeleien gegen österreichische Vorposten zugebracht hatte, am 30. Mai die befestigte Position des Feindes bei Palestro, Vinzaglio und Confienza angegriffen zu haben. Die Piemontesen schlugen die Brigade, die die Stellung besetzt hielt (höchstwahrscheinlich die Brigade des Generals Gablenz), aber wie berichtet wird, versuchte am nächsten Morgen (dem 31. Mai) eine Streitmacht von 25000 Österreichern, die Position zurückzuerobern. Sie beabsichtigten, die rechte Flanke der Piemontesen zu umgehen, wobei sie ihre eigene Flanke dem Korps des Generals Canrobert (Division Trochu) aussetzten, das eine Brücke über die Sesia geschlagen hatte und sich jetzt näherte. Der Kaiser befahl sofort dem 3. Zuavenregiment, die Piemontesen zu unterstützen. „Obwohl sie ohne Beistand waren", griffen sie eine österreichische Batterie an, nahmen die sechs Geschütze und trieben die Bedeckungsmannschaft in einen Kanal, wo 400 von ihnen ertrunken sein sollen. Der König von Sardinien war im dichtesten Kampfgewühl und so darauf
versessen, den Feind niederzumetzeln, daß „dieZuaven vergeblich versuchten, ihn zurückzuhalten". Dem Bericht zufolge wurden die Zuaven von General Cialdini persönlich angeführt. Schließlich mußten die Österreicher zurückweichen und 1000 Gefangene und acht Geschütze in der Hand der Alliierten zurücklassen. „Die Verluste der Österreicher", sagen die Piemontesen, „waren sehr groß; die unserer eigenen Truppen sind noch unbekannt." Zur gleichen Zeit fand ein weiterer Kampf bei Confienza statt, in dem der Feind von der Division des Generals Fanti geschlagen wurde. Gegen 6 Uhr abends versuchten die Österreicher jedoch einen erneuten Angriff auf Palestro, aber mit ebensowenig Erfolg. Am 1. Juni marschierte General Niel mit dem vierten französischen Korps in Novara ein, anscheinend ohne auf Widerstand zu stoßen. Seitdem durch den Frieden von 1849 das spada d'Italia in die Scheide zurückgesteckt wurde, haben wir keinen so verworrenen und widerspruchsvollen Bericht über eine Schlacht mehr lesen müssen.12241 Und dabei haben wir in unserer Zusammenfassung noch einige der rätselhaftesten Stellen ausgelassen. Die Österreicher greifen mit 25 000 Mann an; werden diese sämtlich gegen Palestro vorgeschickt oder gehören zu ihnen die Truppen, die von Fanti bei Confienza geschlagen wurden? Da deren Stärke nicht im einzelnen angegeben wird, ist es sicher richtig, wenn wir unter Berücksichtigung der außerordentlichen Wahrheitsliebe der piemontesischen Berichte zu der Schlußfolgerung gelangen, daß sich die Gesamtzahl der Österreicher, die am 31. Mai im Kampf standen, auf ungefähr 25 000 belief. Wie stark die Kräfte waren, von denen sie geschlagen wurden, werden wir noch sehen. Als die Piemontesen in Gefahr geraten, befiehlt der Kaiser dem 3. Zuavenregiment anzugreifen. Cialdini führt sie, und der König stürmt mit ihnen vorwärts, dorthin, wo der Kampf am heftigsten tobt, während die Zuaven vergeblich versuchen, ihn zurückzuhalten. Ein prächtiges Bild! Wie großartig die Rollen verteilt sind! LouisNapoleon, „der Kaiser", befiehlt den Zuaven anzugreifen. Cialdini, der General, und ein Piemontese dazu, führt sie an - ein Piemontese führt die französischen Zuaven! „Der König" stürzt sich unter sie und kämpft unter dem Kommando seines eigenen Generals, wo der Kampf am heftigsten tobt. Aber es wird auch gesagt, der König habe die 4. piemontesische Division, nämlich die von Cialdini, selbst befehligt. Was wirklich aus der 4. Division geworden sein mag, während Cialdini die Zuaven anführte und der König sich in das heftigste Kampfgewühl stürzte, werden wir vielleicht nie erfahren. Aber das überrascht uns bei Viktor Emanuel nicht. Während der verhängnisvollen Schlacht von Novarat83) hatte er ähnliche kindische Einfälle, vernach
lässigte seine Division und trug so nicht wenig zu seiner eigenen Niederlage und zum Triumph Radetzkys bei. Aus diesen verworrenen Nachrichten über ein Gefecht, dessen wirklicher Charakter erst sichtbar werden wird, wenn wir die offiziellen Berichte von den Franzosen und Österreichern erhalten, können wir jedoch einige nützliche Fakten entnehmen, . Der äußerste linke Flü^v! der ^\liiieirtcn. wsr I313— her von dem französischen Korps des Generals Niel gebildet worden; er stand an der Dora Baltea westlich von Vercelli. Als nächste standen bei Casale die beiden piemontesischen Divisionen (die 4. und 3.) unter Cialdini und Durando. Bei Alessandria und Valenza lagen die piemontesischen Divisionen Castelborgos (die 1.) und Fantis (die 2.), die französischen Korps unter MacMahon und Canrobert und die Garde, die das Zentrum bildeten. Östlich von Alessandria, bei Tortona, Novi und Voghera, standen Cucchiaris 5. piemontesische Division und das französische Korps unter Baraguay d'Hilliers. Bei Palestro und Confienza (diese Orte sind kaum drei Meilen voneinander entfernt) finden wir jedoch nicht nur Cialdini, sondern auch Fanti im Kampf, und obgleich nichts von Niel gesagt wird, finden wir doch Canrobert dort. Außerdem kam auch das 3. Zuavenregiment zum Einsatz, das weder zu dem Korps Canroberts noch zu einem der drei anderen französischen Korps gehört. Schließlich erfahren wir, daß Louis-Napoleon sein Hauptquartier nach Vercelli verlegt hat und daß General Niel einen Tag nach der Schlacht Novara besetzte. Das zeugt von einer entschiedenen Veränderung in der Aufstellung der alliierten Armee. Der linke Flügel bestand zuvor aus Niels Korps, 26 Bataillone und aus Cialdinis Division, 14 Bataillone, insgesamt 40 Bataillone; jetzt ist er verstärkt worden durch Canroberts Korps mit 39 Bataillonen und Fantis Division mit 14 Bataillonen, macht zusammen 53 Bataillone; damit erhöht sich die Gesamtstärke dieses Teils der alliierten Armee auf 93 Bataillone. Davon waren zugestandenermaßen die zwei piemontesischen Divisionen, 28 Bataillone, die Division Trochu von Canroberts Korps, 13 Bataillone, insgesamt 25 000 Piemontesen und mindestens 11 000 Franzosen, mehr oder weniger an dem Gefecht von Palestro beteiligt. Das erklärt, wieso die 25 000 Österreicher zurückgeworfen wurden. Aber diese Verstärkung des linken Flügels wurde offensichtlich zu einem anderen Zweck durchgeführt; das beweisen Niels Vormarsch auf Novara und auch die Verlegung von Louis-Napoleons Hauptquartier nach Vercelli. Außerdem läßt die Wahrscheinlichkeit, daß die Garde ihm dorthin gefolgt ist, wenig Zweifel hinsichtlich der Absichten der Alliierten. Die Garde verstärkt die Streitkräfte an der Sesia auf insgesamt 127 Bataillone, und wie bei Montebello können Truppen vom äußersten rechten Flügel rasch mit der
Eisenbahn herangebracht werden und rechtzeitig an einer größeren Aktion teilnehmen. Demnach bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder setzt LouisNapoleon die jetzt begonnene Truppenbewegung fort, indem er die österreichische Rechte völlig umgeht und die Masse seiner Armee auf der von Vercelli direkt nach Mailand führenden Straße zwischen Vercelli und Novara aufstellt, während er gleichzeitig die Österreicher durch Demonstrationen an der Po-Linie ablenkt. Oder er konzentriert bei eifrigen Demonstrationen gegen die österreichische Rechte seine Hauptkräfte bei Valenza, wo Baraguay, Mac-Mahon und die Garde mit 99 Bataillonen und Cucchiari, Durando und Castelborgo mit 42 Bataillonen stehen, die durch rasche Verlegung von Canroberts Korps und einigen Piemontesen nach diesem Standort verstärkt werden können, wodurch 170 Bataillone an einem Punkt vereinigt wären und das österreichische Zentrum überfallen könnten, um es zu zerschlagen. Die Offenheit, mit der Canroberts Korps (von dem nach allem nur Trochus Division dort sein konnte) und Fantis Piemontesen an der Sesia aufmarschierten, während Louis-Napoleon unter ähnlicher Schaustellung sein Hauptquartier nach Vercelli verlegte, scheinen für die zweite Möglichkeit zu sprechen. Aber wir können nur Vermutungen anstellen. Inzwischen sind die Österreicher offenbar noch an der Agogna, obgleich die Londoner „Daily News"[225] von ihrem Rückzug über den Ticino berichtete. Ihre Truppen konzentrieren sich immer mehr auf einem kleinen Raum um Garlasco. Dann und wann strecken sie ihre Fühler aus, wie z. B. bei Montebello oder bei Palestro, achten aber darauf, sich nicht zu zersplittern. Ihre Stärke beträgt mindestens sechs Armeekorps mit 160 bis 200 Bataillonen (je nachdem, wieviele für Garnisonen abgezogen wurden). Die Kräfte scheinen also ziemlich gleich zu sein. Ein paar Tage noch, und die in den Wolken verborgenen Blitze müssen sich entladen.
Geschrieben am 2. Juni 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Kriegsereignisse
[„Das Volk" Nr. 6 vom 11. Juni 1859] Der fragmentarische und widerspruchsvolle Charakter der vom Kriegsschauplatz erhaltenen Telegramme erlaubt nur einige Randglossen über den Rückzug der Österreicher über den Ticino und ihre Niederlage bei Magenta. Eingeschüchtert, wie es scheint, durch General Niels Besetzung von Novara, zogen sich die Österreicher während des 3. und 4. Juni über den Ticino zurück. Am 4.Juni um 4 Uhr morgens fielen Franzosen und Piemontesen, die den. Ticino bei Turbigo und Bofralora auf dem rechten Flügel der Österreicher überschritten hatten, mit überlegenen Massen auf den unmittelbar gegenüberstehenden Feind und warfen ihn nach ungemein blutigem und hartnäckigem Widerstand aus seiner Position. Die Details, die der Telegrammist der alliierten Armee, Louis Bonaparte, über die Aktion veröffentlicht hat, zeugen von der Einbildungskraft dieses „Geheimgenerals", der seinen Widerwillen gegen die „armes de precision"1 immer noch nicht überwinden kann und daher mit Train und Bagage in ängstlicher Entfernung vom Schlachtfeld hinter der Armee nachreist, jedoch in „voller körperlicher Gesundheit". Die Zudringlichkeit, womit dies Gesundheitsbulletin der Welt an den Kopf geworfen wird, hat ihre guten Gründe. Zur Zeit der Verhandlungen der französischen Pairskammer über Louis Bonapartes Boulogner Expedition1^31 wurde nämlich durch eidliche Zeugenaussage erhärtet, daß der Held im Moment der Gefahr seinem gepreßten Herzen in einer Weise Luft gemacht hatte, die alles, nur kein Symptom „voller körperlicher Gesundheit" war. Die Österreicher hatten sich an der Agogna konzentriert in der Stellung eines Tigers auf dem Sprung. Ihre Niederlage hat Gyulay verschuldet durch Aufgabe dieser Stellung. Nachdem sie die Lomellina besetzt und Position
1 „Präzisionswaffen" (gezogene Gewehre)
ungefähr 30 Meilen vor Mailand eingenommen hatten, verstand sich von selbst, daß alle möglichen Zugänge zu dieser Hauptstadt nicht gedeckt werden konnten. Drei Wege standen den Alliierten offen: einer durch das österreichische Zentrum über Valenza, Garlasco und Bereguardo; einer auf der österreichischen Linken über Voghera, Stradella und den Po zwischen Pavia und Piacenza; endlich die Straße zur österreichischen Rechten über Vercelli, Novara und Boffalora. Wollten die Österreicher Mailand direkt verteidigen, so konnten sie nur eine dieser Straßen durch ihre Armee versperren. Die Aufstellung eines Korps auf jeder derselben würde ihre Kräfte zersplittert und ihre Niederlage versichert haben. Aber es ist eine Regel moderner Kriegführung, daß eine Straße durch eine Seitenstellung ebensogut, wenn nicht besser, verteidigt wird als durch eine Stellung in der Fronte. Eine Armee von 150 000 bis 200 000 Mann, konzentriert auf einem kleinen Terrainabschnitt, bereit, in jeder Richtung zu handeln, wird von dem Feinde nur ungestraft vernachlässigt, wenn er über eine numerisch außerordentlich überlegene Streitkraft verfügt. Als Napoleon 1813 auf die Elbe zu marschierte, hatten die Alliierten, obgleich numerisch viel schwächer, Gründe, ihn zur Schlacht zu provozieren. Sie stellten sich daher bei Lützen auf, einige Meilen südlich von der Straße, die von Erfurt nach Leipzig führt. Napoleons Armee war zum Teil schon vorbeimarschiert, als die Alliierten den Franzosen ihre Nähe kundgaben. Infolge davon wurde die gesamte französische Armee zum Halt gebracht, ihre avancierten Kolonnen wurden zurückberufen, und es fand eine Schlacht statt, die den Franzosen, obgleich in einer numerischen Überlegenheit von etwa 60 000 Mann, kaum den Besitz des Schlachtfelds ließ. Den nächsten Tag marschierten beide Armeen auf Parallellinien nach der Elbe zu, ohne daß der Rückzug der Alliierten belästigt worden wäre. Mit minder disproportionierten Streitkräften würde die Seitenstellung der Alliierten Napoleons Marsch wenigstens ebenso erfolgreich aufgehalten haben, als eine direkte Frontauf Stellung nach dem Weg von Leipzig. Ähnlich war Gyulays Stellung. Mit einer Streitkraft von ungefähr 150 000 Mann stand er zwischen Mortara und Pavia, so die direkte Straße von Valenza nach Mailand sperrend. Er konnte auf beiden Flügeln umgangen werden, aber seine Position bot ihm die Gegenmittel gegen solche Umgehung. Die Masse der alliierten Armee wurde am 30., 31. Mai und I.Juni konzentriert bei Vercelli. Sie bestand aus 4 piemontesischen Divisionen (56 Bataillonen), Niels Korps (26 Bataillonen), Canroberts Korps (39 Bataillonen), der Garde (26 Bataillonen) und Mac-Mahons Korps (26 Bataill.), zusammen 173 Bataillonen Infanterie außer der Kavallerie und Artillerie. Gyulay seinerseits hatte 6 Armeekorps, geschwächt durch
Detachierungen gegen Garibaldi, nach Voghera, zur Besetzung verschiedener Plätze usw., aber immer noch 150 Bataillons musternd. Seine Armee stand so, daß sie zur Rechten nur umgangen werden konnte durch einen Flankenmarsch innerhalb ihres Operationskreises. Nun ist es bekannt, daß eine Armee stets Zeit braucht, um aus der Marschordnung in Schlachtordnung überzugehen, selbst bei einem Frontangriff, obgleich in diesem Falle die Marschordnung so viel als möglich für den Kampf eingerichtet ist. Ungleich gefährlicher wird die Störung, wenn Kolonnen in Marschordnung in der Flanke angegriffen werden. Es ist daher stehende Regel, einen Flankenmarsch im Wirkungsbereich des Feindes zu vermeiden. Die alliierte Armee verletzte die Regel. Sie marschierte auf Novara und den Ticino, scheinbar ohne Rücksicht auf die Österreicher in ihrer Flanke. Dies war der Moment der Handlung für Gyulay. Er hatte seine Truppen in der Nacht vom 3. Juni auf Vigevano und Mortara zu konzentrieren, nach Zurücklassung eines Korps an der unteren Agogna zur Beobachtung von Valenza, und am 4. Juni mit jedem disponiblen Mann den avancierenden Alliierten in die Flanke zu fallen. Das Resultat eines solchen Angriffs, unternommen mit ungefähr 120 Bataillonen auf die langgestreckte und vielfach unterbrochene Marschkolonne der Alliierten, war kaum zweifelhaft. Hatte ein Teil der Alliierten den Ticino schon überschritten, desto besser für Gyulay; sein Angriff würde sie zurückgerufen, ihnen aber kaum die Zeit ^s^önnt haben, entscheidend mitzuwirken. Selbst im schlimmsten Falle eines nicht erfolgreichen Angriffs blieb der Rückzug der Österreicher auf Pavia und Piacenza so sicher als z. B. nach der Schlacht bei Magen ta. Die ganze Aufstellung Gyulays zeigt, daß dies in der Tat der ursprüngliche Plan der Österreicher war. Sein Kriegsrat hatte nach reiflicher Erwägung beschlossen, daß den Franzosen die direkte Straße nach Mailand offen bleiben und Mailand nur durch einen Marsch auf die Flanke des Feindes gedeckt werden solle. Als aber der entscheidende Augenblick kam und Gyulay die französischen Massen auf seiner Rechten sich nach Mailand wälzen sah, verlor der Vollblut-Magyar den Kopf, schwankte und retirierte schließlich hinter den Ticino. Und damit bereitete er sich die Niederlage. Während die Franzosen auf grader Linie nach Magenta (zwischen Novara und Mailand) marschierten, machte er einen großen Umweg, erst den Ticino entlang hinuntermarschierend und ihn überschreitend bei Bereguardo und Pavia, und dann wieder heraufmarschierend längs des Flusses nach Boffalora und Magenta, um den direkten Weg nach Mailand zu versperren. Die Folge war, daß seine Truppen in schwachen Detachements eintrafen und nicht in solchen Massen aufgehäuft werden konnten, um den Kern der alliierten Armee zu brechen.
Unter der Voraussetzung, daß die alliierte Armee im Besitz des Schlachtfeldes, d. h. der direkten Straße nach Mailand geblieben ist, müssen sich die Österreicher hinter den Po, hinter die Adda oder ihre großen Festungen zurückziehen, um sich zu reorganisieren. Obgleich dann die Schlacht bei Magenta das Schicksal Mailands, würde sie noch keineswegs den Feldzug entscheiden. Die Österreicher haben drei ganze Armeekorps, die in diesem Augenblick am Adige konzentriert werden und ihnen die Machtbilanz schließlich sichern müßten, wenn die groben Schnitzer des „Geheimgenerals" nicht, wie diesmal wieder, durch die Unentschlossenheit Gyulays korrigiert werden.
Friedrich Engels Die österreichische Niederlage
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5669 vom 22. Juni 1859, Leitartikel] Durch die „Persia", die gestern abend eintraf, erhielten wir eine Reihe hochinteressanter Dokumente über die Schlacht von Magenta, die unsere Leser an anderer Stelle finden. Ihr Inhalt kann sehr kurz zusammengefaßt werden: Die Schlacht von Magenta war eine entscheidende Niederlage für die Österreicher und ein klarer Sieg für die Franzosen; die Alliierten sind unter allgemeinen Freudenbezeigungen in Mailand einmarschiert; die Österreicher befinden sich in vollem Rückzug, und Benedeks Korps wurde von Baraguay d'Hilliers (über dessen Rücktrittsabsichten nichts mehr zu hören war) bei Marignano völlig geschlagen und verlor 1200 Gefangene; die Alliierten sind jetzt voller Zuversicht und die Österreicher entmutigt und verzweifelt. Unsere Londoner Zeitungskollegen betrachten allgemein die Schlacht als eine Überrumpelung der Österreicher; und das war auch unsere Meinung, bis wir von den neuesten Dokumenten Kenntnis erhielten. Nun scheint uns, daß Gyulay nicht so sehr überrumpelt als bei einem verhängnisvollen Fehler ertappt wurde; wir werden diese Ansicht im folgenden begründen. Als die Österreicher ihre Position ungefähr dreißig Meilen vor Mailand einnahmen, verstand sich von selbst, daß sie nicht alle möglichen Zugänge zu dieser Hauptstadt decken konnten. Drei Wege standen den Alliierten offen: einmal direkt durch das österreichische Zentrum über Valenza, Garlasco und Bereguardo, oder auf der österreichischen Linken über Voghera, Stradella und über den Po zwischen Pavia und Piacenza, und endlich zur österreichischen Rechten über Vercelli, Novara und Boffalora. Wenn die Österreicher jedoch Mailand verteidigen wollten, so konnten sie nur eine dieser drei Routen verteidigen, indem sie sie durch ihre Armee versperren; auf jeder einzelnen ein Korps aufzustellen, würde ihre Kräfte zersplittern und sie einer sicheren Niederlage
aussetzen. Aber es ist eine anerkannte Regel der modernen Kriegführung, daß eine Straße durch eine Seitenstellung ebensogut, wenn nicht besser, verteidigt werden kann als durch eine bloße Frontstellung. Eine Armee von 150 000 bis 200 000 Mann, die auf einem kleinen Terrainabschnitt konzentriert und in jeder Richtung zu handeln bereit ist, kann vom Feinde nicht ungestraft vernachlässigt werden, außer er besitzt eine äußerst überlegene Streitkraft. Als zum Beispiel Napoleon 1813 auf die Elbe zu marschierte, und die Alliierten, obgleich zahlenmäßig viel schwächer, ihre Gründe hatten, eine Schlacht zu suchen, nahmen sie bei Lützen Aufstellung, einige Meilen südlich von der Straße, die von Erfurt nach Leipzig führt. Napoleons Armee war zum Teil schon vorbeimarschiert, als die Alliierten den Franzosen ihre Nähe kundgaben. Daraufhin wurde der Marsch der ganzen Armee gestoppt, die avancierte Kolonne zurückberufen, und es fand eine Schlacht statt, die den Franzosen, obgleich diese mit 60 000 Mann überlegen waren, kaum den Besitz des Schlachtfelds ließ. Am nächsten Tag marschierten beide feindlichen Armeen auf Parallellinien nach der Elbe zu, und der Rückzug der Alliierten wurde nicht einmal belästigt. Wenn sich die Stärke der Streitkräfte mehr das Gleichgewicht gehalten hätte, so würde die Seitenstellung der Alliierten Napoleons Marsch wenigstens ebenso erfolgreich aufgehalten haben, wie eine frontale Besetzung des direkten Weges nach Leipzig. General Gyulay war genau in einer solchen Stellung. Mit einer Streitkraft, die auf mehr als 150 000 Mann zu erhöhen ganz allein von ihm abhing, stand er zwischen Mortara und Pavia, so die direkte Straße von Valenza nach Mailand sperrend. Er konnte an jedem Flügel umgangen werden, aber das lag ganz in der Natur seiner Position, und wenn diese Position irgend etwas wert war, hätte er für diesen Fall ein wirksames Gegenmittel finden müssen, ausgehend von den Möglichkeiten, die ihm diese Position gegen solche Umgehungen bot. Wir wollen hier die österreichische Linke völlig außer Betracht lassen und uns auf den Flügel beschränken, der tatsächlich umgangen wurde. Am 30. und 3I.Mai und am 1 .Juni konzentrierte Louis-Napoleon die Masse seiner Truppen bei Vercelli. Am 31. hatte er dort 4 piemontesische Divisionen (56 Bataillone), Niels Korps (26 Bataillone), Canroberts Korps (39 Bataillone) und die Garde (26 Bataillone). Zusätzlich zog er noch Mac-Mahons Korps herbei (26 Bataillone), also zusammen die gewaltige Streitmacht von 173 Bataillonen Infanterie außer der Kavallerie und Artillerie. Gyulay hatte sechs österreichische Armeekorps; sie waren geschwächt durch Detachierungen zur Besetzung verschiedener Plätze, gegen Garibaldi, nach Voghera usw., hatten aber immer noch durchschnittlich je 5 Brigaden, das ergibt 30 Brigaden oder 150 Bataillone.
Kein General würde wagen, eine solche Armee, die sich ihrer Kraft bewußt ist, in seiner Flanke oder in seinem Rücken zu lassen. Außerdem war diese Armee so aufgestellt, daß ihre Rechte nicht anders umgangen werden konnte, als durch einen Flankenmarsch innerhalb ihres Operationskreises, und ein solcher Flankenmarsch ist ein sehr gefährliches Manöver. Eine Armee in Marschordnung braucht immer eine geraume Zeit, um in richtige Schlachtordnung überzugehen. Sie ist niemals völlig auf eine Schlacht vorbereitet. Das ist selbst bei einem Frontangriff der Fall, bei dem die Marschordnung so weit wie möglich für den Kampf eingerichtet wird; es ist noch weit mehr der Fall, wenn die Marschkolonnen in der Flanke angegriffen werden. Es ist daher eine feststehende Regel der Strategie, einen Flankenmarsch im Wirkungsbereich des Feindes zu vermeiden. Louis-Napoleon, der sich auf seine Massen verließ, verletzte diese Regel vorsätzlich. Er marschierte auf Novara und den Ticino, ohne die Österreicher, die sich offensichtlich in seiner Flanke befanden, zu beachten. Hier war für Gyulay der Moment des Handelns gekommen. Es war seine Aufgabe, seine Truppen in der Nacht des 3. Juni auf Vigevano und Mortara zu konzentrieren, ein Korps an der unteren Agogna zur Beobachtung von Valenza zurückzulassen und am 4. mit jedem verfügbaren Mann den vorrückenden Alliierten in die Flanke zu fallen. Das Resultat eines solchen Angriffs, ünternommen mit ungefähr 120 Bataillonen auf die langgestreckten, unterbrochenen Kolonnen der Alliierten, war kaum zweifelhaft. Wenn ein Teil der Alliierten den Ticino überschritten haben sollte, desto besser 1 Dieser Angriff hätte sie zurückgerufen, doch wären sie kaum rechtzeitig genug da gewesen, um entscheidend in den Kampf einzugreifen. Und selbst wenn der Angriff erfolglos geblieben wäre, so wäre der Rückzug der Österreicher nach Pavia und Piacenza ebenso sicher gewesen, wie jetzt nach der Schlacht von Magenta. Es gibt Gründe für die Annahme, daß dies wirklich der ursprüngliche Plan Gyulays war. Doch als er am 2. Juni sah, wie die Franzosen ihre Massen zu seiner Rechten auf der direkten Straße nach Mailand sammelten, scheint ihn seine Entschlossenheit verlassen zu haben. Die Franzosen könnten, wenn er es zuließ, ebenso schnell wie er in Mailand sein - es gab kaum einen Mann, um die direkte Straße zu blockieren; der Einmarsch auch nur einer kleinen Einheit Franzosen in Mailand würde jedoch die ganze Lombardei in Flammen setzen. Diese Überlegungen wurden höchstwahrscheinlich in seinem Kriegsrat hin und her erwogen und endlich entschieden, daß ein Marsch auf die Flanke der Franzosen vollkommen genüge, um Mailand zu decken. Als aber der Fall wirklich eintrat und die Franzosen ebenso nahe an Mailand waren wie die Österreicher, verlor Gyulay den Kopf und zog sich schließlich hinter den Ticino zurück. Das besiegelte
seine Niederlage. Während die Franzosen in gerader Linie nach Magenta marschierten, machte er einen großen Umweg, marschierte erst den Ticino entlang hinunter, überschritt ihn bei Bereguardo und Pavia, und marschierte dann wieder längs des Flusses herauf nach Boffalora und Magenta - damit zu spät den Versuch unternehmend, den direkten Weg nach Mailand zu versperren. Die Folge davon war, daß seine Truppen in schwachen Detachements eintrafen und nicht in solchen Massen herangebracht werden konnten, wie erforderlich waren, um dem Kern der alliierten Streitkräfte erfolgreich zu widerstehen. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Österreicher gut kämpften, und wir beabsichtigen, auf die Frage der Strategie und Taktik im Kampf bei anderer Gelegenheit zurückzukommen. Aber es ist zwecklos, wenn sie in ihren Bulletins versuchen, die Tatsache zu beschönigen, daß sie geschlagen wurden und daß die Schlacht das Schicksal Mailands entschieden hat und ihre Auswirkungen auf das Schicksal des Feldzuges haben muß. Inzwischen konzentrieren die Österreicher drei weitere Armeekorps an der Etsch, wodurch sie eine beträchtliche zahlenmäßige Überlegenheit erlangen werden. Das Kommando wurde Gyulay abgenommen und General Heß übergcben, der als bester Stratege Europas gilt; doch soll er so sehr Invalide sein, daß er nicht in der Lage ist, sich längere Zeit einer Aufgabe zu widmen. Unsere Leser werden bemerken, daß die maßgeblichen französischen und englischen Quellen den Berichten über Ausschreitungen der Österreicher in der Lomellina entgegentreten. Wir lenken ebenfalls die Aufmerksamkeit auf diese Tatsache, nicht nur um allen Parteien Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern auch, weil unser eigener Unglauben an diese Berichte ausgelegt wurde als ein Ausdruck der Sympathie mit der Sache Franz Josephs eines Potentaten, dessen Sturz wir nicht um einen Tag verzögert sehen möchten. Wenn er und Napoleon zusammen und jeder durch die Hand des anderen untergehen würden, wäre die Vollkommenheit der historischen Gerechtigkeit erreicht.
Geschrieben um den 9. Juni 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Schlacht von Magenta12261
[„Das Volk" Nr. 7 vom 18. Juni 1859] Die offiziellen Berichte, französische und österreichische, über die Schlacht von Magenta bewahrheiten die Vermutungen, die wir auf Grund der telegraphischen Depeschen gewagt hatten. Am Morgen des 4. Juni hatten die Österreicher ihren Rückzug über den Ticino bewerkstelligt und marschierten nach Magenta und Abbiategrasso, um der französischen Armee, die auf Mailand losging, in die Flanke zu fallen. General Clam-Gallas, der grade mit einer Division seines Korps (des ersten) von Mailand eingetroffen war, sollte gleichzeitig mit seiner Division und dem zweiten Korps (Liechtenstein), das sich ihm bei Magenta anschloß, den Feind in der Fronte angreifen. Als Reserve hatte er die Division Reischach des siebenten Korps (Zobel) bei Corbetta, einige Meilen hinter Magenta. Nachdem die Linie des Ticino als unhaltbar aufgegeben war, sollten diese sieben oder acht österreichischen Brigaden die Linie des Naviglio-Grande halten, eines breiten Kanals, der beinahe parallel mit dem Ticino läuft und nur auf Brücken überschreitbar ist. Zu verteidigen waren die zwei Brücken von Boffalora und Magenta auf zwei Straßen, die beide von Magenta zur Brücke von San Martino über den Ticino führen. Die Division des ersten Korps (kommandiert vom General Cordon) avancierte auf der Straße von Turbigo; zwei Brigaden des zweiten Korps waren auf den Brücken, eine Division vor Magenta, Reischachs Division (siebentes Korps), wie gesagt, zu Corbetta. Die Franzosen avancierten in zwei Kolonnen. Die erste unter dem Nominalkommando des Helden von Satory[62] bestand aus der Division der Gardegrenadiere und den Korps von Canrobert, Niel und Baraguay d'Hilliers, in allem 9 Divisionen oder 18 Brigaden (117 Bataillons). Sie avancierte auf der direkten Straße von Novara nach Mailand über die Brücke von San Martino und sollte die Brücken von Boffalora und Magenta nehmen. Die zweite Kolonne, unter Mac-Mahon, bestand aus der Division der Garden
Voltigeurs, aus Mac-Mahons Korps und der ganzen piemontesischen Armee, in allem 8 Divisionen oder 16 Brigaden (109 Bataillons, die piemontesischen Divisionen zählen ein Bataillon mehr als die französischen). Ihre Spitze hatte den Ticino und Naviglio ohne ernsthaften Widerstand bei Turbigo überschritten und sollte den Frontangriff der ersten Kolonne durch eine Bewegung auf die österreichische Flanke unterstützen, nämlich durch einen direkten Marsch auf Magenta von Norden. Um Mittag eröffnete Mac-Mahon den Angriff. Mit überlegenen Kräften trieb er die Division Cordon vor sich nach Magenta hin, und um 2 Uhr ungefähr griffen die Gardegrenadiere, die die östreichischen Vorposten bis zum Kanal gejagt hatten, die Brücken von Boffalora und Magenta an. In diesem Moment befanden sich auf dem Schlachtfelde 8 französische Brigaden gegenüber 5 österreichischen Brigaden (2 von dem ersten und 3 von dem zweiten Korps) oder weniger als 30 000 Mann, denn selbst Reischachs zwei Brigaden weilten noch zu Corbetta. Der französische „Geheimgeneral", nach Falstaffs Anleitung, verwandelt weniger als 30000 Österreicher in mehr als 125 000. Es gelang den Franzosen, die Brücken über den Kanal zu stürmen. Gyulay, der sich bei Magenta befand, befahl Reischach vorzumarschieren und die Brücke von Magenta wiederzunehmen. Dies geschah. Boffalora aber scheint in der Hemd der Franzosen geblieben zu sein. Die Schlacht stockte. Mac-Mahons Korps sowohl wie die Grenadiere der Garde waren erfolgreich zurückgeschlagen, aber die Österreicher hatten auch jeden verfügbaren Mann engagiert. Wo steckten die andern Korps? Sie waren überall, nur nicht, wo sie sein sollten. Die zweite Division des ersten Korps befand sich noch auf dem Marsch von Deutschland. Ihre Ankunft konnte daher verständlicherweise nicht erwartet werden. Über eine andre Brigade des zweiten Korps fehlte alle Auskunft. Gyulays eigne Depeschen jedoch beweisen, daß nur 3 Brigaden des zweiten Korps engagiert waren. Die zweite Division des siebten Korps, kommandiert von General Lilia, war zu Castelletto, 6 oder 7 Meilen von Magenta. Das dritte Korps befand sich zu Abbiategrasso, 5 Meilen von Magenta. Das fünfte Korps marschierte nach Abbiategrasso, wahrscheinlich von Bereguardo. Im Beginn der Schlacht befand es sich wenigstens 9 Meilen von Magenta, das achte Korps war auf dem Marsch von Binasco nach Bestazzo, 10 oder 12 Meilen weit ab, und das neunte Korps, incredibile dictu1, trieb sich am Po herum, hinter Pavia, 20 oder 25 Meilen vom Kriegsschauplatz. Durch diese fabelhafte Zersplitterung seiner Truppen versetzte sich Gyulay in die unangenehme Lage,
1 unglaublich zu sagen
25 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
von Mittag bis ungefähr 5 Uhr abends den Anprall beider französischer Kolonnen mit nur sieben Brigaden aushalten zu müssen. Letzteres war bloß möglich, weil die ungeheuren französischen Massen auf nur zwei Straßen marschierten und daher nur träge heranwälzten. Während Reischach die Brücke von Magenta hielt und eine der neuen französischen gezogenen Kanonen erbeutete, ritt Herr Gyulay nach Robecco, einem Dorf am Kanal, ungefähr 3 Meilen unter Boffalora, um den Marsch des dritten und fünften Korps zu beschleunigen und ihnen ihre Angreifsrichtung anzuweisen. Vier Brigaden des dritten Korps wurden nun vorangeworfen, Härtung und Ramniing in erster Linie, Dürfeid als Reserve, alle drei entlang den Kanal, Wetzlar aber entlang den Ticino. Sie sollten den Franzosen in die rechte Flanke fallen. In der Zwischenzeit jedoch hatten die letzteren ebenfalls Verstärkung erhalten. Picards Brigade (Division Renault, Korps Canrobert) kam zur Unterstützung der Grenadiere und trieb Reischach über die Brücke zurück. Ihm folgte Vinoys Division (Niels Korps), Jannins Brigade (Division Renault) und Trochus Division (Korps Canrobert). So konzentrierten die Franzosen auf diesem Punkt sechs Brigaden, dazu zwei ihrer Grenadierbrigaden. Auf der andern Seite waren von den vier Brigaden des dritten östreichischen Korps nur zwei oder drei wirklich engagiert. Trotz dieses Mißverhältnisses setzten sich die Österreicher wieder und wieder in den Besitz der Brücke von Magenta, die der feindlichen Übermacht nur nach den verzweifeltsten Anstrengungen blieb. Während man so um die Brücken rang, hatte Mac-Mahon einen zweiten Angriff vorbereitet auf die Österreicher in seiner Fronte, ungefähr 4 oder 5 Brigaden vom ersten und zweiten Korps. Seine 2 Divisionen drangen von neuem vor in zwei Kolonnen auf Magenta, hinter ihnen in zweiter Linie Camous Garde-Voltigeur-Division. Da die Divisionen Espinasse und La Motterouge (Mac-Mahons Korps) von den Österreichern mit Erfolg zurückgedrängt waren, avancierten die Voltigeurs zu ihrer Unterstützung. Der Kampf trat nun in den Wendepunkt der Krise. Die erste französische Kolonne hatte die Brücke von Magenta passiert und wälzte sich auf die Ortschaft, [die] bereits hart bedrängt von Mac-Mahons Kolonne. Endlich, bei Sonnenuntergang, erschien das fünfte österreichische Korps auf dem Schlachtfeld, die Brigade Prinz von Hessen1. Sie machte einen neuen Versuch, die Franzosen über die Brücke zurückzutreiben. Jedoch vergeblich. Es war in der Tat übertriebene Erwartung, daß eine schwache Brigade, bereits dezimiert in der Schlacht von Montebello, stemmen und zurückschleudern sollte den Lava
1 Die Brigade wurde zu dieser Zeit von General Dormus kommandiert
ström von französischen Truppen, der die Brücke von Magenta überschwemmte. In der Front, der Flanke und dem Rücken angegriffen, und ohne Rast seit Beginn der Aktion im Feuer, wichen die Österreicher schließlich zurück, und nach wiederholt ^heftigem Ringen ward Magenta gegen Abend von den Franzosen besetzt. Gyulay zog seine Truppen zurück über Corbetta, in der Zwischenzeit von der Division Lilia besetzt, und über Robecco, vom dritten Korps gehalten, während das fünfte Korps zwischen den zwei Plätzen biwakierte. Er beabsichtigt, den Kämpf am 5. Juni fortzusetzen, aber eine ganz wunderliche Verwirrung in den ausgeteilten Befehlen vereitelt den Plan; denn mitten in der Nacht erfährt er plötzlich, daß das erste und zweite Korps, infolge mißverstandener Orders, sich mehrere Meilen vom Schlachtfeld zurückgezogen und ihren Rückzug noch um 3 Uhr morgens fortsetzen. Diese Nachricht bestimmte Gyulay, die für den kommenden Tag beabsichtigte Schlacht aufzugeben. Eline Brigade des dritten Korps stürmte von neuem auf Magenta zur Deckung des Rückzugs der Österreicher, der in der größten Ordnung stattfand. Nach dem österreichischen Berichtt227] waren auf ihrer Seite engagiert; Brigaden vom 1. Korps Cordons Division 2 „ 2. Korps 3 „ 7. Korps Reischachs Division 2 „ 3. Korps 3 „ 5. Korps spät am Abend 1 zusammen 11
Nach dem französischen Bericht[228] waren von den Alliierten engagiert:
Brigaden vom Gardekorps 2 Divisionen 4 von Mac-Mahons Korps 4 „ Canroberts Korps 2 Divisionen (Renault und Trochu) 4 „ Niels Korps 1 Division (Vinoy) 2 zusammen 14
Die 14 französischen Brigaden - 91 Bataillons - waren wenigstens 80 000 Mann stark. Aber der französische Schlachtbericht sagt mit Bezug auf das Vorrücken der Division Vinoy:
„Das 85. Linienregiment litt am meisten ... General Martimprey erhielt eine Wunde an der Spitze seiner Brigade."
Nun gehören weder das 85. Regiment noch Martimpreys Brigade zu Vinoys Division von Niels Korps. Das 85. Regiment gehört zur zweiten Brigade unter General Ladreitt de la Charrieres Kommando, Division Ladmirault, und General Martimprey kommandiert die erste Brigade derselben Division, gehörig zum Korps des Marschalls Baraguay d'Hilliers. So finden wir einen unwiderleglichen Beweis, daß mehr französische Truppen engagiert waren, als im offiziellen Bericht aufgezählt sind. Wenn Ladmiraults Division, die die Zahl der Brigaden zu 16, die der Bataillons zu 104 und die der Kämpfer zu 90 000 aufschwellt, so weggemogelt wird, drängt sich der Verdacht auf, daß die auf dem Schlachtfeld tätigen Franzosen überhaupt viel zahlreicher waren als die auf dem Schlachtbulletin figurierenden. Zudem ersieht man aus dem Bericht der Österreicher, daß ihre Gefangenen fast allen Regimentern angehören, woraus die alliierte Operationsarmee in Italien besteht. Die Franzosen befanden sich also in einer numerischen Überlegenheit, die den österreichischen Truppen die höchste Ehre macht. Nur Schlachtfeldweite wurde ihnen abgerungen; sie nahmen eine Kanone und verloren vier; sie verließen den Kampfplatz mit der Zuversicht, daß ihnen bei gleichen Streitkräften der Sieg sicher sei. Was aber sollen wir von ihrem General sagen, dem k. k. Feldzeugmeister? Am 4. Juni erwartet er den Angriff. Lr hat 13 Brigaden (die 7 erst engagierten, 2 von Lilia, 4 vom dritten Korps) 8 Meilen vom Schlachtfeld; 4 andre Brigaden vom fünften Korps 9 Meilen ab; endlich 4 Brigaden des achten Korps in einer Entfernung von 10 oder 12 Meilen. So standen seine Truppen morgens um 8 Uhr 30 Minuten. Ist es zuviel verlangt an einem Schlachttag, daß alle diese Korps um 4 oder spätestens 5 Uhr abends Magenta genug genaht sein sollten, um sich an der Schlacht zu beteiligen? Mußten um 2 Uhr nachmittags, als die Schlacht im Ernst begann, statt 7 Brigaden nicht wenigstens 13 engagiert sein? In diesem Fall wurden die großen Verluste der Division Cordon und des zweiten Korps vermieden. Mit Ankunft des fünften Korps hätten die Österreicher die Offensive ergreifen und die Franzosen über den Ticino zurückwerfen können. Aber die altberüchtigte Bewegungsunfähigkeit scheint bei den Österreichern wieder obzusiegen. Sie verlieren die kostbarsten Augenblicke in nutzloser Po mphaftigkeit und leeren Formalitäten, sagte der wirkliche Napoleon. Gyulay hat die Tradition wieder aufgefrischt und so, den eignen Sieg verscherzend, dem „Geheimgeneral" einen Sieg verschafft, der leicht und entscheidend gewesen wäre, wenn nicht erlähmt an der zähen Bravour der österreichischen Soldaten
und der talentlosen Nichtigkeit des Chefs der Gesellschaft vom 10. Dezember12293. Am Morgen des 5. Juni hatte Gyulay unter seinem Koihmando an Truppen, die noch nicht zu Magenta engagiert waren:
Brigaden eine Division vom 3. Korps 2 vom 5. Korps 3 eine Division (Lilia) vom 7. Korps 2 vom 8. Korps 4 zusammen 11
Es war dies eine Streitkraft gleich der, worüber er den Tag zuvor verfügt. Von den am vorigen Tage engagierten Truppen waren nur 3 Divisionen (erstes und zweites Korps) zunächst kampfunfähig. Blieben davon 8 disponible Brigaden, zusammen 19 Brigaden, über 100 000 Mann. Ihm gegenüber standen die 16 schon am 4. engagierten Brigaden; 4 neue französische Divisionen, die am 5. kampfbereit sein mußten und eine oder zwei Divisionen der Piemontesen, welche letztere sich noch weit im Nachzug befanden. So konnte Gyulay am 5. 19 Brigaden zur Disposition haben, die, nun gar unterstützt vom neunten Korps, das er auf unbegreifliche Weise weit weg hielt, das Schicksal des vorigen Tages umkehren mußten. Gyulays Schnitzer können kurz so zusammengefaßt werden: Erstens: Als Louis-Napoleon den Flankenmarsch im Operationskreis der Österreicher von Vercelli nach Turbigo machte, benützt Gyulay nicht die ungünstige Position seiner Feinde und fällt nicht mit allen seinen Streitkräften auf ihre ausgesetzte Marschlinie, die er entzweischneiden und zum Teil zu den Alpen jagen konnte - Radetzkys Manöver von 1849 wiederholend. Zweitens: Statt dessen retiriert er hinter den Ticino und bewegt sich so auf einem Umweg zur Deckung Mailands, während die gerade Straße dem Feinde überlassen war. Drittens'. Er zerstreut seine Truppen während des Rückzugs und bewerkstelligt letztern mit einer bequemen Trägheit, die kaum auf dem Exerzierplatz verzeihlich wäre. Viertens: Sein neuntes Korps läßt er ganz außerhalb des Bereichs der Konzentration. Fünftens: Während der Schlacht selbst wurde die Konzentration so liederlich ausgeführt, daß die Truppen unnütz litten und der Sieg dem Feinde geschenkt wurde.
Wenn Gyulay trotz dieser gehäuften und groben Schnitzer dennoch keine vollständige Niederlage erlitt, obgleich ihm die Elite der französischen Armee gegenüberstand, ist dies ausschließlich geschuldet der Tapferkeit seiner Truppen und der Schlauheit seines gegnerischen „Geheimgenerals". Gyulays Truppen vertraten die unbesiegbare Lebenskraft der Völker, er selbst den altersschwachen Idiotismus der Monarchie. Der Geheimgeneral auf der andern Seite merkt, daß mit dem Rückzug der Österreicher an den Mincio der melodramatische Teil des Kampfes endet und der wirkliche Krieg beginnt. Er hat sich überzeugt, wie richtig der Weisheitsspruch, den der wirkliche Napoleon dem Bruder Joseph ins Gewissen prägte, nämlich, daß man die persönliche Gefahr im Krieg durch kein Versteckspielen vermeidet. Endlich hat Canrobert, beleidigt über Mac-Mahons Bevorzugung, gedroht mit gewissen Enthüllungen über des Helden von Satory Heldentaten in diesem Feldzug. Der Held sehnt sich daher zurück zu seiner lieben Frau im Faubourg Poissonniere und nach peace et any price1. Wenn das unerreichbar, wenigstens Friedensunterhandlungen, um „seinen leiblichen Rückzug nach Paris" zu beschönigen.
Karl Marx Spree und Mincio
[„Das Volk" Nr. 8 vom 25. Juni 1859] Voltaire hielt sich bekanntlich vier Affen in Femey, denen er die Namen seiner vier literarischen Widersacher Freron, Beaumelle, Nonnotte und Franc de Pompignans beigelegt hatte. Kein Tag verging, ohne daß sie der Dichter mit eigner Hand fütterte, mit Fußtritten regalierte, an den Ohren zwickte, mit Nadeln in die Nasen stach, auf die Schwänze trat, in Pfaffenkapuzen steckte und in jeder erdenklichen Weise malträtierte. Diese Affen der Kritik waren dem Alten von Ferney zur Ableitung seiner Galle, Befriedigung seines Hasses und Beschwichtigung seiner Furcht vor den Waffen der Polemik ebenso notwendig, wie die Affen der Revolution es für Louis Bonaparte in Italien sind. Auch die Kossuth, Klapka, Vogt, Garibaldi werden gefüttert, mit goldenen Halsbändern versehen, hinter Schloß und Riegel gehalten, bald kajoliert, bald mit Fußtritten bedient, je nachdem der Haß oder die Furcht vor der Revolution in der Laune ihres Gebieters überwiegen. Die armen Affen der Revolution sollen auch ihre Geiseln sein, sie sollen dem Manne des zweiten Dezember1421 den Waffenstillstand der revolutionären Partei garantieren, damit er ungehindert die Arsenale der orsinischen Bomben1571 zerstören und den Feind, vor dem er so lange in den Tuilerien erzitterte, im eigenen Lager überfallen und erwürgen kann. Das Kaiserreich muß wieder Frieden bedeuten[531, oder es verlohnt sich nicht der Mühe, so viel Schandtaten begangen, so viel Meineide geschworen und so viel Erniedrigungen erduldet zu haben, um es zu gründen. Ein Kaiserreich, das von revolutionären Bomben, geheimen Gesellschaften, übermütigen Bourgeois und zügellosen Soldaten unsicher gemacht wird, ist unerträglich. Marchons!1 Hier ist Ruhm, hier sind napoleonische Ideen12301, Freiheit, Nationalität, Unabhängigkeit, alles was ihr wollt; aber marchons, marchons!
