KARL MARX • FRIEDRICH ENGELS WERKE• BAND 2

KARL MARX • FRIEDRICH ENGELS
WERKE• BAND 2
IN STITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX
FRIEDRICH ENGELS
WERKE
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DIETZ VERLAG BERLIN
1962
KARL MARX
FRIEDRICH ENGELS
BAND 2
DIETZ VERLAG BERLIN
1962
Die deutsche Ausgabe fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten Ausgabe in russischer Sprache
Vorwort
Der zweite Band der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels enthält Arbeiten, die im Zeitraum von September 1844 bis Februar 1846 geschrieben wurden. Ende August 1844 fand in Paris die Begegnung zwischen Marx und Engels statt, die den Grundstein für ihr schöpferisches Zusammenwirken auf allen Gebieten der revolutionären theoretischen und praktischen Tätigkeit legte. Zu dieser Zeit vollzogen Marx und Engels ihren endgültigen Übergang vom Idealismus zum Materialismus und vom revolutionären Demokratismus zum Kommunismus. Die in diesem Band enthaltenen Werke spiegeln den Prozeß der weiteren Herausbildung ihrer revolutionären materialistischen Weltanschauung wider. Der Band beginnt mit der ersten gemeinsamen Arbeit von Karl Marx und Friedrich Engels: „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten". In diesem polemischen Werk treten Marx und Engels als kämpferische Materialisten auf und unterziehen die subjektivistischen Ansichten der Junghegelianer einer vernichtenden Kritik. Marx und Engels kritisieren hier auch die idealistische Philosophie von Hegel selbst; sie räumen dem Rationellen in der Hegeischen Dialektik den ihm gebührenden Platz ein und kritisieren die mystifizierende Seite dieser Dialektik. In der „Heiligen Familie" werden eine Reihe der wichtigsten Leitsätze des dialektischen und historischen Materialismus formuliert. In dieser Arbeit nähert sich Marx bereits der Grundidee des historischen Materialismus, daß die Produktionsweise die entscheidende Rolle in der Entwicklung der Gesellschaft spielt. Marx und Engels widerlegen die früher herrschenden idealistischen Geschichtsauffassungen, denn „Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen, Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der
Ideen bedarr es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten" (siehe vorliegenden Band, S. 126). Von großer Bedeutung ist der in der „Heiligen Familie" aufgestellte Satz, daß die Masse, das Volk, der wahre Schöpfer der Geschichte der Menschheit ist. Marx und Engels weisen darauf hin, daß, je breiter und tiefer die Umwälzung in der Gesellschaft ist, desto zahlreicher die Massen, die diese Umwälzung vollziehen. Lenin hat die Bedeutung dieses Gedankens besonders hervorgehoben und ihn als einen der tiefsten und wichtigsten Sätze des historischen Materialismus charakterisiert. „Die heilige Familie" enthält die fast fertige Auffassung von der welthistorischen Rolle des Proletariats als Klasse. Auf Grund seiner Lage im Kapitalismus „kann und muß das Proletariat sich selbst befreien" und zugleich damit „alle unmenschlichen Lebensbedingungen" der bürgerlichen Gesellschaft vernichten, denn: „Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen Vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (S. 38.) Große Bedeutung hat der Abschnitt „Kritische Schlacht gegen den französischen Materialismus", in dem Marx in einer kurzen Skizze über die Entwicklung des Materialismus in der westeuropäischen Philosophie zeigt, daß der Kommunismus die logische Schlußfolgerung aus der materialistischen Philosophie ist. „Die heilige Familie" wurde unter dem bedeutenden Einfluß der materialistischen Anschauungen von Ludwig Feuerbach geschrieben, die beim Übergang von Marx und Engels vorn Idealismus zum Materialismus eine große Rolle spielten; gleichzeitig enthält diese Arbeit bereits Elemente jener Kritik des metaphysischen und beschaulichen Materialismus Feuerbachs, die Marx im Frühjahr 1845 in den „Thesen über Feuerbach" übte. Später schrieb Engels, als er den Platz der „Heiligen Familie" in der Geschichte des Marxismus bestimmte: „Der Kultus des abstrakten Menschen, der den Kern der Feuerbachschen neuen Religion bildete, mußte ersetzt werden durch die Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Diese Fortentwicklung des Feuerbachschen Standpunkts über Feuerbach hinaus wurde eröffnet 1845 durch Marx in der ,Heiligen Familie'." (F.Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie".) In der „Heiligen Familie" sind einige Leitsätze formuliert, auf denen die marxistische politische Ökonomie basiert. Zum Unterschied von den sozialistischen Utopisten begründet Marx die objektive Unvermeidlichkeit des
Sieges des Kommunismus damit, daß das Privateigentum in seiner ökonomischen Entwicklung sich selbst das Grab schaufelt. Der Band enthält Friedrich Engels' Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", die Lenin für eines der besten Werke der sozialistischen Weltliteratur hielt. Wie später der Verfasser selbst sagte, ist dies ein Frühwerk, das eine der ersten Etappen im Werdegang des Marxismus widerspiegelt. Engels untersucht die ökonomische und politische Struktur Englands und zeigt am Beispiel dieses zu jener Zeit entwickeltsten Landes eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion. Er deckt die ganze Tiefe der industriellen Umwälzung auf, die das Entstehen des Fabrikproletariats bedingte, und hebt die Unversöhnlichkeit der Interessen der Arbeiter und der Interessen der Kapitalisten hervor; Engels beweist, daß sich im Kapitalismus unvermeidlich eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen bildet, daß die Wirtschaftskrisen periodisch wiederkehren und daß die Ausbeutung der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen im gleichen Verhältnis wie die Steigerung der kapitalistischen Produktion zunimmt. Lenin sagte, das Buch von Engels sei eine „schwere Anklage gegen Kapitalismus und Bourgeoisie". Engels beschreibt die unerträglich schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter in England und zeigt, daß das Proletariat schon durch seine Lage unvermeidlich zum Kampf für seine Befreiung und für den Sturz der kapitalistischen Ordnung getrieben wird. Im Klassenkampf des Proletariats sieht Engels die mächtige Kraft der historischen Entwicklung und kritisiert deshalb die englischen sozialistischen Owenisten für die Propagierung der allgemeinen Liebe und Brüderlichkeit. Bei der Verallgemeinerung der Erfahrung der englischen Arbeiterbewegung kommt Engels zu der Schlußfolgerung, daß Streiks und Verbände wohl ein wirksames Mittel zur Organisierung und Erziehung der Arbeiterklasse sind, jedoch nicht ausreichen, sie aus der Lohnsklaverei zu befreien. Engels schätzt den Chartismus als erste selbständige politische Bewegung des Proletariats hoch ein, doch kritisiert er die Chartisten der Begrenztheit ihrer Ziele wegen und stellt den wichtigen theoretischen Leitsatz von der Notwendigkeit der Vereinigung des Chartismus mit dem Sozialismus auf.
Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge „Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland" und „Zwei Reden in Elberfeld", beide von Engels, sind von größtem Interesse, obgleich ihnen Spuren des noch nicht überwundenen Einflusses der philosophischen ethischen Ansichten Feuerbachs anhaften. Diese Schriften enthalten wertvolles biographisches Material über Marx und Engels und spiegeln die große agitatorische und organisatorische Arbeit wider, die Engels in der Rheinprovinz im Winter 1844/45 lei
stete. Lenin hat die Verhältnisse, unter denen Engels' Tätigkeit vor sich ging, wie folgt charakterisiert: „In Deutschland waren damals alle Kommunisten mit Ausnahme des Proletariats. Der Kommumsmus war die Ausdrucksform der oppositionellen Stimmungen bei allen, und besonders bei der Bourgeoisie. Die Hauptverkünder des Kommunismus waren damals ... im Grunde genommen biedere Bourgeois, die mehr oder minder gegen die Regierung aufgebracht waren. Und unter solchen Umständen, inmitten einer unermeßlichen Zahl pseudosozialistischer Richtungen und Fraktionen, verstand es Engels, sich den Weg zum proletarischen Sozialismus zu bahnen." (W. I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd. 19, S. 505, russ.) Nach Engels'Übersiedlung nach Brüssel im April 1845 setzten die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus gemeinsam die Ausarbeitung ihrer neuen Anschauungen fort, wobei von ihnen gleichzeitig Schritte unternommen wurden, sie gedruckt zu propagieren und eine Verbindung mit Vertretern der internationalen proletarischen und demokratischen Bewegung herzustellen. Mit dem Artikel „Das kürzliche Gemetzel in Leipzig. - Die deutsche Arbeiterbewegung", der im September 1845 geschrieben wurde, beginnt Friedrich Engels' systematische Mitarbeit an der Zeitung „The Northern Star", dem Organ der englischen Chartisten, mit deren revolutionärem Flügel Marx und Engels während ihrer Reise nach England im Sommer 1845 feste Verbindungen hergestellt hatten. In seiner Artikelfolge „Deutsche Zustände", die für dieselbe Zeitung geschrieben wurde, gab Friedrich Engels eine Analyse der Klassenstruktur der deutschen Gesellschaft und zeigte den Einfluß der französischen bürgerlichen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts auf die Entwicklung Deutschlands. Engels tritt hier als konsequenter Kämpfer für ein einheitliches, demokratisches Deutschland auf, er geißelt die reaktionären Zustände in den deutschen Staaten, in erster Linie in Preußen, die Herrschaft des Militärs und des Beamtentums, den Despotismus der großen und der kleinen Fürsten. Gleichzeitig deckt Engels den Klassencharakter des bürgerlichen Liberalismus auf und übt scharfe Kritik an der Beschränktheit der bürgerlichen Demokratie. In der Einleitung und im Nachwort zu „Ein Fragment Fouriers über den Handel" spricht Engels über Fourier als einen der hervorragendsten Vertreter des kritischen utopischen Sozialismus. In dem Artikel „Das Fest der Nationen in London" verkündet Friedrich Engels die Gemeinsamkeit der Interessen der Proletarier aller Länder und entlarvt den bürgerlichen Kosmopolitismus. Diese beiden Arbeiten sowie die „Erklärung" von Karl Marx vom 18. Januar 1846 sind von großem Interesse als erste öffentliche Äußerungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus gegen die „wahren" Sozia
listen, deren kleinbürgerliche pseudosozialistische Anschauungen ein ernstes Hindernis für die Entwicklung der revolutionären proletarischen und demokratischen Bewegung in Deutschland waren. Um den Boden für die Bildung einer proletarischen Partei vorzubereiten, gründeten Marx und Engels Anfang 1846 in Brüssel das Kommunistische Korrespondenzkomitee, dessen Ziel der ideologische und organisatorische Zusammenschluß der revolutionären Kommunisten und der fortschrittlichen Arbeiter Deutschlands und anderer Länder war, sowie der Kampf gegen Richtungen in der Arbeiterbewegung, die dem Proletariat fremd waren. Die Arbeiten, die im zweiten Band der Werke enthalten sind, gehören einer Periode an, in der der Prozeß der Herausbildung des Marxismus noch nicht vollendet war. Das fand seinen Ausdruck auch in der von Marx und Engels angewandten Terminologie. Die wissenschaftliche marxistische Terminologie wurde allmählich bei der Herausbildung und weiteren Entwicklung ihrer Lehre ausgearbeitet und präzisiert.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU
Nach dem Erscheinen des ersten Bandes unserer Ausgabe der Werke in deutscher Sprache sind des öfteren aus interessierten Kreisen Fragen nach ihrem Charakter gestellt worden, u. a. auch die Frage, ob mit der Herausgabe die 1927 vom Marx-Engels-Institut in Moskau begonnene Edition der „Historisch-kritischen Gesamtausgabe" der Werke, Schriften und Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels wiederaufgenommen würde. Diese Frage muß verneint werden. Unsere Aufgabe sehen wir darin, gemäß dem Beschluß des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands dafür Sorge zu tragen, das Lebenswerk der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in kürzester Frist und in größtmöglicher Vollständigkeit dem deutschen Volke vorzulegen. Eine historisch-kritische Gesamtausgabe bedarf viel umfangreicherer Vorarbeiten hinsichtlich der Bearbeitung und Kommentierung des vorhandenen Materials und erfordert viel Zeit. Unsere Ausgabe hält sich in engeren Grenzen. Im Unterschied von einer historisch-kritischen Gesamtausgabe wird, von möglichen Ausnahmen abgesehen, auf eine lückenlose Publikation von Exzerpten, Rohentwürfen,
Skizzen - also Vorarbeiten überhaupt, verzichtet. Eine streng wissenschaftliche Gesamtausgabe erfordert zudem eine Wiedergabe der Texte in der Sprache des Originals, Wir würden dem Zweck unserer Ausgabe nicht gerecht werden, wollten wir die vielen englisch und französisch geschriebenen größeren Werke, Artikel und Aufsätze nur in der Sprache des Originals reproduzieren. Wir bringen Übersetzungen und behalten uns die Herausgabe von Supplementbänden vor, in denen der naturgemäß engere Kreis interessierter Leser die Originaltexte finden wird. Der vorliegende zweite Band der deutschen Ausgabe fußt auf dem vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten Band in russischer Sprache, enthält jedoch zusätzlich noch mehrere Artikel von Engels, und zwar: „Beschreibung der in neuerer Zeit entstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen", einen kurzen Artikel über den Besuch der Königin Viktoria in Deutschland, ferner den erst vor einiger Zeit entdeckten Artikel „Geschichte der englischen Korngesetze" sowie den Aufsatz „Nachträgliches über die Lage der arbeitenden Klassen in England" aus dem „Westphälischen Dampfboot". Außerdem ist der Umfang des vorliegenden Bandes um einen Anhang erweitert, der Friedrich Engels' Vorrede zur amerikanischen Ausgabe (1887) und sein Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe (1892) der „Lage der arbeitenden Klasse in England" enthält - Materialien, die dem Studium des Grundtextes förderlich sind. Der Text wurde nach den Erstdrucken oder nach Photokopien überprüft, ebenso die von Marx und Engels angeführten Zitate, soweit die Originale zur Verfügung standen. Bei jeder Arbeit ist die zum Abdruck herangezogene Quelle vermerkt. Die von Marx und Engels angeführten Zitate werden zur leichteren Übersicht in kleinerem Druck gebracht. Fremdsprachige Zitate und im Text vorkommende fremdsprachige Wörter wurden in Fußnoten übersetzt. Die Übersetzungen der fremdsprachigen Artikel wurden überprüft oder neu angefertigt. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind, soweit vertretbar, modernisiert. Der Lautstand der Wörter in den deutschsprachigen Texten wurde nicht verändert. Alle in eckigen Klammern stehenden Wörter und Wortteile stammen von der Redaktion; offensichtliche Druck- oder Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. In Zweifelsfällen wurde in Fußnoten die Schreibweise des Originals angeführt. Fußnoten von Marx und Engels sind durch Sternchen gekennzeichnet, Fußnoten der Redaktion durch eine durchgehende Linie vom Text abgetrennt und durch Ziffern kenntlich gemacht.
Zur Erläuterung ist der Band mit Anmerkungen versehen, auf die im Text durch hochgestellte Zahlen in eckigen Klammern hingewiesen wird; außerdem werden ein Personenverzeichnis, Daten aus dem Leben und der Tätigkeit von Marx und Engels, ein Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der Zeitungen und Zeitschriften sowie eine Erklärung der Fremdwörter beigefügt.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED

KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS
September 1844 - Februar 1846

Die heilige Familie
oder
Kritik der kritischen Kritik
Gegen Bruno Bauer und Konsorten111
Von Friedrich Engels und Karl Marx

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Titelseite der Erstausgabe „Die heilige Familie"

Vorrede
Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das „Selbstbewußtsein" oder den „Geist" setzt und mit dem Evangelisten lehrt: „Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein Nütze." Es versteht sich, daß dieser fleischlose Geist nur in seiner Einbildung Geist hat. Was wir in der Bauerschen Kritik bekämpfen, ist eben die als Karikatur sich reproduzierende Spekulation. Sie gilt uns als der vollendetste Ausdruck des christlich~germanischen Prinzips, das seinen letzten Versuch macht, indem es „die Kritik" selbst in eine transzendente Macht verwandelt. Unsre Darstellung schließt sich vorzugsweise an die „Allgemeine Literatur-Zeitung" [2] von Bruno Bauer an - ihre ersten acht Hefte lagen uns vor -, v/eil hier die Bauersche Kritik und damit der Unsinn der deutschen Spekulation überhaupt den Gipfelpunkt erreicht hat. Die kritische Kritik (die Kritik der „Literatur-Zeitung ) ist um so lehrreicher, je mehr sie die Verkehrung der Wirklichkeit durch die Philosophie bis zur anschaulichsten Komödie vollendet. - Man sehe z.B. Faucher und Szeliga. -Die „Literatur-Zeitung" bietet ein Material, an welchem auch das größere Publikum über die Illusionen der spekulativen Philosophie verständigt werden kann. Dies ist der Zweck unsrer Arbeit. Unsere Darstellung ist natürlich durch ihren Gegenstand bedingt. Die kritische Kritik steht durchgehends unter der schon erreichten Höhe der deutschen theoretischen Entwicklung. Es ist also durch die Natur unsres Gegenstandes gerechtfertigt, wenn wir jene Entwicklung selbst hier nicht weiter beurteilen. Die kritische Kritik zwingt vielmehr, die schon vorhandenen Resultate als solche ihr gegenüber geltend zu machen.
Wir schicken daher diese Polemik den selbständigen Schriften voraus, worin wir - versteht sich, jeder von uns für sich - unsre positive Ansicht und damit unser positives Verhältnis zu den neueren philosophischen und sozialen Doktrinen darstellen werden.
Paris, im September 1844
Engels Marx
I. KAPITEL
„Die kritische Kritik in Buchbindermeister-Gestalt" oder die kritische Kritik als Herr Reichardt
Die kritische Kritik, so erhaben sie sich über die Masse weiß, fühlt doch ein unendliches Erbarmen für dieselbe. Also hat die Kritik die Masse geliebt, daß sie ihren eingebornen Sohn gesandt hat, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das kritische Leben haben. Die Kritik wird Masse und wohnet unter uns, und wir sehen ihre Herrlichkeit als die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. D. h. die Kritik wird sozialistisch und spricht „von Schriften über den Pauperismus "I3i. Sie sieht es nicht für einen Raub an, Gott gleich zu sein, sondern entäußert sich selbst und nimmt Buchbindermeister-Gestalt an und erniedrigt sich bis zum Unsinn - ja zum kritischen Unsinn in fremden Sprachen. Sie, deren himmlische jungfräuliche Reinheit von der Berührung mit der sündigen aussätzigen Masse zurückschaudert, sie überwindet sich so weit, daß sie von „Bodz"1 und „allen Quellenschriftstellern des Pauperismus" Notiz nimmt und „mit dem Zeitübel seit Jahren Schritt um Schritt tut"; sie verschmäht es, für die Fachgelehrten zu schreiben, sie schreibt für das große Publikum, entfernt alle fremdartigen Ausdrücke, allen „lateinischen Kalkül, allen zunftmäßigen Jargon" - alles das entfernt sie aus den Schriften anderer, denn das wäre doch gar zuviel verlangt, wenn die Kritik sich selbst „diesem Reglement der Administration" unterwerfen sollte. Aber selbst das tut sie teilweise, sie entäußert sich, wenn nicht der Worte selbst, doch ihres Inhalts mit bewundernswürdiger Leichtigkeit - und wer wird ihr vorwerfen, daß sie „den großen Haufen unverständlicher Fremdwörter" gebraucht, wenn sie selbst mit systematischer Manifestation die Entwickelung begründet, daß auch ihr diese Wörter unverständlich geblieben sind? Von dieser systematischen Manifestation einige Proben:
„Deshalb sind ihnen die Institutionen des Bettlertxims ein Greuel." „Eine Verantwortlichkeits-Lehre, an welcher jede Regung des Menschengedankens zum Abbild von Lots Weib wird."
1 Von Reichardt entstelltes Pseudonym von Charles Dickens: Boz
„Auf den Schlußstein dieses in der Tat gesinnungsreichen Kunstgebäudes" „Dies der Hauptinhalt von Steins politischem Testamente, welches der große Staatsmann noch vor seinem Austritt aus dem aktiven Dienst der Regierung und allen ihren Abhandlungen einhändigte." „Dieses Volk besaß damals für eine solch ausgedehnte Freiheit noch keine Dimensionen," „Indem er am Schluß seiner publizistischen Abhandlung mit ziemlicher Sicherheit parlamentiert, es fehle bloß noch am Vertrauen." „Dem staatserhebenden männischen, sich über die Routine und die kleingeistige Furcht erhebenden, an der Geschichte gebildeten und mit lebendiger Anschauung fremden öffentlichen Staatswesens genährten Verstand." „Die Erziehung einer allgemeinen Nationalwohlfahrt." „Die Freiheit blieb in der Brust des preußischen Völkerberufs unter der Kontrolle der Behörden tot liegen." „Volksorgariische Publizistik." „Dem Volke, dem auch Herr Brüggemann das Taufzeugnis seiner Mündigkeit erteilt." „Ein ziemlich greller Widerspruch gegen die übrigen Bestimmtheiten, die in der Schrift für die Berufsfähigkeiten des Volkes ausgesprochen sind." „Der leidige Eigennutz löst alle Chimären des Nationalwillens schnell auf." „Die Leidenschaft, viel zu erwerben etc., das war der Geist, der die ganze Restaurationszeit durchdrang und der sich mit einer ziemlichen Quantität Indifferenz der neuen Zeit anschloß „Der dunkle Begriff politischer Bedeutung, welcher in der landmannschaftlichen preußischen Nationalität anzutreffen ist, ruht auf dem Gedächtnis einer großen Geschichte." „Die Antipathie verschwand und ging einem völlig exaltierten Zustand über." „Jeder in seiner Art stellte bei diesem wunderbaren Übergang noch seinen besondern Wunsch in Aussicht." „Ein Katechismus mit gesalbter salomonischer Sprache, dessen Worte sanft wie eine Taube Zirb! Zirb! hinaufsteigen in die Region des Pathos und donnerähnlicher Aspekten." „Der ganze Dilettantismus einer fünfunddreißigjährigen Vernachlässigung." „Das zu grelle Verdonnern der Städtebürger durch einen ihrer ehemaligen Vorstände würde sich noch mit der Gemütsruhe unserer Vertreter hinnehmen lassen, wenn die Bendasche Auffassung der Städteordnung von 1808 nicht an einer moslemitischen Begriffs-Affektion über das Wesen und den Gebrauch der Städteordnung laborierte." Der stilistischen Kühnheit entspricht bei Herrn Reichardt durchgängig die Kühnheit der Entwicklung selbst. Er macht Übergänge wie folgende: „Herr Brüggemann ... Jahr 1843 ... Staatstheorie ... jeder Redliche ... die große Bescheidenheit unsrer Sozialisten ... natürliche Wunder ... an Deutschland zu stellende Forderungen ... übernatürliche Wunder ... Abraham ... Philadelphia ...
Manna ... Bäckermeister ... weil wir aber von Wandern sprechen, so brachte Na~ poleon" etc.
Nach diesen Proben ist es denn auch gar nicht zu verwundern, daß die kritische Kritik noch eine „Erläuterung" eines Satzes gibt, dem sie selbst „populäre Redeweise" beilegt. Denn sie „waffnet ihre Augen mit organischer Kraft, das Chaos zu durchdringen". Und hier ist zu sagen, daß dann selbst „populäre Redeweise" der kritischen Kritik nicht unverständlich bleiben kann. Sie sieht ein, daß der Literaten-Weg notwendig ein krummer bleibt, wenn das Subjekt, das ihn betritt, nicht stark genug ist, ihn gerade zu machen, und schreibt deshalb natürlich dem Schriftsteller „mathematische Operationen" zu. Es versteht sich, und die Geschichte, die alles beweist, was sich von selbst versteht, beweist auch dies, daß die Kritik nicht Masse wird, um Masse zu bleiben, sondern um die Masse von ihrer massenhaften Massenhaftigkeit zu erlösen, also die populäre Redeweise der Masse in die kritische Sprache der kritischen Kritik aufzuheben. Es ist die stufenhaftigste Stufe der Erniedrigung, wenn die Kritik die populäre Sprache der Masse erlernt und diesen rohen Jargon in den überschwenglichen Kalkül der kritisch kritischen Dialektik transzendiert.
».KAPITEL
„Die kritische Kritik" als „Mühleigner"ril oder die kritische Kritik als Herr Jules Faucher
Nachdem die Kritik durch ihre Erniedrigung bis zum Unsinn in fremden Sprachen dem Selbstbewußtsein die wesentlichsten Dienste geleistet und zu gleicher Zeit die Welt dadurch vom Pauperismus befreit hat, erniedrigt sie sich auch noch bis zum Unsinn in der Praxis und Geschichte. Sie bemächtigt sich der „englischen Tagesfragen" und gibt einen Abriß der Geschichte der englischen Industrie, welcher echt kritisch ist.161 Die Kritik, die sich selbst genügt, die in sich vollendet und abgeschlossen ist, darf natürlich die Geschichte, wie sie wirklich passiert ist, nicht anerkennen, denn das hieße ja die schlechte Masse in ihrer ganz massenhaften Massenhaftigkeit anerkennen, während es sich doch gerade um die Erlösung der Masse von der Massenhaftigkeit handelt. Die Geschichte wird daher von ihrer Massenhaftigkeit befreit, und die Kritik, die sich frei gegen ihren Gegenstand verhält, ruft der Geschichte zu: du sollst dich so und so zugetragen haben! Die Gesetze der Kritik haben alle rückwirkende Kraft; vor ihren Dekreten trug sich die Geschichte ganz anders zu, als sie sich nach denselben zugetragen hat. Daher weicht denn auch die massenhafte, sogenannte wirkliche Geschichte bedeutend ab von der kritischen, die sich Heft VII der „Literatur-Zeitung" von p. 4 an ereignet. In der massenhaften Geschichte gab es keine Fabrikstädte, ehe es Fabriken gab; aber in der kritischen Geschichte, wo der Sohn seinen Vater erzeugt, wie bei Hegel schon, sind Manchester, Bolton und Preston aufblühende Fabrikstädte, ehe noch an Fabriken gedacht wurde. In der wirklichen Geschichte wurde die Baumwollen-Industrie besonders durch Hargreaves' „Jenny" und durch Arkwrights „Throstle" (Waterspinnmaschine) begründet, während Cromptons „Mulenur eine Verbesserung der Jenny durch Arkwrights neu entdecktes Prinzip ist; aber die kritische Geschichte weiß zu unterscheiden, verschmäht die Einseitigkeiten der Jenny und Throstle und gibt die Krone der Mule, als der spekulativen Identität der Extreme. In der Wirklich
keit war mit der Erfindung der Throstle und der Mule die Anwendung der Wasserkraft auf diese Maschinen sogleich gegeben, aber die kritische Kritik sondert die von der rohen Geschichte zusammengeworfenen Prinzipien und läßt diese Anwendung erst später als etwas ganz Besonderes eintreten. In der Wirklichkeit ging die Erfindung der Dampfmaschine allen anderen obengenannten Erfindungen voraus, in der Kritik aber ist sie, als die Krone des Ganzen, auch das letzte. In der Wirklichkeit war die Geschäftsverbindung zwischen Liverpool und Manchester in ihrer jetzigen Bedeutung die Folge des Exports englischer Waren, in der Kritik ist diese Geschäftsverbindung die Ursache desselben und beides die Folge der benachbarten Lage jener Städte. In der Wirklichkeit gehen fast alle Waren von Manchester über Hull nach dem Kontinent, in der Kritik über Liverpool. In der Wirklichkeit gibt es in den englischen Fabriken alle Abstufungen des Arbeitslohns von anderthalb bis zu 40 und mehr Shillingen, in der Kritik wird nur ein Satz, 11 Shilling, ausgezahlt. In der Wirklichkeit ersetzt die Maschine die Handarbeit, in der Kritik das Denken. In der Wirklichkeit ist eine Verbindung der Arbeiter zur Erhöhung des Lohns in England erlaubt, in der Kritik aber ist sie verboten, denn die Masse hat erst bei der Kritik anzufragen, wenn sie sich etwas erlauben will. In der Wirklichkeit ermüdet die Fabrikarbeit sehr bedeutend und erzeugt eigentümliche Krankheiten - es gibt sogar ganze medizinische Werke über, diese Krankheiten —, in der Kritik kann „übermäßige Anstrengung nicht an der Arbeit hindern, denn die Kraft fällt auf die Seite der Maschine". In der Wirklichkeit ist die Maschine eine Maschine, in der Kritik hat sie einen Willen, denn da sie nicht ruht, so kann der Arbeiter auch nicht ausruhen und ist einem fremden Willen Untertan. Das ist aber noch gar nichts. Die Kritik kann sich bei den massenhaften Parteien Englands nicht befriedigen, sie schafft neue, sie schafft eine „Fabrikpartei", wofür die Geschichte sich bei ihr bedanken mag. Sie wirft dagegen Fabrikanten und Fabrikarbeiter in einen massenhaften Haufen - was soll man sich denn um solche Kleinigkeiten kümmern — und dekretiert, daß die Fabrikarbeiter nicht aus bösem Willen und Chartismus, wie die dummen Fabrikanten meinen, sondern bloß aus Armut nicht zum Fonds der Anti-Corn-Law League^7^ beigetragen haben. Sie dekretiert ferner, daß bei der Abschaffung der englischen Korngesetze die Ackerbautaglöhner sich eine Herabsetzung des Lohns werden gefallen lassen müssen, wobei wir aber untertänigst bemerken möchten, daß diese elende Klasse keinen Heller mehr entbehren kann, ohne absolut zu verhungern. Sie dekretiert, daß in Englands Fabriken sechzehn Stunden gearbeitet wird, obwohl das einfältige, unkritische englische Gesetz
dafür gesorgt hat, daß nicht über 12 Stunden gearbeitet werden kann. Sie dekretiert, daß England ein großes Werkhaus für die Welt werden soll, obwohl die unkritischen massenhaften Amerikaner, Deutschen und Belgier den Engländern allmählich einen Markt nach dem andern mit ihrer Konkurrenz verderben. Sie dekretiert endlich, daß die Zentralisation des Besitzes und ihre Folgen für die arbeitenden Klassen weder der besitzlosen noch der besitzenden Klasse in England bekannt seien, wenn auch die dummen Chartisten sie sehr gut zu kennen glauben und die Sozialisten diese Folgen längst im Detail dargestellt zu haben meinen, ja wenn selbst Tories und Whigs, wie Carlyle, Alison und Gaskell, diese Kenntnis in eignen Werken bewiesen haben. Die Kritik dekretiert, daß die Zehnstundenbill des Lord Ashley^ eine schlappe juste-milieu-Maßregel und Lord Ashley selbst ein „treues Abbild des konstitutionellen Wirkens" sei, während die Fabrikanten, die Chartisten, die Grundbesitzer, kurz die ganze Massenhaftigkeit Englands bisher diese Maßregel für den allerdings möglichst gelinden Ausdruck eines durchaus radikalen Prinzips angesehen haben, da sie die Axt an die Wurzel des auswärtigen Handels und damit an die Wurzel des Fabriksystems legen - nein, nicht nur daran legen, sondern tief hineinhauen würde. Die kritische Kritik weiß das besser. Sie weiß, daß die Zehnstundenfrage vor einem „Ausschuß" des Unterhauses verhandelt wurde, da doch die unkritischen Zeitungen uns weismachen wollen, daß dieser „Ausschuß ' das Haus selbst, nämlich ein „Komitee des ganzes Hauses" gewesen sei, aber die Kritik muß diese Bizarrerie der englischen Konstitution notwendig aufheben. Die kritische Kritik, welche die Dummheit der Masse, ihren Gegensatz, selbst erzeugt, erzeugt auch die Dummheit des Sir James Graham und legt ihm vermittelst eines kritischen Verständnisses der englischen Sprache Dinge in den Mund, die der unkritische Minister des Innern nie gesagt hat, bloß damit vor der Dummheit Grahams die Weisheit der Kritik desto heller leuchte. Sie behauptet, Graham sage, die Maschinen in den Fabriken würden in etwa 12 Jahren abgenutzt, einerlei ob sie 10 oder 12 Stunden täglich liefen, und so würde eine Zehnstundenbill dem Kapitalisten unmöglich machen, in 12 Jahren clurch die Arbeit der Maschinen das in denselben angelegte Kapital zu reproduzieren. Die Kritik weist nach, daß sie damit dem Sir James Graham einen Trugschluß in den Mund gelegt hat, denn eine Maschine, die täglich ein Sechstel der Zeit weniger arbeitet, wird natürlich auch eine längere Zeit brauchbar bleiben. So richtig diese Bemerkung der kritischen Kritik gegen ihren eignen Trugschluß ist, so muß doch auch andrerseits dem Sir James Graham zugegeben
werden, daß er selbst sagte, die Maschine müsse unter einer Zehnstundenbill um so viel schneller laufen, als sie in der Arbeitszeit beschränkt wird, was auch die Kritik [Heft] VIII, p. 32 selbst zitiert, und daß unter dieser Voraussetzung die Abnutzungszeit dieselbe, nämlich 12 Jahre bleibt. Dies muß anerkannt werden, um so mehr, als diese Anerkennung zum Ruhm und zur Verherrlichung „der Kritik" gereicht, da nur die Kritik den Trugschluß sowohl selbst gemacht als auch selbst wieder aufgelöst hat. Sie ist ebenso großmütig gegen den Lord John Russell, dem sie unterschiebt, er suche eine Veränderung der politischen Staatsform und der Wahlbestimmungen, woraus wir schließen müssen, daß entweder der Trieb der Kritik, Dummheiten zu produzieren, ungemein stark oder der Lord John Russell in den letzten acht Tagen ein kritischer Kritiker geworden sein muß. Wahrhaft großartig aber wird die Kritik erst in ihrer Verfertigung von Dummheiten, wenn sie entdeckt, daß die Arbeiter Englands - die Arbeiter, die im April und Mai Meetings über Meetings hielten, Petitionen über Petitionen abfaßten, und alles dies für die Zehnstundenbill, die so aufgeregt waren wie seit zwei Jahren nicht, und das von einem Ende der Fabrikdistrikte bis zum andern -, daß diese Arbeiter nur ein „teilweises Interesse" an dieser Frage nehmen, obwohl es sich doch zeigt, daß „auch die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit ihre Aufmerksamkeit beschäftigt hat"; wenn sie vollends die große, die herrliche, die unerhörte Entdeckung macht, daß „die anscheinend näherliegende Hülfe durch Abschaffung der Korngesetze den größten Teil der Wünsche der Arbeiter absorbiert und es tun wird, bis die wohl nicht mehr zu bezweifelnde Erfüllung dieser Wünsche ihnen praktisch die Nutzlosigkeit derselben beweist", - den Arbeitern, die gewohnt sind, in allen öffentlichen Meetings die Korngesetzabschaffer von der Rednerbühne zu werfen, die es durchgesetzt haben, daß in keiner englischen Fabrikstadt die Anti-KorngesetzLeague noch ein öffentliches Meeting zu halten wagt, die die League für ihren einzigen Feind ansehen und die während der Zehnstundendiskussion, wie fast immer vorher in ähnlichen Fragen, von den Tories unterstützt wurden. Schön ist es auch, wenn die Kritik auffindet, daß „die Arbeiter sich noch immer von den umfassenden Versprechungen des Chartismus locken lassen", der weiter nichts ist als der politische Ausdruck der öffentlichen Meinung unter den Arbeitern; wenn sie gewahr wird in der Tiefe ihres absoluten Geistes, daß „die doppelten Parteiungen, die politische und die des Landund Mühleigentums, schon nicht ineinander aufgehn und sich decken wollen", während es bis jetzt noch nicht bekannt war, daß die Parteiung des Land- und Mühleigentums bei der geringen Anzahl beider Klassen von Eigentümern und bei der gleichen politischen Berechtigung beider (mit Ausnahme der wenigen
Pairs) eine sogar umfassende war, daß sie statt der konsequenteste Ausdruck, die Spitze der politischen Parteien, ganz und gar eins und dasselbe mit den politischen Parteiungen sei. Schön ist es, wenn die Kritik den Korngesetzabschaffern die Zumutung unterschiebt, als wüßten sie nicht, daß ceteris paribus1 ein Fallen der Brotpreise auch ein Fallen des Arbeitslohns zur Folge haben müsse und alles beim alten bleibe; während diese Leute von diesem zugestandenen Falle des Arbeitslohns und damit der Produktionskosten eine Ausdehnung des Marktes und von ihr eine Verminderung der Konkurrenz unter den Arbeitern erwarten, wodurch der Lohn doch etwas höher, im Verhältnis zu den Brotpreisen, gehalten werde, als er jetzt steht. Die Kritik, in der freien Schöpfung ihres Gegensatzes, des Unsinns, mit künstlerischer Seligkeit sich bewegend, dieselbe Kritik, die vor zwei Jahren ausrief: „Die Kritik spricht deutsch, die Theologie lateinisch"dieselbe Kritik hat jetzt Englisch gelernt und nennt die Grundbesitzer „Landeigner" (land-owners), die Fabrikbesitzer „Mühleigner" (mill-owners) - mill heißt im Englischen jede Fabrik, deren Maschinen von Dampf oder Wasserkraft getrieben werden -, die Arbeiter „Hände" (hands), sie sagt statt „Einmischung" Interferenz (interference), und in ihrer unendlichen Erbarmung über die von sündhafter Massenhaftigkeit strotzende englische Sprache läßt sie sich sogar herab, sie zu verbessern, und schafft die Pedanterie ab, womit die Engländer den Titel „Sir" der Ritter und Baronets stets vor den Vornamen setzen. Die Masse sagt: „Sir James Graham", die Kritik: „Sir Graham . Daß die Kritik aus Prinzip und nicht aus Leichtsinn die englische Geschichte und Sprache umschafft, wird sogleich die Gründlichkeit beweisen, womit sie die Geschichte des Herrn Nauwerck behandelt.