Die Idee, aus Italien eine Mausefalle der Revolution zu machen, ist raffiniert genug; nur läßt sie sich um deswillen nicht ausführen, weil jeder, der sich da fangen läßt, in demselben Augenblicke, wo er anbeißt, aufhört, irgendwelche Bedeutung für die revolutionäre Partei zu haben. Den Krater der Revolution dadurch schließen zu wollen, daß man die Herren Kossuth, Klapka, Vogt und Garibaldi kopfüber hineinwirft, ist wahrhaft kindisch und hilft nur den Ausbruch beschleunigen. Wenn es auch mit ihrer Hülfe gelingen sollte, eine orsinische Bombe in Italien zu erlöschen, so platzt eine andere in Frankreich, in Deutschland, in Rußland, oder wo es immer sein möge; denn das Bedürfnis und die Naturnotwendigkeit der Revolution ist so allgemein, wie die Verzweiflung der niedergetretenen Völker, auf die ihr euren Thron erbaut, wie der Haß der ausgeplünderten Proletarier, mit deren Elend ihr ein so vergnügliches Spiel getrieben. Und erst dann, wenn die Revolution Elementarkraft geworden ist, unberechenbar und unvermeidlich wie der Blitz, dessen Donner ihr erst hört, wenn sein tödliches Geschoß unwiderruflich entsandt ist, erst dann ist ihr Ausbruch gewiß. Wo und wie dieser Ausbruch erfolgen mag, ist von geringer Bedeutung. Die Hauptsache ist, daß er erfolgt. Diesmal scheint Preußen bestimmt zu sein, dem allgemeinen revolutionären Bedürfnisse wider Willen einen Ausdruck zu geben. Der Prinzregent, der selbständig „niemals etwas Dummes sagte und niemals etwas Weises tat", wird aus purer Liebe zum Konservatismus gezwungen, die revolutionäre Rolle ernsthaft aufzunehmen, mit der L[ouis] Bonaparte aus Furcht, Affektation und Kaprice nur ein kokettes Spiel treibt. Preußens bewaffnete Vermittekmg, d. h. seine Allianz mit Österreich, bedeutet die Revolution. Die allgemeine Stimmung der Berliner Presse beweist, daß die Neutralität mit der Mobilisierung der Armee als eine unhaltbare Position aufgegeben worden ist. Ganz richtig bemerkt die „Nat[ional]-Z[ei]t[un]g"[231], das Organ der liberalen Kabinettsanwandelungen:
„Neutralität mag unter den gegenwärtigen Umständen eine passende Rolle für Belgien, Holland oder die Schweiz sein; für Preußen ist Neutralitat - Tod."
Wenn es Bonaparte gelingt, seine edelmütigen Absichten auf Italien zu realisieren, so würde nach demselben Blatte, selbst wenn der Krieg lokalisiert bleibt und keine direkte Gebietserwerbung für Frankreich daraus hervorgeht, nur ein französisches Militärprotektorat über die ganze Halbinsel die Folge davon sein. Hierdurch würde die russisch-französische Hegemonie über den
europäischen Kontinent, welche seit den letzten drei Jahren bereits so fühlbar gewesen sei, so sehr erstarken, daß sie in jedem Augenblicke zu der in St. Helena [232] proklamierten Teilung der Herrschaft schreiten könne. Das neue Empire zeige ganz die Tendenzen des ersten und sei eben noch günstiger situiert, da es nicht von außen gedrängt werde und daher Zeit, Ort und Gelegenheit nach Gutdünken wählen könne, um seine Gegner zu isolieren und sie dann en detail zu vernichten. Um den Erfolg dieses mit so großem Geschick bisher betriebenen Schlachtplanes zu hintertreiben, sehe sich Preußen genötigt, mit Österreich zu gehen, keineswegs in der Absicht, für die Habsburger Politik Partei zu ergreifen, sondern für die eigene Existenz zu kämpfen. Dieses ist ungefähr der Inhalt des angezogenen Artikels, welcher als Programm der Regentschaftspolitik betrachtet wird. An das Gelingen des letzten Vermittelungsversuches, mit dem Herr v. Werther beauftragt ist, glaubt kein Mensch. Sollte jedoch Napoleon in einen Frieden willigen, der im besten Falle dem Mißvergnügen seiner Offiziere und Soldaten neue Nahrung geben müßte, so braucht er nicht mehr bekämpft zu werden. Dann gilt von ihm, was Horace Walpole vom sardinischen Diplomaten Marquis de Very sagte: Er ist tot, aber er wünscht es noch für ein paar Tage geheimgehalten zu sehen. Auf lange Zeit würde ihm das nicht gelingen. Wenn diese Vermittelung, die man wohl kaum im Ernst unternommen hat, fehlschlägt, dann werden die Schlachten zwischen napoleonischer Tyrannei und Habsburger Despotismus am Mincio, aber die Schlachten der Freiheit an der Oder und Weichsel geschlagen werden. Schon sind ungeheure Truppenmassen in Kaiisch, zwei Meilen von der preußischen Grenze, konzentriert. Ein preußisches Armeekorps ist für den Durchmarsch zum Rhein in Hannover angekündigt, ein anderes bewegt sich nach Süden, und die Kommandeurs der verschiedenen Bundeskorps sind zu einer Militärkonferenz nach Berlin beschieden worden. Alle diese Maßregeln beziehen sich nur auf die Mobilisierung der Avantgarde. Die Armee, welche den Kampf gegen Frankreich und Rußland ausfechten muß, existiert noch nicht und kann nur aus dem Volke rekrutiert werden, nicht aus dem Volke, das die teutschen Gedichte des teutschen Ludwigt233J deklamiert, sondern aus dem Volke, das sich mit der ganzen, vernichtenden Energie revolutionärer Begeisterung erhebt. Gelingt es nicht, diese Begeisterung zu wecken, dann beruhen die hohenzollernsche Mobilisierung, bewaffnete Vermittelung, Kriegserklärung, Kriegsführung usw. auf der kindischen Berechnung des Negers der Goldküste, der seinem Gegner einen tödlichen Schlag zu versetzen glaubt, wenn er dahin gelangt, sich selbst an den Torpfosten seines Feindes aufzuhängen.
Friedrich Engels Der Rückzug der Österreicher an den Mincio
[„Das Volk" Nr. 8 vom 25. Juni 1859] Die Früchte eines Sieges werden gepflückt in der Verfolgung des Feindes. Je aktiver die Verfolgung, desto entscheidender der Sieg. Gefangene, Artillerie, Bagage, Fahnen erobert man nicht so sehr in der Schlacht selbst als in der Verfolgung nach der Schlacht. Andrerseits mißt sich die Intensivität eines Siegs an der Energie der Verfolgung. Von diesem Standpunkte aus, was sagen von der „grande vietoire"1 bei Magenta? Den Tag nachher finden wir die französischen Befreier „ausruhend und reorganisierend". Nicht der leiseste Versuch zur Verfolgung. Durch den Marsch nach Magenta hatte die alliierte Armee tatsächlich alle ihre Streitkräfte konzentriert. Die Österreicher, umgekehrt, hatten einen Teil ihrer Truppen bei Abbiategrasso, einen Teil auf der Straße nach Mailand, einen andern Teil bei Binasco, endlich einen Teil bei Beigiojoso - ein Haufen von Kolonnen, so zerstreut, in so zusammenhangloser Weise sich fortschleppend, als gälte es eine Einladung an den Feind, über sie herzufallen, durch eine Anstrengung sie nach allen Richtungen zu versprengen, und ihn dann in aller Ruhe ganze Brigaden und Regimenter, die von ihrer Rückzugslinie abgeschnitten worden wären, gefangennehmen zu lassen. Napoleon, der echte Napoleon, würde in solchem Fall gewußt haben, wie die 15 oder 16 Brigaden zu verwenden, die, laut des offiziellen französischen Berichts, den Tag zuvor keinen Anteil an der Schlacht genommen. Was tat der Brummagem-Napoleon2, der Napoleon des Herrn Vogt, des Cirque olympique, der St. James Street und des Astley-Amphitheaters [234J? Er dinierte auf dem Schlachtfeld. Die direkte Straße nach Mailand stand ihm offen. Der Bühneneffekt war gesichert. Das genügte ihm natürlich. Der 5., 6. und 7. Juni, drei volle Tage, werden den Österreichern geschenkt, damit sie sich aus ihren gefährlichen Positionen herauswinden. Sie marschierten nach dem Po herunter und zogen sich entlang des nördlichen Ufers dieses Flusses auf Cremona zu, auf drei
1 dem „großen Sieg" - 2 nachgemachte Napoleon
Parallelstraßeri vorrückend. Auf dem nördlichsten Punkt dieser Straßen deckte General Benedek mit drei Divisionen den Rückzug, da er der Marschlinie des Feindes sich zunächst bewegte. Von Abbiategrasso, wo er am 6. stand, marschierte er über Binasco nach Melegnano. In letzterer Stadt ließ er zwei Brigaden zurück zur Haltung der Position, bis Bagage und Train der Zentralkolonne hinreichenden Vorsprung gewonnen. Am 8. Juni erhielt Marschall Baraguay d'Hilliers den Befehl, diese zwei Brigaden herauszuwerfen, und um ganz sicher zu gehen, wird noch das Korps Mac-Mahons unter sein Kommando gestellt. Zehn Brigaden gegen zwei! Nahe beim Lambro ward MacMahons Korps detachiert, um den Rückzug der Österreicher abzuschneiden, während Baraguays 3 Divisionen Melegnano angriffen; zwei Brigaden griffen die Stadt in der Fronte an, zwei umgingen sie auf der Rechten, zwei auf der Linken. Nur eine österreichische Brigade, die Rodens, stand in Melegnano und General Boers Brigade stand auf der andern, der östlichen Seite des Lambro-Flusses. Die Franzosen attackierten mit großer Heftigkeit, und ihre sechsfach überlegene Zahl zwang General Roden, nach hartnäckigem Widerstand die Stadt zu räumen und sich zurückzuziehen unter dem Schutz von Boers Brigade. Letztere hatte nämlich zu diesem Zweck eine Position im Rücken eingenommen. Nachdem sie ihren Zweck erreicht, zog sie sich ebenfalls in voller Ordnung zurück. Boer fiel bei dieser Gelegenheit. Der Verlust der einen hauptsächlich engagierten österreichischen Brigade war unstreitig bedeutend, aber die von den dezembrisierenden Crapauds1 angegebenen Zahlen (ungefähr 2400) sind rein phantastisch, da die Gesamtstärke der Brigade vor der Aktion sich nicht über 5000 belief. Der französische Sieg war wieder fruchtlos. Keine Trophäen, keine einzige Kanone! Am 6. war unterdessen Pavia geräumt von den Österreichern, dann, aus unbekannten Gründen, wieder besetzt worden am 8., um wieder geräumt zu werden am 9., während Piacenza am 10., erst sechs Tage nach der Schlacht bei Magenta, verlassen wurde. Die Österreicher retirierten in bequemen Märschen, den Po verfolgend, bis sie am Chiese anlangten. Hier wandten sie sich nordwärts und marschierten nach Lonato, Castiglione und Castelgoffredo, wo sie eine Defensivposition einnahmen, in der sie einen neuen Angriff der „Befreier" abzuwarten scheinen. Während dieses Marsches der Österreicher, erst südwärts von Magenta nach Belgiojosö, dann östlich nach Piadena zu und dann wieder nördlich nach Castiglione - Beschreibung eines völligen Halbzirkels -, marschierten die
1 wörtlich: Kröten; hier im Sinne von: armseligen Wichten (des bonapartistischen Generalstabs)
Befreier auf dem Durchmesser dieses Halbzirkels in grader Linie und hatten folglich nur ein Dritteil der Entfernung zu durchmessen. Dennoch erreichten sie nie die Österreicher, außer bei Melegnano und einmal nahe bei Castenedolo, wo Garibaldi ein unbedeutendes Scharmützel lieferte. Solche Indolenz in der Verfolgung ist unerhört in der Kriegsgeschichte. Sie ist charakteristisch für den Quasimodo, der seinen Onkel (sein Onkel' nach dem Grundsatz des Code Napoleon „La recherche de la paternite est interdite"1) travestiert, selbst in seinen Erfolgen travestiert. Zur selben Zeit, wo die Hauptmasse der Österreicher in ihre Positionen hinter dem Chiese einrückte, zwischen dem 18. und 20.Juni, erreichte die Avantgarde der Alliierten die Front des Chiese. Sie brauchen einen oder mehrere Tage, um ihre Hauptmasse heranzubringen. Nehmen daher die Österreicher wirklich die Schlacht an, so kann ein zweites allgemeines Engagement am 24. oder 26. Juni erwartet werden. Die Befreier können nicht lange im Angesicht der Österreicher zaudern, wenn sie den Elan des Sieges unter ihren Truppen wachhalten und dem Feinde nicht Gelegenheit geben wollen, sie in kleineren Treffen zu schlagen. Die Position der Österreicher ist sehr günstig. Von der südlichen Extremität des Gardasees, bei Lonato, läuft ein Plateau gegen den Mincio, dessen Umriß, nach der lombardischen Ebene zu, gebildet wird durch die Linie Lonato-Castiglione-San Cassiano-CavrianaVolta, eine vorzügliche Position dies, um einen Feind abzuwarten. Das Plateau erhebt sich allmählich nach dem See zu und bietet verschiedene gute Positionen in einer Reihenfolge, worin jede nachfolgende ihre Vorgängerin an Stärke und Konzentration übertrifft, so daß die Eroberung der Spitze des Plateaus keinen Sieg liefert, sondern nur den ersten Akt einer Schlacht abschließt. Der rechte Flügel ist gedeckt durch den See, der linke ist bedeutend rückwärts eingebogen, so daß er beinahe zehn Meilen der Minciolinie unbeschützt läßt. Statt im Nachteil zu sein, bildet dies die günstigste Seite der Position, weil am Mincio der Marschboden beginnt, der zwischen den vier Festungen Verona, Peschiera, Mantua und Legnago eingeschlossen ist und worin ein Feind ohne außerordentliche numerische Überlegenheit sich nicht hineinwagen kann. Da die Linie des Mincio an ihrem südlichen Ende durch Mantua kommandiert wird und der Boden jenseits des Mincio den Wirkungskreisen von Mantua und Verona angehört, würde jeder Versuch, die Österreicher auf dem Plateau unberücksichtigt zu lassen und an ihnen vorbei auf den Mincio loszumarschieren, rasch zum Stillstand gezwungen werden. Die vorrückende Armee würde ihre Kommunikationslinien vernichtet sehen, ohne
1 „Die Nachforschung nach der Vaterschaft ist untersagt"
die der Österreicher gefährden zu können. Zudem würde sie jenseits des Mincio (da von Belagerung unter diesen Umständen nicht die Rede sein könnte) nichts zu attackieren finden und aus Mangel eines Objekts des Angriffs wieder umkehren müssen. Die eigentliche Gefahr einer solchen Bewegung wäre jedoch, daß sie unter den Augen der Österreicher auf dem Plateau zu bewerkstelligen ist. Letztere hätten nur ihre ganze Linie in Bewegung zu setzen und über die Kolonne des Feindes herzufallen, von Volta auf Goito, von Cavriana auf Guidizzolo und Ceresara, von Castiglione auf Castelgoffredo und Montechiaro. Eine solche Schlacht würde von den Befreiern unter furchtbarer Ungunst der Verhältnisse gekämpft werden und könnte enden in ein zweites Austerlitz[164], nur mit verkehrten Rollen. Magenta-Gyulay ist abgesetzt. An seine Stelle tritt als Kommandant der zweiten Armee Schlick, während Wimpffen an der Spitze der ersten Armee bleibt. Beide Armeen, konzentriert bei Lonato und Castiglione, bilden zusammen die österreichisch-italienische Armee unter dem Nominalkommando von Franz Joseph und mit Heß als Chef des Generalstabes. Schlick, so weit seine Antezedentien im ungarischen Kriege gehen, scheint ein tüchtiger Durchschnittsgeneral. Heß ist unstreitig der größte lebende Strategiker. Die Gefahr liegt in der persönlichen Dazwischenkunft des berüchtigten Franz Joseph. Er hat sich, wie Alexander I. beim Einfall Napoleons in Rußland, mit einer gemischten Bande alter, philisterhafter, besserwissender Schnurrbärte umgeben, wovon einige vielleicht direkt von Rußland bezahlt sind. Von dem Plateau herab würde die französische Armee, sollte sie die Österreicher stehen lassen und direkt auf den Mincio losmarschieren, in klar imposanter Deutlichkeit, Regiment für Regiment, angeschaut werden. Der sinnliche Eindruck, den Feind auf näherem Weg zur Rückzugs linie zeigend, könnte einen Kopf wie den von Franz Joseph leicht bewildern1. Das Dazwischenreden grämelnder epaulettierter Besserwisser könnte seine Nervenschwäche beschönigen und ihn zur Aufgabe der trefflich gewählten Position und zum Rückzug zwischen den Festungen entscheiden^2361 Mit dummen Jungen an der Spitze eines Reichs hängt alles von ihrem Nerventhermometer ab. Die bestüberlegten Pläne sind das Spiel von subjektiven Eindrücken, Zufällen, Grillen. Mit einem Franz Joseph im Hauptquartier der Österreicher gibt es kaum eine andere Garantie für den Sieg als den Quasimodo im feindlichen Lager. Aber der hat wenigstens in St. James Street bei den professionellen Spielern seine Nerven abgehärtet und ist zwar kein Mann von Eisen, wie seine Bewunderer wollen, wohl aber einer von Guttapercha.
Friedrich Engels Das Neueste vom Krieg12371
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5682 vom 8. Juli 1859, Leitartikel] Die mit der „Asia" eingetroffene Post fügt dem über Neufundland empfangenen und gestern früh in unseren Spalten veröffentlichten kurzen telegraphischen Bericht über den großen Sieg am Mincio nichts Neues hinzu. Die Schlacht fand am Freitag, dem 24. Juni, statt und dauerte von 4 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, und die Dampfschiffe gingen am nächsten Tag ab, noch ehe irgendwelche Details bekannt wurden. Wir müssen daher abwarten, bis die „Arago" hier oder die „Hungarian" in Quebec ankommt, um die Einzelheiten zu erhalten, auf die die Öffentlichkeit so begierig ist. Da die Zahl der Kämpfenden auf beiden Seiten gleich groß war, scheint inzwischen durch das Ergebnis wenigstens die eine Frage geklärt, daß der österreichische Soldat dem französischen nicht ebenbürtig ist. Der allgemeine Eindruck der Militärfachleute, sowohl in England als auch hier, bestand anscheinend darin, daß die Alliierten keine große Schlacht beginnen wollten, ehe nicht das aus Toskana kommende Korps unter Prinz Napoleon eingetroffen war, das die Österreicher im Rücken angreifen sollte; zugleich wurde angenommen, daß auf dem Gardasee eine Flottille auslaufen würde, um die Alliierten in die Lage zu versetzen, auch in jener Gegend einen Flankenangriff zu unternehmen. Napoleon III. jedoch hat weder auf das eine, noch auf das andere gewartet, sondern gekämpft und die Schlacht gewonnen. Aus der Korrespondenz vom alliierten Hauptquartier, aus der wir an anderer Stelle alles wesentliche wiedergeben, geht auch klar hervor, daß die Aufnahme des Kampfes die einzig mögliche Handlungsweise war. Eine Verzögerung würde den Siegeselan der alliierten Truppen gehemmt und den Österreichern Gelegenheit gegeben haben, sie in kleineren Gefechten durch eine zahlenmäßige Überlegenheit zu schlagen.
In den Bewegungen der österreichischen Armee herrscht unter Schlick die gleiche schwankende Unentschlossenheit, die vorher die Niederlage und das in Ungnadefallen Gyulays zur Folge hatte. Sie bereiteten sich zuerst auf der Linie Lonato-Castiglione-San Cassiano-Cavriana-Voltazum Kampf vor. Hier erhebt sich allmählich ein Plateau gegen den See und den Mincio, das eine Anzahl ausgezeichneter Positionen bietet, von denen jede stärker und konzentrierter als die vorhergehende ist, so daß die Eroberung des Randes des Plateaus keinen Sieg, sondern nur den ersten Akt einer Schlacht bedeuten würde. Der rechte Flügel der Österreicher war durch den See gedeckt, ihr linker Flügel bedeutend rückwärts eingebogen, so daß er fast 10 Meilen der Minciolinie unbeschützt ließ. Das war aber kein Nachteil, sondern sogar die günstigste Seite der Position, weil jenseits des Mincio das gefährliche Gebiet lag, das zwischen den vier Festungen eingeschlossen ist und in das sich kein Feind ohne große zahlenmäßige Überlegenheit wagen konnte. Da die Minciolinie an ihrem südlichen Ende durch Mantua beherrscht wird und der Boden jenseits des Mincio den Wirkungskreisen von Mantua und Verona angehört, würde jeder Versuch, die Österreicher in der Position auf dem Plateau unberücksichtigt zu lassen und an ihnen vorbei auf den Mincio loszumarschieren, bald zum Stillstand gezwungen worden sein. Die vorrückende Armee hätte ihre Kommunikationslinien vernichtet gesehen, ohne die der Österreicher gefährden zu können. Aber das Gefährlichste einer solchen Bewegung wäre gewesen, daß sie unter den Augen der Österreicher auf dem Plateau hätte bewerkstelligt werden müssen; diese brauchten dann nichts weiter zu tun, als ihre ganze Linie in Bewegung zu setzen und über die auseinandergezogenen Kolonnen des Feindes herzufallen, und zwar von Volta auf Goito, von Cavriana auf Guidizzolo und Ceresara, von Castiglione auf Castelgoffredo und Montechiaro. Eine solche Schlacht wäre von den Alliierten unter ungeheurem Nachteil ausgefochten worden und hätte mit einem zweiten Austerlitz11641 enden können, nur mit vertauschten Rollen. Das war die Lage, in der sich die Österreicher befanden; außerdem hatten sie den Vorteil, daß sie das Gelände genau kannten, weil sie hier seit Jahren in größtem Ausmaß ihre jährlichen Manöver abhielten. Wie gesagt, dieses Gelände war für den bevorstehenden Zusammenstoß sorgsam vorbereitet; Städte und Dörfer waren befestigt; und im letzten Moment geben sie dann aus irgendeinem Grunde, der vom militärischen Standpunkt aus völlig unerklärbar ist, das Gelände auf und ziehen sich mit Sack und Pack über den Mincio zurück, wo sie am 24. angegriffen und schließlich geschlagen werden. Ob diese plötzliche und entscheidende Veränderung der Anlage des Feldzugs irgend etwas mit der Haltung Preußens zu tun hatte, von dem man sagt,
daß es das Viereck an Mincio und Etsch gewissermaßen als einen Teil der Befestigungsanlagen Deutschlands betrachtet, ist eine Frage, über die wir hoffentlich noch mehr Klarheit erhalten. Eines jedoch ist im Hinblick auf Preußen ziemlich sicher, nämlich, daß seine Haltung Louis-Napoleon daran hindern muß, noch viel mehr Truppen von Frankreich nach Italien zu ziehen. Wie unsere Leser bereits wissen, hat Preußen sechs seiner neun Armeekorps mobilisiert; d.h. es hat die Landwehr1 einberufen1771, die aus Soldaten besteht, die zu diesen Korps gehören und die nach drei Jahren regulärer Dienstzeit auf unbestimmte Dauer beurlaubt wurden. Von diesen sechs Armeekorps sollen fünf am unteren und mittleren Rhein Stellung beziehen. Somit müssen gegenwärtig ca. 170000 Preußen zwischen Koblenz und Metz aufgestellt sein, und zweifellos auch zwei andere Bundeskorps, nämlich die von Bayern und Baden. Württemberg und Hessen-Darmstadt werden auch ihre Stellungen in Baden und in der Pfalz beziehen, das sind weitere 100 000 bis 120 000 Mann. Gegen solche Streitkräfte wird Napoleon III. fast jeden Mann brauchen, der ihm jetzt in Frankreich zur Verfügung steht. In diesem Falle könnte er es für ratsam halten, zu einer Insurrektion in Ungarn Zuflucht zu nehmen und sich dabei Kossuths zu bedienen; allerdings dürfte es ziemlich sicher sein, daß er nur im äußersten Notfalle zu solchen Hilfsmitteln greifen wird. Ob Preußen nunmehr wirklich beabsichtigt, am Krieg teilzunehmen, ist sehr zweifelhaft; aber es wird ihm nicht leicht fallen, dem zu entgehen. Sein Militärsystem, das darin besteht, aus der Mehrheit der erwachsenen wehrfähigen Bevölkerung Soldaten zu machen, legt der Nation von dem Augenblick an, da die Landwehr1 - allein das erste Aufgebot - einberufen wird, eine solche Last auf, daß das Land es sich nicht leisten kann, auf längere Zeit untätig unter Waffen zu stehen. Gegenwärtig stehen in sechs von acht Provinzen alle wehrfähigen Männer im Alter von 20 bis 32 Jahren unter Waffen. Die Störung des gesamten kommerziellen und industriellen Lebens in Preußen, die dadurch hervorgerufen wird, ist gewaltig; das Land kann es nur unter der Bedingung ertragen, daß die Soldaten unverzüglich vor den Feind geführt werden; die Soldaten selbst könnten es nicht ertragen - in wenigen Monaten würde sich die ganze Armee in aufrührerischer Stimmung befinden. Außerdem ist das Nationalgefühl in Deutschland so mächtig gewachsen, daß Preußen, da es nun einmal so weit gegangen ist, nicht mehr zurück kann. Die Erinnerungen an den Frieden von Basel[791 , ein die Unentschlossenheit von 1805 und 1806[238J und an den Rheinbund11193 sind noch so lebendig, daß die
1 Landwehr: in der „New-York Daily Tribüne" deutsch
Deutschen entschlossen sind, sich nicht einzeln von ihrem schlauen Gegner schlagen zu lassen. Die preußische Regierung kann dieses Nationalgefühls nicht Herr werden; sie kann versuchen, es zu lenken, aber wenn sie dies tut, ist sie mit Händen und Füßen an diese Bewegung gebunden, und das geringste Schwanken wird als Verrat betrachtet werden und auf den Schwankenden zurückfallen. Zweifellos wird es Versuche zu Verhandlungen geben; aber alle Parteien sind jetzt so gebunden, daß es überhaupt keinen Ausweg aus dem Labyrinth zu geben scheint. Wenn Deutschland jedoch an diesem Krieg teilnimmt, wird zweifellos bald ein weiterer Akteur auf der Bühne erscheinen. Rußland hat den deutschen Kleinstaaten mitgeteilt, daß es sich einmischen wird, falls die Deutschen nicht ruhig zusehen, wie Österreich zerstückelt wird. Rußland konzentriert zwei Armeekorps an der preußischen, zwei an der österreichischen und eins an der türkischen Grenze. Irgendwann in diesem Jahr könnte es einen Feldzug beginnen; aber sicher erst recht spät. In Rußland sind seit dem Pariser Frieden C171 keine Rekruten ausgehoben worden; die Zahl der Beurlaubten kann infolge der großen Verluste während des Krieges nicht groß sein; und wenn die Armeekorps, selbst nach Einberufung der Beurlaubten, auf je 40 000 Mann kommen, ist das schon viel. Vor 1860 kann Rußland keine Offensive beginnen, und auch dann mit nicht mehr als 200 000 oder 250 000 Mann. Gegenwärtig stehen in Deutschland für die Verwendung im Norden vier preußische Korps zur Verfügung, das sind 136000 Mann; das neunte und zehnte Bundeskorps mit der Reservedivision, etwa 80 000 Mann; und schließlich drei österreichische Korps oder 140 000 Mann. Damit hat Deutschland bei einem Verteidigungskrieg oder sogar bei einem Angriff auf Russisch-Polen gegenwärtig nichts von Rußland zu fürchten. Aber sobald sich Rußland an diesem Krieg beteiligt, wird man an die nationalen Gefühle und an die unterschiedlichen Klasseninteressen appellieren, und die Auseinandersetzung wird Ausmaße annehmen, die den Krieg der ersten französischen Revolution in den Schatten stellen werden.
Geschrieben um den 24. Juni 1859. Aus dem Englischen.
26 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
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Die Schlacht bei Solferino
[„Das Volk" Nr. 9 vom 2. Juli 1859] Der ritterliche Franz Joseph, den die Lorbeeren des falschen Napoleon nicht schlafen ließen, hat uns gezeigt, was es heißt, wenn „ein angestammter Kriegsherr" die Zügel des Kommandos ergreift. Wir sahen bereits vorige Woche, wie die Armee zuerst die Position auf den Höhen von Castiglione einnehmen mußte und in dem Augenblick, wo jedermann eine Schlacht zu erwarten berechtigt war, ohne Schwertstreich und ohne Grund die Stellung räumte, um hinter den Mincio zu gehn1. Aber Franz Joseph hielt dies noch nicht für genug, um seine jämmerliche Schwäche und Inkonsequenz zu betätigen. Kaum war die Armee hinter dem Mincio, so besann der „Heldenjüngling" sich eines besseren: Ls war eines Habsburgers nicht würdig, so ohne Widerstand das Feld zu räumen; die Armee muß kehrtmachen, den Mincio wieder passieren und den Feind angreifen. Nachdem Franz Joseph durch dies kindische Kreuz- und Quermarschieren das Vertrauen seiner Truppen in ihren allerhöchsten Kriegsherrn hinlänglich gestärkt hatte, führte er sie gegen den Feind. Es waren ihrer höchstens 150 000 Mann, auf mehr schätzt sie der Wahrheitsfreund Bonaparte selbst nicht. Auf einer mindestens 12 englische] Meilen langen Linie griffen die Österreicher an. Es kamen also höchstens 12500 Mann auf jede Meile (2100 Schritt) Frontausdehnung, ein für eine kürzere Linie gewiß unter Umständen ausreichendes Stärkeverhältnis, aber bei so langer Front unbedingt zu schwach, für eine Offensive aber erst recht unpassend, da die einzelnen Hauptstöße so jedenfalls nicht mit hinreichendem Nachdruck geführt werden konnten. Nun aber kam noch hinzu, daß der Feind unbedingt überlegen, die österreichische Offensive also schon von vornherein fehlerhaft war; ein überlegner Feind war ziemlich sicher, solch eine dünne Linie an irgend
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einem gegebnen Punkt zu durchbrechen. Am Donnerstag, 23. Juni, begann das allgemeine Vorrücken der Österreicher; sie trieben überall die feindlichen Vortruppen mit Leichtigkeit zurück, besetzten Pozzolengo, Volta, Guidizzolo und drangen am Abend bis Solferino und Castelgoffredo vor. Am nächsten Morgen warfen sie die feindliche Avantgarde noch weiter zurück, wobei der linke Flügel bis nahe an den Chiese kam; jetzt aber stießen sie auf die feindliche Hauptmacht, und die Schlacht wurde allgemein. Die beiden Flügel der Österreicher blieben im Vorteil, namentlich der rechte, der die Piemontesen sich gegenüber hatte und sie arg zurichtete, So daß hier die Österreicher offenbar siegreich waren. Aber im Zentrum bewährte sich die fehlerhafte Disposition. Solferino, der Schlüssel zum Zentrum, blieb nach hartnäckigem Kampf schließlich in den Händen der Franzosen, die gleichzeitig gegen den österreichischen linken Flügel starke Ubermacht entwickelten. Diese beiden Umstände bewogen den Franz Joseph, der wahrscheinlich bis auf seinen letzten Mann engagiert hatte, den Befehl zum Rückgang zu geben. Die Österreicher zogen sich - offenbar in der besten Ordnung und unverfolgt - zurück und passierten den Mincio vollkommen unbelästigt. Die Details der Schlacht sind uns nicht mehr rechtzeitig zugekommen, um noch in dieser Nummer besprochen werden zu können. Soviel aber ist gewiß, daß die österreichischen Truppen wieder mit ausgezeichneter Tapferkeit gekämpft haben. Das beweist ihr standhaftes Aushalten, 16 Stunden, gegen einen überlegnen Feind, und namentlich ihr geordneter und unbehelligter Rückzug. Sie scheinen vor den Herren Franzosen gar keinen besonderen Respekt zu haben; Montebello, Magenta, Solferino scheinen ihnen keinen andern Eindruck zu hinterlassen als die Gewißheit, daß sie bei numerischer Gleichheit nicht nur mit den Franzosen, sondern auch mit der Dummheit ihrer eignen Generale fertig werden. Daß sie 30 Kanonen und angeblich 6000 Gefangene verloren haben, ist ein sehr erbärmliches Resultat für den Sieger in einer solchen Hauptschlacht; die vielen Dorfgefechte konnten ihm nicht weniger einbringen. Aber so brillant die Truppen sich der Ubermacht gegenüber benehmen, so erbärmlich ist wieder die Führung. Unentschlossenheit, Wankelmut, widersprechende Befehle, als sollten die Truppen recht absichtlich demoralisiert werden - das ist, wodurch Franz Joseph sich in 3 Tagen vor den Augen seiner Armee unwiederbringlich ruiniert hat. Etwas Kläglicheres ist gar nicht zu denken als dieser arrogante Junge, der sich unterfängt, eine Armee kommandieren zu wollen, und der wie ein Rohr im Winde den widersprechendsten Einflüssen nachgibt, heute dem alten Heß folgt, um morgen wieder auf Herrn Grünnes entgegengesetzten Rat zu hören, der heute sich zurückzieht und morgen plötzlich angreift und überhaupt nie 26*
selbst weiß, was er will. Er bat nun indessen genug und ziebt sich, beschämt und begossen, nach Wien zurück, wo er schön wird empfangen werden. Der Krieg aber fängt jetzt erst an. Die österreichischen Festungen treten jetzt erst in Wirksamkeit; die Franzosen müssen sich teilen, sowie sie über den Mincio gehen, und damit beginnt eine Reihe von Kämpfen um einzelne Posten und Stellungen, von Detailgefechten untergeordneter Art, in : denen die Österreicher, die jetzt endlich den alten Heß an der Spitze haben, selbst bei im ganzen geringeren Kräften doch größere Chancen des Siegs haben. Ist hierdurch und durch Verstärkungen dann das Gleichgewicht zwischen den Kämpfenden wieder hergestellt, so können die Österreicher mit konzentrierter Ubermacht auf den geteilten Feind fallen und die Gefechte von Sommacampagna und Custozzat90] in zehnfach vergrößertem Maßstabe wiederholen. Dies ist die Aufgabe der nächsten sechs Wochen. : Übrigens ziehen sie jetzt erst die Reserven ein, die der Armee in Italien mindestens 120 000 Mann Verstärkung bringen werden, während LouisNapoleon seit der preußischen Mobilmachung sich in Verlegenheit befindet, woher er Verstärkung nehmen soll. Die Chancen des Kriegs haben sich also durch die Affäre von Solferino nur wenig geändert. Aber ein großes Resultat ist erzielt: Einer unsrer Hauptlandesväter hat sich aufs gründlichste blamiert, und sein ganzes altösterreichisches System wackelt. In ganz Österreich bricht die Unzufriedenheit mit der Konkordatswirtschaft[159], der Zentralisation, der Beamtenherrschaft aus, und das Volk verlangt den Umsturz eines Systems, das im Innern durch Druck und nach außen durch Niederlagen sich auszeichnet. Die Stimmung in Wien ist derart, daß Franz Joseph sich schleunigst dorthin begibt, um Konzessionen zu machen. Gleichzeitig blamieren sich unsre übrigen Landesväter ebenfalls aufs erfreulichste; nachdem der Prinzregent, der ritterliche, als Politiker dieselbe Wackelei und Charakterlosigkeit bewiesen wie Franz Joseph als General, fangen die kleinen Raubstaaten wieder an, mit Preußen sich wegen den Truppendurchmärschen zu katzbalgen, und erklärt die Bundesmilitärkommission, über Preußens Vorschlag wegen freier Bundeskorps am Oberrhein erst nach vollen 14 Tagen Bedenkzeit Bericht erstatten zu können. Die Sachen verwickeln sich vortrefflich. Diesmal können sich die Herren Fürsten indes blamieren, ohne daß unsrer Nationalität Gefahr droht; im Gegenteil, das deutsche Volk, ein ganz anderes Volk seit der Umwälzung von 1848, ist stark genug geworden, um nicht nur mit den Franzosen und Russen, sondern auch gleichzeitig mit den 33 Landesvätern fertig zu werden.
Friedrich Engels
Historische Gerechtigkeit
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5692 vom 21. Juli 1859, Leitartikel] Nachdem wir jeden bei uns eingegangenen offiziellen Bericht über die Schlacht von Solferino veröffentlicht haben, darunter viele Briefe aus den beiden Hauptquartieren, einschließlich der ausgezeichneten Sonderkorrespondenz der Londoner „Times", und unsere Leser mit diesen Dokumenten bekannt gemacht haben, ist es wohl an derZeit, die wirklichen Ursachen klarzulegen, weshalb die Schlacht von Franz Joseph verloren und von Napoleon III. gewonnen wurde. Als der österreichische Kaiser den Mincio wieder überschritt, um anzugreifen, hatte er neun Armeekorps zu seiner Verfügung, die nach Abzug der Festungsbesatzungen mit einer Durchschnittsstärke von je vier Infanteriebrigaden oder insgesamt sechsunddreißig Brigaden - jede Brigade mit durchschnittlich 5000 bis 6000 Mann - auf dem Schlachtfeld erschienen. Seine Kräfte für den Angriff zählten also ungefähr 200 000 Mann Infanterie. Diese Stärke, obwohl völlig ausreichend, die Truppenbewegung zu rechtfertigen, war der des Feindes doch unterlegen oder nur annähernd gleich, denn dieser zählte zehn piemontesische und sechsundzwanzig französische Infanteriebrigaden. Seit Magenta haben die Franzosen große Verstärkungen durch Beurlaubte und ausgebildete Rekruten erhalten, die in ihre Regimenter eingereiht wurden. Ihre Brigaden waren sicherlich stärker als die der Österreicher j deren Verstärkungen aus zwei frischen Armeekorps (das zehnte und elfte) bestanden, wodurch zwar die Anzahl, aber nicht die Stärke der Brigaden erhöht worden war. Die Infanterie der alliierten Armee kann, ausgehend vom vollen Bestand (170000 Franzosen, 75 000 Sardinier), abzüglich der Verluste von ca. 30 000 Mann seit dem Beginn des Feldzuges, zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 215 000 Mann geschätzt
werden. Bei ihrem Angriff bauten die Österreicher auf die Schnelligkeit des Manövers und das Überraschungsmoment, auf das brennende Verlangen ihrer Truppen, die Niederlage von Magenta zu rächen und zu beweisen, daß sie ihren Gegnern nicht nachstehen, sowie auf die Stärke der Positionen, die sie durch einen schnellen Vormarsch auf die Höhen hinter Castiglione wieder in ihren Besitz bringen könnten. Dies war gewiß gerechtfertigt, jedoch nur dann, wenn sie ihre Truppen so eng wie möglich zusammenhielten und schnell und energisch vormarschierten. Keine dieser Bedingungen wurde erfüllt. Anstatt mit ihrer gesamten Streitkraft zwischen Peschiera und Volta vorzugehen, um den ganzen Höhenzug bis nach Lonato und Castiglione zu sichern, und den Schutz der Ebene von Guidizzolo der Kavallerie und vielleicht einem Infanteriekorps zu überlassen, ließen sie ein Korps, das zweite, in Mantua, um dieses vor einem etwaigen Überfall durch das Korps des Prinzen Napoleon zu beschützen, das man in der Nähe vermutete. Wenn jedoch die Besatzung von Mantua nicht ausreichte, um die stärkste Festung Europas ohne die Hilfe eines zusätzlichen Korps gegen einen irregulären Angriff zu halten, muß es wirklich eine sehr merkwürdige Art von Besatzung gewesen sein. Aber das war anscheinend nicht der Grund, der das zweite Korps an Mantua fesselte. Tatsächlich sind zwei andere Korps, das elfte und das zehnte, detachiert worden, um die rechte Flanke der Alliierten bei Asola zu umgehen, einer Stadt am Chiese, etwa 6 Meilen südwestlich von Castelgoffredo und so weit vom Schlachtfeld entfernt, daß sie es unter allen Umständen zu spät erreichen mußten. Das zweite Korps, so scheint es, war dazu bestimmt, die Flanken und den Rücken dieser Umgehungskolonne gegen das mögliche Eintreffen des Prinzen Napoleon zu decken und so zu verhindern, daß sie selbst umgangen wird. Der ganze Plan ist so durch und durch alte österreichische Schule, so kompliziert, so lächerlich für jeden, der es gewöhnt ist, Schlachtenpläne zu entwerfen, daß der österreichische Stab gewiß von aller Verantwortlichkeit für diese Erfindung freigesprochen werden muß. Niemand anders als Franz Joseph und sein Adjutant Graf Grünne konnten sich einen solchen Anachronismus ausdenken. So wurden erfolgreich drei Korps vom Kampf ferngehalten Die verbleibenden sechs wurden wie folgt eingesetzt: Das achte (Benedek) zwischen Pozzolengo und dem Gardasee, um eine Hügelposition zu halten, deren Zentrum und Schlüssel San Martino war; das fünfte (Stadion) besetzte Solferino; das siebente (Zobel) San Cassiano; das erste (Clam-Gallas) Cavriana. Im Süden, in der Ebene, marschierte das dritte (Schwarzenberg) auf der Hauptstraße von Goito nach Castiglione über Guidizzolo vor und
das neunte (Schaffgotsch) weiter südlich gegen Medole. Dieser Flügel wurde nach vorn geworfen, um die alliierte Rechte zurückzudrängen und dem zehnten und elften Korps eine Unterstützung zu bieten, wann immer und falls sie je ankommen sollten.; Auf diese Weise wurden die sechs Korps, die tatsächlich engagiert waren und die im wesentlichen die österreichische Kampfarmee bildeten, auf einer 12 Meilen langen Linie auseinandergezogen, was für jedes Korps im Durchschnitt 2 Meilen oder 3450 Yard Frontausdehnung ergab. Bei einer so langen Linie konnte es keine Tiefe geben. Doch das war nicht der einzige ernste Fehler» Das dritte und neunte Korps rückten von Goito aus vor, wo auch ihre Rückzugslinie lag; die angrenzenden Korps, das erste und siebente, hatten ihre Rückzugslinie in Valeggio. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß das einen exzentrischen Rückzug ergibt; diesem Umstand ist zweifellos im wesentlichen die geringe Wirkung zuzuschreiben, die von den zwei Korps in der Ebene erzielt wurde. Diese fehlerhafte Disposition, getroffen für die vierundzwanzig oder, wenn wir annehmen, daß Benedek durch einige Truppen aus der Besatzung von Peschiera verstärkt worden war, fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig österreichischen Brigaden, wurde noch fehlerhafter durch die Trägheit des Vormarsches. Ein Eilmarsch am 23., als der Mincio wieder überschritten wurde, hätte die konzentrierte österreichische Armee mittags an die vorgeschobenen Stellungen der Alliierten bei Desenzano, Lonato und Castiglione herangebracht und sie befähigt, die Alliierten bis Einbruch der Nacht zum Chiese zurückzutreiben und so die Schlacht gleich mit einem Erfolg der Österreicher zu beginnen; doch der vorgeschobenste Punkt, der auf den Hügeln erreicht wurde, war Solferino, nur 6 Meilen vom Mincio entfernt. In der Ebene kamen die vorrückenden Truppen bis nach Castelgoffredo, 10 Meilen vom Mincio; sie hätten jedoch bei entsprechendem Befehl bis zum Chiese kommen können. Dann sollte der Vormarsch am 24., statt bei Tagesanbruch, um 9 Uhr beginnen! So kam es, daß die Alliierten, die um 2 Uhr morgens aufbrachen, zwischen 5 und 6 Uhr über die Österreicher herfielen. Die Folgen waren unvermeidlich. Dreiunddreißig starke Brigaden gegen fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig schwache (sie waren alle vorher im Kampf gewesen und hatten starke Verluste erlitten), das konnte nur eine Niederlage für die Österreicher ergeben. Allein Benedek, mit seinen fünf oder sechs Brigaden, hielt sich den ganzen Tag gegen die piemontesische Armee, deren zehn Brigaden, mit Ausnahme der Garde, alle engagiert waren; und er hätte seine Stellung gehalten, wenn ihn nicht der allgemeine Rückzug des Zentrums und des linken Flügels gezwungen hätte, auch
zurückzufallen. Im Zentrum hielten das fünfte und das erste Korps (8 Brigaden) Solferino gegen das Korps von Baraguay d'Hilliers (6 Brigaden) und die Garde (5 Brigaden) bis nach 2 Uhr, während das siebente Korps (4 Brigaden) die vier Brigaden Mac-Mahons in Schach hielt. Nachdem Solferino schließlich genommen worden war, rückte die Garde gegen San Cassiano vor und zwang dadurch das österreichische siebente Korps, seine Stellung aufzugeben. Der Fall von Cavriana, ungefähr um 5 Uhr nachmittags, entschied dann das Schicksal der Schlacht im Zentrum und zwang die Österreicher zum Rückzug. Auf der österreichischen Linken führten das dritte und neunte Korps einen planlosen Kampf gegen das Korps von Niel und eine Division (Renault) von Canrobert, bis dann am Nachmittag eine andere Division (Trochu) des letzteren Korps in die Kampflinie rückte und die Österreicher nach Goito zurücktrieb. Obwohl diese acht österreichischen Brigaden von Anfang an einer beinahe gleich starken Streitkraft gegenüberstanden, hätten sie viel mehr tun können als sie wirklich taten. Durch einen resoluten Vormarsch von Guidizzolo gegen Castiglione hätten sie das siebente Korps bei San Cassiano entlasten und so indirekt die Verteidiger von Solferino unterstützen können; da aber ihre Rückzugslinie nach Goito verlief, stellte sie jeder Schritt nach vorn bloß, und so handelten sie mit einer Vorsicht, die in einer solchen Schlacht völlig fehl am Platze war; die Schuld liegt jedoch bei denjenigen, die den Rückzug nach Goito befohlen haben. Die Alliierten hatten jeden Mann im Kampf, ausgenommen drei Brigaden, zwei von Canroberts Korps und eine der piemontesischen Garde. Wenn jedoch der Einsatz ihrer ganzen Reserven mit Ausnahme dieser drei Brigaden nötig war, um einen schwer erkämpften Sieg zu erringen, nach dem es keine Verfolgung gab, wie hätte sich die Schlacht entwickelt, wenn Franz Joseph in der Lage gewesen wäre, noch seine drei Armeekorps einzusetzen, die weit entfernt im Süden herumirrten? Angenommen, er hätte Benedek ein Korps gegeben, ein anderes hinter Solferino und San Cassiano ais Reserve gesteilt und eines hinter Cavriana als allgemeine Reserve behalten, was wäre dann das Ergebnis der Schlacht gewesen? Das kann nicht einen Augenblick zweifelhaft sein. Nach wiederholten und vergeblichen Anstrengungen, San Martino und Solferino zu nehmen, wäre das piemontesische und französische Zentrum durch einen endgültigen und schlagkräftigen Vormarsch der ganzen österreichischen Linie gebrochen worden, und die Österreicher, anstatt sich zum Mincio zurückzuziehen, hätten den Tag an den Ufern des Chiese beendet. Sie wurden nicht von den Franzosen geschlagen, sondern von dem anmaßenden Schwachsinn ihres eigenen
Kaisers. Überwältigt durch die zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners und die Erbärmlichkeit ihrer eigenen Führung, zogen sie sich doch ungebrochen zurück, gaben nichts auf als das Schlachtfeld und zeigten sich einer Panik weniger fähig, als das bisher bei allen anderen Armeen der Fall war.
Geschrieben um den 6. Juli 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engeis
Die Schlacht von Solferino
[„Das Volk" Nr. 10 vom 9. Juli 1859] Der Zusammenhang zwischen der blutigen Niederlage von Solferino und der zudringlichen Dummheit von Franz Joseph wurde schon in der vorigen Nummer des „Volks" auseinandergesetzt.1 Daß wir trotzdem den Scharfsinn des „Heldenjünglings" noch überschätzt hatten, beweisen die später veröffentlichten Berichte über die Einzelheiten der Schlacht. Das Jahr 1859 ruft die Sieger von 1849 zu einem Staatsexamen, worin sie der Reihe nach durchfallen. Die österreichische Armee hatte am 23. Juni nicht weniger als 9 Armeekorps disponibel, von denen das 1., 2., 3., 5., 7., 8. ganz oder teilweise schon früher engagiert gewesen, das 9., 10. und 11. aber noch ganz intakt, noch nicht vor dem Feinde gewesen waren. Die sechs ersten mochten 130 000, die drei letzten 75 000 Mann zusammen zählen. Der Feind konnte also mit wenigstens 200000 Mann angegriffen werden. Was tat nun Franz Joseph? Er sandte das zehnte und elfte Korps von Mantua auf Asola am Chiese, um den Franzosen in den Rücken zu fallen, und damit diese Bewegung gegen einen etwaigen Angriff des fünften franz[ösischenl Korps (Prinz Napoleon), das man in der Nähe vermutete, gedeckt sei, ließ er das zweite Korps bei Mantua stehen. Hiernach blieben ihm nur 6 Korps übrig, a. h. 24 Brigaden, mit denen er die Fronte der Franko-Piemontesen angreifen wollte. Die Bewegung wurde aber so langsam gemacht, daß die Armee am Abend des 23. Juni nur etwa sechs englische Meilen vom Mincio biwakierte und der Vormarsch am 24. erst um 9 Uhr morgens erfolgen sollte. Die am 23. auf der ganzen Linie zurückgetriebenen Vortruppen der Alliierten sowie deren Kundschafter hatten natürlich im französischen Lager Alarm gegeben, und so kam es, daß die Österreicher, statt um 9 Uhr anzugreifen,
um 5 Uhr selbst angegriffen wurden. Die Alliierten entwickelten gegen die 24 österreichischen Brigaden, die zusammen etwa 136 000 Mann zählen mochten, nacheinander nicht weniger als 33 Brigaden (9 piemontesische gleich 45 000 Mann und 24 französische* gleich 150 000 Mann) oder mindestens 195000 Mann und behielten außerdem noch eine piemontesische (Garde) und zwei französische Brigaden (Division Bourbaki) in Reserve. Sie hatten also mindestens 210 000 Mann auf dem Schlachtfelde. Mit einer solchen Übermacht war der Sieg den Alliierten sicher. Trotzdem schlug General Benedek mit dem achten österr[eichischen] Korps die Angriffe der ganzen piemontesischen Armee siegreich zurück und hatte auf dem rechten Flügel einen vollständigen Sieg errungen, obwohl sein eignes Korps nur vier Brigaden stark war und er vielleicht von der Garnison von Peschiera höchstens noch eine fünfte Brigade Verstärkung erhalten hatte. Das Zentrum, von 12 österreichischen schwachen Brigaden besetzt, wurde von 14 starken französischen Brigaden angegriffen und geworfen und der linke Flügel, 8 Brigaden, ebenfalls von 10 stärkeren französischen Brigaden, denen noch dazu die zahlreiche französische] Kavallerie und Artillerie beigegeben war, nach langem Kampf zurückgedrängt. Auf diesem Flügel sowie im Zentrum wäre eine massenhafte österreichische Artillerie-Aufstellung am Platze gewesen, aber Franz Joseph zog vor, die 13 Batterien der Reserveartillerie (104 Kanonen) ruhig in Valeggio stehen zu lassen, ohne einen Schuß zu tun! Die Überlegenheit des französischen Artilleriefeuers erklärt sich also ganz einfach, nicht aus der Vorzüglichkeit der gezogenen Kanonen, sondern aus der hülflosen und ratlosen Verwirrung im Kopf des österreichischen Kaisers, der seine Geschützreserven gar nicht ins Feuer brachte. Wo aber bleibt das zehnte und elfte Korps? Während man sich vom Gardasee bis Guidizzolo schlug, irrten sie weitab südlich in der Ebene herum; das elfte Korps soll einige feindliche Truppen von weitem gesehen haben, das zehnte kam nicht einmal so weit; und als die Schlacht entschieden war, hatten beide noch nicht zum Schuß kommen können, ja, sie waren noch so weit ab, daß Canrobert, der gegen diese, den Franzosen bekannte
* Piemontesen: Division Mollard, Division Fanti, Division Durando - jede ä 2 Brigaden und die Brigaden Savoyen, alle engagiert. Franzosen: Garde - 4 Brigaden; 1. Korps, Baraguay - 6 Brigaden; 2. Korps, Mac-Mahon - 4 Brigaden; 3. Korps, Canrobert - 4 Brigaden engagiert, 2 in Reserve; 4. Korps, Niel - 6 Brigaden engagiert. Zusammen 33 Brigaden engagiert, 3 in Reserve. Alle diese Angaben sind aus dem offiziellen Bericht Napoleons des Kleinen. Wir zählen übrigens bloß die Infanterie auf.
Umgehung Front machen sollte, alle seine Truppen bis auf eine Division gegen die österreichische Hauptarmee verwenden und den Kampf auf dem österreichischen linken Flügel entscheiden konnte. Das zweite Korps machte inzwischen Front bei Mantua gegen den imaginäre« Angriff des Prinzen Plon-Plon, der sich mit seiner Armee an demselben Teige in Parma, 8 Tagemärsche vom Schlachtfeld, fetieren ließ! Hier haben wir einen schlagenden beweis davon, was es heißt, wenn ein deutscher angestammter „Kriegsherr" das Kommando führt. Zwei Korps (50 000 Mann) nutzlos weitab vom Schlachtfeld spazieren geführt, ein drittes (20 000 Mann) bei Mantua Front gegen das Blaue machend und 104 Kanonen bei Valeggio nutzlos im Park aufgefahren, also ein volles Drittel der gesamten Streitkräfte und die ganze Reserve und Artillerie absichtlich vom Schlachtfeld entfernt, damit die übrigen zwei Drittel von weit überlegnen Kräften zwecklos erdrückt werden - solchen sonnenklaren Blödsinn kann nur ein deutscher Landesvater begehen! Die österreichischen Truppen haben sich so ausgezeichnet tapfer geschlagen, daß es den Alliierten, die ihnen um die Hälfte überlegen waren, nur nach den größten Anstrengungen gelang, sie an zwei Punkten von dreien zurückzutreiben, und daß selbst diese Übermacht nicht imstande war, sie in Unordnung zu bringen oder einen Versuch zur Verfolgung möglich zu machen. Wie hätte es um den Ausgang der Schlacht gestanden, hätten die 70 000 Mann und 104 Kanonen, die Franz Joseph verzettelte, zwischen Volta undPozzolengo eine Reservestellung genommen? Die Franzosen wären unzweifelhaft geschlagen worden, und damit war der Feldzug von Mincio und Chiese wieder an den Tessin verlegt. Die österreichischen Truppen sind nicht von den Alliierten, sondern von der Dummheit und Anmaßung ihres eigenen Kaisers besiegt worden. Wenn ein österreichischer Soldat auf Vorposten das geringste Versehen macht, so erhält er 50 Stockprügel. Das mindeste, das Franz Joseph tun kann, um seine groben Schnitzer und Kopflosigkeiten einigermaßen zu büßen, ist, daß er sich beim General Heß meldet, um seine wohlverdienten Fünfzig in Empfang zu nehmen. Der Krieg ist nun auf das Festungsviereck gespielt, und die erste Wirkung der Festungen auf die Manöver der Alliierten beginnt sich zu zeigen: Sie müssen sich teilen. Ein Detachement ist bei Brescia zurückgeblieben, um die Tiroler Pässe zu beobachten. Das fünfte französische Korps (Plon-Plon) ist bei Goito gegen Mantua aufgestellt und durch eine Division verstärkt worden. Zur Belagerung von Peschiera ist ein großer Teil der piemontesischen Armee verwandt. Peschiera, früher eine kleine Festung, soll seit
1849 durch einen Halbkreis detachierter Forts in ein verschanztes Lager verwandelt sein (s. „Revue des deux Mondes"l2391,1 Avril 1859); ist dies der Fall, so werden die Piemontesen vollauf zu tun haben, und es bleibt zu den „Operationen" gegen Verona, die Louis Bonaparte pomphaft ankündigt, nur noch die um eine Division und die Verluste von Solferino geschwächte französische Armee (25 Brigaden, schwerlich viel über 130 000 M.) übrig. Wenn Heß jetzt wirklich das Kommando übernommen hat, und zwar mit unbeschränkter Vollmacht, so wird er wohl bald Gelegenheit finden, einzelne siegreiche Gefechte zu bestehn und dadurch einen größeren Sieg vorzubereiten. Den Franzosen ziehen an Verstärkungen die drei Divisionen der Lyoner Armee und, wie es heißt, noch eine Division der Pariser Armee zu, in allem an 50 000 bis 60 000 Mann. Den Österreichern das sechste Korps aus Südtirol, das vierte von Triest her, und außerdem noch die vierten Feldbataillone der in Italien stehenden Regimenter, d. h. mindestens 54 Bataillone alter Soldaten, so daß die sämtlichen österreichischen Verstärkungen sich auf beinahe 100000 Mann belaufen werden. Die Hauptsache für die Österreicher ist aber am Ende die, daß das Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld nicht so sehr durch frische Zuschüsse als vielmehr durch ein einheitliches und verständiges Kommando hergestellt werde, und das kann nur dadurch geschehen, daß der unberufene Franz Joseph beseitigt wird und Heß das volle Kommando übernimmt.
Karl Marx Die Erfurterei im Jahre 185912401
[„Das Volk" Nr. 10 vom 9. Juli 1859] Die Reaktion exekutiert das Programm der Revolution. In diesem scheinbaren Widerspruche beruht die Stärke des Napoleonismus, der sich noch heute als Mandatar der Revolution von 1789 betrachtet, der Erfolg der Schwarzenbergschen Politik in Österreich, welche den unklaren Einheitsdusel von 1848 in einer klaren, positiven Konzentration zusammenfaßte, und der Spuk der parlamentarischen Bundesreform, der jetzt mit der preußischen Initiative in Kleindeutschland umgeht und auf den Gräbern der 48ger Revolution mit den Bürgern Jacobus Venedey und Zais einen burlesken Gespenster tanz aufführt. Freilich wird dieses Programm der Revolution in den Händen der Reaktion zur Satire auf die bezüglichen revolutionären Bestrebungen und somit zur tödlichsten Waffe in den Händen eines unversöhnlichen Feindes. Die Reaktion erfüllt eben die Forderungen der Revolution, wie Louis Bonaparte diejenigen der italienischen Nationalpartei erfüllt. Das Tragikomische bei diesem Prozesse ist, daß die armen Sünder, welche da an ihren eigenen Phrasen und Dummheiten aufgehängt werden sollen, aus Leibeskräften Bravo! schreien, während ihnen vom Exekutor der Strick um den Hals gelegt wird, und ihrer eigenen Hinrichtung rasenden Beifall klatschen. So wie im Jahre 1848 die bekannten Märztorderungen 1, die von der damals „revolutionär" genannten Partei formuliert und vermittelst sehr geschickter Organisation vertrieben wurden, ihre Runde machten von Landtag zu Landtag, von Krawall zu Krawall, so feiert jetzt eine „Erklärung"'[242] in Mittel- und Süddeutschland ihren Triumphzug, welche das regentschaftliche mot d'ordre1 für die zum Behufe der bewaffneten Vermittelung gewünschte „Volksbewegung" zu sein scheint. Dieses Regentschafts
Programm, welches den sehr charakteristischen Namen der „nassauischen Erklärung" führt, da es von den nassauischen Vätern des Vaterlandes unter Vortritt unseres alten Freundes Herrn Zais zuerst adoptiert wurde, proklamiert:
„Österreich dürfe im gegenwärtigen Kriege nicht allein gelassen werden, da derselbe eventuell deutsche Interessen bedrohe. Dagegen sei es die Pflicht Deutschlands" (Beruf - würde sich Herr v. Schleinitz ausdrücken), „von Österreich Reformen, namentlich auch die Gewährung eines den begründeten Forderungen der Zeit entsprechenden Zustandes in Italien zu verlangen. Die militärische und politische Leitung im bevorstehenden Kampfe müsse Preußen übertragen werden. Mit dieser Führung sei aber dem dauernden Bedürfnis einer kräftigen Bundesregierung noch nicht (!) entsprochen, eine Neugestaltung der deutschen Zentralgewalt auf der einen sowie die Herstellung einer Verfassung auf der andern Seite, welche in einer deutschen VolksVertretimg ihren Abschluß" (Spitze - pflegte sich Herr von Gagern auszudrücken) »finde, könne dem deutschen Volke nicht vorenthalten bleiben."
Diese nassauische Erklärung, auch „Kundgebung" genannt, ist bereits von den konstitutionellen und demokratischen Notabein Darmstadts, Frankfurts, Württembergs - hier von Reyscher, Schott, Vischer, Duvernoy, Ziegler usw. in harmonischer Konfusion gezeichnet - angenommen worden und wird von der „liberalen" Presse des südwestlichen Deutschlands, Frankens und Thüringens als das wundertätige Evangelium gepredigt, welches Deutschland retten, das welsche Kaiserreich mit Stumpf und Stiel ausrotten, Herrn Venedey seine Diäten zurückgeben und dem Bürger Zais seine politische Bedeutung begründen soll. Also das ist des Pudels Kern: Durch einen so kleinlichen Trick, der auf die vollständige Versimpelung kindisch gewordener Reichsspießbürger spekuliert, denkt der preußische Beruf dem Bundestage die so ritterlich erkämpften und teuer bezahlten Lorbeeren von Bronzell[124] hinweg zu eskamotieren! Wir müssen gestehen, daß wir vor einem Berufe, der die Herren der Eschenheimer Gasse12431, anstatt sie offen zu maulschellieren, wie man gern möchte und nicht zu tun wagt, dadurch insultiert, daß er ihnen aus sicherer Ferne die Herren Schott, Zais und Reyscher an den Kopf wirft, sehr wenig Respekt haben. Wenn die Berliner Staatsweisheit kein anderes Mittel kennt, um „Deutschland zu retten", als den secondhand-Ankauf1 der Hinterlassenschaft des seligen Herrn v. Radowitz und seiner unseligen Gothaer11981, dann mag sie immerhin Frieden machen auf jede Bedingung hin und sich der französisch-russischen Diktatur wider
standslos unterwerfen, denn sie hat keinen Begriff von dem Ernste des Kampfes, der durch die italienische Freiheitskampagne eingeleitet worden ist. Daß es aber immer noch patriotische Notabilitäten gibt, die in einer „nassauischen Erklärung" einen genügenden Ausdruck ihrer Armseligkeit finden und der bequemen Uberzeugung leben, durch einen schwachen Abklatsch der 48ger Reichsparlamenterei eine Volksbewegung hervorrufen zu können, die stark genug sei, um den Kampf mit dem vereinigten Despotismus von Rußland und Frankreich aufzunehmen, beweist nur, wie sehr H. Heine recht hat, wenn er sagt, daß „die wahre Verrücktheit so selten sei, wie die wahre Weisheit". Denn die Verrücktheit der nassauischen Erklärer ist durch und durch unwahr, verlogen und feige, eine Harlekinsmaske, die diese Herren vorbinden, um sich den Anschein unzurechnungsfähiger Tollhäusler zu geben, weil sie sich selbst ihrer kläglichen Rat- und Tatlosigkeit schämen und der Verantwortlichkeit dadurch zu entgehen glauben, daß sie als Lumpen an das öffentliche Mitleid appellieren. „Neugestaltete Zentralgewalt" mit „Volksvertretung" - eine herrliche Waffe gegen den wahnsinnig gewordenen Bonapartismus und gegen das zur Verzweiflung getriebene Zarentum, das auf deutschem Boden um seine im eignen Innern bedrohte Existenz kämpfen muß! Ich dächte, wir hätten 1848 und 1849 genug von beidem gehabt, um zur Einsicht gelangt zu sein, daß jede Volksbewegung tot ist, welche ihre revolutionäre Kraft an eine konstituierende Volksvertretung verliert.
Karl Marx Was hat Italien gewonnen?
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5697 vom 27. Juli 1859, Leitartikel] Der italienische Krieg ist zu Ende. Ebenso plötzlich und unerwartet, wie ihn die Österreicher begannen, hat ihn Napoleon beendetl244]. Obgleich kurz, ist er doch kostspielig gewesen. Auf wenige Wochen konzentrierte er nicht nur die Heldentaten, die Invasionen und Gegeninvasionen, die Märsche, die Schlachten, die Eroberungen und die Verluste, sondern auch den Aufwand an Menschen und Geld vieler Kriege von bedeutend längerer Dauer. Einige seiner Ergebnisse sind recht offenkundig. Österreich hat an Gebiet verloren, seine Reputation für militärische Tapferkeit hat ernsthaften Schaden erlitten, und sein Stolz ist tief verletzt worden. Wir befürchten jedoch, wenn es überhaupt Lehren daraus gezogen hat, daß es eher militärische als politische sind. Sollte sich Österreich als Konsequenz aus diesem Krieg zu irgendwelchen Veränderungen veranlaßt sehen, so werden es eher Veränderungen in der Ausbildung, der Disziplin und der Bewaffnung sein, als in seinem politischen System oder seinen Regierungsmethoden. Es mag von der Wirksamkeit der gezogenen Kanonen überzeugt worden sein. Es mag vielleicht eine Art Imitation der französischen Zuaven in seiner Armee einführen. Das ist viel wahrscheinlicher als eine wesentliche Veränderung der Regierungsform in seinen ihm noch verbliebenen italienischen Provinzen. Österreich hat, zumindest gegenwärtig, auch jene Vormundschaft über Italien verloren, auf der es trotz der Warnungen und Beschwerden Sardiniens beharrte und damit den Anlaß zu dem jüngsten Krieg gab. Aber obwohl Österreich gegenwärtig gezwungen ist, dieses Amt aufzugeben, scheint das Amt selbst nicht vakant zu sein. Es ist eine höchst bezeichnende Tatsache, daß die Neuregelung der italienischen Angelegenheiten
27 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
entschieden wurde in einer kurzen Unterredung zwischen den Kaisern von Frankreich und Österreich, beides Ausländer, jeder an der Spitze einer ausländischen Armee. Außerdem wurde bei diesem Ubereinkommen nicht einmal der äußere Schein einer fiktiven Beratung mit den Parteien gewahrt, die Gegenstand der Verhandlung waren, sondern sogar ohne deren Wissen über sie geschachert und verfügt. Zwei Armeen von jenseits der Alpen treffen aufeinander und kämpfen m der lornbardischen Ebene. Nach einem sechswöchigen Kampf unterfangen sich die ausländischen Beherr- • scher jener ausländischen Armeen, die Angelegenheiten Italiens zu regeln und zu ordnen, ohne auch nur einen einzigen Italiener zu Rate zu ziehen. Der König von Sardinien, der militärisch gesehen auf die Stufe eines französischen Generals gestellt worden war, scheint nicht mehr Anteil oder Stimme beim endgültigen Ubereinkommen gehabt zu haben, als wenn er tatsächlich nur ein französischer General gewesen wäre. Bei den von Sardinien in so heftiger Form vorgebrachten Beschwerden gegen Österreich ging es nicht nur um Österreichs Anspruch auf eine allgemeine Oberaufsicht über die italienischen Angelegenheiten, sondern auch darum, daß es der Verfechter aller bestehenden Mißstände war, daß seine Politik darin bestand, die Dinge beim alten zu lassen, sich in die innere Verwaltung seiner italienischen Nachbarn einzumischen, und daß es das Recht beanspruchte, jeden Versuch der Bewohner dieser Länder, eine Änderung oder Verbesserung ihrer politischen Verhältnisse herbeizuführen, mit Waffengewalt zu unterdrücken. Wird nun unter den neuen Bedingungen den Gefühlen und Wünschen der Italiener oder dem Recht auf Revolution, dessen Schutzherr Sardinien war, mehr Achtung erwiesen als unter den alten? Die italienischen Herzogtümer südlich des Po, deren Hilfsangebot während des Krieges angenommen worden war, sollen anscheinend zum Dank dafür entsprechend dem Friedensvertrag ihren verjagten Fürsten zurückgegeben werden. In keinem Teil Italiens hörte man mehr Klagen über Mißstände in der Verwaltung als in den Legationen des Kirchenstaates. Diese Mißwirtschaft und ihre Förderung und Unterstützung durch Österreich wurde stets als eines der übelsten Merkmale, wenn nicht als das allerübelste Merkmal der bisherigen Zustände in Italien bezeichnet. Obwohl Österreich gezwungen worden ist, sein bewaffnetes Protektorat über die Legationen des Kirchenstaates aufzugeben, haben die unglücklichen Bewohner jener Gebiete durch die Veränderung nichts gewonnen. Frankreich unterstützt die weltliche Macht des Heiligen Stuhls im gleichen Maße, wie es Österreich getan hat; und da die italienischen Patrioten die Mißbräuche der römischen Regierung als untrennbar von deren kirchlichem
Charakter betrachten, scheint keine Hoffnung auf Besserung zu bestehen. Frankreich, das nun die Position des alleinigen Beschützers des Papstes innehat, macht sich in der Tat für die Mißwirtschaft der römischen Regierung stärker verantwortlich als Osterreich es jemals war. Hinsichtlich der italienischen Konföderation, die einen Teil des neuen Übereinkommens bildet, ist zu bemerken: Diese Konföderation wird entweder eine politische Realität sein, die ein bestimmtes Maß von Macht und Einfluß besitzt, oder andernfalls eine bloße Täuschung. Ist das letztere der Fall, kann die Einigung, Befreiung und Entwicklung Italiens nichts dabei gewinnen. Ist sie eine Realität, was kann man angesichts der Elemente, aus denen sie sich zusammensetzt, von ihr erwarten? Österreich (das in der Konföderation die Provinz oder das Königreich Venedig vertritt), der Papst und der König von Neapel, die die Interessen des Despotismus verbinden, werden leicht den Sieg über Sardinien davontragen, selbst wenn die anderen kleineren Staaten sich mit ihm verbünden sollten. Österreich kann sogar diesen neuen Ausgangspunkt benutzen, um sich eine Kontrolle über die anderen italienischen Staaten zu sichern, die zumindest ebensowenig vertretbar ist wie jene, auf die es vorher auf Grund von Sonderverträgen mit ihnen Anspruch erhob.
Geschrieben um den 12. Juli 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Der Friede
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5698 vom 28. Juli 1859, Leitartikel] Den Nachrichten zufolge, die wir mit der „Europa" erhielten, scheint es, daß die von Napoleon; III. als eine der Grundlagen seines Friedens mit Franz Joseph angekündigte italienische Konföderation eine höchst unbestimmte und zweifelhafte Sache ist. Bis jetzt ist es lediglich ein Vorhaben, dem Österreich zugestimmt hat, das aber den italienischen Regierungen erst noch unterbreitet werden muß. Es hat den Anschein, als ob nicht einmal Sardinien, dessen König, nebenbei gesagt, beim Abschluß des Friedens offenbar nicht hinzugezogen wurde, beitreten möchte, obwohl sein König natürlich tun muß, was ihm befohlen wird. Inzwischen kursiert ein Gerücht, daß der Papst1, der als Ehrenpräsident der Föderation vorgeschlagen wird, an Louis-Napoleon geschrieben habe, er wolle die katholischen Mächte um Schutz ersuchen - eine ziemlich zweifelhafte Zuflucht in einem Moment, da es gerade Frankreich ist, gegen das sie geschützt werden müßte. Was die kürzlich vertriebenen Monarchen von Toskana, Modena und Parma2 betrifft, so sollen sie anscheinend wieder auf ihren jeweiligen Thron gesetzt werden; unter diesen Umständen werden sie zweifellos bereit sein, jeder Konföderation beizutreten, die ihnen befohlen werden sollte. Doch von dem König von Neapel, nunmehr der einzige unabhängige Herrscher in Italien, hören wir überhaupt nichts; und es ist nicht ausgeschlossen, daß er rundheraus ablehnen wird. So ist es also noch fraglich, ob es überhaupt eine Föderation geben wird, und eine noch größere Frage, welcher Art sie sein wird, wenn sie doch zustande kommen sollte.
1 Pius IX. - 3 Leopold IL, Franz V. und Louise de Bourbon
Eine wichtige Tatsache ist nunmehr zur Gewißheit geworden: Österreich behält alle vier großen Festungen und der Mincio wird zur Westgrenze seines Territoriums. Damit hält es noch immer den Schlüssel zu Oberitalien in den Händen und kann jede günstige Gelegenheit ausnutzen» um das wieder zu erhalten, was es jetzt aufgeben mußte. Allein diese Tatsache zeigt, wie völlig unbegründet Napoleons Behauptung ist, daß er sein Ziel, Österreich aus Italien zu vertreiben, im Prinzip erreicht habe. Es ist in der Tat nicht übertrieben zu sagen, wenn Napoleon Österreich im Kriege geschlagen hat, so hat ihn Österreich beim Friedensschluß entscheidend geschlagen. Österreich hat auf nichts weiter verzichtet als auf das, was ihm abgenommen worden war. Frankreich hat für einen Aufwand von ungefähr hundert Millionen Dollar und für das Leben von ungefähr fünfzigtausend seiner Söhne die Kontrolle über Sardinien, viel Ehre für seine Soldaten und den Ruf eines recht glücklichen und einigermaßen erfolgreichen Generals für seinen Kaiser erlangt. Für den Kaiser ist dies viel; doch für Frankreich, das alle Kosten getragen und alle Verluste erlitten hat, ist dies wenig; und es überrascht nicht, daß in Paris Unzufriedenheit herrschen soll. Als Grund für diese plötzliche Beendigung des Krieges führte Napoleon an, daß er Ausmaße angenommen habe, die mit den Interessen Frankreichs unvereinbar wären. Mit anderen Worten, er hatte die Tendenz zu einem revolutionären Krieg, der die Möglichkeit einer Insurrektion in Rom und einer Erhebung in Ungarn einschloß. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß derselbe Napoleon kurz vor der Schlacht bei Solferino Kossuth in sein Hauptquartier einlud und ihn tatsächlich drängte, eine revolutionäre Diversion zugunsten der Alliierten zu unternehmen. Vor dieser Schlacht fürchtete er also die Gefahren nicht, die ihn unmittelbar hinterher in Schrecken versetzten. Daß die Umstände die Sachlage verändern, ist keine neue Feststellung, aber auf die jetzige Situation ist sie anwendbar. Es erübrigt sich, weitere Beweise anzuführen, daß dieser Mann ebenso selbstsüchtig wie skrupellos ist und daß er, nachdem er das Blut von fünfzigtausend Mann zur Befriedigung seiner persönlichen Ambitionen vergossen hat, bereit ist, jedem der geheuchelten Grundsätze abzuschwören und zu entsagen, in deren Namen er sie zur Schlachtbank geführt hatte. Eines der ersten Resultate der jetzigen Regelung ist der erzwungene Rücktritt des Ministeriums Cavour in Sardinien. Obwohl Graf Cavour, einer der klügsten Männer in Italien, mit dem Friedensschluß ganz und gar nichts zu tun hatte, konnte er sich auf Grund der Entrüstung und Enttäuschung der Öffentlichkeit nicht halten. Es wird wahrscheinlich lange dauern, bis er wieder an die Macht gelangt. Und es wird lange dauern, bis
Louis-Napoleon selbst die Sentimentalen und Enthusiasten wieder dazu bringen wird, in ihm einen Verfechter der Freiheit zu sehen. Die Italiener werden ihn jetzt mehr hassen als alle anderen Vertreter der Tyrannei und des Verrats; und wir brauchen nicht überrascht zu sein, wenn die Dolche der italienischen Attentäter erneut versuchen, dem Manne das Leben zu nehmen, der Österreich beinahe genau so fest wie zuvor im Nacken Italiens sitzen ließ, während er versprach und vorgab, Italiens Unabhängigkeit zu erobern.
Geschrieben am 15. Juli 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Der Vertrag von Villafranca
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5704 vom 4. August 1859, Leitartikel] Wenn der von Louis-Napoleon unter dem Vorwand der Befreiung Italiens angezettelte Krieg eine allgemeine Verwirrung der Meinungen, eine Veränderung der Positionen und eine Prostitution der Menschen und Dinge hervorgerufen hat, wie sie in der europäischen Geschichte keine Parallele finden, so hat der Frieden von Villafranca1[2441 den verhängnisvollen Zauber gebrochen. Was auch immer über die Schlauheit Louis-Napoleons gesagt worden sein mag, dieser Friede hat sein Prestige zerstört und ihn sogar dem französischen Volk und der französischen Armee entfremdet, die an seine Dynastie zu fesseln sein Hauptbestreben war. Wenn er dieser Armee sagt, daß er aus Furcht vor Preußen und dem österreichischen Festungsviereck Friede geschlossen habe, sagt er ihnen etwas, was nur ihr Mißfallen hervorrufen kann. Und wenn er diesem Volk, von dem jeder ein geborener Revolutionär ist, erzählt, daß er in seinem Siegeszug nur durch die Tatsache aufgehalten wurde, daß er den nächsten Schritt vorwärts mit der Revolution als Bundesgenossen hätte machen müssen, kann er sicher sein, daß sie ihn mit weit größerem Mißtrauen und größerer Abscheu betrachten werden, als den Popanz, mit dem er sie schrecken will. Im ganzen heutigen Europa gibt es keinen solchen Fehlschlag, wie ihn Louis-Napoleon mit seinem italienischen Krieg erlitten hat. Der Schwindel platzte in Villafranca. Die Börsenspekulanten triumphieren, die entlarvten Demagogen sind entsetzt, die betrogenen Italiener beben vor Wut, die „vermittelnden Mächte" geben jämmerliche Figuren ab und die Briten und Amerikaner, die an Louis Bonapartes demokratische Mission geglaubt haben, verbergen ihre Beschämung hinter nichtssagenden Protesten und scharfsinnigen Erklärungen; doch diejenigen, die gegen eine Welle der Selbsttäuschung
aufzutreten wagten, selbst auf die Gefahr hin, einer österreichfreundlichen Haltung bezichtigt zu werden, haben sich jetzt als die einzigen erwiesen, die recht gehabt haben. Betrachten wir zuerst, auf welche Weise der Vertrag abgeschlossen wurde. Die beiden Kaiser treffen sich; Franz Joseph übergibt Napoleon die Lombardei, der sie Viktor Emanuel zum Geschenk macht. Viktor Emanuel, obwohl offensichtlich die Hauptperson des Krieges, wird überhaupt nicht zu den Friedensverhandlungen zugelassen. Beide Vertragspartner verhöhnen den Gedanken, die Meinung der hier verschacherten menschlichen Ware auch nur zum Schein anzuhören. Franz Joseph verfügt über seinen Besitz und Napoleon III. ebenso. Wenn es sich um die Übereignung eines Vermögens gehandelt hätte, wäre die Anwesenheit eines juristischen Beamten und die Erfüllung einiger gesetzlicher Formalitäten unumgänglich gewesen. Nichts dergleichen bei der Übereignung von drei Millionen Menschen. Nicht einmal die Zustimmung Viktor Emanuels, der den Besitz schließlich erhält, wird eingeholt. Eine solche Demütigung war zu groß für einen Minister, und Cavour trat zurück. Ein König darf natürlich von einem annektierten Land sagen, was der römische Kaiser von dem eingegangenen Geld sagte: Non olet1. Wahrscheinlich hat es für ihn keinen beleidigenden Geruch. Dieser Vorgang stellt vermutlich das dar. was im Vokabularium der „idees napoleoniennes"[230] die „Wiederherstellung der Nationalitäten" genannt wird. Der Wiener Kongreß11311 kann, wenn man seine Transaktionen mit dem Villafranca-Geschäft vergleicht, direkt revolutionärer Grundsätze und Sympathien mit den Völkern verdächtigt werden. Die Inauguration der italienischen Nationalität wird vorsätzlich verhöhnt durch eine Übereinkunft, die in großen Lettern erklärt, daß Italien an dem Krieg gegen Österreich nicht teilgenommen und deshalb beim Friedensschluß mit Österreich kein Wort mitzureden hat. Garibaldi mit seinen kühnen Bergbewohnern, die Insurrektionen in Toskana, Parma, Modena und in der Romagna[194], Viktor Emanuel mit seinem von der Invasion betroffenen Land, seinen ruinierten Finanzen und seiner dezimierten Armee - all das zählt nicht. Es war ein Krieg zwischen einem Habsburger und einem Bonaparte. Es war kein italienischer Krieg. Viktor Emanuel kann nicht einmal die Ehre eines subalternen Alliierten beanspruchen. Er war kein Partner in diesem Kampf, er war nur ein Instrument und ist deshalb von
1 Es riecht nicht. (Ausspruch des Kaisers Vespasian über das für Urinsteuer eingegan gene Geld.)
jenen Rechten ausgeschlossen, die nach dem Völkerrecht jedem Mitkämpfenden zustehen, wie gering er auch sei. Ihm werden nicht die Ehren zuteil, die den deutschen mediatisierten Fürsten beim Frieden von 1815 zuteil wurden.[245] Ein bescheidener armer Verwandter, der schweigend die Brosamen verzehren darf, die vom Tisch seines reichen und mächtigen Vetters fallen. Wenn wir nun zu dem Inhalt - wir meinen den offiziellen Inhalt - des Vertrages von Villafranca kommen, werden wir finden, daß dieser mit der Verfahrensweise vollkommen übereinstimmt. Die Lombardei wird Piemont übergeben, doch dasselbe Angebot, unter günstigeren Bedingungen und nicht mit Nachteilen belastet, hatte Österreich bereits 1848 Karl Albert und Lord Palmerston vorgeschlagen[246], Zu dieser Zeit hatte sich keine ausländische Macht der italienischen Bewegung bemächtigt. Die Übergabe sollte an Sardinien, nicht an Frankreich erfolgen; auch Venedig sollte von den österreichischen Gebieten getrennt und als ein unabhängiger italienischer Staat konstituiert werden, nicht mit dem österreichischen Kaiser, sondern mit einem österreichischen Erzherzog an der Spitze. Diese Bedingungen wurden damals von dem edelmütigen Palmerston geringschätzig abgelehnt und als unzureichend für eine Beendigung des italienischen Unabhängigkeitskrieges gebrandmarkt. Dieselbe Lombardei wird jetzt als ein französisches Geschenk der Dynastie Savoyen übergeben, während Venedig mit dem Festungsviereck, die Festungen am Mincio einbegriffen, in den Klauen Österreichs bleiben soll. Die Unabhängigkeit Italiens wird somit in die Abhängigkeit der Lombardei von Piemont und in die Abhängigkeit Piemonts von Frankreich umgewandelt. Österreichs Stolz mag durch die Abtretung der Lombardei getroffen worden sein, seine wirkliche Macht ist durch die Räumung eines Gebietes, das einen Teil seiner militärischen Kräfte absorbierte, ohne daß es gegen eine ausländische Invasion verteidigt werden und die Unterhaltungskosten selbst aufbringen konnte, eher gefestigt worden. Die Geldmittel, die in der Lombardei nutzlos verausgabt wurden, können jetzt anderswo nützlich verwendet werden. Österreich behält die dominierende militärische Position, von der aus es bei passender Gelegenheit über seinen schwachen Nachbarn herfallen kann. Piemont hat nichts gewonnen als eine offene Grenze und ein Gebiet mit unruhigen, unzufriedenen und mißtrauischen Untertanen, wodurch es in Wirklichkeit nur schwächer geworden ist. Gleichzeitig hat es jeden Anspruch verloren, die Rechte Italiens zu vertreten. Es hat einen dynastischen Handel abgeschlossen, aber seine nationale Mission aufgegeben. Von einem unabhängigen Staat ist Sardinien zu einem
geduldeten Staat herabgesunken, der vor seinem Beschützer im Westen kriechen muß, um gegen seinen Feind im Osten bestehen zu können. Aber das ist noch nicht alles. Nach den Bestimmungen des Vertrages soll Italien nach dem Muster des Deutschen Bundest61] als eine italienische Konföderation unter der Ehrenpräsidentenschaft des Papstes1 konstituiert werden. Bei der Durchführung dieser napoleonischen Idee scheint es einige Schwierigkeiten zu geben, und es bleibt abzuwarten, wie Napoleon III. mit den Hindernissen fertig wird, die sich seinem Steckenpferd in den Weg stellen. Denn wie die Sache auch ausgehen mag, es besteht kein Zweifel daran, daß eine solche Föderation mit dem Papst an der Spitze sein Steckenpferd ist. Der Sturz der päpstlichen Macht in Rom wurde jedoch immer als die conditio sine qua non 2 der italienischen Befreiung angesehen. Machiavelli fand vor langer Zeit in seiner „Florentinischen Geschichte" in der päpstlichen Oberherrschaft die Quelle der italienischen Erniedrigung. Nun soll nach den Absichten Louis-Napoleons an Stelle der Befreiung der Romagna ganz Italien der nominellen Herrschaft des Papstes unterworfen werden. Wenn die Föderation jemals zustande kommen sollte, wird in Wirklichkeit die päpstliche Tiara nur das Emblem der österreichischen Herrschaft sein. Was wollte Österreich durch seine Privatverträge mit Neapel, Rom, Toskana, Parma, Modena erreichen? Eine Konföderation italienischer Fürsten unter österreichischer Führung. Der Vertrag von Villafranca mit einer italienischen Konföderation, in der der Papst, Österreich und die wiedereingesetzten Herzöge - wenn ihre Wiedereinsetzung möglich ist - eine Partei bilden werden und Piemont die andere, übersteigt die kühnsten Hoffnungen Österreichs. Seit 1815 trachtete es danach, eine Konföderation italienischer Fürsten gegen Piemont zu bilden. Jetzt hat es die Möglichkeit, Piemont selbst zu unterwerfen. Es hat die Möglichkeit, die Lebenskraft dieses kleinen Staates in einer Konföderation auszulöschen, deren nominelles Oberhaupt der Papst sein wird, der Sardinien exkommuniziert hat12471, und deren wirklicher Führer der unversöhnliche Feind Sardiniens sein wird. Folglich ist nicht Italien befreit, sondern Piemont unterdrückt worden. Piemont soll Österreich gegenüber die Rolle Preußens spielen, doch ohne die Ressourcen, die den letzteren Staat befähigt haben, seinen Rivalen im Deutschen BundestagC162] zu paralysieren. Frankreich seinerseits mag sich schmeicheln, gegenüber Italien die Stellung eingenommen zu haben, die Rußland gegenüber dem Deutschen Bund innehat, allerdings mit dem Unterschied, daß der russische Einfluß in Deutschland
1 Pius IX. — 2 unerläßliche Bedingung
auf dem Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Habsburgern und den Hohenzollern beruht. Der einzige Weg, durch den Piemont sein Prestige wieder herstellen kann, wird ihm klar durch seinen Beschützer gewiesen. In seiner Proklamation an seine Soldaten sagt Louis-Napoleon:
„Die Vereinigung der Lombardei mit Piemont schafft uns" (der Familie Bonaparte) „einen mächtigen Verbündeten, der uns seine Unabhängigkeit verdanken wird." Damit erklärte er, daß sich das unabhängige Piemont in eine napoleonische Statthalterschaft verwandelt hat. Um sich aus dieser erniedrigenden Stellung zu befreien, fehlt es Viktor Emanuel an Ressourcen. Er kann nur an Italien appellieren, dessen Vertrauen er betrogen hat, oder an Österreich, mit dessen Beute er gefüttert wurde. Es ist jedoch durchaus möglich, daß eine italienische Revolution eingreifen wird, um das Antlitz der ganzen Halbinsel zu verändern und Mazzini und die Republikaner wieder auf die Bildfläche zu bringen.
Geschrieben am 19. Juli 1859. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der italienische Krieg
Rückschau
[„Das Volk" Nr. 12 vom 23. Juli 1859] Der Geheimgeneral hat schleunigst seine Garde nach Paris beordert, um an ihrer Spitze seinen triumphalen Einzug zu halten und dann auf dem Carrousel-Platz seine siegreichen Truppen vor sich defilieren zu lassen. Halten wir inzwischen nochmals Revue ab über die Hauptereignisse des Krieges, um das wirkliche Verdienst des Affen Napoleons[2491 zu beleuchten. Am 19. April beging der Graf Buol die kindische Unvorsichtigkeit, dem englischen Gesandten1 mitzuteilen, daß er am 23. den Piemontesen eine dreitägige Frist stellen, nach deren Ablauf aber den Krieg beginnen und einrücken lassen werde. Buol wußte zwar, daß Malmesbury kein Palmerston war, aber er vergaß, daß gerade die Zeit der allgemeinen Wahl heranrückte, daß die bornierten Tories aus Angst, sie möchten als „Österreicher" verschrieen werden, in der Tat Bonapartisten wider Willen wurden. Am 20. hatte die englische Regierung eiligst Herrn Bonaparte von dieser Mitteilung in Kenntnis gesetzt, und sofort begann die Konzentrierung französischer Truppen und wurde der Befehl erteilt zur Formierung der vierten Bataillone der Beurlaubten. Am 23. geben die Österreicher das Ultimatum wirklich ab - am Vorabend der meisten englischen Wahlen. Derby und Malmesbury beeilen sich, diese Tat für ein „Verbrechen" zu erklären, gegen das sie aufs allerenergischste protestieren. Bonaparte läßt seine Truppen die piemontesische Grenze überschreiten, noch ehe das Ultimatum abgelaufen; am 26. April betreten die Franzosen Savoyen und Genua. Die Österreicher aber, durch die Proteste und Drohungen der Tory-Regierung aufgehalten, geben noch zwei Tage zu und marschieren statt am 27. erst am 29. in Piemont ein.