1 wenn die übrigen Bedingungen die gleichen bleiben
III. KAPITE L
„Die Gründlichkeit der kritischen Kritik" oder die kritische Kritik als Herr j. (Jungnitz ?)tlul
Der unendlich wichtige Streit des Herrn Nauwerck mit der Berliner philosophischen Fakultät darf von der Kritik nicht unberührt bleiben; sie hat ja Ähnliches erlebt und muß Herrn Nauwercks Fata zum Hintergrunde nehmen, um davon ihre Bonner Entsetzungt111 desto greller sich abheben zu lassen. Da die Kritik die Bonner Historie als das Ereignis des Jahrhunderts anzusehn gewohnt ist und bereits die „Philosophie der Absetzung der Kritik" geschrieben hat, so war zu erwarten, daß sie in ähnlicher Weise die Berliner „Kollision" philosophisch bis ins Detail konstruieren würde. Sie beweist a priori1, daß das alles so und nicht anders sich habe zutragen müssen, und zwar:
1. warum die philosophische Fakultät nicht mit einem Logiker und Metaphysiker, sondern mit einem Staatsphilosophen habe „kollidieren" müssen; 2. warum diese Kollision nicht von der Härte und Entscheidung sein konnte als der Konflikt der Kritik mit der Theologie in Bonn; 3. warum die Kollision eigentlich dummes Zeug war, da die Kritik bereits in ihrer Bonner Kollision alle Prinzipien, allen Gehalt konzentriert hatte und nun die Weltgeschichte nur an der Kritik zum Plagiarius werden könnte; 4. warum die philosophische Fakultät sich in Herrn Nauwercks Schriften selbst angegriffen sah; 5. warum Herrn N[auwerck] nichts übrigblieb, als freiwillig zurückzutreten; 6. warum die Fakultät Herrn N[auwerck] verteidigen mußte, wenn sie sich nicht selbst aufgeben wollte; 7. warum die „innere Spaltung im Wesen der Fakultät sich notwendig so darstellen mußte", daß die Fakultät sowohl Njauwerck] wie der Regierung recht und unrecht zu gleicher Zeit gab;
1 von vornherein; unabhängig von Erfahrung
2 Marx/Engels, Werke, Bd. 2
8. warum die Fakultät in N[auwerck]s Schriften kein Motiv zu seiner Entfernung findet; 9. worin die Unklarheit des ganzen Votums bedingt ist; 10. warum die Fakultät sich „als wissenschaftliche Behörde! berechtigt! glaubt! den Kern der Sache ins Auge fassen zu dürfen", und endlich 11. warum dennoch die Fakultät nicht in gleicher Weise wie Herr Njauwerck] schreiben will. Diese wichtigen Fragen erledigt die Kritik auf vier Seiten mit seltner Gründlichkeit, indem sie aus Hegels Logik beweist, warum das alles so geschehen sei und kein Gott hätte dagegen angehen können. Die Kritik sagt an einem andern Ort, es sei noch keine einzige Geschichtsepoche erkannt; die Bescheidenheit verbietet ihr zu sagen, daß sie wenigstens ihre eigne und die Nauwercksche Kollision, die zv/ar keine Epochen sind, aber in ihrer Ansicht doch Epoche machen, vollständig erkannt hat. Die kritische Kritik, die das „Moment" der Gründlichkeit in sich „aufgehoben" hat, wird zur „Ruhe des Erkennens".
IV. KAPITEL
„Die kritische Kritik" als die Ruhe des Erkennens oder die „kritische Kritik" als Herr Edgar
1. „Die Union ouvriere" der Flora Tristan[12]
Die französischen Sozialisten behaupten: Der Arbeiter macht alles, produziert alles, und dabei hat er kein Recht, keinen Besitz, kurz und gut nichts. Die Kritik antwortet durch den Mund des Herrn Edgar, der personifizierten Ruhe des Erkennens:
„Um alles schaffen zu können, dazu gehört ein stärkeres als ein Arbeiterbewußtsein. Nur umgekehrt wäre der Satz wahr: Der Arbeiter macht nichts, darum hat er nichts, er macht aber nichts, weil seine Arbeit stets eine einzeln bleibende, auf sein eigenstes Bedürfnis berechnete, tägliche ist."
Die Kritik vollendet sich hier zu jener Höhe der Abstraktion, in der sie bloß ihre eigenen Gedankenschöpfungen und aller Wirklichkeit widersprechenden Allgemeinheiten für „Etwas", ja für „Alles" ansieht. Der Arbeiter schafft nichts, weil er bloß „Einzelnes", d. h. sinnliche, handgreifliche, geistund kritiklose Gegenstände schafft, die ein Greuel sind vor den Augen der reinen Kritik. Alles Wirkliche, Lebendige ist unkritisch, massenhaft, darum „Nichts", und nur die idealen, phantastischen Kreaturen der kritischen Kritik sind „Alles". Der Arbeiter schafft nichts, weil seine Arbeit eine einzeln bleibende, auf sein bloß individuelles Bedürfnis berechnete ist, also weil die einzelnen, zusammengehörigen Zweige der Arbeit in dieser jetzigen Weltordnung getrennt, ja gegeneinander gestellt sind, kurz, weil die Arbeit nicht organisiert ist. Der eigne Satz der Kritik, wenn man ihn in dem einzig möglichen vernünftigen Sinn faßt, den er haben kann, verlangt die Organisation der Arbeit. Flora Tristan, bei deren Beurteilung dieser große Satz an den Tag kommt, verlangt dasselbe und wird für diese Insolenz, der kritischen Kritik vorzugreifen, en Canaille1 behandelt. Der Arbeiter schafft Nichts; dieser Satz ist übrigens
1 verächtlich
a*
wenn man davon absieht, daß der einzelne Arbeiter nichts Ganzes produziert, was eine Tautologie ist - total verrückt. Die kritische Kritik schafft Nichts, der Arbeiter schafft Alles, ja so sehr Alles, daß er die ganze Kritik auch in seinen geistigen Schöpfungen beschämt; die englischen und französischen Arbeiter können davon Zeugnis ablegen. Der Arbeiter schafft sogar den Menschen; der Kritiker wird stets ein Unmensch bleiben, wofür er freilich die Genugtuung hat, kritischer Kritiker zu sein.
„Flora Tristan gibt uns ein Beispiel jenes weiblichen Dogmatismus, der eine Formel haben will und sich dieselbe aus den Kategorien des Bestehenden bildet."
Die Kritik tut nichts als sich „Formeln aus den Kategorien des Bestehenden bilden , nämlich aus der bestehenden Hegeischen Philosophie und den bestehenden sozialen Bestrebungen; Formeln, weiter nichts als Formeln, und trotz allen ihren Invektiven gegen den Dogmatismus verurteilt sie sich selbst zum Dogmatismus, ja zum weiblichen Dogmatismus. Sie ist und bleibt ein altes Weib, die verwelkte und verwitwete Hegeische Philosophie, die ihren zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier umherschielt.
2. Beraud über die Freudenmädchen
Herr Edgar, der nun einmal der sozialen Fragen sich erbarmt, mischt sich auch in die „Hurenverhältnisse". ([Heft] V, p. 26.) Er kritisiert des Pariser Polizeikommissärs Beraud Buch über die Prostitution, weil es ihm „auf den Standpunkt" ankommt, von dem „Beraud die Stellung der Freudenmädchen zur Gesellschaft auffaßt". Die „Ruhe des Erkennens" wundert sich, wenn sie findet, daß ein Polizeimensch eben einen Polizeistandpunkt hat, und gibt der Masse zu verstehen, das sei ein ganz verkehrter. Ihren eignen Standpunkt gibt sie aber nicht zu verstehen. Natürlich! Wenn die Kritik sich mit Freudenmädchen abgibt, so kann man nicht verlangen, daß dies vor dem Publikum geschehe.
3. Die Liebe
Um sich zur „Ruhe des Erkennens" zu vollenden, muß die kritische Kritik vor allem sich der Liebe zu entledigen suchen. Die Liebe ist eine Leidenschaft, und nichts gefährlicher für die Ruhe des Erkennens als die Leidenschaft,
Bei Gelegenheit der Romane der Frau v. Paalzow, die er „gründlich studiert zu haben" versichert, überwältigt Herr Edgar daher „eine Kinderei wie die sogenannte Liebe". Solches ist ein Scheuel und Greuel und reget in der kritischen Kritik auf Ingrimmigkeit, machet sie fast gallenerbittert, ja abersinnig. „Die Liebe ... ist eine grausame Göttin, welche, wie jede Gottheit, den ganzen Menschen besitzen will und nicht eher zufrieden ist, als bis er ihr nicht bloß seine Seele, sondern auch sein physisches Selbst dargebracht hat. Ihr Kultus ist das Leiden, der Gipfel dieses Kultus ist die Selbstaufopferung, der Selbstmord."
Um die Liebe in den „Moloch", in den leibhaftigen Teufel zu verwandeln, verwandelt Herr Edgar sie vorher in eine Göttin. Zur Göttin, d. h. zu einem theologischen Gegenstand geworden, unterliegt sie natürlich der Kritik der Theologie, und überdem liegen bekanntlich Gott und Teufel nicht weit auseinander. Herr Edgar verwandelt die Liebe in eine „Göttin", und zwar in eine „grausame Göttin", indem er aus dem liebenden Menschen, aus der Liebe des Menschen den Menschen der Liebe macht, indem er die „Liebe" als ein apartes Wesen vom Menschen lostrennt und als solches verselbständigt. Durch diesen einfachen Prozeß, durch diese Verwandlung des Prädikats in das Subjekt, kann man alle Wesensbestimmungen und Wesensäußerungen des Menschen in Unwesen und Wesensentäußerungen kritisch umformen. So z.B. macht die kritische Kritik aus der Kritik, als einem Prädikat und einer Tätigkeit des Menschen, ein apartes Subjekt, die sich auf sich selbst beziehende und darum kritische Kritik : ein „Moloch", dessen Kultus die Selbstaufopferung, der Selbstmord des Menschen, namentlich des menschlichen Denkvermögens ist.
„Gegenstand", ruft die Ruhe des Erkennens aus, „Gegenstand, das ist der richtige Ausdruck, denn der Geliebte ist dem Liebenden - (das Femininum fehlt) - nur wichtig als dieses äußere Objekt seiner Gemiitsaf jektion, als Objekt, in welchem es sein selbstsüchtiges Gefühl befriedigt sehn will."
Gegenstand! Entsetzlich! Es gibt nichts Verwerflicheres, Profaneres, Massenhafteres als ein Gegenstand - a bas1 der Gegenstand! Wie sollte die absolute Subjektivität, der actus purus3, die „reine" Kritik, nicht in der Liebe ihre bete noire, den leibhaftigen Satan erblicken, in der Liebe, die den Menschen erst wahrhaft an die gegenständliche Welt außer ihm glauben lehrt, die nicht nur den Menschen zum Gegenstand, sondern sogar den Gegenstand zum Menschen macht!
1 nieder — 2 reine Handlung
Die Liebe, fährt die Ruhe des Erkennens, außer sich, fort, beruhigt sich nicht mal dabei, den Menschen in die Kategorie „Objekt" für den andern Menschen zu verwandeln, sie macht ihn sogar zu einem bestimmten, wirklichen Objekt, zu diesem, schlecht-individuellen (siehe Hegel, „Phänomenologie" [13J, über das Diese und das Jene, wo auch gegen das schlechte „Dieses" polemisiert wird), äußerlichen, nicht nur innerlichen, in dem Gehirn steckenbleibenden, sondern sinnlich offenbaren Objekt.
Lieb' Lebt nicht allein vermauert im Gehirn.
Nein, die Geliebte ist sinnlicher Gegenstand, und die kritische Kritik verlangt zum allermindesten, wenn sie sich zur Anerkennung eines Gegenstandes herablassen soll, einen sinnlosen Gegenstand. Die Liebe aber ist ein unkritischer, anchristlicher Materialist. Endlich macht die Liebe gar den einen Menschen zu „diesem äußern Objekt der Gemütsaffektion" des andern Menschen, zum Objekt, worin sich das selbstsüchtige Gefühl des andern Menschen befriedigt, ein selbstsüchtiges Gefühl, weil es sein eignes Wesen im andern Menschen sucht, und das soll doch nicht sein. Die kritische Kritik ist so frei von aller Selbstsucht, daß sie den ganzen Umfang des menschlichen Wesens in ihrem eignen Selbst erschöpft findet. Herr Edgar sagt uns natürlich nicht, wodurch sich die Geliebte unterscheidet von den übrigen „äußerlichen Objekten der Gemütsaffektion, worin sich die selbstsüchtigen Gefühle der Menschen befriedigen'. Der geistreiche, vielsinnige, vielsagende Gegenstand der Liebe sagt der Ruhe des Erkennens nur das kategorische Schema: „dieses äußere Objekt der Gemütsaffektion", wie etwa der Komet dem spekulativen Naturphilosophen nichts sagt als die „Negativität". Indem der Mensch den Menschen zum äußeren Objekt seiner Gemütsaffektion macht, legt er ihm zwar nach dem eignen Geständnis der kritischen Kritik „Wichtigkeit" bei, aber eine sozusagen gegenständliche Wichtigkeit, während die Wichtigkeit, welche die Kritik den Gegenständen beilegt, nichts anders ist als die Wichtigkeit, die sie sich selbst beilegt, die sich daher auch nicht in dem „schlechten äußeren Sein , sondern in dem „Nichts" des kritisch wichtigen Gegenstandes bewährt. Wenn die Ruhe des Erkennens in dem wirklichen Menschen keinen Gegenstand besitzt, besitzt sie dagegen in der Menschheit eine Sache. Die kritische Liebe „hütet sich vor allem, über der Person die Sache zu vergessen, welche nichts anders ist als die Sache der Menschheit". Die unkritische Liebe trennt die Menschheit nicht von dem persönlichen individuellen Menschen.
„Die Liebe selber, als eine abstrakte Leidenschaft, die kommt, man weiß nicht woher, und geht, man weiß nicht wohin, ist des Interesses einer innern Entwicklung unfähig." Die Liebe ist in den Augen der Ruhe des Erkennens eine abstrakte Leidenschaft nach dem spekulativen Sprachgebrauch, wonach das Konkrete abstrakt und das Abstrakte konkret heißt. Sie war nicht in dem Tal geboren, Man wußte nicht, woher sie kam; Doch schnell war ihre Spur verloren, Sobald das Mädchen Abschied nahm, f1^ Die Liebe ist für die Abstraktion „das Mädchen aus der Fremde", ohne dialektischen Paß, und wird dafür von der kritischen Polizei des Landes verwiesen. Die Leidenschaft der Liebe ist des Interesses einer innern Entwickelung unfähig, weil sie nicht a priori konstruiert werden kann, weil ihre Entwicklung eine wirkliche ist, die in der Sinnenwelt und zwischen wirklichen Individuen vorgeht. Das Hauptinteresse der spekulativen Konstruktion ist aber das „Woher' und das „Wohin . Das Woher ist eben die „Notwendigkeit eines Begriffs, sein Beweis und Deduktion" (Hegel). Das Wohin ist die Bestimmung, „wodurch jedes einzelne Glied des spekulativen Kreislaufes, als Beseeltes der Methode, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist" (Hegel). Also nur, wenn ihr Woher und ihr Wohin a priori zu konstruieren wäre, verdiente die Liebe das „Interesse" der spekulativen Kritik. Was die kritische Kritik hier bekämpft, ist nicht nur die Liebe, sondern alles Lebendige, alles Unmittelbare, alle sinnliche Erfahrung, alle wirkliche Erfahrung überhaupt, von der man nie vorher weiß, „woher" und „wohin". Herr Edgar hat durch die Überwältigung der Liebe sich vollständig als „Ruhe des Erkennens gesetzt und kann nun an Proudhon sogleich eine große Virtuosität des Erkennens, für welches der „Gegenstand" aufgehört hat, „dieses äußere Objekt" zu sein, und eine noch größere Lieblosigkeit gegen die französische Sprache bewähren.
4. Proudhon
Nicht Proudhon selbst, sondern der „Proudhonsche Standpunkt" hat nach dem Bericht der kritischen Kritik die Schrift „Qu'est-ce que la propriete?"[15] geschrieben. „ Ich beginne meine Schilderung des Proudhonschen Standpunktes mit der Charakteristik seiner" (des Standpunktes) „Schrift ,Was ist das Eigentum?'"
Da nur die Schriften des kritischen Standpunktes von selbst Charakter besitzen, so beginnt die kritische Charakteristik notwendig damit, der Proudhonschen Schrift einen Charakter zu geben. Herr Edgar gibt dieser Schrift einen Charakter, indem er sie übersetzt. Er gibt ihr natürlich einen schlechten Charakter, denn er verwandelt sie in einen Gegenstand „der Kritik". Proudhons Schrift unterliegt also einem doppelten Angriff des Herrn Edgar, einem stillschweigenden in seiner charakterisierenden Übersetzung, einem ausgesprochenen in seinen kritischen Randglossen. Wir werden finden, daß Herr Edgar vernichtender ist, wenn er übersetzt, als wenn er glossiert.
Charakterisierende Übersetzung Nr.I
„Ich will" (nämlich der kritisch übersetzte Proudhon) „kein System des Neuen geben, ich will nichts als die Abschaffung des Privilegiums, die Vernichtung der Sklaverei ... Gerechtigkeit, nichts als Gerechtigkeit, das ist's, was ich meine."
Der charakterisierte Proudhon beschränkt sich auf Wollen und Meinen, weil der „gute Wille" und die unwissenschaftliche „Meinung charakteristische Attribute der unkritischen Masse sind. Der charakterisierte Proudhon tritt so demutsvoll auf, wie es der Masse geziemt, und ordnet das, was er will, dem unter, was er nicht will. Er versteigt sich nicht dazu, ein System des Neuen geben zu wollen, er will weniger, er will sogar nichts als die Abschaffung des Privilegiums etc. Außer dieser kritischen Subordination des Willens, den er hat, unter den Willen, den er nicht hat, zeichnet sich sein erstes Wort sogleich durch einen charakteristischen Mangel an Logik aus. Der Schriftsteller, der sein Buch damit eröffnet, daß er kein System des Neuen geben will, wird nun sagen, was er geben will, sei es ein systematisches Altes oder ein unsystematisches Neues. Aber der charakterisierte Proudhon, der kein System des Neuen geben will, will er die Abschaffung der Privilegien geben? Nein. Er will sie. Der wirkliche Proudhon sagt: „Je ne fais pas de systeme; je demande la fin du privilege"1 etc. Ich mache kein System, ich verlange etc. D. h„ der wirkliche Proudhon erklärt, daß er keine abstrakt wissenschaftliche Zwecke verfolgt, sondern unmittelbar praktische Forderungen an die Gesellschaft stellt. Und die Forderung, die er stellt, ist nicht willkürlich. Sie ist motiviert und berechtigt durch die ganze Entwicklung, die er gibt, sie ist das Resume dieser Entwicklung, denn: „Justice, rien que justice; tel est le resume de
1 „Ich mache kein System; ich verlange das Ends des Privilegs"
mon discours."1 Der charakterisierte Proudhon gerät mit seinem „Gerechtigkeit, nichts als Gerechtigkeit, das ist's, was ich meine" um so bedeutender in Verlegenheit, als er noch vieles andre meint und nach Herrn Edgars Bericht z. B. „meint", die Philosophie sei nicht praktisch genug gewesen, „meint", den Charles Comte zu widerlegen etc. Der kritische Proudhon fragt sich: „Soll der Mensch denn immer unglücklich sein?", d. h. er fragt, ob das Unglück die moralische Bestimmung des Menschen ist. Der wirkliche Proudhon ist ein leichtsinniger Franzose und fragt, ob das Unglück eine materielle Notwendigkeit, ein Müssen ist. (L homme doit~il etre eternellement malheureux?') Der massenhafte Proudhon sagt:
„Et sans m'arreter aux explications ä toute fin des entrepreneurs de rdformes, accusant de la detresse generale ceux-ci la lachete et l'imperitie du pouvoir, ceux-lä les conspirateurs et les erneutes, d'autres l'ignorance et la corruption generale", etc.3
Weil der Ausdruck a toute fin ein schlechter massenhafter Ausdruck ist, der sich in den massenhaften deutschen Wörterbüchern nicht findet, so läßt der kritische Proudhon natürlich diese nähere Bestimmung der „Auseinandersetzungen" weg. Dieser Terminus ist der massenhaften französischen Jurisprudenz entlehnt, und explications ä toute fin bedeuten Auseinandersetzungen, die alle Einreden abschneiden. Der kritische Proudhon beleidigt die „Reformisten", eine sozialistische französische Partei'161, der massenhafte Proudhon die Reform-Fabrikanten. Bei dem massenhaften Proudhon gibt es verschiedene Klassen der entrepreneurs de reformes. Diese, ceux-ci, sagen das, jene, ceux-lä, das, andre, d autres, das. Der kritische Proudhon läßt dagegen dieselben Reformisten „bald - bald - bald anklagen", was jedenfalls von ihrer Unbeständigkeit zeugt. Der wirkliche Proudhon, der sich nach der massenhaften französischen Praxis richtet, spricht von „les conspirateurs et les erneutes", d. h. erst von den Verschwörern und dann von ihrer Handlung, den Erneuten. Der kritische Proudhon, der die verschiedenen Klassen der Reformisten zusammengeworfen hat, klassifiziert dagegen die Rebellen und sagt daher: die Verschwörer und Aufrührer. Der massenhafte Proudhon spricht von der Unwissenheit und „allgemeinen Verdorbenheit".
1 „Gerechtigkeit, nichts als Gerechtigkeit; darin faßt sich meine Darlegung zusammen." - 2 Muß der Mensch ewig unglücklich sein? - 3 „Und ohne mich mit den alle Einreden abschneidenden Auseinandersetzungen der Reform-Fabrikanten aufzuhalten, von denen diese die Feigheit und das Ungeschick der Machthaber, jene die Verschwörer und die Erneuten, andere die Unwissenheit und die allgemeine Verdorbenheit für die allgemeine Notlage verantwortlich machen", usw.
Der kritische Proudhon verwandelt die Unwissenheit in Dummheit, die „Verdorbenheit" in die „Verworfenheit" und macht endlich als kritischer Kritiker die Dummheit allgemein. Er selbst gibt unmittelbar von ihr ein Beispiel, indem er generale statt in den Plural in den Singular setzt. Er schreibt: l'ignorance et la corruption generale für: die allgemeine Dummheit und Verworfenheit. Der unkritischen französischen Grammatik gemäß müßte dies heißen: l'ignorance et la corruption generale«. Der charakterisierte Proudhon, der anders spricht und denkt wie der massenhafte, hat notwendig auch einen ganz anderen Bildungsgang durchgemacht. Er „befragte die Meister der Wissenschaft, las hundert Bände der Philosophie und Rechtswissenschaft etc., und zuletzt sah" er „ein, daß wir noch nie den Sinn der Worte Gerechtigkeit, Billigkeit, Freiheit erfaßt haben". Der wirkliche Proudhon glaubte das von Anfang an zu erkennen (je crus d'abord reconnaitre1), was der kritische „zuletzt einsah. Die kritische Verwandlung des d'abord in enfin2 ist notwendig, weil die Masse nichts [von] „vornherein" zu erkennen glauben darf. Der massenhafte Proudhon erzählt ausdrücklich, wie dieses befremdende Resultat seiner Studien ihn erschüttert, wie er ihm nicht getraut habe. Er beschloß daher, eine „Gegenprobe" zu machen, er fragte sich: „Ist es möglich, daß die Menschheit über die Prinzipien der Anwendung der Moral sich so lange und so allgemein betrogen hat? Wie und warum hat sie sich betrogen? etc. Von der Lösung dieser Fragen machte er die Richtigkeit seiner Beobachtungen abhängig. Er fand, daß in der Moral, wie in allen übrigen Zweigen des Wissens, die Irrtümer „Stufen der Wissenschaft sind". Der kritische Proudhon dagegen vertraut sogleich dem ersten Eindruck, den seine nationalökonomischen, juristischen und ähnlichen Studien auf ihn gemacht haben. Versteht sich, die Masse darf auf keine gründliche Art verfahren, sie muß die ersten Ergebnisse ihrer Studien zu unbestreitbaren Wahrheiten erheben. Sie ist „von vornherein fertig, ehe sie sich mit ihrem Gegensatz gemessen hat , daher „zeigt es sich" hinterher, „daß sie noch nicht bei dem Anfang angekommen ist, wenn sie am Ende zu stehen glaubt". Der kritische Proudhon fährt daher fort, in der haltlosesten und unzusammenhängendsten Weise zu räsonieren: „Unsere Erkenntnis3 der moralischen Gesetze ist nicht von vornherein vollständig; so kann sie einige Zeit dem gesellschaftlichen Fortschritte genügen; auf die Länge aber wird sie uns einen falschen Weg führen."
1ich glaubte von Anfang an zu erkennen - 2 zuerst in zuletzt - 3 in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung": Kenntnis
Der kritische Proudhon motiviert nicht, warum eine unvollständige Erkenntnis der moralischen Gesetze dem gesellschaftlichen Fortschritt auch nur für einen Tag genügen kann. Der wirkliche Proudhon, nachdem er sich die Frage aufgeworfen, ob und warum die Menschheit sich so allgemein und so lange habe irren können, nachdem er die Lösung gefunden, daß alle Irrtümer Stufen der Wissenschaft sind, daß unsre unvollständigsten Urteile eine Summe von Wahrheiten einschließen, die für eine gewisse Zahl von Induktionen wie für einen bestimmten Kreis des praktischen Lebens ausreichen, über welche Zahl und über welchen Kreis hinaus sie theoretisch ins Absurde und praktisch zum Verfall führen, kann sagen, daß selbst eine unvollkommne Erkenntnis der moralischen Gesetze für einige Zeit dem gesell schaftlichen Fortschritt genügen könne. Der kritische Proudhon: „Ist nun aber eine neue Erkenntnis nötig geworden, so erhebt sich ein erbitterter Kampf zwischen den alten Vorurteilen und der neuen Idee."
Wie kann sich ein Kampf erheben gegen einen Gegner, der noch nicht existiert? Und der kritische Proudhon hat uns zwar gesagt, daß eine neue Idee nötig geworden, nicht aber, daß sie schon geworden ist. Der massenhafte Proudhon: „Sobald die höhere Erkenntnis unentbehrlich geworden, fehlt sie nie", so ist sie vorhanden. „Alsdann beginnt der Kampf."
Der kritische Proudhon behauptet, „es sei die Bestimmung des Menschen, sich schrittweise zu unterrichten", als wenn der Mensch nicht eine ganz andre Bestimmung hätte, nämlich die, Mensch zu sein, und als wenn der „schrittweise" Selbstunterricht notwendig einen Schritt weiter führte. Ich kann Schritt vor Schritt gehen und grade auf dem Punkt ankommen, von dem ich ausging. Der unkritische Proudhon spricht nicht von der „Bestimmung", sondern von der Bedingung (condition) für den Menschen, nicht sich schrittweise (pas ä pas), sondern stufenweise (par degres) zu unterrichten. Der kritische Proudhon sagt zu sich selbst:
„Unter den Prinzipien, auf denen die Gesellschaft beruht, gibt es eins, welches sie nicht versteht, welches durch ihre Unwissenheit verderbt ist und alle Übel verursacht. Und doch ehrt man dies Prinzip", und „doch will man es, denn sonst wäre es ohne Einfluß. Dieses Prinzip nun, welches wahr ist seinem Wesen nach, falsch aber in unserer Art, es aufzufassen ... welches ist es?"
In dem ersten Satz sagt der kritische Proudhon, daß das Prinzip von der Gesellschaft verdorben, mißverstanden, also an sich selbst richtig ist. Zum
Überfluß gesteht er in dem zweiten Satz, daß es seinem Wesen nach wahr sei, und nichtsdestoweniger wirft er der Gesellschaft vor, daß sie „dieses Prinzip" wolle und verehre. Der massenhafte Proudhon dagegen tadelt nicht, daß dieses Prinzip, sondern daß dieses Prinzip, so wie unsre Unwissenheit es verfälscht hat, gewollt und geehrt werde. („Ce principe ... tel que notre ignorance l'a fait, est honore."1) Der kritische Proudhon findet das Wesen des Prinzips in seiner unwahren Gestalt wahr. Der massenhafte Proudhon findet, daß das Wesen des verfälschten Prinzips unsre falsche Auffassung, daß es aber in seinem Gegenstand (objet) wahr ist, ganz in derselben Weise, wie das Wesen der Alchimie und Astrologie unsre Phantasie, ihr Gegenstand aber - die Himmelsbewegung und die chemischen Eigenschaften der Körper wahr ist.
Der kritische Proudhon fährt fort in seinem Monologe:
„Der Gegenstand unsrer Untersuchung ist das Gesetz, die Bestimmung des sozialen Prinzips. Nun sind die Politiker, d. h. die Männer der sozialen Wissenschaft, in vollständiger Unklarheit [...] befangen: Wie aber jedem Irrtum eine Wirklichkeit zugrund liegt, so wird man in ihren Büchern die Wahrheit finden, die sie ohne ihr Wissen in die Welt gesetzt haben."
Der kritische Proudhon räsoniert in der abenteuerlichsten Weise. Davon, daß die Politiker unwissend und unklar sind, geht er in ganz willkürlicher Weise dazu fort, daß jedem Irrtum eine Wirklichkeit zugrunde liegt, was um so weniger bezweifelt werden kann, da jedem Irrtum in der Person des Irrenden eine Wirklichkeit zugrunde liegt. Davon, daß jedem Irrtum eine Wirklichkeit zugrunde liegt, schließt er weiter, daß in den Büchern der Politiker die Wahrheit zu finden ist. Und endlich läßt er diese Wahrheit von den Politikern sogar in die Welt gesetzt sein. Hätten sie dieselbe in die Welt gesetzt, so brauchte man sie nicht in ihren Büchern zu suchen. Der massenhafte Proudhon:
„Die Politiker verstehn sich nicht untereinander (ne s'entendent pas); also ist ihr Irrtum ein subjektiver, in ihnen selbst begründeter" (donc c'est en eux qu'est l'erreur). Ihr wechselseitiges Mißverständnis beweist ihre Einseitigkeit. Sie verwechseln „ihre Privatmeinung mit der gesunden Vernunft", und „da" - nach der früheren Deduktion - „jeder Irrtum eine wahre Wirklichkeit zum Gegenstand hat, so muß sich in ihren Büchern die Wahrheit finden, welche sie hier", nämlich in ihre Bücher, „bewußtlos niedergelegt, nicht aber in die Welt gesetzt haben. (Dans leurs livres doit se trouver la verite, qu'ä leur insu ils y auront mise.)"
1 „Dieses Prinzip ... so, wie unsere Unwissenheit es gemacht hat, wird geehrt."
Der kritische Proudhon fragt sich: „Was ist die Gerechtigkeit, welches ist ihr Wesen, ihr Charakter, ihre Bedeutung?" als wenn sie noch eine vom Wesen und vom Charakter unterschiedene aparte Bedeutung haben sollte. Der unkritische Proudhon fragt: Welches ist ihr Prinzip, ihr Charakter und ihre Formel (formule)? Die Formel ist das Prinzip als Prinzip der wissenschaftlichen Entwicklung. In der massenhaften französischen Sprache sind formule und signification1 wesentlich unterschieden. In der kritischen französischen Sprache fallen sie zusammen. Nach seinen allerdings höchst unsachlichen Erörterungen rafft sich der kritische Proudhon zusammen und ruft aus:
„Versuchen wir unserm Gegenstande etwas näherzukommen."
Der unkritische Proudhon, der längst bei seinem Gegenstande angekommen ist, versucht dagegen zu schärferen und positiv[er]en Bestimmungen seines Gegenstandes zu kommen (d'arriver ä quelque chose de plus precis et de plus positif). „Das Gesetz" ist für den kritischen Proudhon eine „Bestimmung des Gerechten", für den unkritischen eine „Erklärung" (declaration) desselben. Der unkritische Proudhon bekämpft die Ansicht, daß das Recht vom Gesetz gemacht werde. Eine „Bestimmung des Gesetzes" kann aber ebensosehr bedeuten, daß das Gesetz bestimmt wird, als daß es bestimmt, wie weiter oben der kritische Proudhon selbst von der Bestimmung des sozialen Prinzips in letzterem Sinne sprach. Es ist allerdings eine Ungebührlichkeit des massenhaften Proudhon, so feine Unterscheidungen zu machen. Nach diesen Differenzen zwischen dem kritisch charakterisierten und dem wirklichen Proudhon ist es gar nicht zu verwundern, daß Proudhon Nr. I ganz andere Dinge zu beweisen sucht als Proudhon Nr. II. Der kritische Proudhon „sacht durch die Erfahrungen der Geschichte zu beweisen", daß, „wenn die Idee, welche wir uns vom Gerechten und vom Rechten2 machen, falsch ist, offenbar" (trotz dieser Offenbarkeit sucht er zu beweisen) „alle seine Anwendungen im Gesetz schlecht, alle unsre Einrichtungen fehlerhaft sein müssen". Der massenhafte Proudhon ist weit davon entfernt, beweisen zu wollen, was offenbar ist. Er sagt vielmehr:
„Wenn die Idee, die wir uns vom Gerechten und vom Rechte machen, schlecht bestimmt, wenn sie unvollständig oder selbst falsch wäre, so ist es evident, daß alle unsre legislativen Anwendungen schlecht sind" etc.
•Bedeutung — 2in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung": vom Recht
Was will der unkritische Proudhon nun beweisen?
„Diese Hypothese", fährt er fort, „von der Verkehrung der Gerechtigkeit in unsrer Auffassung und konsequenten Weise in unsren Handlungen wäre eine bewiesene Tatsache, wenn die Meinungen der Menschen in bezug auf den Begriff der Gerechtigkeit und in bezug auf seine Anwendung nicht beständig dieselben gewesen wären, wenn sie zu verschiedenen Zeiten Modifikationen erfahren hätten, mit einem Wort, wenn Fortschritt in den Ideen stattgefunden hätte."
Und eben diese Unbeständigkeit, diese Veränderung, dieser Fortschritt „ist es, den die Geschichte durch die eklatantesten Zeugnisse beweist". Der unkritische Proudhon zitiert nun diese eklatanten Zeugnisse der Geschichte. Sein kritischer Doppelgänger, wie er einen ganz andern Satz aus den Erfahrungen der Geschichte beweist, stellt auch diese Erfahrungen selbst anders dar. Bei dem wirklichen Proudhon sahen „die Weisen" (les sages), bei dem kritischen Proudhon „die Philosophen" den Untergang des römischen Reichs voraus. Der kritische Proudhon darf natürlich nur die Philosophen für weise Männer halten. Nach dem wirklichen Proudhon waren die römischen „Rechte durch eine tausendjährige Rechtspraxis" oder „Justiz geheiligt" (ces droits consacres par une justice dix fois seculaire), nach dem kritischen Proudhon gab es zu Rom „durch eine tausendjährige Gerechtigkeit geheiligte Rechte". Nach demselben Proudhon Nr. I ward in Rom räsoniert wie folgt:
„Rom... hat durch seine Politik und seine Götter gesiegt, jede Reform im Kultus und öffentlichen Geiste wäre Narrheit und Schändung" (bei dem kritischen Proudhon heißt sacrilege nicht, wie in der massenhaften französischen Sprache, Schändung des Heiligtums oder Heiligtumsentweihung, sondern schlechthin Schändung); „wollte es die Völker befreien, so würde es sein RecRt aufgeben. » So hatte Rom das Faktum und das Recht für sich", fügt Proudhon Nr. I. hinzu. Bei dem unkritischen Proudhon räsoniert man gründlicher in Rom. Man detailliert das Faktum:
„Die Sklaven sind die fruchtbarste Quelle seines Reichtums; die Befreiung der Völker wäre also der Ruin seiner Finanzen."
Und in bezug auf das Recht setzt der massenhafte Proudhon hinzu: „Roms Prätensionen waren gerechtfertigt durch das Völkerrecht (droit des gens)." Diese Art, das Recht der Unterjochung zu beweisen, entspricht durchaus der römischen Rechtsansicht. Siehe die massenhaften Pandekten: „jure gentium servitus invasit".1 (Fr. 4. D. 1.1.)
1 „Durch </as Völkerrecht verbreitete sich die Sk'zverei." („Corpus iuris civilis")
Nach dem kritischen Proudhon bildeten „der Götzendienst, die Sklaverei, die Weichlichkeit die Grundlage der römischen Institutionen", der Institutionen in Bausch und Bogen. Der wirkliche Proudhon sagt: „In der Religion bildete der Götzendienst, im Staat die Sklaverei, im Privatleben der Epikureismus" (epicurisme ist in der profanen französischen Sprache nicht gleichbedeutend mit mollesse, Weichlichkeit) „die Grundlage der Institutionen." Innerhalb dieses römischen Zustandes „erschien" bei dem mystischen Proudhon „Wort Gottes", bei dem wirklichen rationalistischen Proudhon ein „Mann, der sich Wort Gottes nannte . Dieser Mann nennt bei dem wirklichen Proudhon die Priester „Nattern (viperes), bei dem kritischen spricht er galanter mit ihnen und nennt sie „Schlangen . Dort spricht er nach römischer Weise von „Advokaten", hier in deutscher Weise von „Rechtsgelehrten". Der kritische Proudhon, nachdem er den Geist der französischen Revolution als einen Geist des Widerspruchs bezeichnet hat, fügt hinzu:
„Das reicht hin, um einzusehen, daß das Neue, welches an die Stelle des Alten trat, an sich selber nichts Methodisches und Überlegtes hatte."
Er muß die Lieblingskategorien der kritischen Kritik, das „Alte" und das „Neue", nachbeten. Er muß den Unsinn verlangen, daß das „Neue" an sich etwas Methodisches und Überlegtes haben soll, wie man etwa eine Verunreinigung an sich hat. Der wirkliche Proudhon sagt:
„Das reicht hin, um zu beweisen, daß die Ordnung der Dinge, welche an die Stelle der alten gesetzt wurde, in sich ohne Methode und Reflexion war."
Der kritische Proudhon, von der Erinnerung an die französische Revolution fortgerissen, revolutioniert die französische Sprache so sehr, daß er un fait physique1 „eine Tatsache der Physik", un fait intellectuel2 „eine Tatsache der Einsicht" übersetzt. Durch diese Revolution der französischen Sprache gelingt es dem kritischen Proudhon, die Physik in den Besitz aller Tatsachen zu setzen, die sich in der Natur vorfinden. Wenn er so die Naturwissenschaft von der einen Seite über Gebühr erhebt, so erniedrigt er sie ebensosehr von der andern Seite, indem er ihr die Einsicht abspricht und eine Tatsache der Einsicht von einer Tatsache der Physik unterscheidet. Ebensosehr macht er alle ferneren psychologischen und logischen Studien entbehrlich, indem er die intellektuelle Tatsache unmittelbar zur Tatsache der Einsicht erhebt. Da der kritische Proudhon, der Proudhon Nr. I, nicht einmal ahnt, was der wirkliche Proudhon, der Proudhon Nr. II, mit seiner historischen
1 eine physische Tatsache - 2 eine intellektuelle Tatsache
Deduktion beweisen will, so existiert für ihn natürlich auch nicht der eigentliche Inhalt dieser Deduktion, nämlich der Beweis von dem Wechsel der Rechtsansichten und von der fortlaufenden Verwirklichung der Gerechtigkeit durch die Negation des historischen positiven Rechts.
„La societe fut sauvee par la negation de ses principes ... et la violalion des droits les plus sacres."1 So beweist der wirkliche Proudhon, wie durch die Negation des römischen Rechts die Erweiterung des Rechts in der christlichen Vorstellung, wie durch die Negation des Eroberungsrechts das Recht der Kommunen, wie durch die Negation des gesamten Feudalrechts, durch die französische Revolution, der umfassendere jetzige Rechtszustand herbeigeführt wurde. Die kritische Kritik durfte dem Proudhon unmöglich den Ruhm lassen, das Gesetz von der Verwirklichung eines Prinzips durch seine Verneinung aufgefunden zu haben. In dieser bewußten Fassung war dieser Gedanke eine wirkliche Enthüllung für die Franzosen.
Kritische Randglosse Nr.I
Wie die erste Kritik jeder Wissenschaft notwendig in Voraussetzungen der Wissenschaft, die sie bekämpft, befangen ist, so ist Proudhons Werk „Qu'estce que la propriete?" die Kritik der Nationalökonomie vom Standpunkt der Nationalökonomie aus. - Auf die juristische Partie des Buches, welche das Recht vom Standpunkt des Rechts aus kritisiert, brauchen wir hier nicht näher einzugehen, da die Kritik der Nationalökonomie das Hauptinteresse bildet. - Das Proudhonsche Werk wird also wissenschaftlich überschritten durch die Kritik der Nationalökonomie, auch der Nationalökonomie, wie sie in derProudhonschen Fassung erscheint. Diese Arbeit ist erst durch Proudhon selbst möglich geworden, wie Proudhons Kritik die Kritik des Merkantilsystems1171 durch die Physiokraten[18), die der Physiokraten durch Adam Smith, die des Adam Smith durch Ricardo sowie die Arbeiten Fouriers und Saint-Simons zu Voraussetzungen hat. Alle Entwicklungen der Nationalökonomie haben das Privateigentum zur Voraussetzung. Diese Grundvoraussetzung gilt ihr als unumstößliche Tatsache, die sie keiner weiteren Prüfung unterwirft, ja auf welche sie, wie Say naiv gesteht, nur „accidentellement"2 zu sprechen kömmt. Proudhon nun
1 „Die Gesellschaft wurde durch die Verneinung ihrer Prinzipien ... und die Verletzung der heiligsten Rechte gerettet." - s zufällig
unterwirft die Basis der Nationalökonomie, das Privateigentum, einer kritischen Prüfung, und zwar der ersten entschiednen, rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung. Dies ist der große wissenschaftliche Fortschritt, den er gemacht hat, ein Fortschritt, der die Nationalökonomie revolutioniert und eine wirkliche Wissenschaft der Nationalökonomie erst möglich macht. Proudhons Schrift „Qu'est-ce que la propriete?" hat dieselbe Bedeutung für die moderne Nationalökonomie, welche Sieyes' Schrift „Qu'est-ce que le tiers etat? 1 für die moderne Politik hat. Wenn Proudhon die weiteren Gestaltungen des Privateigentums, z.B. Arbeitslohn, Handel, Wert, Preis, Geld etc. nicht, wie es z.B. in den „DeutschFranzösischen Jahrbüchern"geschehen ist (siehe die „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie"tlül von F.Engels), selbst als Gestaltungen des Privateigentums faßt, sondern mit diesen nationalökonomischen Voraussetzungen die Nationalökonomen bestreitet, so entspricht dies ganz seinem oben bezeichneten, historisch gerechtfertigten Standpunkt. Die Nationalökonomie, welche die Verhältnisse des Privateigentums für menschliche und vernünftige Verhältnisse hinnimmt, bewegt sich in einem fortwährenden Widerspruch gegen ihre Grundvoraussetzung, das Privateigentum, in einem analogen Widerspruche wie der Theologe, der die religiösen Vorstellungen beständig menschlich interpretiert und eben dadurch gegen seine Grundvoraussetzung, die Übermenschlichkeit der Religion, beständig verstößt. So tritt in der Nationalökonomie der Arbeitslohn im Anfang als der proportionierte Anteil auf ,*der der Arbeit am Produkt gebührt. Arbeitslohn und Gewinn des Kapitals stehn im freundschaftlichsten, wechselweise sich fördernden, scheinbar menschlichsten Verhältnisse zueinander. Hinterher zeigt es sich, daß sie in dem feindschaftlichsten, in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehn. Der Wert ist im Anfang scheinbar vernünftig bestimmt, durch die Produktionskosten einer Sache und durch ihre gesellschaftliche Nützlichkeit. Hinterher zeigt es sich, daß der Wert eine rein zufällige Bestimmung ist, die in gar keinem Verhältnis weder zu den Produktionskosten noch zu der gesellschaftlichen Nützlichkeit zu stehen braucht. Die Größe des Arbeitslohns wird im Anfang durch die freie Übereinkunft zwischen dem freien Arbeiter und dem freien Kapitalisten bestimmt. Hinterher zeigt es sich, daß der Arbeiter gezwungen ist, ihn bestimmen zu lassen, wie der Kapitalist gezwungen ist, ihn so niedrig als möglich zu setzen. An die Stelle der Freiheit der kontrahierenden Partei ist der Zwang getreten. Ebenso verhält es sich mit dem Handel und mit allen übrigen nationalökonomischen
1 „Was ist der dritte Stand?"
3 Mars/Enscls, Wcrlie, Bd. 2
Verhältnissen. Die Nationalökonomen fühlen selbst gelegentlich diese Widersprüche, und die Entwicklung derselben bildet den Hauptgehalt ihrer wechselseitigen Kämpfe. Wo sie ihnen aber zum Bewußtsein kommen, greifen sie selbst das Privateigentum in irgendeiner partiellen Gestalt als Verfälscher des an sich, nämlich in ihrer Vorstellung, vernünftigen Arbeitslohns, des an sich vernünftigen Werts, des an sich vernünftigen Handels an. So polemisiert Adam Smith gelegentlich gegen die Kapitalisten, Destutt de Tracy gegen die Wechsler, so Simonde de Sismondi gegen das Fabriksystem, so Ricardo gegen das Grundeigentum, so fast alle modernen Nationalökonomen gegen die nichtindustriellen Kapitalisten, in welchen das Eigentum als bloßer Konsument erscheint. Die Nationalökonomen machen also bald ausnahmsweise - namentlich wenn sie irgendeinen speziellen Mißbrauch angreifen - den Schein des Menschlichen an den ökonomischen Verhältnissen geltend, bald aber und im Durchschnitt fassen sie diese Verhältnisse gerade in ihrem offen ausgesprochenen Unterschied vom Menschlichen, in ihrem strikt ökonomischen Sinn. In diesem Widerspruch taumeln sie bewußtlos umher. Proudhon nun hat dieser Bewußtlosigkeit ein für allemal ein Ende gemacht. Er hat den menschlichen Schein der nationalökonomischen Verhältnisse ernst genommen und ihrer unmenschlichen Wirklichkeit schroff gegenübergestellt. Er hat sie gezwungen, das in der Wirklichkeit zu sein, was sie in ihrer Vorstellung von sich sind, oder vielmehr ihre Vorstellung von sich aufzugeben und ihre wirkliche Unmenschlichkeit einzugestehen. Er hat daher konsequent nicht diese oder jene Art des Privateigentums, wie die übrigen Nationalökonomen, auf partielle Weise, sondern das Privateigentum schlechthin auf universelle Weise als den Verfälscher der nationalökonomischen Verhältnisse dargestellt. Er hat alles geleistet, was die Kritik der Nationalökonomie von nationalökonomischem Standpunkte aus leisten kann. Herr Edgar, der den Standpunkt der Schrift „Qu'est-ce que la propriet6?" charakterisieren will, redet natürlich kein Wort weder von der Nationalökonomie noch von dem unterscheidenden Charakter jener Schrift, der eben darin besteht, die Frage nach dem Wesen des Privateigentums zur Lebensfrage der Nationalökonomie und Jurisprudenz gemacht zu haben. Der kritischen Kritik versteht sich das alles von selbst. Proudhon hat nichts Neues mit seiner Negation des Privateigentums getan. Er hat nur ein von der kritischen Kritik verschwiegenes Geheimnis ausgeplaudert.
„Proudhon", fährt Herr Edgar unmittelbar nach seiner charakterisierenden Übersetzung fort, „findet also etwas Absolutes, eine ewige Grundlage in der Geschichte, einen Gott, der die Menschheit lenkt, die Gerechtigkeit."
Proudhons französische Schrift vom Jahre 1840 steht nicht auf dem Standpunkt der deutschen Entwicklung vom Jahre 1844. Das ist Proudhons Standpunkt, ein Standpunkt, den eine Unzahl ihm diametral entgegenstehender französischer Schriftsteller teilt, der also der kritischen Kritik den Vorteil gewährt, die entgegengesetztesten Standpunkte mit einem und demselben Federstrich charakterisiert zu haben. Man braucht übrigens nur das von Proudhon selbst aufgestellte Gesetz, die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch ihre Negation, konsequent durchzuführen, um auch dieses Absoluten in der Geschichte überhoben zu sein. Wenn Proudhon nicht bis zu dieser Konsequenz fortgeht, so verdankt er dies dem Unglück, als Franzose und nicht als Deutscher geboren zu sein. Für Herrn Edgar ist Proudhon durch das Absolute in der Geschichte, den Glauben an die Gerechtigkeit, zu einem theologischen Gegenstand geworden, und die kritische Kritik, welche ex professo1 Kritik der Theologie ist, kann sich seiner nun bemächtigen, um sich über die „religiösen Vorstellungen" auszulassen.
„Es ist das Charakteristische jeder religiösen Vorstellung, daß sie das Dogma eines Zustandes aufstellt, in welchem am Ende der eine Gegensatz als der siegreiche und allein wahre dasteht."
Wir werden sehn, wie die religiöse kritische Kritik das Dogma eines Zustandes aufstellt, in welchem am Ende der eine Gegensatz, „die Kritik", über den andern, „die Masse", als alleinige Wahrheit den Sieg davonträgt. Proudhon beging aber ein um so größeres Unrecht, in der massenhaften Gerechtigkeit ein Absolutes, einen Gott der Geschichte zu erblicken, als die gerechte Kritik sich selbst die Rolle dieses Absoluten, dieses Gottes in der Geschichte ausdrücklich vorbehalten hat.
Kritische Randglosse Nr.II
„Proudhon kommt durch die Tatsache des Elends, der Armut, einseitig zu seinen Betrachtungen, in ihr sieht er einen Widersprach gegen die Gleichheit und Gerechtigkeit; sie leiht ihm seine Waffen. So wird ihm diese Tatsache zu einer absoluten, berechtigten, die Tatsache des Eigentums zu einer unberechtigten."
Die Ruhe des Erkennens sagt uns, daß Proudhon in der Tatsache des Elends einen Widerspruch gegen die Gerechtigkeit, sie also unberechtigt
1 von Amts wegen
findet, und in demselben Atemzug versichert sie, daß diese Tatsache ihm zu einer absoluten, berechtigten wird. Die bisherige Nationalökonomie kam von dem Reichturn, den die Bewegung des Privateigentums angeblich für die Nationen erzeugt, zu ihren das Privateigentum apologisierenden Betrachtungen. Proudhon kommt von der umgekehrten, in der Nationalökonomie sophistisch verdeckten Seite, von der durch die Bewegung des Privateigentums erzeugten Armut, zu seinen das Privateigentum negierenden Betrachtungen. Die erste Kritik des Privateigentums geht natürlich von der Tatsache aus, worin sein widerspruchsvolles Wesen in der sinnfälligsten, schreiendsten, das menschliche Gefühl unmittelbar empörendsten Gestalt erscheint ~ von der Tatsache der Armut, des Elendes.
„Die Kritik dagegen faßt beide Tatsachen der Armut und des Eigentums zu einer einzigen zusammen, sie erkennt die innere Verbindung beider, macht sie zu einem Ganzen, das sie als solches nach den Voraussetzungen seiner Existenz fragt."
Die Kritik, welche von den Tatsachen des Eigentums und der Armut bisher nichts gefaßt hat, macht „dagegen" ihre in der Einbildung vollbrachte Tat gegen die wirkliche Tat Proudhons geltend. Sie faßt beide Tatsachen zu einer einzigen zusammen, und nachdem sie aus beiden eine einzige gemacht hat, erkennt sie nunmehr die innere Verbindung beider. Die Kritik kann nicht leugnen, daß auch Proudhon eine innere Verbindung zwischen den Tatsachen der Armut und des Eigentums erkennt, da er eben dieser Verbindung wegen das Eigentum aufhebt, um das Elend aufzuheben. Proudhon hat sogar mehr getan. Er hat im Detail nachgewiesen, wie die Bewegung des Kapitals das Elend erzeugt. Die kritische Kritik dagegen läßt sich auf solche Kleinigkeiten nicht ein. Sie erkennt, daß Armut und Privateigentum Gegensätze sind: eine ziemlich verbreitete Erkenntnis. Sie macht Armut und Reichtum zu einem Ganzen, das sie „als solches nach den Voraussetzungen seiner Existenz fragt"; eine um so überflüssigere Frage, als sie soeben „das Ganze als solches" gemacht hat, also ihr Machen selbst die Voraussetzung seiner Existenz ist. Indem die kritische Kritik „das Ganze als solches" nach den Voraussetzungen seiner Existenz fragt, sucht sie also in echt theologischer Weise außerhalb des Ganzen nach den Voraussetzungen seiner Existenz. Die kritische Spekulation bewegt sich außerhalb des Gegenstandes, den sie zu behandeln vorgibt. Während der ganze Gegensatz nichts anders ist als die Bewegung seiner beiden Seiten, während eben in der Natur dieser beiden Seiten die Voraussetzung der Existenz des Ganzen liegt, überhebt sie sich des Studiums dieser wirklichen, das Ganze bildenden Bewegung, um erklären zu
können, daß die kritische Kritik als Ruhe des Erkennens über beide Extreme des Gegensatzes erhaben ist, daß ihre Tätigkeit, welche „das Ganze als solches" gemacht hat, nun auch allein imstande ist, das von ihr gemachte Abstraktum aufzuheben. Proletariat und Reichtum sind Gegensätze. Sie bilden als solche ein Ganzes. Sie sind beide Gestaltungen der Welt des Privateigentums. Es handelt sich um die bestimmte Stellung, die beide in dem Gegensatz einnehmen. Es reicht nicht aus, sie für zwei Seiten eines Ganzen zu erklären. Das Privateigentum als Privateigentum, als Reichtum, ist gezwungen, sich selbst und damit seinen Gegensatz, das Proletariat, im Bestehen zu erhalten. Es ist die positive Seite des Gegensatzes, das in sich selbst befriedigte Privateigentum. Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. Es ist die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum. Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird. Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von diesem die Aktion seiner Vernichtung aus. Das Privateigentum treibt allerdings sich selbst in seiner nationalökonomischen Bewegung zu seiner eignen Auflösung fort, aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewußtlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen und physischen Elends bewußte Elend, die ihrer Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung. Das Proletariat vollzieht das Urteil, welches das Privateigentum durch die Erzeugung des Proletariats über sich selbst verhängt, wie es das Urteil vollzieht, welches die Lohnarbeit über sich selbst verhängt, indem sie den fremden Reichtum und das eigne Elend erzeugt. Wenn das
Proletariat siegt, so ist es dadurch keineswegs zur absoluten Seite der Gesellschaft geworden, denn es siegt nur, indem es sich selbst und sein Gegenteil aufhebt. Alsdann ist ebensowohl das Proletariat wie sein bedingender Gegensatz, das Privateigentum, verschwunden. Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs, wie die kritische Kritik zu glauben vorgibt, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not — den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssi tuation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet. Es bedarf hier nicht der Ausführung, daß ein großer Teil des englischen und französischen Proletariats sich seiner geschichtlichen Aufgabe schon bewußt ist und beständig daran arbeitet, dies Bewußtsein zur vollständigen Klarheit herauszubilden. „Die kritische Kritik" darf dies um so weniger anerkennen, als sie sich selbst zum ausschließlich schöpferischen Element der Geschichte proklamiert hat. Ihr gehören die geschichtlichen Gegensätze, ihr die Tätigkeit, sie aufzuheben. Sie erläßt daher durch ihre Inkarnation Edgar folgende Bekanntmachung: „Bildung und Bildungslosigkeit, Besitz und Besitzlosigkeit, diese Gegensätze müssen, wenn sie nicht entweiht werden sollen, ganz und gar der Kritik anheimfallen,"
Besitz und Besitzlosigkeit haben die metaphysische Weihe kritisch spekulativer Gegensätze erhalten. Nur die Hand der kritischen Kritik kann sie daher antasten, ohne ein Sakrilegium zu begehn. Kapitalisten und Arbeiter haben sich in ihr wechselseitiges Verhältnis nicht einzumischen. Herr Edgar, weit entfernt zu ahnen, daß man seine kritische Auffassung des Gegensatzes antasten, daß man dies Heiligtum entweihen könne, läßt seinen Gegner eine Einwendung machen, die nur er selbst sich machen konnte.
„Ist es denn möglich", fragt der imaginäre Gegner der kritischen Kritik, „sich anderer Begriffe als der schon bestehenden, Freiheit, Gleichheit usw., zu bedienen? Ich antworte" - man merke auf, was Herr Edgar antwortet -, „daß die griechische, die lateinische Sprache untergingen, als der Gedankenkreis erschöpft war, dem sie zum Ausdruck dienten."
Es ist nun klar, warum die kritische Kritik keinen einzigen Gedanken in deutscher Sprache gibt. Die Sprache ihrer Gedanken ist noch nicht gekommen, so sehr Herr Reichardt durch seine kritische Behandlung der Fremdwörter, Herr Faucher durch seine Behandlung der englischen und Herr Edgar durch seine Behandlung der französischen Sprache die neue kritische Sprache vorbereitet haben.
Charakterisierende Ubersetzung Nr. II
Der kritische Proudhon:
„Die Ackerbauer teilten den Erdboden unter sich; die Gleichheit heiligte nur den Be sitz; bei dieser Gelegenheit heiligte sie das Eigentum."
Der kritische Proudhon läßt sogleich mit der Teilung des Erdbodens das Grundeigentum entstehen. Er bewerkstelligt den Übergang vom Besitz zum Eigentum durch die Redensart „bei dieser Gelegenheit". Der wirkliche Proudhon:
„Der Ackerbau begründete den Grandbesitz ... es war nicht genug, dem Arbeiter die Frucht seiner Arbeit zu sichern, wenn man ihm nicht zu gleicher Zeit das Instrument der Produktion sicherte. Um den Schwächeren vor dem Übergriff des Stärkern zu bewahren ... fühlte man die Notwendigkeit, zwischen den Besitzern beständige Grenzlinien zu ziehen."
Also bei dieser Gelegenheit heiligte die Gleichheit zunächst den Besitz.
„Jährlich sah man mit der Zunahme der Bevölkerung die Habsucht und die Gier der Kolonisten wachsen; man glaubte den Ehrgeiz durch neue unüberwindliche
Schranken brechen zu müssen. So wurde der Boden zum Eigentum, durch das Bedürfnis der Gleichheit... ohne Zweifel war die Teilung nie geographisch gleich ... aber das Prinzip blieb nichtsdestoweniger dasselbe; die Gleichheit hatte den Besitz geheiligt, die Gleichheit heiligte das Eigentum."
Bei dem kritischen Proudhon
„übersahen die alten Begründer des Eigentums über der Sorge für ihr Bedürfnis, daß dem Eigentumsrecht zugleich das Recht zu entäußern, zu verkaufen, verschenken, erwerben und verlieren entsprach, was die Gleichheit, von der sie ausgingen, zerstörte".
Bei dem wirklichen Proudhon übersahen die Begründer des Eigentums diesen seinen Entwicklungsgang nicht in der Sorge für ihr Bedürfnis. Sie hatten ihn vielmehr nicht vorhergesehen, aber selbst wenn sie ihn hätten vorhersehn können, selbst dann würde das gegenwärtige Bedürfnis den Sieg davongetragen haben. Der wirkliche Proudhon ist ferner zu massenhaft, um dem „Eigentumsrecht" das Recht zu entäußern, verkaufen etc., d. h. um der Gattung ihre Arten entgegenzustellen. Er stellt das „Recht, sein Erbteil zu erhalten", dem „Recht, es zu entäußern etc.' entgegen, was einen wirklichen Gegensatz und Fortschritt bildet.
Kritische Randglosse Nr. III
„Worauf stützt nun Proudhon seinen Beweis für die Unmöglichkeit des Eigentums? Das übersteigt allen Glauben: auf dasselbe Prinzip der Gleichheit!"
Zur Erweckung des Glaubens des Herrn Edgar hätte eine kurze Reflexion ausgereicht. Es kann Herrn Edgar nicht unbekannt sein, daß Herr Bruno Bauer allen seinen Entwicklungen das „unendliche Selbstbewußtsein" zugrunde legte und dies Prinzip als das schöpferische Prinzip auch der dem unendlichen Selbstbewußtsein durch ihre unendliche Bewußtlosigkeit scheinbar gradezu widersprechenden Evangelien auffaßte. In derselben Weise faßt Proudhon die Gleichheit als das schöpferische Prinzip des ihr gradezu widersprechenden Privateigentums. Wenn Herr Edgar einen Augenblick die französische Gleichheit mit dem deutschen Selbstbewußtsein vergleicht, wird er finden, daß das letztere Prinzip deutsch, d. h. im abstrakten Denken, ausdrückt, was das erstere französisch, d. h. in der Sprache der Politik und der denkenden Anschauung, sagt. Das Selbstbewußtsein ist die Gleichheit des Menschen mit sich selbst im reinen Denken. Die Gleichheit ist das Bewußtsem des Menschen von sich selbst im Element der Praxis, d. h. also das Bewußtsein des Menschen vom andern Menschen als dem ihm Gleichen und
das Verhalten des Menschen zum andern Menschen als dem ihm Gleichen. Die Gleichheit ist der französische Ausdruck für die menschliche Wesenseinheit, für das Gattungsbewußtsein und Gattungsverhalten des Menschen, für die praktische Identität des Menschen mit dem Menschen, d. h. also für die gesellschaftliche oder menschliche Beziehung des Menschen zum Menschen. Wie daher die destruktive Kritik in Deutschland, ehe sie in Feuerbach zur Anschauung des wirklichen Menschen fortgegangen war, alles Bestimmte und Bestehende durch das Prinzip des Selbstbewußtseins aufzulösen suchte, so die destruktive Kritik in Frankreich durch das Prinzip der Gleichheit.
„Proudhon eifert gegen die Philosophie, was wir ihm an und für sich nicht verdenken können. Warum abereifert er? DiePhilosophie, meint er, sei bis jetzt noch nicht praktisch genug gewesen; sie habe sich auf das hohe Pferd der Spekulation gesetzt, und da seien ihr die Menschen gar zu klein vorgekommen. Ich meine, daß die Philosophie überpraktisch ist, d. h. sie war bisher nichts als der abstrakte Ausdruck der bestehenden Zustände, sie war stets in den Voraussetzungen derselben, die sie als absolute hinnahm, befangen."
Die Meinung, daß die Philosophie der abstrakte Ausdruck der bestehenden Zustände sei, gehört ursprünglich nicht Herrn Edgar, sondern Feuerbach, der die Philosophie zuerst als spekulative und mystische Empirie bezeichnete und nachwies. Indessen weiß Herr Edgar dieser Meinung eine originelle, kritische Wendung zu geben. Schließt Feuerbach nämlich, daß die Philosophie aus dem Himmel der Spekulation in die Tiefe des menschlichen Elendes herabzusteigen habe, so belehrt uns Herr Edgar dagegen, daß die Philosophie überpraktisch ist. Es scheint aber vielmehr, daß die Philosophie, eben weil sie nur der transzendente, abstrakte Ausdruck der vorhandnen Zustände war, wegen ihrer Transzendenz und Abstraktion, wegen ihres imaginären Unterschieds von der Welt die vorhandenen Zustände und die wirklichen Menschen tief unter sich gelassen zu haben wähnen mußte; daß sie andrerseits, weil sie sich nicht wirklich von der Welt unterschied, kein wirkliches Urteil über sie fällen, keine reale Unterscheidungskraft gegen sie geltend machen, also nicht praktisch eingreifen konnte, sondern höchstens mit einer Praxis in abstracto sich begnügen mußte. Überpraktisch war die Philosophie nur in dem Sinne, daß sie über der Praxis schwebte. Von der unendlichen Kleinheit, in welcher die wirklichen Menschen der Spekulation erscheinen, legt die kritische Kritik, der die Menschheit in eine geistlose Masse zusammenfällt, das eklatanteste Zeugnis ab. Die alte Spekulation stimmt hierin mit ihr überein. Man lese z. B. folgenden Satz aus Hegels „Rechtsphilosophie":
„Auf dem Standpunkt der Bedürfnisse ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede."
Wenn die Spekulation sonst von dem Menschen redet, so meint sie nicht das Konkretum, sondern das Abstraktum, die Idee, den Geist etc. Von der Weise, wie die Philosophie die vorhandnen Zustände ausdrückt, gab Herr Faucher in bezug auf die vorhandnen englischen Zustände und Herr Edgar in bezug auf die vorhandnen Zustände der französischen Sprache ergreifende Exempel.
„So ist auch Proudhon praktisch, indem er, den Begriff der Gleichheit den Beweisen für das Eigentum zugrunde liegen findend, aus demselben Begriff gegen das Eigentum doziert."
Proudhon tut hier ganz dasselbe, was die deutschen Kritiker tun, welche aus der Vorstellung des Menschen, den sie den Beweisen für das Dasein Gottes zugrunde liegen finden, grade gegen das Dasein Gottes dozieren.
„Sind die Konsequenzen des Prinzips der Gleichheit stärker als sie selbst, wie will ihm Proudhon zu seiner plötzlichen Stärke verhelfen?"
Allen religiösen Vorstellungen liegt nach Herrn B[runo] Bauer das Selbstbewußtsein zugrunde. Es ist nach ihm das schöpferische Prinzip der Evangelien. Warum waren nun die Konsequenzen des Prinzips des Selbstbewußtseins stärker als es selbst? Weil, antwortet man zu deutsch, zwar das Selbstbewußtsein das schöpferische Prinzip der religiösen Vorstellungen ist, aber als außer sich gekommenes, sich selbst widersprechendes, entäußertes und entfremdetes Selbstbewußtsein. Das zu sich selbst gekommene, das sich selbst verstehende, das sein Wesen erfassende Selbstbewußtsein ist daher die Macht über die Geschöpfe seiner Selbstentäußerung. Ganz in demselben Fall befindet sich Proudhon, natürlich mit dem Unterschied, daß er französisch und daß wir deutsch sprechen, daß er daher auf eine französische Weise ausdrückt, was wir auf eine deutsche Weise ausdrücken. Proudhon wirft sich selbst die Frage auf, warum die Gleichheit, obgleich sie als schöpferisches Vernunftprinzip der Stiftung des Eigentums und als letzter Vernunftgrund allen Beweisen für das Eigentum zugrunde liegt, dennoch nicht existiere, sondern vielmehr ihre Negation, das Privateigentum? Er betrachtet daher die Tatsache des Eigentums in sich selbst. Er beweist, „daß in Wahrheit das Eigentum als Institution und Prinzip unmöglich ist" (p. 34), d.h., daß es sich selbst widerspricht und in allen Punkten aufhebt, daß es, deutsch ausgedrückt, das Dasein der entäußerten, sich selbst wider
sprechenden, der sich selbst entfremdeten Gleichheit ist. Die wirklichen französischen Zustände wie die Erkenntnis dieser Entfremdung deuten dem Proudhon mit Recht auf die wirkliche Aufhebung derselben hin. Proudhon fühlt das Bedürfnis, in seiner Negation des Privateigentums die Existenz des Privateigentums zugleich historisch zu rechtfertigen. Wie alle ersten Entwicklungen dieser Art ist auch seine Entwicklung pragmatisch, d. h. er unterstellt, daß die vergangnen Geschlechter mit Bewußtsein und Reflexion in ihren Institutionen die Gleichheit, die ihm das menschliche Wesen repräsentiert, verwirklichen wollten.
„Wir kommen immer wieder darauf zurück ... Proudhon schreibt im Interesse der Proletarier."
Er schreibt nicht aus dem Interesse der selbstgenügsamen Kritik, aus keinem abstrakten, selbstgemachten Interesse, sondern aus einem massenhaften, wirklichen, historischen Interesse, aus einem Interesse, das es weiter als zur Kritik, nämlich zur Krise bringen wird. Proudhon schreibt nicht nur im Interesse der Proletarier; er selbst ist Proletarier, Ouvrier1. Sein Werk ist ein wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats und hat daher eine ganz andre historische Bedeutung als das literarische Machwerk irgendeines kritischen Kritikers.
„Proudhon schreibt im Interesse derer, die nichts haben; Haben und Nichtshaben sind ihm absolute Kategorien. Das Haben ist ihm das Höchste, weil ihm zugleich das Nichthaben als höchster Gegenstand des Nachdenkens dasteht. Jeder Mensch soll haben, aber gleich viel wie der andre, meint Proudhon. Man bedenke aber, daß mir an dem, was ich habe, nur das interessant ist, was ich ausschließlich, was ich mehr habe als der andre. Bei der Gleichheit wird mir das Haben und die Gleichheit selber etwas Gleichgültiges."
Nach Herrn Edgar sind Haben und Nichthaben für Proudhon absolute Kategorien. Die kritische Kritik erblickt überall nur Kategorien. So sind nach Herrn Edgar Haben und Nichthaben, Arbeitslohn, Besoldung, Not und Bedürfnis, Arbeit für das Bedürfnis nichts anders als Kategorien. Wenn die Gesellschaft sich nur von den Kategorien des Habens und Nichthabens zu befreien hätte, wie leicht würde ihr jeder selbst noch schwächere Dialektiker als Herr Edgar die „Überwindung" und „Aufhebung" dieser Kategorien machen! Herr Edgar unterstellt dies auch als eine solche Kleinigkeit, daß er es nicht einmal der Mühe wert achtet, dem Proudhon gegenüber sogar nur eine Erklärung der Kategorien des Habens und Nichthabens zu
3 Arbeiter
geben. Da aber das Nichtbaben nicht bloß eine Kategorie, sondern eine ganz trostlose Wirklichkeit ist, da der Mensch, der nichts hat, heutzutage nichts ist, da er, wie von der Existenz überhaupt, so noch mehr von einer menschlichen Existenz abgeschnitten ist, da der Zustand des Nichthabens der Zustand der völligen Trennung des Menschen von seiner Gegenständlichkeit ist, so scheint das Nichthaben durchaus berechtigt, als höchster Gegenstand des Nachdenkens für Proudhon dazustehn, um so mehr, je weniger man vor ihm und den sozialistischen Schriftstellern überhaupt über diesen Gegenstand nachgedacht hatte. Das Nichthaben ist der verzweifeltste Spiritualismus, eine völlige Unwirklichkeit des Menschen, eine völlige Wirklichkeit des Unmenschen, ein sehr positives Haben, ein Haben von Hunger, von Kälte, von Krankheiten, von Verbrechen, von Erniedrigung, von Hebetismus, von aller Unmenschlichkeit und Widernatürlichkeit. Jeder Gegenstand aber, der zum erstenmal mit dem vollen Bewußtsein seiner Wichtigkeit zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht wird, steht als höchster Gegenstand des Nachdenkens da. Daß Proudhon das Nichthaben und die alte Weise des Habens aufheben will, ist ganz identisch damit, daß er das praktisch entfremdete Verhältnis des Menschen zu seinem gegenständlichen Wesen, daß er den nationalökonomischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung aufheben will. Weil aber seine Kritik der Nationalökonomie noch in den Voraussetzungen der Nationalökonomie befangen ist, so wird die Wiederaneignung der gegenständlichen Welt selbst noch unter der nationalökonomischen Form des Besitzes gefaßt. Proudhon stellt nämlich nicht, wie die kritische Kritik ihn tun läßt, dem Nichthaben das Haben, sondern der alten Weise des Habens, dem Privateigentum, den Besitz gegenüber. Den Besitz erklärt er für eine „gesellschaftliche Funktion". In einer Funktion aber ist es nicht das „Interessante", den andern „auszuschließen", sondern meine eignen Wesenskräfte zu betätigen und zu verwirklichen. Es ist Proudhon nicht gelungen, diesem Gedanken eine entsprechende Ausführung zu geben. Die Vorstellung des „gleichen Besitzes" ist der nationalökonomische, also selbst noch entfremdete Ausdruck dafür, daß der Gegenstand als Sein für den Menschen, als gegenständliches Sein des Menschen, zugleich das Dasein des Menschen für den andern Menschen, seine menschliche Beziehung zum andern Menschen, das gesellschaftliche Verhalten des Menschen zum Menschen ist. Proudhon hebt die nationalökonomische Entfremdung innerhalb der nationalökonomischen Entfremdung auf.