So hatte der Geheimgeneral volle neun Tage vor dem Einrücken der Österreicher Kenntnis von ihrer Absicht und brachte es durch den Verrat des englischen Ministeriums dahin, drei Tage vor ihnen am Platze zu sein. Aber nicht nur im englischen Ministerium, auch im österreichischen Armeekommando hatte der Geheimgeneral Bundesgenossen. Jedermann erwartete, und mit Recht, daß Heß den Oberbefehl über die italienische Armee übernehmen werde. Statt dessen behielt Gyulay, der 1848 und 1849 nirgends vor dem Feind war, das Kommando - ein total unfähiger Kopf ohne Verstand und Willenskraft, dieser Gyulay. Heß ist von bürgerlicher Abkunft und der reaktionären und jesuitenfreundlichen Adelsclique abgeneigt, die Franz Josephs Kamarilla bildet. Das Triumvirat Grünne — Thun — Bachhetzte den schwachen Franz Joseph, der mit Grünne zusammen einen wunderlichen und von Heß bitter kritisierten Operationsplan ausgearbeitet hatte, gegen den alten Strategiker; so blieb der hochadlige Schwachkopf Gyulay Obergeneral und sein Operationsplan - Einfall in Piemont - wurde angenommen. Heß hatte zur strikten Defensive und zum Vermeiden jeder Schlacht bis an den Mincio geraten. Die österreichische Armee, zudem noch von Regenströmen aufgehalten, erschien erst gegen den 3. oder 4. Juni an Po und Sesia, und nun war es natürlich zu spät, einen Handstreich auf Turin oder eine der piemontesischen Festungen zu wagen. Die Franzosen waren massenhaft am oberen Po konzentriert; dies bot dem unfähigen Gyulay einen willkommenen Vorwand zur Untätigkeit. Um seine Ratlosigkeit recht zu dokumentieren, ließ er die forcierte Rekognoszierung von Montebello unternehmen. Der dadurch herbeigeführte Kampf wurde von dreizehn österreichischen Bataillonen gegen sechzehn französische ehrenvoll geführt, bis die zweite und dritte Division des Baraguay d'Hillierschen Korps auf dem Schlachtfeld erschienen, worauf die Österreicher, die ihren Zweck erreicht hatten, sich zurückzogen. Da aber auf diese Rekognoszierung von seiten der Österreicher weiter nichts erfolgte, so zeigt sich, daß die ganze Expedition ebensogut hätte unterbleiben können. Der Geheimgeneral hatte inzwischen auf sein Kriegsmaterial und seine Kavallerie warten müssen und vertrieb sich die Zeit wahrscheinlich mit dem Studium seines geliebten Bülow. Über Aufstellung und Stärke der Österreicher vollständig unterrichtet, konnten die Franzosen leicht einen Angriffsplan entwerfen. Es gibt überhaupt nur drei Arten anzugreifen; entweder grade in der Front, um das Zentrum zu durchbrechen, oder durch Umgehung des rechten oder linken Flügels. Der Geheimgeneral entschloß sich, den feindlichen rechten Flügel zu umgehen. Die Österreicher standen
auf einer langen Linie vom Biella bis Pavia, nachdem sie das ganze Land zwischen Sesia und Dora Baltea ungehindert ausfouragiert hatten. Am 21 .Mai greifen die Piemontesen die Sesialinie an und führen mehrere Tage lang kleinere Gefechte zwischen Casale und Vercelli, während Garibaldi mit seinen Alpenjägern, dicht am Lago Maggiore sich vorbeischleichend, das Varesotto insurgiert und bis in die Comasco und Bnanza vordringt* Gyulay bleibt in seiner Verzettelung und schickt sogar eines seiner sechs Armeekorps (das neunte) auf das südliche Po-Ufer. Am 29. Mai sind endlich die Vorbereitungen so weit, daß der Angriff beginnen kann. Die Gefechte von Palestro und Vinzaglio, bei denen der größte Teil der piemontesischen Armee gegen einen Teil des siebenten Armeekorps (Zobel) engagiert war, öffneten den Alliierten die Straße nach Novara, das Gyulay ohne Widerstand räumen ließ. Sofort wurden die Piemontesen, das 2., 3., 4. französische Korps und die Garde dorthin dirigiert; das erste Korps folgte. Die Umgehung des österreichischen rechten Flügels war vollendet, die direkte Straße nach Mailand war offen. Damit war aber auch den Armeen grade die Stellung gegeben, worin Radetzky 1849 den Sieg von Novara errang. In langen Kolonnen und auf wenigen Parallelstraßen wälzten sich die Alliierten dem Ticino zu. Der Marsch konnte nur langsam vonstatten gehen. Gyulay hatte fünf Armee»info*- Jo»* T-fa-nr? oolkef na/^ll Akvo/'linimof rlöc iraV7AffoUoTi nA^nfor» HU I J/O UHLUi uwi 1 AUtiU) OV.J.M.J4. "UVSI f luavwmun^ w^w . v-x A-V- S.twtv" u^tuiivu Korps. Sobald der Angriff der Piemontesen einen ernstlichen Charakter annahm, und das tat er am 29. und 30. Mai, mußte Gyulay seine Truppen konzentrieren. Der Punkt, wo dies geschah, war ziemlich gleichgültig; an 140 000 — 150 000 Mann in einer konzentrierten Stellung marschiert man nicht vorbei; zudem kam es darauf an, nicht sich passiv zu verteidigen, sondern dem Feind einen a tempo Stoß beizubringen. Hätte Gyulay sich zwischen Mortara, Garlasco und Vigevano konzentriert am 3I.Mai und I.Juni, so konnte er einerseits der Umgehung seines rechten Flügels bei Novara selbst in die Flanke fallen, die feindlichen Marschkolonnen entzweischneiden, einen Teil derselben mit dem Rücken gegen die Alpen drängen und die Straße nach Turin in seine Hände bekommen. Andrerseits konnte er, wenn der Feind den Po unterhalb Pavia überschritt, immer noch rechtzeitig kommen, ihm den Weg nach Mailand zu verlegen. Ein Anfang von Konzentrierung wurde wirklich gemacht. Ehe sie aber vollständig durchgeführt, war Gyulay durch die Besetzung von Novara irre geworden. Der Feind stand näher bei Mailand als er! Allerdings, das war aber gerade das Erwünschte; jetzt war der Moment zu dem a tempo Stoß gekommen; der Feind mußte sich unter den allerungünstigsten
Bedingungen schlagen. Aber Gyulay, so persönlich tapfer er sein mag, war moralisch feig. Statt rasch vorzugehn, ging er zurück, um seine Armee mit Gewaltmärschen in einem Bogen um den Feind herumzubringen und bei Magenta ihm wieder den direkten Weg nach Mailand zu verlegen. Die Truppen werden am 2. Juni in Bewegung gesetzt, und das Hauptquartier nach Rosate in der Lombardei verlegt. Dorthin kam um halb sechs Uhr morgens am 3. Juni der Feldzeugmeister Heß. Er stellte Gyulay zur Rede über den unverzeihlichen Fehler und ließ sofort alle Truppen halten, da er es noch für möglich hielt, den Stoß in der Richtung Novara auszuführen. Zwei ganze Armeekorps, das zweite und siebente, standen schon auf lombardischem Boden, sie waren von Vigevano auf Abbiategrasso marschiert. Das dritte Korps hatte den Befehl zum Halten gerade auf der Brücke bei Vigevano empfangen, es marschierte zurück und nahm Stellung auf dem piemontesischen Ufer. Das achte ging über Bereguardo, das fünfte über Pavia. Das neunte war immer noch weit ab und ganz außer Bereich. Als Heß sich von der Dislokation der Truppen genau unterrichtet hatte, fand er, daß es zu spät sei, um in der Richtung Novara auf Erfolg rechnen zu können; jetzt blieb nur die Richtung Magenta übrig. Um zehn morgens gingen die Befehle an die Kolonnen ab, ihren Marsch auf Magenta fortzusetzen. Auf diese Einmischung von Heß und den Verlust von 41/2 Stunden durch Halten der Kolonnen schiebt Gyulay die Schuld der verlornen Schlacht von Magenta. Wie unbegründet dieser Vorwand ist, geht aus folgendem hervor; Die Brücke bei Vigevano ist von Magenta zehn englische Meilen entfernt - ein kurzer Tagemarsch. Das zweite und das siebente Korps waren schon in der Lombardei, als der Befehl zum Haltmachen kam. Sie konnten also höchstens 7-8 Meilen im Durchschnitt zu marschieren haben. Trotzdem kam nur eine Division vom siebenten Korps bis Corbetta und 3 Brigaden vom zweiten Korps bis Magenta. Die zweite Division vom siebenten Korps kam am 3. nicht weiter als Castelletto bei Abbiategrasso; und das dritte Korps, das spätestens 11 Uhr morgens Befehl zum Aufbruch von der Brücke bei Vigevano erhielt, also noch ein sehr gutes Stück Tag vor sich hatte, scheint nicht einmal die fünf bis sechs englischen] Meilen bis Abbiategrasso zurückgelegt zu haben, da es am folgenden Tage erst gegen 4 Uhr nachmittags bei Robecco (3 Meilen von Abbiategrasso) ins Gefecht kommen konnte. Hier liegt also offenbar ein Stopfen der Kolonnen auf den Straßen vor, das den Marsch verlangsamte infolge schlechter Arrangements. Wenn ein Korps 24 Stunden und darüber braucht, um 8-10 Meilen
zurückzulegen, so fallen 4-5 Stunden mehr wahrlich nicht in die Waagschale. Das achte Korps, über Bereguardo und Binasco dirigiert, hatte einen solchen Umweg zu machen, daß es selbst mit Benutzung der 41/a verlorenen Stunden nicht rechtzeitig auf dem Schlachtfeld erscheinen konnte. Das fünfte Korps, das von Pavia in zwei wirklichen Gewaltmärschen heranrückte, griff am Abend des 4. Juni noch mit einer Brigade in die Schlacht ein.t250J Was es an Zeit verlor, gewann es an Intensivität der Bewegung. Der Versuch, die Zersplitterung der Armee auf Heß zu schieben, fällt also vollständig zu Boden. Die strategische Einleitung des Siegs von Magenta besteht also erstens in einem positiven Fehler, den Louis Bonaparte selbst beging, indem er einen Flankenmarsch im Bereich des Feindes ausführte, und zweitens einem Fehler Gyulays, der statt konzentriert über die langen Marschkolonnen herzufallen, seine Armee durch einen noch dazu erbärmlich angelegten Kontremarsch und Rückzug vollständig zersplitterte und seine Truppen ermüdet und ausgehungert ins Gefecht führte. Dies war die erste Phase des Kriegs. Über die zweite in der nächsten Nummer.
[„Das Volk" Nr. 13 vom 30. Juli 1859] Wir verließen unserri wirklichen geheimen Napoleon auf dem Schlachtfelde von Magenta. Gyulay hatte ihm den größten Gefallen getan, den ein General seinem Gegner tun kann; er hatte seine Kräfte so zersplittert herangeführt, daß er in jedem Moment der Schlacht in der entschiedensten Minderzahl war und selbst am Abend die Truppen nicht in der Hand hatte. Das erste und zweite Korps zogen sich nach Mailand zurück, das achte kam von Binasco, das fünfte von Abbiategrasso, das neunte wurde weit unten am Po spazierengeführt. Hier war eine Situation für einen General; hier galt es, mit den vielen frischen Truppen, die während der Nacht ankamen, hinein[zu]fahren zwischen die vereinzelten österreichischen Kolonnen, um einen wirklichen Sieg zu erfechten und ganze Abteilungen mit Fahnen und Artillerie zur Waffenstreckung zu zwingen! So handelte der vulgäre Napoleon bei Montenotte und Millesimo [801, bei Abensberg und Regensburg [891. Nicht so der „höhere" Napoleon. Der steht weit über solchem rohen Empirismus. Der weiß aus seinem Bülow, daß der exzentrische Rückzug der vorteilhafteste ist. Der würdigte also die meisterhaften Rückzugsdispositionen Gyulays vollkommen, und statt dreinzufahren, telegraphierte er nach Paris: Die Armee ruht aus und reorganisiert sich. War er doch
sicher, daß die Welt nicht so unhöflich sein werde, sein stümperhaftes Exerzitium von Magenta je anders denn als einen „großen Sieg" zu bezeichnen! Freund Gyulay, der schon einmal mit so vielem Erfolg das Manöver versucht hatte, in einem Bogen um den Feind herumzumarschieren, Freund Gyulay machte dies Experiment noch einmal, und zwar diesmal im großen Maßstab. Er ließ seine Armee erst südöstlich an den Po marschieren, dann in drei Kolonnen auf drei Parallelstraßen den Po entlang bis gegen Piadena am Oglio, dann wieder nördlich nach Castiglione. Dabei beeilte er sich durchaus nicht. Der Weg, den er bis Castiglione zu marschieren hatte, betrug etwa 120 engl. Meilen, also 10 sehr bequeme oder 8 gute Tagemärsche. Am 14., höchstens am 15., konnte er also bei Castiglione in Stellung sein; aber erst am 19. befand sich ein ansehnlicher Teil der Armee auf den Höhen südlich des Gardasees. Indes Vertrauen erweckt Vertrauen. Marschierten die Österreicher langsam, so bewies der höhere Napoleon, daß er ihnen auch hierin überlegen sei. Der vulgäre Napoleon hätte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als seine Truppen auf der kürzeren, direkten Marschstrecke nach Castiglione, die kaum 100 engl. Meilen beträgt, in Gewaltmärschen vorrücken zu lassen, um Vor den Österreichern in der Stellung südlich vom Gardasee und am Mincio anzukommen und womöglich den österreichischen Marschkolonnen wieder in die Flanke zu fallen. Nicht so der verbesserte Napoleon. „Immer langsam voran"1251]  ist sein Motto. Vom 5. braucht er bis zum 22., ehe er seine Truppen am Chiese konzentriert hat. 17 Tage auf 100 Meilen oder zwei kleine Stunden per Tag! Das sind die kolossalen Strapazen, die die französischen Kolonnen auszuhalten hatten und die den englischen Zeitungskorrespondenten solche Bewunderung für die Ausdauer und unverwüstliche Heiterkeit der piöupious1 einflößten. Nur einmal wurde ein Versuch zu einem Arrieregardengefecht gemacht. Es galt, eine österreichische Division (Berger) aus Melegnano zu vertreiben. Eine Brigade hielt die Stadt, die andre war bereits hinter dem Lambro, den Rückzug der ersten zu decken, und kam fast gar nicht ins Gefecht. Hier nun bewies unser Geheimgeneral, daß er, wenn es darauf ankomme, auch napoleonische Strategie kenne: Massen auf den entscheidenden Punkt! Demzufolge schickte er gegen diese eine Brigade zwei ganze Armeekorps oder zehn Brigaden; von sechs Brigaden angegriffen, hielt sich die österreichische Brigade (Roden) drei bis vier Stunden lang und zog sich erst, nachdem sie über ein Drittel ihrer Mannschaft verloren hatte,
1 Infanteristen
28 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
unverfolgt über den Lambro zurück; die Gegenwart der zweiten Brigade (Boer) war hinreichend, die französische kolossale Ubermacht aufzuhalten; Man sieht, der Krieg wurde von französischer Seite mit der größten Höflichkeit geführt. In Castiglione tritt ein anderer Heros auf die Bühne: Franz Joseph von Österreich. Zwei würdige Gegner! Der eine hat überall verbreiten lassen, daß er der größte Schlaukopf aller Zeiten ist; der andre gefällt sich darin, sich für ritterlich auszugeben. Der eine kann gar nicht umhin, der größte Feldherr seines Jahrhunderts zu sein, weil er den Beruf hat, den OriginalNapoleon zu travestieren - hat er doch dessen echten Trinkbecher und andre Reliquien mit ins Feld genommen; der andre muß den Sieg an seine Fahnen fesseln, weil er geborner „oberster Kriegsherr" seiner Armee ist. Passender konnte die Epigonenwirtschaft, die sich in den Zwischenakten zwischen den Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts breit macht, auf dem Schlachtfelde nicht vertreten sein. Franz Joseph eröffnet seine Karriere als Obergeneral damit, daß er seine , Truppen zuerst die Position südlich vom Gardasee einnehmen läßt, um sie dann sofort hinter den Mincio zu ziehen; kaum hat er sie hinter dem Mincio, so schickt er sie wieder zur Offensive vor. Ein solches Manöver mußte selbst einen verbesserten Napoleon überraschen, und sein Bulletin ist auch artig genug, dies offen einzugestehn. Da er sich am selben Tage mit seiner Armee gerade auf dem Marsche nach dem Mincio befand, so entstand eine Kollision beider Armeen, die Schlacht von Solferino. Wir enthalten uns, hier nochmal auf das Detail dieser Schlacht einzugehen, da wir dies schon in einer frühern Nummer dieses Blattes getan1; um so mehr, als der österreichische offizielle Bericht absichtlich höchst konfus gehalten ist, um die wunderlichen Schnitzer des angestammten Kriegsherrn zu verdecken. So viel aber geht daraus mit Gewißheit hervor, daß am Verlust der Schlacht hauptsächlich schuld sind Franz Joseph und seine Kamarilla. Erstens wurde Heß absichtlich und planmäßig im Hintergrund gehalten. Zweitens drängte sich Franz Joseph an Heß' Stelle. Drittens waren eine Masse unfähiger und selbst einzelne im Punkt der Bravour zweifelhafte Leute durch den Einfluß der Kamarilla in wichtigen Kommandos verblieben. Aus allen diesen Umständen entstand, auch abgesehen vom ursprünglichen Plan, eine solche Verwirrung am Schlachttage, daß von Kommando, von Eingreifen der Bewegungen ineinander, von Ordnung und Konsequenz der Manöver gar keine Rede war. Besonders im Zentrum
scheint eine bodenlose Verwirrung geherrscht zu haben. Die drei Armeekorps, die hier standen (1., 5. u. 7.), führen so widersprechende und zusammenhangslose Bewegungen aus und kommen einander stets im entscheidenden Augenblick so sehr abhanden, während sie sich sonst immer im Wege sind, daß nur dies, aber dies auch mit Gewißheit, aus dem österreichischen Rapport hervorgeht: Hier ist die Schlacht weniger durch numerische Schwäche als durch schmählich schlechte Führung verlorengegangen. Nie unterstützte ein Korps das andere zur rechten Zeit; die Reserven waren überall, ausgenommen wo sie nötig waren; und so fielen Solferino, San Cassiano, Cavriana, eins nach dem andern, während sie, alle drei zusammen ausdauernd und geschickt verteidigt, eine uneinnehmbare Stellung abgaben. So aber wurde Solferino, der entscheidende Punkt, schon um zwei Uhr, und mit Solferino die Schlacht verloren gegeben; Solferino fiel durch konzentrischen Angriff, den nur Offensivstöße vereiteln konnten, aber diese grade fehlten; und nach Solferino fielen die andern Dörfer ebenfalls durch konzentrische Angriffe, denen unzulängliche passive Verteidigung entgegengesetzt wurde. Frische Truppen waren trotzdem noch da, denn die österreichischen Verlustlisten beweisen, daß aus 25 engagierten Linienregimentern acht (Roßbach, E[rz]h[erzog] Joseph, Hartmann, Mecklenburg, Heß, Grüber, Wernhardt, Wimpffen), also ein Drittel, weniger als 200 Mann per Regiment verloren, also nur unbedeutend engagiert waren! Drei derselben sowie das Gradiskaner Grenzregiment verloren nicht 100 Mann per Regiment, und von den Jägern verloren die meisten Bataillone (fünf) unter 70 Mann per Bataillon. Da nun der rechte Flügel (Benedek, achtes Korps) gegen starke Ubermacht alle seine Truppen ernstlich engeigieren mußte, so fallen alle diese nur leicht engagierten Regimenter und Bataillone auf das Zentrum und den linken Flügel, und ein gutes Teil davon muß im Zentrum gestanden haben. Dies beweist, wie erbärmlich die Führung hier war. Die Sache ist übrigens sehr leicht aufgeklärt: Hier war Franz Joseph mit seiner Staatskamarilla in Person, hier mußte also alles planlos durcheinandergehen. Die 13 Batterien der Reserveartillerie taten keinen Schuß! Auf dem linken Flügel scheint eine ähnliche Abwesenheit der Führung geherrscht zu haben. Hier war es besonders die Kavallerie, welche, von alten Weibern kommandiert, nicht zur Aktion kam. Wo sich ein österreichisches Reiterregiment zeigte, machte die französische Kavallerie kehrt, aber von acht Regimentern kam bloß ein einziges Husarenregiment ordentlich und zwei Dragonerregimenter und ein Ulanenregiment einigermaßen zum Attackieren. Preußen-Husaren verlor 110, die beiden Dragonerregimenter zusammen 96 Mann; der Verlust von Sizilien-Ulanen
ist nicht bekannt, die übrigen vier Regimenter verloren zusammen nur 23 Mann! Die Artillerie verlor in allem nur 180 Mann. Diese Zahlen beweisen mehr als alles andre die Unsicherheit und Unentschlossenheit, mit der die österreichischen Generale, vom Kaiser bis zum Korpskommandanten herab, die Truppen an den Feind führten. Rechnet man dazu die numerische Überlegenheit und den moralischen Aufschwung, den die Franzosen den bisherigen Erfolgen verdankten, so begreift man, wie die Österreicher nicht siegen konnten. Ein einziger Korpschef, Benedek, ließ sich nicht einschüchtern; er hatte den rechten Flügel ganz allein, und Franz Joseph hatte keine Zeit, sich einzumischen. Die Folge war, daß er die Piemontesen, trotz ihrer doppelten Überzahl, gehörig schlug. Der höhere Napoleon war kein solcher Neuling im Kriegführen mehr wie Franz Joseph. Er hatte sich seine Sporen schon bei Magenta verdient und wußte aus Erfahrung, wie er sich auf dem Schlachtfeld zu benehmen hatte. Er überließ es dem alten Vaillant, die zu besetzende Frontlänge auszurechnen, wonach sich dann die Verteilung der einzelnen Korps von selbst ergab, und dann überließ er es den Korpschefs, sich weiter vorwärts zu arbeiten, denn daß sie ihre Korps zu führen verstanden, darüber konnte er ziemlich ruhig sein. Er selbst begab sich auf diejenigen Punkte, auf denen er sich in der Pariser „Illustration"[252] vom folgenden Samstag am besten ausnehmen mußte, und erteilte von hier sehr melodramatische, aber auch sehr gleichgültige Detailbefehle.
[„Das Volk" Nr. 14 vom 6. August 1859] In Düsseldorf auf der Akademie war vor längerer Zeit ein russischer Maler, der später wegen Talentlosigkeit und Faulheit nach Sibirien relegiert wurde. Der arme Teufel schwärmte sehr für seinen Kaiser Nikolaus und pflegte begeistert zu erzählen: „Kaiser sehr groß! Kaiser kann alles! Kaiser kann auch malen. Aber Kaiser haben keine Zeit zum Malen; Kaiser kaufen Landschaften und dann malen Soldaten hinein. Kaiser sehr groß! Gott ist groß, aber Kaiser ist noch jung!" Der höhere Napoleon hat das mit Nikolaus gemein, daß er der Ansicht ist, die Landschaften seien nur dazu da, um Soldaten hineinzumalen. Da er aber nicht einmal die Zeit hat, auch nur die Soldaten hineinzumalen, so begnügt er sich damit, für das Gemälde zu sitzen. II pose.1 Magenta, Solferino und ganz Italien sind nur die Staffage, nur der Vorwand, um seine
interessante Figur bei dieser Gelegenheit in melodramatischer Haltung wieder in die „Illustration" und „Illustrated London News"C253] zu bringen. Da dies mit einigem Gelde zu machen ist, so ist ihm dies auch gelungen. Er hat den Mailändern gesagt:
„Wenn es Leute gibt, die ihr Jahrhundert" (das Jahrhundert der Reklame und des Puffs1) „nicht verstehen, so gehöre ich nicht zu diesen Leuten."'-2543
Der alte Napoleon war groß, und der verbesserte Napoleon ist nicht mehr jung! Diese letztere Einsicht, daß er nicht mehr jung ist, hat ihm denn auch den Gedanken eingegeben, daß es wohl an der Zeit sei, Frieden zu schließen. Er hatte es nun so weit gebracht, wie man es mit bloßen succes d'estime2 bringen konnte. „In vier Gefechten und zwei Schlachten", mit einem Verlust von über 50 000 Mann im Gefecht allein, die Kranken ungerechnet, hatte er das Vorland bis zu den österreichischen Festungen erobert - das Gebiet, das Österreich selbst durch seine Festungsanlagen aller Welt erklärt hatte, nie ernsthaft gegen Übermacht verteidigen zu wollen, und das diesmal, nur um den Marschall Heß zu schikanieren, doch verteidigt worden war. Die via sacra3, auf der der höhere Napoleon seine Armee bisher mit so klassischer Pomade und mit so zweifelhaften Erfolgen geführt hatte, war auf einmal mit Brettern zugenagelt. Jenseits lag das gelobte Land, das nicht die jetzige „Armee von Italien", sondern vielleicht erst ihre Enkel und vielleicht auch diese nicht - sehen sollten. Rivoli und Arcole standen nicht auf dem Programm. Verona und Mantua standen im Begriff, ein Wort mitzusprechen, und die einzige Festung, in deren Inneres der höhere Napoleon bis jetzt mit militärischem Gefolge eingezogen, ist das Schloß von Ham - und er war froh genug, als er ohne kriegerische Ehren wieder abziehen konnte.12551 Die Knalleffekte waren ohnehin pauvre4 genug ausgefallen: grandes batailles5 hatte er gehabt, aber die grandes victoires6 hatte ihm nicht einmal der Telegraphendraht geglaubt. Ein Krieg um verschanzte Lager, gegen den alten Heß, ein Krieg mit wechselnden Erfolgen und abnehmenden Chancen, ein Krieg, der ernsthafte Arbeit erforderte, ein wirklicher Krieg, das war kein Krieg für den Napoleon von der Porte Saint-Martin12561 und von Astleys Amphitheaterr234]. Dazu kam noch, daß ein Schritt weiter auch einen Krieg am Rhein hervorgerufen hätte und daß damit Verwicklungen eintraten, die den heroischen Grimassen und melo
1 Humbugs - 2 Achtungserfolgen - 3 heilige Straße; hier: Straße des Sieges - 4 armselig - 5 große Schlachten - 6 großen Siege
dramatischen poses plastiques1 sofort ein Ende machten. Mit solchen Dingen aber gibt sich der höhere Napoleon nicht ab - er schloß Frieden und fraß sein Programm. Als der Krieg begann, provozierte unser höherer Napoleon sofort an die italienischen Feldzüge des vulgären Napoleons, an die via sacra von Montenotte, Dego, Millesimo, Montebello, Marengo, Lodi, Castiglione, Rivoli und Arcole.[257] Vergleichen wir nun einmal die Kopie mit dem Original.[258] Der vulgäre Napoleon übernahm das Kommando von 30 000 halbverhungerten, barfüßigen und zerlumpten Soldaten zu einer Zeit, als Frankreich, mit zerrütteten Finanzen, in der Unmöglichkeit Anleihen zu machen, nicht nur zwei Armeen an den Alpen, sondern auch zwei Armeen in Deutschland zu erhalten hatte. Er hatte Sardinien und die übrigen italienischen Länder nicht für sich, sondern gegen sich. Die ihm gegenüberstehende Armee war der seinigen an Zahl und Organisation überlegen. Trotzdem griff er an, schlug Österreicher und Piemontesen in sechs rasch aufeinanderfolgenden Schlägen, in deren jedem er die Uberzahl auf seiner Seite zu haben verstand, zwang Piemont zum Frieden, passierte den Po, erzwang den Ubergang über die Adda bei Lodi und belagerte Mantua. Die erste Entsatzarmee der Österreicher schlug er bei Lonato und Castiglione und zwang sie bei ihrem zweiten Vorrücken durch kühne Manöver, sich nach Mantua hineinzuwerfen. Die zweite Entsatzarmee hielt er bei Arcole auf und hielt sie zwei Monate im Schach, bis sie, verstärkt, wieder vorging, um sich bei Rivoli schlagen zu lassen. Darauf zwang er Mantua zur Übergabe und die süditalienischen Fürsten zum Frieden und drang über die Julischen Alpen bis an den Fuß des Semmering vor, wo er den Frieden eroberte. So der vulgäre Napoleon. Und wie der höhere? Er findet eine bessere und stärkere Armee vor, als Frankreich sie je hatte, und eine Finanzlage, die ihm wenigstens erlaubt, die Kriegskosten leicht durch Anleihen aufzubringen. Er hat sechs Monate Zeit, sich im tiefsten Frieden für seine Kampagne vorzubereiten. Er hat Sardinien mit starken Festungen und mit einer zahlreichen, vortrefflichen Armee für sich; Rom hält er besetzt; Mittelitalien wartet nur auf ein Signal von ihm, um loszuschlagen und sich ihm anzuschließen. Seine Operationsbasis liegt nicht an den Seealpen, sondern am mittleren Po, bei Alessandria und Casale. Wo sein Vorgänger Saumpfade hatte, da hat er Eisenbahnen. Und was tut er? Er wirft fünf starke Armeekorps nach Italien, so stark, daß er, mit den Sarden zusammen, den
Österreichern stets an Zahl bedeutend überlegen ist, so überlegen, daß er das sechste Korps noch der Touristenarmee seines Vetters für eine militärische Bummelei abgeben kann. Trotz aller Eisenbahnen braucht er einen vollen Monat, seine Truppen zu konzentrieren. Endlich geht er vor. Die Unfähigkeit Gyulays macht ihm ein Geschenk mit der unentschiednen Schlacht von Magenta, die sich in einen Sieg verwandelt durch die zufälligen strategischen Verhältnisse der beiden Armeen nach der Schlacht - Verhältnisse, an denen der höhere Napoleon ganz unschuldig und Gyulay allein schuld ist. Zum Dank läßt er die Österreicher entwischen, statt sie zu verfolgen. Bei Solferino zwingt ihn Franz Joseph fast zu siegen; trotzdem ist das Resultat kaum besser als bei Magenta. Jetzt bereitet sich eine Situation vor, in der der vulgäre Napoleon erst seine Hülfsmittel entfaltet hätte; der Krieg spielt sich auf ein Gebiet, wo es etwas Wirklicheres zu tun gibt, und nimmt Dimensionen an, bei denen ein großartiger Ehrgeiz seine Rechnung findet. An dem Punkt angekommen, wo die via sacra des vulgären Napoleon erst beginnt, erst eine großartige Perspektive eröffnet, an dem Punkt bittet der höhere Napoleon um Frieden!
Karl Marx
Bestätigte Wahrheit
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5704 vom 4. August 1859, Leitartikel] In seinem Buch über den italienischen Feldzug von 1796 und 1797 bemerkt Clausewitz an einer Stelle, daß der Krieg im Grunde genommen keine so theatralische Angelegenheit sei, wie manche Leute anzunehmen scheinen, und daß sich Siege und Niederlagen, mit dem Auge der Wissenschaft betrachtet, ganz anders darstellen als in den Köpfen der politischen Schwätzer/2591 Das Wissen um diese Wahrheit ermöglichte es uns, mit Gleichmut die lärmenden Zornesausbrüche zu ertragen, die durch unsere Einschätzung der militärischen Geschehnisse des letzten Krieges von Zeit zu Zeit bei verschiedenen eifrigen, wenn auch wenig intelligenten bonapartistischen Organen dieses Landes, sowohl in französischer als auch englischer Sprache, hervorgerufen wurden. Wir haben jetzt die Genugtuung, unsere Einschätzung dieser Ereignisse viel früher als erwartet durch die entscheidenden Beteiligten am Kampf, durch Franz Joseph und LouisNapoleon, bestätigt zu finden. Lassen wir reine Detailfragen beiseite. Worin bestand der Kern unserer Kritik? Einerseits führten wir die Niederlagen der Österreicher nicht auf irgendeine von den Alliierten offenbarte Genialität zurück, nicht auf die sagenhaften Wirkungen der gezogenen Kanonen, nicht auf die imaginäre Abtrünnigkeit der ungarischen Regimenter, nicht auf die vielgepriesene Kühnheit der französischen Soldaten, sondern lediglich auf die strategischen Fehler der österreichischen Generale, die von Franz Joseph und seinen persönlichen Beratern an die Stelle solcher Männer wie General Heß gesetzt worden waren. Dank dieser fehlerhaften Strategie wurden dem Feind nicht nur überall zahlenmäßig unterlegene Kräfte entgegengestellt, sondern sogar die verfügbaren Truppen auf dem Schlachtfeld in höchst widersinniger Weise aufgestellt! Andererseits leistete die österreichische
Armee selbst unter solchen Bedingungen hartnäckigen Widerstand; beide Armeen kämpften in den Schlachten trotz des ungleichen Kräfteverhältnisses der sich gegenüberstehenden Truppen nahezu gleichwertig; die strategischen Fehler der Franzosen und ihre unverzeihliche Saumseligkeit bei der Verfolgung des Gegners entwerteten den Sieg und gaben sogar dessen Früchte preis - all dies rechtfertigte unsere Feststellung, daß die Lage der kriegführenden Parteien wahrscheinlich umgekehrt gewesen wäre, wenn man das Oberkommando der österreichischen Armee in fähigere Hände gelegt hätte. Als zweiten und wichtigsten Punkt hoben wir schon vor Ausbruch des Krieges hervor, daß in dem Augenblick, da die Österreicher aus der Offensive in die Defensive übergehen, der Krieg in zwei Teile geteilt würde, in den melodramatischen, der in der Lombardei ausgefochten wird, und in den ernsthaften, der hinter der Minciolinie innerhalb des furchtbaren Netzwerkes der vier Festungen beginnt. Alle Siege der Franzosen, sagten wir, fallen überhaupt nicht ins Gewicht, wenn man sie mit den Prüfungen vergleicht, die sie noch in einer Position zu bestehen haben, deren Überwindung selbst dem echten Napoleon neun Monate gekostet hat, obwohl seinerzeit Verona, Legnago und Peschiera militärisch bedeutungslos waren und Mantua allein die ganze Wucht des Angriffs aushalten mußte. Wir wir jetzt aus den Wiener Zeitungen ersehen, hatte General Heß, der den status quo der österreichischen Feldherrnkunst natürlich besser kannte als wir, zu Beginn des Krieges vorgeschlagen, nicht in Piemont einzufallen, sondern vielmehr die Lombardei zu evakuieren und erst hinter dem Mincio den Kampf aufzunehmen. Hören wir jetzt, was Franz Joseph und Louis Bonaparte zu ihrer Entschuldigung anführen - der eine, weil er einen Teil einer Provinz verlor, der andere, weil er das zu Beginn des Krieges aufgestellte Programm verfälschte. Franz Joseph stellt in Hinblick auf den Krieg zwei Tatsachen fest, in denen ihm der „Moniteur" nicht widerspricht. In seinem Armeebefehl sagt er, daß den österreichischen Streitkräften immer ein zahlenmäßig überlegener Gegner gegenüberstand. Der „Moniteur" wagt diese Feststellung nicht zu bestreiten, da sie genau gesehen dem österreichischen Kaiser selbst die Hauptschuld gibt. Wie dem auch immer sei, wir rechnen es uns als Verdienst an, aus den widersprechendsten Berichten „eigener Korrespondenten", aus französischen Lügen und österreichischen Übertreibungen die wirkliche Lage der Dinge herausgeschält und mit den geringen und ungenauen Hilfsquellen, die uns zur Verfügung standen, das Kräfteverhältnis der kämpfenden Parteien in unseren kritischen Betrachtungen über die einzelnen Schlachten von Montebello bis Solferino richtig dar
gestellt zu haben. Franz Joseph legt großes Gewicht auf einen anderen Punkt, der einer gewissen Sorte von Zeitungsschreibern ziemlich befremdend klingen muß. Wir geben seine Erklärung wörtlich wieder. „Ebenso unbezweifelt steht die Tatsache fest, daß unsere Gegner trotz der äußersten Anstrengungen und des Aufgebots ihrer überreichen, zu dem beabsichtigten Schlage schon seit langem vorbereiteten Hilfsquellen, selbst tun den Preis ungeheurer Opfer nur Vorteile, aber keinen entscheidenden Sieg zu erringen vermochten, während Österreichs Heer, noch unerschüttert an Kraft und Mut, eine Stellung behauptete, deren Besitz ihm die Möglichkeit offen ließ, dem Feind die errungenen Vorteile vielleicht wieder entwinden zu können." Franz Joseph wagte jedoch in seinem Manifest nicht zu erklären, daß er und seine Kamarilla in den ganzen Krieg ein heilloses Durcheinander gebracht haben, indem sie seiner Führung ihre Launen und Grillen aufzwangen und den plebejischen, aber fähigen Generalen unsinnige Hemmnisse in den Weg legten. Aber selbst dieses Vergehen wird jetzt, wenn nicht in Worten, so doch zumindest durch Taten, offen eingestanden. General Heß, dessen Rat während des ganzen Feldzuges mißachtet und dem die ihm auf Grund seiner Vergangenheit, seines Alters und sogar seines Platzes in der österreichischen Rangliste zustehende Stellung vorenthalten wurde, ist jetzt zum Feldmarschall ernannt worden; ihm wurde das Oberkommando über die Streitkräfte in Italien übertragen und Franz Joseph stattete bei seiner Ankunft in Wien als erstes der Frau des alten Generals einen demonstrativen Besuch ab. Mit einem Wort, die ganze jetzige Haltung des habsburgischen Autokraten gegenüber dem Manne, der durch seine plebejische Geburt, seine liberalen Sympathien, seine grobe Offenheit und sein militärisches Genie die Prätentionen der aristokratischen Kreise in Schönbrunn verletzte, ist ein Schuldbekenntnis, das für Menschen aller Stände demütigend ist, doch am meisten für die erblichen Machthaber über die Menschheit. Sehen wir uns jetzt als Gegenstück zu dem österreichischen Manifest die Verteidigungsrede Bonapartes an. Teilt er die einfältige Illusion seiner Bewunderer, daß er entscheidende Schlachten gewonnen habe? Glaubt er, daß in Zukunft Rückschläge ausgeschlossen sind? Läßt er durchblicken, daß ein entscheidender Punkt erreicht wurde und daß mit genügender Ausdauer seine Siege zu einem ruhmreichen Ergebnis geführt werden können? Ganz im Gegenteil. Er gibt zu, daß der melodramatische Teil des Kampfes sein Ende gefunden hat, daß der Aspekt des Krieges sich unvermeidlich verändern würde, daß ihn Rückschläge erwarten, daß er sich nicht nur vor der drohenden Revolution fürchtete, sondern vor der Macht „des hinter großen
Festungen verschanzten Feindes in der Fronte". Er sah nichts anderes vor sich als „einen langen und unfruchtbaren Krieg". Hier sind seine Worte: „Unter den Mauern Veronas angelangt, mußte der Kampf unvermeidlich anderer Art werden, sowohl in militärischer als in politischer Hinsicht. Genötigt, den Feind, der hinter großen Festungen verschanzt und in seinen Flanken durch die Neutralität der ihn umgebenden Territorien geschützt ist, in der Fronte anzugreifen, und im Begriff, einen langen und unfruchtbaren Krieg zu führen, fand ich mich dem bewaffneten Europa gegenüber, das bereit war, uns unsere Erfolge streitig zu machen oder unsere Niederlagen zu verschlimmern."^261' Mit anderen Worten, Louis-Napoleon schloß nicht nur aus Furcht vor Preußen, Deutschland und der Revolution Frieden, sondern er fürchtete sich auch vor den vier großen Festungen. Zur Belagerung von Verona hätte er, wie ein offiziöser Artikel in der „ Independance Beige" mitteilt, eine Verstärkung von 60 000 Mann benötigt, die er nicht aus Frankreich abziehen und dort zugleich die notwendigen Kräfte für die Nordarmee unter Pelissier belassen konnte. Und wenn er mit Verona fertig geworden wäre, so blieben noch Legnano und Mantua zu bezwingen. Kurz, Napoleon III. und Franz Joseph bestätigen nach dem Krieg vollkommen, was wir vor und während des Krieges sowohl über die militärischen Ressourcen der beiden Länder als auch über die Merkmale des Feldzuges gesagt haben. Wir zitieren diese beiden Zeugen als unfreiwillige Verteidiger des gesunden Menschenverstandes und der historischen Wahrheit gegen jene Flut blödsinniger Übertreibung und törichter Verblendung, die in den letzten beiden Monaten einen Umfang angenommen hat, der allem Anschein nach so schnell nicht wieder erreicht werden wird.
Geschrieben am 22. Juli 1859. Aus dem Englischen.
Karl Marx Invasion!
[„Das Volk" Nr. 13 vom 30. Juli 1859] Von allen Dogmen der bigotten Politik unserer Tage hat keine mehr Unheil angerichtet, als die, daß „um Frieden zu haben, man sich zum Kriege rüsten muß". Diese große Wahrheit, die sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, daß sie eine große Lüge enthält, ist der Schlachtruf, welcher ganz Europa zu den Waffen gerufen und einen solchen Landsknechtsfanatismus erzeugt hat, daß jeder neue Friedensschluß als neue Kriegserklärung betrachtet und gierig ausgebeutet wird. Während so die Staaten Europas ebensoviele Heerlager geworden sind, deren Söldner vor Begierde brennen, aufeinander loszustürzen und sich zu Ehren des Friedens gegenseitig die Gurgeln abzuschneiden, handelt es sich vor jedem neuen Ausbruche nur um die unbedeutende Kleinigkeit, zu wissen, auf welche Seite man sich stellen soll. Sobald diese nebensächliche Erwägung von den diplomatischen Parlementairs1 mit Hülfe des bewährten: „si vis pacem, para bellum"2 befriedigend erledigt ist, beginnt einer jener Zivilisationskriege, deren frivole Barbarei der besten Zeit des Raubrittertums, deren raffinierte Perfidie jedoch ausschließlich der modernsten Periode des imperialistischen Bürgertums angehört. Unter solchen Umständen dürfen wir uns nicht wundern, wenn die allgemeine Disposition zur Barbarei eine gewisse Methode annimmt, die Unsittlichkeit zum System wird, die Gesetzlosigkeit ihre Gesetzgeber und das Faustrecht seine Gesetzbücher erhält. Wenn man daher so oft auf die „idees napoleoniennes"[230] zurückkommt, so geschieht dieses, weil diese unsinnigen Phantasien des Gefangenen von Hamt255] der Pentateuch der modernen Gaunerreligion und die Offenbarung des kaiserlichen Kriegsund Börsenschwindels geworden sind.
1 Unterhändlern - 2 „willst du Frieden, rüste zum Kriege"
L[ouis]-Napoleon erklärte in Ham:
„Selten gelingt ein großes Unternehmen auf den ersten Schlag."
Von dieser Wahrheit überzeugt, versteht er die Kunst, sich zu gelegener Zeit zurückzuziehen, um bald darauf einen neuen Anlauf zu nehmen, und dieses Manoeuvre so lange zu wiederholen, bis sein Gegner sorglos, die ausgeteilten mots d'ordre1 trivial, lächerlich und hierdurch eben gefährlich geworden sind. Diese Kunst, zu temporisieren, um die öffentliche Meinung zu täuschen, zu retirieren, um desto ungehinderter zu avancieren, mit einem Worte, das Geheimnis des: ordre, contre-ordre, desordre2 war sein mächtigster Bundesgenosse beim Staatsstreich. Mit Bezug auf die napoleonische Idee der Invasion Englands scheint er dieselbe Taktik befolgen zu wollen. Dieses Wort, so oft desavouiert, so oft lächerlich gemacht, so oft durch Compiegneschen Champagner hinuntergeschwemmt, wird trotz aller scheinbaren Niederlagen, die es erlitten, immer wieder und wieder auf die Tagesordnung des europäischen Klatsches gesetzt. Niemand weiß, wo es plötzlich herkommt, aber jeder fühlt, daß die bloße Existenz desselben eine noch unbesiegte Macht ist. Ernste Männer, wie der 84jährige Lord Lyndhurst und der gewiß nicht mutlose Ellenborough, schrecken vor der geheimnisvollen Gewalt dieses Wortes zurück. Wenn eine bloße Phrase imstande ist, einen so mächtigen Eindruck auf Regierung, Parlament und Volk zu machen, so beweist dies nur, wie man instinktmäßig fühlt und weiß, daß eine Armee von 400 000 Mann hinter derselben hermarschiert, mit der man auf Tod und Leben kämpfen muß, oder man wird das unheimliche Wort nicht los. Der „Moniteur"-Artikel, welcher durch eine Vergleichung des englischen Flottenbudgets mit dem französischen England als den verantwortlichen Urheber der kostspieligen Rüstungen darstellt, der gereizte Ton des von allerhöchster Hand herrührenden Einganges und Schlusses zu diesem Aktenstücke, der offiziöse Kommentar der „Patrie", welcher geradezu eine ungeduldige Drohung enthält, der unmittelbar darauf folgende Befehl, die französischen Streitkräfte auf den Friedensfuß zu setzen [263], - alles das sind so charakteristische Momente der bonapartistischen Taktik, daß man wohl die ernsteste Aufmerksamkeit begreifen kann, welche die englische Presse und öffentliche Meinung der Invasionsfrage widmet. Wenn Frankreich „nicht waffnet", wie uns Herr Walewski im Bewußtsein seiner verkannten Unschuld emphatisch vor dem Ausbruche des italienischen
1 Losungen -2 Befehl, Gegenbefehl, Verwirrung
Krieges erklärte, so entsteht daraus eine dreimonatliche Freiheitskampagne; wenn es aber nun gar die nicht gewaffnete Armee entwaffnet, so dürfen wir uns auf einen außerordentlichen Coup gefaßt machen. Ohne Zweifel könnte Herr Bonaparte seine Prätorianerhorden[2643 zu keinem Unternehmen führen, das in Frankreich und auf einem großen Teile des europäischen Kontinents populärer wäre, als eine Invasion Englands. Ais Blücher bei seinem besuche m England durch die Straßen Londons ritt, rief er in der unwillkürlichen Freude seines Soldatenbewußtseins aus: Mein Gott, welch' eine Stadt zum Plündern! - ein Ausruf, dessen verführerische Gewalt die kaiserlichenPrätorianer zu würdigen wissen werden. Aber die Invasion würde auch populär bei der herrschenden Bourgeoisie sein, und zwar gerade aus den Gründen, welche die „Times" für Aufrechterhaltung der entente cordiale[265] angibt, indem sie sagt:
„Wir freuen uns, Frankreich mächtig zu sehen. So lange wir als Beschützer der Ordnung und Freunde der Zivilisation zusammenwirken, ist seine Kraft unsere Kraft und seine Prosperität unsere Stärke." Mit einer Flotte von 449 Schiffen, von denen 265 Kriegsdampfer sind, mit einer Armee von 400 000 Mann, die in Italien Blut und Gloire gekostet hat, mit dem Testament von St. Helena[232] in der Tasche und dem unausbleiblichen Ruine vor den Augen, ist Herr Bonaparte gerade der Mann, sein alles auf die Invasion zu setzen. Er muß va banque spielen; ob früher oder später, aber spielen muß er.
Karl Marx Die französische Abrüstung
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5711 vom 12. August 1859, Leitartikel] Die Ankündigung Napoleons III. in seinem „Moniteur", er gedenke seine Land- und Seestreitkräfte auf Friedensstärke zu reduzieren, mag von geringem Wert erscheinen, wenn wir uns die Tatsache vor Augen halten, daß unmittelbar vor Ausbruch des Krieges derselbe Potentat in dem gleichen „Moniteur" feierlich erklärte, seine Land- und Seestreitkräfte seit 1856 niemals auf Kriegsfuß gebracht zu haben.[2631 Seine Absicht, durch einen geschickten Artikel in seinem offiziellen Organ die Marine- und Heeresaufrüstung Englands vorerst abzuwenden, ist zu durchsichtig, um diskutiert zu werden. Es wäre jedoch ein großer Fehler, die Ankündigung im „Moniteur" als bloßen Trick anzusehen. Er ist zur Aufrichtigkeit gezwungen; er tut nur, was er nicht unterlassen kann. Nach dem Abschluß des Friedens von Villafranca[244] stand Louis-Napoleon vor der gebieterischen Notwendigkeit, seine Land- und Seestreitkräfte auf den Umfang zu reduzieren, der einem Friedensbudget entsprach. Das italienische Abenteuer hatte Frankreich etwa 200 Millionen Dollar und 60 000 Mann der Elite seiner Armee gekostet, ohne dafür mehr zu gewinnen als einigen militärischen Ruhm von recht zweifelhafter Art. Die Enttäuschung über einen unpopulären Frieden mit der weiteren Erhebung der Kriegssteuern zu erwidern, wäre ein sehr gefährliches Experiment. Periodisch die Grenzen Frankreichs zu überschreiten und die unzufriedene Bevölkerung mit kriegerischen Erfolgen zu berauschen, ist eine der Lebensbedingungen des restaurierten Kaiserreichs. Die Rolle des Retters von Frankreich vor einem allgemeinen europäischen Krieg zu spielen, nachdem er es dicht an den Rand eines solchen Krieges geführt hat, ist eine weitere Lebensbedingung für den Mann des Dezemberl42]. Nach der durch den
Krieg erzwungenen Unterbrechung der industriellen und kommerziellen Geschäfte erscheint der Friede, gleich unter welchen Bedingungen, nicht nur als ein Segen, sondern er besitzt auch den Reiz des Neuen. Die Langeweile, die unter der monotonen Herrschaft des Zuaven und Spions den Frieden zur Last werden läßt, verwandelt sich nach dem durch den Krieg hervorgerufenen Szenenwechsel in lebhafte Freude. Das heftige Gefühl der Demütigung, das auf dem Gemüt des französischen Volkes lastet, wenn es sich seiner Unterwerfung durch einen Abenteurer ohne Charakter, wenn auch nicht ohne Geschicklichkeit, erinnert, wird zur Zeit durch das Schauspiel gemildert, daß ausländische Nationen und ausländische Potentaten sich derselben höheren Gewalt fügen - wenn nicht de facto, so doch wenigstens dem Anschein nach. Die stark beeinträchtigte Produktion erhält jetzt infolge des Gesetzes der Elastizität einen neuen Auftrieb; alle plötzlich abgebrochenen geschäftlichen Transaktionen werden mit verdoppeltem Eifer wieder aufgenommen; die plötzlich gelähmte Spekulation steigt höher an als zuvor. So sichert der Friede im Gefolge eines napoleonischen Krieges der Dynastie erneut eine Lebensfrist, zu deren Erhaltung kurz zuvor der Friedensbruch unumgänglich war. Nach einer gewissen Zeit werden natürlich die alten Zersetzungserscheinungen wieder zu einem neuen Krieg drängen. Der grundlegende Antagonismus zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem coup d'etat wird erneut aufleben; und sobald die innere Auseinandersetzung wieder einen bestimmten Grad der Intensität erreicht hat, muß auf ein neues kriegerisches Zwischenspiel als einzig anwendbares Sicherheitsventil zurückgegriffen werden. Es ist öffensichtlich, daß die Bedingungen, unter denen der „Retter der Gesellschaft" sich selber retten muß, allmählich immer gefährlicher werden. Das Abenteuer in Italien war bei weitem gefährlicher als das auf der Krim. Verglichen mit dem Abenteuer am Rhein oder dem noch weiter in der Ferne liegenden Abenteuer der Invasion Englands, beide zweifellos von Napoleon III. im Geiste gehegt und von den Unbesonnensten seiner Untertanen leidenschaftlich erwartet, mag dieser Krieg in Italien als ein reines Kinderspiel erscheinen. Es wird jedoch einige Zeit vergehen, ehe diese neuen Unternehmungen ins Werk gesetzt werden. Zwischen dem Krimkrieg und dem italienischen Kriege war eine Pause von vier Jahren; aber es ist unwahrscheinlich, daß wieder eine so lange Atempause eintreten wird, solange Louis-Napoleon lebt und regiert. Der unvermeidliche Zwang, durch den er seine Macht aufrechterhält, wird in immer kürzeren Abständen auf ihn zurückwirken. Die Forderungen der Armee und besonders die Erniedrigung, die er dem Volke auferlegt, werden ihn schneller als beim letzten Mal zum nächsten
Schritt zwingen. Krieg ist die Bedingung, unter der er sich auf dem Throne hält, aber es wird - da er letztlich nur eine Nachahmung Bonapartes ist - wohl immer ein fruchtloser Krieg sein, der, unter falschen Vorwänden angezettelt, Blut und Geld verschlingt und seinen Untertanen keinen Nutzen bringt. So war der Krimkrieg, so der eben zu Ende gegangene. Nur unter solchen Bedingungen kann Frankreich den Vorzug genießen, von diesem Manne beherrscht zu werden. Es muß sozusagen immer aufs neue die Dezembertage aufführen, nur daß der Schauplatz des Blutbades von den Pariser Boulevards in die Ebene der Lombardei oder auf die Halbinsel Krim verlegt wird, und die jämmerlichen Nachkömmlinge der großen Revolution nicht ihre eigenen Landsleute, sondern fremde Völker zu morden haben.