Charakterisierende Übersetzung Nr. III
Der kritische Proudhon besitzt auch einen kritischen Eigentümer, nach dessen
„eigenem Geständnis die, welche für ihn arbeiten mußten, verloren, was er sich aneignete" .
Der massenhafte Proudhon spricht zum massenhaften Eigentümer:
„Du hast gearbeitet! Solltest du nie andre für dich haben arbeiten lassen? Wie haben sie also, während sie für dich arbeiteten, verloren, was du zu erwerben gewußt hast, während du nicht für sie arbeitetest?"
Der kritische Proudhon läßt den Say unter „richesse naturelle"1 „natürlicheBesitztümer" verstehen, obgleich Say, um jeden Irrtum abzuschneiden, im Epitome 2 zu seinem „Traite d'economie politique"3 ausdrücklich erklärt, daß er unter richesse weder Eigentum noch Besitztum, sondern eine „Summe von Werten" versteht. Natürlich, wie der kritische Proudhon durch Herrn Edgar reformiert wird, so reformiert er seinerseits wieder den Say. So „folgert" nach ihm Say „sogleich auf ein Recht", sich „ein Feld als Eigentum zu nehmen", weil die Ländereien leichter anzueignen sind als Luft und Wasser. Say, weit entfernt, aus der größern Möglichkeit der Aneignung des Grund und Bodens auf ein Eigentums rec/i? an demselben zu folgern, sagt vielmehr ausdrücklich: „Les droits des proprietaires de terres - remontent a une spoliation."1 („Traite d'economie politique", edition III, 1.1., p. 136, Nota.) Deswegen bedarf es nach Say des „concours de la legislation"5 und des „droit positif" 6 zur Gründung des Rechts am Grundeigentum. Der wirkliche Proudhon läßt den Say nicht „sogleich" aus der leichtern Aneignung des Grund und Bodens das Recht des Grundeigentums folgern, er wirft ihm vor, daß er die Möglichkeit statt des Rechts gelten lasse und die Frage nach der Möglichkeit mit der Frage nach dem Recht verwechsle:
„Say prend la possibilite pour le droit. On ne demande pas pourquoi la terre a ete plutot appropriee que la mer et les airs; on veut savoir, en vertu de quel droit l'homme s'est approprie cette richesse."7
1 „natürlichem Reichtum" - 2 Auszug - 3 „Darstellung der Nationalökonomie" — 4 „Die Rechte der Grundbesitzer gehen auf einen Raub zurück" - 6 „Mitwirkung der Gesetzgebung" -6 „positiven Rechts" - '„Say nimmt die Möglichkeit jär das Recht. Man fragt nicht, warum die Erde eher angeeignet worden ist als das Meer und die Lüfte; man will wissen, kraft welchen Rechts sich der Mensch diesen Reichtum angeeignet hat."
Der kritische Proudhon fährt fort:
„Hierzu ist nur zu bemerken, daß mit Aneignung eines Stück Landes auch die übrigen Elemente, Luft, Wasser, Feuer, angeeignet werden: Terra, aqua, aere et igne interdicti sumus1." Weit entfernt, daß der wirkliche Proudhon „nur" dies bemerkt hat, sagt er vielmehr, daß er nebenbei (en passant) auf die Appropriation von Luft und Wasser „aufmerksam" macht. Bei dem kritischen Proudhon findet sich die römische Bannformel auf eine unbegreifliche Weise ein. Er vergißt zu sagen, wer die „wir" sind, die interdiziert sind. Der wirkliche Proudhon redet die Nichteigentümer an:
„Proletarier ... das Eigentum exkommuniziert uns, terra etc. interdicti sumus."
Der kritische Proudhon polemisiert gegen Charles Comte wie folgt:
„Charles Comte meint, der Mensch bedürfe, um zu leben, der Luft, der Nahrung, der Kleidung. Einige dieser Dinge, wie Luft und Wasser, seien unerschöpflich, bleiben also immer Gemeineigentum, andere seien in geringerer Masse vorhanden und würden Privateigentum. Charles Comte beweist also von den Begriffen der Begrenztheit und Unbegrenztheit aus; er wäre vielleicht zu einem andern Resultat gekommen, wenn er die Begriffe der Entbehrlichkeit und Unentbehrlichkeit zu Hauptkategorien gemacht hätte."
Welch kindische Polemik des kritischen Proudhon! Er mutet dem Charles Comte zu, die Kategorien, von denen aus er beweist, aufzugeben und zu andern Kategorien überzuspringen, um nicht zu seinen eignen Resultaten, sondern „vielleicht" zu den Resultaten des kritischen Proudhon zu kommen. Der wirkliche Proudhon stellt keine ähnlichen Zumutungen an Charles Comte; er findet ihn nicht ab mit einem „Vielleicht", er schlägt ihn mit seinen eignen Kategorien. Charles Comte, sagt Proudhon, geht aus von der Unentbehrlichkeit der Luft, der Nahrung und für gewisse Klimate der Kleidung, nicht um zu leben, sondern um nicht aufzuhören zu leben. Um sich zu erhalten, bedarf der Mensch daher (nach Charles Comte) unaufhörlich der Aneignung von Sachen verschiedener Art. Diese Sachen existieren nicht alle in demselben Verhältnis.
„Das Licht der Himmelskörper, Luft, Wasser sind in so großer Quantität vorhanden, daß der Mensch sie nicht merklich vermehren oder vermindern kann; jeder kann sich daher so viel von ihnen aneignen, als seine Bedürfnisse erheischen, ohne in etwas dem Genüsse der andern zu schaden."
1 Von Erde, Wasser, Luft und Feuer sind wir ausgeschlossen
Proudhon geht nun von Comtes eignen Bestimmungen aus. Zunächst beweist er ihm, daß die Erde ebenfalls ein Gegenstand des ersten Bedürfnisses ist, dessen Nutznießung also jedem freistehen muß, innerhalb der Klausel des Comte nämlich: „ohne dem Genüsse des andern zu schaden". Warum ist die Erde also zum Privateigentum geworden? Charles Comte antwortet, weil sie nicht unbegrenzt ist. Er mußte aber im Gegenteil schließen: Weil sie begrenzt ist, kann sie nicht angeeignet werden. Aus der Aneignung von Luft und Wasser geht für keinen ein Schaden hervor, weil immer genug davon übrigbleibt, weil sie unbegrenzt sind. Die willkürliche Aneignung der Erde dagegen schadet dem Genuß des andern, eben weil die Erde begrenzt ist. Ihr Genuß muß also im allgemeinen Interesse geregelt werden. Die Beweisführung von Charles Comte beweist gegen seine These.
„Charles Comte, so deduziert Proudhon" (nämlich der kritische Proudhon), „geht von der Ansicht aus, daß eine Nation Eigentümerin eines Landes sein kann, während man doch, wenn das Eigentum das Recht zu brauchen und zu mißbrauchen mit sich führt - jus utendi et abutendi re sua1 - auch einer Nation nicht das Recht, ein Land zu brauchen und zu mißbrauchen, zusprechen kann."
Der wirkliche Proudhon spricht nicht von dem jus utendi et abutendi, was das Eigentumsrecht „mit sich führe". Er ist zu massenhaft, um von dem Eigentumsrecht zu sprechen, welches das Eigentumsrecht mit sich führt. Das jus utendi et abutendi re sua ist nämlich das Eigentumsrecht selbst. Proudhon spricht daher direkt einem Volk das Eigentumsrecht auf sein Territorium ab. Denen, welche dies übertrieben finden, erwidert er, daß von dem eingebildeten Recht des Nationaleigentums zu allen Epochen die Oberherrlichkeit, Tribute, Regalien, Fronden etc. hergeleitet wurden. Der wirkliche Proudhon deduziert gegen Charles Comte wie folgt: Comte will entwickeln, wie das Eigentum entsteht, und beginnt damit, eine Naiion als Eigentümerin vorauszusetzen, er fällt in die petitio principii2. Er läßt den Staat Ländereien verkaufen, er läßt einen Industriellen diese Güter kaufen, d. h. er unterstellt die Eigentumsverhältnisse, die er beweisen will. Der kritische Proudhon wirft das französische Dezimalsystem über den Haufen. Er behält den Franc bei, setzt aber an die Stelle des Centime den „Dreier".
„Wenn ich, setzt Proudhon" (der kritische Proudhon) „hinzu, ein Stück Land abtrete, so beraube ich mich nicht bloß einer Ernte, sondern ich entziehe meinen Kindern und Kindeskindern ein bleibend Gut. Der Boden hat nicht bloß heute einen Wert, er hat auch einen Fähigkeits- und Zukunftswert."
1 das Recht, das Seinige zu gebrauchen und zu mißbrauchen (auch: verbrauchen) 2 Beweisfehler durch Verwendung eines noch unbewiesenen Satzes als Beweisgrund
Der wirkliche Proudhon spricht nicht davon, daß der Boden nicht bloß heute, sondern auch morgen einen Wert hat; er stellt den vollen, gegenwärtigen Wert dem Fähigkeits- und Zukunftswert entgegen, der von meiner Geschicklichkeit, den Boden zu verwerten, abhängt. Er sagt: „Zerstört die Erde, oder was für euch dasselbe ist, verkauft sie: ihr entäußert euch nicht nur einer, zweier oder mehrerer Ernten, sondern ihr vernichtet alle Produkte, welche ihr davon ziehen konntet, ihr, eure Kinder und Kindeskinder." Es handelt sich für Proudhon nicht darum, den Gegensatz zwischen einer Ernte und dem bleibenden Gut hervorzuheben - auch das Geld, das ich für den Acker löse, kann als Kapital zu einem „bleibenden Gute" werden sondern von dem Gegensatz des gegenwärtigen Werts und des Werts, den der Boden durch eine fortdauernde Bebauung erhalten kann. „Der neue Wert, sagt Charles Comte, den ich einer Sache durch meine Arbeit beilege, ist mein Eigentum. Proudhon" (der kritische Proudhon) „will ihn auf folgende Weise widerlegen: Da müßte also der Mensch aufhören, Eigentümer zu sein, sowie er zu arbeiten aufhört. Das Eigentum des Produkts kann nimmermehr das Eigentum des zugrunde liegenden Stoffes mit sich führen." Der wirkliche Proudhon: „Der Arbeiter mag sich die Produkte seiner Arbeit aneignen, aber ich begreife nicht, daß das Eigentum der Produkte das der Materie nach sich zieht. Der Fischer, der an demselben Ufer mehr Fische als die übrigen Fischer zu fangen weiß, wird er durch diese Geschicklichkeit Eigentümer des Striches, worin er fischt? Wurde die Geschicklichkeit eines Jägers jemals als ein Eigentumstitel auf das Wild eines Kantons betrachtet? Ähnlich verhält es sich mit dem Ackerbauer. Um den Besitz in Eigentum zu verwandeln, ist noch eine andere Bedingung nötig als die bloße Arbeit, sonst würde der Mensch aufhören, Eigentümer zu sein, sobald er aufhören würde, Arbeiter zu sein." Cessante causa cessat effectus.1 Wenn der Eigentümer nur als Arbeiter Eigentümer ist, so hört er auf, Eigentümer zu sein, sobald er aufhört, Arbeiter zu sein. „Nach dem Gesetz ist es daher die Verjährung, welche das Eigentum schafft; die Arbeit ist nur das sinnfällige Zeichen, der materielle Akt, wodurch die Okkupation sich kundtut." „Das System der Aneignung durch die Arbeit", fährt Proudhon fort, „widerspricht also dem Gesetz; und wenn die Anhänger dieses Systems sich desselben zu bedienen vorschützen, um die Gesetze zu erklären, so widersprechen sie sich selbst." Wenn ferner nach dieser Meinung z. B. die Urbarmachung des Landes „das vollständige Eigentum desselben schafft", so ist das eine petitio prin
1 Wenn die Ursache aufhört, hört die Wirkung auf.
cipii. Faktisch ist es, daß eine neue produktive Fälligkeit der Materie geschaffen ist. Zu beweisen wäre eben, daß damit das Eigentum der Materie selbst geschaffen ist. Die Materie selbst hat der Mensch nicht geschaffen. Er schafft sogar jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter der Voraussetzung der Materie. Der kritische Proudhon macht den Gracchus Babeuf zum Parteigänger der Freiheit, bei dem massenhaften Proudhon ist es ein Parteigänger der Gleichheit (partisan de l'egalite). Der kritische Proudhon, der das Honorar Homers für die Iliade taxieren soll, sagt:
„Das Honorar, welches ich dem Homer gebe, und das, was er mir leistet, soll gleich sein. Wie ist der Wert seiner Leistung zu bestimmen?"
Der kritische Proudhon ist zu sehr über die nationalökonomischen Kleinigkeiten erhaben, um zu wissen, daß der Wert einer Sache und das, was sie einem andern leistet, sehr verschiedne Dinge sind. Der wirklicheProudhon sagt: „Das Honorar des Dichters soll gleich sein seinem Produkt, welches ist also der Wert dieses Produkts?" Der wirkliche Proudhon unterstellt, daß die Iliade einen unendlichen Preis (oder Tauschwert, prix), der kritische, daß sie einen unendlichen Wert habe. Der wirkliche Proudhon stellt den Wert der Iliade, ihren Wert im nationalökonomischen Sinne (valeur intrinseque), ihrem Tauschwert (valeur echangeable), der kritische Proudhon ihrem „innern Wert", nämlich ihrem Wert als Gedicht, den „Wert für den Umtausch" entgegen. Der wirkliche Proudhon: „Zwischen einer materiellen Belohnung und dem Talent existiert kein gemeinschaftliches Maß. In dieser Beziehung ist die Lage aller Produzenten gleich. Folglich ist jede Vergleichung unter ihnen und jede Vermögensklassifikation unmöglich." („Entre une recompense materielle et le talent il n'existe pas de commune mesure; sous ce rapport la condition de tous les producteurs est egale; consequemment toute comparaison entre eux et toute distinction de fortunes est impossible.")
Der kritische Proudhon: „Relativerweise ist das Verhältnis der Produzenten gleich. Das Talent... kann nicht materiell aufgewogen werden ... Jede Vergleichung der Produzenten untereinander, jede äußerliche Auszeichnung ist unmöglich." Bei dem kritischen Proudhon muß „der Mann der Wissenschaft sich gleichfühlen in der Gesellschaft, weil sein Talent und seine Einsicht nur ein Produkt der gesellschaftlichen Einsicht sind".
4 Marx/Engels, Werke, Bd. 2
Der wirkliche Proudhon spricht nirgends von den Gefühlen des Talents. Er sagt, das Talent müsse sich beugen unter das gesellschaftliche Niveau. Er behauptet ebensowenig, daß der Mann von Talent nur ein Produkt der Gesellschaft sei, er behauptet vielmehr:
„Der Mann von Talent hat dazu beigetragen, in sich selbst ein nützliches Werkzeug zu produzieren ... es gibt in ihm einen freien Arbeiter und ein akkumuliertes gesellschaftliches Kapital."
Der kritische Proudhon fährt fort:
„Er muß überdies der Gesellschaft dankbar sein dafür, daß sie ihn, damit er der Wissenschaft obliegen könne, von den übrigen Arbeiten entbindet."
Der wirkliche Proudhon nimmt nirgends zu der Dankbarkeit des Mannes von Talent seine Zuflucht. Er sagt:
„Der Künstler, der Gelehrte, der Poet empfangen ihre gerechte Belohnung dadurch allein, daß die Gesellschaft ihnen erlaubt, sich ausschließlich der Wissenschaft und der Kunst hinzugeben."
Schließlich bringt der kritische Proudhon das Wunder zuwege, daß eine Gesellschaft von 150 Arbeitern einen „Marschall , also wohl auch eine Armee erhalten kann. Bei dem wirklichen Proudhon ist der Marschall ein Hufschmied" (marechal).
Kritische Randglosse Nr. IV
„Wenn er" (Proudhon) „einmal den Begriff des Salärs beibehält, wenn er einmal in der Gesellschaft eine Einrichtung sieht, die uns zu arbeiten gibt und uns dafür bezahlt, so kann er die Zeit um so weniger als das Maß für die Bezahlung annehmen, als er kurz vorher, dem Hugo Grotius beistimmend, durchführt, daß die Zeit in Beziehung auf die Geltung eines Gegenstandes gleichgültig sei."
Hier ist der einzige Punkt, wo die kritische Kritik den Versuch macht, ihre Aufgabe zu lösen und dem Proudhon nachzuweisen, daß er vom nationalökonomischen Standpunkt aus falsch gegen die Nationalökonomie operiert. Hier blamiert sie sich in wahrhaft kritischer Weise. Proudhon hatte mit Hugo Grotius übereinstimmend entwickelt, die Verjährung sei kein Titel, um den Besitz in Eigentum, um ein „Rechtsprinzip" in ein anderes zu verwandeln, so wenig wie die Zeit die Wahrheit, daß die Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sind, in die Wahrheit, daß sie gleich drei rechten sind, verwandeln kann.
„Ihr werdet es nie zustande bringen", ruft Proudhon aus, „daß die Zeitdauer, die durch sich selbst nichts schafft, nichts wechselt, nichts modifiziert, den Nutznießer in einen Eigentümer verwandeln kann."
Herr Edgar schließt: Weil Proudhon sagte, die bloße Zeitdauer könne ein Rechtsprinzip nicht in ein anderes verwandeln, sie könne überhaupt für sich nichts wechseln, nichts modifizieren, darum begeht er eine Inkonsequenz, wenn er die Arbeitszeit zum Maß des nationalökonomischen Wertes des Arbeitsprodukts macht. Es gelingt Herrn Edgar, diese kritisch-kritische Bemerkung zustande zu bringen dadurch, daß er „valeur"1 mit „Geltung" übersetzt und so auf die Geltung eines Rechtsprinzips wie auf den kommerziellen Wert eines Arbeitsprodukts in demselben Sinne anwenden kann. Es gelingt ihm, indem er die leere Zeitdauer mit der erfüllten Arbeitszeit identifiziert. Wenn Proudhon gesagt hätte, die Zeit könne eine Mücke nicht in einen Elefanten verwandeln, so könnte die kritische Kritik mit demselben Recht schließen: Also darf er die Arbeitszeit nicht zum Maß des Arbeitslohnes machen. Daß die Arbeitszeit, welche die Produktion eines Gegenstandes kostet, zu den Produktionskosten des Gegenstandes gehört, daß die Produktionskosten eines Gegenstandes das sind, was er kostet, wofür er also, von den Einflüssen der Konkurrenz abstrahiert, verkauft werden kann, dieser Einsicht muß selbst die kritische Kritik sich bemächtigen können. Bei den Nationalökonomen gehört außer der Arbeitszeit und dem Material der Arbeit zu den Produktionskosten auch noch die Rente des Grundeigentümers, wie Zinsen und Gewinn des Kapitalisten. Letztere fallen bei Proudhon fort, weil das Privateigentum bei ihm fortfällt. Es bleiben also nur noch die Arbeitszeit und die Auslagen übrig. Proudhon, indem er die Arbeitszeit, das unmittelbare Dasein der menschlichen Tätigkeit als Tätigkeit, zum Maß des Arbeitslohnes und der Wertbestimmung des Produkts macht, macht die menschliche Seite zum Entscheidenden, wo in der alten Nationalökonomie die sachliche Macht des Kapitals und des Grundeigentums entschied, d. h. Proudhon setzt in noch nationalökonomischer, darum widerspruchsvoller Weise den Menschen wieder in seine Rechte ein. Wie richtig er vom Standpunkt der Nationalökonomie aus verfährt, mag man daraus ersehn, daß der Stifter der neuen Nationalökonomie, Adam Smith, gleich auf den ersten Seiten seines Werks „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" entwickelt, daß vor der Erfindung des Privateigentums, also unter der Voraussetzung der Nichtexistenz des Privateigentums, die Arbeitszeit das Maß
1 „Wert"
des Arbeitslohns und des von ihm noch nicht unterschiedenen Wertes des Arbeitsprodukts war. Die kritische Kritik unterstelle aber selbst einen Augenblick, Proudhon sei nicht von der Voraussetzung des Arbeitslohnes ausgegangen. Glaubt sie, daß jemals die Zeit, welche die Produktion eines Gegenstands erfordert, nicht ein wesentliches Moment in der „Geltung" des Gegenstandes sein, glaubt sie, daß die Zeit ihre Kostbarkeit verlieren werde? In bezug auf die unmittelbar materielle Produktion wird die Entscheidung, ob ein Gegenstand produziert werden soll oder nicht, d. h. die Entscheidung über den Wert des Gegenstandes, wesentlich von der Arbeitszeit abhängen, die seine Produktion kostet. Denn von der Zeit hängt es ab, ob die Gesellschaft die Zeit hat, sich menschlich auszubilden. Und selbst was die geistige Produktion betrifft, muß ich nicht, wenn ich anders verständig verfahre, bei dem Umfang, der Anlage und dem Plan eines geistigen Werks die Zeit, die zu seiner Produktion erforderlich ist, in Anschlag bringen? Ich setze mich sonst wenigstens der Gefahr aus, daß mein Gegenstand in der Idee nie zu einem Gegenstand in der Wirklichkeit wird, also nur den Wert eines imaginären Gegenstandes, d. h. einen imaginären Wert sich erwerben kann. Die Kritik der Nationalökonomie auf nationalökonomischem Standpunkte erkennt alle Wesensbestimmungen der menschlichen Tätigkeit an, aber nur in entfremdeter, entäußerter Form, wie sie hier z. B. die Bedeutung der Zeit für die menschliche Arbeit in ihre Bedeutung für den Arbeitslohn, für die Lohnarbeit verwandelt. Herr Edgar fährt fort: „Damit nun das Talent gezwungen werde, jenes Maß anzunehmen, mißbraucht Proudhon den Begriff des freien Handels und behauptet, der Gesellschaft und ihren einzelnen Mitgliedern stehe ja das Recht zu, die Erzeugnisse des Talents zurückzuweisen/
Dem Talent, das auf nationalökonomischem Grund und Boden bei den Fourieristen und Saint-Simonisten übertriebene Honorarforderungen macht und seine Einbildung von seinem unendlichen Wert als Maß an den Tauschwert seiner Produkte anlegt, antwortet Proudhon ganz so, wie die Nationalökonomie jeder Prätention eines Preises, der sich weit über den sogenannten natürlichen Preis, d. h. über die Produktionskosten des dargebotenen Gegenstands erheben will, antwortet - durch den freien Handel. Nur mißbraucht Proudhon nicht dieses Verhältnis im Sinn der Nationalökonomie, er unterstellt vielmehr als wirklich, was bei den Nationalökonomen nur nominell und illusorisch ist, die Freiheit der kontrahierenden Teile.
Charakterisierende Übersetzung Nr. IV
Der kritische Proudhon reformiert schließlich die französische Gesellschaft, indem er ebensosehr die französischen Proletarier als die französische Bourgeoisie umschafft. Den französischen Proletariern spricht er die „Kraft" ab, weil der wirkliche Proudhon ihnen den Mangel an Tugend (vertu) vorwirft. Er macht ihre Geschicklichkeit zur Arbeit zu einer problematischen Geschicklichkeit - „ihr seid vielleicht zur Arbeit geschickt -, weil der wirkliche Proudhon ihr Geschick zur Arbeit unbedingt anerkennt (prompts au travail vous etes1 etc.). Er verwandelt die französischen Bourgeois in geistlose Bürger, wo der wirkliche Proudhon die unedlen bourgeois (bourgeois ignobles) den gebrandmarkten Edlen (nobles fletris) entgegenstellt. Er verwandelt den Bourgeois aus einem juste-milieu-Bürger (bourgeois juste-milieu) in „unsere guten Bürger", wofür sich die französische Bourgeoisie bei ihm bedanken mag. Wo der wirkliche Proudhon daher den „bösen Willen" (la malveillance de nos bourgeois) der französischen Bourgeois „wachsen" läßt, läßt er konsequenterweise die „Sorglosigkeit unserer Bürger" wachsen. Der Bourgeois des wirklichen Proudhon ist so wenig sorglos, daß er sich selbst zuruft: „N'ayons pas peur! N'ayons pas peur!"2 So spricht einer, der sich die Furcht und die Sorge wegräsonieren will. Die kritische Kritik hat in der Schöpfung des kritischen Proudhon durch die Übersetzung des wirklichen Proudhon der Masse offenbart, was eine kritisch vollendete Ubersetzung ist. Sie hat eine Anweisung gegeben zu der „Übersetzung, wie sie sein soll". Sie bekämpft daher mit Recht die schlechten, massenhaften Übersetzungen:
„Das deutsche Publikum will die buchhändlerische Ware zu einem Spottpreise, der Verleger will also eine billige Übersetzung, der Übersetzer will bei seiner Arbeit nicht verhungern, er kann sie sogar nicht mit reiflicher Bedächtigkeit" (mit aller Ruhe des Erkennens) „machen, weil der Verleger durch schnelle Lieferung der Übersetzungen Konkurrenten den Rang ablaufen muß; ja sogar der Übersetzer muß die Konkurrenz fürchten, muß fürchten, daß ein anderer sich erbiete, die Ware billiger und schneller herzustellen - und so diktiert er sein Manuskript irgendeinem armen Schreiber frisch drauflos - und zwar diktiert er so schnell wie möglich, damit er nicht den nach Stunden gezahlten Schreiberlohn umsonst gebe - überfroh, wenn er am nächsten Tag den mahnenden Setzer gehörig befriedigen kann. Übrigens sind die
1 behend bei der Arbeit seid ihr - 2 „Laßt uns keine Furcht haben! Laßt uns keine Furcht hatten!"
Ubersetzungen, mit denen man uns überflutet, nur ein Ausdruck der jetzigen Impotenz der deutschen Literatur" etc. (Heft VIII, p. 54, „Allgemeine Literatur-Zeitung".)
Kritische Randglosse Nr.V
„Dem Beweise für die Unmöglichkeit des Eigentums, welchen Proudhon daraus führt, daß die Menschheit sich besonders durch das Zinsen- und Profitsystem und durch die UnVerhältnismäßigkeit der Konsumtion zur Produktion aufzehre, fehlt das Gegenstück, die Auf Weisung nämlich, daß das Privateigentum1 historisch möglich sei."
Die kritische Kritik besitzt den glücklichen Instinkt, auf Proudhons Entwicklungen über das Zinsen- und Profitsystem usw., d. h. auf die bedeutendsten Entwickelungen Proudhons, nicht einzugehn. An diesem Punkte kann nämlich die Kritik Proudhons auch selbst zum Schein nicht mehr geliefert werden ohne ganz positive Kenntnisse über die Bewegung des Privateigentums. Die kritische Kritik sucht sich für ihre Ohnmacht durch die Bemerkung zu entschädigen, daß Proudhon nicht den Beweis für die historische Möglichkeit des Eigentums geliefert hat. Warum verlangt die nichts als Worte gebende Kritik, daß andere ihr alles geben?
„Proudhon beweist die Unmöglichkeit des Eigentums daraus, daß der Arbeiter sein Produkt aus dem Lohn seiner Arbeit nicht wiederkaufen könne. Proudhon gibt nicht den erschöpfenden Grund hiefür an, indem er das Wesen des Kapitals herbeiholt. Der Arbeiter kann sein Produkt nicht wiederkaufen, weil es stets ein gemeinschaftliches, er selbst aber nichts als ein einzelner bezahlter Mensch ist."
Herr Edgar hätte im Gegensatz zur Proudhonschen Deduktion sich noch erschöpfender dahin äußern können, daß der Arbeiter sein Produkt nicht wiederkaufen kflnn, weil er es überhaupt wiederkaufen muß. In der Bestimmung des Kaufens ist es schon enthalten, daß er sich zu seinem Produkt als einem ihm abhanden gekommenen, entfremdeten Gegenstand verhält. Der erschöpfende Grund des Herrn Edgar erschöpft unter anderen nicht, warum der Kapitalist, der selbst nichts als ein einzelner Mensch und dazu ein durch den Profit und die Zinsen bezahlter Mensch ist, nicht nur das Produkt der Arbeit, sondern noch mehr als dieses Produkt wiederkaufen kann. Um dies zu erklären, wird Herr Edgar das Verhältnis von Arbeit und Kapital erklären, d. h. das Wesen des Kapitals herbeiholen müssen. Die angeführte kritische Stelle zeigt in der sinnfälligsten Weise, wie die kritische Kritik das, was sie soeben aus einem Schriftsteller gelernt hat, sogleich benutzt, um es als selbsterfundene Weisheit gegen denselben Schrift
1 In der „Allgemeinen Literatur-Zeitung": wie das Eigentum
steller mit einer kritischen Wendung geltend zu machen. Aus Proudhon selbst hat nämlich die kritische Kritik den von Proudhon nicht angegebenen und von Herrn Edgar angegebenen Grund geschöpft. Proudhon sagt: „Divide et impera1 ... trennt die Arbeiter voneinander, und es ist sehr möglich, daß der Taglohn, der jedem Einzelnen gezahlt wird, den Wert jeden individuellen Produkts übersteigt; aber das ist es nicht, worum es sich handelt ... Wenn ihr alle individuellen Kräfte gezahlt habt, so habt ihr noch nicht die Kollektivkraft gezahlt."
Proudhon machte zuerst darauf aufmerksam, daß die Summe der Saläre der einzelnen Arbeiter, selbst wenn jede individuelle Arbeit vollständig bezahlt würde, nicht die Kollektivkraft zahlt, welche sich in ihrem Produkt vergegenständigt, daß also der Arbeiter nicht als ein Teil der gemeinschaftlichen Arbeitskraft bezahlt wird, was Herr Edgar dahin travestiert, daß der Arbeiter nichts als ein einzelner, bezahlter Mensch ist. Die kritische Kritik macht also einen allgemeinen Gedanken Proudhons gegen die weitere konkrete Entwicklung geltend, die derselbe Proudhon demselben Gedanken gibt. Sie bemächtigt sich dieses Gedankens in kritischer Weise und spricht in folgendem Satze das Geheimnis des kritischen Sozialismus aus:
„Der heutige Arbeiter denkt nur an sich, d. h. er läßt sich für seine Person bezahlen. Er selber ist es, der die ungeheure und unermeßliche Kraft, welche aus seinem Zusammenwirken mit andern Kräften entsteht, nicht in Anschlag bringt."
Der kritischen Kritik zufolge liegt das ganze Übel nur am „Denken" der Arbeiter. Nun haben zwar die englischen und französischen Arbeiter Assoziationen gebildet, in welchen nicht nur ihre unmittelbaren Bedürfnisse als Arbeiter, sondern ihre Bedürfnisse als Menschen den Gegenstand ihrer wechselseitigen Belehrung bilden, worin sie überdem ein sehr gründliches und umfassendes Bewußtsein über die „ungeheure" und „unermeßbare" Kraft äußern, welche aus ihrem Zusammenwirken entsteht. Aber diese massenhaften, kommunistischen Arbeiter, welche in den Ateliers2 von Manchester und Lyon z.B.tätig sind, glauben nicht durch „reines Denken" ihre Industrieherren und ihre eigne praktische Erniedrigung wegräsonieren zu können. Sie empfinden sehr schmerzlich den Unterschied zwischen Sein und Denken, zwischen Bewußtsein und Leben. Sie wissen, daß Eigentum, Kapital, Geld, Lohnarbeit u. dgl. durchaus keine ideellen Hirngespinste, sondern sehr praktische, sehr gegenständliche Erzeugnisse ihrer Selbstentfremdung sind, die also auch auf eine praktische, gegenständliche Weise aufgehoben werden
1 Teile und herrsche - 8 Werkstätten
müssen, damit nicht nur im Denken, im Bewußtsein, sondern im massenhaften Sein, im Leben der Mensch zum Menschen werde. Die kritische Kritik belehrt sie dagegen, daß sie in der Wirklichkeit aufhören, Lohnarbeiter zu sein, wenn sie den Gedanken der Lohnarbeit im Gedanken aufheben, wenn sie im Gedanken aufhören, sich als Lohnarbeiter zu gelten, und dieser überschwenglichen Einbildung gemäß sich nicht mehr für ihre Person bezahlen lassen. Als absolute Idealisten, als ätherische Wesen können sie hinterher auch natürlich vom Äther des reinen Gedankens leben. Die kritische Kritik belehrt sie, daß sie das wirkliche Kapital aufheben, wenn sie die Kategorie des Kapitals im Denken überwältigen, daß sie sich wirklich verändern und zu wirklichen Menschen machen, wenn sie ihr „abstraktes Ich" im Bewußtsein verändern und jede wirkliche Veränderung ihres wirklichen Daseins, der wirklichen Bedingungen ihres Daseins, d. h. also ihres wirklichen Ichs, als eine unkritische Operation verschmähen. Der „Geist", der in der Wirklichkeit nur Kategorien erblickt, reduziert natürlich auch alle menschliche Tätigkeit und Praxis auf den dialektischen Denkprozeß der kritischen Kritik. Eben das unterscheidet ihren Sozialismus von dem massen~ haften Sozialismus und Kommunismus. Nach seinen großen Entwicklungen muß Herr Edgar natürlich der Kritik Proudhons „das Bewußtsein absprechen". «Proudhon will aber auch praktisch sein, j) Er glaubt eben erkannt zu haben." „Und doch", ruft die Ruhe des Erkennens triumphierend aus, „wir müssen ihm auch jetzt noch die Ruhe des Erkennens absprechen." «Wir nehmen einige Stellen, um zu zeigen, wie wenig er seine Stellung zur Gesellschaft durchdacht hat." Wir werden später noch einige Stellen aus den Werken der kritischen Kritik nehmen (siehe die Armenbank und die Musterwirtschaft), um zu zeigen, wie sie die allerersten nationalökonomischen Verhältnisse noch nicht kennengelernt, viel weniger durchdacht hat und also mit dem ihr eigentümlichen kritischen Takt sich dazu berufen fühlte, den Proudhon ihrer Beurteilung zu unterwerfen. Nachdem nun der kritischen Kritik als der Ruhe des Erkennens alle massenhaften „Gegensätze anheimgefallen" sind, nachdem sie aller Wirklichkeit unter der Form von Kategorien sich bemächtigt und alle menschliche Tätigkeit in die spekulative Dialektik aufgelöst hat, werden wir sie aus der spekulativen Dialektik die Welt wiedererzeugen sehn. Es versteht sich, daß die Wunder der kritisch spekulativen Weltschöpfung, sollen sie anders nicht „entweiht" v/erden, der profanen Masse nur unter der Form von Mysterien mitgeteilt werden können. Die kritische Kritik tritt daher in der Inkarnation Wjschrra-Szeüga als Geheimniskrämer auf,^
V. KAPITEL
Die „kritische Kritik" als Geheimniskrämer oder die „kritische Kritik" als Herr Szeliga
Die „kritische Kritik" in der Inkarnation Szeliga-Wischnu liefert eine Apotheose der „Mysteres de Paris". Eugen Sue wird für einen „kritischen Kritiker" erklärt. Sobald er dies erfährt, kann er ausrufen wie der Bourgeois gentilhomme im Moliere: „Par ma foi, il y a plus de quarante ans que je dis de la prose, sans que j'en süsse rien: et je vous suis le plus oblige du monde de m'avoir appris cela."1 Herr Szeliga schickt seiner Kritik einen ästhetischen Prolog voraus. „Der ästhetische Prolog" erklärt die allgemeine Bedeutung des „kritischen" Epos und namentlich der „Mysteres de Paris" dahin: „Das Epos schafft den Gedanken, daß die Gegenwart an sich nichts sei, auch nicht bloß" - nichts, auch nicht bloß! - „die ewige Scheide zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern" - nichts, auch nicht bloß, sondern - „sondern der immer wieder zusammenzufügende Riß, der die Unsterblichkeit von der Vergänglichkeit trennt ... Dies ist die allgemeine Bedeutung der .Geheimnisse von Paris'." Der „ästhetische Prolog" behauptet ferner, daß „der Kritiker, wenn er wolle, auch Dichter sein könne". Herrn Szeligas ganze Kritik wird diese Behauptung beweisen. Sie ist in allen ihren Momenten „Dichtung". Sie ist auch ein Produkt der „freien Kunst", wie letztere von dem „ästhetischen Prolog" bestimmt wird, d. h., sie „erfindet ganz was Neues, absolut noch nie Dagewesenes". Sie ist endlich sogar ein lyritisches Epos, denn sie ist ein „immer wieder zusammenzufügender Riß", der die „Unsterblichkeit" — die kritische Kritik des Herrn Szeliga - von der „Vergänglichkeit", dem Roman des Herrn Eugen Sue, „trennt".
1 „Meiner Treu, seit mehr als vierzig Jahren spreche ich Prosa, ohne es zu wissen; und rch bin Hasen aufs höchste verbunden-, daß Sie nach darüber belehrt haben."
1. „Das Geheimnis der Verwilderung in der Zivilisation * und „das Geheimnis der Rechtslosigke.it im Staate"
Feuerbach hat bekanntlich die christlichen Vorstellungen der Inkarnation, der Dreieinigkeit, der Unsterblichkeit etc. als das Geheimnis der Inkarnation, das Geheimnis der Dreieinigkeit, das Geheimnis der Unsterblichkeit gefaßt. Herr Szeliga faßt alle jetzigen Weltzustände als Geheimnisse. Wenn aber Feuerbach wirkliche Geheimnisse enthüllt hat, so verwandelt Herr Szdiga wirkliche Trivialitäten in Geheimnisse. Seine Kunst besteht nicht darin, das Verborgne zu enthüllen, sondern das Enthüllte zu verbergen. So erklärt er die Verwilderung (die Verbrecher) innerhalb der Zivilisation wie die Rechtslosigkeit und Ungleichheit im Staat für Geheimnisse. Die sozialistische Literatur, welche diese Geheimnisse verraten hat, ist also für Herrn Szeliga entweder ein Geheimnis geblieben, oder er möchte die bekanntesten Resultate derselben in das Privatgeheimnis der „kritischen Kritik" verwandeln. Wir brauchen daher nicht auf Herrn Szeligas Auseinandersetzung über diese Geheimnisse näher einzugehn. Wir heben nur einige Glanzpunkte hervor. „Vor dem Gesetz und dem Richter ist alles gleich, hoch und niedrig, reich und arm. Dieser Satz steht ganz obenan im Glaubensbekenntnis des Staats" Des Staats? Das Glaubensbekenntnis der meisten Staaten beginnt im Gegenteil damit, hoch und niedrig, reich und arm vor dem Gesetz ungleich, zu setzen. „Der Steinschneider Morel spricht in seiner naiven Rechtschaffenheit das Geheimnis" (nämlich das Geheimnis des Gegensatzes von arm und reich) „sehr klar aus; er sagt: Wenn es die Reichen nur wüßten! Wenn es die Reichen nur wüßten! Das Unglück besteht darin, daß sie nicht wissen, was Armut ist." Herr Szeliga weiß nicht, daß Eugen Sue aus Höflichkeit gegen die französische Bourgeoisie einen Anachronismus begeht, wenn er das Motto dUr Bürger aus der Zeit Ludwigs XIV.: „Ah! si le roi le savait!"1 in der modifizierten Form: „Ah! si le riche le savait!"2 dem Arbeiter Morel aus derzeit der Charte verite1233 in den Mund legt. In England und Frankreich wenigstens hat dies naive Verhältnis zwischen reich und arm aufgehört. [Die wissenschaftlichen Repräsentanten des Reichtums, die Nationalökonouen, haben hier eine sehr detaillierte Einsicht in das physische und moralisc he . jp 1 „Ah! wenn es der König wüßte!" - 2 „Ah! wenn es der Reiche wüßte!"
Elend der Armut verbreitet. Zum Ersatz haben sie bewiesen, daß es bei diesem Elend sein Bewenden haben müsse, weil es bei den heutigen Zuständen sein Bewenden haben müsse. Ja sie haben in ihrer Sorglichkeit sogar die Proportionen berechnet, worin die Armut zum Wohl des Reichtums und zu ihrem eignen Wohl sich durch Todesfälle dezimieren muß. Wenn Eugen Sue Kneipen, Schlupfwinkel und Sprache der Verbrecher schildert, so entdeckt Herr Szeliga das „Geheimnis", daß es dem „Verfasser" nicht um die Schilderung dieser Sprache und dieser Schlupfwinkel zu tun ist, sondern darum,
„das Geheimnis der Triebfedern zum Bösen etc. kennen zu lehren". „An den Orten des lebendigsten Verkehrs ... sind die Verbrecher ja gerade zu Hause." Was würde ein Naturforscher dazu sagen, wenn man ihm bewiese, die Zelle der Biene interessiere ihn nicht als Bienenzelle, sie sei kein Geheimnis für den, der sie nicht studiert hat, weil die Biene „ja grade" in der freien Luft und auf der Blume „erst recht zu Hause sei"? In den Schlupfwinkeln der Verbrecher und der Verbrechersprache spiegelt sich der Charakter des Verbrechers ab, sie sind ein Stück von seinem Dasein, ihre Schilderung gehört zu seiner Schilderung, wie die Schilderung der petite maison1 zur Schilderung der femme galante2 gehört. Die Schlupfwinkel der Verbrecher sind ein solches „Geheimnis" nicht nur für die Pariser überhaupt, sondern sogar für die Pariser Polizei, daß noch in diesem Augenblicke helle und breite Straßen in der Cite3 gebrochen werden, um der Polizei diese Winkel zugänglich zu machen. Endlich erklärt Eugen Sue selbst, daß er bei den obenerwähnten Schilderungen „sur la curiosite craintive"4 der Leser rechne. Herr Eugen Sue hat in allen seinen Romanen auf diese ängstliche Neugierde der Leser gerechnet. Man erinnere sich nur an Atar Gull, den Salamandre, Plick und Plock etc.
2. Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion
Das Geheimnis der kritischen Darstellung der „Mysteres de Paris" ist das Geheimnis der spekulativen, der Hegeischen Konstruktion. Nachdem Herr Szeliga die „Verwilderung innerhalb der Zivilisation" und die Rechtslosigkeit im Staat für „Geheimnisse" erklärt, d. h. in die Kategorie „das Geheimnis" aufgelöst hat, läßt er nun „das Geheimnis" seinen spekulativen
1 des Hauses für geheime Vergnügungen - 2 gefälligen Dame - 8 Altstadt - 4 „auf die ängstliche Neugierde"
Lebenslauf beginnen. Wenige Worte werden hinreichen, um die spekulative Konstruktion im allgemeinen zu charakterisieren. Die Behandlung der „Mysteres de Paris" durch Herrn Szeliga wird die Anwendung im einzelnen geben. Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung „Frucht" bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, daß meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung „die Frucht" ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich - spekulativ ausgedrückt - „die Frucht" für die „Substanz" der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei nicht ihr wirkliches, sinnlich anschaubares Dasein, sondern das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, „die Frucht". Ich erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi „der Frucht". Mein endlicher, von den Sinnen unterstützter Verstand unterscheidet allerdings einen Apfel von einer Birne und eine Birne von einer Mandel, aber meine spekulative Vernunft erklärt diese sinnliche Verschiedenheit für unwesentlich und gleichgültig. Sie sieht in dem Apfel dasselbe wie in der Birne und in der Birne dasselbe wie in der Mandel, nämlich „die Frucht". Die besondern wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte, deren wahres Wesen „die Substanz", „die Frucht" ist. Man gelangt auf diese Weise zu keinem besondern Reichtum an Bestimmungen. Der Mineraloge, dessen ganze Wissenschaft sich darauf beschränkt, daß alle Mineralien in Wahrheit das Mineral sind, wäre ein Mineraloge - in seiner Einbildung. Bei jedem Mineral sagt der spekulative Mineraloge „das Mineral", und seine Wissenschaft beschränkt sich darauf, dies Wort so oft zu wiederholen, als es wirkliche Minerale gibt. Die Spekulation, welche aus den verschiednen wirklichen Früchten eine „Frucht" der Abstraktion - die „Frucht" gemacht hat, muß daher, um zu dem Schein eines wirklichen Inhaltes zu gelangen, auf irgendeine Weise versuchen, von der „Frucht", von der Substanz wieder zu den wirklichen verschiedenartigen profanen Früchten, zu der Birne, dem Apfel, der Mandel etc. zurückzukommen. So leicht es nun ist, aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung „die Frucht" zu erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung „die Frucht" wirkliche Früchte zu erzeugen. Es ist sogar unmöglich, von einer Abstraktion zu dem Gegenteil der Abstraktion zu kommen, wenn ich die Abstraktion nicht aufgebe. Der spekulative Philosoph gibt daher die Abstraktion der „Frucht" wieder auf, aber er gibt sie auf eine spekulative, mystische Weise auf, nämlich mit dem
Schein, als ob er sie nicht aufgebe. Er geht daher auch wirklich nur zum Scheine über die Abstraktion hinaus. Er räsoniert etwa wie folgt: Wenn der Apfel, die Birne, die Mandel, die Erdbeere in Wahrheit nichts anders als „die Substanz", „die Frucht" sind, so fragt es sich, wie kommt es, daß „die Frucht" sich mir bald als Apfel, bald als Birne, bald als Mandel zeigt, woher kommt dieser Schein der Mannigfaltigkeit, der meiner spekulativen Anschauung von der Einheit, von „der Substanz", von „der Frucht" so sinnfällig widerspricht? Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil „die Frucht" kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist. Die Verschiedenheit der profanen Früchte ist nicht nur für meinen sinnlichen Verstand, sondern für „die Frucht" selbst, für die spekulative Vernunft, von Bedeutung. Die verschiednen profanen Früchte sind verschiedne Lebensäußerungen der „einen Frucht", sie sind Kristallisationen, welche „die Frucht" selbst bildet. Also z.B. in dem Apfel gibt sich „die Frucht" ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein. Man muß also nicht mehr sagen, wie auf dem Standpunkt der Substanz: die Birne ist „die Frucht", der Apfel ist „die Frucht", die Mandel ist „die Frucht", sondern vielmehr: „die Frucht" setzt sich als Birne, „die Frucht" setzt sich als Apfel, „die Frucht" setzt sich als Mandel, und die Unterschiede, welche Apfel, Birne, Mandel voneinander trennen, sind eben die Selbstunterscheidungen „der Frucht" und machen die besondern Früchte eben zu unterschiednen Gliedern im Lebensprozesse „der Frucht". „Die Frucht" ist also keine inhaltslose, unterschiedslose Einheit mehr, sie ist die Einheit als Allheit, als „Totalität" der Früchte, die eine „organisch gegliederte Reihenfolge" bilden. In jedem Glied dieser Reihenfolge gibt „die Frucht sich ein entwickelteres, ausgesprocheneres Dasein, bis sie endlich als die „Zusammenfassung" aller Früchte zugleich die lebendige Einheit ist, welche jeder derselben ebenso in sich aufgelöst enthält als aus sich erzeugt, wie z.B., alle Glieder des Körpers beständig in Blut sich auflösen und beständig aus dem, Blut erzeugt werden. Man sieht: wenn die christliche Religion nur von einer Inkarnation Gottes weiß, so besitzt die spekulative Philosophie soviel Inkarnationen, als es Dinge gibt, wie sie hier in jeder Frucht eine Inkarnation der Substanz, der absoluten Frucht besitzt. Das Hauptinteresse für den spekulativen Philosophen besteht also darin, die Existenz der wirklichen profanen Früchte zu erzeugen und auf geheimnisvolle Weise zu sagen, daß es Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen gibt. Aber die Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen, die wir in der spekulativen Welt wiederfinden, sind nur mehr ScAemäpfel, ScAembirnen,
Scheinmandeln undScheinrosinen, denn sie sind Lebensmomente „der Frucht", dieses abstrakten Verstandeswesens, also selbst abstrakte Verstandeswesen. Was sich daher in der Spekulation freut, ist, alle wirklichen Früchte wiederzufinden, aber als Früchte, die eine höhere mystische Bedeutung haben, die, aus dem Äther deines Gehirns und nicht aus dem materiellen Grund und Boden herausgewachsen, die Inkarnationen „der Frucht", des absoluten Subjekts sind. Wenn du also aus der Abstraktion, dem übernatürlichen Verstandeswesen „die Frucht", zu den wirklichen natürlichen Früchten zurückkehrst, so gibst du dagegen den natürlichen Früchten auch eine übernatürliche Bedeutung und verwandelst sie in lauter Abstraktionen. Dein Hauptinteresse ist es eben, die Einheit „der Frucht" in allen diesen ihren Lebensäußerungen, dem Apfel, der Birne, der Mandel, nachzuweisen, also den mystischen Zusammenhang dieser Früchte, und wie in jeder derselben „die Frucht" sich stufenweise verwirklicht und notwendig, z.B. aus ihrem Dasein als Rosine, zu ihrem Dasein als Mandel fortgeht. Der Wert der profanen Früchte besteht daher auch nicht mehr in ihren natürlichen Eigenschaften, sondern in ihrer spekulativen Eigenschaft, wodurch sie eine bestimmte Stelle im Lebensprozesse „der absoluten Frucht" einnehmen. Der gewöhnliche Mensch glaubt nichts Außerordentliches zu sagen, wenn er sagt, daß es Äpfel und Birnen gibt. Aber der Philosoph, wenn er diese Existenzen auf spekulative Weise ausdrückt, hat etwas Außerordentliches gesagt. Er hat ein Wunder vollbracht, er hat aus dem unwirklichen Verstandeswesen „die Frucht" die wirklichen Naturwesen, den Apfel, die Birne etc. erzeugt, d. h. er hat aus seinem eignen abstrakten Verstand, den er sich als ein absolutes Subjekt außer sich, hier als „Jie Frucht "vorstellt, diese Früchte geschaffen, und in jeder Existenz, die er ausspricht, vollzieht er einen Schöpfungsakt. Es versteht sich, daß der spekulative Philosoph diese fortwährende Schöpfung nur zuwege bringt, indem er allgemein bekannte, in der wirklichen Anschauung sich vorfindende Eigenschaften des Apfels, der Birne etc. als von ihm erfundne Bestimmungen einschiebt, indem er dem, was allein der abstrakte Verstand schaffen kann, nämlich den abstrakten Verstandesformeln, die Namen der wirklichen Dinge gibt; indem er endlich seine eigne Tätigkeit, wodurch er von der Vorstellung Apfel zu der Vorstellung Birne übergeht, für die Selbsttätigkeit des absoluten Subjekts, „der Frucht", erklärt. Diese Operation nennt man in spekulativer Redeweise: die Substanz als Subjekt, als inneren Prozeß, als absolute Person begreifen, und dies Begreifen bildet den wesentlichen Charakter der Hegeischen Methode. Es war nötig, diese Bemerkungen voranzuschicken, um Herrn Szeliga begreiflich zu machen. Wenn Herr Szeliga bisher wirkliche Verhältnisse, wie
z.B. das Recht und die Zivilisation, in die Kategorie des Geheimnisses aufgelöst und so „das Geheimnis" zur Substanz gemacht hat, so erhebt er sich jetzt erst auf die wahrhaft spekulative, auf die Hegeische Höhe und verwandelt „das Geheimnis" in ein selbständiges Subjekt, das sich in den wirklichen Zuständen und Personen inkarniert und dessen Lebensäußerungen Gräfinnen, Marquisen, Grisetten, Portiers, Notare, Charlatans und Liebesintrigen, Bälle, hölzerne Türen etc. sind. Nachdem er die Kategorie „das Geheimnis" aus der wirklichen Welt erzeugt hat, erzeugt er die wirkliche Welt aus dieser Kategorie. Um so augenscheinlicher werden sich die Geheimnisse der spekulativen Konstruktion in Herrn Szeligas Darstellung enthüllen, als er unbestreitbar einen doppelten Vorzug vor Hegel hat. Einmal weiß Hegel den Prozeß, wodurch der Philosoph vermittelst der sinnlichen Anschauung und der Vorstellung von einem Gegenstand zum andern übergeht, mit sophistischer Meisterschaft als Prozeß des imaginierten Verstandeswesens selbst, des absoluten Subjekts, darzustellen. Dann aber gibt Hegel sehr oft innerhalb der spekulativen Darstellung eine wirkliche, die Sache selbst ergreifende Darstellung. Diese wirkliche Entwicklung innerhalb der spekulativen Entwicklung verleitet den Leser dazu, die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwickelung für spekulativ zu halten. Bei Herrn Szeliga fallen beide Schwierigkeiten weg. Seine Dialektik ist ohne alle Heuchelei und Verstellung. Er macht sein Kunststück mit einer lobenswerten Ehrlichkeit und der biedermännigsten Gradheit. Dann aber entwickelt er nirgendwo einen wirklichen Inhalt, so daß bei ihm die spekulative Konstruktion ohne alles störende Beiwerk, ohne alle doppelsinnige Verhüllung in ihrer nackten Schöne zu dem Auge spricht. Bei Herrn Szeliga zeigt es sich auch glänzend, wie die Spekulation einerseits scheinbar frei aus sich heraus ihren Gegenstand a priori1 schafft, anderseits aber, eben weil sie die vernünftige und natürliche Abhängigkeit vom Gegenstand wegsophisti sieren will, in die unvernünftigste und unnatürlichste Knechtschaft unter den Gegenstand gerät, dessen zufälligste, individuellste Bestimmungen sie als absolut notwendig und allgemein konstruieren muß.
3. „Das Geheimnis der gebildeten Gesellschaft"
Nachdem Eugen Sue uns durch die niedrigsten Schichten der Gesellschaft, z.B. die Verbrecherkneipen, geführt hat, versetzt er uns in die haute volee2, auf einen Ball im Quartier Saint-Germain.
1 von vornherein — 2 vornehme Gesellschaft
Herr Szeliga konstruiert diesen Übergang wie folgt:
„Das Geheimnis sucht sich der Betrachtung mit einer ... Wendung zu entziehen, bisher stand es als das absolut Rätselhafte, aller Halt- und Faßbarkeit Entschlüpfende, Negative, dem Wahrhaften, Realen, Positiven gegenüber, jetzt zieht es sich in dasselbe als dessen unsichtbaren Inhalt hinein. Damit gibt es aber auch die unbedingte Möglichkeit1, erkannt zu werden, auf."
„Das Geheimnis", welches bisher dem „Wahrhaften", „Realen", „Positiven", nämlich dem Recht und der Bildung gegenüberstand, „zieht sich jetzt in dasselbe", nämlich in die Region der Bildung hinein. Daß die haute volee die ausschließliche Region der Bildung ist, ist ein mystere2, wenn nicht von, so doch für Paris. Herr Szeliga geht nicht von den Geheimnissen der Verbrecherwelt zu den Geheimnissen der aristokratischen Gesellschaft über, sondern „das Geheimnis" wird der „unsichtbare Inhalt" der gebildeten Gesellschaft, ihr eigentliches Wesen. Es ist „keine neue Wendung" des Herrn Szeliga, um weitere Betrachtungen anknüpfen zu können, sondern „das Geheimnis" nimmt diese „neue Wendung", um sich der Betrachtung zu entziehen. Herr Szeliga, ehe er wirklich dem Eugen Sue dahin folgt, wohin ihn sein Herz treibt, nämlich auf den aristokratischen Ball, gebraucht vorher noch die heuchlerischen Wendungen der Spekulation, die a priori konstruiert.
„Freilich ist vorauszusehn, welch ein festes Gehäuse sich ,das Geheimnis' zu seiner Verhüllung wählen wird, und in der Tat, es scheint, als sei es eine unüberwindliche Un~ durchdringlichkeit... daß ... läßt sich daraus erwarten, daß überhaupt... dennoch ist ein neuer Versuch, den Kern auszubrechen, hier unerläßlich."
Genug, Herr Szeliga ist so weit, daß das
„metaphysische Subjekt, das Geheimnis - jetzt leicht, ungeniert, kokett auftritt".
Um nun die aristokratische Gesellschaft in ein „Geheimnis" zu verwandeln, stellt Herr Szeliga einige Reflexionen über die „Bildung" an. Er setzt lauter Eigenschaften der aristokratischen Gesellschaft voraus, die kein Mensch in ihr sucht, um hinterher das „Geheimnis" zu finden, daß sie diese Eigenschaften nicht besitzt. Er gibt sodann diese Entdeckung für das „Geheimnis" der gebildeten Gesellschaft aus. So fragt sich Herr Szeliga z.B., ob „die allgemeine Vernunft" - etwa die spekulative Logik? - den Inhalt ihrer „geselligen Unterhaltungen" bilde, ob „der Rhythmus und das Maß der Liebe allein" sie zu einem „harmonischen Ganzen macht", ob das, „was wir all
1 In der „Allgemeinen Literatur-Zeitung"; Unmöglichkeit - 2 Geheimnis
gemeine Bildung nennen, die Form des Allgemeinen, Ewigen, Idealen ist", d. h. ob das, was wir Bildung nennen, eine metaphysische Einbildung ist? Auf seine Fragen hat Herr Szeliga leicht a priori prophezeien:
„Daß die Antwort übrigens verneinend ausfallen werde ... läßt sich erwarten."
In dem Roman Eugen Sues ist der Übergang aus der niedrigen in die vornehme Welt ein gewöhnlicher Romanübergang. Die Verkleidungen Rudolphs, Fürsten von Geroldstein1, führen ihn in die unteren Schichten der Gesellschaft, wie sein Rang ihm die höhern Kreise derselben zugänglich macht. Auf dem Wege nach dem aristokratischen Ball sind es auch keinesweges die Kontraste der jetzigen Weltzustände, worüber er reflektiert; es sind seine eignen kontrastierenden Vermummungen, die ihm pikant erscheinen. Er teilt seinen gehorsamsten Begleitern mit, wie überaus interessant er sich selbst in den verschiednen Situationen finde.
„Je trouve", sagt er, „assez de piquant dans ces contrastes: un jour peintre en eventails, m'etablant dans un bouge de la rue aux Feves; ce matin commis marchand offrant un verre de cassis ä Madame Pipelet, et ce soir ... un des privilegi^s par la gräce de dieu, qui regnent sur ce monde." 2
Auf den Ball eingeführt, singt die kritische Kritik:
Sinn und Verstand vergeht mir schier, Seh ich mich unter Potentaten hier!
Sie ergießt sich in Dithyramben wie folgt:
» Hier ist Sonnenglanz in die Nacht, Frühlingsgrün und die Pracht des Sommers in den Winter hineingezaubert. Wir fühlen uns sogleich in der Stimmung, an das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen zu glauben, zumal wenn Schönheit und Grazie die Überzeugung unterstützen, daß wir uns in der unmittelbaren Nähe von Idealen befinden." (!!!)
Unerfahrner, leichtgläubiger, kritischer Landpfarrerl Nur deine kritische Einfalt kann sich von einem eleganten Pariser Ballsaal sogleich in die abergläubige „Stimmung versetzen lassen", an „das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen" zu glauben und in Pariser Löwinnen „unmittelbare Ideale", leibhafte Engel zu erblicken!
1 In Eugen Sues Roman „Die Geheimnisse von Paris": Gerolstein - 2 „Ich finde etwas Pikantes in diesen Kontrasten: eines Tages Fächermaler in einer gemeinen Kneipe in der Bohnenstraße; diesen Morgen Kommis, der der Frau Pipelet ein Glas Likör anbietet, und heute abend einer der Bevorzugten, die von Gottes Gnaden über die Welt hienieden herrschen."
5 Marx/En eels, Werke, Bd. 2
In seiner salbungsvollen Naivität belauscht der kritische Pfarrer die zwei „Schönsten unter den Schönen", die Clemence von Harville und die Gräfin Sarah MacGregor. Man errate, was er von ihnen „ablauschen" will:
„auf welche Weise wir den Segen geliebter Kinder, die ganze Fülle des Glücks eines Gatten zu sein, fähig sein können*'! ... „Wir hören ... wir staunen ... wir trauen unseren Ohren nicht."
Wir empfinden eine geheime Schadenfreude, wenn der lauschende Pastor enttäuscht wird. Die Damen unterhalten sich weder von „dem Segen" noch „von der Fülle", noch von der „allgemeinen Vernunft", es ist vielmehr „auf eine Untreue gegen den Gatten der Frau von Harville abgesehn". Über die eine der Damen, die Gräfin MacGregor, erhalten wir folgenden naiven Aufschluß:
Sie war „unternehmend genug, um infolge einer geheimen Ehe Mutter eines Kindes zu werden".
Von diesem Unternehmungsgeist der Gräfin unangenehm berührt, liest ihr Herr Szeliga den Text.
„Wir finden das ganze Streben der Gräfin auf individuellen, egoistischen Vorteil gerichtet."
Ja, von der Erreichung ihres Zweckes, der Heirat mit dem Fürsten von Geroldstein, verspricht er sich gar nichts Gutes:
„wovon wir uns gar nicht versprechen dürfen, daß sie ihn für das Glück der Untertanen des Fürsten von Geroldstein anwenden wird".
Mit „gesinnungsreichem Ernst" schließt der Puritaner seinen Strafsermon:
„Sarah" (die unternehmende Dame) „ist übrigens nicht etwa eine Ausnahme in diesen glänzenden Zirkeln, wenn auch eine Spitze" Übrigens nicht etwa! Wenn auch! Und die „Spitze" eines Zirkels wäre keine Ausnahme? Über den Charakter zweier andern Ideale, der Marquise von Harville und der Herzogin von Lucenay, erfahren wir:
Ihnen,„fehlt die Befriedigung des Herzens*. Sie haben in der Ehe nicht den Gegenstand der Liebe gefunden, so suchen sie nun außerhalb der Ehe den Gegenstand der Liebe. Die Liebe ist ihnen in der Ehe ein Geheimnis geblieben, welches gleichfalls zu enthüllen sie von dem gebieterischen Drange des Herzens angetrieben werden. So ergeben sie sich denn der geheimnisvollen Liebe. Diese,Opfer' der »lieblosen Ehe' werden .unwillkürlich dahin gedrängt, die Liebe selbst zu einem Äußeren, einem sogenannten
Verhältnis, herabzusetzen und für das Innere, Belebende, Wesentliche der Liebe das Romantische, das Geheimnis zu halten'." Das Verdienst dieser dialektischen Entwicklung ist um so höher anzuschlagen, je mehr sie sich einer allgemeinen Anwendbarkeit erfreut. Z.B. wer in seinem eigenen Hause nicht trinken darf und doch das Bedürfnis des Trinkens in sich fühlt, sucht den „Gegenstand" des Trunkes „außerhalb" des Hauses und ergibt sich „denn so" dem geheimnisvollen Trünke. Ja, er wird dahin getrieben, das Geheimnis für ein wesentliches Ingredienz des Trinkens anzusehen, obgleich er den Trunk nicht zu einem bloß „Äußern", Gleichgültigen herabsetzen wird, so wenig wie jene Damen die Liebe. Sie setzen ja nach der Erklärung des Herrn Szeliga selbst nicht die Liebe, sondern die lieblose Ehe zu dem herab, was sie wirklich ist, zu einem Äußern, zu einem sogenannten Verhältnis. „Was ist", heißt es nun weiter, „das ,Geheimnis' der Liebe?" Wir hatten soeben schon konstruiert, daß „das Geheimnis" das „Wesen" dieser Art von Liebe ist. Wie kommen wir nun dazu, nach dem Geheimnis des Geheimnisses, nach dem Wesen des Wesens zu suchen? „Nicht", deklamiert der Pfarrer, „nicht die schattigen Gänge in den Gebüschen, nicht das natürliche Halbdunkel der Mondnacht, nicht das künstliche, welches von köstlichen Gardinen und Vorhängen erzeugt wird, nicht der sanfte und betäubende Ton der Harfen und Orgeln, nicht die Macht des Verbotnen ..." Gardinen und Vorhänge! Ein sanfter und betäubender Ton! Und nun gar die Orgelnl Schlage sich der Herr Pfarrer doch die Kirche aus dem Sinn! Wer wird Orgeln zu einem Liebesrendezvous mitbringen? „Dies alles" (Gardinen und Vorhänge und Orgeln) „ist nur das Geheimnisvolle Und das Geheimnisvolle wäre nicht das „Geheimnis" der geheimnisvollen Liebe? Keineswegs: „Das Geheimnis darin ist das Erregende, Berauschende, Betäubende, die Gewalt der Sinnlichkeit" In dem „sanften und betäubenden" Ton besaß der Pfarrer schon das Betäubende. Hätte er nun statt der Gardinen und Orgeln Schildkrötensuppe und Champagner zu seinem Liebesrendezvous mitgebracht, so fehlte auch das „Erregende und Berauschende" nicht. „Die Gewalt der Sinnlichkeit", doziert der heilige Herr, „wollen wir uns zwar nicht eingestehen; sie hat aber nur darum eine so ungeheure Macht über uns, weil wir sie aus uns herausbannen, nicht als unsre eigne Natur anerkennen - unsre eigne Natur, welche wir dann auch zu bewältigen imstande wären, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft, der wahren Liebe, der Kraft des Willens geltend zu machen strebt."
Nach der Weise der spekulativen Theologie rät uns der Pastor, die Sinnlichkeit als unsre eigne Natur anzuerkennen, um imstande zu sein, sie hinterher zu bewältigen, d. h. um ihre Anerkennung zurückzunehmen. Er will sie zwar nur bewältigen, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft — die Willenskraft und die Liebe im Gegensatz zur Sinnlichkeit sind nur die Willenskraft und die Liebe der Vernunft - geltend machen will. Auch der unspekulative Christ erkennt die Sinnlichkeit an, soweit sie sich nicht auf Kosten der wahren Vernunft, nämlich des Glaubens, der wahren Liebe, nämlich der Liebe zu Gott, der wahren Willenskraft, nämlich des Willens in Christo, geltend macht. Der Pfarrer verrät uns sogleich seine wahre Meinung, wenn er fortfährt:
„Hört also die Liebe auf, das Wesentliche der Ehe, der Sittlichkeit überhaupt zu sein, so wird die Sinnlichkeit das Geheimnis der Liebe, der Sittlichkeit, der gebildeten Gesellschaft - Sinnlichkeit sowohl in ihrer ausschließlichen Bedeutung, wo sie das Zittern der Nerven, der glühende Strom in den Adern ist, als auch in der umfassenderen, als welche sie sich zu einem Schein geistiger Macht steigert, zu Herrschsucht, Ehrgeiz, Ruhmbegier sich erhebt ... Die Gräfin MacGregor repräsentiert" die letztere Bedeutung „der Sinnlichkeit, als des Geheimnisses der gebildeten Gesellschaft."
Der Pfarrer trifft den Nagel auf den Kopf. Um die Sinnlichkeit zu überwältigen, muß er vor allem die Nervenströmungen und den raschen Blutumlauf überwältigen. - Herr Szeliga glaubt im „ausschließlichen" Sinne, daß die größere Körperwärme von dem Glühen des Bluts in den Adern herkömmt, er weiß nicht, daß die warmblütigen Tiere warmblütig heißen, weil ihre Blutwärme, geringe Modifikationen abgerechnet, sich immer auf derselben Höhe erhält. - Sobald die Nerven nicht mehr strömen und das Blut in den Adern nicht mehr glüht, ist der sündige Leib, dieser Sitz der sinnlichen Gelüste, zu einem stillen Mann gemacht, und die Seelen könnnen sich ungehindert von der „allgemeinen Vernunft", der „wahren Liebe" und der „reinen Moral" unterhalten. Der Pastor degradiert die Sinnlichkeit so sehr, daß er grade die Momente der sinnlichen Liebe aufhebt, die sie begeistern — den raschen Blutumlauf, welcher beweist, daß der Mensch nicht mit sinnlosem Phlegma liebt, die Nervenströmungen, welche das Organ, das den Hauptsitz der Sinnlichkeit bildet, mit dem Gehirne verbinden. Er reduziert die wahre sinnliche Liebe auf die mechanische secretio seminis1 und lispelt mit einem berüchtigten deutschen Theologen:
„Nicht um sinnlicher Liebe halber, nicht um fleischlicher Gelüste willen, sondern v/eil der Herr gesagt hat: Seid fruchtbar und mehret euch."
1 Samenabsonderung
Vergleichen wir nun die spekulative Konstruktion mit dem Roman Eugen Sues. Es ist nicht die Sinnlichkeit, welche für das Geheimnis der Liebe ausgegeben wird, es sind Mysterien, Abenteuer, Hindernisse, Ängste, Gefahren und namentlich die Macht des Verbotnen. „Pourquoi", heißt es, „beaucoup de femmes prennent-elles pourtant des hommes qui ne valent pas leurs maris? Parce que le plus grand charme de l'amour est l'attrait affriandant du fruit defendu ... avancez que, en retranchant de cet amour les craintes, les angoisses, les difficultes, les mysteres, les dangers, il ne reste rien ou peu de chose, c'est-ä-dire, l'amant ... dans sa simplicite premiere ... en un mot, ce serait toujours plus ou moins l'aventure de cet homme ä qui l'on disait: .Pourquoi n'epousez-vous donc pas cette veuve, votre maltresse?' - ,Helas, j'y ai bien pense' - repondit-il ,mais alors je ne saurais plus oü aller passer mes soirees.'"1
Während Herr Szeliga ausdrücklich die Macht des Verbotnen nicht für das Geheimnis der Liebe erklärt, erklärt Eugen Sue sie ebenso ausdrücklich für „den größten Reiz der Liebe" und für den Grund der Liebesabenteuer extra muros2. „La prohibition et la contrebande sont inseparables en amour comme en marchandise." 3'-25^ Ebenso behauptet Eugen Sue im Gegensatz zu seinem spekulativen Exegeten, daß „der Hang zur Verstellung und zur List, der Geschmack für die Geheimnisse und für die Intrigen, eine wesentliche Eigenschaft, ein natürlicher Hang und ein gebieterischer Instinkt der weiblichen Natur sei".
Nur die Richtung dieses Hanges und dieses Geschmacks gegen die Ehe geniert Herrn Eugen Sue. Er will den Trieben der weiblichen Natur eine harmlosere, nützlichere Anwendung geben. Während Herr Szeliga die Gräfin MacGregor zur Repräsentantin jener Sinnlichkeit macht, die sich zum „Schein einer geistigen Macht steigert", ist sie bei Eugen Sue ein abstrakter Verstandesmensch. Ihr „Ehrgeiz" und ihr
1 „Warum wählen sich viele Frauen Liebhaber, die ihren Männern bei weitem nicht gleichkommen? Weil der größteZauber der Liebe der Reiz der verbotenen Frucht ist. Sie werden gestehen müssen, daß, wenn man dieser Liebe die Besorgnisse, die Angst, die Schwierigkeiten, das Geheimnisvolle, die Gefahren nähme, nichts oder doch nur sehr wenig übrigbleiben würde, das heißt - der Liebhaber in seiner ursprünglichen Einfachheit; es würde mit einem Worte immer mehr oder weniger das Abenteuer jenes Mannes sein, zu dem man sagte: .Warum heiraten Sie aber diese Witwe, Ihre Geliebte, nicht?' - .Ich habe auch daran gedacht', antwortete er, .aber wo sollte ich dann meine Abende zubringen?'" - 'außer Hause - 3 i,Verbot und Schmuggelei sind in der Liebe wie im Handel nicht voneinander zy trennen,"
„Stolz", weit entfernt, Formen der Sinnlichkeit zu sein, sind Ausgeburten eines von der Sinnlichkeit völlig unabhängigen, abstrakten Verstandes. Eugen Sue bemerkt daher ausdrücklich, daß
„nie die feurigen Eingebungen der Liebe ihren eiskalten Busen schlagen ließen, daß keine Überraschung des Herzens oder der Sinne die unbarmherzigen Berechnungen dieser verschlagnen, egoistischen und ehrsüchtigen Frau stören konnten".
Der Egoismus des abstrakten, von den sympathetischen Sinnen nicht leidenden, mit Blut nicht durchtränkten Verstandes bildet den wesentlichen Charakter dieser Frau. Ihre Seele wird daher als „trocken-hart", ihr Geist als „gewandt-boshaft", ihr Charakter als „heimtückisch" und — sehr bezeichnend für den abstrakten Verstandesmenschen - als „absolut", ihre Verstellung als „tief" geschildert. - Nebenbei bemerkt, motiviert Eugen Sue den Lebenslauf der Gräfin so albern wie der meisten seiner Romancharaktere. Eine alte Amme bildet ihr ein, daß sie ein „gekröntes Haupt" werden muß. Sie begibt sich in dieser Einbildung auf Reisen, um eine Krone zu erheiraten. Sie begeht endlich die Inkonsequenz, einen kleinen deutschen Serenissimus für ein „gekröntes Haupt" zu halten. Nach seinen Expektorationen gegen die Sinnlichkeit muß unser kritischer Heiliger noch demonstrieren, warum Eugen Sue auf einem Ball in die haute volee einführt, eine Einführungsmethode, die sich fast bei allen französischen Romanschreibern findet, während die englischen häufiger auf einer Jagdpartie oder auf einem Landschloß in die schöne Welt einführen.