Geschrieben um den 30. Juli 1859. Aus dem Englischen.
29 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
Karl Marx Quid pro Quo12661
I
[„Das Volk" Nr. 13 vom 30. Juli 1859] General Clausewitz, in einer Schrift über den östreichisch-französischen Feldzug von 1799, bemerkt, daß Ostreich so oft unterlag, weil die Anlage seiner Schlachten, strategisch wie taktisch, nicht auf wirkliches Erringen des Sieges berechnet war, sondern vielmehr auf Ausbeutung des antizipierten Siegs. Umgehen des Feindes auf beiden Flügeln, Umzingelung, Zersplitterung der eignen Armee nach den entlegensten Punkten, um dem in der Idee geschlagenen Feind alle Schlupfwinkel zu versperren - diese und ähnliche Maßregeln zur Ausbeutung des phantastischen Siegs waren jedesmal die praktischsten Mittel zur Sicherung der Niederlage. Was von Ostreichs Kriegsführung, gilt von Preußens Diplomatie. Preußen hatte unstreitig bezweckt, mit kleinen Produktionskosten eine große Rolle zu spielen. Ein gewisser Instinkt sagte ihm, daß der Augenblick der Aufblähung von Mittelmäßigkeiten günstig sei. Das Frankreich der Wiener Verträge, das Frankreich Louis-Philippes war durch einfaches Dekret aus einem Königreich in ein Kaiserreich umgetauft1267 ], ohne daß sich ein einziger Grenzstein in Europa verrückt hatte. Statt des italienischen Feldzugs von 1796 und der Expedition nach Ägypten12681 hatten die Stiftung der Gaunergesellschaft vom 10. Dezembert229] und die Wurstrevue von Satoryt62] hingereicht für die Travestierung des 18.Brumaire[269] durch den 2. Dezember[42]. Preußen wußte, daß die Illusion der französischen Bauern über die Auferstehung des wirklichen Napoleon nicht ganz von den Großmächten geteilt wurde. Man war stillschweigend übereingekommen, daß der Abenteurer, der den Napoleon in Frankreich zu spielen hatte, eine gefährliche Rolle übernahm und daher jeden Augenblick für das offizielle Europa gefährlich werden konnte. Frankreich konnte das Brummagem
Kaisertum1 nur ertragen unter der Bedingung, daß Europa an die Farce zu glauben schien. Es galt daher, dem Komödianten seine Rolle zu erleichtern und eine tüchtige Claque in Parterre und Galerie zu sichern. So oft die innern Zustände Frankreichs unhaltbar wurden - und zwei Jahre scheinen das Maximum der Umdrehungszeit des Rokoko-Kaiserreichs um seine eigne Achse -, mußte man dem Exgefangenen von Hamt2551 ein auswärtiges Abenteuer gestatten. Die Travestierung irgendeines Artikels des napoleonischen Programms, ausführbar jenseits der französischen Grenze, trat dann auf die Tagesordnung von Europa. Der Sohn der Hortense durfte Krieg führen, aber nur mit Louis-Philippes Motto: „La France est assez riche pour payer sa gloire."2 Der alte König von Preußen3, der Mann vom kopflosen Haupt, sagte einmal, sein Preußen zeichne sich dadurch aus vor dem Preußen Friedrichs des Großen, daß letzteres im abstrakten Gegensatz zum Christentum stand, während ersteres die Durchgangsepoche der faden Aufklärung überwunden und zum tief innern Verständnis der Offenbarung durchgedrungen sei. So hielt der alte Napoleon am flach rationalistischen Vorurteil, daß ein Krieg für Frankreich nur dann günstig sei, wenn das Ausland die Ausgaben, Frankreich aber die Einnahmen des Kriegs ernte. Sein melodramatischer Rempla^ant ist dagegen zur Tiefe der Anschauung durchgedrungen, daß Frankreich seinen Kriegsruhm selbst bezahlen muß, daß die Innehaltung seiner alten Grenzen ein Naturgesetz ist und daß alle seine Kriege „lokalisiert" sein, d.h. sich innerhalb des engen Spielraums bewegen müssen, den Europa sich herabläßt, ihm jedesmal zur Aufführung seiner Rolle anzuweisen. Seine Kriege sind daher in der Tat nur periodische Aderlässe Frankreichs, die es um eine neue Staatsschuld bereichern und um eine alte Armee prellen. Nach jedem solchen Krieg treten jedoch gewisse Mißstände ein. Frankreich ist verstimmt; aber Europa tut zunächst alles, um der belle France4 die Grillen auszureden. Es spielt den Barnum des Dutchfish5. Nach dem russischen Kriegt72], wurde er nicht mit allen theatralischen Attributen des Schiedsrichters von Europa überworfen? Reiste Baron von Seebach nicht hin und her von Dresden nach Paris und von Paris nach Dresden?[270] Wartete ihm nicht Orlow auf, der Giftmischer, und Brunnow, der Fälscher?t271] Glaubten der Prinz von Montenegro und Jacobus Venedey nicht an seine Machtvollkommenheit?[2721 Wurde ihm nicht gestattet, Rußlands Forderungen unter der Firma von Treulosigkeiten
1 nachgemachte Kaisertum - 2 „Frankreich ist reich genug, für seinen Ruhm zu zahlen." -3 Friedrich Wilhelm III. -4 dem schönen Frankreich - 5 wörtlich: holländischer Fisch; hier: holländischen Grobians
gegen England durchzusetzen? Der russische Friede1171, den Palmerston durch den Verrat von Kars und durch die negative Größe seines eignen Generals Williams besiegelt hatte[273], wurde er nicht von der „Times" als ein Verrat Bonapartes gegen England denunziert? Strahlte er so nicht im Licht des schlausten Kopfes von Europa? Hatte er nicht während des Kriegs alle Hauptstädte, zwar nicht der modernen, doch der antiken Welt besetzt12741, und wies seine gutmütige Räumung der Dardanellen nicht auf tieferliegende Pläne hin? Der alte Napfoleon] griff zum Nächstliegenden. Die scheinbare Resignation des neuaufgelegten Napoleon deutet auf machiavellistische Unergründlichkeit. Er stieß das Gute nur zurück, weil er das Beßre anstrebte. Endlich der Friedensvertrag von Paris, wurde er nicht gekrönt durch ein „Avis" Europas an die antibonapartistischen Zeitungsschreiber Belgiens, des Riesenstaats?[2751 Indes die zwei Normaljahre der Selbstumdrehung des pseudo-napoleonischen Frankreichs rollten voran. Die offiziellen Vertreter Europas glaubten einstweilen genug für die Größe des Mannes getan zu haben. Es wurde ihm erlaubt, im Gefolge der Engländer nach China zu segeln[2761 und im Auftrag der Russen den Oberst Cuza in den Donaufürstentümern einzusetzen11431. Sobald aber die zarten Grenzlinien zwischen dem Helden und demPickelhäring[2771, der den Helden vorstellt, auch nur versuchsweise verwechselt wurden, fand sich Louis-Napoleon mit Hohn in das angewiesene Terrain zurückverordnet. Seine Intrige gegen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, sein Versuch zur Erneurung des Sklavenhandels^511, seine melodramatischen Drohungen gegen England, seine antirussische Suezkanal-Demonstration, die er im Auftrag Rußlands zu übernehmen hatte, um Palmerstons russische Opposition gegen das Projekt bei John Bull zu rechtfertigen - alles das platzte. Nur gegen das kleine Portugal durfte er groß auftreten, um sein kleines Auftreten den Großmächten gegenüber in das richtige Relief zu setzen. Belgien selbst fing an, sich zu befestigen, und sogar die Schweiz deklamierte den Wilhelm Teil[2781, Es war den offiziellen Mächten Europas offenbar begegnet, was die Forscher der Astronomie in frühern Epochen so oft beirrte, falsche Berechnung der Rotationszeit. Unterdes waren die zwei Jahre der Selbstumdrehung des lesser Empire1 abgelaufen. Während der ersten Rotation - 1852 bis 1854 - hatte eine geräuschlose Verwitterung stattgefunden, die gerochen, aber nicht gehört werden konnte. Der russische Krieg war ihr safety valve2. Anders während des Turnus von 1856 bis 1858. Der Pseudo-Bonaparte war durch die innre
1 geringen Kaiserreichs - 2 Sicherheitsventil
Entwicklung Frankreichs zum Moment des Staatsstreichs zurückgeschleudert. Orsinis Granaten1571 hatten gewetterleuchtet. Der unglückliche Liebhaber der Miß Coutts hatte abzudanken vor seinen Generälen. Frankreich, ein unerhörtes Ereignis, wurde nach spanischer Sitte - die Operation ging vor unter dem Stern der mit der Tympanitis behafteten Eugenie - in fünf Generalkapitanate zerteilt.[279] Die Errichtung einer Regentschaft übertrug die Macht in der Tat von dem imperialistischen Quasimodo auf Pelissier, den orleanistischen Röster von arabischem Menschenfleisch[280J. Aber die erneuerte terreur1 flößte keinen Schrecken ein. Statt fürchterlich erschien der holländische Neffe der Schlacht von Austerlitz[45] grotesk. N'est pas monstre qui veut.2 Montalembert konnte zu Paris den Hampden spielen[281], und Proudhon proklamierte zu Brüssel Louis-Philippismus mit einem acte additionnel[282]. Der Aufstand in Chälons[283J bewies, daß die Armee selbst das restaurierte Empire als eine Pantomime ansah, deren Schlußszene herannaht. Louis Bonaparte war wieder bei dem verhängnisvollen Punkt angelangt, wo das offizielle Europa begreifen mußte, daß die Gefahr der Revolution nur abzuwenden durch Travestierung eines neuen Artikels des alten napoleonischen Programms. Die Travestie hatte begonnen mit Napoleons Ende, dem russischen Feldzug. Warum sie nicht fortsetzen mit Napoleons Anfang, der italienischen Kampagne? Von allen europäischen Personen war Österreich die wenigst grata3. Preußen hat an ihm den Kongreß von Warschau, die Schlacht von Bronzell[124] und den Zug nach der Nordsee[2845 zu rächen. Palmerston hatte von jeher seine Zivilisationsbestrebungen durch den Haß gegen Österreich authentisiert. Rußland sah mit Schrecken, daß Österreich die Barzahlungen seiner Bank wieder ankündigte. Als im Jahre 1846 zum erstenmal seit undenklicher Zeit Österreichs Schatz kein Defizit aufwies, hatte Rußland das Signal zur Krakauer Revolution11471 gegeben. Endlich war Österreich die bete noire4 des liberalen Europas. Louis Bonapartes zweiter amphitheatralischer Attilazug hatte also gegen Österreich stattzufinden, unter den bekannten Bedingungen: keine Kriegskosten, keine Erweiterung der französischen Grenzen, Krieg „lokalisiert" innerhalb der Schranken der gesunden Vernunft, d.h. innerhalb des Terrains, nötig zu einem zweiten glorreichen Aderlaß Frankreichs. Unter diesen Umständen, da doch einmal Komödie gespielt wurde, glaubte Preußen, auch für es sei der Moment gekommen, unter obrigkeit
1 Schreckensherrschaft - 2 Nicht jeder kann ein Ungeheuer sein. (Hugo, „Napoleon le petit".) - 3 beliebte - 4 wörtlich: Schwarzwild; hier: der schwarze Mann
licher Bewilligung und mit guter Assekuranz eine große Rolle zu spielen. Der Friede von Villafranca12441 hat es vor ganz Europa als Düpe an den Pranger gestellt. Bei seinem großen Fortschritt im Konstitutionalismus, ein Fortschritt, nachweisbar in der geometrischen Progression seiner Staatsschuld, hat es geeignet geglaubt, die Wunde durch ein blue book of its own make[2851 zu pflastern. In einem Artikel werden wir seiner Apologie lauschen.
II
[„Das Volk" Nr. 14 vom 6. August 1859] Wenn das regentschaftliche Preußen spricht, wie es schreibt, erklärt sich leicht sein in der europäischen Komödie der Irrungen neu bewährtes Talent, nicht nur mißzuverstehen, sondern auch mißverstanden zu werden. Es besitzt darin eine gewisse Ähnlichkeit mit Falstaff, der nicht nur selbst witzig war, sondern auch die Ursache von Witz in andern Leuten. Am 14. April langte Erzherzog Albrecht in Berlin an, wo er bis zum 20. April verweilte. Er hatte dem Regenten1 ein Geheimnis mitzuteilen und einen Vorschlag zu machen. Das Geheimnis war das bevorstehende österreichische Ultimatum an Viktor Emanuel. Der Vorschlag bestand in einem Rheinkrieg. Erzherzog Albrecht sollte mit 260 000 Österreichern und dem süddeutschen Bundeskorps jenseits des Oberrheins operieren, während die preußischen und norddeutschen Korps unter preußischem Oberkommando eine Nordarmee am Rhein bilden würden. Statt eines „Bundesfeldherrn" sollten Franz Joseph und der Prinzregent gemeinschaftlich von einem Hauptquartier aus entscheiden. Preußen, mit gehaltner Entrüstung, verwarf sofort nicht nur den Kriegsplan, sondern „machte dem Erzherzog Albrecht die dringendsten Vorstellungen gegen das jähe Vorgehen des Ultimatums". Wenn Preußen die donkeypower2 (nach horsepower3 wird bekanntlich bei großen Maschinen gerechnet) seiner redseligen Pfiffigkeit spielen läßt, kann niemand widerstehn, am wenigsten jedoch ein Österreicher. Der Regent und seine vier Satelliten - Schleinitz, Auerswald, Bonin und Herr Dr. Zabel - waren „überzeugt", daß sie Österreich „überzeugt" hatten. „Als Erzherzog Albrecht", sagt eine halboffizielle preußische Erklärung, „am 20. April Berlin verließ, glaubte man den kühnen Plan des Augenblicks vertagt... Aber - alas! - wenige Stunden nach seiner Abreise meldete der Telegraph aus Wien die Ahsendung des Ultimatums!"[286] 1 Wilhelm I. - 2 Eselskraft - 3 Pferdekraft
Nach Ausbruch des Kriegs verweigerte Preußen, seine Neutralität zu erklären. Schleinitz enthüllt uns in einer „Depesche an die preußischen Missionen an den deutschen Höfen, d. d. Berlin, 24. Juni" [287,f das Geheimnis dieses heroischen Entschlusses.
„Preußen", wispert er, „hat seine Stellung als vermittelnde Macht" (Mediationsmacht heißt es in einer andern Depesche) „niemals aufgegeben. Sein Hauptbestreben seit dem Ausbruch des Krieges war vielmehr dahin gerichtet, sich diese Stellung dadurch zu wahren, daß es die Zusicherung seiner Neutralität ablehnte, nach allen Seiten hin jedes Engagement fernhielt und so für die vermittelnde Aktion vollkommen unbefangen und frei blieb."
In andern Worten: Österreich und Frankreich, die hadernden Parteien, werden sich erschöpfen in dem auf der Arena von Italien einstweilen „lokalisierten" Krieg, während England als Neutraler (!) fern im Hintergrund steht. Die Neutralen haben sich selbst paralysiert, und den Kämpfern sind die Hände gebunden, weil sie die Fäuste brauchen müssen. Zwischen den einen und den andern schwebt Preußen „vollkommen unbefangen und frei", ein euripideischer Deus exmachina11851. Der Mittler trug es von jeher davon über die Extreme. Christus hat es weiter gebracht als Jehova, der heilige Peter weiter als Christus, der Pfaffe weiter als die Heiligen und Preußen, der bewaffnete Mediator, wird es weiter bringen als die Gespannten und die Neutralen. Es müssen Eventualitäten eintreten, wo Rußland und England das Signal zum Ende der Komödie geben. Dann werden sie ihre heimlichen Instruktionen Preußen von hinten in die Tasche schmuggeln, während es von vorne die Brennusmaskef288) aufsetzt. Frankreich wird nicht wissen, ob Preußen für Österreich, Österreich nicht, ob Preußen für Frankreich, beide nicht, ob nicht Preußen gegen beide für Rußland und England mediatisiert. Es wird das Recht haben, von „allen Seiten" Vertrauen zu verlangen und nach allen Seiten Mißtrauen einzuflößen. Seine Ungebundenheit wird alle binden. Erklärte sich Preußen neutral, so war zudem nicht zu hindern, daß Bayern und andre Bundesmitglieder Partei für Österreich nahmen. Als bewaffneter Mediator mit den neutralen Großmächten zur Deckung auf den Flanken und im Rücken, mit dem Nebelbild seiner stets drohenden „deutschen" Großtat in der Perspektive, durfte es dagegen hoffen, währendes sich in ebenso mysteriösen als langgemeßnen Schritten zur Rettung Österreichs erging, einstweilen die Hegemonie Deutschlands auf Diskont zu eskamotieren. Als Englands und Rußlands Mundröhre konnte es sich dem Deutschen Bund1611 imponieren, als Beschwichtiger des Deutschen Bundes sich bei England und Rußland insinuieren.
Nicht nur deutsche Großmacht, sondern europäische Großmacht und dazu „Mediationsmacht" und obendrein Bundestyrann! Man wird im Verlauf der Dinge sehn, wie Schleinitz sich mehr und mehr in diesem ebenso schlauen als erhabenen Ideengang verschleimt. Das bisherige fünfte Rad am europäischen Staatskarren, die Großmacht „by courtesy" [154\ die europäische Person „on sufferance" - dieser selbe Preuße nun betraut mit der grandiosen Stellung des „quos ego" [28sJi Dazu nicht, weil er das Schwert zieht, vielmehr das Gewehr nur schultert, ohne etwas andres zu vergießen als die Tränen des Regenten und die Tinte seiner Satelliten. Daß die Glorie auch nur des „Mittlers" von Goethes Wahlverwandtschaften unfaßbar blieb, es war in der Tat nicht Preußens Schuld. Preußen begriff, daß im ersten Akt Österreich anzurunzeln, Louis Bonapartes leisester Verdacht fernzuhalten und sich vor allem durch gute Aufführung bei Rußland und England zu empfehlen war.
„Dies für unser eignes Interesse so wichtige Ziel zu erreichen, war", wie Schleinitz in der schon zitierten Depesche gesteht, „bei der Aufregung, welche in vielen deutschen Staaten herrschte, nicht leicht. Wir dürfen zudem kaum daran erinnern, daß die Richtung unsrer Politik hierin von derjenigen einer großen Anzahl deutscher Regierungen abwich und daß namentlich Österreich mit derselben nicht einverstanden war." Allen diesen Schwierigkeiten zum Trotz spielte Preußen mit Erfolg den Gendarm des Deutschen Bundes. Von Ende April bis Ende Mai entfaltete es seine vermittelnde Aktion, indem es seine Mitbündler zur Inaktivität zwang. „Unsre Bestrebungen", sagt Schleinitz euphemistisch, „waren vor allem dahin gerichtet, der vorzeitigen Verwicklung des Bundes in den Krieg vorzubeugen." Das Berliner Kabinett öffnete zugleich die Schleusen der liberalen Presse, die dem Bürgersmann schwarz auf weiß vorsprudelte, daß, wenn Bonaparte nach Italien zog, es nur geschah zur Befreiung Deutschlands von Österreich und zur Stiftung der deutschen Einheit unter dem Heroen, der der Nation sicher gehört, da er schon früher einmal zum „Nationaleigentum" erklärt worden istt290]. Was Preußens Operation einigermaßen erschwerte, war, daß es den Beruf besaß, „seinerzeit" nicht nur zu vermitteln, sondern „bewaffnet" zu vermitteln. Während es die Kriegsgelüste niederzuhuschen, hatte es gleichzeitig zu den Waffen zu rufen. Während es die Waffen austeilte, hatte es vor ihrem Gebrauch zu warnen: Spiel nicht mit der Feuerwaffe, Denn sie fühlt wie du den Schmerz.
„Wenn wir", sagt Schleinitz, „nun aber gleichzeitig alle Maßnahmen ergriffen, welche die Sicherung Deutschlands, das inmitten der beiden kriegführenden Großmächte liegt, bezweckten, und wenn ebenso die Bundesorgane unter unsrer Mitwirkung unablässig Verteidigungsvorkehrungen trafen, so erwuchs für uns die neue Pflicht, darüber zu wachen, daß diese Vorkehrungen nicht plötzlich in Angriffsmittel verwandelt und dadurch die Stellung des Bundes und txnsre eigne nicht ernstlich kompromittiert würden." Indes konnte die „Mediationsmächt" begreiflich nicht immer in derselben Richtung einseitig vorangehn. Es brachen zudem gefährliche Symptome aus. „Es lagen", sagt Schleinitz, „zu unserm lebhaften Bedauern, Andeutungen vor über beabsichtigte besondre Verabredungen in der von unsrer Politik abweichenden Richtung, und der Ernst der Lage mußte diesseits die Befürchtung erregen, daß dadurch unwillkürlich die Tendenz nach einer Lösung der Bundesverhältnisse immer mehr zur Geltung kommen könnte." Um diesen „Mißständen" vorzubeugen und den zweiten Akt der „Mediation" zu beginnen, fand General Willisens Mission nach Wien statt. Ihre Ergebnisse liegen vor in Schleinitz' Depesche, d. d. Berlin, 14. Juni, adressiert an Werther, den preußischen Gesandten zu Wien[291]. Solang Schleinitz nur an die deutschen Bündler schreibt, braucht er den bekannten preußischen Regierungsratstil in ordinary1. Schreibt er an die auswärtigen Großmächte, so geschieht es glücklicherweise in einer ihm unbekannten Sprache. Aber seine Depeschen an Österreich! Ellenlange Phrasenbandwürmer, eingelaugt mit der grünen Gesinnungsseife des Gothaismus11981, gepudert mit dem trocknen Kanzleisand der Uckermark und halb ertränkt in Strömen von perfidem Berliner treacle2.
III
[„Das Volk" Nr. 15 vom 13. August 1859] Wenn wir einen Teil des Berliner blue book, das jetzt schon drei Wochen alt ist, ausführlicher analysieren, geschieht es weder aus antiquarischer Grille noch aus Interesse an brandenburgischer Geschichte, Es handelt sich vielmehr um Aktenstücke, die in diesem Augenblicke von deutschen Liberalen und Demokraten als Beweise von Preußens kaiserlichem Zukunftsberuf ausgeschrien werden.
Schleinitz' letzte Depesche an General Willisen langte am 27. Mai in Wien an.12923 Werthers Depeschen an Schleinitz über Willisens Aufnahme beim kaiserlichen Kabinett datieren vom 29. und 31.Mai.[293] Sie bleiben während eines halben Monats unbeantwortet. Zur Vertuschung aller Widersprüche zwischen der ursprünglichen „Mission" und ihrer nachträglichen „Interpretation" sind sowohl Schleinitz' Depeschen an Willisen wie Werthers Depeschen an Schleinitz in dem preußischen blue book unterdrückt, ganz ebenso wie sämtliche Verhandlungen zwischen dem Prinzregenten und Boustrapa[294]. Rechberg, der österreichische Minister des Auswärtigen, konnte in keiner Weise den Urtext herstellen, da Willisen und Werther ihm die preußischen Depeschen nicht in Abschrift mitzuteilen, vielmehr nur mündlich vorzulesen hatten. Man begreift die Lage eines Ministers, der eine Satzbildung wie die folgende nicht lesen darf, sondern hören muß:
„Von dem Wunsch geleitet", sagt Schleinitz, „in einer so wichtigen Angelegenheit volle Klarheit herrschen zu lassen, hatte ich Sorge dafür getragen, in meinem an den General von Willisen gerichteten Schreiben unsern Standpunkt mit voller Bestimmtheit zu bezeichnen, sowohl in der Beziehung auf das, was wir unter gewissen Umständen unsrerseits zu tun beabsichtigen, als in Beziehung auf die Voraussetzungen, welche der von uns in Aussicht genommenen Aktion notwendig zum Grunde liegen müssen."
Bevor sich Schleinitz zu einer offiziellen Deutung der Willisenschen Mission nach Wien anschickte, hatte er mit charakteristischer Vorsicht die Ereignisse an sich vorüberziehn lassen. Die österreichische Armee hatte die Schlacht von Magenta verloren, alle lombardischen Festungen geräumt und befand sich in vollem Rückzug hinter den Chiese. Gortschakows Zirkulardepesche an die deutschen Kleinmächte, worin er ihnen unter Androhung der Knute strikte Neutralität zuherrscht, hatte ihren Weg in die Presse gefunden.12953 Derby, geheimer Sympathien mit Österreich verdächtig, dankte ab in die HandPalmerstons. Endlich am 14. Juni-dem Datum von Schleinitz' Depesche an Werther - brachte der „Preußische Staats-Anzeiger"[296] einen Erlaß zur Mobilmachung von 6 preußischen Armeekorps. Wilüsens Mission nach Wien, gefolgt von dieser Mobilmachung! Ganz Deutschland war voll von Preußens heldenmütiger Besonnenheit und besonnenem Heldenmut. Kommen wir endlich zu Schleinitz' Depesche an den preußischen Gesandten zu Wien. „Großherzige Worte" waren dem Regenten aus dem Mund gefallen. Willisen hatte ferner „redlichste Absichten", „uneigennützigste Pläne" und „vertraulichstes Vertrauen" orakelt, und Graf Rechberg hatte sein „Einverständnis mit dem von uns eingenommenen Stand
punkt ausgesprochen", aber derselbe Rechberg, ein Wiener Sokrates, wünschte die Debatte endlich vom Phrasenhimmel auf die tatsächlich platte Erde herabzuziehen. Er legte „besonderen Wert" darauf, die preußischen „ Intentionen formuliert zu sehn ". Preußen also schickt sich durch Schleinitz' Feder an, die „Intention" der Willisenschen „Mission" zur „Präzision" zu bringen. Er faßt daher die „bei dem in Wien stattgefundenen Gedankenaustausch von uns zu erkennen gegebenen Absichten in Nachstehendem zusammen", welches zusammenfassende Nachstehende wir kurzgefaßt wiedergeben. Der Witz von Willisens Mission war dieser: Preußen habe „unter einer ausdrücklichen Voraussetzung feststehende Absichten". Schleinitz hätte besser gesagt, Preußen habe drückbare Absichten unter einer feststehenden Voraussetzung. Die Voraussetzung war, daß Österreich Preußen die Initiative am Deutschen Bund überlasse, auf Separatverträge mit deutschen Höfen verzichte, kurz, Preußen temporär die Hegemonie in Deutschland einräume; die Absicht, Österreichs „auf den Verträgen von 1815 beruhenden italienischen Territorialbesitzstand" zu sichern und „den Frieden auf dieser Basis zu erstreben". Die Verhältnisse Österreichs zu den übrigen italienischen Staaten und „die Verhältnisse dieser letztern" betrachte Preußen als „offne Frage". Sollten Österreichs „italienische Besitzungen ernstlich bedroht werden", so werde Preußen eine „bewaffnete Mediation versuchen" und
„je nach dem Erfolge derselben für die Erreichung des im Obigen vorgesteckten Zieles so weiterhandeln, wie es seine Pflichten als europäische Macht und der hohe Beruf der deutschen Nation erheischen". „Es liegt", sagt der uninteressierte Schleinitz, „in unserm eignen Interesse, mit unserm Einschreiten nicht zu spät zu kommen. Die Wahl des Zeitpunkts aber, sowohl für die Mediation als für die im Gefolge derselben eintretende weitere Aktion Preußens, muß dem freien Ermessen des königl. Hofes vorbehalten bleiben."
Schleinitz behauptet erstens, daß dieser durch Willisen vermittelte „Gedankenaustausch" von Rechberg als „Gesinnungsaustausch" bezeichnet werde; zweitens, daß die Absichten und Voraussetzungen Preußens „sich der Zustimmung des kaiserlichen Hofes zu erfreuen hatten", und drittens, daß Rechberg, ein Feind des reinen Denkens, wie es scheint, den „Gedankenaustausch" in einen „Notenaustausch" umgeformt, die „Übereinstimmung beider Kabinette schriftlich beurkundet", kurz, die preußische „Voraussetzung" und die preußische „Absicht" schwarz auf weiß „konstatiert" sehn wollte. Hier nun empört sich Schleinitz' edelmütiges Bewußtsein. Was bezweckt Rechbergs Zumutung? In Wirklichkeit die Verwand
lung unsrer „geheimsten vertrauensvoll eröffneten politischen Gedanken in bindende Zusicherungen". Schleinitz stellt wirkliche geheime politische Denkübungen an, und Rechberg will die unnahbare Idee in profane Noten binden! Quelle horreur1 für einen Berliner Denker! Zudem käme solcher Notenaustausch einer „Garantie" der österreichisch-italienischen Besitzungen gleich. Als ob Preußen irgend etwas garantieren wolle! Dazu könnte der frevelhaft in Notenaustausch verwandelte Gedankenaustausch von „französischer und russischer Seite sofort und folgerichtig als ein engagement formel2 und als Eintritt in den Krieg aufgefaßt werden". Als ob Preußen jemals in einen Krieg einzutreten gedenke oder sich kompromittieren wolle nach irgendeiner Seite, und nun gar nach der französischen und russischen! Endlich aber, und dies ist die Hauptsache, würde solch ein Notenaustausch „offenbar den beabsichtigten Mediationsversuch unausführbar machen". Österreich aber muß begreifen, daß es sich nicht um seinen italienischen Besitzstand handelt noch um die Verträge von 1815, noch um französische Usurpation, noch um russische Weltherrschaft, noch überhaupt um profane Interessen, sondern daß die europäischen Wirren vielmehr nur eingeleitet wurden, um Preußens neue erhabene „Stellung" als „Mediationsmacht" zu improvisieren. Shakespeares Lump[297J, der als Lord aufwacht, nachdem er als Kesselflicker eingeschlafen war, spricht nicht ergreifender als Schleinitz, sobald ihn die fixe Idee vom Beruf Preußens als der europäischen „bewaffneten Mediationsmacht" überkömmt. Tarantelmäßig sticht und hetzt ihn die „uneasy conviction, that he ought to act up to his newborn sublimity of character"3. Das „Vertrauen", womit Schleinitz dem Rechberg die fixe Idee von Preußens Beruf als Mediationsmacht ins Ohr raunt, läßt ihn, wie er sagt, „hoffen, bei dem kaiserlichen Hof einem dem unsern entsprechenden Vertrauen zu begegnen". Rechberg, seinerseits, verlangt Kopie von dieser kuriosen Note des Schleinitz. Um das preußische Vertrauen zu dokumentieren, erklärt Werther, er sei, „seinen Instruktionen zufolge", ermächtigt, die Note mündlich zu verlesen, aber beileibe nicht das corpus delicti auszuliefern. Rechberg verlangt dann, Werther solle ihn zu Franz Joseph nach Verona begleiten, damit dieser „wenigstens mündlich genaue und vollständige Kenntnis von den Anschauungen Preußens erlange". Das preußische Vertrauen sträubt sich auch gegen diese Zumutung, und mit ironischer Resignation bemerkt Rechberg, daß, wenn er in „seiner Antwort
1 Welch Grauen - 2 eine offizielle Verpflichtung - 3 „beunruhigende Überzeugung, daß er gemäß der neugeborenen Erhabenheit seines Charakters hätte handeln sollen"
vielleicht nicht allen Entwicklungen der Berliner Depesche vollkommen richtig folgen könne", dies dem Umstand zuzuschreiben sei, daß er Schleinitz' Satzbildungen nur vom Hörensagen kenne. Rechbergs Antwort, gerichtet an Koller, den österreichischen Gesandten in Berlin, ist datiert Verona, den 22. Juni.C29S] Sie läßt zweifeln am Gleichlaut von Willisens Mission, Ende Mai, und der Berliner Deutung dieser Mission, von Mitte Juni.
„Nach meinen frühern Besprechungen mit ihm" (Werther) „und mit General von Willisen", sagt Rechberg, „hatte ich nicht geglaubt, daß das Kabinett von Berlin uns gegenüber noch jetzt in so großer Zurückhaltung verharren würde, um selbst jede schriftliche Beurkundung seiner Absichten zu vermeiden."
Noch weniger aber hatte Willisens Mission den Rechberg auf den erhabenen Beruf Preußens als bewaffnete Mediationsmacht Europas vorbereitet. Der Punkt, um den es sich in Wahrheit handle, sagt Rechberg, sei „Europas Unabhängigkeit gegen die Suprematie Frankreichs". Die Ereignisse selbst hätten die Hohlheit und Nichtigkeit der „Vorwände" enthüllt,
„durch welche unsre Gegner ihre wahren Absichten bis zum Augenblick der Reife zu beschönigen gesucht". „Überdies habe Preußen als Mitglied des Deutschen Bundes Verpflichtungen, mit welchen die Beibehaltung einer vermittelnden Stellung in jedem Augenblick unvereinbar werden könne."
Endlich habe Österreich Preußen „als Partei" auf seiner Seite zu sehen gehofft und daher von vornherein seinen Beruf als „Vermittler" geleugnet. Habe sich Österreich daher seit dem Beginn der italienischen Wirren gegen Preußens „Versuche einer vermittelnden Stellung" erklärt, so könne es offenbar noch weniger jemals eine „bewaffnete Mediation Preußens" billigen.
„Eine bewaffnete Mediation", sagt Rechberg, „so liegt es im Begriffe, schließt nach beiden Seiten einen Kriegsfall in sich. Ein solcher besteht aber glücklicherweise nicht zwischen Preußen und Österreich, und wir vermögen uns daher für das Verhältnis zwischen diesen beiden Mächten die Möglichkeit einer bewaffneten Vermittlung Preußens nicht vorzustellen. Der Name, wie die Sache, scheint aus diesem Verhältnisse für immer fremd bleiben zu müssen."
Man sieht: Rechberg widerspricht der Depesche des Schleinitz und ihrer Deutung der Willisenschen Mission. Er findet den Ton Preußens verändert seit Ende Mai; er leugnet gradezu, daß Österreich je den erhabenen Beruf Preußens als bewaffnete Mediationsmacht anerkannt habe. Schleinitz
schuldet die Aufklärung dieses Mißverständnisses Nr.2 (das erste fand statt zwischen Erzherzog Albrecht und dem Prinzregenten) durch die Veröffentlichung von seinen Depeschen an Willisen und von Werthers Depeschen an ihn selbst. Im übrigen antwortet Rechberg als Österreicher, und warum sollte der Österreicher dem Preußen gegenüber die Haut wechseln? Warum sollte Preußen nicht Österreichs Besitzstand in Italien „garantieren"? Entspricht eine solche Garantie, fragt Rechberg, nicht dem Geist der Wiener Verträge?
„Hätte Frankreich in der Epoche nach dem Wiener Kongresse, ja bis auf unsre Tage herab hoffen können, nur einen vereinzelten Gegner zu finden, wenn es einen wichtigen Teil der vertragsmäßigen Ordnung Europas umstoßen wollte? Frankreich konnte nicht daran denken, durch einen lokalisierten Krieg die Besitzverhältnisse anzutasten." Übrigens sei ein „Notenaustausch" noch keine „vertragsmäßige Garantie". Österreich habe nur „Akt nehmen wollen" von Preußens guten Absichten. Dem Schleinitz zulieb werde es indessen dessen ganz geheime politische Gedanken ganz geheimhalten. In bezug auf den Frieden, bemerkt Rechberg, könne Preußen an Frankreich Friedensvorschläge machen, soviel es wolle,
„vorausgesetzt, daß diese Vorschläge den Territorialbestand von 1815 und die Souveränitätsrechte Österreichs und der übrigen Fürsten Italiens unverletzt erhalten".
In andern Worten, Österreich, in seinen „vertraulichen Mitteilungen an Preußen" als Mediationsmacht, sei nicht geneigt, über nichtssagende Gemeinplätze hinauszugehn. Sobald Preußen dagegen
„als aktiver Verbündeter eintrete, könne von der Aufstellung von Friedensbedingungen überhaupt nur noch im gemeinsamen Einverständnisse die Rede sein".
Endlich legt Rechberg seine Finger auf die preußischen Wundmale. Österreich habe in die „Absicht" der preußischen Initiative am Bundestag^623 eingestimmt unter der „Voraussetzung" der Verwandlung des preußischen Gedankenaustauschs in einen Notenaustausch. Mit der Prämisse falle die Konklusion. Selbst Schleinitz mit dem ihm eigentümlichen Begriffsvermögen werde „begreifen", daß, da Berlin „in keiner Hinsicht bindende Verpflichtung übernommen", da es selbst den „Zeitpunkt seiner in der Form bewaffneter Vermittlung zu ergreifender Entschlüsse" in die blaue „Zukunft gerückt und seiner freien Wahl vorbehalten habe", Wien seinerseits seine „Freiheit im Bereich der deutschen Bundes Verhältnisse sich unverkürzt wahren müsse".
Preußens Versuch, die Suprematie in Deutschland und die Vollmacht für die erhabene Rolle als europäische Mediationsmacht von Österreich zu erschleichen, war also entscheidend mißglückt, während die Mobilisation der 6 preußischen Armeekorps stattgefunden hatte. Preußen schuldete Europa eine Aufklärung. In einer „Zirkulardepesche vom 19. Juni an die preußischen Gesandtschaften bei den europäischen Mächten"[299] erklärt Schleinitz daher:
„Preußen hat durch die Mobilmachung eine Stellung eingenommen, die mehr im Verhältnis zu der gegenwärtigen Lage steht, ohne die Prinzipien der Mäßigung zu verlassen... Preußens Politik ist dieselbe geblieben, die es von Anfang der Verwicklung an in der italienischen Frage verfolgt hat. Aber Preußen hat jetzt auch seine Mittel, zu ihrer Lösung beizutragen, auf die Höhe der Situation gebracht."
Und damit kein Zweifel bleibe, weder über die Politik noch über die Mittel, endet die Depesche mit den Worten, daß es „Preußens Absicht ist, den Spaltungen Deutschlands zuvorzukommen". Selbst diese Armensündererklärung glaubte die Regentschaft noch durch „ganz vertrauliche" Mitteilungen an Frankreich abschwächen zu müssen. Schon unmittelbar vor Ausbruch des Krieges war Schlachtenmaler G.1, ein gemeinschaftlicher Freund Boustrapas und des Regenten, mit einer Mission des erstem nach Berlin betraut worden. Er hatte die freundschaftlichsten Versicherungen zurückgebracht. Zur Zeit der Mobilisierung aber waren offizielle und offiziöse Beteuerungen nach Paris gewandert des Inhalts:
„Frankreich möge doch ja nicht die militärischen Maßregeln Preußens übel deuten. Wir machen uns keine Illusionen, wir wissen, wie unpolitisch ein Krieg gegen Frankreich, welche gefährliche Konsequenzen er haben würde. Aber möge der Kaiser sich Rechenschaft geben über die schwierige Lage, worin wir uns befinden. Das Gouvernement des Prinzregenten wird von allen Seiten gedrängt und geschoben. Wir befinden uns in Gegenwart von mißtrauischen Empfindlichkeiten, und wir sind gezwungen, sie zu schonen."
Oder:
„Wir werden mobilisieren, aber man glaube ja nicht, daß dies eine offensive Maßregel gegen Frankreich sei. In seiner Eigenschaft als quasi Chef des Deutschen Bundes hat der Regent nicht bloß die Pflicht, dessen Interessen zu schützen, sondern auch im Innern eine Stellung einzunehmen, die ihm erlaube, Uberstürzungen zu verhindern und den andern deutschen Staaten seine Politik der Mäßigung aufzuzwingen. Möge der Kaiser dies wohl begreifen und nichts versäumen, um unsre Aufgabe zu erleichtern."
Die preußische Tripotage ging zur Komik fort, die französische Regierung anzugehn: „Die gouvernementalen Blätter möchten Preußen nicht allzusehr auf Kosten Bayerns, Sachsens usw. herausstreichen, das könne Preußen nur kompromittieren." Walewski erklärte also mit vollem Recht in seiner Zirkulardepesche vom 20Juni[300]: „Die neuen militärischen Maßregeln, welche in Preußen ergriffen werden, flößen uns h.eine Besorgnis ein... Die preußische Regierung erklärt, indem sie einen Teil ihrer Armee mobilisiert, daß sie keine andre Absicht habe, als die Sicherheit Deutschlands zu schützen und sich in den Stand zu setzen, einen gerechten Einfluß auf die weitern Vereinbarungsarrangements mit den beiden anderen Großmächten zu üben." Preußens erhabner Beruf als bewaffnete Mediationsmacht war schon so sehr zum Stichwort unter den Großmächten geworden, daß Walewski den schlechten Witz reißen durfte, Preußen mobilisiere nicht gegen Frankreich, sondern gegen „die beiden andern Großmächte", die es sonst um seinen „gerechten" Einfluß auf die „Vereinbarungsarrangements" prellen möchten. So endete der zweite Akt der preußischen Mediation.
IV
[„Das Volk" Nr. 16 vom 20. August 1859] Der erste Akt der preußischen Mediation - Ende April bis Ende Mai verhing über Deutschland la mort sans phrase[301]. Im zweiten Akt - Ende Mai bis 24. Juni - wird die Lahmlegung des „großen Vaterlandes" verbrämt durch die Phrase der Willisenschen Mission und die Arabeske der preußischen Mobilisation. Eine Nachszene dieses zweiten Akts spielt an den kleinen deutschen Höfen, die eine Note des Schleinitz anzuhören bekommen. Schleinitz, wie Stieber, liebt „gemischtes" mündliches Verfahren. Von seiner schon erwähnten Note, d.d. Berlin, 24. Juni, „an die preußischen Missionen an den deutschen Höfen" zitieren wir hier nur zwei Stellen. Warum versagte Preußen den österreichischen Wunsch der Verwandlung des „Gedankenaustausches" in einen „Notenaustausch"?
„Die Erfüllung dieses Wunsches", flüstert Schleinitz den deutschen Höfen zu, „würde einer Garantie der Lombardei gleichgekommen sein. Eine solche Verpflichtung unbestirfimten Eventualitäten gegenüber zu übernehmen, war für Preußen unerfüllbar." Vom Berliner Standpunkt also war der Verlust der Lombardei weder „eine ernstliche Gefährdung des österreichischen Besitzstandes in Italien"
noch „die bestimmte Eventualität", der das preußische Schwert auflauerte, um aus der Scheide zu springen.
„Es müßte ferner", fährt Schleinitz fort, „sogar jedes Engagement formeller Art ferngehalten werden, welches unsere Stellung als Mediationsmacht alterieren konnte." Es war also nicht der Zweck preußischer Mediation, die „unbestimmten Eventualitäten" im Interesse Österreichs zu alter ieren; es war vielmehr der Beruf aller möglichen Eventualitäten, „die Stellung Preußens als Mediationsmacht" unalteriert zu lassen. Während es die Einräumung der Initiative am Deutschen Bund kategorisch von Österreich verlangt, reicht es ihm das hypothetische Äquivalent von preußischem gutem Willen, garantiert durch gute preußische Absicht. Zwiebelsuppe mit Rosinensoße, wie der Berliner Eckensteher sagt. Im dritten Akt der Mediation erscheint Preußen endlich als europäische Großmacht, und Schleinitz verfertigt eine Depesche in zwei Kopien, die eine adressiert an Graf Bernstorff in London, die andre an Baron Bismarck in Petersburg, die eine dem Lord John Russell zu verlesen, die andre dem Fürsten Gortschakow.[302] Die Hälfte der Depesche besteht aus Verbeugungen und Entschuldigungen. Preußen hat einen Teil seiner Streitkräfte mobilisiert, und Schleinitz ist unerschöpflich in der Motivierung dieser kühnen Tat. In dem allgemeinen Rundschreiben an die europäischen Großmächte vom 19. Juni war es die Sicherung des deutschen Bundesgebiets, die Rolle als bewaffnete Mediationsmacht, namentlich aber „Zuvorkommen von Spaltungen in Deutschland". In dem Schreiben an die deutschen Bündler sollte „diese Maßregel die militärischen Streitkräfte Frankreichs binden und Österreichs Stellung erheblich erleichtern". In der Depesche an England und Rußland sind es „die Rüstungen der Nachbarn", die „Uberwachung der Ereignisse", das „Näherrücken des Kriegs an die deutsche Grenze", Würde, Interessen, Beruf und so fort. Aber „andrerseits" und „nichtsdestoweniger" und „ich wiederhole es, Herr Graf, Herr Baron", hat Preußen kein Arg mit seinen Rüstungen. Es ist „sicherlich nicht seine Absicht, neue Verwickelungen hinzuzufügen". Es verfolgt „kein andres Ziel, als welches es, im Einverständnisse mit England und Rußland, vor kurzem anstrebte". Nous n'entendons pas malice1, ruft Schleinitz.
„Was wir wünschen", ist „der Frieden", und „wir wenden uns vertrauensvoll an die Kabinette von London und Petersburg, um im Verein mit ihnen die Mittel aufzufinden, dem Blutvergießen Einhalt zu tun."