„Es kann für diese" (nämlich Herrn Szeligas) „Auffassung nicht gleichgültig und da" (in Szeligas Konstruktion) „bloß zufällig sein, daß Eugen Sue uns gerade auf einem Balle in die große Welt einführt."
Nun ist dem Roß der Zügel schießen gelassen, und es trabt frisch in einer Reihe von Konklusionen, alt-Wolfischen Angedenkens, der Notwendigkeit zu.
„Der Tanz ist die allgemeinste Erscheinung der Sinnlichkeit als Geheimnis. Die unmittelbare Berührung, die Umschließung der beiden Geschlechter (?), welche das Paar bedingt, werden im Tanze gestattet, weil sie trotz des Augenscheins und der dabei sich wirklich" - wirklich, Herr Pfarrer? - „fühlbar machenden süßen Empfindung doch nicht als sinnliche" - sondern wohl als allgemein vernünftige? - „Berührung und Umschließung gelten."
Und nun ein Schlußsatz, der höchstens auf der Hacke tanzt:
„Denn gälte sie in der Tat dafür, so wäre nicht einzusehn, warum die Gesellschaft bloß beim Tanze diese Nachsicht übte, während sie umgekehrt mit so harter Verdam
mung verfolgt, was, Wenn es sich anderwärts mit gleicher Freiheit zeigen wollte, als unverzeihlichster Verstoß gegen Sitte und Scham, Brandmarkung und unbarmherzigste Ausstoßung nach sich zieht." Der Herr Pfarrer spricht weder von dem Cancan noch von der Polka, sondern von dem Tanze schlechthin, von der Kategorie des Tanzes, die nirgends getanzt wird als unter seinem kritischen Hirnschädel. Er sehe sich einmal einen Tanz auf dem Pariser Chaumiere an, und sein christlich-germanisches Gemüt wird sich empören über diese Keckheit, diese Offenherzigkeit, diesen graziösen Mutwillen, diese Musik der sinnlichsten Bewegung. Seine eigne „sich wirklich fühlbar machende süße Empfindung" würde ihm „fühlbar" machen, daß „in der Tat nicht einzusehen wäre, warum die Tanzenden selbst, während sie umgekehrt" auf den Zuschauer den erhebenden Eindruck einer offenherzigen, menschlichen Sinnlichkeit machen, „was, wenn es sich anderwärts", namentlich in Deutschland, „in gleicher Weise äußerte, als unverzeihlicher Verstoß" etc. etc. Nicht um auch, wenigstens sozusagen, in ihren eignen Augen offenherzig sinnliche Menschen nicht nur sein sollen und dürfen, sondern auch können und müssen müssen!! Der Kritiker läßt uns, dem Wesen des Tanzes zulieb, auf dem Ball eingeführt werden. Er findet eine große Schwierigkeit. Auf diesem Ball wird zwar getanzt, aber nur in der Einbildung. Eugen Sue schildert den Tanz nämlich mit keinem Worte. Er mischt sich nicht unter das Gewühl der Tanzenden. Er benutzt den Ball nur als Gelegenheit, um die aristokratische Vordergruppe zusammenzubringen. In ihrer Verzweiflung greift „die Kritik" dem Dichter ergänzend unter die Arme, und ihre eigne „Phantasie" zeichnet mit Leichtigkeit Ballerscheinungen etc. Wenn Eugen Sue nach kritischer Vorschrift bei der Schilderung der Verbrecherschlupfwinkel und Verbrechersprache kein unmittelbares Interesse an der Schilderung dieser Schlupfwinkel und dieser Sprache hatte, so ist ihm dagegen der Tanz, den nicht er selbst, sondern sein „phantasievoller" Kritiker zeichnet, notwendig von unendlichem Interesse.
Weiter!
»In der Tat, das Geheimnis des geselligen Tons und Takts - das Geheimnis dieser äußersten Unnatur - ist die Sehnsucht, zur Natur zurückzukehren. Darum wirkt eine Erscheinung wie di eCecilys in der gebildeten Gesellschaft auch so elektrisch, ist von so ungemeinen Erfolgen gekrönt. Ihr, aufgewachsen als Sklavin unter Sklaven, ohne Bildung, allein angewiesen auf ihre Natur - ist diese Natur der alleinige LebensquelL Plötzlich nun an einen Hof unter Zwang und Sitte versetzt, lernt sie das Geheimnis derselben bald durchschauen ... In dieser Sphäre, die sie unbedingt beherrschen kann, da ihre Macht, die Macht ihrer Natur, für einen rätselhaften Zauber gilt, muß Cecily notwendig ins Maßlose verirren, während einst, als sie noch Sklavin war,
dieselbe Natur sie lehrte, jedem unwürdigen Ansinnen des mächtigen Herrn Widerstand zu leisten und ihrer Liebe die Treue zu 1: ewahren. Cecily ist das enthüllte Geheimnis der gebildeten Gesellschaft. Die verachteten Sinne durchbrechen am Ende die Dämme und schießen in gänzlicher Zügellosigkeit dahin" etc. Der Leser Herrn Szeligas, dem der Suesche Roman unbekannt ist, glaubt unfehlbar, Cecily sei die Löwin des geschilderten Balles. In dem Roman sitzt sie in einem deutschen Zuchthaus, während in Paris getanzt wird. Cecily bleibt als Sklavin dem Negerarzte David treu, weil sie ihn „leidenschaftlich" liebt und weil ihr Eigentümer, Herr Willis, „brutal" um sie wirbt. Ihr Übergang zu einer ausschweifenden Lebensart wird sehr einfach motiviert. In die „europäische Welt" versetzt, „errötet" sie darüber, mit „einem Neger verehlicht zu sein". Nachdem sie in Deutschland angekommen ist, wird sie „sogleich" von einem schlechten Subjekt depraviert, und ihr „indianisches Blut" macht sich geltend, das der heuchlerische Herr Sue, der douce morale1 und dem doux commerce2 zuliebe, als eine „perversite naturelle"3 charakterisieren muß. Das Geheimnis der Cecily ist die Mestize. Das Geheimnis ihrer Sinnlichkeit ist die tropische Glut. Parny in seinen schönen Gedichten an die Eleonore hat die Mestize gefeiert. Wie gefährlich sie dem französischen Matrosen ist, ist in mehr als hundert Reisebeschreibungen zu lesen. „Cecily etait le type incarne de la sensualite brulante, qui ne s'allume qu'au feu des iropiques ... Tout le monde a entendu parier de ces filles de couleur, pour ainsi dire mortelles aux Europeens, de ces vampyrs enchanteurs, qui, enivrant leurs victimes de seduetions terribles ... ne lui laissent, selon l'energique expression du pays, que ses larmes a boire, que son coeur a ronger."^ Weit entfernt, daß Cecily grade auf aristokratisch-gebildete, blasierte Leute so magisch einwirkte ... „les femmes de l'espece de Cecily exercent une action soudaine, une omnipotence magique sur les hommes de sensualite brutale tels que Jacques Ferrand"5 Und seit wann repräsentieren Leute wie Jacques Ferrand die feine Gesellschaft? Aber die kritische Kritik mußte Cecily als ein Moment im Lebensprozesse des absoluten Geheimnisses konstruieren.
1 sanften Moral - a sanften Geschäft - 3 natürliche Verderbtheit - 4 „Cecily war der wahre Typus der glühenden Sinnlichkeit, die nur in dem Sonnenbrand der Tropen sich entzünden kann ... Jedermann hat von jenen für die Europäer fast tödlichen farbigen Mädchen, von jenen zauberischen Vampyren gehört, welche ihr Opfer mit schrecklicher Wonne berauschen ... und ihm, wie man dort bezeichnend genug sagt, nur seine Tränen zum Tranke, sein Herz zum Nagen übriglassen." -5 „die Frauen wie Cecily üben eine zauberische Allgewalt auf die rohsinnlkhen Männer wie Jacques Ferrand aus."
4. „Das Geheimnis der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit**
„Das Geheimnis als das der gebildeten Gesellschaft zieht sich zwar aus dem Gegensatz in das Innere hinein. Dennoch hat die große Welt wiederum ausschließlich ihre Zirkel, in denen sie das Heiligtum bewahrt. Sie ist gleichsam die Kapelle für dieses Allerheiligste. Aber für die im Vorhofe ist die Kapelle selbst das Geheimnis. Die Bildung ist also in ihrer exklusiven Stellung für das Volk dasselbe ... was die Roheit für den Gebildeten ist."
Zwar - dennoch, wiederum - gleichsam — aber - also - das sind die magischen Haken, welche die Ringe der spekulativen Entwickelungskette zusammenschließen. Herr Szeliga hat das Geheimnis aus der Sphäre der Verbrecher in die haute volee sich hineinziehen lassen. Jetzt muß er das Geheimnis konstruieren, daß die vornehme Welt ihre ausschließlichen Zirkel hat und daß die Geheimnisse dieser Zirkel Geheimnisse für das Volk sind. Zu dieser Konstruktion bedarf es außer den schon angeführten Zauberhaken der Verwandlung eines Zirkels in eine Kapelle und der Verwandlung der nichtaristokratischen Welt in einen Vorhof zu dieser Kapelle. Es ist abermals ein Geheimnis für Paris, daß alle Sphären der bürgerlichen Gesellschaft nur einen Vorhof für die Kapelle der haute volee bilden. Herr Szeliga verfolgt zwei Zwecke. Einmal soll das Geheimnis, welches sich in dem exklusiven Zirkel der haute volee inkarniert hat, zum „Gemeingut der Welt" fortbestimmt werden. Zweitens soll der Notar Jacques Ferrand als Lebensglied des Geheimnisses konstruiert werden. Er verfährt wie folgt:
„Die Bildung kann und will in ihren Kreis noch nicht alle Stände und Unterschiede hereinziehen. Erst das Christentum und die Moral sind imstande, Universalreiche auf dieser Erde zu gründen."
Für Herrn Szeliga ist die Bildung, die Zivilisation, identisch mit der aristokratischen Bildung. Er kann daher nicht sehen, daß Industrie und Handel ganz andre Universalreiche gründen als Christentum und Moral, Familienglück und Bürgerwohl. Aber wie kommen wir zum Notar Jacques Ferrand ? Höchst einfach! Herr Szeliga verwandelt das Christentum in eine individuelle Eigenschaft, in die „Frömmigkeit", und die Moral in eine andre individuelle Eigenschaft, in die „Rechtschaffenheit". Er faßt diese beiden Eigenschaften in ein Individuum zusammen, das er Jacques Ferrand tauft, weil Jacques Ferrand beide Eigenschaften nicht besitzt, sondern heuchelt. Jacques Ferrand ist nun das „Geheimnis der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit". Das „Testament"
Ferrands ist dagegen „das Geheimnis der scheinenden Frömmigkeit und Rechtschaffenheit", also nicht mehr der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit selbst. Wollte die kritische Kritik dies Testament als Geheimnis konstruieren, so mußte sie die scheinende Rechtschaffenheit und Frömmigkeit für das Geheimnis dieses Testamentes, nicht umgekehrt dies Testament für das Geheimnis der scheinenden Rechtschaffenheit erklären. Während das Pariser Notariat in Jacques Ferrand ein bittres Pasquill auf sich erblickte und die Entfernung dieser Person aus den in Szene gesetzten „Mysteres de Paris" von der Theaterzensur erwirkte, sieht die kritische Kritik in demselben Moment, wo sie gegen das „Luftreich der Begriffe polemisiert", in einem Pariser Notar keinen Pariser Notar, sondern Religion und Moral, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit. Der Prozeß des Notars Lehon hätte sie aufklären müssen. Die Stellung, welche der Notar in dem Roman Eugen Sues behauptet, hängt genau mit seiner offiziellen Stellung zusammen.
„Les notaires sont au temporel ce qu'au spirituel sont les eures; ils sont les depositaires de nos secrets"1 (Monteil,„Hist[oireldesfran^ais des divjers} etats" etc., t. IX, p- 37.)
Der Notar ist der weltliche Beichtvater. Er ist Puritaner von Profession, und „Ehrlichkeit", sagt Shakespeare, „ist kein Puritaner"Er ist zugleich der Kuppler für alle möglichen Zwecke, der Lenker der bürgerlichen Intrigen und Kabalen. Mit dem Notar Ferrand, dessen ganzes Geheimnis die Heuchelei und das Notariat ist, sind wir, wie es scheint, noch keinen Schritt weitergekommen, doch man höre!
„Ist dem Notar die Heuchelei nun Sache des vollständigsten Bewußtseins, der Madame Roland aber gleichsam Instinkt, so steht zwischen ihnen die große Masse derer, die hinter das Geheimnis nicht kommen können und doch sich unwillkürlich gedrungen fühlen, daß sie es möchten. So ist es denn nicht Aberglauben, welcher hoch und niedrig in die unheimliche Behausung des Charlatans Bradamanti (Abbe Polidori) führt, nein, es ist das Suchen des Geheimnisses, um vor der Welt gerechtfertigt zu stehn."
„Hoch und niedrig" strömt nicht zu Polidori, um ein bestimmtes Geheimnis zu finden, welches vor aller Welt gerechtfertigt dasteht, „hoch und niedrig" sucht bei ihm das Geheimnis schlechthin, das Geheimnis als absolutes Subjekt, um vor der Welt gerechtfertigt dazustehen, wie wenn man
1 „Die Notare sind im Weltlichen das, was im Geistlichen die Priester sind; sie sind die Mitwisser unserer Geheimnisse
nicht eine Axt, sondern das Instrument in abstracto1 suchte, um Holz zu spalten. Alle Geheimnisse, die Polidori besitzt, beschränken sich auf ein Mittel zum Abortieren für Schwangere und ein Gift zum Töten. - Herr Szeliga in spekulativer Wut läßt den „Mörder" zum Gift Polidoris seine Zuflucht nehmen, „weil er nicht Mörder, sondern geachtet, geliebt, geehrt sein will", als wenn es sich bei einer Mordtat um Achtung, Liebe, Ehre und nicht um den Kopf handelte! Aber der kritische Mörder bemüht sich nicht um seinen Kopf, sondern um „das Geheimnis". - Da nicht alle Welt mordet und polizeiwidrig schwanger ist, wie soll Polidori jeden in den gewünschten Besitz des Geheimnisses setzen? Herr Szeliga verwechselt den Charlatan Polidori wahrscheinlich mit dem gelehrten Polydorus Virgilius, der im 16. Jahrhundert lebte und zwar keine Geheimnisse entdeckt hat, wohl aber die Geschichte der Entdecker der Geheimnisse, der Erfinder - zum „Gemeingut der Welt" zu machen strebte. (Siehe Polidori Virgilii liber de rerum inventoribus, Lugduni MDCCVI.) Das Geheimnis, das absolute Geheimnis, wie es sich zuletzt als „Gemeingut der Welt' etabliert, besteht also in dem Geheimnis zu abortieren und zu vergiften. Das Geheimnis konnte sich nicht geschickter zum „Gemeingut der Welt" machen, als indem es sich in Geheimnisse verwandelte, die für niemand Geheimnisse sind.
5. „Das Geheimnis ein Spott"
Jetzt ist das Geheimnis Gemeingut geworden, das Geheimnis aller Welt und jedes Einzelnen. Entweder ist es meine Kunst oder mein Instinkt, oder ich kann es mir als eine käufliche Ware kaufen." Welches Geheimnis ist jetzt zum Gemeingut der Welt geworden? Das Geheimnis der Rechtslosigkeit im Staat oder das Geheimnis der gebildeten Gesellschaft oder das Geheimnis der Warenverfälschung oder das Geheimnis, Kölnisches Wasser zu fabrizieren, oder das Geheimnis der „kritischen Kritik"? Dies alles nicht, sondern das Geheimnis in abstracto, die Kategorie des Geheimnisses! Herr Szeliga beabsichtigt, die Dienstboten und den Portier Pipelet nebst Frau als Inkarnation des absoluten Geheimnisses darzustellen. Er will den Dienstboten und den Portier des „Geheimnisses" konstruieren. Wie stellt er
1 im allgemeinen
es nun an, um aus der reinen Kategorie bis zum „Bedientender vor der „Verschlossenen Tür spioniert", um aus dem Geheimnis als absolutem Subjekt, das über dem Dach in dem Wolkenhimmel der Abstraktion thront, bis zum Erdgeschoß, wo die Portierloge liegt, herabzustürzen? Zunächst läßt er die Kategorie des Geheimnisses einen spekulativen Prozeß durchmachen. Nachdem das Geheimnis durch die Mittel, zu abortieren und zu vergiften, Gemeingut der Welt geworden ist, ist es
„also durchaus nicht mehr die Verborgenheit und Unzugänglichkeit selbst, sondern, daß es sich verbirgt, oder noch besser" - immer besser! - „daß ich's verberge, daß ich's unzugänglich mache".
Mit dieser Umwandlung des absoluten Geheimnisses aus dem Wesen in den Begriff, aus dem objektiven Stadium, worin es die Verborgenheit selbst ist, in das subjektive Stadium, worin es sich verbirgt, oder noch besser, worin „ich's" verberge, sind wir noch keinen Schritt weitergekommen. Die Schwierigkeit scheint im Gegenteil zu wachsen, da ein Geheimnis im menschlichen Kopf und in der menschlichen Brust unzugänglicher und verborgner ist als auf dem Meeresgrunde. Herr Szeliga greift daher seinem spekulativen Fortschritt unmittelbar durch einen empirischen Fortschritt unter die Arme.
„Die verschloßnen Türen" - hört! hört! - „sind's nunmehr" - nunmehrl - „hinter denen das Geheimnis ausgebrütet, gebrauet, verübt wird."
Herr Szeliga hat das spekulative Ich des Geheimnisses „nunmehr" in eine sehr empirische, sehr hölzerne Wirklichkeit, in eine Türe verwandelt.
„Damit" - nämlich mit der verschlossenen Türe und nicht mit dem Übergang aus dem verschlossenen Wesen in den Begriff - „ist aber auch die Möglichkeit gegeben, daß ich es belauschen, behorchen, ausspionieren kann."
Es ist kein von Herrn Szeliga entdecktes „Geheimnis", daß man vor verschlossenen Türen lauschen kann. Das massenhafte Sprichwort verleiht sogar den Wänden Ohren. Es ist dagegen ein ganz kritisch spekulatives Geheimnis, daß erst „nunmehr", nach der Höllenfahrt durch die Verbrecherschlupfwinkel, nach der Himmelfahrt in die gebildete Gesellschaft und nach den Wundern Polidoris, Geheimnisse hinter verschlossenen Türen gebrauet und Vor geschlossenen Türen belauscht werden können. Es ist ein ebenso großes kritisches Geheimnis, daß verschlossene Türen eine kategorische Notwendigkeit sind, sowohl um Geheimnisse zu brüten, zu brauen und zu verüben - wie viele Geheimnisse werden nicht hinter Gebüschen gebrütet, gebraut und verübt! - als um sie auszuspionieren.
Nach dieser glänzenden dialektischen Waffentat gerät Herr Szeliga natürlich von dem Ausspionieren zu den Gründen des Ausspionierens. Hier teilt er das Geheimnis mit, daß die Schadenfreude der Grund des Ausspionierens sei. Von der Schadenfreude geht er weiter zu dem Grund der Schadenfreude. „Besser sein will jeder", sagt er, „als der andre, weil er nicht allein die Triebfedern seiner guten Taten geheimhält, sondern seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen sucht."
Der Satz müßte umgekehrt heißen: Jeder hält nicht allein die Triebfedern seiner guten Taten geheim, sondern sucht seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen, weil er besser sein will als der andre. Wir wären nun von dem Geheimnis, das sich selbst Verbirgt, zu dem Ich, das verbirgt, von dem Ich zur verschlossenen Türe, von der verschlossenen Türe zum Ausspionieren, von dem Ausspionieren zum Grund des Ausspionierens, der Schadenfreude, von der Schadenfreude zum Grund der Schadenfreude, zum Besserseinwollen gelangt. Nun werden wir auch bald die Freude erleben, den Bedienten vor der verschlossenen Türe stehen zu sehen. Das allgemeine Besserseinwollen führt uns nämlich direkt dahin, daß „jedermann den Hang hat, hinter des andern Geheimnisse zu kommen", und hieran schließt sich ungezwungen die geistreiche Bemerkung an:
„Am günstigsten in dieser Hinsicht sind die Dienstboten gestellt." Wenn Herr Szeliga die Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei, Vidocqs Memoiren, das „Livre noir"1 und dergleichen gelesen hätte, so wüßte er, daß die Polizei in dieser Hinsicht noch günstiger gestellt ist als die „am günstigsten" gestellten Dienstboten, daß sie die Dienstboten nur zum groben Dienste gebraucht, daß sie nicht vor der Tür noch bei dem Neglige der Herrschaft stehenbleibt, sondern unter die Bettleinwand an ihren nackten Leib in der Gestalt einer femme galante oder selbst einer Ehefrau hinankriecht. In Sues Roman selbst ist der Polizeispion Bras rouge ein Hauptträger der Entwicklung. Was Herrn Szeliga „nunmehr" an den Dienstboten stört, ist, daß sie nicht „interesselos" genug sind. Dieses kritische Bedenken bahnt ihm den Weg zum Portier Pipelet nebst Frau. „Die Stellung des Portiers gewährt dagegen die verhältnismäßige Unabhängigkeit, um über die Geheimnisse des Hauses freien, interesselosen, wenn auch derben und verletzenden Spott auszuschütten."
1 „Schwarze Buch"
Zunächst gerät diese spekulative Konstruktion des Portiers dadurch in große Verlegenheit, daß in sehr vielen Häusern von Paris der Dienstbote und der Portier für einen Teil der Mieter zusammenfallen. Was die kritische Phantasie über die relativ unabhängige interesselose Stellung des Portiers betrifft, so mag man sie aus folgenden Tatsachen beurteilen. Der Pariser Portier ist der Repräsentant und der Spion des Hauseigentümers. Er wird meistens nicht vom Hauseigentümer, sondern von den Mietsleuten besoldet. Dieser prekären Stellung wegen verbindet er häufig das Geschäft des Kommissionärs mit seinem offiziellen Amt. Während des Terrorismus, der Kaiserzeit und der Restauration war der Portier ein Hauptagent der geheimen Polizei. So wurde z.B. der General Foy von seinem Portier überwacht, der die an ihn gerichteten Briefe einem in der Nähe verweilenden Polizeiagenten zum Durchlesen überlieferte. (Siehe Froment, „La police devoilee".) „Portier" und „Epicier"1 sind daher zwei Schimpfnamen, und der Portier selbst will „Concierge"2 angeredet sein. Eugen Sue ist so weit davon entfernt, die Madame Pipelet als „interesselos" und harmlos zu schildern, daß sie vielmehr den Rudolph sogleich beim Geldwechseln betrügt, daß sie ihm die betrügerische Pfandleiherin, die in ihrem Hause wohnt, rekommandiert, daß sie ihm die Rigolette als eine Bekanntschaft, die angenehm werden kann, schildert, daß sie den Kommandanten neckt, weil er schlecht zahlt, weil er mit ihr marktet - in ihrem Ärger nennt sie ihn „Commandant de deux liards"3, „£a t'apprendra a ne donner que douze francs par mois pour ton menage"4 - weil er die „petitesse"5 besitzt, auf sein Holz ein Augenmerk zu haben etc. Sie selbst teilt den Grund ihres „unabhängigen" Benehmens mit. Der Kommandant zahlt nur zwölf Francs monatlich. Bei Herrn Szeliga hat die „Anastasia Pipelet gewissermaßen den kleinen Krieg gegen das Geheimnis zu eröffnen". Bei Eugen Sue repräsentiert Anastasia Pipelet die Pariser Portiere. Er will „die von Herrn Henry Monier meisterhaft gezeichnete Portiere dramatisieren". Herr Szeliga aber muß eine der Eigenschaften der Madame Pipelet, die itmedisance"6, in ein apartes Wesen und hinterher die Madame Pipelet in die Repräsentantin dieses Wesens verwandeln.
„Der Mann", fährt Herr Szeliga fort, „der Portier Alfred Pipelet, steht ihr mit wenigerm Glück zur Seite."
1 „Krämer" - 2 „Hausmeister" - 3 etwa: „Pfennigkommandant" - 4 „das wird dich lehren, nur zwölf Francs monatlich für die Wirtschaft zu geben" - 5 „Kleinlichkeit" 8 „Schmähsucht"
Um ihn für dies Unglück zu trösten, macht ihn Herr Szeliga ebenfalls zu einer Allegorie. Er repräsentiert die „objektive" Seite des Geheimnisses, das „Geheimnis als Spott".
„Das Geheimnis, dem er unterliegt, ist ein Spott, ein Streich, der ihm gespielt wird." Ja, in ihrem unendlichen Erbarmen macht die göttliche Dialektik den „unglücklichen, alten, kindischen Mann" Zu einem „starken Mann" im metaphysischen Sinne, indem er ein sehr würdiges, sehr glückliches und sehr entscheidendes Moment im Lebensprozeß des absoluten Geheimnisses darstellt. Der Sieg über Pipelet ist
„des Geheimnisses entschiedenste Niederlage". „Ein Gescheuterer, Mutiger wird sich durch die Posse nicht täuschen lassen."
6. Lachtaube (Rigolette)
„Ein Schritt bleibt noch übrig. Das Geheimnis ist durch seine eigne Konsequenz, wie wir an Pipelet und durch Cabrion gesehen haben, dahin getrieben worden, sich zum bloßen Possenspiel herabzuwürdigen. Es kommt nur noch darauf an, daß sich das Individuum nicht mehr dazu hergibt, die alberne Komödie zu spielen. Lachtaube tut diesen Schritt auf die unbefangenste Weise von der Welt."
Jeder kann in einem Zeitraum von zwei Minuten das Geheimnis dieses spekulativen Possenspiels durchschauen und selbst anwenden lernen. Wir wollen eine kurze Anweisung geben. Aufgabe: Du sollst mir konstruieren, wie der Mensch Herr über die Tiere wird? Spekulative Lösung: Gegeben sei ein halb Dutzend Tiere, etwa der Löwe, der Haifisch, die Schlange, der Stier, das Pferd und der Mops. Abstrahiere dir aus diesen sechs Tieren die Kategorie: das „Tier". Stelle dir das „Tier" als ein selbständiges Wesen vor. Betrachte den Löwen, den Haifisch, die Schlange etc. als Verkleidungen, als Inkarnationen des „Tiers". Wie du deine Einbildung, das „Tier" deiner Abstraktion, zu einem wirklichen Wesen gemacht hast, so mache nun die wirklichen Tiere zu Wesen der Abstraktion, deiner Einbildung. Du siehst, daß das „Tier", welches im Löwen den Menschen zerreißt, im Haifisch ihn verschlingt, in der Schlange ihn vergiftet, im Stier mit dem Horn auf ihn losstößt und im Pferd nach ihm ausschlägt, in seinem Dasein als Mops ihn nur mehr anbellt und den Kampf gegen den Menschen in ein bloßes Scheingefecht verwandelt. Das „Tier" ist durch seine
eigne Konsequenz, wie wir im Mops gesehen haben, dahin getrieben worden, sich zum bloßen Possenspieler herabzuwürdigen. Wenn nun ein Kind oder ein kindischer Mann vor dem Mops davonläuft, so kommt es nur noch darauf an, daß sich das Individuum nicht mehr dazu hergibt, die alberne Komödie zu spielen. Das Individuum X tut diesen Schritt auf die unbefangenste Weise von der Welt, indem es sein Bambusrohr gegen den Mops agieren läßt. Du siehst, wie der Mensch vermittelst des Individuums X und des Mopses Herr über das „Tier", also auch über die Tiere geworden ist und in dem Tiere als Mops den Löwen als Tier überwältigt hat. In ähnlicher Weise besiegt die „Lachtaube" des Herrn Szeliga durch die Vermittlung des Pipelet und des Cabrion die Geheimnisse des heutigen Weltzustandes. Noch mehr! Sie selbst ist eine Realisation der Kategorie: das „Geheimnis". „Sie ist sich selbst ihres hohen sittlichen Werts noch nicht bewußt, darum ist sie sich selbst noch Geheimnis." Das Geheimnis der mcAfspekulativen Rigolette läßt Eugen Sue durch Murph aussprechen. Sie ist „une fort jolie griselle"1. Eugen Sue hat in ihr den liebenswürdigen, menschlichen Charakter der Pariser Grisette geschildert. Nur mußte er wieder aus Devotion vor der Bourgeoisie und aus höchsteigner Überschwenglichkeit die Grisette moralisch idealisieren. Er mußte ihrer Lebenssituation und ihrem Charakter die Pointe ausbrechen, nämlich ihre Hinwegsetzung über die Form der Ehe, ihr naives Verhältnis zum Etudiant2 oder zum Ouvrier3. Grade in diesem Verhältnis bildet sie einen wahrhaft menschlichen Kontrast gegen die scheinheilige, engherzige und selbstsüchtige Ehefrau des Bourgeois, gegen den ganzen Kreis der Bourgeoisie, d. h. gegen den offiziellen Kreis.
7. Der Weltzustand der Geheimnisse von Paris
„Diese Welt der Geheimnisse ist nun der allgemeine Weltzustand, in welchen die individuelle Handlung der »Geheimnisse von Paris* versetzt ist." Ehe Herr Szeliga „indes" zu der „philosophischen Reproduktion der epischen Begebenheit übergeht", hat er noch „die im vorigen hingeworfenen einzelnen Umrisse zu einem Gesamtbilde zusammenzufassen". Es ist als ein wirkliches Geständnis, als eine Enthüllung seines kritischen Geheimnisses zu betrachten, wenn Herr Szeliga sagt, daß er zu der „philo
1 „eine sehr hübsche Grisette" - 2 Student - 3 Arbeiter
sophischen Reproduktion" der epischen Begebenheit übergehen will. Er hat bisher den Weltzustand „philosophisch reproduziert". Herr Szeliga fährt in seinem Geständnis fort:
„Aus seiner Darstellung ergebe sich, daß die einzelnen abgehandelten Geheimnisse ihren Wert nicht für sich, jedes abgetrennt von dem andern haben, keine großartigen Klatschneuigkeiten seien, sondern daß ihr Wert darin bestehe, daß sie in sich eine organisch gegliederte Folge bilden, deren Totalität das ,Geheimnis' ist."
In seiner aufrichtigen Laune geht Herr Szeliga noch weiter. Er gesteht, daß die „spekulative Folge" nicht die wirkliche Folge der „Mysteres de Paris" sei.
„Zwar treten die Geheimnisse in unserm Epos nicht im Verhältnisse dieser von sich selbst wissenden Folge" (zu kostenden Preisen?) „auf. Wir haben es aber auch nicht mit dem logischen, offen daliegenden freien Organismus der Kritik zu tun, sondern mit einem geheimnisvollen Pflanzendasein"
Wir überschlagen die Zusammenfassung des Herrn Szeliga und gehen sogleich zu dem Punkte über, der den „Ubergang" bildet. Wir haben an Pipelet die „Selbstverspottung des Geheimnisses" erfahren.
„In der Selbstverspottung richtet das Geheimnis sich selber. Damit fordern die Geheimnisse, sich selbst in ihrer letzten Konsequenz vernichtend, jeden kräftigen Charakter zur selbständigen Prüfung auf."
Rudolph, Fürst von Geroldstein, der Mann der „reinen Kritik", ist zu dieser Prüfung und zur „Enthüllung der Geheimnisse" berufen. Wenn wir auf Rudolph und seine Taten erst später, nachdem wir Herrn Szeliga für einige Zeit aus dem Gesicht verloren haben, eingehn werden, so ist so viel vorauszusehn und kann gewissermaßen vom Leser geahnt, ja unmaßgeblicherweise vermutet werden, daß wir an die Stelle des „geheimnisvollen Pflanzendaseins", welches er in der kritischen „Literatur-Zeitung" einnimmt, ihn vielmehr zu einem „logischen, offen daliegenden, freien Glied" im „Organismus der kritischen Kritik" machen werden.
6 Marx/Engels, Werke, Bd. 2
VI. KAPITEL
Die absolute kritische Kritik oder die kritische Kritik als Herr Bruno
1. Erster Feldzug der absoluten Kritik
a) Der „Geist" und die „Masse"
Bisher schien die kritische Kritik mehr oder minder mit der kritischen Bearbeitung verschiedenartiger massenhafter Gegenstände beschäftigt. Jetzt finden wir sie mit dem absolut kritischen Gegenstand, mit sich selbst, beschäftigt. Sie schöpfte bisher ihren relativen Ruhm aus der kritischen Erniedrigung, Verwerfung und Verwandlung bestimmter massenhafter Gegenstände und Personen. Jetzt schöpft sie ihren absoluten Ruhm aus der kritischen Erniedrigung, Verwerfung und Verwandlung der Masse im allgemeinen. Der relativen Kritik standen relative Schranken gegenüber. Der absoluten Kritik steht die absolute Schranke gegenüber, die Schranke der Masse, die Masse als Schranke. Die relative Kritik in ihrem Gegensatz zu bestimmten Schranken war notwendig selbst ein beschränktes Individuum. Die absolute Kritik im Gegensatz zu der allgemeinen Schranke, zu der Schranke schlechthin, ist notwendig absolutes Individuum. Wie die verschiedenartigen, massenhaften Gegenstände und Personen in dem unreinen Brei der „Masse" zusammengefallen sind, so hat sich die noch scheinbar gegenständliche und persönliche Kritik in die „reine Kritik" verwandelt. Bisher schien die Kritik mehr oder minder eine Eigenschaft der kritischen Individuen Reichardt, Edgar, Faucher etc. Jetzt ist sie Subjekt und Herr Bruno ihre Inkarnation. Bisher schien die Massenhaftigkeit mehr oder minder die Eigenschaft der kritisierten Gegenstände und Personen; jetzt sind Gegenstände und Personen zur „Masse" und die „Masse" Gegenstand und Person geworden. In das Verhältnis der absoluten kritischen Weisheit zu der absoluten massenhaften Dummheit haben sich alle bisherigen kritischen Verhältnisse aufgelöst. Dies
Grundverhältnis erscheint als der Sinn, die Tendenz, das Lösungswort der bisherigen kritischen Taten und Kämpfe. Ihrem absoluten Charakter gemäß wird die „reine" Kritik sogleich bei ihrem Auftreten das unterscheidende „Stichwort" aussprechen, nichtsdestoweniger aber als absoluter Geist einen dialektischen Prozeß durchlaufen müssen. Erst am Ende ihrer Himmelsbewegung wird ihr ursprünglicher Begriff wahrhaft verwirklicht sein. (Siehe Hegel, „Enzyklopädie".)
„Noch vor wenigen Monaten", verkündet die absolute Kritik, „glaubte sich die Masse riesenstark und zu einer Weltherrschaft bestimmt, deren Nähe sie an den Fingern abzählen zu können meinte." f27^
Herr Bruno Bauer in der „Guten Sache der Freiheit" (versieht sich, seiner „eignen" Sache), in der „Judenfrage"[28] usw., war es eben, der die Nähe der herannahenden Weltherrschaft an den Fingern abzählte, wenn er auch das Datum nicht exakt angeben zu können gestand. Zum Sündenregister der Masse schlägt er die Masse seiner eignen Sünden.
„Die Masse glaubte sich im Besitze so vieler Wahrheiten, die sich ihr von selbst verstanden." „Eine Wahrheit aber besitzt man erst vollständig ... wenn man ihr durch ihre Beweise hindurchfolgt."
Die Wahrheit ist für Herrn Bauer wie für Hegel ein Automaton, das sich selbst beweist. Der Mensch hat ihr zu folgen. Wie bei Hegel ist das Resultat der wirklichen Entwicklung nichts anderes als die bewiesene, d. h. zum Bewußtsein gebrachte Wahrheit. Die absolute Kritik kann daher mit dem borniertesten Theologen fragen: „Wozu wäre die Geschichte, wenn es nicht ihre Aufgabe wäre, grade diese einfachsten aller Wahrheiten (wie die Bewegung der Erde um die Sonne) zu beweisen?"
Wie nach den frühern Teleologen die Pflanzen da sind, um von den Tieren, die Tiere, um von den Menschen gegessen zu werden, so ist die Geschichte da, um zum Konsumtionsakt des theoretischen Essens, des Beweisens zu dienen. Der Mensch ist da, damit die Geschichte, und die Geschichte ist da, damit der Beweis der Wahrheiten da ist. In dieser kritisch trivialisierten Form wiederholt sich die spekulative Weisheit, daß der Mensch, daß die Geschichte da ist, damit die Wahrheit zum Selbstbewußtsein komme. Die Geschichte wird daher, wie die Wahrheit, zu einer aparten Person, einem metaphysischen Subjekt, dessen bloße Träger die wirklichen menschlichen Individuen sind. Die absolute Kritik bedient sich daher der Phrasen.
„Die Geschichte läßt ihrer nicht spotten, die Geschichte hat ihre größten Anstrengungen darauf verwandt, die Geschichte ist beschäftigt worden, wozu wäre die
Geschichte da? die Geschichte liefert uns ausdrücklich den Beweis; die Geschichte bringt Wahrheiten auf das Tapet etc." Wenn nach der Behauptung der absoluten Kritik nur ein paar solcher — allereinfachsten — Wahrheiten, die sich am Ende von selbst verstehn, die Geschichte bisher beschäftigt haben, so beweist diese Dürftigkeit, worauf sie die bisherigen menschlichen Erfahrungen reduziert, zunächst nur ihre eigne Dürftigkeit. Vom unkritischen Gesichtspunkte aus hat die Geschichte vielmehr das Resultat, daß die komplizierteste Wahrheit, daß der Inbegriff aller Wahrheit, die Menschen, sich am Ende von selbst verstehen. „Wahrheiten aber", demonstriert die absolute Kritik weiter, „die der Masse so sonnenklar zu sein scheinen, daß sie sich von vornherein von selber verstehen ... daß sie den Beweis für überflüssig hält, sind nicht wert, daß die Geschichte noch ausdrücklich ihren Beweis liefert; sie bilden überhaupt keinen Teil der Aufgabe, mit deren Lösung sich die Geschichte beschäftigt." In heiligem Eifer gegen die Masse sagt ihr die absolute Kritik die feinste Schmeichelei. Wenn eine Wahrheit sonnenklar ist, weil sie der Masse sonnenklar scheint, wenn die Geschichte nach dem Dafürhalten der Masse sich zu den Wahrheiten verhält, so ist also das Urteil der Masse absolut, unfehlbar, das Gesetz der Geschichte, die nur beweist, was der Masse nicht sonnenklar, daher des Beweises bedürftig scheint. Die Masse schreibt also der Geschichte ihre „Aufgabe" und ihre „Beschäftigung" vor. Die absolute Kritik spricht von „Wahrheiten, die sich von vornherein von selbst verstehen". In ihrer kritischen Naivität erfindet sie ein absolutes „von vornherein" und eine abstrakte, unveränderliche „Masse". Das „von vornherein" der Masse des 16. Jahrhunderts und das „von vornherein" der Masse des 19. Jahrhunderts sind vor den Augen der absoluten Kritik ebensowenig unterschieden als diese Massen selbst. Es ist eben das Charakteristische einer wahr, offenbar gewordnen, sich von selber verstehenden Wahrheit, daß sie sich „von vornherein von selber versteht". Die Polemik der absoluten Kritik gegen die Wahrheiten, die sich von vornherein von selber verstehen, ist die Polemik gegen die Wahrheiten, die sich überhaupt „von selber verstehn". Eine Wahrheit, die sich von selber versteht, hat für die absolute Kritik, wie für die göttliche Dialektik, ihr Salz, ihren Sinn, ihren Wert verloren. Sie ist fad geworden wie abgestandnes Wasser. Die absolute Kritik beweist daher einerseits alles, was sich von selbst versteht, und außerdem viele Dinge, die das Glück haben, unverständig zu sein, sich also niemals von selbst verstehen werden. Andrerseits versteht sich ihr alles das von selbst, was einer Entwicklung bedarf. Warum? Weil es sich bei wirklichen Aufgaben von selber versteht, daß sie sich nicht von selber verstehn.
Weil die Wahrheit, wie die Geschichte, ein ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt ist, adressiert sie sich nicht an die empirischen Menschen, sondern an das „Innerste der Seele", rückt sie, um „wahrhaft erfahren" zu werden, dem Menschen nicht auf seinen groben, etwa in der Tiefe eines englischen Kellers oder in der Höhe einer französischen Speicherwohnung hausenden Leib, sondern „zieht" sich „durch und durch" durch seine idealistischen Darmkanäle. Die absolute Kritik stellt nun zwar „der Masse" das Zeugnis aus, daß sie bisher in ihrer Weise, d. h. oberflächlich, von den Wahrheiten, welche die Geschichte so gnädig war, „aufs Tapet zu bringen", berührt worden sei; zugleich aber prophezeit sie, daß
„das Verhältnis der Masse zum geschichtlichen Fortschritt sich völlig ändern werde".
Der geheime Sinn dieser kritischen Prophezeiung wird nicht anstehn, uns „sonnenklar" zu werden.
„Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte", erfahren wir, „waren deshalb von Vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert und enthusiasmiert hatte-oder sie mußten ein klägliches Ende nehmen, weil die Idee, um die es sich in ihnen handelte, von der Art war, daß sie sich mit einer oberflächlichen Auffassung begnügen, also auch auf den Beifall der Masse rechnen mußte." Es scheint, daß eine Auffassung, welche für eine Idee genügt, also einer Idee entspricht, aufhört, oberflächlich zu sein. Herr Bruno bringt nur zum Schein ein Verhältnis zwischen der Idee und ihrer Auffassung hervor, wie er nur zum Schein ein Verhältnis der verfehlten geschichtlichen Aktion zur Masse hervorbringt. Wenn die absolute Kritik daher irgend etwas als „oberflächlich" verdammt, so ist es die bisherige Geschichte schlechthin, deren Aktionen und Ideen die Ideen und Aktionen von „Massen" waren. Sie verwirft die massenhafte Geschichte, an deren Stelle (man sehe Herrn Jules Faucher über die englischen Tagesfragen) sie die kritische Geschichte setzen wird. Nach der bisherigen unkritischen, also nicht im Sinn der absoluten Kritik verfaßten Geschichte ist ferner genau zu unterscheiden, inwieweit die Masse sich für Zwecke „interessierte" und wieweit sie sich für dieselben „enthusiasmierte". Die „Idee" blamierte sich immer, soweit sie von dem „Interesse" unterschieden war. Anderseits ist es leicht zu begreifen, daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende „Interesse", wenn es zuerst die Weltbühne betritt, in der „Idee" oder „Vorstellung" weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt. Diese Illusion bildet das, was Fourier den Ton einer jeden Geschichtsepoche nennt. Das Interesse der Bourgeoisie in der Revolution von
1789, weit entfernt, „verfehlt" zu sein, hat alles „gewonnen" und hat „den eingreifendsten Erfolg" gehabt, so sehr der „Pathos" verraucht und so sehr die „enthusiastischen" Blumen, womit dieses Interesse seine Wiege bekränzte, verwelkt sind. Dieses Interesse war so mächtig, daß es die Feder eines Marat, die Guillotine der Terroristen, den Degen Napoleons wie das Kruzifix und das Vollblut der Bourbonen siegreich überwand. „Verfehlt" ist die Revolution nur für die Masse, die in der politischen „Idee" nicht die Idee ihres wirklichen „Interesses" besaß, deren wahres Lebensprinzip also mit dem Lebensprinzip der Revolution nicht zusammenfiel, deren reale Bedingungen der Emanzipation wesentlich verschieden sind von den Bedingungen, innerhalb deren die Bourgeoisie sich und die Gesellschaft emanzipieren konnte. Ist also die Revolution, die alle großen geschichtlichen „Aktionen" repräsentieren kann, verfehlt, so ist sie verfehlt, weil die Masse, innerhalb deren Lebensbedingungen sie wesentlich stehenblieb, eine exklusive, nicht die Gesamtheit umfassende, eine beschränkte Masse war. Nicht weil die Masse sich für die Revolution „enthusiasmierte" und „interessierte", sondern weil der zahlreichste, der von der Bourgeoisie unterschiedne Teil der Masse in dem Prinzip der Revolution nicht sein wirkliches Interesse, nicht sein eigentümliches revolutionäres Prinzip, sondern nur eine „Idee", also nur einen Gegenstand des momentanen Enthusiasmus und einer nur scheinbaren Erhebung besaß. Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist. In der kritischen Geschichte, nach welcher es sich bei geschichtlichen Aktionen nicht um die agierenden Massen, nicht um die empirische Handlung noch um das empirische Interesse dieser Handlung, sondern „in ihnen" vielmehr nur „um eine Idee handelt", muß sich die Sache allerdings anders zutragen.
„In der Masse", belehrt sie uns, „nicht anderwärts, wie ihre früheren liberalen Wortführer meinen, ist der wahre Feind des Geistes zu suchen."
Die Feinde des Fortschritts außer der Masse sind eben die verselbständigten, mit eignem Leben begabten Produkte der Selbsterniedrigung, der SelbstVerwerfung, der Selbstentäußerung der Masse. Die Masse richtet sich daher gegen ihren eignen Mangel, indem sie sich gegen die selbständig existierenden Produkte ihrer Selbsterniedrigung richtet, wie der Mensch, indem er sich gegen das Dasein Gottes kehrt, sich gegen seine eigne Religiosität kehrt. Weil aber jene praktischen Selbstentäußerungen der Masse in der wirklichen Welt auf eine äußerliche Weise existieren, so muß sie dieselben zugleich auf eine äußerliche Weise bekämpfen. Sie darf diese Produkte ihrer Selbst
entäußerung keineswegs für nur ideale Phantasmagorien, für bloße Entäußerungen des Selbstbewußtseins halten und die materielle Entfremdung durch eine rein innerliche spiritualistische Aktion vernichten wollen. Schon die Zeitschrift Loustalots vom Jahre 1789 führt das Motto[29]:
Les grands ne nous paraissent grands Que parce que nous sommes a genoux Levons nous! —1 Aber um sich zu heben, genügt es nicht, sich in Gedanken zu heben und über dem wirklichen, sinnlichen Kopf das wirkliche, sinnliche Joch, das nicht mit Ideen wegzuspintisieren ist, schweben zu lassen. Die absolute Kritik jedoch hat von der Hegeischen Phänomenologie wenigstens die Kunst erlernt, reale, objektive, außer mir existierende Ketten in bloß ideelle, bloß subjektive, bloß in mir existierende Ketten und daher alle äußerlichen, sinnlichen Kämpfe in reine Gedankenkämpfe zu verwandeln. Diese kritische Verwandlung begründet die prästabilierte Harmonie der kritischen Kritik und der Zensur. Von kritischem Gesichtspunkte aus ist der Kampf des Schriftstellers mit dem Zensor kein Kampf „Mann gegen Mann". Der Zensor ist vielmehr nichts als mein eigner, von der vorsorglichen Polizei mir personifizierte Takt, mein eigner Takt, der mit meiner Taktlosigkeit und Kritiklosigkeit im Kampf ist. Der Kampf des Schriftstellers mit dem Zensor ist nur scheinbar, nur für die schlechte Sinnlichkeit etwas anderes als der innerliche Kampf des Schriftstellers mit sich selbst. Der Zensor, insofern er ein von mir wirklich individuell unterschiedener, mein Geistesprodukt nach äußerlichem, der Sache fremdem Maßstab mißhandelnder Polizeischerge ist, ist eine bloß massenhafte Einbildung, ein unkritisches Hirngespinst. Wenn Feuerbachs „Thesen zur Reform der Philosophie"[30] von der Zensur exiliert wurden, so lag die Schuld nicht an der offiziellen Barbarei der Zensur, sondern an der Unkultur der Feuerbachschen Thesen. Die von aller Masse und Materie ungetrübte, die „reine" Kritik besitzt auch im Zensor eine reine, „ätherische", von aller massenhaften Wirklichkeit losgetrennte Gestalt. Die absolute Kritik hat die „Masse" für den wahren Feind des Geistes erklärt. Sie führt dies näher dahin aus:
„Der Geist weiß jetzt, wo er seinen einzigen Widersacher zu suchen hat, in den Selbsttäuschungen und in der Kernlosigkeit der Masse."
Die absolute Kritik geht von dem Dogma der absoluten Berechtigung des „Geistes" aus. Sie geht ferner von dem Dogma der außerweltlichen, d. h. außer
1 Die Großen erscheinen uns nur groß, weil wir auf den Knien liegen. Erheben wir uns!
der Masse der Menschheit hausenden Existenz des Geistes aus. Sie verwandelt endlich einerseits „den Geist", „den Fortschritt", andrerseits „die Masse" in fixe Wesen, in Begriffe, und bezieht sie dann als solche gegebne feste Extreme aufeinander. Es fällt der absoluten Kritik nicht ein, den „Geist" selbst zu untersuchen, zu untersuchen, ob nicht in seiner eigenen spiritualistischen Natur, in seinen windigen Prätentionen, „die Phrase", „die Selbsttäuschung", „die Kernlosigkeit" begründet sind. Er ist vielmehr absolut, aber zugleich schlägt er leider beständig in Geistlosigkeit um: seine Rechnungen sind beständig ohne den Wirt gemacht. Er muß also notwendigerweise einen Widersacher haben, der gegen ihn intrigiert. Die Masse ist dieser Widersacher. Ebenso verhält es sich mit dem „Fortschritt". Trotz der Prätentionen „des Fortschrittes" zeigen sich beständige Rückschritte und Kreisbewegungen. Die absolute Kritik, weit entfernt zu vermuten, daß die Kategorie „des Fortschrittes" völlig gehaltlos und abstrakt ist, ist vielmehr so sinnreich, „den Fortschritt" als absolut anzuerkennen, um, zur Erklärung des Rückschritts, einen „persönlichen Widersacher" des Fortschritts, die Masse, zu unterstellen. Weil „die Masse" nichts ist als der „Gegensatz des Geistes", des Fortschritts der „Kritik", so kann sie auch nur durch diesen imaginären Gegensatz bestimmt werden, und absehend von diesem Gegensatz weiß die Kritik über den Sinn und das Dasein der Masse nur das Sinnlose, weil völlig Unbestimmte, zu sagen:
„Die Masse in jenem Sinn, in welchem das ,Wor£ auch die sogenannte gebildete Welt umfaßt."
Ein „auch", ein „sogenannt" reicht zu einer kritischen Definition aus. Die Masse ist also unterschieden von den wirklichen Massen und existiert als die „Masse" nur für die „Kritik". Alle kommunistischen und sozialistischen Schriftsteller gingen von der Beobachtung aus, einerseits, daß selbst die günstigsten Glanztaten ohne glänzende Resultate zu bleiben und in Trivialitäten auszulaufen scheinen, andrerseits, daß alle Fortschritte des Geistes bisher Fortschritte gegen die Masse der Menschheit waren, die in eine immer entmenschtere Situation hineingetrieben wurde. Sie erklärten daher (siehe Fourier) „den Fortschritt" für eine ungenügende, abstrakte Phrase, sie vermuteten (siehe unter andern Owen) ein Grundgebrechen der zivilisierten Welt; sie unterwarfen daher die wirklichen Grundlagen der jetzigen Gesellschaft einer einschneidenden Kritik. Dieser kommunistischen Kritik entsprach praktisch sogleich die Bewegung der großen Masse, im Gegensatz zu welcher die bisherige geschichtliche
Entwicklung stattgefunden hatte. Man muß das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können. Wie unendlich geistreich ist nun die „absolute Kritik", welche angesichts dieser intellektuellen und praktischen Tatsachen nur die eine Seite des Verhältnisses, den beständigen Schiffbruch des Geistes, einseitig auffaßt und in ihrem Verdruß hierüber noch einen Widersacher des „Geistes" sucht, den sie in der „Masse" findet! Schließlich läuft diese große kritische Entdeckung auf eine Tautologie hinaus. Der Geist hatte nach ihrer Ansicht bisher eine Schranke, ein Hindernis, d. h. einen Widersacher, weil er einen Widersacher hatte. Wer ist nun der Widersacher des Geistes? Die Geistlosigkeit. Die Masse ist nämlich nur als „Gegensatz" des Geistes bestimmt, als Geistlosigkeit und als die näheren Bestimmungen der Geistlosigkeit, als „Indolenz", „Oberflächlichkeit", „Selbstzufriedenheit". Welche gründliche Überlegenheit über die kommunistischen Schriftsteller, Geistlosigkeit, Indolenz, Oberflächlichkeit, Selbstzufriedenheit nicht in ihre Zeugungsstätten verfolgt, sondern moralisch abgekanzelt und als Gegensatz des Geistes, des Fortschrittes, entdeckt zu haben! Wenn diese Eigenschaften für Eigenschaften der Masse, als eines noch von ihnen unterschiedenen Subjekts, erklärt werden, so ist diese Unterscheidung nichts als eine „kritische" ScAemunterscheidung. Nur zum Schein besitzt die absolute Kritik außer den abstrakten Eigenschaften der Geistlosigkeit, Indolenz etc. noch ein bestimmtes konkretes Subjekt, denn „die Masse" ist in der kritischen Auffassung nichts anderes als jene abstrakten Eigenschaften, ein anderes Wort für dieselben, eine phantastische Personifikation derselben. Das Verhältnis von „Geist und Masse" hat indes noch einen versteckten Sinn, der sich im Lauf der Entwickelungen vollständig enthüllen wird. Wir deuten ihn hier nur an. Jenes von Herrn Bruno entdeckte Verhältnis ist nämlich nichts anderes als die sch karikierte Vollendung der Hegeischen Geschichtsauffassung, welche wieder nichts anderes ist als der spekulative Ausdruck des christlich-germanischen Dogmas vom Gegensatze des Geistes und der Materie, Gottes und der Welt. Dieser Gegensatz drückt sich nämlich innerhalb der Geschichte, innerhalb der Menschenwelt selbst so aus, daß wenige auserwählte Individuen als aktiver Geist der übrigen Menschheit als der geistlosen Masse, als der Materie gegenüberstehen. Hegels Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen
Geschichte läßt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der Menschheit verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher dem wirklichen Menschen jenseitigen Geistes der Menschheit. Parallel mit dieser Hegeischen Doktrin entwickelte sich in Frankreich die Lehre der Doktrinäre[31], welche die Souveränität der Vernunft im Gegensatz zur Souveränität des Volkes proklamierten, um die Massen auszuschließen und allein zu herrschen. Es ist dies konsequent. Wenn die Tätigkeit der wirklichen Menschheit nichts als die Tätigkeit einer Masse von menschlichen Individuen ist, so muß dagegen die abstrakte Allgemeinheit, die Vernunft, der Geist im Gegenteil einen abstrakten, in wenigen Individuen erschöpften Ausdruck besitzen. Es hängt dann von der Position und der Einbildungskraft eines jeden Individuums ab, ob es sich für diesen Repräsentanten „des Geistes" ausgeben will. Schon bei Hegel hat der absolute Geist der Geschichte an der Masse sein Material und seinen entsprechenden Ausdruck erst in der Philosophie. Der Philosoph erscheint indessen nur als das Organ, in dem sich der absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewußtsein kömmt. Auf dieses nachträgliche Bewußtsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute Geist unbewußt. Der Philosoph kommt also post festum1. Hegel macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen läßt. Da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als schöpferischer Weltgeist zum Bewußtsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewußtsein, in der Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen Einbildung. Herr Bruno hebt Hegels Halbheit auf. Einmal erklärt er die Kritik für den absoluten Geist und sich selbst für die Kritik. Wie das Element der Kritik aus der Masse verbannt ist, so ist das Element der Masse aus der Kritik verbannt. Die Kritik weiß sich daher nicht in einer Masse, sondern in einem geringen Häuflein auserwählter Männer, in Herrn Bauer und seinen Jüngern, ausschließlich inkarniert. Herr Bruno hebt ferner die andere Halbheit Hegels auf, indem er nicht mehr wie der Hegeische Geist post festum in der Phantasie die Geschichte
1 hinterher
macht, sondern mit Bewußtsein im Gegensatz zu der Masse der übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spielt, in ein gegenwärtiges dramatisches Verhältnis zu ihr tritt und die Geschichte mit Absicht und nach reiflicher Überlegung erfindet und vollzieht. Auf der einen Seite steht die Masse als das passive, geistlose, geschichtslose, materielle Element der Geschichte; auf der andern Seite steht: der Geist, die Kritik, Herr Bruno & Comp, als das aktive Element, von welchem alle geschichtliche Handlung ausgeht. Der Umgestaltungsakt der Gesellschaft reduziert sich auf die Hirntätigkeit der kritischen Kritik. Ja, das Verhältnis der Kritik, also auch der inkarnierten Kritik, Herrn Brunos & Comp., zur Masse ist in Wahrheit das einzige geschichtliche Verhältnis der Gegenwart. Auf die Bewegung dieser beiden Seiten gegeneinander reduziert sich die ganze jetzige Geschichte. Alle Gegensätze haben sich in diesem kritischen Gegensatz aufgelöst. Die kritische Kritik, welche sich nur an ihrem Gegensatz, der Masse, der Dummheit, gegenständlich wird, muß sich daher beständig diesen Gegensatz erzeugen, und die Herren Faucher, Edgar und Szeliga haben hinreichende Proben geliefert von [der] Virtuosität, welche sie in ihrem Fache, in der massenhaften Verdummung der Personen und Sachen, besitzt. Begleiten wir nun die absolute Kritik in ihren Feldzügen gegen die Masse.
h) Die Judenfrage Nr.I. Die Stellung der Fragen
Der „Geist" im Gegensatz zur Masse benimmt sich sogleich kritisch, indem er sein eignes borniertes Werk, Bruno Bauers „Judenfrage", als absolut und nur die Gegner desselben als Sünder betrachtet. In der Replike Nr. I1-32-1 auf die Angriffe wider diese Schrift verrät er keine Ahnung über ihre Mängel, er behauptet vielmehr noch, die „wahre", „allgemeine" (!) Bedeutung der Judenfrage entwickelt zu haben. In späteren Repliken werden wir ihn gezwungen sehen, seine „Versehen" einzugestehen.
„Die Aufnahme, die meine Arbeit gefunden hat, ist der Anfang des Beweises, daß grade diejenigen, die bis jetzt für Freiheit gesprochen haben und noch jetzt dafür reden, gegen den Geist am meisten sich auflehnen müssen, und die Verteidigung, die ich ihr jetzt widmen werde, wird den weiteren Beweis liefern, wie gedankenlos die Wortführer der Masse sind, die sich wunder wie groß damit wissen, daß sie für die Emanzipation und für das Dogma von den Menschenrechten aufgetreten sind."
Die „Masse" muß notwendig bei Gelegenheit einer Schrift der absoluten Kritik angefangen haben, ihren Gegensatz gegen den Geist zu beweisen, da
ihre Existenz sogar durch den Gegensatz zur absoluten Kritik bedingt und bewiesen ist. Die Polemik einiger liberalen und rationalistischen Juden gegen Herrn Brunos „Judenfrage" hat natürlich einen ganz andern kritischen Sinn als die massenhafte Polemik der Liberalen gegen die Philosophie und der Rationalisten gegen Strauß. Von welcher Originalität übrigens die oben zitierte Wendung ist, mag man aus folgender Stelle Hegels entnehmen:
„Die besondere Form des übeln Gewissens, welche sich in der Art der Beredsamkeit, zu der sich jene" (die liberale) „Seichtigkeit aufspreizt, kundtut, kann hierbei bemerklich gemacht werden, und zwar zunächst, daß sie da, wo sie am geistlosesten redet, am meisten vom Geiste spricht, wo sie am totesten und ledernsten ist, das Wort Leben" etc. „im Munde führt."
Was die „Menschenrechte" betrifft, so ist Herrn Bruno bewiesen worden („Zur Judenfrage" ^33], „Deutsch-Französische Jahrbücher"), daß nicht die Wortführer der Masse, sondern vielmehr „er selbst" ihr Wesen verkannt und dogmatisch mißhandelt hat. Gegen seine Entdeckung, daß die Menschenrechte nicht „angeboren" sind, eine Entdeckung, die in England seit mehr als 40 Jahren unendlichemal entdeckt worden ist, ist Fouriers Behauptung, daß Fischen, Jagen etc. angeborene Menschenrechte seien, genial zu nennen. Wir geben nur einige Beispiele von dem Kampf Herrn Brunos mit Philippson, Hirsch etc. Selbst diese tristen Gegner werden der absoluten Kritik nicht unterliegen. Herr Philippson sagt keinesweges, wie die absolute Kritik behauptet, eine Ungereimtheit, wenn er ihr vorwirft:
„Bauer denke sich einen Staat von eigner Art... ein philosophisches Ideal von einem Staat."
Herr Bruno, der den Staat mit der Menschheit, die Menschenrechte mit dem Menschen, die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselte, mußte sich notwendigerweise einen Staat von eigner Art, ein philosophisches Ideal von einem Staate, wenn auch nicht denken, so doch einbilden.
„Hätte der Deklamator" (Herr Hirsch) „lieber, statt seinen anstrengenden Satz niederzuschreiben, meinen Beweis widerlegt, daß der christliche Staat, weil sein Lebensprinzip eine bestimmte Religion ist, den Anhängern einer andern bestimmten Religion ... keine vollkommene Gleichartigkeit mit seinen Ständen zuzugestehen vermag."
Hätte der Deklamator Hirsch wirklich den Beweis des Herrn Bruno widerlegt und, wie es in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" geschehen ist,
gezeigt, daß der Staat der Stände und des exklusiven Christentums nicht nur der unvollendete Staat, sondern der unvollendete christliche Staat sei, so hätte Herr Bruno geantwortet, wie er jener Widerlegung antwortet:
„Vorwürfe sind in dieser Angelegenheit bedeutungslos." Gegen Herrn Brunos Satz:
„Die Juden haben durch den Druck gegen die Springfedern der Geschichte den Gegendruck hervorgerufen", erinnert Herr Hirsch ganz richtig:
„So müßten sie also für die Bildung der Geschichte etwas gewesen sein, und wenn B[auer] dies selbst behaupte, so hätte er andrerseits unrecht zu behaupten, daß sie nichts für die Bildung der neueren Zeit beigetragen hätten." Herr Bruno antwortet:
„Ein Dorn im Auge ist auch etwas - trägt er deshalb zur Entwickelung meines Gesichtssinnes bei?" Ein Dorn, der mir - wie das Judentum der christlichen Welt - von der Stunde der Geburt im Auge sitzt, sitzen bleibt, mit ihm wächst und sich gestaltet, ist kein gewöhnlicher, sondern ein wunderbarer, ein zu meinem Auge gehöriger Dorn, der sogar zu einer höchst originellen Entwickelung meines Gesichtssinnes beitragen müßte. Der kritische „Dorn" spießt also nicht den deklamierenden „Hirsch". Übrigens ist Herrn Bruno in der oben zitierten Kritik die Bedeutung des Judentums für „die Bildung der neueren Zeit" enthüllt worden. Das theologische Gemüt der absoluten Kritik fühlt sich von dem Ausspruche eines rheinischen Landtagsabgeordneten, „daß die Juden nach ihrer jüdischen und nicht nach unserer sogenannten christlichen Weise verschroben sind", dermaßen verletzt, daß sie ihn noch nachträglich „für den Gebrauch dieses Arguments zur Ordnung verweist". Auf die Behauptung eines andern Abgeordneten: „Bürgerliche Gleichstellung der Juden kann nur da statthaben, wo das Judentum selbst nicht mehr existiert", bemerkt Herr Bruno:
„Richtig! dann nämlich richtig, wenn die andere Wendung der Kritik nicht fehlt, die ich in meiner Schrift durchgeführt habe", nämlich die Wendung, daß auch das Christentum aufgehört haben müsse zu existieren. Man sieht, daß die absolute Kritik in Nr. I ihrer Replike auf die Angriffe gegen die Judenfrage noch immer die Aufhebung der Religion, den
Atheismus, als Bedingung der bürgerlichen Gleichheit betrachtet, also in ihrem ersten Stadium noch keine weitere Einsicht in das Wesen des Staates wie in das „Versehen" ihres „Werkes" erworben hat. Die absolute Kritik fühlt sich verstimmt, wenn eine von ihr vorgehabte wissenschaftliche „neueste" Entdeckung als eine schon allgemein verbreitete Einsicht verraten wird. Ein rheinischer Abgeordneter bemerkt,
„daß Frankreich undBelgien bei der Organisation ihrer politischen Verhältnisse gerade durch besondere Klarheit im Erkennen der Prinzipien ausgezeichnet wären, ist noch von niemandem behauptet worden".
Die absolute Kritik konnte erwidern, daß diese Behauptung die Gegenwart in die Vergangenheit versetze, indem sie die heute trivial gewordene Ansicht von der Unzulänglichkeit der französischen politischen Prinzipien für die traditionelle Ansicht ausgebe. Die absolute Kritik fände bei dieser sachgemäßen Erwiderung nicht ihre Rechnung. Sie muß vielmehr die verjährte Ansicht als die gegenwärtig herrschende Ansicht und die gegenwärtig herrschende Ansicht als ein kritisches Geheimnis behaupten, das noch durch ihre Studien der Masse zu offenbaren bleibe. Sie muß daher sagen:
„Es" (das antiquierte Vorurteil) „ist von sehr vielen" (der Masse) „behauptet worden: aber eine gründliche Erforschung der Geschichte wird den Beweis führen, daß auch nach den großen Arbeiten Frankreichs für die Erkenntnis der Prinzipien noch viel zu leisten ist."
Also die gründliche Geschichtsforschung wird nicht selbst die Erkenntnis der Prinzipien „leisten". Sie wird in ihrer Gründlichkeit nur beweisen, daß „noch viel zu leisten ist". Eine große, namentlich nach den sozialistischen Arbeiten große Leistung! Für die Erkenntnis des jetzigen gesellschaftlichen Zustandes leistet Herr Bruno indes schon viel mit der Bemerkung:
„Die gegenwärtig herrschende Bestimmtheit ist die Unbestimmtheit."
Wenn Hegel sagt, die herrschende chinesische Bestimmtheit sei das „Sein", die herrschende indische Bestimmtheit sei das „Nichts" etc., so schließt sich die absolute Kritik in „reiner" Weise an, wenn sie den Charakter der jetzigen Zeit in die logische Kategorie der „Unbestimmtheit" auflöst, um so reiner, als auch die „Unbestimmtheit", gleich dem „Sein" und dem „Nichts", in das erste Kapitel der spekulativen Logik, in das Kapitel von der „Qualität" gehört. Wir können uns nicht ohne eine allgemeine Bemerkung von Nr. I der „Judenfrage" trennen.
Ein Hauptgeschäft der absoluten Kritik besteht darin, alle Zeitfragen erst in ihre richtige Stellung zu bringen. Sie beantwortet nämlich nicht die wirklichen Fragen, sondern schiebt ganz andere Fragen unter. Wie sie alles macht, muß sie auch die „Zeitfragen" erst machen, sie zu ihren, zu kritischkritischen Fragen machen. Handelte es sich um den „Code Napoleon"1, sie würde beweisen, daß es sich eigentlich um den „Pentateuch"2 handle. Ihre Stellung der „Zeitfragen" ist die kritische Entstellung und Verstellung derselben. So verdrehte sie auch die „Judenfrage" dergestalt, daß sie die politische Emanzipation, um welche es sich in jener Frage handelt, nicht zu untersuchen brauchte, sondern vielmehr mit einer Kritik der jüdischen Religion und einer Schilderung des christlich-germanischen Staats sich begnügen konnte. Auch diese Methode ist, wie jede Originalität der absoluten Kritik, die Wiederholung eines spekulativen Witzes. Die spekulative Philosophie, namentlich die Hegeische Philosophie, mußte alle Fragen aus der Form des gesunden Menschenverstandes in die Form der spekulativen Vernunft übersetzen und die wirkliche Frage in eine spekulative Frage verwandeln, um sie beantworten zu können. Nachdem die Spekulation mir meine Frage im Munde verdreht und mir, wie der Katechismus, ihre Frage in den Mund gelegt hatte, konnte sie natürlich, wie der Katechismus, auf jede meiner Fragen ihre Antwort bereit haben.
c) Hinrichs Nr.I. Geheimnisvolle Andeutungen über Politik, Sozialismus und Philosophie
„Politisch!" Über das Dasein dieses Wortes in den Vorlesungen des Prof. Hinrichs entsetzt sich die absolute Kritik förmlich.[34]
„Wer der Entwicklung der neueren Zeit gefolgt ist und die Geschichte kennt, wird es auch wissen, daß die politischen Regungen, die in der Gegenwart vorgehen, eine ganz andere (!) Bedeutung haben als eine politische - sie haben im Grunde" (im Grunde! nun die gründliche Weisheit) „eine gesellschaftliche (!), die bekanntlich (!) von der Art (!) ist, daß alle politischen Interessen vor ihr als bedeutungslos (!) erscheinen."
Wenige Monate vor dem Erscheinen der kritischen „Literatur-Zeitung" erschien bekanntlich (!) die phantastische politische Schrift Herrn Brunos „Staat, Religion und Parihei"\
1 Französisches bürgerliches Gesetzbuch von 1804, auf Veranlassung Napoleons I. geschaffen - 2 die „fünf Bücher" Mosis
Wenn die politischen Regungen eine gesellschaftliche Bedeutung haben, wie können die politischen Interessen vor ihrer eignen gesellschaftlichen Bedeutung als „bedeutungslos" erscheinen?
„Herr Hinrichs weiß weder bei sich zu Hause noch sonstwo anders in der Welt Bescheid. - Er konnte nirgends zu Hause sein, weil - weil die Kritik, die in den letzten vier Jahren ihr keineswegs politisches', sondern - gesellschaftliches (!) Werk begonnen und betrieben hat, ihm völlig (!) unbekannt geblieben ist."
Die Kritik, die nach der Meinung der Masse ein „keineswegs politisches", sondern „allerwege theologisches" Werk betrieb, begnügt sich selbst jetzt noch, wo sie nicht nur seit vier Jahren, sondern seit ihrer literarischen Geburt zum ersten Male das Wort „gesellschaftlich" ausspricht, mit diesem Wortel Seitdem die sozialistischen Schriften die Einsicht in Deutschland verbreitet haben, daß alle menschlichen Bestrebungen und Werke, alle ohne Ausnahme, eine gesellschaftliche Bedeutung haben, kann Herr Bruno seine theologischen Werke ebenfalls gesellschaftliche Werke nennen. Aber welch kritisches Verlangen, daß Prof. Hinrichs aus der Kenntnisnahme der Bauersehen Schriften den Sozialismus schöpfen sollte, da alle bis zur Publikation der Hinrichsschen Vorlesungen erschienenen Werke B[runo] Bauers, wo sie praktische Konsequenzen ziehen, politische Konsequenzen ziehen! Prof. Hinrichs konnte, unkritisch zu sprechen, die erschienenen Werke des Herrn Bruno durch seine noch nicht erschienenen Werke unmöglich ergänzen. Kritisch betrachtet, ist die Masse allerdings verpflichtet, wie „die politischen", so alle massenhaften „Regungen" der absoluten Kritik im Sinne der Zukunft und des absoluten Fortschritts zu deuten! Damit Herr Hinrichs aber nach seiner Kenntnisnahme von der „Literatur-Zeitung" nie mehr das Wort „gesellschaftlich'' vergesse und nie mehr den „gesellschaftlichen" Charakter der Kritik verkenne, verpönt sie angesichts der Welt das Wort „politisch" zum drittenmal und wiederholt feierlich zum drittenmal das Wor* „gesellschaftlich".
„Von politischer Bedeutung ist keine Rede mehr, wenn auf die wahre Tendenz dei neueren Geschichte gesehen wird: aber - aber gesellschaftliche Bedeutung" etc.
Wie der Prof. Hinrichs das Sühnopfer für die früheren „politischen" Regungen, so ist er das Sühnopfer für die bis zur Erscheinung der „LiteraturZeitung" absichtlich und in derselben unabsichtlich fortlaufenden „Hegelsehen" Regungen und Redensarten der absoluten Kritik. Einmal wird „echter Hegelianer" und zweimal wird der „Hegeische Philosoph" als Stichwort gegen Hinrichs geschleudert. Ja Herr Bruno „hofft", daß
die „banalen Redensarten, die nun einen so ermüdenden Kreislauf durch alle Bücher der Hegelscken Schule" (namentlich durch seine eignen Bücher) „gemacht haben", bei der großen „Ermattung", in der wir sie in den Vorlesungen des Prof. Hinrichs antreffen, auf ihrer weitern Reise bald ein Ziel finden werden. Herr Bruno hofft von der Ermattung des Prof. Hinrichs die Auflösung der Hegelscken Philosophie und seine eigene Erlösung von ihr. In ihrem ersten Feldzug stürzt also die absolute Kritik die eigenen lang angebeteten Götter „Politik" und „Philosophie", indem sie dieselben für Götzen des Prof. Hinrichs erklärt. Glorreicher erster Feldzug!