1 Wir beabsichtigen nichts Schlechtes
30 Marx-Engels, Werke, Bd. 13
Um sich des Vertrauens von England und Rußland würdig zu zeigen, schwört Preußen auf zwei russisch-englische Funktionen: die erste, daß Österreich den Krieg herbeigeführt durch die Ultimate; die zweite, daß der Kampf sich um liberal-administrative Reformen drehe und um Auflösung des österreichischen Protektorats über benachbarte italienische Staaten. Ausgleichung der Rechte des österreichischen Kaiserhauses mit einem nationalliberalen „Reorganisations werke", das bezweckt Preußen. Endlich glaubt es, wie Schleinitz sagt, an Louis Bonapartes selfdenying declarations1. Und diese gemeinplätzlichen Fadheiten sind alles, was Preußen „mit vollem Vertrauen und freimütiger Offenheit" den neutralen Großmächten von seinen „Mediationsplänen" verlegen vorstottert. Schleinitz, „der nüchterne, modeste Junge", fürchtet „in gewissem Umfang die Frage zu präjudizieren, wenn er seine Ideen weiter präzisierte". Nur die fixe Idee platzt schließlich aus: Preußen glaubt sich zur „bewaffneten Mediationsmacht berufen". Mögen England und Rußland diesen Beruf anerkennen! Mögen sie
„ihre Ansichten aussprechen über eine Lösung der gegenwärtigen Verwicklungen und über den Weg, auf welchem sie den streitenden Teilen annehmbar gemacht werden könnte". Mögen sie namentlich Preußen mit Instruktionen versehen, die ihm erlauben, unter hoher obrigkeitlicher Bewilligung, sozusagen avec garantie du gouvernement2, die Rolle des Mediationslöwen zu übernehmen"! Preußen will also den europäischen lion3 spielen, aber als Hans Schnock, der Schreiner. Löwe: So wisset denn, daß ich Hans Schnock, der Schreiner, bin, Kein böser Low', fürwahr, [noch eines Löwen Weib;l Denn käm' ich als ein Low', und hätte Harm im Sinn, So dau'rte, meiner Treu, mich mein gesunder Leib. Theseus: Eine sehr höfliche Bestie, und sehr gewissenhaft. Lysander: Dieser Löwe ist ein rechter Fuchs an Herzhaftigkeit. Theseus: Wahrhaftig, und eine Gans an Klugheit J3031 Schleinitz' Depesche datiert vom 24. Juni, dem Tag der Schlacht von Solferino. Beide Kopien der Depesche lagen noch auf Schleinitz' Pult, als die Nachricht der österreichischen Niederlage in Berlin eintraf. Gleichzeitig brachte die Post eine Depesche Lord John Russells, „worin Mr. Broughams little man4" von ehedem, der „tom-tit of English liberalism"5, der Herold der irischen „coercion-bills"[304], Preußen in Palmerstons italienische Ideen
1 selbstverleugnende Erklärungen - 2 mit Bürgschaft der Regierung - 3 Löwen - 4 kleiner Mann - 5 „Zaunkönig des englischen Liberalismus"
einweiht. Magdeburg liegt nicht am Mincio und Bückeburg nicht am Adige, sowenig wie Harwich am Ganges oder Salford am Satledsch. Louis Bonaparte aber hat erklärt, daß ihm nicht gelüste nach Magdeburg und Bückeburg. Warum den gallischen Hahn denn reizen durch teutonische Roheit? Jack Russell entdeckt sogar, daß, wenn der „Sieg" auf dem Schlachtfeld „entschieden" sein wird, „die Kämpfer wahrscheinlich sehr willig sein werden,, den erschöpfenden Kampf zu beendigen". Auf diese sinnreiche Entdeckung gestützt, Deutschlands Kriegsgelüst tadelnd, Preußens „gemäßigtes und aufgeklärtes Betragen" belobend, warnt Russell den Schleinitz, England „ganz so genau" nachzuäffen, „wie es die Umstände in Deutschland erlauben werden"!! Schließlich erinnert sich Jack of all trades1 an Preußens „erhabenen Mediationsberuf", und mit dem gewohnten kleinen, sauersüßen Grinsen wirft das Männlein seinem Schüler im Konstitutionalismus zum Abschied die trostreichen Worte zu: „Eine Zeit mag vielleicht sehr bald kommen, wenn die Stimme befreundeter und versöhnender Mächte sich mit Erfolg hören lassen kann und Friedensvorstellungen nicht länger wirkungslos sein werden!" (Russells Depesche an Lord Bloomfield zu Berlin, d. d. London, 22. Juni.)[305]
Friedrich Engels Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie"
Erstes Heft, Berlin, Franz Duncker, 1859
I
[„Das Volk" Nr. 14 vom 6. August 1859] Auf allen wissenschaftlichen Gebieten haben die Deutschen längst ihre Ebenbürtigkeit, auf den meisten ihre Überlegenheit gegenüber den übrigen zivilisierten Nationen bewiesen. Nur eine Wissenschaft zählte keinen einzigen deutschen Namen unter ihren Koryphäen: die politische Ökonomie. Der Grund liegt auf der Hand. Die politische Ökonomie ist die theoretische Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft und setzt daher entwickelte bürgerliche Zustände voraus, Zustände, die in Deutschland seit den Keformations- und Bauernkriegen und besonders seit dem Dreißigjährigen Krieg auf Jahrhunderte lang nicht aufkommen konnten. Die Lostrennung Hollands vom Reich13061 drängte Deutschland vom Welthandel ab und reduzierte seine industrielle Entwicklung von vornherein auf die kleinlichsten Verhältnisse; und während die Deutschen sich so mühsam und langsam von den Verwüstungen der Bürgerkriege erholten, während sie alle ihre bürgerliche Energie, die nie sehr groß war, abarbeiteten im fruchtlosen Kampf gegen die Zollschranken und verrückten Handelsregulationen, die jeder kleine Duodezfürst und Reichsbaron der Industrie seiner Untertanen auflegte, während die Reichsstädte im Zunftkram und Patriziertum verkamen währenddessen eroberten Holland, England und Frankreich die ersten Plätze im Welthandel, legten Kolonie auf Kolonie an und entwickelten die Manufakturindustrie zur höchsten Blüte, bis endlich England durch den Dampf, der seinen Kohlen- und Eisenlagern erst Wert gab, an die Spitze der modernen bürgerlichen Entwicklung trat. Solange aber noch der Kampf gegen so lächerlich antiquierte Reste Mittelalter zu führen war, wie sie bis 1830 die materielle bürgerliche Entwicklung Deutschlands fesselten, solange
war keine deutsche politische Ökonomie möglich. Erst mit der Errichtung des Zollvereins11635 kamen die Deutschen in eine Lage, in der sie politische Ökonomie überhaupt nur verstehen konnten. Von dieser Zeit an begann in der Tat die Importation englischer und französischer Ökonomie zum Besten des deutschen Bürgertums. Bald bemächtigte sich das Gelehrten- und Bürokratentum des importierten Stoffs und verarbeitete ihn in einer dem „deutschen Geist" nicht sehr kreditablen Weise. Aus dem Sammelsurium von schriftstellernden Industrierittern, Kaufleuten, Schulmeistern und Bürokraten entstand dann eine deutsch-ökonomische Literatur, die an Fadaise, Seichtigkeit, Gedankenlosigkeit, Breite und Plagiarismus nur am deutschen Roman ein Seitenstück hat. Unter den Leuten mit praktischen Zwecken bildete sich zuerst die Schutzzöllnerschule der Industriellen aus, deren Autorität, List, immer noch das beste ist, was die deutsche bürgerlichökonomische Literatur produziert hat, obwohl sein ganzes glorioses Werk von dem Franzosen Ferrier, dem theoretischen Urheber des Kontinentalsystems1301, abgeschrieben ist. Dieser Richtung gegenüber entstand in den vierziger Jahren die Freihandelsschule der Kaufleute in den Ostseeprovinzen, die die Argumente der englischen Freetrader in kindlichem, aber interessiertem Glauben nachlallten. Endlich unter den Schulmeistern und Bürokraten, die die theoretische Seite der Disziplin zu behandeln hatten, gab es dürre Herbariensammler ohne Kritik, wie Herr Rau, klugtuende Spekulanten, die die ausländischen Sätze ins unverdaute Hegeische übersetzten, wie Herr Stein, oder belletristisierende Ährenleser auf dem „kulturhistorischen" Gebiet, wie Herr Riehl. Was dabei denn schließlich herauskam, war die Kameralistik13071, ein von einer eklektisch-ökonomischen Sauce angespülter Brei von allerhand Allotriis, wie sie einem Regierungsreferendarius zum Staatsexamen nützlich zu wissen sind. Während so Bürgertum, Schulmeistertum und Bürokratie in Deutschland sich noch abmühten, die ersten Elemente der englisch-französischen Ökonomie als unantastbare Dogmen auswendig zu lernen und sich einigermaßen klarzumachen, trat die deutsche proletarische Partei auf. Ihr ganzes theoretisches Dasein ging hervor aus dem Studium der politischen Ökonomie, und von dem Augenblick ihres Auftretens datiert auch die wissenschaftliche, selbständige deutsche Ökonomie. Diese deutsche Ökonomie beruht wesentlich auf der materialistischen Auffassung der Geschichte, deren Grundzüge in der Vorrede des oben zitierten Werks1 kurz dargelegt sind. Diese Vorrede ist der Hauptsache nach bereits im „Volk" abgedruckt worden,
weshalb wir darauf verweisen. Es war nicht nur für die Ökonomie, es war für alle historischen Wissenschaften (und alle Wissenschaften sind historisch, welche nicht Naturwissenschaften sind) eine revolutionierende Entdeckung, dieser Satz: „daß die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedingt"; daß alle i -i. v gesensciiaiLiiciicii unu. aLaauiuicn v cinamiisse, aüe religiösen uno. r».ccniS " systeme, alle theoretischen Anschauungen, die in der Geschichte auftauchen, nur dann zu begreifen sind, wenn die materiellen Lebensbedingungen der jedesmaligen entsprechenden Epoche begriffen sind und erstere aus diesen materiellen Bedingungen abgeleitet werden. „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Der Satz ist so einfach, daß er für jeden sich von selbst verstehen müßte, der nicht in idealistischem Schwindel festgerannt ist. Aber die Sache hat nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Praxis höchst revolutionäre Konsequenzen: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen dieser Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Uberbau langsamer oder rascher um... Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus." Die Perspektive auf eine gewaltige, auf die gewaltigste Revolution aller Zeiten eröffnet sich uns also sofort bei weiterem Verfolgen unserer materialistischen These und bei ihrer Anwendung auf die Gegenwart. Es zeigt sich aber auch sofort bei näherer Betrachtung, daß der anscheinend so einfache Satz, daß das Bewußtsein der Menschen von ihrem Sein abhängt und nicht umgekehrt, gleich in seinen ersten Konsequenzen allem Idealismus, auch dem verstecktesten, direkt vor den Kopf stößt. Sämtliche hergebrachte und angewöhnte Anschauungen über alles Geschichtliche werden durch ihn negiert. Der ganze traditionelle Modus des politischen Räsonierens fällt zu Boden; der patriotische Edelmut sträubt
sich entrüstet gegen solch gesinnungslose Auffassung. Die neue Anschauungsweise stieß daher notwendig an, nicht nur bei den Repräsentanten des Bürgertums, sondern auch bei der Masse der französischen Sozialisten, die die Welt mit der Zauberformel liberte, egalit6, fraternite1 aus den Angeln heben wollen. Großen Zorn aber erregte sie vollends bei den deutschen vulgär-demokratischen Schreiern. Trotzdem haben sie mit Vorliebe versucht, die neuen Ideen plagiarisch auszubeuten, jedoch mit seltnem Mißverständnis. Die Entwicklung der materialistischen Auffassung auch nur an einem einzigen historischen Exempel war eine wissenschaftliche Arbeit, die jahrelange ruhige Studien erfordert hätte, denn es liegt auf der Hand, daß hier mit der bloßen Phrase nichts zu machen ist, daß nur massenhaftes, kritisch gesichtetes, vollständig bewältigtes historisches Material zur Lösung einer solchen Aufgabe befähigen kann. Die Februarrevolution warf unsere Partei auf die politische Bühne und machte ihr die Verfolgung rein wissenschaftlicher Zwecke damit unmöglich. Trotzdem geht die Grundanschauung als roter Faden durch alle literarischen Produktionen der Partei durch. In ihnen allen ist bei jedem einzelnen Fall nachgewiesen, wie die Aktion jedesmal aus direkten materiellen Anstößen, nicht aber aus den sie begleitenden Phrasen entsprang, wie im Gegenteil die politischen und juristischen Phrasen ebenso aus den materiellen Anstößen hervorgingen wie die politische Aktion und ihre Resultate. Als nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 ein Zeitpunkt eintrat, wo die Einwirkung auf Deutschland, vom Auslande aus, mehr und mehr unmöglich wurde, überließ unsre Partei das Feld des Emigrationsgezänks denn das blieb die einzig mögliche Aktion - der vulgären Demokratie. Während diese sich nach Herzenslust herumhetzte, sich heute katzbalgte, um morgen zu fraternisieren, und übermorgen wieder ihre ganze schmutzige Wäsche vor der Welt auswusch, während sie durch ganz Amerika betteln ging, um gleich darauf über die Verteilung der paar erbeuteten Taler neuen Skandal anzurichten - war unsere Partei froh, wieder einige Ruhe zum Studieren zu finden. Sie hatte den großen Vorzug, eine neue wissenschaftliche Anschauung zur theoretischen Grundlage zu haben, deren Ausarbeitung ihr hinreichend zu tun gab; schon deswegen konnte sie nie so tief verkommen wie die „großen Männer" der Emigration. Die erste Frucht dieser Studien ist das vor uns liegende Buch.
1 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
II
[„Das Volk" Nr. 16 vom 20. August 1859] In einer Schrift wie der vorliegenden kann von einer bloß desultorischen Kritik einzelner Kapitel aus der Ökonomie, von der abgesonderten Behandlung dieser oder jener ökonomischen Streitfrage nicht die Rede sein. Sie ist vielmehr von vornherein auf eine systematische Zusammenfassung des gesamten Komplexes der ökonomischen Wissenschaft angelegt, auf eine zusammenhängende Entwicklung der Gesetze der bürgerlichen Produktion und des bürgerlichen Austausches. Da die Ökonomen nichts anders sind als die Dolmetscher und Apologeten dieser Gesetze, so ist diese Entwicklung zugleich die Kritik der gesamten ökonomischen Literatur. Seit Hegels Tod ist kaum ein Versuch gemacht worden, eine Wissenschaft in ihrem eignen, inneren Zusammenhang zu entwickeln. Die offizielle Hegeische Schule hatte von der Dialektik des Meisters nur die Manipulation der allereinfachsten Kunstgriffe sich angeeignet, die sie auf alles und jedes, und oft noch mit lächerlichem Ungeschick, anwandte. Die ganze Hinterlassenschaft Hegels beschränkte sich für sie auf eine pure Schablone, mit deren Hülfe jedes Thema zurechtkonstruiert wurde, und auf ein Register von Wörtern und Wendungen, die keinen andern Zweck mehr hatten, als sich zur rechten Zeit einzustellen, wo Gedanken und positive Kenntnisse fehlten. So kam es, daß, wie ein Bonner Professor sagte, diese Hegelianer von nichts etwas verstanden, aber über alles schreiben konnten. Es war freilich auch danach. Indessen hatten doch diese Herren, trotz ihrer Süffisance, so sehr das Bewußtsein ihrer Schwäche, daß sie sich von großen Aufgaben möglichst fernhielten; die alte Zopfwissenschaft behauptete ihr Terrain durch Überlegenheit an positivem Wissen; und als erst Feuerbach dem spekulativen Begriff aufgekündigt hatte, schlief die Hegelei allmählich ein, und es schien, als habe das Reich der alten Metaphysik mit ihren fixen Kategorien von neuem in der Wissenschaft begonnen. Die Sache hatte ihren natürlichen Grund. Auf das Regime der Hegelschen Diadochent308J, das sich in pure Phrasen verlaufen hatte, folgte naturgemäß eine Epoche, in der der positive Inhalt der Wissenschaft wieder die formelle Seite überwog. Deutschland warf sich aber auch gleichzeitig mit einer ganz außerordentlichen Energie auf die Naturwissenschaften, entsprechend der gewaltigen bürgerlichen Entwicklung seit 1848; und mit dem Modewerden dieser Wissenschaften, in denen die spekulative Richtung nie zu irgendwelcher bedeutenden Geltung gekommen war, riß auch die alte metaphysische Manier des Denkens bis auf die äußerste Wolffsche
Plattheit wieder ein. Hegel war verschollen, es entwickelte sich der neue naturwissenschaftliche Materialismus, der sich von dem des 18. Jahrhunderts theoretisch fast gar nicht unterscheidet und meist nur das reichere naturwissenschaftliche, namentlich chemische und physiologische, Material voraus hat. Bis zur äußersten Platitüde reproduziert finden wir die bornierte Philisterdenkweise der vorkantischen Zeit bei Büchner und Vogt, und selbst Moleschott, der auf Feuerbach schwört, reitet sich jeden Augenblick auf höchst ergötzliche Weise zwischen den allereinfachsten Kategorien fest. Der steife Karrengaul des bürgerlichen Alltagsverstandes stockt natürlich verlegen vor dem Graben, der Wesen von Erscheinung, Ursache von Wirkung trennt; wenn man aber auf das sehr kupierte Terrain des abstrakten Denkens par force jagen geht, so muß man eben keine Karrengäule reiten. Hier war also eine andere Frage zu lösen, die mit der politischen Ökonomie an sich nichts zu tun hat. Wie war die Wissenschaft zu behandeln? Auf der einen Seite lag die Hegeische Dialektik vor, in der ganz abstrakten, „spekulativen" Gestalt, worin Hegel sie hinterlassen; auf der andern Seite die ordinäre, jetzt wieder Mode gewordene, wesentlich wolffisch-metaphysische Methode, in der auch die bürgerlichen Ökonomen ihre zusammenhangslosen dicken Bücher geschrieben. Diese letztere war durch Kant und namentlich Hegel theoretisch so vernichtet, daß nur Trägheit und der Mangel einer andern einfachen Methode ihre praktische Fortexistenz möglich machen konnten. Andrerseits war die Hegeische Methode in ihrer vorliegenden Form absolut unbrauchbar. Sie war wesentlich idealistisch, und hier galt es die Entwicklung einer Weltanschauung, die materialistischer war als alle früheren. Sie ging vom reinen Denken aus, und hier sollte von den hartnäckigsten Tatsachen ausgegangen werden. Eine Methode, die ihrem eignen Geständnis nach „von nichts durch nichts zu nichts kam"[309], war in dieser Gestalt hier keineswegs am Platze. Trotzdem war sie, von allem vorliegenden logischen Material, das einzige Stück, an das wenigstens angeknüpft werden konnte. Sie war nicht kritisiert, nicht überwunden worden; keiner der Gegner des großen Dialektikers hatte Bresche in ihren stolzen Bau schießen können; sie war verschollen, weil die Hegeische Schule nichts mit ihr anzufangen gewußt hatte. Vor allen Dingen galt es also, die Hegeische Methode einer durchgreifenden Kritik zu unterwerfen. Was Hegels Denkweise vor der aller andern Philosophen auszeichnete, war der enorme historische Sinn, der ihr zugrunde lag. So abstrakt und idealistisch die Form, so sehr ging doch immer seine Gedankenentwicklung parallel mit der Entwicklung der Weltgeschichte, und letztere soll eigentlich nur die Probe auf die erstere sein. Wenn dadurch auch das richtige
Verhältnis umgedreht und auf den Kopf gestellt wurde, so kam doch überall der reale Inhalt in die Philosophie hinein; um so mehr als Hegel sich dadurch von seinen Schülern unterschied, daß er nicht wie sie auf Ignoranz pochte, sondern einer der gelehrtesten Köpfe aller Zeiten war. Er war der erste, der in der Geschichte eine Entwicklung, einen innern Zusammenhang nachzuweisen versuchte, und wie sonderbar uns auch manches in seiner Philosophie der Geschichte jetzt vorkommen mag, so ist die Großartigkeit der Grundanschauung selbst heute noch bewundernswert, mag man seine Vorgänger oder gar diejenigen mit ihm vergleichen, die nach ihm über Geschichte sich allgemeine Reflexionen erlaubt haben. In der „Phänomenologie", der „Ästhetik", der „Geschichte der Philosophie", überall geht diese großartige Auffassung der Geschichte durch, und überall wird der Stoff historisch, im bestimmten, wenn auch abstrakt verdrehten Zusammenhang mit der Geschichte behandelt. Diese epochemachende Auffassung der Geschichte war die direkte theoretische Voraussetzung der neuen materialistischen Anschauung, und schon hierdurch ergab sich ein Anknüpfungspunkt auch für die logische Methode. Hatte diese verschollene Dialektik schon vom Standpunkt des „reinen Denkens" aus zu solchen Resultaten geführt, war sie zudem wie spielend mit der ganzen früheren Logik und Metaphysik fertig geworden, so mußte jedenfalls mehr an ihr sein als Sophisterei und Haarspalterei. Aber die Kritik dieser Methode, vor der die ganze offizielle Philosophie sich gescheut hatte und noch scheut, war keine Kleinigkeit. Marx war und ist der einzige, der sich der Arbeit unterziehen konnte, aus der Hegeischen Logik den Kern herauszuschälen, der Hegels wirkliche Entdeckungen auf diesem Gebiet umfaßt, und die dialektische Methode, entkleidet von ihren idealistischen Umhüllungen, in der einfachen Gestalt herzustellen, in der sie die allein richtige Form der Gedankenentwicklung wird. Die Herausarbeitung der Methode, die Marx' Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt, halten wir für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grundanschauung nachsteht. Die Kritik der Ökonomie, selbst nach gewonnener Methode, konnte noch auf zweierlei Weise angelegt werden: historisch oder logisch. Da in der Geschichte, wie in ihrer literarischen Abspiegelung, die Entwicklung im ganzen und großen auch von den einfachsten zu den komplizierteren Verhältnissen fortgeht, so gab die literargeschichtliche Entwicklung der politischen Ökonomie einen natürlichen Leitfaden, an den die Kritik anknüpfen konnte, und im ganzen und großen würden die ökonomischen Kategorien dabei in derselben Reihenfolge erscheinen wie in der logischen
Entwicklung. Diese Form hat scheinbar den Vorzug größerer Klarheit, da ja die wirkliche Entwicklung verfolgt wird, in der Tat aber würde sie dadurch höchstens populärer werden. Die Geschichte geht oft sprungweise und im Zickzack und müßte hierbei überall verfolgt werden, wodurch nicht nur viel Material von geringer Wichtigkeit aufgenommen, sondern auch der Gedankengang oft unterbrochen werden müßte; zudem ließe sich die Geschichte der Ökonomie nicht schreiben ohne die der bürgerlichen Gesellschaft, und damit würde die Arbeit unendlich, da alle Vorarbeiten fehlen. Die logische Behandlungsweise war also allein am Platz. Diese aber ist in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muß der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs; ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet werden kann. Wir gehen bei dieser Methode aus von dem ersten und einfachsten Verhältnis, das uns historisch, faktisch vorliegt, hier also von dem ersten ökonomischen Verhältnis, das wir vorfinden. Dies Verhältnis zergliedern wir. Darin, daß es ein Verhältnis ist, liegt schon, daß es zwei Seiten hat, die sich zueinander verhalten. Jede dieser Seiten wird für sich betrachtet; daraus geht hervor die Art ihres gegenseitigen Verhaltens, ihre Wechselwirkung. Es werden sich Widersprüche ergeben, die eine Lösung verlangen. Da wir aber hier nicht einen abstrakten Gedankenprozeß betrachten, der sich in unsern Köpfen allein zuträgt, sondern einen wirklichen Vorgang, der sich zu irgendeiner Zeit wirklich zugetragen hat oder noch ziiträgt, so werden auch diese Widersprüche in der Praxis sich entwickelt und wahrscheinlich ihre Lösung gefunden haben. Wir werden die Art dieser Lösung verfolgen und finden, daß sie durch Herstellung eines neuen Verhältnisses bewirkt worden ist, dessen zwei entgegengesetzte Seiten wir nunmehr zu entwickeln haben werden usw. Die politische Ökonomie fängt an mit der Ware, mit dem Moment, wo Produkte - sei es von einzelnen, sei es von naturwüchsigen Gemeinwesen gegeneinander ausgetauscht werden. Das Produkt, das in den Austausch tritt, ist Ware. Es ist aber bloß dadurch Ware, daß sich an das Ding, das Produkt, ein Verhältnis zwischen zwei Personen oder Gemeinwesen knüpft, das Verhältnis zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, die hier nicht mehr in derselben Person vereinigt sind. Hier haben wir gleich ein
Beispiel einer eigentümlichen Tatsache, die durch die ganze Ökonomie durchgeht und in den Köpfen der bürgerlichen Ökonomen böse Verwirrung angerichtet hat: Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge. Diesen Zusammenhang, der in einzelnen Fällen diesem oder jenem Ökonomen allerdings aufgedämmert ist, hat Marx zuerst in seiner Geltung für die ganze Ökonomie aufgedeckt und dadurch die schwierigsten Fragen so einfach und klar gemacht, daß jetzt selbst die bürgerlichen Ökonomen sie werden begreifen können. Betrachten wir nun die Ware nach ihren verschiedenen Seiten hin, und zwar die Ware, wie sie sich vollständig entwickelt hat, nicht wie sie sich im naturwüchsigen Tauschhandel zweier ursprünglicher Gemeinwesen erst mühsam entwickelt, so stellt sie sich uns dar unter den beiden Gesichtspunkten von Gebrauchswert und Tauschwert, und hier treten wir sofort auf das Gebiet der ökonomischen Debatte. Wer ein schlagendes Exempel davon haben will, daß die deutsche dialektische Methode auf ihrer jetzigen Ausbildungsstufe der alten platt-kannegießernden, metaphysischen wenigstens ebenso überlegen ist wie die Eisenbahnen den Transportmitteln des Mittelalters, der lese nach bei Adam Smith oder irgendeinem andern offiziellen Ökonomen von Ruf welche Dual diesen Herren der Tauschwert und der Gebrauchswert machte, wie schwer es ihnen wird, sie ordentlich auseinanderzuhalten und jeden in seiner eigentümlichen Bestimmtheit zu fassen, und vergleiche dann die klare, einfache Entwicklung bei Marx. Nachdem nun Gebrauchswert und Tauschwert entwickelt sind, wird die Ware als unmittelbare Einheit beider dargestellt, wie sie in den Austauschprozeß eintritt. Welche Widersprüche sich hier ergeben, mag man p.20,211 nachlesen. Wir bemerken nur, daß diese Widersprüche nicht bloß theoretisches, abstraktes Interesse haben, sondern zugleich die aus der Natur des unmittelbaren Austauschverhältnisses, des einfachen Tauschhandels, hervorgehenden Schwierigkeiten, die Unmöglichkeiten widerspiegeln, auf die diese erste rohe Form des Austausches notwendig hinausläuft. Die Lösung dieser Unmöglichkeiten findet sich darin, daß die Eigenschaft, den Tauschwert aller andern Waren zu repräsentieren, auf eine spezielle Ware übertragen wird - das Geld. Das Geld oder die einfache Zirkulation wird nun im zweiten Kapitel entwickelt, und zwar 1. das Geld als Maß der Werte, wobei dann der im Geld gemessene Wert, der Preis, seine nähere Bestimmung
erhält; 2. als Zirkulationsmittel und 3. als Einheit beider Bestimmungen als reales Geld, als Repräsentant des ganzen materiellen bürgerlichen Reichtums. Hiermit schließt die Entwicklung des ersten Hefts, dem zweiten den Übergang des Geldes ins Kapital vorbehaltend. Man sieht, wie bei dieser Methode die logische Entwicklung durchaus nicht genötigt ist, sich im rein abstrakten Gebiet zu halten. Im Gegenteil, sie bedarf der historischen Illustration, der fortwährenden Berührung mit der Wirklichkeit. Diese Belege sind daher auch in großer Mannigfaltigkeit eingeschoben, und zwar sowohl Hinweisungen auf den wirklichen historischen Verlauf auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung wie auch auf die ökonomische Literatur, in denen die klare Herausarbeitung der Bestimmungen der ökonomischen Verhältnisse von Anfang an verfolgt wird. Die Kritik der einzelnen mehr oder minder einseitigen oder verworrenen Auffassungsweisen ist dann im wesentlichen schon in der logischen Entwicklung selbst gegeben und kann kurz gefaßt werden. In einem dritten Artikel werden wir auf den ökonomischen Inhalt des Buches selbst eingehen.13101
Geschrieben vom 3, bis 15. August 1859.
Karl Marx Britischer Handel
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5717 vom 19. August 1859, Leitartikel] Das britische Handelsministerium hat gerade eine Aufstellung über die Exporte in den ersten sechs Monaten dieses Jahres veröffentlicht, seine Tabelle von den deklarierten Werten der Importe umfaßt dagegen nur die fünf Monate bis zum 31 .Mai[311]. Bei einem Vergleich der entsprechenden Perioden von 1858 und 1859 ist festzustellen, daß mit einigen geringen Ausnahmen, die der Erwähnung nicht wert sind, die britischen Importe aus den Vereinigten Staaten im allgemeinen zurückgegangen sind, zumindest im Wert, während die britischen Exporte nach diesem Land sowohl mengenmäßig wie wertmäßig zugenommen haben. Um diese Tatsache zu illustrieren, haben wir die folgenden Tabellen aus den offiziellen Berichten herausgezogen:
Britische Exporte nach den Vereinigten Staaten in den sechs Monaten bis zum 30. Juni Artikel Menge deklarierter in Pfd. Wert St. 1858 1859 1858 1859 Baumwollgewebe, Yards .... 60150 771 110360198 1 031 724 1 924 951 Eisen- u. Stahlwaren, Ztr 35 849 78 432 242 914 534 101 Leinen, Yards .... 17379691 31 170 751 515 416 961 956 Roheisen, t 22 745 39 370 68 640 III 319 Barren, Bolzen, Stangen 21 463 56026 175944 457 384 Schmiedeeisen 9 153 19368 113 436 238 903 Bleche und Nägel, Ztr 5293 15 522 28 709 77 840 Blei, t 1214 1 980 27 754 44 626 öl(samen), Gallonen .... 411 769 930 784 50 950 III 103
Artikel Menge deklarierter Wert in Pfd. St. 1858 1859 1858 1859 Seidenfabrikate, Ibs 47 101 134 470 51 277 144 413 Wolltuche, Stücke 76 311 81 686 273 409 421 006 Wollgewebe, verschiedene, Yards.. . 13897 331 30 893 901 562 749 1 188859 do. Kammgarnstoffe, Stücke 185 129 489 171 229 981 758 914 Steingut u. Porzellan — - — - 168 927 279 407 Kurz- u. Putzwaren — — 456 364 861 921 Blechwaren — — 397027 607 011
Britische Importe aus den Vereinigten Staaten in den fünf Monaten bis zum 31. Mai
Artikel 1858 1859
Weizen .... 371 452 Pfd. St. 7 Ol 3 Pfd. St. Weizen-und Maismehl 693 847 „ „ 14 666 „ „ Baumwolle (roh) 11631 523 „ „ 10 486 418 „ „
Die Berichte über die britischen Exporte zeigen im allgemeinen eine Erhöhung nicht nur gegenüber 1858, sondern auch gegenüber 1857, wie aus der folgenden Aufstellung ersichtlich ist:
Britische Exporte in den sechs Monaten bis zum 30. Juni
Deklarierter Wert
1857 1858 1859
60 826 381 Pfd. St. 53 467 804 Pfd. St. 63 003 159 Pfd. St.
Bei näherer Prüfung zeigt sich jedoch, daß nicht nur die Gesamtzunahme des Wertes der Exporte von 1859 gegenüber denen von 1857 auf die Ausdehnung des Handels mit Indien zurückzuführen ist, sondern daß der gesamte britische Exporthandel 1859 - verglichen mit 1857 - um mehr als 2 000 000 Pfd.St. zurückgegangen wäre, wenn nicht Indien das Defizit mehr als ausgeglichen hätte. Auf dem Weltmarkt sind demzufolge noch nicht alle Spuren der Krise von 1857 verschwunden. Das wichtigste und überraschendste Merkmal des Berichts des Handelsministeriums ist zweifellos die rapide Entwicklung des britischen Exporthandels nach Ostindien. Lassen Sie uns die Tatsache zuerst durch offizielle Zahlen illustrieren:
Exporte nach Britisch-Ostindien in den 6 Monaten bis zum 30. Juni (in Pfund Sterling) 1856 1857 1858 1859 Bier und Ale 210 431 130213 474 438 569398 Baumwollgewebe, Druckstoffe 2 554976 3116 869 4523 849 6 094433 Baumwollgarn 579 807 540 576 967 332 1 280 435 Steingut und Porzellan 30 374 23521 43 975 43 195 Kurz- und Putzwaren 39 854 70 502 77 319 105 723 Eisen- und Stahlwaren 84 758 101 083 139 813 153 423 Sattelzeug und Geschirre 12 339 15 587 35 947 19 498 Maschinerie Dampfmaschinen [37 503 54 074 59 104 100 803][31al andere Sorten 156 028 313461 170 959 179 255 Eisen - Barren, Bolzen, Stangen (ausgenommen Eisenbahnschienen) 506201 228 838 166 321 172 725 Eisenbahnschienen — 272812 475 413 578 749 Schmiedeeisen (ausgenommen Eisenbahnschienen) 266 355 217 484 192 711 242 213 Kupfer - unbearbeitet .... 62 928 34139 9 018 51 699 Bleche und Nägel 144218 228 325 318 381 205 213 Salz 23 995 31 i19 21 849 A A f CS H tOO Schreib- und Papierwaren 66 495 79 968 88 425 89 711 Wolltuche 96 045 166 509 202 076 174 826 Insgesamt: 4 872 307 5 625 080 7 964 930 10 065 767
Eingedenk der Tatsache, daß etwa 16 Jahre lang - von 1840 bis 1856 - der britische Exporthandel nach Indien im allgemeinen konstant war, obwohl es bisweilen ein kleines Ansteigen über, bisweilen aber auch ein wahrnehmbares Absinken unter den durchschnittlichen Betrag von 8 000 000 Pfd. St. gab, ist man ziemlich überrascht, daß sich dieser konstante Handel in dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren verdoppeln konnte und daß dieser plötzliche Anstieg noch dazu in der Zeit eines furchtbaren Aufstandes der Geknechteten13131 stattfand. Die Frage, ob diese Ausdehnung des Handels nur auf zeitweilige Umstände oder auf eine bona fide Erweiterung der indischen Nachfrage zurückzuführen ist, gewinnt besonderes Interesse durch den gegenwärtigen Zustand der indischen Finanzen, der die britische Regierung zwingt, das Parlament zu ersuchen, eine neue Indien-Anleihe in London zu bewilligen, und der gleichzeitig die Londoner „Times" veranlaßt, sogar die Frage zu erörtern, ob es nach alledem nicht besser wäre,
wenn sich England mit den drei alten Provinzen begnügen und den anderen Teil der Halbinsel ihren einheimischen Herrschern zurückgeben würde.1 Die spärlichen Materialien, die uns vorliegen, machen es unmöglich, zu einer endgültigen Beurteilung des wirklichen Charakters der plötzlichen Ausdehnung des britischen Exporthandels nach Indien zu gelangen, aber auf Grund aller bekannten Tatsachen neigen wir zu der Ansicht, daß vorübergehende Umstände diesen Handel sozusagen über seine organischen Ausmaße haben anschwellen lassen. Erstens können wir keinen besonderen Aufschwung bei den britischen Importen aus Indien entdecken, der zur Erhöhung der Exporte nach diesem Land hätte führen können. Es hat wohl bei einigen Artikeln eine Erhöhung stattgefunden, aber diese ist durch ein Absinken bei anderen Artikeln beinahe wettgemacht; und alles in allem sind die Schwankungen der indischen Exporte zu gering, um auf die eine oder andere Weise die plötzlichen Veränderungen bei den Importen Indiens verursachen zu können. Der Kampf gegen die Aufständischen mag den Engländern jedoch geholfen haben, bisher wenig bekannte Provinzen zu erforschen, und der Soldat kann so dem Kaufmann den Weg gebahnt haben. Außerdem gab es in den letzten Jahren in Indien übermäßige Importe und Akkumulation von Silber, und selbst der Hindu, irgendwie belebt durch die soeben überstandenen Aufregungen, kann seine Leidenschaft zum Horten zurückgedrängt haben und bis zu einem gewissen Grade dazu übergegangen sein, Silber auszugeben, statt es zu vergraben. Wir dürfen jedoch nicht zu großes Gewicht auf solche Hypothesen legen, da andererseits vor allem die feststehende Tatsache außergewöhnlicher Regierungsaufwendungen von etwa 14000 000 Pfd.St. im Jahr so offensichtlich ist. Dieser Stand der Dinge, der zwar das plötzliche Anwachsen des englischen Exporthandels nach Indien hinreichend erklärt, kann jedoch schwerlich als Vorzeichen eines langen Anhaltens dieser neuen Bewegung betrachtet werden. Die dauerhafteste Auswirkung wird wahrscheinlich die vollständige Zerstörung der einheimischen Industrie Indiens sein, da, wie der Leser aus der letzten statistischen Aufstellung gesehen haben wird, die Erhöhung der britischen Exporte nach Indien hauptsächlich auf das Eindringen britischer Baumwollgewebe und -garne zurückzuführen ist. Übermäßige Warensendungen seitens Manchester können zu einem gewissen Grade auch dazu beigetragen haben, die Zahlen der britischen Exportstatistik aufzublähen. Geschrieben um den 5. August 1859. Aus dem Englischen.
1 Siehe vorl. Band, S. 292-299
31 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
Karl Marx Louis-Napoleon und Italien
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5725 vom 29. August 1859, Leitartikel] Jeder Tag wirft neues Licht auf die Worte und Taten Napoleons III. in Italien und hilft uns zu verstehen, was für ihn Freiheit „von den Alpen bis zur Adria" bedeutet. Für ihn war der Krieg nur eine weitere französische Expedition nach Rom - natürlich in jeder Beziehung in größerem Maßstab, aber in den Ursachen und Ergebnissen jenem „republikanischen" Unternehment41] ähnlich. Nachdem der Befreier durch den Abschluß des Vertrages von Villafranca ^^ Frankreich vor einem europäischen Krieg ^gerettet" hat, schickt er sich nunmehr an, durch die zwangsweise Wiedereinsetzung der Fürsten, die ein Wort aus den Tuilerien der Macht beraubt hatte, und durch die militärische Unterdrückung der Volksbewegung in Mittelitalien und in den Legationen die italienische Gesellschaft zu „retten". Während es in der britischen Presse von vagen Mutmaßungen und on dits1 über die möglichen Veränderungen der Festlegungen von Villafranca durch die Konferenz in Zürich nur so wimmelte und Lord John Russell sich infolge seiner unverbesserlichen Indiskretion, die Lord Palmerston veranlaßt hatte, ihm die Siegel des Außenministeriums anzuvertrauen, zu der feierlichen Erklärung im Unterhaus ermächtigt fühlte, daß Bonaparte davon Abstand nehmen würde, den entthronten Fürsten seine Bajonette zu leihen, erschien die „Wiener Zeitung" vom 8. August mit der folgenden offiziellen Erklärung auf der ersten Seite:
„Die Konferenz in Zürich geht ihrer Eröffnung entgegen, um das in Villafranca seinen Grundzügen nach vereinbarte Friedenswerk definitiv abzuschließen. Dieser offen zu Tage liegenden Bedeutung der Zusammenkunft in Zürich gegenüber ist es
schwer zu begreifen, wie Organe der Presse, nicht bloß im Auslande, sondern selbst in Osterreich, Zweifel an der Ausführung oder auch an der Ausführbarkeit der Punktationen von Villafranca auszusprechen sich bewogen fühlen konnten. Durch die Unterschrift zweier Kaiser besiegelt, tragen diese Friedenspräliminarien die Bürgschaft ihrer Ausführung in dem gegebenen Wort und der Macht beider Monarchen."
Das ist eine offene Sprache. Da sind auf der einen Seite die fruchtlosen Deklamationen der hintergangenen Italiener; auf der anderen Seite ist das „sie volo, sie jubeo"1 Franz Josephs und Louis Bonapartes, das sich auf Bajonette, gezogene Kanonen und andere „armes de precision"2 stützt. Weigern sich die italienischen Patrioten, den salbungsvollen Überredungskünsten nachzugeben, müssen sie der brutalen Gewalt weichen. Es gibt keine andere Alternative, ungeachtet der Erklärung Lord Russells, die er wahrscheinlich völlig in gutem Glauben aussprach, obwohl sie ihm nur in den Mund gelegt wurde, um das britische Parlament für die Zeit loszuwerden, in der Italien unter der eisernen Ferse der alliierten Despoten zermalmt werden soll. Hinsichtlich der weltlichen Macht des Papstes in den Legationen Wartete Louis-Napoleon nicht einmal das Ende des Krieges ab, um ihre Aufrechterhaltung zu diktieren. Die Präliminarien von Villafranca legen die Wiedereinsetzung der österreichischen Fürsten in Toskana und Modena fest. Die Rückkehr der Herzogin von Parma war in den Bedingungen nicht vorgesehen, da Franz Joseph sich an dieser Fürstin zu rächen wünschte, weil sie es offen abgelehnt hatte, ihr Geschick mit dem Österreichs zu verbinden. Doch Louis-Napoleon in seiner angeborenen Hochherzigkeit ließ sich herab, den demütigen Bitten der donna errante3 Gehör zu schenken. Durch die Vermittlung von Walewski hat er Herrn Mon, dem spanischen Gesandten in Paris, der zugleich der Bevollmächtigte der Herzogin ist, sein Ehrenwort gegeben, daß sie wieder einen Thron bekommen und über ein Gebiet von der gleichen Größe wie vordem herrschen werde, eventuell mit Ausnahme der Festung von Piacenza, die Viktor Emanuel übergeben werden soll, wenn er sich auf der Konferenz von Zürich gut beträgt. Der Parvenü fühlt sich bei dem Gedanken, den Beschützer der Schwester der Bourbonen zu spielen, nicht nur ungemein geschmeichelt, er glaubt auch endlich, das sichere Mittel gefunden zu haben, die Gunst des Faubourg St. Germain[314] zu gewinnen, der bisher seine Annäherungsversuche höhnisch zurückgewiesen und ihm gegenüber eine hochmütige Zurückhaltung an den Tag gelegt hatte.
1 „Ich will es, ich befehle es" (Juvenal, „Satiren", VI, 223) - 2 „Präzisionswaffen" (gezogene Gewehre) — 3 umherirrenden Dame
Wie aber sollte der „Befreier der Nationalitäten" zum Missionar von „Gesetz und Ordnung", zum Retter der „bestehenden Gesellschaft" werden? Wie nun mit Erfolg diese weniger poetische Rolle übernehmen? Es war ein großer Schritt abwärts. Die Ungewißheit der Öffentlichkeit über die wahre Bedeutung der Präliminarien von Villafranca hervorzurufen und zu verlängern und sie mit wilden Gerüchten und weisen Mutmaßungen zu befriedigen, war offensichtlich eine Methode, Europa allmählich auf das Schlimmste vorzubereiten. Lord Palmerston, der Österreich haßt und vorgibt, Italien zu lieben, ist offenkundig der Vertraute Napoleons III. und hat dem Mann des Dezembert42J über diesen schlüpfrigen Boden hinweggeholfen. Nachdem Palmerston das Ministerium Derby wegen seiner österreichischen Sympathien gestürzt hatte, schien er sich ganz Europa und besonders Italien gegenüber für die aufrichtigen Absichten Napoleons III., seines erhabenen Verbündeten, verbürgt zu haben. So hat er das Parlament geräuschlos aus dem Weg geräumt, wenn er es nicht sogar mit einer bewußten Unwahrheit nach Hause geschickt hat. Seiner eindeutigen Erklärung, England habe sich noch nicht entschieden, ob es am europäischen Kongreß teilnimmt oder nicht - dieser Kongreß wird wahrscheinlich die Beschlüsse der Konferenz von Zürich gutheißen und auf diese Weise die Last des Odiums, die sonst allein auf Napoleons Schultern ruhen würde, vermindern, indem er sie auf alle europäischen Mächte verteilt -, widersprechen die preußischen Zeitungen in einer offiziösen Note, in der es heißt, England und Rußland hätten sich gemeinsam an den Hof von Berlin gewendet und seine Mitwirkung an diesem europäischen Kongreß gefordert. Erst nachdem die fieberhafte Erregung der öffentlichen Meinung etwas besänftigt war, unternahm Napoleon seinen zweiten Schritt, und zwar in Sardinien. Er bemühte sich, Viktor Emanuel zu veranlassen, für ihn die Arbeit zu besorgen - eine Sache, die nicht leicht zu bewerkstelligen war. Alles was Österreich und seine Vasallen verloren hatten, schien Viktor Emanuel gewonnen zu haben. Er war tatsächlich, wenn auch noch nicht dem Namen nach, der Regent Mittelitaliens und der Legationen geworden. Im allgemeinen erkennen die Bewohner dieser Länder seine Dynastie an, wenn nicht aus Liebe für Piemont, so aus Haß gegen Österreich. Die erste Forderung des französischen Kreuzfahrers der Freiheit an seinen neuen Vasallen war, er solle von der offiziellen Führung der Volksbewegung zurücktreten. Das konnte Viktor Emanuel nicht ablehnen. Er zog die sardinischen Kommissare aus den Herzogtümern und den Legationen zurück, Boncompagni wurde aus Florenz, Massimo d'Azeglio aus der Romagna
und Farini (zumindest in seiner offiziellen Eigenschaft) aus Modena abberufen.13153 Doch der kaiserliche Befreier war noch nicht zufriedengestellt. Aus früheren Erfahrungen in Frankreich hatte er die Schlußfolgerung gezogen, daß bei geschickter Lenkung Volksabstimmungen den besten Mechanismus in der Welt darstellen, eine Despotie auf einer festen und anständigen Grundlage zu errichten. Der König von Sardinien wurde also aufgefordert, in den aufständischen Provinzen mittels Volksabstimmungen die Wiedereinsetzung der Fürsten als den Willen des Volkes erscheinen zu lassen. Viktor Emanuel wollte natürlich von einer Solchen Forderung nichts hören, deren Erfüllung die Hoffnungen auf die Freiheit Italiens unfehlbar für immer vereiteln und die ewivas1 in einen allgemeinen Verwünschungsschrei über die ganze Halbinsel verwandeln würden. Er soll Graf de Reiset, dem französischen Versucher, mit folgenden Worten geantwortet haben:
„Mein Herr, ich bin vor allem ein italienischer Fürst; vergessen Sie diese Tatsache nicht. Die Interessen Italiens scheinen mir von größerer Bedeutung zu sein als jene Europas, auf welche Sie anzuspielen belieben. Ich kann das Ansehen meines Namens nicht der Wiedereinsetzung der entthronten Fürsten leihen, und ich will es nicht tun. Ich war schon zu nachgiebig, als ich zuließ, daß die Dinge ihren eigenen Lauf nehmen." Und der ritterliche König soll sogar noch hinzugefügt haben:
„Wenn eine bewaffnete Intervention beschlossen ist, werden Sie von mir hören. Was die Konföderation betrifft, so ist sie meinem Interesse und meiner Ehre gleichermaßen zuwider, und ich werde sie daher bis zum Tode bekämpfen."
Bald nachdem diese Erwiderung nach Paris übermittelt worden war, erschien der berühmte Artikel von Granier de CassagnacC3163 über die italienische Undankbarkeit mit der unheilvollen Andeutung, daß, zöge man den Schutz einer mächtigen Hand zurück, bald der österreichische Adler auf dem königlichen Palast von Turin sitzen würde. Viktor Emanuel wurde sogleich unterrichtet, daß es von seinem guten Betragen abhinge, ob er Piacenza erhält, und daß der Grad des Einflusses der italienischen Fürsten in der vorgeschlagenen Konföderation noch eine Sache der Verhandlung sei. Und der letzte Schlag wurde ihm versetzt, indem die Frage der nationalen Zugehörigkeit von Sa voyen aufgeworfen wurde, begleitet von der Andeutung, daß, nachdem Bonaparte Viktor Emanuel bei der Befreiung Italiens vom Joche Österreichs beigestanden hatte, Viktor Emanuel es wohl
kaum ablehnen könnte, Savoyen vom Joche Sardiniens zu befreien. Diese Drohungen nahmen bald in der Agitation, die auf ein Signal von Paris durch die feudale und katholische Partei in Savoyen entfacht wurde, greifbare Gestalt an.
„Die Savoyarden sind es überdrüssig", rief eine Pariser Zeitung aus, „für die Sache Italiens ihr Geld zu geben und das Blut ihrer Söhne zu vergießen." Dies war ein starkes argumentum ad hominem1 für Viktor Emanuel, und wenn er auch die ihm gestellte Aufgabe nicht direkt akzeptiert hat, so ist doch zu befürchten, daß er zumindest versprechen mußte, einer bewaffneten französischen Intervention den Weg zu ebnen. Wenn man der in dem Telegramm vom 9. August aus Parma enthaltenen Nachricht trauen kann, nach der
„die Piemontesen aus der Stadt verjagt worden sind und die rote Republik proklamiert ist, während die Besitzenden und die Freunde der Ordnung flüchten", so ist dies ein schlechtes Omen für die Zukunft. Ob nun wahr oder falsch, für den „Retter der Ordnung und des Eigentums" mag es wohl das Signal sein, mit der Intervention zu beginnen, seine Zuaven gegen die „unverbesserlichen Anarchisten" in Marsch zu setzen und den Weg für die zurückkehrenden Fürsten freizumachen. Einem von ihnen, dem Sohn des Großherzogs von Toskana2, zu dessen Gunsten letzterer abdankte, ist in den Tuilerien ein „herzlicher Empfang" bereitet worden. An die auf dem Heimweg befindlichen französischen Truppen erging der Befehl, in Italien zu bleiben, so daß die Hindernisse, die erfolgreichen Verhandlungen in Zürich im Wege stehen, bald verschwinden werden.
Geschrieben Mitte August 1859. Aus dem Englischen.
1 Argument mit überzeugender Beweisführung - 2 Ferdinand IV., Sohn Leopolds II.
Karl Marx Politische Rundschau
LDas Volk" Nr. 16 vom 20. August 1859] London. Der Strike der Bauhandwerker oder, richtiger gesagt, der Lock-out der Baumeister dauert fort[317], ohne daß sich die gegenseitige Stellung beider Teile wesentlich verändert hätte. Am Dienstag hielten die Delegaten der Arbeiter ein Meeting ab, dem auch Abgeordnete aus den übrigen Gewerken beiwohnten, und auf dem einstimmig beschlossen ward, bei keinem Meister in Arbeit zu treten, der das Versprechen der Nichtteilnahme an der „Gesellschaft" verlange. Gleichzeitig hatte in der Freemasons Tavern eine Zusammenkunft der „assoziierten" Meister statt, zu der keine Zeitungsberichterstatter zugelassen wurden. Wie man nachträglich erfuhr, kamen die lichtscheuen Herren nach einer stürmischen Beratung dahin überein, daß kein Mitglied der Assoziation seine Werkstätte öffnen sollte, ehe die Bauarbeiter sich von der „Gesellschaft" förmlich losgesagt und ehe die „Hände des Herrn Trollope ihrem Strike ein Ziel gesetzt hätten" [3181. Der letztere Punkt dürfte wohl bald erledigt sein, denn Herr Trollope hat sich neuerdings in Unterhandlungen mit den Arbeitern eingelassen und auf das Positivste versichert, die Anklagen, welche gegen ihn erhoben worden (Wegschickung eines Arbeiters, der die Neunstundenpetition überreichte etc.), beruhten auf einem Mißverständnis. Was aber die andere Bedingung betrifft, so werden die „Ausgesperrten" sie keinesfalls eingehen, ohne durch die äußerste Not dazu gezwungen zu sein; sie fühlen, sich von der „Gesellschaft" losseigen, auf jede Organisation verzichten, das hieße sich zu förmlichen Leibeigenen der Kapitalisten machen und das bißchen Unabhängigkeit wegwerfen, das dem modernen Proletarier geblieben ist. Die brutale Halsstarrigkeit der Meister, die sich ihren „Händen" gegenüber dieselbe Autorität anmaßen wie der amerik[anische] Pflanzer seinem Sklaven gegenüber, hat die Mißbilligung selbst eines Teils der bürgerlichen Zeitungsschreiber erregt. Wir haben natürlich keine Ursache, mit den Meistern unzufrieden zu sein; tun sie doch, was in ihren Kräften steht,
um die ohnedies breite Kluft zwischen Arbeit und Kapital noch zu erweitern und jenen konzentrierten, bewußten Klassenhaß zu erzeugen, der die sicherste Bürgschaft für eine gesellschaftliche Umwälzung ist. In London befinden sich im ganzen über 1000 Bauwerkstätten. Davon sind bloß 88, aber die größten, gesperrt. Die Zahl der Lock-outs (der ausgesperrten Arbeiter) beläuft sich auf 19 000-20 000, nicht 40 000, wie man anfangs behauptet hatte. Aus allen Teilen des Landes strömen der „Gesellschaft" reiche Geldspenden zu, aber bis jetzt haben sich die brotlosen Arbeiter geweigert, Unterstützung zu ziehen. Ehre den Braven! Ob die Bourgeois in ihrem Klasseninteresse wohl einer ähnlichen Aufopferung fähig wären? In den letzten Tagen der Session, die am Samstag zu Ende lief, beschäftigte sich das Unterhaus mit fast nichts anderem als Wahlskandalen, die wie Pilze aus dem Boden hervorschossen und alle Wände des Parlamentspalasts bedeckten. Es war ein greulicher Korruptionsgestank, der mit den Themsegerüchen vortrefflich harmonierte und die ehrenwerten Mitglieder zum Erbrechen hätte reizen müssen, wenn sie nicht an solche Dinge gewöhnt wären. Bald handelte es sich um Individuen, welche Herden britischer Wähler offen (und darin lag das Verbrechen) wie ebenso viele Schafherden gekauft oder verkauft hatten; bald um einen armen Wicht, der seinen teuerbezahlten Sitz freiwillig aufgab, weil er ihn nicht gegen eine Wahlpetition verteidigen konnte, was zum mindesten 3000 Pfd. St. gekostet haben würde, - doch wenden wir uns ab. Wozu in dem Kot herumwühlen? Erwähnen wollen wir bloß noch, daß beinahe sämtliche Mitglieder, die der Bestechung überführt wurden, zur „liberalen" Partei13191 gehören. Uber die Thronrede ist kaum etwas zu bemerken. Sie ist ein durchaus nichtssagendes Aktenstück. Mit Rücksicht auf den projektierten europäischen Kongreß heißt es darin, Ihre Majestät sei noch zu keiner bestimmten Entscheidung gelangt.[3201 Dies ist eine Lüge. Unmittelbar nach dem Abschluß des Friedens von Villafranca[244i erklärte sich Lord Palmerston der russischen Regierung gegenüber bereit, den von Rußland vorgeschlagenen Kongreß zu beschicken. Er war also bereits vor 4 Wochen zu „einer bestimmten Entscheidung gelangt". Paris. Wir verschonen unsere Leser mit einer Schilderung des Pariser Siegesfestes. Trotz der komplizierten Maschinerie, die man in Bewegung gesetzt hatte, um die Niederlage bei Villafranca vergessen zu machen, die Aufmerksamkeit der Pariser Bevölkerung zu zersplittern und die Kehlen 4er Interessenten zum Schreien zu bringen, soll der Kaiser persönlich so
wenig mit seinem Empfange zufrieden gewesen sein, daß er den verzweifelten Schritt der Amnestie tat, obgleich ihm seine dezembristischen Ratgeber ernstlich davon abrieten. Auch die Pariser Presse hat Amnestie erhalten, alle „Warnungen" sind zurückgenommen worden.[321] Von Berlin nichts als die alten öden Phrasen und Fortsetzung der trostlosen Agitation für Bundesreform unter preußischer Hegemonie. Die Verschmelzung der Gothaer[198] mit der Demokratie ist nun eine vollendete Tatsache, wie man aus den folgenden Notizen ersehen wird. - Der Zustand des Königs hat sich nicht gebessert. In Eisenach wurde am 14. August eine neue Versammlung „deutscher Patrioten" abgehalten, um mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung die Gothaerei als alleiniges Mittel der Rettung zu proklamierend3223 Unter den versammelten Zelebritäten finden wir erwähnt: Herrn von Bennigsen aus Hannover; Zabel aus Berlin (siehst Du, wie Du bist?); Siegel, Redakteur der „Sächsischen Konstitutionellen Zeitung"[323]; Titus aus Bamberg; Schulze aus Delitzsch usf. Das für die neugebildete deutsche Partei aufgestellte Programm enthält selbstverständlich: Bundesreform, preußische Hegemonie, Aufhebung der Bundestagsbeschlüsse gegen Presse und Vereinsrecht usw. Schließlich wurde Frankfurt, wahrscheinlich um der Paulskirche[324] näher zu sein, als demnächstigen Versammlungsort gewählt. Aus Hannover dagegen berichtet man, daß die dortige Regierung, um ihren preußenfreundlichen Patrioten, gegen die sie polizeilich einzuschreiten beginnt, Konkurrenz zu machen, [die] schleswig-holsteinische Frage wieder aufgenommen hat.
Karl Marx Bevölkerung, Verbrechen und Pauperismus
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5741 vom 16. September 1859] London, 23. August 1859 Ein Blaubuch, betitelt „Statistical Abstract for the United Kingdom In each of the last Fifteen Years, from 1844 to 1858", wurde beiden Häusern des Parlaments während der letzten Sitzungsperiode überreicht. Mögen die Zahlen in den engen Kolonnen der amtlichen Druckschrift auch trocken erscheinen, sie enthalten jedoch in der Tat wertvollere Beiträge zur Geschichte der Bevölkerungsbewegung des Landes als Bände rhetorischen Wortgeprassels und politischen Geschwätzes. Die erste Tabelle, die unsere Aufmerksamkeit erregt, ist die Bevölkerungsstatistik, aber eigenartigerweise sind die Zahlen hinsichtlich der Bevölkerungsbewegung in Irland während der letzten fünfzehn Jahre völlig weggelassen. Die schottische Bevölkerungsstatistik zeigt nur geringe Schwankungen, mit denen wir uns nicht beschäftigen werden. Das Folgende ist eine Ubersicht über die Bevölkerungsbewegung in England und Wales:
Geschätzte Jahre Bevölkerung Geburten Todesfälle Heiraten 1844 16 520 000 540 763 356 950 132 249 1845 16 721 000 543 521 349 366 143 743 1846 16925 000 572 625 390 315 145 664 1847 17 132 000 539 965 423 304 135 845 1848 17 340 000 563059 399 800 138 230 1849 17 552 000 578 159 440 853 141 883 1850 17 766 000 593 422 368986 151 738 1851 17 983 000 615 865 395 174 154 206 1852 18205 000 624 171 407 938 158 439 1853 18 403 000 612 391 421 097 164 520 1854 18618000 634506 438 239 159 349
Geschätzte Jahre Bevölkerung Geburten Todesfälle Heiraten 1855 18 787 000 635 123 426 242 151 774 1856 19 045 000 657 704 391 369 159 262 1857 19 305 000 663 071 419 815 159 097 1858 19 523 000 655 627 450 018 154 500
Dieser Bevölkerungsstatistik stellen wir die Tabellen über Verbrechen und Pauperismus in England und Wales gegenüber:
Vor Gericht gestellt Verurteilt Jahre Männlich Weiblich Insgesamt 1844 21 549 4993 26 542 18919 1845 19 341 4962 24303 17 402 1846 19 850 5257 25 107 18144 1847 22 903 5930 28 833 21 542 1848 24 586 5763 30 349 22 900 1849 22 415 5401 27 816 21 001 1850 21 548 5265 26 813 20 537 1851 22391 5569 27 960 21 579 1852 21 885 5625 27 510 21 304 1853 20 879 6178 27 057 20 756 1854 22 723 6636 29 359 23 047 1855 19 890 6082 25 972 19971 1856 15 425 4012 19 437 14 734 1857 15 970 4299 20 269 15 307 1858 13 865 3990 17 855 . 13246 Die Übersichtstabelle über die Anzahl der Pauper (außer Landstreichern), welche in England und Wales in den verschiedenen Armenhausbezirken und Pfarrgemeinden unter Aufsicht von lokalen Armenbehörden Unterstützung erhalten, beginnt mit dem Jahre 1849:
Jahre Pauper insgesamt 1849 1850 1851 1852 1853 934 419 920 543 860 893 834 424 798 822
Jahre 1854 1855 1856 1857 1858
Pauper insgesamt 818337 851 369 877 767 843 806 908 186
Bei einem Vergleich dieser drei Statistiken über Bevölkerung, Verbrechen und Pauperismus kann man feststellen, daß von 1844 bis 1854 die Verbrechen rascher angewachsen sind als die Bevölkerung, wahrend der
Pauperismus von 1849 bis 1858 beinahe konstant blieb trotz der ungeheuren Veränderungen, die sich während dieses Zeitraums in der britischen Gesellschaft vollzogen. Drei große Tatsachen kennzeichnen das Jahrzehnt von 1849 bis 1858 - Tatsachen, die uns beinahe berechtigen würden, diese Periode mit den äußerst glanzvollen Epochen des 16. Jahrhunderts zu vergleichen, Die Korngesetze waren aufgehoben, die Goldfelder entdeckt worden [325], und eine ungeheure Auswanderung hatte stattgefunden. Darüber hinaus gab es noch andere Umstände, die Industrie und Handel einen neuen Aufschwung gaben. Nach revolutionären Erschütterungen hatte Europa ein industrielles Fieber ergriffen. Die Eroberung des Pandschab[326] und danach der russische Kriegt72] und die Kriege in Asien eröffneten den Zugang zu Märkten, die bis dahin beinahe unbekannt waren. Schließlich hatte der Import britischer Erzeugnisse durch die Vereinigten Staaten Ausmaße angenommen, wie sie zehn Jahre früher nicht einmal vermutet wurden. Der ganze Weltmarkt hatte sich ausgedehnt und schien seine Aufnahmefähigkeit verdoppelt oder verdreifacht zu haben. Trotzdem hat sich während dieses denkwürdigen Jahrzehnts die konstante Zahl von fast einer Million Pauper nur um 26 233 verringert, und wenn wir die Jahre 1853 und 1858 vergleichen, sogar um 109 364 erhöht. Es muß doch etwas faul sein im Innersten eines Gesellschaftssystems, Joe» poir»ar» cain Plan/1 TU Tröi*Vinrrovr» -i-ir»/I ir» /Iam /IIA Uäo OblllVfU 1\V1V11LUU1, VUl lllV/ltl VlUl^ A^i^llU V 1 IllgV/1 llj UHU III UV111 U1V Verbrechen sogar rascher zunehmen als seine Bevölkerungszahl. Zwar trifft es zu, wenn wir das Jahr 1855 mit den vorhergehenden Jahren vergleichen, daß von 1855 bis 1858 eine merkliche Abnahme der Verbrechen stattgefunden zu haben scheint. Die Gesamtzahl der vor Gericht gestellten Personen, die sich im Jahre 1854 auf 29359 belief, war 1858 auf 17 855 gesunken, und die Zahl der Verurteilten war ebenfalls bedeutend gefallen, wenn auch nicht ganz in demselben Verhältnis. Diese offenkundige Abnahme der Verbrechen seit 1854 ist jedoch ausschließlich auf einige technische Veränderungen in der britischen Gerichtsbarkeit zurückzuführen: erstens auf das Gesetz über jugendliche Verbrecher[327] und zweitens auf die Auswirkung des Kriminaljustiz-Gesetzes von 1855, das die Polizeirichter ermächtigt, mit Einwilligung der Gefangenen kurze Gefängnisstrafen zu verhängen. Rechtsverletzungen sind im allgemeinen das Ergebnis wirtschaftlicher Faktoren, die außerhalb der Kontrolle des Gesetzgebers stehen; aber wie das Wirken des Gesetzes über jugendliche Verbrecher bestätigt, hängt es in gewissem Grade von der offiziellen Gesellschaft ab, bestimmte Verletzungen ihrer Regeln als Verbrechen oder nur als Vergehen zu stempeln. Diese Differenz in der Beurteilung, die weit davon ent
fernt ist, indifferent zu sein, entscheidet über das Schicksal von Tausenden von Menschen und über den moralischen Ton der Gesellschaft. Das Gesetz selbst kann nicht nur das Verbrechen bestrafen, sondern es auch hervorrufen, und das Gesetz der Berufsjuristen ist sehr dazu geeignet, in dieser Richtung zu wirken. So wurde mit Recht von einem hervorragenden Historiker bemerkt, daß der mittelalterliche katholische Klerus mit seinen finsteren Auffassungen über die menschliche Natur, die durch seinen Einfluß in die Kriminalgesetzgebung hineingebracht wurden, mehr Verbrechen verursacht als Sünden vergeben hat. Seltsamerweise ist Irland der einzige Teil des Vereinigten Königreichs, wo die Verbrechen bedeutend abgenommen haben, und zwar um 50, ja sogar um 75 Prozent. Wie können wir diese Tatsache mit der in England vorherrschenden Meinung in Einklang bringen, wonach das irische Naturell und nicht die englische Mißwirtschaft - für die irischen Unzulänglichkeiten verantwortlich ist? Es ist überdies nicht eine Tat des britischen Herrschers, sondern einfach die Folge einer Hungersnot, eines Exodus, und einer allgemeinen Verkettung von Umständen, welche die Nachfrage nach irischen Arbeitskräften erhöhten, die diesen glücklichen Wandel im irischen Naturell bewirkt hat. Wie dem aber auch sei, die Bedeutung der folgenden Statistiken kann nicht mißverstanden werden:
/. Verbrechen in Irland
Vor Gericht gestellt Verurteilt Jahre Männlich Weiblich Insgesamt 1844 14 799 4 649 19 448 8 042 1845 12 807 3 889 16 696 7 101 1846 14 204 4 288 18 492 8 639 1847 23 552 7 657 31 209 15 233 1848 28 765 9 757 38 522 18 206 1849 31 340 10 649 41 989 21 202 1850 22 682 8644 31 326 17 108 1851 17 337 7 347 24 684 14 377 1852 12 444 5 234 17 678 10 454 1853 10 260 4884 15 144 8 714 1854 7 937 3 851 11 788 7 051 1855 6019 2 993 9 012 5220 1856 5 097 2 002 7 099 4 024 1857 5 458 1 752 7210 3 925 1858 4 708 1 600 6308 3 350
II. Pauperismus in Irlandl328] Jahre Pauper insgesamt Jahre Pauper insgesamt 1849 620 747 1854 106 802 1850 307 970 1855 86 819 1851 209 187 1856 73 083 1852 171 418 1857 56 094 1853 141 822 1858 50 582
Es ist bedauerlich, daß die Auswanderungsstatistik nicht verzeichnet, von welchen verschiedenen Teilen des Vereinigten Königreichs die Bewegung ausging, und auch nicht das Ausmaß, in dem jeder Teil zu dem Gesamtergebnis beitrug. Aus der folgenden Statistik ist zu erkennen, daß von 1844 bis 1847 die Auswanderung nach den britischen Kolonien in Nordamerika der Auswanderung nach den Vereinigten Staaten nahekam, wenn sie nicht gar übertroffen wurde. Ab 1848 wird die Auswanderung nach Britisch-Nordamerika lediglich ein Anhängsel der Auswanderung nach den Vereinigten Staaten. Andererseits macht die britische Auswanderung nach Australien und Neuseeland in den 15 Jahren von 1844 bis 1858 rasche Fortschritte. Während die Auswanderung nach den nordamerikanischen Kolonien 1847 und diejenige nach den Vereinigten Staaten 1851 ihren Höhepunkt erreicht, ist dies bei der Auswanderung nach Australien und Neuseeland 1852 der Fall. Von da an bis 1858 ist ein ständiges Absinken in der Zahl der Auswanderer festzustellen, deren Gesamtzahl bis 1852 auf 368 764 angestiegen war, 1858 aber auf 113 972 fiel, d. h. um mehr als 75 Prozent. Es folgt die besprochene Aufstellung:
Zahl der Auswanderer aus dem Vereinigten Königreich nach verschiedenen Ländern
Insgesamt
70 686 93 501 129 851 258 270 248 089 299 498 280 849 335 966 368 764
Nach den Nach
Nach anderen Orten
Jahre
nordamerikanischen
Nach den USA
Australien und
Nach anderen Orten
Kolonien Neuseeland
Nach anderen Orten
1844 22 924 43 660 2 229 1 873 1845 31 803 58 538 830 2 330 1846 43 439 82 239 2 347 1 826 1847 109 680 142 154 4 949 1 487 1848 31 065 188233 23 904 4 887 1849 41 367 219 450 32 191 6 490 1850 32 961 223 078 16 037 8 773 1851 42605 267357 21 532 4 472 1852 32 873 244261 87 881 3 749
Nach den
Jahre
nordameriJahre kanischen Kolonien 1853 34 522 1854 43 761 1855 17 966 1856 16 378 1857 21 001 1858 9 704
Aus dem Englischen.
Nach Nach den Australien USA und Neuseeland 230 885 61 401 193 065 83 237 103 414 52 309 111 837 44 584 126 905 61 248 59 716 39 295
Nach anderen Insgesamt Orten
3 129 329 937 3 366 323 429 3 118 176 807 3 755 176 554 3 721 212 875 5 257 113 972
Karl Marx Industrie und Handel
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5747 vom 23. September 1859] London, 5. September 1859 Nachdem wir in einem früheren Artikel1 die Bewegung der Bevölkerung des Königreichs betrachtet haben, wenden wir uns nun der Bewegung der Produktion zu. In den folgenden Statistiken sind die Exporte für jedes Jahr seit 1844 angegeben, während Zahlen, die sich auf die Importe beziehen, mit dem Jahre 1854 beginnen, eine Anomalie, die dem Umstand zuzuschreiben ist, daß der errechnete wirkliche Wert der Importe vor 1854 nicht offiziell ermittelt wurde. A. Exporte zjiLt\i\>Li t W„,t , u/iii(tiuiu rr KsiL u&j t ins dem Vers; .'«Um ""ä'i-'i 'Vu/1151 ausgeführten britischen und irischen Produkte Jahre Pfd.St. Jahre Pfd.St. 1844 58 534 705 1852 78 076 854 1845 60 111 082 1853 98 933 781 1846 57 786 876 1844 97 184 726 1847 58 842 377 1855 95 688 085 1848 52 849 445 1856 115 826 948 1849 63 596 025 1857 122 066 107 1850 71 367 885 1858 116 614 331 1851 74 448 722
B. Import Errechneter wirklicher Wert der in das Vereinigte Königreich eingeführten Waren Jahre Pfd.St. Jahre Pfd.St. 1854 152 389 053 1857 187 844 441 1855 143 542 850 1858 163 795 803 1856 172 544154
Aus der ersten Tabelle ist zu ersehen, daß die Exporte und folglich die Produktion sich in der Periode von 1844 bis 1857 mehr als verdoppelt haben, während die Bevölkerung, wie die in meinem früheren Artikel angeführten Zahlen bestätigen, sich während desselben Zeitraums kaum um 18 Prozent erhöht hat. Das ist eine treffende Entgegnung auf die Doktrin des Pfaffen und Pfründners Malthus. Tabelle A illustriert überdies ein Gesetz der Produktion, das mit mathematischer Genauigkeit bewiesen werden kann, indem die Berichte über die britischen Exporte seit 1797 miteinander verglichen werden. Das Gesetz besagt: Wenn durch Überproduktion und Überspekulation eine Krise herbeigeführt worden ist, so haben sich doch die Produktivkräfte der Nation und die Aufnahmefähigkeit des Weltmarkts in der Zwischenzeit so sehr ausgedehnt, daß sie nur zeitweilig von dem höchsten erreichten Punkt zurückgehen und daß nach einigen Schwankungen, die sich über Jahre erstrecken, die Produktionsstufe, die das Maximum der Prosperität in einer Periode des industriellen Zyklus bezeichnet, zum Ausgangspunkt der nächstfolgenden Periode wird. So weist das Jahr 1845 den höchsten Stand der Produktivkräfte während des industriellen Zyklus von 1837 bis 1847 auf. 1846 beginnt die rückläufige Bewegung, 1847 gibt es eine Katastrophe, deren Folgen sich erst 1848 vollständig offenbaren, als der Exportumfang sogar unter den des Jahres 1844 fällt. 1849 erfolgt jedoch nicht nur eine Erholung, sondern der Stand von 1845, dem Jahr der höchsten Prosperität während des letzten Zyklus, ist bereits um 3 Millionen übertroffen, und die Exporte sinken während des neuen Zyklus nicht mehr auf das Niveau dieses Jahres herab. Das Maximum wird wieder 1857 erreicht, dem Jahr der Krise, dessen Agonien in den verringerten Exporten von 1858 zu registrieren sind. Aber schon 1859 wird das Maximum der Periode von 1847 bis 1857 zum Ausgangspunkt eines neuen wirtschaftlichen Zyklus - ein Punkt, auf den die Produktivkräfte wahrscheinlich nicht wieder zurückgehen werden. Wenn man die Tabellen A und B vergleicht, ist zu ersehen, daß die britischen Exporte bedeutend kleiner sind als die britischen Importe und daß diese Disproportion ebenso regelmäßig wächst wie der Umfang der Exporte. Dieses Phänomen ist nun von einigen englischen Autoren dahingehend interpretiert worden, als ob die unglücklichen Briten bei anderen Nationen in Schulden geraten oder billig verkaufen und teuer einkaufen und so einen Teil der Ergebnisse ihres Fleißes dem Ausland zum Geschenk machen. Die einfache Tatsache ist, daß Großbritannien in Gestalt von Importen von anderen Nationen etwas erhält, wofür es keinerlei Äquivalent geliefert hat. Das ist der Fall bei den indischen Tributen, die in verschiedenen Formen
32 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
erhoben werden, und bei anderen Lieferungen für Zinsen auf Kapital, das in früheren Perioden ausgeliehen wurde. Die wachsende Disproportion zwischen britischen Importen und Exporten beweist daher nur, daß England auf dem Weltmarkt seine Funktion als Geldverleiher noch rascher entwickelt als seine Funktion als Fabrikant und Kaufmann. Von den Importartikeln beanspruchen vier einige Aufmerksamkeit, nämlich: Edelmetalle, Getreide, Baumwolle und Wolle. Die Bewegungen in den britischen Importen und Exporten von Edelmetallen wurden von der „NewYork [Daily] Tribüne" bei früheren Gelegenheiten erklärt; sie bewies zur Zeit der letzten industriellen Krise anhand der offiziellen Zahlen, daß der Betrag der in Umlauf befindlichen Noten der Bank von England sich eher verringert als vermehrt hatte, seit die neuen Goldfelder eine Rolle spielen.1 Wir werden daher auf diesen Gegenstand nicht eingehen, sondern uns darauf beschränken, eine Tatsache darzulegen, die nach unserer Kenntnis von englischen Verfassern noch nicht erwähnt worden ist: Der Betrag des in einer Nation zirkulierenden Metallgeldes kann ungefähr aus den Operationen der Staats münze gefolgert werden. Um daher die Bewegung des Metallgeldes in Großbritannien während der Einwirkung der kalifornischen und australischen Goldminen festzustellen, geben wir die folgende Tabelle, die den Betrag des von der Königlichen Münze geprägten Metalls ausweist:
Betrag des Gold", Silber~ und Kupfergeldes, das in der Königlichen iviünze geprägi wurde (in Pfund Sterling) Jahre Gold Silber Kupfer Insgesamt 1844 3 563 949 626 670 7 246 4 197 865 1845 4 244 608 647 658 6 944 4 899 210 1846 4334 911 559 548 6 496 4 900 955 1847 5 158 440 125 730 8960 5 293 130 1848 2 451 999 35 442 2 688 2 490 129 1849 2177 955 119 592 1 792 2 299 339 1850 1 491 836 129 096 448 1 621 380 1851 4 400 411 87 868 3 584 4 491 863 1852 8 742 270 189 596 4312 8936 178 1853 11 952 391 701 544 10190 12 664 125 1854 4152 183 140 480 61 538 4 354 201 1855 9 008 663 195 510 41 091 9245 264 1856 6 002 114 462 528 11 418 6 476 060 1857 4 859 860 373 230 6 720 5 239 810 1858 1 231 023 445 896 13 440 1 690 359
1 Siehe Band 12 unserer Ausgabe, S. 544-548
Wir werden die Gesamtbeträge vergleichen, da die Silber- und Kupfermünzen lediglich als Ersatzmünzen für die Goldmünze anzusehen sind, so daß für die Beurteilung der gesamten Bewegung des Metallgeldes ganz gleichgültig ist, ob die Goldmünze selbst in Umlauf gebracht worden ist oder ob ihre Bruchteile durch Ersatzmünzen repräsentiert werden. Die fünfzehn Jahre, über die sich die obige Tabelle erstreckt, können in zwei fast gleiche Perioden eingeteilt werden, von denen die eine der Einwirkung der neuen Goldländer auf Großbritannien vorausgeht, während die andere durch das rasche Einfließen von Gold aus neuen Quellen charakterisiert ist. Die erste Periode datieren wir von 1844 bis 1850, die zweite von 1851 bis 1858, wobei das Jahr 1851 bemerkenswert ist wegen der beginnenden Wirksamkeit der Minen von Neusüdwales und Victoria sowie durch das ungeheure Ansteigen des kalifornischen Goldangebots, das von 11 700 Pfd. St. im Jahre 1848, 1 600 000 Pfd. St. im Jahre 1849, 5 000 000 Pfd. St. im Jahre 1850 auf 8 250 300 Pfd. St. im Jahre 1851 angewachsen war. Wenn man die Gesamtbeträge des gemünzten Metalls in der Periode von 1844 bis 1850 einerseits und in der Periode von 1851 bis 1858 andererseits addiert und dann den Jahresdurchschnitt jeder Periode errechnet, wird man feststellen, daß der Jahresdurchschnitt an Münzen sich in den ersten sieben Jahren auf 3 643 144 Pfd. St. belief, während er für die letzten acht Jahre die Summe von 7 137 782 Pfd. St. erreichte. Das Metallgeld in Großbritannien hat sich folglich während der Periode, in der die neuen Goldzufuhren einwirkten, um beinahe 100 Prozent erhöht. Das beweist sicherlich den Einfluß, den Kalifornien und Australien auf die Entwicklung des britischen Binnenhandels ausgeübt haben, aber es wäre ganz falsch zu folgern, daß der Metallgeldumlauf durch den Zufluß von neuem Gold unmittelbar gesteigert wurde. Ein Vergleich der einzelnen Jahre der beiden Perioden vor und nach den Goldfunden zeigt das Gegenteil. Im Jahre 1854 zum Beispiel fällt das Metallgeld unter den Stand von 1845 und 1846, und 1858 sinkt es weit unter das Niveau von 1844. Die Goldmenge, die in Gestalt von Münzen in Umlauf kommt, wird also nicht durch den Import von Goldbarren bestimmt; aber während der zweiten Periode wurde von den Goldimporten im Durchschnitt ein größerer Teil durch den inneren Geldumlauf absorbiert, weil Handel und Industrie sich allgemein ausgedehnt hatten; diese Ausdehnung kann jedoch in großem Maße auf die Wirkung der neuen Goldländer zurückgeführt werden.
Aus dem Englischen.
Karl Marx Kossuth und Louis~Napoleon(326)
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5748 vom 24. September 1859] London, 5.September 1859 Sie werden sich erinnern, daß ich vor etwa einem Jahre in den Spalten der „Tribüne" einige interessante Enthüllungen über einen gewissen Bangya machte, über seine Mission nach Tscherkessien und die Streitigkeiten, die hieraus zwischen der ungarischen und der polnischen Emigration in Konstantinopel entstanden.1 Obwohl die damals von mir mitgeteilten Tatsachen später ihren Weg in die europäische Presse fanden, ist niemals ein Versuch unternommen worden, ihre Richtigkeit zu bestreiten. Nun muß ich die Aufmerksamkeit Ihrer Leser auf ein anderes verborgenes Kapitel zeitgenössischer Geschichte lenken; ich meine damit die Verbindung zwischen Kossuth und Bonaparte. Es kann nicht länger geduldet werden, daß ein und dieselben Männer mit der einen Hand den Sold des Mörders der Französischen Republik empfangen und mit der anderen Hand das Banner der Freiheit hissen; daß sie zwei Rollen spielen, die der Märtyrer und die der Höflinge; daß sie, nachdem sie Werkzeuge eines grausamen Usurpators geworden sind, noch als die Vertreter einer unterdrückten Nation auftreten. Ich halte den gegenwärtigen Zeitpunkt für die Enthüllung mir schon lange bekannter Tatsachen besonders geeignet, da Bonaparte und seine Speichellecker ebenso wie Kossuth und seine Parteigänger emsig bemüht sind, einen Schleier über Transaktionen zu werfen, die unfehlbar den einen vor den Monarchen und den anderen vor den Völkern der Welt komprimittieren würden. Selbst die voreingenommensten Bewunderer von Herrn Kossuth werden zugeben müssen, daß, was auch seine anderen Eigenschaften sein mögen, er einer Fähigkeit leider immer ermangelt hat - der Beständigkeit. Während
1 Siehe Band 12 unserer Ausgabe, S. 166/167 und S. 475-482
seines ganzen Lebens ist er dem Improvisator, der seine Eindrücke von seinem Publikum empfängt, ähnlicher gewesen als dem Autor, der seine Originalideen der Welt aufdrückt. Diese Unbeständigkeit der Gedanken mußte sich in zweideutigen Handlungen widerspiegeln. Einige Tatsachen mögen die Wahrheit dieser Behauptung illustrieren. In Kutahia trat Herr Kossuth in eine vertrauliche Liaison mit Herrn David Urquhart, übernahm sofort die Vorurteile dieses romantischen Hochländers und zögerte nicht, über Mazzini das Urteil zu fällen, er sei ein russischer Agent. Er gelobte förmlich, sich von Mazzini fernzuhalten. Aber kaum in London angekommen, bildete er ein Triumvirat mit Mazzini und Ledru-Rollin[330]. Die unbestreitbaren Beweise seiner Doppelzüngigkeit wurden der britischen Öffentlichkeit in der zwischen L. Kossuth und David Urquhart geführten Korrespondenz dargelegt, die der letztere Gentleman in der Londoner „Free Press"[331] veröffentlicht hat. In der ersten Rede, die Herr Kossuth nach der Landung an der englischen Küste hielt, nannte er Palmerston seinen Busenfreund. Palmerston gab Kossuth durch Vermittlung eines bekannten Parlamentsmitgliedes1 seinen Wunsch zu verstehen, ihn in seinem Hause zu empfangen. Kossuth verlangte, von dem britischen Premierminister als Gouverneur von Ungarn empfangen zu werden, eine Forderung, die natürlich sofort verächtlich zurückgewiesen wurde. Herr Kossuth gab nun seinerseits der britischen Öffentlichkeit durch Herrn Urquhart und andere seiner Bekannten zu verstehen, daß erPalmerstons Einladung zurückgewiesen habe, weil er sich in Kutahia durch ein genaues Studium des Blaubuches über die ungarischen Angelegenheiten[332] überzeugt habe, daß Palmerston, sein „Busenfreund", im geheimen Einvernehmen mit dem Hofe von St. Petersburg den Verräter an dem „teuren Ungarn" gespielt habe. Im Jahre 1853, als eine mazzinische Erneutet333] in Mailand ausbrach, erschien an den Mauern jener Stadt eine Proklamation, die an die ungarischen Soldaten gerichtet war und sie aufforderte, sich auf die Seite der italienischen Aufständischen zu stellen; sie trug die Unterschrift von Ludwig Kossuth. Nachdem die Erneute fehlgeschlagen war, beeilte sich Herr Kossuth, durch die Londoner Zeitungen die Proklamation für eine Fälschung zu erklären und bezichtigte so seinen Freund Mazzini in aller Öffentlichkeit der Lüge. Nichtsdestoweniger war die Proklamation echt. Mazzini hatte im Einverständnis mit Kossuth gehandelt. In der festen Überzeugung, daß zum Sturz der österreichischen Tyrannei das vereinte Vorgehen Ungarns und Italiens unerläßlich sei, versuchte
Mazzini zunächst, Kossuth durch einen zuverlässigeren ungarischen Führer zu ersetzen, aber da seine Bemühungen an der Uneinigkeit in der ungarischen Emigration scheiterten, verzieh er großmütig seinem unsicheren Verbündeten und ersparte ihm eine Bloßstellung, die, Kossuths Stellung in England ruiniert hätte. Um näher an die Gegenwart heranzukommen, möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, daß Herr Kossuth im Herbst 1858 eine Reise durch Schottland unternahm, wobei er in verschiedenen Städten Vorträge hielt und die Briten ernstlich vor Louis Bonapartes verräterischen Absichten warnte. Nehmen Sie zum Beispiel den folgenden Auszug aus einem am 20. November 1858 in Glasgow gehaltenen Vortrag[334]:
„Ich habe", sagte Herr Kossuth, „bereits in meinem anderen Vortrag auf die Suppe von nationalem Haß hingewiesen, die Louis Bonaparte zusammenbraut. Ich will damit nicht behaupten, daß er eine Invasion in dieses Land beabsichtigt; ohne Zweifel möchte er, aber wie der Fuchs in der Fabel liebt er saure Trauben nicht. Es ist noch nicht lange her, daß Louis Bonaparte die Diplomatie der ganzen Welt - mit Ausnahme vielleicht der Herren von St. Petersburg, die sehr wahrscheinlich das ganze Geheimnis kennen an das Ende ihrer Weisheit brachte, indem er seine gigantischen Vorbereitungen in Cherbourg unter Opferung des letzten Schillings seiner geleerten Schatzkammer mit einer solchen Hast betrieb, als ob seine Existenz von einer gewonnenen Minute abhinge... Cherbourg bleibt weiterhin ein Bauwerk, allein gegen England gerichtet... Er erwägt einen neuen Konflikt im Osten im Verein mit Rußland. In diesem Konflikt will er die Bewegungsfreiheit der englischen Marine hemmen, indem er einen guten Teil davon an Ihre Küsten bindet, währenddessen er einen tödlichen Schlag gegen Ihre Lebensinteressen im Osten zu führen beabsichtigt... Der Krimkrieg, wurde er den Interessen Großbritanniens und der Türkei entsprechend abgeschlossen? Die Walachei und Moldau erhielten eine Verfassung, die in den Höhlen der Geheimdiplomatie, diesem Fluch unseres Zeitalters, ausgebrütet wurde, eine Verfassung, von Bonaparte im Einvernehmen mit Rußland und Österreich ersonnen - fürwahr allesamt glühende Freunde der Völkerfreiheit! Sie ist in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger als ein Freibrief für Rußland, der ihm die freie Verfügung über die Fürstentümer überläßt... Mehr noch! Hat Bonaparte, der teure Verbündete, nicht seine Offiziere nach Montenegro entsandt, um den wilden Bergbewohnern die Handhabung des Gewehrs beizubringen?... Sein Sinn steht nach einem neuen Frieden von Tilsit, falls er ihn nicht schon in der Tasche hat."
Das war Kossuths öffentliche Kritik an Bonaparte, seinem teuren Verbündeten, im Herbst 1858. Noch zu Beginn des Jahres 1859, als Bonapartes Pläne für seinen italienischen Freiheits-Kreuzzug Gestalt angenommen hatten, klagte derselbe Kossuth in glühender Sprache in Mazzinis „Pensiero ed Azione" den holländischen Schwindler an und warnte alle
wahren Republikaner, Italiener, Ungarn, selbst Deutsche, sich nicht als Katzenpfoten von dem imperialistischen Quasimodo gebrauchen zu lassen. Mit einem Wort, er gab nur Mazzinis Ansichten wieder, die letzterer erneut in seinem Manifest vom 16. Mai1 proklamierte, an denen er während des Kreuzzugs von Bonaparte festhielt und die er am Ende des Krieges in einem anderen Manifest, das die „Tribüne" abdruckte, siegesbewußt wiederholte. Kossuth durchschaute damals, im Januar 1859, nicht nur den bonapartistischen Betrug, sondern tat alles in seiner Macht stehende, um ihn vor der Welt zu entlarven. Er drängte die „liberale Presse" in diese Richtung, über die nachher die Werkzeuge Bonapartes als „einem plötzlichen Ausbruch" von „antinapoleonischer Raserei" staunten und die sie als ein Symptom von krankhafter „Sympathie für Österreich" brandmarkten. Aber in der Zeit zwischen Januar 1859 und Mai 1859 erfolgte eine seltsame Revolution in den Gefühlen und Ideen des großen Improvisators. Er, der im Herbst 1858 eine Vortragsreise durch Schottland unternommen hatte, um die Briten vor Napoleons abscheulichen Absichten zu warnen, begab sich im Mai 1859 vom Londoner Mansion-House[193] aus auf eine neue Vortragsreise bis zur Free-Trade-Hall in ManchesterI335], um Vertrauen zu dem Dezembermann zu predigen und unter dem Vorwand, für Neutralität einzutreten, die Briten auf die Seite des kaiserlichen Gauners zu locken. Seine eigene Neutralität bewies er bald darauf in nicht mißzuverstehender Weise. Nun, diese Erinnerungen, die ich nach Belieben fortsetzen könnte, sollten in den Gemütern von Kossuths ehrlichen Bewunderern einige Zweifel erwecken - in solchen Männern, die weder durch blinde Verehrung eines Namens noch durch schmutziges Interesse an den demokratischen Granden gebunden sind. Auf alle Fälle werden sie nicht leugnen, daß die Tatsachen, die ich jetzt berichten will, keinesfalls unvereinbar scheinen mit der Vergangenheit des vermeintlichen Helden der Freiheit. Es gab drei ungarische Führer in Paris, die dem erlauchten Plon-Plon, alias Prince Rouge2, den Hof machten, diesem Sprößling der bonapartistischen Familie, dem das Los zugefallen ist, in derselben Weise mit der Revolution zu kokettieren, wie sein größerer Cousin mit „Religion, Ordnung und Eigentum" schäkert. Diese drei Männer waren Oberst Kiss, Graf Teleki und General Klapka. Plon-Plon ist, das sei en passant gesagt, wollüstig wie Heliogabalus, feige wie Iwan III. und falsch wie ein echter Bonaparte, aber
bei alledem ein homme d'esprit1, wie die Franzosen sagen. Diese drei Herren überredeten Plon-Plon» dem das wahrscheinlich keineswegs überraschend kam, mit Kossuth in Verhandlungen einzutreten, ihn nach Paris einzuladen und ihm sogar zu versprechen, den Ex-Gouverneur von Ungarn dem hinterlistigen Herrscher der Tuilerien vorzustellen. Daraufhin verließ Herr Kossuth, versehen mit einem englischen Paß, in dem er als Mr. Brown bezeichnet wurde, Anfang Mai London, um nach Paris zu gehen. In Paris hatte er zuerst eine lange Unterredung mit PlonPlon, dem er seine Pläne darlegte, wie in Ungarn eine Insurrektion entfacht werden könne, wenn 40 000 Franzosen, unterstützt von einem Korps magyarischer Flüchtlinge, an der Küste von Fiume landeten; außerdem unterbreitete er ein Anliegen, das in seiner patriotischen Seele den ersten Platz einzunehmen schien, nämlich die Bildung, wenn auch nur des Ansehens wegen, einer provisorischen Regierung mit Herrn Kossuth an der Spitze. Am Abend des 3. Mai geleitete Plon-Plon in seinem eigenen Wagen Herrn Kossuth in die Tuilerien, um ihn dort dem Dezembermann vorzustellen. Während dieser Zusammenkunft mit Louis Bonaparte verzichtete Herr Kossuth darauf, sich seiner großen rhetorischen Fähigkeiten zu bedienen, und gestattete Plon-Plon, als sein Wortführer aufzutreten. Er spendete ihm später ein freundliches Kompliment für die fast wörtliche Genauigkeit, mit der der Prinz seine Ansichten wiedergegeben hatte. Nachdem Louis Bonaparte der Darlegung seines Vetters aufmerksam zugehört hatte, erklärte er, der Annahme von Kossuths Vorschlägen durch ihn stehe ein großes Hindernis im Wege, nämlich dessen republikanische Prinzipien und republikanische Verbindungen. Da geschah es, daß Herr Kossuth höchst feierlich dem republikanischen Glauben abschwor und beteuerte, daß er weder jetzt Republikaner sei, noch es je gewesen, daß allein politische Notwendigkeit und eine sonderbare Verkettung von Umständen ihn gezwungen hätten, sich vorübergehend mit der republikanischen Partei der europäischen Emigration zu verbinden. Gleichzeitig bot er zum Beweis seiner antirepublikanischen Gesinnung im Namen seines Landes dem Prinzen Plon-Plon die ungarische Krone an. Zwar war die Krone, über die er so verfügte, noch gar nicht vakant geworden, und er besaß keinerlei Vollmacht, sie zu verschachern; aber wer Herrn Kossuths Auftreten im Ausland aufmerksam beobachtet hat, muß gewahr geworden sein, daß er seit langem daran gewöhnt ist, vom „teuren Ungarn" zu sprechen wie ein Krautjunker von seinem Landgut.
Die Verleugnung des Republikanismus durch Herrn Kossuth halte ich für aufrichtig. Eine Zivilliste von 300 000 Gulden, die er in Pest für die Aufrechterhaltung des Glanzes der Exekutive beanspruchte; das Patronat über die Krankenhäuser, das von einer österreichischen Erzherzogin auf seine eigene Schwester übertragen wurde; der Versuch, einigen Regimentern seinen Namen zu geben; sein Streben, sich mit einer Kamarilla zu umgeben; die Hartnäckigkeit, mit der er sich während seines Aufenthaltes im Ausland an den Gouverneurtitel klammerte, obgleich er ihn in der Zeit der ungarischen Katastrophe niedergelegt hatte; sein ganzes Auftreten, viel mehr das eines Prätendenten als das eines Flüchtlings - alles dies deutet auf Tendenzen, die dem Republikanismus fremd sind. Wie dem auch sein mag, ich versichere ausdrücklich, daß Ludwig Kossuth vor dem französischen Usurpator dem Republikanismus abgeschworen und in Gegenwart des Dezembermannes die ungarische Krone Plon-Plon, dem bonapartistischen Sardanapal, angeboten hat. Einiges ziemlich leichtfertiges Geschwätz über die Tatsache seiner Unterredung mit Bonaparte in den Tuilerien mag Anlaß zu dem notorisch falschen Gerücht gegeben haben, daß Kossuth die geheimen Pläne seiner republikanischen Ex-Verbündeten verraten habe. Er war nicht aufgefordert worden, ihre vermutlichen Geheimnisse preiszugeben, noch würde er auf einen solchen schändlichen Vorschlag eingegangen sein. Nachdem es ihm gelungen war, Louis-Napoleons Besorgnisse hinsichtlich seiner republikanischen Neigungen völlig zu zerstreuen, und nachdem er zugesichert hatte, sich für die dynastischen Interessen der Bonapartes einzusetzen, wurde ein Handel abgeschlossen, durch den Herrn Kossuth drei Millionen Francs zur Verfügung gestellt wurden. In dieser Abmachung lag an und für sich nichts Verfängliches, denn zur militärischen Organisation der ungarischen Emigration waren Geldmittel nötig, und warum sollte Herr Kossuth von seinem neuen Verbündeten nicht mit demselben Recht Subsidien empfangen, mit dem alle despotischen Mächte Europas während des ganzen Verlaufs des Antijakobinerkrieges Subsidien von England empfingen? Ich kann jedoch die Tatsache nicht verschweigen, daß von den so zur Verfügung gestellten Millionen Herr Kossuth sofort für seine persönlichen Ausgaben die recht hübsche Summe von 75 000 Francs in Anspruch nahm und außerdem eine Jahrespension für sich festsetzte, falls der italienische Krieg enden sollte, ohne daß er zur Invasion in Ungarn geführt hat. Bevor Herr Kossuth die Tuilerien verließ, kam man überein, daß er den angeblich österreichischen Tendenzen des Derby-Ministeriums durch Eröffnung einer Neutralitätskampagne in England entgegenwirken solle. Es ist allgemein bekannt, wie bei seiner Rückkehr in das perfide
Albion[401 die spontane Unterstützung der Whigs und der Manchesterschule [3361 ihm die erfolgreiche Erfüllung dieses ersten Teils seiner Verpflichtung ermöglichte. Seit 1851 hatte sich der größte Teil der ungarischen Emigranten von Bedeutung und politischem Ansehen von Herrn Kossuth getrennt, aber teils infolge der Aussicht auf eine Invasion in Ungarn mit Hilfe französischer Truppen, teils durch die logische Anziehungskraft der drei Millionen Francs - da die Welt, wie der echte Napoleon in einem seiner Anfälle von Zynismus sagte, von „le petit ventre"1 regiert wird - scharte sich, von einigen wenigen ehrenvollen Ausnahmen abgesehen, die ganze ungarische Emigration in Europa um die bonapartistischen Banner, die von Ludwig Kossuth gehißt wurden. Daß die Transaktionen, in die er sich mit ihnen einließ, einen dezembristischen Beigeschmack von Korruption hatten, kann nicht geleugnet werden, da er, um seinen neugewonnenen Parteigängern eine größere Menge des französischen Geldes zuweisen zu können, sie zu höheren militärischen Rängen beförderte: Leutnante z. B. avancierten in den Majorsrang. Zunächst erhielt jeder von ihnen seine Reisekosten nach Piemont, dann eine prächtige Uniform (die Kosten einer Majorsuniform betrugen 150 Pfd. St.) und sechs Monate Sold im voraus, mit dem Versprechen, daß bei Friedensschluß ein Jahressold gezahlt werde. Der sogenannte Obergeneral erhielt ein Salär von 10 000 frs., die Generale jeder 6000 frs., die Brigadekommandeure 5000 frs., die Oberstleutnante 4000 frs„ die Majore 3000 frs. usw. Die Namen der prominenteren Persönlichkeiten, die sich mit Kossuth verbündeten und bonapartistisches Geld einsteckten, sind folgende: die Generale Klapka, Perczel, Vetter, Czecz; die Obersten Szabö, Emerich und Etienne, Kiss, Graf A.Teleki, Graf Bethlen, Mednyänszky, Ihäsz und einige Oberstleutnante und Majore. Unter den Zivilisten möchte ich erwähnen Graf L.Teleki, Puky, Pulszky, Iränyi, Ludvigh, Simonyi, Henszelman, Veres und andere - in der Tat, alle ungarischen Flüchtlinge, die in England und auf dem Kontinent leben, mit der alleinigen Ausnahme von S.Vukovics (in London oder Axminster), Ronay (in London, ein ungarischer Gelehrter) und B.Szemere (in Paris, früher ungarischer Ministerpräsident). Nun, es wäre ungerecht anzunehmen, daß alle diese Männer aus korrupten Motiven handelten. Die Mehrheit besteht wahrscheinlich aus einfachen Betrogenen - patriotischen Soldaten, von denen man nicht erwarten kann,
daß sie klare politische Prinzipien besitzen oder den Scharfsinn, die diplomatischen Ränke zu durchschauen. Einige, wie General Perczel, zogen sich sofort zurück, als die Ereignisse Licht in die bonapartistischen Betrügereien gebracht hatten. Ludwig Kossuth jedoch, der noch im Januar 1859 durch seine Artikel in Mazzinis „Pensiero ed Azione" sich als kompetenter Beurteiler der Pläne Bonapartes erwiesen hatte, kann keinesfalls in der gleichen Weise entschuldigt werden.
Aus dem Englischen.
Karl Mars
Der neue chinesische Krieg
I
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5750 vom 27. September 1859] London, 13. September 1859 Zu der Zeit, da England allgemein dazu beglückwünscht wurde, den „Himmlischen" den Vertrag von Tientsintl80] abgerungen zu haben, versuchte ich zu zeigen1, daß Rußland tatsächlich die einzige Macht war, die aus dem räuberischen englisch-chinesischen Krieg Nutzen zog und daß die kommerziellen Vorteile, die sich aus dem Vertrag für England ergaben, ziemlich bedeutungslos waren, während dieser Vertrag in politischer Hinsicht, weit davon entfernt, Frieden zu schaffen, im Gegenteil die Wiederaufnahme des Krieges unvermeidlich machte. Der Gang der Ereignisse hat diese Ansichten vollauf bestätigt. Der Vertrag von Tientsin gehört schon der Vergangenheit an, und das Trugbild des Friedens ist der rauhen Realität des Krieges gewichen.[337] Lassen Sie mich zuerst die Tatsachen darlegen, wie sie in der letzten Überlandpost mitgeteilt werden. In Begleitung von Herrn de Bourboulon, dem französischen bevollmächtigten Vertreter, brach der ehrenwerte Herr Bruce mit einer britischen Expedition auf, die den Peiho aufwärts fahren und die beiden Gesandten auf ihrer Mission nach Peking begleiten sollte. Die Expedition, die unter dem Kommando von Admiral Hope stand, bestand aus sieben Dampfern, zehn Kanonenbooten, zwei Truppen- und Proviantschiffen und aus einigen hundert Marine- und Geniesoldaten. Die Chinesen ihrerseits hatten Einspruch dagegen erhoben, daß die Mission gerade diese Route einschlug. Infolgedessen fand Admiral Hope die Mündung des Peiho mit Stangen und Pfählen blockiert und nachdem er neun Tage lang, vom 17. bis zum 25. Juni, an der Mündung dieses Flusses gewartet hatte, versuchte er, die Durchfahrt zu erzwingen, nachdem die
1 Siehe Band !2 unserer Ausgabe, S. 584-589 und S. 621-625
Bevollmächtigten am 20. Juni bei dem Geschwader eingetroffen waren. Admiral Hope hatte sich bei seiner Ankunft vor der Peiho-Mündung vergewissert, daß die Taku-Forts, die im letzten Krieg zerstört wurden, wiederaufgebaut waren, eine Tatsache, die er - en passant gesagt - schon vorher hätte wissen müssen, da sie in der „Peking Gazette" t338] offiziell bekanntgegeben worden war. Als die Briten am 25. Juni versuchten, die Einfahrt in den Peiho zu erzwingen, wurden die Taku-Batterien demaskiert und eröffneten, unterstützt von einer Mongolenstreitmacht von anscheinend 20 000 Mann, ein verheerendes Feuer auf die britischen Schiffe. Es kam zu einem Gefecht zu Lande und auf dem Wasser, das mit einer völligen Niederlage der Aggressoren endete. Die Expedition mußte sich zurückziehen, nachdem sie drei englische Kriegsschiffe, „Cormorant", „Lee" und „Plover", und auf britischer Seite 464 Tote und Verwundete verloren hatte, während von den 60 anwesenden Franzosen 14 getötet oder verwundet worden waren. Fünf englische Offiziere wurden getötet und 23 verwundet, und der Admiral selbst kam nicht unverletzt davon. Nach dieser Niederlage kehrten die Herren Bruce und de Bourboulon nach Schanghai zurück, während das britische Geschwader bei Tinghai gegenüber Ningpo vor Anker ging. Als man in England diese unersprießlichen Nachrichten erhielt, bestieg die Palmerston-Presse sofort den britischen Löwen und erhob ein einstimmiges Gebrüll nach umfassender Rache. Die Londoner „Times" befleißigte sich natürlich, ihren Appellen an die blutigen Instinkte ihrer Landsleute den Anschein einer gewissen Würde zu verleihen, aber die niedrigere Sorte der Palmerston-Organe spielte in ganz grotesker Weise die Rolle des Orlando furioso. Hören Sie zum Beispiel den Londoner „Daily Telegraph"t339]:
„Großbritannien muß die Seeküste Chinas auf ihrer ganzen Länge angreifen, in die Hauptstadt eindringen, den Kaiser aus seinem Palast jeigen und sich eine materielle Garantie gegen künftige Überfälle verschaffen... Wir müssen jeden drachengeschmückten Beamten, der es wagt, unseren nationalen Symbolen mit Verachtung zu begegnen, mit der neunschwänzigen Katze behandeln... Jeder einzelne von ihnen" (den chinesischen Generalen) „muß als Pirat und Mörder an die Nock eines britischen Kriegsschiffs geknüpft werden. Es wäre ein erfrischendes und heilsames Schauspiel - ein Dutzend beknöpfter Schurken mit den Viseigen von Menschenfressern und der Kleidung von Hanswursten, die vor den Augen der Bevölkerung baumeln. So oder anders muß man Schrecken einflößen, denn Nachgiebigkeit haben wir schon mehr als genug geübt... Man muß jetzt den Chinesen beibringen, die Engländer zu schätzen, die über ihnen stehen und die ihre Herren sein sollten... Wir müssen versuchen, wenigstens
Peking zu besetzen, und wenn wir mutiger vorgehen, muß darauf die Eroberung Kantons für alle Zeiten folgen. Wir könnten Kanton ebenso behalten, wie wir Kalkutta besitzen, es zum Zentrum unseres Fernosthandels machen, den von Rußland erworbenen Einfluß an der tartarischen Grenze des Kaiserreiches auf diese Weise kompensierenund den Grundstein für ein neues Dominion legen."
Lassen Sie mich nun von den Rasereien der Schreiberlinge Palmerstons zu den Tatsachen zurückkehren und, soweit es bei den gegenwärtigen dürftigen Informationen möglich ist, die wahren Hintergründe des unangenehmen Ereignisses aufdecken. Auch wenn man davon ausgeht, daß der Vertrag von Tientsin die umgehende Einreise des englischen Gesandten nach Peking vorsieht, muß man doch vor allem die Frage beantworten, ob die chinesische Regierung einen Bruch dieses Vertrages, der ihr durch einen räuberischen Krieg aufgezwungen wurde, begangen hat, als sie sich dem gewaltsamen Eindringen eines britischen Geschwaders in den Peiho widersetzte. Wie aus den durch die Überlandpost übermittelten Nachrichten ersichtlich ist, protestierte die chinesische Regierung nicht gegen die Entsendung einer britischen Mission nach Peking, sondern dagegen, daß die britische Kriegsflotte in den Peiho eindringt. Sie schlug vor, Herr Bruce Solle auf dem Landwege nach Peking reisen, ohne Begleitung durch eine Kriegsflotte, die von den „Himmlischen", denen das Bombardement Kantonsf340J noch in frischer Erinnerung war. nur als Instrument der Invasion angesehen werden konnte. Schließt das Recht des französischen Botschafters, sich in London aufzuhalten, das Recht ein, an der Spitze einer bewaffneten französischen Expedition die Einfahrt in die Themse zu erzwingen? Man wird sicher zugeben müssen, daß eine derartige Auslegung der Zulassung eines britischen Gesandten nach Peking durch die Engländer mindestens ebenso merkwürdig anmutet wie die von ihnen während des letzten chinesischen Krieges gemachte Entdeckung, daß die Beschießung einer Stadt dieses Reiches keinen Krieg gegen dieses Reich selbst bedeute, sondern nur einen lokalen Konflikt mit einer seiner Provinzen. Als Antwort auf die Proteste der „Himmlischen" haben die Briten nach ihrer eigenen Aussage „alle Maßnahmen getroffen, um im Bedarfsfalle den Zugang nach Peking mit Gewalt zu erzwingen", indem sie mit einem ausreichend starken Geschwader den Peiho aufwärts fahren. Selbst wenn die Chinesen verpflichtet gewesen wären, einen friedfertigen britischen Gesandten nach Peking zu lassen, so waren sie zweifellos berechtigt, sich der bewaffneten Expedition der Engländer zu widersetzen. Durch dieses Vorgehen haben sie nicht den Vertrag verletzt, sondern seine Verletzung vereitelt.
Weiter. Selbst wenn den Briten durch den Vertrag von Tientsin das abstrakte Recht, eine Gesandtschaft zu unterhalten, gewährt wurde, so bleibt noch zu klären, ob nicht Lord Elgin auf den tatsächlichen Genuß dieses Rechts vorerst verzichtet hatte. Eine Durchsicht der „Correspondence relating to the Earl of Elgin's special mission to China, printed by command of Her Majesty" wird jeden unvoreingenommenen Leser davon überzeugen, daß erstens die Zulassung des englischen Gesandten nach Peking nicht jetzt, sondern zu einem viel späteren Zeitpunkt erfolgen sollte; zweitens, daß sein Recht auf Residenz in Peking durch verschiedene Klauseln eingeschränkt war; und schließlich, daß der diktatorische Artikel III im englischen Text des Vertrages, der sich auf die Zulassung des Gesandten bezog, auf Ersuchen des chinesischen Bevollmächtigten im chinesischen Text des Vertrages geändert worden war. Diese Diskrepanz zwischen den zwei Versionen des Vertrages wird von Lord Elgin selbst zugegeben, der jedoch, wie er sagt,
„durch seine Instruktionen gezwungen war, von den Chinesen zu verlangen, daß sie als gültige Fassung eines internationalen Abkommens einen Text annahmen, von dem sie nicht eine Silbe verstanden".
Kann man den Chinesen Schuld geben, weil sie auf Grund des chinesischen Textes und nicht der englischen Fassung des Vertrages gehandelt haben, die nach Lord Elgins Eingeständnis etwas von „dem korrekten Sinn der Übereinkunft" abweicht? Abschließend möchte ich feststellen, daß Herr T. Chisholm Anstey, der ehemalige britische Generalstaatsanwalt in Hongkong, in einem von ihm an den Redakteur des Londoner „Morning Star"[341] gerichteten Brief in aller Form erklärt: „Der Vertrag, wie er auch immer sein mag, ist längst durch die Gewalttaten der britischen Regierung und ihrer Untergebenen gebrochen worden, zumindest in einem solchen Maße, daß dadurch die Krone Großbritanniens jeden Vorteil oder jedes Privileg verliert, das durch den Vertrag gewährt wurde."
England, das auf der einen Seite durch die Schwierigkeiten in Indien geplagt wird und auf der anderen Seite rüstet, um im Falle eines europäischen Krieges vorbereitet zu sein, wird durch diese neue chinesische Katastrophe, die wahrscheinlich von Palmerston selbst eingerührt wurde, großen Gefahren ausgesetzt. Das unmittelbare Ergebnis muß der Zusammenbruch der jetzigen Regierung sein, deren Haupt1 der Urheber des letzten chine
sischen Krieges war, während dagegen ihre wichtigsten Mitglieder damals ein Tadelsvotum gegen ihren derzeitigen Chef abgegeben hatten, weil er diesen Krieg unternommen hatte. Auf alle Fälle müssen Herr Milner Gibson und die Manchesterschule13361 sich entweder aus der gegenwärtigen liberalen Koalition zurückziehen oder - was recht unwahrscheinlich ist im Verein mit Lord Russell, Herrn Gladstone und den Peeliten[342] unter seinen Kollegen ihren Chef zwingen, sich ihrer eigenen Politik zu fügen.
II
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5754 vom 1. Oktober 1859] London, 16. September 1859 Für morgen ist eine Kabinettssitzung anberaumt, um den Kurs zu beschließen, der hinsichtlich der chinesischen Katastrophe eingeschlagen werden soll. Die Elaborate des französischen „Moniteur" und der Londoner „Times" lassen keinen Zweifel an der Art der Beschlüsse, zu denen Palmerston und Bonaparte gelangt sind. Sie wollen einen neuen chinesischen Krieg. Nach Informationen, die mir aus authentischer Quelle zugegangen sind, wird Herr Milner Gibson in der bevorstehenden Kabinettssitzung zuerst die Stichhaltigkeit der für einen Krieg ins Feld geführten Argumente anfechten und zweitens gegen jede Kriegserklärung protestieren, die nicht vorher von beiden Häusern des Parlaments gebilligt worden ist. Sollte seine Auffassung durch Stimmenmehrheit abgelehnt werden, so wird er aus dem Kabinett austreten und damit wiederum das Signal zu einem neuen heftigen Angriff gegen die Regierung Palmerstons geben und zur Sprengung der liberalen Koalition, die seinerzeit den Sturz des Kabinetts Derby herbeigeführt hatte. Palmerston soll etwas nervös sein wegen des beabsichtigten Vorgehens von Herrn Milner Gibson, des einzigen seiner Kollegen, den er fürchtet und den er wiederholt als einen Menschen bezeichnet hat, der es besonders gut verstehe, „einem etwas am Zeüge zu flicken". Möglicherweise werden Sie gleichzeitig mit diesem Brief aus Liverpool die Nachrichten über die Ergebnisse der Kabinettssitzung erhalten. Inzwischen kann man sich über den wahren Sachverhalt der fraglichen Angelegenheit am besten ein Urteil bilden, nicht auf Grund des veröffentlichten Materials, sondern auf Grund dessen, was die PalmerstonOrgane bei ihrer ersten Veröffentlichung der mit der letzten Überlandpost eingetroffenen Nachrichten absichtlich verschwiegen haben.
Zunächst einmal verschwiegen sie die Meldung, daß der russische Vertrag bereits ratifiziert war und daß der Kaiser von China seine Mandarine angewiesen hatte, die amerikanischen Gesandten zu empfangen und in die Hauptstadt zu geleiten, um die ratifizierten Exemplare des Vertrages mit Amerika auszutauschen[343]. Diese Tatsachen wurden mit der Absicht verschwiegen, den notwendig aufkommenden Verdacht zu entkräften, daß die englischen und französischen Gesandten und nicht der Pekinger Hof für die Schwierigkeiten verantwortlich seien, die sich ihnen bei der Erfüllung ihrer Mission in den Weg stellten und denen weder ihre russischen noch ihre amerikanischen Kollegen begegneten. Der andere, noch wichtigere Umstand, den die „Times" und die anderen Palmerston-Organe anfänglich verschwiegen hatten, ist die jetzt von ihnen offen zugegebene Tatsache, daß die chinesischen Behörden ihre Bereitschaft erklärt hatten, die englischen und französischen Gesandten nach Peking zu geleiten, daß sie tatsächlich bereit standen, sie an einer der Flußmündungen zu empfangen, und ihnen eine Eskorte anboten, wenn sie sich nur bereit erklären wollten, ihre Schiffe und Truppen zurückzulassen. Da nun der Vertrag von Tientsin keine Klausel enthält, die den Engländern und Franzosen das Recht zubilligt, mit einem Geschwader von Kriegsschiffen den Peiho aufwärts zu fahren, ist es offensichtlich, daß nicht die Chinesen, sondern die Engländer den Vertrag verletzt haben und daß die letzteren von vornherein entschlossen waren, kurz vor dem Zeitpunkt, der für den Austausch der ratifizierten Urkunden festgesetzt war, einen Streit vom Zaun zu brechen. Niemand wird auf die Idee kommen, daß der ehrenwerte Herr Bruce auf eigene Verantwortung handelte, als er auf diese Weise das vorgebliche Ziel des letzten chinesischen Krieges vereitelte; er führte im Gegenteil lediglich geheime Instruktionen aus London aus. Es stimmt zwar, daß Herr Bruce nicht von Palmerston, sondern von Derby entsandt worden war; aber in diesem Zusammenhang brauche ich doch nur daran zu erinnern, daß während der ersten Amtsperiode Sir Robert Peels, als Lord Aberdeen Außenminister war, Sir Henry Bulwer, der englische Gesandte in Madrid, einen Streit mit dem spanischen Hof vom Zaun brach, der seine Ausweisung aus Spanien zur Folge hatte, und daß im Verlauf der Debatten im Oberhaus über dieses „unliebsame Vorkommnis" bewiesen wurde, daß Bulwer, anstatt die offiziellen Instruktionen Aberdeens zu befolgen, nach den Geheiminstruktionen Palmerstons gehandelt hatte, der damals der Opposition angehörte.
Außerdem hat die Palmerston-Presse in diesen Tagen ein Manöver vollführt, das zumindest für diejenigen, die mit der Geschichte der englischen Geheimdiplomatie der letzten dreißig Jahre vertraut sind, keinen
33 Marx/Engels, Werke, Bd. 13
Zweifel daran läßt, wer der wirkliche Urheber der Peiho-Katastrophe und des bevorstehenden dritten englisch-chinesischen Krieges ist. Die „Times" deutet an, daß die in den Taku-Forts aufgestellten Kanonen, die eine solche Verheerung unter dem britischen Geschwader angerichtet hatten, russischen Ursprungs waren und von russischen Offizieren befehligt wurden. Ein anderes Palmerston-Organ wird noch deutlicher. Ich zitiere:
„Wir sehen jetzt, wie eng die Politik Rußlands mit der Politik Pekings verflöchten ist; wir entdecken große Bewegungen am Amur; wir beobachten die Operationen großer Kosakenarmeen weit über den Baikalsee hinaus in dem froststarren Traumland an den dämmrigen Grenzen der Alten Welt; wir verfolgen die Spuren zahlloser Karawanen; wir beobachten, wie ein russischer Sonderbeauftragter (General Murawjow, Gouverneur von Ostsibirien) mit geheimen Plänen aus dem fernen Ostsibirien nach der unzugänglichen chinesischen Hauptstadt unterwegs ist; und die öffentliche Meinung hierzulande kann sehr wohl bei dem Gedanken in Wallung geraten, daß ausländische Einflüsse mitschuldig sind an unserer Schmach und dem Tod unserer Soldaten und Matrosen."[344] Das ist ein alter Trick von Lord Palmerston. Als Rußland einen Handelsvertrag mit China abschließen wollte, trieb er China durch den Opiumkriegt345] seinem nördlichen Nachbarn in die Arme; als Rußland die Abtretung des Amur verlangte, brachte er dies durch den zweiten chinesischen Krieg13461 zuwege; und jetzt, da Rußland seinen Einfluß in Peking festigen will, improvisiert er den dritten chinesischen Krieg. In all seinen Handlungen gegenüber den schwachen asiatischen Staaten, wie China, Persien, Zentralasien und der Türkei, verfuhr er stets und ständig nach der Regel, Rußlands Plänen scheinbar entgegen zu handeln, indem er nicht mit Rußland, sondern mit dem betreffenden asiatischen Staat einen Streit vom Zaun brach, um ihn dann durch räuberische Überfälle England zu entfremden und auf diesem Umweg zu den Konzessionen zu drängen, die er Rußland zu gewähren vorher nicht gewillt war. Sicherlich wird bei dieser Gelegenheit die gesamte bisherige Asienpolitik Palmerstons erneut überprüft werden, und ich verweise besonders auf die afghanischen Dokumentet3471, deren Veröffentlichung das Unterhaus am 8. Juni 1859 angeordnet hatte. Sie werfen mehr Licht auf Palmerstons unheilvolle Politik und auf die Geschichte der Diplomatie in den letzten dreißig Jahren als alle bis dahin veröffentlichten Dokumente. Kurz gesagt geht es hier um folgendes: 1838 begann Palmerston gegen Dost Muhammad, den Herrscher von Kabul, einen Krieg, der zur Vernichtung einer englischen Armee führte und der unter dem Vorwand begonnen worden war, Dost Muhammad sei mit Persien und Rußland ein geheimes Bündnis gegen England eingegangen.13481 Als Beweis für
diese Behauptung legte Palmerston 1839 dem Parlament ein Blaubuch13491 vor, dessen Hauptinhalt die Korrespondenz des britischen Gesandten in Kabul, Sir A. Burnes, mit der Regierung in Kalkutta bildete. Burnes wurde in Kabul während eines Aufstandes gegen die britischen Eindringlinge ermordet, hatte aber aus Mißtrauen gegen den britischen Außenminister seinem Bruder in London, Dr. Burnes, Kopien einiger seiner offiziellen Briefe geschickt. Nach der von Palmerston besorgten Veröffentlichung der „Afghanischen Dokumente" im Jahre 1839 beschuldigte Dr. Burnes Palmerston, „die Korrespondenz des verstorbenen Sir A. Burnes verstümmelt und verfälscht"13501 zu haben, und zur Bekräftigung seiner Behauptung ließ er einige der echten Schriftstücke drucken. Aber erst im vergangenen Sommer kam die Wahrheit ans Licht. Unter dem Kabinett Derby ordnete das Unterhaus auf Antrag von Herrn Hadfield an, alle afghanischen Dokumente vollinhaltlich zu veröffentlichen, und diese Anordnung wurde in einer Form ausgeführt, die auch dem Einfältigsten die Richtigkeit der Beschuldigung, die Dokumente seien im Interesse Rußlands verstümmelt und verfälscht worden, vor Augen führte. Auf der Titelseite des Blaubuchs steht folgendes: „Zur Beachtung: Die Korrespondenz, die in früheren Ausgaben nur auszugsweise wiedergegeben wurde, wird hier vollinhaltlich veröffentlicht. Die ausgelassenen Stellen sind durch Klammern < ) kenntlich gemacht." Der Name des Beamten, der für die wahrheitsgetreue Wiedergabe bürgt, ist „J. W. Kaye, Sekretär der Abteilungen für politische und vertrauliche Angelegenheiten", der als der „zuverlässige Geschichtsschreiber des Krieges in Afghanistan" gilt. Ein Beispiel mag vorläufig genügen, um die wirklichen Beziehungen Palmerstons zu Rußland zu veranschaulichen, gegen das er den afghanischen Krieg inszeniert haben will. Der russische Sonderbeauftragte Witkewitsch, der 1837 in Kabul eintraf, überbrachte Dost Muhammad einen Brief des Zaren. Sir Alexander Burnes gelangte in den Besitz einer Kopie des Briefes und schickte sie an Lord Auckland, den Generalgouverneur von Indien. In seinen eigenen Depeschen und in mehreren Dokumenten, die er beifügte, wird auf diese Tatsache immer und immer wieder hingewiesen. Aber die Kopie des Zarenbriefs war in den Dokumenten, die Palmerston 1839 vorlegte, völlig unterschlagen worden, und in jedem Schriftstück, das darauf Bezug nahm, wurden die notwendigen Änderungen vorgenommen, um die Tatsache zu vertuschen, daß der „Kaiser von Rußland" mit der Mission nach Kabul im Zusammenhang stand. Diese Fälschung wurde begangen,
um das Beweisstück für die Verbindung des Selbstherrschers mit Witkewitsch zu unterschlagen, den nach seiner Rückkunft nach Petersburg formell zu desavouieren Nikolaus für angebracht hielt. So findet man zum Beispiel auf Seite 82 des Blaubuchs die Übersetzung eines Briefes an Dost Muhammad, der jetzt folgendermaßen lautet, wobei die Worte, die Palmerston ursprünglich unterschlagen hatte, in Klammern gesetzt sind:
„Ein Abgesandter (des Zaren) von Rußland kam (aus Moskau) nach Teheran und war beauftragt worden, dem Sirdar von Kandahar1 seine Aufwartung zu machen und sich von dort zur Audienz beim Emir zu begeben. Er ist der Überbringer von (vertraulichen Botschaften vom Kaiser und von) Briefen des russischen Botschafters2 in Teheran. Der russische Botschafter empfiehlt den Mann als höchst vertrauenswürdig; er habe unbedingte Vollmacht, Verhandlungen (im Namen des Kaisers und des Botschafters) zu führen, usw. usw." Diese und ähnliche Fälschungen, die Palmerston beging, um die Ehre des Zaren zu schützen, sind nicht das einzige Kuriosum, das durch die „Afghanischen Dokumente" enthüllt wird. Den Einfall in Afghanistan rechtfertigte Palmerston mit der Begründung, daß Sir Alexander Burnes ihn als ein geeignetes Mittel empfohlen hätte, um russische Intrigen in Zentralasien zu vereiteln. Sir A. Burnes hatte aber das gerade Gegenteil getan; und deshalb wurden in Palmerstons Ausgabe des „Blaubuchs" alle seine Einsprüche zugunsten Dost Muhammads verschwiegen und der Inhalt der Korrespondenz mit Hilfe von Verstümmlungen und Fälschungen in sein direktes Gegenteil verkehrt.. Das ist also der Mann, der jetzt im Begriff ist, unter dem fadenscheinigen Vorwand, die russischen Pläne in jenem Gebiet vereiteln zu wollen, einen dritten chinesischen Krieg zu beginnen.
III
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5761 vom 10.Oktober 1859] London, 20. September 1859 Daß es einen neuen Krieg im Namen der Zivilisation gegen die „Himmlischen" geben wird, scheint nunmehr für die englische Presse im allgemeinen eine ausgemachte Sache zu sein. Dennoch haben seit der Sitzung des Kabinetts am vergangenen Sonnabend gerade jene Zeitungen, die am meisten nach Blut geschrien hatten, ihren Ton merklich geändert. Zuerst
wetterte die Londoner „Times", offensichtlich in einem Rausch patriotischer Begeisterung, gegen den zwiefachen Verrat, begangen einerseits von feigen Mongolen, die diesen bonhomme1 von einem britischen Admiral2 in eine Falle lockten, indem sie ihre Stellungen und ihre Kanonen geflissentlich tarnten, andererseits vom Pekinger Hof, der mit noch verworfenerem Machiavellismus jene mongolischen Ungeheuer zu ihrem verruchten Schabernack angestiftet hatte. Es ist merkwürdig, daß die „Times", obwohl aufgewühlt von den Wogen der Leidenschaft, es fertigbrachte, in ihrer Veröffentlichung der Originalberichte alle Stellen zu streichen, die für die bereits verurteilten Chinesen sprechen. Dinge zu verwechseln, kann das Werk der Leidenschaft sein, aber sie zu verstümmeln, scheint eher das Werk kühlen Verstandes. Wie dem auch sein mag, am 16. September, genau einen Tag vor der Kabinettssitzung, riß die „Times" das Steuer herum und hieb ohne viel Aufhebens ihrer janusköpfigen Beschuldigung den einen Kopf ab.
„Wir fürchten", schrieb sie, „daß wir die Mongolen, die unserem Angriff auf die Forts am Peiho Widerstand entgegensetzten, nicht des Verrats bezichtigen können"; aber dann, um dieses unangenehme Zugeständnis wettzumachen, klammerte sie sich um so verzweifelter an „die willkürliche und perfide Vergewaltigung eines feierlichen Vertrags durch den Hof von Peking". Drei Tage darauf, nachdem die Kabinettssitzung stattgefunden hatte, fand die „Times" nach weiteren Erwägungen „keinen Grund, daran zu zweifeln, daß, wenn die Herren Bruce und de Bourboulon die Mandarine ersucht hätten, sie nach Peking zu geleiten, es ihnen gestattet worden wäre, die Ratifikation des Vertrages vorzunehmen". Was bleibt da noch vom Verrat des Pekinger Hofes übrig? Nicht einmal ein Schatten. Aber statt dessen hat die „Times" noch zwei Bedenken. „Es ist", sagt sie, „doch wohl zweifelhaft, ob es als militärische Maßnahme klug war, mit einem solchen Geschwader zu versuchen, nach Peking zu gelangen. Es ist noch zweifelhafter, ob es als diplomatische Maßnahme wünschenswert war, überhaupt Gewalt anzuwenden." Das ist nun das jämmerliche Ende des ganzen Entrüstungssturms, zu dem sich das „führende Organ" hat hinreißen lassen. Doch mit der ihr eigenen Logik läßt die „Times" die Gründe für den Krieg fallen, ohne den Krieg selbst fallenzulassen. Ein anderes offiziöses Regierungsblatt, der „Economist", der sich durch seine leidenschaftliche Rechtfertigung des Kantoner Bombardements auszeichnete, scheint jetzt, da Herr J. Wilson
zum Schatzkanzler für Indien ernannt worden ist, eine mehr ökonomische und weniger rhetorische Haltung zu den Dingen zu beziehen. Der „Economist" bringt zu dem Thema zwei Artikel, einen politischen und einen wirtschaftlichen13511. Der erstere schließt mit folgenden Sätzen:
„Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände ist es offensichtlich, daß der Artikel j— n ]„ d u D_I.: i . uc s veiuags, llci uttsciciii vjcsaiiuucn uas i\ci:iil ciinauiiiLc, 1 cis.ing iu ucsuCiicii uuci dort zu residieren, der chinesischen Regierung buchstäblich aufgezwungen worden war; sollte man aber der Meinung sein, daß die Einhaltung dieser Bestimmung für unsere Interessen absolut notwendig sei, so glauben wir, daß es durchaus möglich gewesen wäre, Rücksicht und Geduld walten zu lassen, als man auf ihrer Durchführung beharrte. Man könnte zweifellos anführen, daß von solch einer Regierung wie der chinesischen Aufschub und Geduld als Zeichen ernster Schwäche aufgefaßt würden, und dies daher die schädlichste Politik sei, die wir verfolgen könnten. Aber wie weit sind wir berechtigt, auf Grund dieses Arguments von den Prinzipien, an die wir uns zweifellos gegenüber jeder zivilisierten Nation halten würden, bei der Behandlung dieser orientalischen Regierungen abzuweichen? Wenn wir ihnen auf Grund ihrer Furcht eine unangenehme Konzession entwunden haben, so mag es vielleicht die konsequenteste Politik sein, ihnen ebenfalls auf Grund ihrer Furcht die sofortige Erfüllung des Vertrags in der uns günstigsten Art zu erzwingen. Wenn wir das aber nicht fertigbringen, wenn in der Zwischenzeit die Chinesen ihre Furcht überwinden und mit einer gehörigen Demonstration ihrer Stärke darauf bestehen, daß wir mit ihnen über die Art und Weise beraten, wie unser Vertrag wirksam zu machen ist - können wir sie dann gerechterweise des Verrats bezichtigen? Praktizieren sie eigentlich nicht an uns unsere eigenen Methoden der Uberzeugung? Die chinesische Regierung mag beabsichtigt haben - und höchstwahrscheinlich ist es so -, uns in diese mörderische Falle zu locken, und vielleicht niemals vorgehabt haben, den Vertrag zu erfüllen. Sollte sich das herausstellen, so müssen und sollen wir Wiedergutmachung fordern. Aber es könnte sich auch herausstellen, daß die Absicht, die Mündung des Peiho zu verteidigen, um es nicht erneut zu einem solchen gewaltsamen Eindringen wie im vorigen Jahr durch Lord Elgin kommen zu lassen, keineswegs von dem Wunsch begleitet war, die allgemeinen Artikel des Vertrags zu verletzen. Da die Feindseligkeiten ausschließlich von unserer Seite ausgingen und unsere Befehlshaber natürlich jederzeit in der Lage waren, sich aus dem mörderischen Feuer zurückzuziehen, das lediglich zur Verteidigung der Forts eröffnet wurde, so können wir den Chinesen nicht mit Bestimmtheit die Absicht nachweisen, den Vertrag zu verletzen. Solange wir für die vorsätzliche Absicht zum Vertragsbruch keine Beweise in Händen halten, haben wir unserer Meinung nach guten Grund, mit unserem Urteil zurückzuhalten, und sollten überlegen, ob wir nicht bei der Behandlung von Barbaren Prinzipien anwandten, die sich von den gegen uns angewandten kaum unterscheiden."
In einem zweiten Artikel zum gleichen Thema verweilt der „Economist" bei der direkten und indirekten Bedeutung des englischen China-Handels.
Im Jahre 1858 waren die britischen Exporte nach China auf 2 876 000 Pfd. St. angestiegen, während der Wert der britischen Importe aus China in jedem der letzten drei Jahre durchschnittlich über 9 Millionen Pfd. St. betragen hatte, so daß der gesamte direkte Handel Englands mit China auf ungefähr 12 Millionen Pfd. St. veranschlagt werden kann. Aber außer diesen direkten Handelsbeziehungen gibt es noch drei andere wichtige Handelsverbindungen, mit denen England in der Austauschsphäre mehr oder weniger eng verbunden ist, und zwar den Handel zwischen Indien und China, den Handel zwischen China und Australien und den Handel zwischen China und den Vereinigten Staaten.
„Australien", schreibt der „Economist", „bezieht jährlich von China große Mengen Tee und hat nichts im Austausch anzubieten, wofür sich in China ein Markt fände. Auch Amerika bezieht große Mengen Tee und etwas Seide zu einem Wert, der den Wert seiner direkten Exporte nach China weit übersteigt."
Diese beiden Bilanzen zugunsten Chinas müssen von England wieder ausgeglichen werden, das für diese Regulierüng des Austauschs mit dem Golde Australiens und der Baumwolle der Vereinigten Staaten bezahlt wird. England muß daher, unabhängig von seinem Schuldensaldo gegenüber China, diesem Lande auch große Summen für das aus Australien importierte Gold und für die Baumwolle aus Amerika zahlen. Nun wird dieser Saldo, den England, Australien und die Vereinigten Staaten China schulden, von China zu einem großen Teil auf Indien übertragen zur Begleichung des Betrags, den China Indien für Opium und Baumwolle schuldet. Es sei en passant bemerkt, daß die Importe Indiens aus China bisher noch niemals den Betrag von 1 Million Pfd. St. erreicht haben, während die Exporte Indiens nach China fast 10 Millionen Pfd. St. einbringen. Aus diesen ökonomischen Beobachtungen zieht der „Economist" die Schlußfolgerung, daß jede ernsthafte Unterbrechung des britischen Handels mit China.„eine Kalamität von größerer Tragweite wäre, als die bloßen Export- und Importzahlen es auf den ersten Blick vermuten lassen", und daß die Schwierigkeit infolge einer solchen Störung nicht nur im britischen Tee- und Seidenhandel fühlbar würde, sondern auch die britischen Transaktionen mit Australien und den Vereinigten Staaten „beeinträchtigen" müßte. Der „Economist" ist sich natürlich der Tatsache bewußt, daß während des letzten chinesischen Krieges dem Handel nicht so übel mitgespielt wurde, wie man befürchtet hatte, und daß er im Hafen von Schanghai überhaupt nicht beeinträchtigt worden war. Aber dann weist der „Economist" auf „zwei neue Merkmale der augenblicklichen Auseinandersetzung" hin, die die
Auswirkungen eines neuen chinesischen Krieges auf den Handel wesentlich modifizieren könnten. Diese beiden neuen Merkmale seien der „gesamtchinesische" und nicht „lokale" Charakter des bestehenden Konflikts und der „außergewöhnliche Erfolg", den die Chinesen zum erstenmal über europäische Streitkräfte errungen hätten. Wie grundverschieden ist doch diese Sprache von dem fröhlichen Kriegsgeschrei, das der „Economist" in der Zeit der Lorcha-Äffäre anstimmte! Wie ich in meinem letzten Brief bereits ankündigte, brachte Herr Milner Gibson in der Kabinettssitzung seinen Protest gegen den Krieg und seine Drohung vor, au> dem Kabinett auszutreten, sollte Palmerston entsprechend seinem vorgefaßten Entschluß handeln, den der französische „Moniteur" ausgeplaudert hatte. Im Moment verhinderte Palmerston jegliche Spaltung des Kabinetts und der liberalen Koalition durch die Erklärung, daß die für den Schutz des britischen Handels unentbehrlichen Streitkräfte in den chinesischen Gewässern zusammengezogen werden sollten, während vor dem Eintreffen ausführlicherer Berichte des britischen Gesandten kein Beschluß in der Kriegsfrage gefaßt werden sollte. Somit wurde die brennende Frage hinausgeschoben. Palmerstons wirkliche Absicht jedoch kann man zwischen den Zeilen seines Revolverblattes „The Daily Telegraph" entdecken, das in einer seiner letzten Nummern schreibt:
„Sollte irgendein Ereignis im Verlaufe des nächsten Jahres zu einer für die Regierung ungünstigen Abstimmung führen, so wird man sicherlich an die Wählerschaft appellieren... Das Unterhaus wird das Ergebnis seiner Tätigkeit an dem Entscheid über die chinesische Frage prüfen, da zu den professionell Böswilligen unter Führung des Herrn Disraeli noch die Kosmopoliten gezählt werden müssen, welche erklären, die Mongolen seien vollkommen im Recht." Ich werde vielleicht noch Gelegenheit finden, über die Klemme zu berichten, in der die Tories stecken, weil sie sich verleiten ließen, für Ereignisse verantwortlich zu zeichnen, die Palmerston geplant und zwei seiner Werkzeuge, Lord Elgin und Herr Bruce (Lord Elgins Bruder), ausgeführt hatten.
IV
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5768 vom 18. Oktober 1859] London, 30. September 1859 In einem früheren Artikel behauptete ich, daß der Peiho-Konflikt kein unbeabsichtigter Zwischenfall sei, sondern daß ihn umgekehrt Lord Elgin
von langer Hand vorbereitet habe, wobei er nach geheimen Instruktionen Palmerstons handelte und Lord Malmesbury, dem Außenminister der Tories, das Projekt des edlen Viscount, der zu dieser Zeit Führer der Opposition war, anhängte. Zunächst einmal sind die Mutmaßungen, daß die „Zwischenfälle" in China auf Grund von „Instruktionen" des jetzigen britischen Premierministers entstehen, so wenig neu, daß sie schon während der Debatten über den Lorcha-Krieg von einer so gut unterrichteten Persönlichkeit wie Disraeli im Unterhaus angedeutet und merkwürdigerweise von keinem Geringeren als Lord Palmerston selbst bestätigt wurden. Am 3.Februar 1857 warnte Herr Disraeli das Unterhaus mit folgenden Worten:
„Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Vorfälle in China nicht auf den angeführten Vorwand zurückzuführen sind, sondern tatsächlich auf vor geraumer Zeit aus England erhaltene Instruktionen. Sollte das der Fall sein, so istmeiner Ansicht nach der Zeitpunkt eingetreten, da das Haus seiner Pflicht nicht mehr genügt, wenn es nicht ernsthaft überlegt, ob es nicht Mittel besitzt, die Kontrolle über eine Politik auszuüben, deren Beibehaltung meiner Meinung nach für die Interessen unseres Landes verhängnisvoll wäre."[352]
Und Lord Palmerston erwiderte gelassen:
„Der sehr ehrenwerte Gentleman sagt, der Verlauf der Ereignisse scheine das Ergebnis einer von der englischen Regierung vorher festgelegten Politik zu sein. Das ist zweifellos richtig."
Im vorliegenden Falle wird bereits eine flüchtige Durchsicht des Blaubuchs „Correspondence relating to the Earl of Elgin's special missions to China and Japan, 1857-59" zeigen, daß der Vorfall, der sich am 25. Juni am Peiho zutrug, von Lord Elgin bereits am 2. März vermerkt war. Auf Seite 484 dieser Korrespondenz finden wir die beiden folgenden Depeschen:
„Earl of Elgin an Konteradmiral Sir Michael Seymour
,Furious', 2. März 1859
Sir, mit Bezugnahme auf meine Depesche vom 17. v. M. an Ew. Exzellenz möchte ich mir die Feststellung erlauben, daß ich gewisse Hoffnungen hege, die von der Regierung Ihrer Majestät getroffene Entscheidung in der Angelegenheit des ständigen Aufenthalts eines britischen Gesandten in Peking, von der ich Ew. Exzellenz gestern in einer Unterredung Mitteilung machte, könnte die chinesische Regierung dazu bewegen, den Vertreter Ihrer Majestät in geziemender Weise zu empfangen, wenn er sich zum Austausch der Ratifikationen des Vertrags von Tientsin nach Peking begibt. Indessen ist es zweifellos möglich, daß sich diese Hoffnung nicht erfüllt; auf jeden Fall
nehme ich an, die Regierung Ihrer Majestät wird wünschen, daß der Gesandte von einer achtunggebietenden Streitmacht begleitet wird, wenn er sich nach Tientsin begibt. Unter diesen Umständen gestatte ich mir, der Erwägung Ew. Exzellenz anheimzustellen, ob es nicht ratsam wäre, sobald sich eine Möglichkeit bietet, in Schanghai ein ausreichendes Kanonenbootgeschwader für dieses Unternehmen zu konzentrieren, da Herrn Bruces Ankunft in China wohl bald zu erwarten ist. A^ll nauu UOYV«
Elgin and Kincardine"
„Earl of Malmesbury an Earl of Elgin
Außenministerium, 2. Mai 1859 Mylord, ich habe die Depesche Ew. Exzellenz vom 7. März 1859 erhalten und bin beauftragt, Sie davon zu unterrichten, daß die Regierung Ihrer Majestät die von Ihnen in einer Abschrift beigefügte Note billigt, in der Ew. Exzellenz den kaiserlichen Bevollmächtigten erklärte, die Regierung Ihrer Majestät würde nicht darauf bestehen, daß Peking für den ständigen Aufenthalt des Gesandten Ihrer Majestät vorgesehen wird. Die Regierung Ihrer Majestät billigt auch Ihren Vorschlag an Konteradmiral Seymour, ein Kanonenbootgeschwader vor Schanghai zusammenzuziehen, um Herrn Bruce den Peiho aufwärts zu begleiten. Ich verbleibe usw.
Malmesbury"
Lord Elgin weiß also schon vorher, daß die britische Regierung „wünschen wird, eine achtunggebietende Streitmacht" von „Kanonenbooten" solle seinen Bruder, Herrn Bruce, den Peiho aufwärts begleiten, und er befiehlt Admiral Seymour, alles „für dieses Unternehmen" vorzubereiten. Der Earl of Malmesbury billigt in seiner Depesche vom 2. Mai den Vorschlag, den Lord Elgin dem Admiral nahegelegt hat. Die ganze Korrespondenz zeigt Lord Elgin als den Herrn und Lord Malmesbury als den Lakaien. Während jener ständig die Initiative ergreift und nach den ursprünglich von Palmerston erhaltenen Instruktionen handelt, ohne auch nur auf neue Instruktionen aus der Downing Street11503 zu warten, gibt sich Lord Malmesbury damit zufrieden, „den Wünschen" nachzukommen, die ihm sein anmaßender Untergebener in den Mund legt. Er nickt zustimmend, wenn Elgin feststellt, sie hätten kein Recht, chinesische Flüsse zu befahren, da der Vertrag noch nicht ratifiziert sei; er nickt zustimmend, wenn Elgin meint, sie sollten bei der Ausführung des im Vertrag enthaltenen Artikels über die Gesandtschaft in Peking den Chinesen gegenüber große Nachsicht walten lassen; und ohne Zögern nickt er zustimmend, wenn Elgin, in direktem Widerspruch zu seinen eigenen früheren Feststellungen, das
Recht beansprucht, mit Hilfe eines „achtunggebietenden Kanonenbootgeschwaders" die Fahrt den Peiho aufwärts zu erzwingen. Er nickt ebenso zustimmend wie Dogberry zu den Ausführungen des Schreibers. Die traurige Figur, die der Earl of Malmesbury abgibt, und seine unterwürfige Haltung sind leicht zu verstehen, wenn man sich an das Geschrei erinnert, das die Londoner „Times" und andere einflußreiche Zeitungen beim Amtsantritt des Tory-Kabinetts über die große Gefahr erhoben, die den glänzenden Erfolg in China bedrohe, den Lord Elgin ünter Palmerstons Anleitung schon fast gesichert hätte, den aber die Tory-Regierung - wenn auch nur aus Trotz und um ihr Tadelsvotum anläßlich Palmerstons Bombardement von Kanton zu rechtfertigen - wahrscheinlich vereiteln würde. Malmesbury ließ sich durch dieses Geschrei einschüchtern. Überdies hatte er das Schicksal des Lord Ellenborough vor Augen und im Herzen, der es gewagt hatte, sich der Indienpolitik des edlen Viscount1 offen zu widersetzen, und der zum Lohn für seinen patriotischen Mut von seinen eigenen Kollegen im Kabinett Derby geopfert worden war[353]. Infolgedessen überließ Malmesbury die ganze Initiative Lord Elgin und setzte letzteren damit in den Stand, Palmerstons Plan auszuführen, während die Tories, dessen offizielle Gegner, die Verantwortung dafür trugen. Eben dieser Umstand hat die Tories gegenwärtig vor die unglückselige Alternative gestellt, entscheiden zu müssen, welcher Kurs in der Peiho-Affäre eingeschlagen werden soll. Entweder müssen sie mit Palmerston die Kriegstrommel rühren und ihn so im Amt halten, oder sie müssen Malmesbury, den sie während des letzten italienischen Krieges mit solch widerlichen Schmeicheleien überhäuften, den Rücken kehren. Diese Alternative ist um so peinlicher, als der drohende dritte Krieg mit China in britischen Handelskreisen alles andere als populär ist. Im Jahre 1857 bestiegen sie den britischen Löwen, da sie von einer gewaltsamen Öffnung des chinesischen Marktes große Handelsprofite erhofften. Jetzt sind sie umgekehrt recht erbost darüber, daß alle Früchte des Vertrags plötzlich ihrem Zugriff entzogen werden. Sie wissen, daß die Lage in Europa und Indien, auch ohne weitere Komplikationen durch einen chinesischen Krieg großen Ausmaßes, schon bedrohlich genug aussieht. Sie haben nicht vergessen, daß 1857 die Einfuhren an Tee, dem Artikel, der fast ausschließlich aus Kanton, dem damals einzigen Kriegsschauplatz, exportiert wurde, um mehr als 24 Millionen Pfund fielen, und sie befürchten, daß diese Unterbrechung des Handels durch den Krieg jetzt auf Schanghai und
auf andere Handelshäfen des Reichs des Himmels übergreifen könnte. Nach dem ersten chinesischen Krieg, den die Engländer im Interesse des Opiumschmuggels unternommen hatten, und einem zweiten Krieg, der zu Verteidigung der Lorcha eines Piraten geführt wurde, fehlte zur Krönung des Ganzen nur noch ein zu dem Zweck improvisierter Krieg, China die Plage ständiger Gesandtschaften in seiner Hauptstadt aufzubürden.
Aus dem Englischen.

Comentarios

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