2. Zweiter Feldzug der absoluten Kritik
a) Hinrichs Nr. II. Die „Kritik" und „Feuerbach". Verdammung der Philosophie
Nach dem Ergebnis des ersten Feldzugs kann die absolute Kritik die „Philosophie" als abgemacht betrachten und gradezu als einen Bundesgenossen der „Masse" bezeichnen.
„Die Philosophen waren dazu prädestiniert, den Herzenswunsch der,Masse' zu erfüllen." „Die Masse will" nämlich „einfache Begriffe, um mit der Sache nichts zu tun zu haben, Schibboleths, um mit allem von vornherein fertig zu sein, Redensarten, um mit ihnen die Kritik zu vernichten."
Und die „Philosophie" erfüllt dieses Gelüste der „Masse"! Taumelnd von ihren Siegertaten bricht die absolute Kritik in eine pythische Raserei gegen die Philosophie aus. Der verborgene Feuerkessel, dessen Dämpfe das siegestrunkene Haupt der absoluten Kritik zur Raserei begeistern, ist Feuerbachs Philosophie der Zukunft". Im Monat März hatte sie Feuerbachs Schrift gelesen. Die Frucht dieser Lektüre, zugleich das Kriterium des Ernstes, womit sie betrieben wurde, ist der Artikel Nr. II gegen den Prof. Hinrichs. Die absolute Kritik, die nie aus dem Käfig der Hegeischen Anschauungsweise herausgekommen ist, tobt hier gegen die Eisenstange und Wände des Gefängnisses. Der „einfache Begriff", die Terminologie, die ganze Denkweise der Philosophie, ja alle Philosophie wird mit Abscheu zurückgestoßen. An ihre Stelle treten plötzlich „der wirkliche Reichtum der menschlichen Verhältnisse", der „ungeheure Inhalt der Geschichte", „die Bedeutung des Menschen" etc. „Das Geheimnis des Systems" wird für „aufgedeckt" erklärt.
7 Marx/Engels, Werke, Bd. 2
Aber wer hat denn das Geheimnis des „Systems" aufgedeckt? Feuerbach. Wer hat die Dialektik der Begriffe, den Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet? Feuerbach. Wer hat, zwar nicht „die Bedeutung des Menschen" ~ als ob der Mensch noch eine andere Bedeutung habe, als die, daß er Mensch ist! - aber doch „den Menschen" an die Stelle des alten Plunders, auch des „unendlichen Selbstbewußtseins", gesetzt? Feuerbach und nur Feuerbach. Er hat noch mehr getan. Er hat dieselben Kategorien, womit die „Kritik" jetzt um sich wirft, den „wirklichen Reichtum der menschlichen Verhältnisse, den ungeheuren Inhalt der Geschichte, den Kampf der Geschichte, den Kampf der Masse mit dem Geist" etc. etc. längst vernichtet. Nachdem der Mensch einmal als das Wesen, als die Basis aller menschlichen Tätigkeit und Zustände erkannt ist, kann nur noch die „Kritik" neue Kategorien erfinden und den Menschen selbst, wie sie es eben tut, wieder in eine Kategorie und in das Prinzip einer ganzen Kategorienreihe verwandeln, womit sie allerdings den letzten Rettungsweg einschlägt, der der geängsteten und verfolgten theologischen Unmenschlichkeit noch übrigblieb. Die Geschichte tut nichts, sie „besitzt \einen ungeheuren Reichtum", sie „kämpft keine Kämpfe"! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die „Geschichte", die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen. Wenn die absolute Kritik sich nach Feuerbachs genialen Entwicklungen noch untersteht, uns den ganzen alten Kram in neuer Gestalt wieder herzustellen, und zwar in demselben Augenblick, wo sie auf ihn als „massenhaften" Kram losschimpft, wozu sie um so weniger ein Recht hat, als sie zur Auflösung der Philosophie nie einen Finger rührte, so reicht diese einzige Tatsache hin, um das „Geheimnis" der Kritik zutage zu fördern, um die kritische Naivität zu würdigen, womit sie dem Prof. Hinrichs, dessen Ermattung ihr schon einmal einen so großen Dienst erwiesen, sagen kann:
„Den Schaden tragen diejenigen, die keine Entwickelung durchgemacht haben, also auch selbst wenn sie wollten sich nicht ändern können, und wenn es hoch kommt, das neue Prinzip - doch nein! das Neue £ann nicht einmal zur Redensart gemacht, es können ihm nicht einzelne Wendungen entlehnt werden."
Die absolute Kritik brüstet sich dem Prof. Hinrichs gegenüber mit der Auflösung „des Geheimnisses der Fakultätswissenschaften". Hat sie etwa das „Geheimnis" der Philosophie, der Jurisprudenz, der Politik, der Medizin,
der Nationalökonomie usw. aufgelöst? Keineswegs. Sie hat - man merke auf! - sie hat in der „Guten Sache der Freiheit" gezeigt, daß Brotstudium und freie Wissenschaft, Lehrfreiheit und Fakultäts-Statute sich widersprechen. Wäre „die absolute Kritik" ehrlich, sie hätte gestanden, woher ihre angebliche Erleuchtung über das „Geheimnis der Philosophie" herstammt, obwohl es wieder gut ist, daß sie nicht, wie sie es andern Leuten getan hat, dem Feuerbach solchen Unsinn, wie die mißverstandenen und entstellten Sätze, die sie ihm abborgte, in den Mund legt. Bezeichnend ist es übrigens für den theologischen Standpunkt der „absoluten Kritik", daß, während jetzt die deutschen Philister den Feuerbach zu verstehen und seine Resultate sich anzueignen beginnen, sie dagegen außerstande ist, einen einzigen Satz aus ihm richtig aufzufassen und geschickt zu benutzen. Den wahren Fortschritt über ihre Taten des ersten Feldzugs vollbringt die Kritik, wenn sie den Kampf „der Masse" mit dem „Geist" als „das Ziel" der ganzen bisherigen Geschichte „bestimmt", wenn sie „die Masse" für „das reine Nichts" der „Erbärmlichkeit" erklärt, wenn sie geradezu die Masse die „Materie" nennt und „den Geist" als das Wahre „der Materie" gegenüberstellt. Ist also die absolute Kritik nicht echt christlich-germanisch? Nachdem der alte Gegensatz des Spiritualismus und Materialismus nach allen Seiten hin ausgekämpft und von Feuerbach ein für allemal überwunden ist, macht „die Kritik" ihn wieder in der ekelhaftesten Form zum Grunddogma und läßt den „christlich-germanischen Geist" siegen. Als eine Entwickelung ihres im ersten Feldzug noch versteckten Geheimnisses ist es endlich zu betrachten, wenn sie hier den Gegensatz von Geist und Masse mit dem Gegensatz „der Kritik" und der Masse identifiziert. Sie wird später dazu fortgehen, sich selbst mit „der Kritik" zu identifizieren und sich damit als „den Geist", als das Absolute und Unendliche, die Masse dagegen als endlich, roh, brutal, tot und unorganisch - denn das versteht „die Kritik" unter Materie - hinzustellen. Welch ungeheurer Reichtum der Geschichte, der in dem Verhältnis der Menschheit zu Herrn Bauer sich erschöpft!
b) Die JudenJrage Nr. II. Kritische Entdeckungen über Sozialismus, Jurisprudenz und Politik (Nationalität)
Den massenhaften, materiellen Juden wird die christliche Lehre von der geistigen Freiheit, von der Freiheit in der Theorie gepredigt, jene spiritualistische Freiheit, die sich auch in den Ketten einbildet, frei zu sein, die seelenvergnügt ist in „der Idee" und von aller massenhaften Existenz nur geniert wird.
„So weit die Juden jetzt in der Theorie sind, so weit sind sie emanzipiert, so weit sie frei sein wollen, so weit sind sie frei"
Aus diesem Satze kann man sogleich die kritische Kluft ermessen, welche den massenhaften, profanen Kommunismus und Sozialismus von dem absoluten Sozialismus scheidet. Der erste Satz des profanen Sozialismus verwirft die Emanzipation in der bloßen Theorie als eine Illusion und verlangt für die wirkliche Freiheit, außer dem idealistischen „Willen", noch sehr handgreifliche, sehr materielle Bedingungen. Wie tief steht „die Masse" unter der heiligen Kritik, die Masse, welche materielle, praktische Umwälzungen für nötig hält, selbst um die Zeit und die Mittel zu erobern, welche auch nur zur Beschäftigung mit „der Theorie" erheischt werden! Springen wir für einen Augenblick aus dem rein geistigen Sozialismus in die Politikl Herr Riesser behauptet gegen B[runo] Bauer, sein Staat (sc. der kritische Staat) müsse „Juden" und „Christen" ausschließen. Herr Riesser befindet sich im Rechte. Da Herr Bauer die politische Emanzipation mit der menschlichen Emanzipation verwechselt, da der Staat gegen widerstrebende Elemente — Christentum und Judentum werden aber in der „Judenfrage" als hochverräterische Elemente qualifiziert — nur durch gewaltsame Ausschließung der Personen, die sie vertreten, zu reagieren weiß, wie z. B. der Terrorismus die Akkaparation durch das Köpfen der Akkapareurs vernichten wollte, so mußte Herr Bauer Juden und Christen in seinem „kritischen Staat" aufhängen lassen. Wenn er die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselte, so mußte er konsequenterweise auch die politischen Mittel der Emanzipation mit den menschlichen Mitteln derselben verwechseln. Sobald man aber der absoluten Kritik den bestimmten Sinn ihrer Deduktion ausspricht, erwidert sie ganz dasselbe, was Schelling einst allen Gegnern erwiderte, die an die Stelle seiner Phrasen wirkliche Gedanken setzten:
„Die Gegner der Kritik sind deshalb ihre Gegner, weil sie dieselbe nicht nur nach ihrem dogmatischen Maße nehmen, sondern selbst für dogmatisch halten, oder sie bekämpfen die Kritik, weil sie ihre dogmatischen Unterscheidungen, Definitionen und Ausflüchte nicht anerkennt."
Man verhält sich allerdings dogmatisch zu der absoluten Kritik, wie zu Herrn Schelling, wenn man bestimmten, wirklichen Sinn, Gedanken, Ansicht bei ihr voraussetzt. Aus Akkommodation und um dem Herrn Riesser ihre Humanität zu beweisen, entschließt sich „die Kritik" indessen zu dogmatischen Unterscheidungen, Definitionen und namentlich zu „Ausflüchten".
So heißt es:
„Hätte ich in jener Arbeit" (der „Judenfrage") „über die Kritik hinausgehen wollen oder dürfen, so hätte ich nicht vom Staat, sondern von ,der Gesellschaft' reden (!) müssen (!), die niemanden ausschließt, sondern von der sich nur diejenigen ausschließen, die an ihrer Entwickelung nicht teilnehmen wollen."
Die absolute Kritik macht hier eine dogmatische Unterscheidung zwischen dem, was sie hätte tun müssen, wenn sie nicht das Gegenteil getan hätte, und dem, was sie wirklich getan hat. Sie erklärt die Borniertheit ihrer „Judenfrage" durch die „dogmatischen Ausflüchte" eines Wollens und Dürfens, die ihr „über die Kritik" hinauszugehn verboten. Wie? „Die Kritik" soll über die „Kritik" hinausgehen? Dieser ganz massenhafte Einfall entsteht der absoluten Kritik durch die dogmatische Notwendigkeit, einerseits ihre Fassung der Judenfrage als absolut, als „die Kritik" behaupten, andrerseits die Möglichkeit einer weitergreifenden Fassung zugestehen zu müssen. Das Geheimnis ihres „Nichtwollens" und „Nichtdürfens" wird sich später als das kritische Dogma enthüllen, wonach alle scheinbaren Beschränktheiten „der Kritik" nichts anderes als notwendige, dem Fassungsvermögen der Masse angemessene Akkommodationen sind. Sie wollte nicht! sie durfte nicht über ihre bornierte Fassung der Judenfrage hinausgehen! Wenn sie aber gewollt oder gedurft hätte, was hätte sie getan? - Sie hätte eine dogmatische Definition gegeben. Sie hätte statt von dem „Staate" von „der Gesellschaft" geredet, also nicht das wirkliche Verhältnis des Judentums zu der heutigen bürgerlichen Gesellschaft untersucht! Sie hätte die „Gesellschaft" im Unterschiede vom „Staat" dogmatisch dahin definiert, daß, wenn der Staat ausschließt, von der Gesellschaft hingegen sich diejenigen ausschließen, die nicht an ihrer Entwickelung teilnehmen wollen! Die Gesellschaft verfährt ebenso exklusiv wie der Staat, nur in der höflicheren Form, daß sie dich nicht zur Tür hinauswirft, sondern dir es vielmehr in ihrer Gesellschaft so unbequem macht, daß du selbst zur Türe freiwillig hinausgehst. Der Staat verfährt im Grunde genommen nicht anders, denn er schließt niemanden aus, der allen seinen Anforderungen und Geboten, der seiner Entwickelung genügt. In seiner Vollendung drückt er sogar die Augen zu und erklärt wirkliche Gegensätze für unpolitische, ihn nicht genierende Gegensätze. Uberdem hat die absolute Kritik selbst entwickelt, daß der Staat die Juden ausschließt, weil und insofern die Juden den Staat ausschließen, also sich selbst vom Staat ausschließen. Wenn nun diese Wechselbeziehung in der
kritischen „Gesellschaft" eine galantere, scheinheiligere, heimtückischere Form erhält, so beweist dies nur die größere Heuchelei und unentwickeltere Bildung der „kritischen" „Gesellschaft". Folgen wir der absoluten Kritik weiter in ihren „dogmatischen Unterscheidungen", „Definitionen" und namentlich in ihren „Ausflüchten". So verlangt Herr Riesser vom Kritiker, „er solle dasjenige, was dem Boden des Rechts angehört", von dem „unterscheiden, was jenseits seines Gebietes liegt". Der Kritiker ist indigniert über die Impertinenz dieser juristischen Forderung.
„Bis jetzt", erwidert er, „haben aber Gemüt und Gewissen in das Recht eingegriffen, immer es ergänzt und wegen der Beschaffenheit, die in seiner dogmatischen Form" - also nicht in seinem dogmatischen Wesen? - „begründet ist, immer ergänzen müssen."
Der Kritiker vergißt nur, daß das Recht sich anderseits seihst sehr ausdrücklich von „Gemüt und Gewissen" unterscheidet, daß diese Unterscheidung in dem einseitigen Wesen des Rechts wie in seiner dogmatischen Form begründet ist und sogar zu den Hauptdogmen des Rechts gehört, daß endlich die praktische Ausführung dieser Unterscheidung ebensosehr den Gipfel der Rechtsentwickelung bildet, wie die Trennung der Religion von allem profanen Inhalt sie zur abstrakten, absoluten Religion macht. Daß „Gemüt und Gewissen" in das Recht eingreifen, ist für den „Kritiker" ein hinreichender Grund, um da, wo es sich vom Recht handelt, vom Gemüt und vom Gewissen, und da, wo es sich um die juristische Dogmatik handelt, von der theologischen Dogmatik zu handeln. Durch die „Definitionen und Unterscheidungen der absoluten Kritik" sind wir hinlänglich vorbereitet, ihre neuesten „Entdeckungen" über „die Gesellschaft" und „das Recht" zu vernehmen.
„Diejenige Weltform, welche die Kritik vorbereitet und deren Gedanken sie sogar erst vorbereitet, ist keine bloß rechtliche, sondern" - der Leser sammle sich - „eine gesellschaftliche, von der wenigstens so viel" - so wenig? - „gesagt werden kann, daß, wer zu ihrer Ausbildung nicht das Seinige beigetragen hat, nicht mit seinem Gewissen und Gemüt in ihr lebt, sich in ihr nicht zu Hause fühlen und an ihrer Geschichte nicht teilnehmen kann."
Die von der Kritik vorbereitete Weltform wird als eine nicht bloß rechtliche, sondern gesellschaftliche bestimmt. Diese Bestimmung kann doppelt gedeutet werden. Entweder ist der zitierte Satz zu deuten durch „nicht rechtlich, sondern gesellschaftlich", oder durch „nicht bloß rechtlich, sondern auch
gesellschaftlich". Betrachten wir seinen Gehalt nach beiden Lesarten, zunächst nach der ersteren. Die absolute Kritik hat weiter oben die vom „Staat" unterschiedene neue „Weltform" als „Gesellschaft" bestimmt. Sie bestimmt jetzt das Hauptwort „Gesellschaft" durch das Eigenschaftswort „gesellschaftlich". Empfing Herr Hinrichs im Gegensatz zu seinem „politisch" dreimal das Wort „gesellschaftlich", so empfängt Herr Riesser im Gegensatz zu seinem „rechtlich" die gesellschaftliche Gesellschaft. Reduzierten sich die kritischen Aufschlüsse an Herrn Hinrichs auf „gesellschaftlich" + „gesellschaftlich" + „gesellschaftlich" = 3 a, so geht die absolute Kritik in ihrem zweiten Feldzug von der Addition zur Multiplikation fort, und Herr Riesser wird auf die mit sich selbst multiplizierte Gesellschaft, die zweite Potenz des Gesellschaftlichen, die gesellschaftliche Gesellschaft = a2, verwiesen. Es bleibt der absoluten Kritik nun noch übrig, um ihre Aufschlüsse über die Gesellschaft zu vervollständigen, in die Brüche zu gehen, die Quadratwurzel aus der Gesellschaft zu ziehen usw. Lesen wir dagegen nach der zweiten Glosse: „die nicht bloß rechtliche, sondern auch gesellschaftliche" Weltform, so ist diese Zwitter-Weltform keine andere als die heutzutag existierende Weltform, die Weltform der heutigen Gesellschaft. Daß die „Kritik" das zukünftige Dasein der heutzutage existierenden Weltform in ihrem vorweltlichen Denken erst vorbereitet, ist ein großes, ein ehrwürdiges kritisches Mirakel. Wie es sich aber auch mit der „nicht bloß rechtlichen, sondern gesellschaftlichen Gesellschaft" verhalte, die Kritik kann einstweilen nicht mehr von ihr verraten als das „fabula docet"1, die moralische Nutzanwendung. In dieser Gesellschaft wird sich „derjenige nicht zu Hause fühlen", der mit seinem Gemüt und Gewissen nicht in ihr lebte. Schließlich wird niemand in dieser Gesellschaft leben als das „reine Gemüt" und das „reine Gewissen", nämlich „der Geist", „die Kritik" und die Ihrigen. Die Masse wird auf die eine oder die andere Weise von ihr ausgeschlossen sein, so daß die „massenhafte Gesellschaft" außerhalb der „gesellschaftlichen Gesellschaft" haust. Mit einem Worte, diese Gesellschaft ist nichts anderes als der kritische Himmel, von welchem die wirkliche Welt als die unkritische Hölle ausgeschlossen ist. Die absolute Kritik bereitet diese verklärte Weltform des Gegensatzes von „Masse" und „Geist" in ihrem reinen Denken vor. Von derselben kritischen Tiefe wie diese Aufschlüsse über die „Gesellschaft" sind die Aufschlüsse, die Herr Riesser über das Schicksal der Nationen erhält.
1 „die Fabel lehrt"
Die absolute Kritik gelangt von der Emanzipationssucht der Juden und von der Sucht der christlichen Staaten, sie in „ihrem GouvernementsSchematismus einzurubrizieren" - als ob sie nicht längst schon in den christlichen Gouvernements-Schematismus einrubriziert wären! - zu Prophezeiungen über den Verfall der Nationalitäten. Man sieht, auf welchem komplizierten Umweg die absolute Kritik bei der gegenwärtigen geschichtlichen Bewegung ankommt, nämlich auf dem Umwege der Theologie. Wie große Resultate sie auf diese Weise erhält, davon zeugt der lichtverbreitende Orakelspruch: „Die Zukunft aller Nationalitäten - ist - eine - sehr - dunklel"
Die Zukunft der Nationalitäten mag aber von wegen der Kritik so dunkel sein, als sie will. Das eine, was not tut, ist £/ar: die Zukunft ist ihr Werk•
„DasSchicksal", ruft sie aus, „mag entscheiden, wie es will; wir wissen jetzt, daß es unser Werk ist."
Wie Gott seinem Werke, dem Menschen, so läßt die Kritik ihrem Werke, dem Schicksal, seinen Eigenwillen. Die Kritik, deren Werk das Schicksal ist, ist allmächtig wie Gott. Sogar der „Widerstand", den sie außer sich „findet", ist ihr eignes Werk. „Die Kritik macht ihre Gegner." Die „massenhafte Empörung" gegen sie ist daher nur für „die Masse" selbst „gefahrdrohend". Ist aber die Kritik wie Gott allmächtig, so ist sie auch allweise wie Gott und versteht es, ihre Allmacht mit der Freiheit, dem Willen und der Naturbestimmung der menschlichen Individuen zn vereinigen.
„Sie wäre nicht die epochemachende Kraft, wenn sie nicht diese Wirkung hätte, daß sie aus jedem das macht, was er sein will, und jedem unwiderruflich den Standpunkt anweist, der seiner Natur und seinem Willen entspricht."
Leibniz könnte auf keine glücklichere Weise die prästabilierte Harmonie der göttlichen Allmacht mit der menschlichen Freiheit und Naturbestimmung herstellen. Wenn „die Kritik" gegen die Psychologie dadurch zu verstoßen scheint, daß sie den Willen, etwas zu sein, nicht von der Fähigkeit, etwas zu sein, unterscheidet, so muß man bedenken, daß sie entscheidende Gründe besitzt, diese „Unterscheidung" für „dogmatisch" zu erklären. Stärken wir uns zum dritten Feldzug! Rufen wir uns noch einmal in das Gedächtnis, daß „die Kritik ihren Gegner macht"l Wie könnte sie aber ihren Gegner - die „Phrase" machen, wenn sie nicht Phrasen machte?
3. Dritter Feldzug der absoluten Kritik
a) Selbstapologie der absoluten Kritik Ihre „politische" Vergangenheit
Die absolute Kritik beginnt ihren dritten Feldzug gegen die „Masse" mit der Frage: „Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik t36]
In demselben Heft der „Literatur-Zeitung" finden wir die Belehrung:
„Daß die Kritik nichts will als die Dinge kennenlernen."
Die Kritik hätte hiernach alle Dinge zum Gegenstande. Die Frage nach einem aparten, eigens für die Kritik bestimmten Gegenstand wäre sinnlos. Der Widerspruch löst sich einfach, wenn man bedenkt, daß alle Dinge in kritische Dinge und alle kritischen Dinge in die Masse, als den „Gegenstand" der absoluten Kritik, „zusammenfallen". Zunächst schildert Herr Bruno sein unendliches Erbarmen mit der „Masse". Er macht „die Kluft, die ihn von der Menge scheidet", zum Gegenstand eines „anhaltenden Studiums". Er will „die Bedeutimg dieser Kluft für die Zukunft kennenlernen" (eben dies ist das obenerwähnte Kennenlernen „aller" Dinge) und zugleich „sie aufheben". Er kennt also in Wahrheit sch®n die Bedeutung jener Kluft. Sie besteht eben darin, von ihm aufgehoben zu werden. Weil nun jeder sich selbst der Nächste ist, beschäftigt sich die „Kritik" zunächst damit, ihre eigene Massenhaftigkeit aufzuheben, gleich den christlichen Asketen, die den Feldzug des Geistes gegen das Fleisch mit der Abtötung ihres eigenen Fleisches beginnen. Das ,JFleisch" der absoluten Kritik ist ihre wirklich massenhafte - 20 bis 30 Bände belaufende - literarische Fergangenheit. Herr Bauer muß daher die literarische Lebensgeschichte der „Kritik" - die genau mit seiner eigenen literarischen Lebensgeschichte zusammenfällt - von ihrem massenhaften Schein befreien, nachträglich verbessern und erläutern und durch diesen apologetischen Kommentar „ihre früheren Arbeiten sicherstellen". Er beginnt damit, den Irrtum der Masse, die bis zum Untergang der „Deutschen Jahrbücher"[37-1 und der „Rheinischen Zeitung"Herrn Bauer für einen der Ihrigen hielt, aus einem doppelten Grunde zu erklären. Einmal beging man das Unrecht, daß man die literarische Bewegung nicht „rein als literarische" auffaßte. In demselben Moment beging man das umgekehrte Unrecht, die literarische Bewegung als „eine bloß" oder „rein" literarische
Bewegung aufzufassen. Daß die „Masse" jedenfalls im Unrecht war, schon darum, weil sie zwei sich wechselseitig ausschließende Irrtümer in demselben Augenblicke beging, unterliegt keinem Zweifel. Bei dieser Gelegenheit ruft die absolute Kritik denen, welche die „deutsche Nation" als eine „Literatin" bespöttelt haben, zu:
„Nennt auch die einzige geschichtliche Epoche, die nicht von der ,Feder gebieterisch vorgezeichnet war und ihre Erschütterung nicht mit einem Federstrich beschließen lassen mußte."
Herr Bruno trennt in seiner kritischen Naivität „die Feder" vom schreibenden Subjekt und das schreibende Subjekt als „abstrakter Schreiber" von dem lebendigen geschichtlichen Menschen, welcher schrieb. Auf diese Weise vermag er sich über die wundertätige Kraft der „Feder" zu exaltieren. Er konnte ebensogut verlangen, man solle ihm eine geschichtliche Bewegung nennen, die nicht vom „Federvieh" und der „Gänsemagd" vorgezeichnet war. Späterhin werden wir von demselben Herrn Bruno erfahren, daß bisher noch nicht eine, nicht eine einzige geschichtliche Epoche erkannt ist. Wie sollte die ,feder", welche bisher „keine einzige" geschichtliche Epoche nachzuzeichnen wußte, imstande gewesen sein, sie alle vorzuzeichnen ? Herr Bruno beweist nichtsdestoweniger die Richtigkeit seiner Ansicht durch die Tat, indem er selbst seine eigene „Vergangenheit" mit apologetischen „Federstrichen" sich „vorzeichnet". Die Kritik, welche nach allen Seiten hin nicht nur in die allgemeine Borniertheit der Welt, der Zeitepoche, sondern in ganz aparte, persönliche Borniertheiten verwickelt war, welche nichtsdestoweniger seit Menschengedenken in allen ihren Werken „absolute, vollendete, reine" Kritik zu sein beteuerte, hatte sich nur den Vorurteilen und dem Fassungsvermögen der Masse akkommodiert, wie Gott in seinen Offenbarungen an die Menschen zu tun pflegt.
„Es mußte", berichtet die absolute Kritik, „zum Bruch der Theorie mit ihrem scheinbar Verbündeten kommen." Weil aber die Kritik - die hier zur Abwechslung einmal die Theorie heißt - zu nichts kommt, vielmehr alles von ihr kommt, weil sie nicht innerhalb, sondern außerhalb der Welt sich entwickelt und in ihrem göttlichen, sich stets gleichbleibenden Bewußtsein alles vorherbestimmt hat, so war auch der Bruch mit ihrem ehemaligen Verbündeten nur dem Schein nach, nur für andere, nicht an sich, nicht für sie selbst eine „neue Wendung".
„Diese Wendung war aber nicht einmal,eigentlich' neu. Die Theorie hatte beständig an der Kritik ihrer selbst gearbeitet" (man weiß, wie auf sie losgearbeitet worden
ist, um sie zur Kritik ihrer selbst zu treiben), „sie hatte der Masse nie geschmeichelt" (desto mehr sich selbst), „sie hatte sich immer davor gehütet, sich in die Voraussetzungen ihres Gegners zu verstricken."
„Der christliche Theologe muß behutsam auftreten." („Entdecktes Christentum" von Bruno Bauer, p. 99.) Und wie kam es, daß die „behutsame" Kritik sich dennoch verstrickte und nicht schon damals deutlich und vernehmbar ihre „eigentliche" Meinung aussprach? Warum redete sie nicht frisch von der Leber weg? Warum ließ sie den Wahn der Geschwisterschaft mit der Masse bestehen?
„Warum hast du mir das getan? sagte Pharao zu Abraham, als er ihm sein Weib Sara zurückgab. Warum sprachest du denn, sie sei deine Schwester?" („Entdecktes] Christentum]" von B. B[auer], p. 100.) „Weg mit der Vernunft und Sprache! sagt der Theologe; dann wäre ja Abraham ein Lügner! Die Offenbarung wäre dann tödlich beleidigt!" (1. c.)
„Weg mit der Vernunft und Sprache!" sagt der Kritiker: wäre Herr Bauer wirklich und nicht nur zum Schein mit der Masse verstrickt gewesen, dann wäre ja die absolute Kritik in ihren Offenbarungen nicht absolut, also tödlich beleidigt!
„Man hatte", fährt die absolute Kritik fort, „ihr" (der absoluten Kritik) „Bemühen nur nicht gemerkt, und es gab außerdem ein Stadium der Kritik, wo sie geztotmgen war, sich auf die Voraussetzungen ihres Gegners aufrichtig einzulassen und sie für einen Augenblick ernst zu nehmen, kurz, wo sie noch nicht vollständig die Fähigkeit hatte, der Masse die Uberzeugung zu nehmen, daß sie mit ihr eine Sache und ein Interesse habe."
Man hatte das Bemühen der „Kritik" nur nicht bemerkt; also lag die Schuld auf Seite der Masse. Andrerseits gesteht die Kritik, daß man ihr Bemühen nicht merken konnte, weil sie selbst noch nicht die „Fähigkeit" besaß, es bemerkbar zu machen. Also scheint die Schuld auf Seite der Kritik. Bewahre Gott! Die Kritik war „gezwungen" - es wurde ihr eine Gewalt angetan - „sich auf die Voraussetzungen ihres Gegners aufrichtig einzulassen und sie für einen Augenblick ernst zu nehmen". Eine schöne Aufrichtigkeit, eine recht theologische Aufrichtigkeit, Welcher es nicht wirklicher Ernst mit einer Sache ist, sondern welche sie nur „für einen Augenblick ernst nimmt", welche sich immer, also jeden Augenblick, davor gehütet hat, sich in die Voraussetzungen ihres Gegners zu verstricken - und dennoch „für einen Augenblick" auf dieselben Voraussetzungen „aufrichtig" eingeht. Die „Aufrichtigkeit" wird noch vergrößert im Nachsatze. In demselben Augenblicke, wo die Kritik „aufrichtig auf die Voraussetzungen der Masse einging, war es auch",
wo sie „noch nicht vollständig Sie Fähigkeit hatte", die Illusion über die Einheit ihrer Sache und der massenhaften Sache zu zerstören. Sie hatte noch nicht die Fähigkeit, aber sie hatte schon den Willen und den Gedanken. Sie konnte noch nicht äußerlich mit der Masse brechen, aber der Bruch war schon in ihrem Innern, in ihrem Gemüte vollzogen, vollzogen in demselben Moment, wo sie aufrichtig mit der Masse sympathisierte! Die Kritik, in ihrer Verwickelung mit den Vorurteilen der Masse, war nicht wirklich in dieselben verwickelt; sie war vielmehr eigentlich frei von ihrer eignen Beschränktheit und besaß nur „noch nicht vollständig" die „Fähigkeit", dies der Masse kundzutun. Die ganze Beschränktheit „der Kritik" war also purer Schein, ein Schein, der ohne die Beschränktheit der Masse überflüssig und also gar nicht vorhanden gewesen wäre. Die Schuld liegt also wieder auf den Schultern der Masse. Insofern dieser Schein indessen durch „die Unfähigkeit", durch die „Impotenz" der Kritik, sich auszusprechen, unterstützt wurde, war die Kritik selbst unvollkommen. Sie gesteht dies in der ihr eigentümlichen, ebenso aufrichtigen als apologetischen Weise.
„Trotzdem daß sie" (die Kritik) „den Liberalismus selbst einer auflösenden Kritik unterwarf, durfte man sie noch für eine besondere Art desselben, vielleicht für seine extreme Durchführung halten; trotzdem daß ihre wahren und entscheidenden Entwicklungen über die Politik hinausgingen, mußte sie doch noch dem Schein verfallen, daß sie politisiere, und dieser unvollkommene Schein hatte ihr die meisten ihrer oben bezeichneten Freunde gewonnen."
Die Kritik hatte ihre Freunde durch den unvollkommnen Schein, als politisiere sie, gewonnen. Hätte sie vollkommen zu politisieren geschienen, so hätte sie die politischen Freunde unfehlbar verloren. In ihrer apologetischen Angst, sich von aller Sünde loszuwaschen, klagt sie den falschen Schein an, ein unvollkommner und kein vollkommner falscher Schein gewesen zu sein. Einen Schein für den andern, kann sich „die Kritik" damit vertrösten, daß, wenn sie den „vollkommnen Schein" besaß, politisieren zu wollen, sie dagegen auch nicht einmal den „unvollkommnen Schein" besitzt, irgendwo und irgendwann die Politik aufgelöst zu haben. Die absolute Kritik, nicht vollständig befriedigt von dem „unvollkommnen Schein", fragt sich noch einmal:
„Wie kam es, daß die Kritik damals in die .massenhaften, politischen' Interessen hineingezogen wurde, daß sie - sogar! - politisieren! - mußtel"
Dem Theologen Bauer versteht es sich ganz von selbst, daß die Kritik unendlich lang spekulative Theologie treiben mußte, denn er, die „Kritik", ist
ja Theologe ex professo1. Aber politisieren ? Das muß durch ganz besondere, politische, persönliche Umstände motiviert sein! Warum mußte also die „Kritik" sogar politisieren? „Sie war angeklagt — damit ist die Frage beantwortet." Wenigstens ist damit das „Geheimnis" der „Bauersehen Politik" enthüllt, und man wird den Schein, der in der „Guten Sache der Freiheit und meiner eignen Sache", von Bruno Bauer an die massenhafte „Sache der Freiheit" die „eigne Sache" durch ein „und" anschließt, wenigstens nicht unpolitisch nennen. Wenn aber die Kritik ihre „eigne Sache" nicht im Interesse der Politik, sondern die Politik im Interesse ihrer eignen Sache betrieb, so muß zugegeben werden, daß nicht die Kritik von der Politik, sondern vielmehr die Politik von der Kritik angeführt wurde. Bruno Bauer also sollte von seinem theologischen Lehrstuhl entfernt werden: er war angeklagt; die „Kritik" mußte politisieren, d. h. „ihren", d.h. Bruno Bauers Prozeß führen. Herr Bauer führte nicht den Prozeß der Kritik, die „Kritik" führte den Prozeß des Herrn Bauer. Warum mußte „die Kritik" ihren Prozeß führen? „Um sich zu verantworten!" Wohl auch; allein die „Kritik" ist weit entfernt, sich auf einen so persönlichen, profanen Grund zu beschränken. Wohl auch; aber nicht allein deswegen, „sondern hauptsächlich, um die Widersprüche ihrer Gegner zu entwickeln", und, konnte die Kritik hinzufügen, um überdem alte Aufsätze gegen verschiedene Theologen - siehe u. a. die weitläufige Zänkerei mit Planck, diese Familienangelegenheit zwischen der TheologieBauer und der Theologie-Strauß - in ein Buch binden zu lassen. Nachdem die absolute Kritik durch das Geständnis über das wahre Interesse ihrer „Politik" ihr Herz erleichtert hat, kaut sie abermals, bei der Erinnerung an ihren „Prozeß", den alten Hegeischen (siehe in der „Phänomenologie" den Kampf der Aufklärung und des Glaubens, siehe die ganze „Phänomenologie"), in der „Guten Sache der Freiheit" schon weitläufig wiedergekauten Kohl wieder, daß „das Alte, welches sich dem Neuen widersetzt, nicht mehr wirklich das Alte ist". Die kritische Kritik ist ein wiederkäuendes Tier. Einige abgefallene Hegeische Brocken wie der oben erwähnte Satz vom „Alten" und „Neuen" oder auch wie „die Entwicklung des Extrems aus seinem gegenteiligen Extrem" u. dgl. werden unaufhörlich aufgewärmt, ohne daß sie jemals auch nur das Bedürfnis empfände, sich mit der „spekulativen Dialektik' anders als durch die Ermattung des Prof. Hinrichs auseinanderzusetzen. Dagegen geht sie aber beständig „kritisch" über Hegel hinaus, indem sie ihn wiederholt, zum Beispiel:
1 von Amts wegen
„Indem die Kritik auftritt und der Forschung eine neue Form, d. h. die Form gibt, die sich nicht mehr zu einer äußern Begrenzung umwandeln läßt" etc.
Wenn ich etwas umwandle, mache ich es zu einem wesentlich andern. Da eine jede Form nun auch eine „äußere Begrenzung" ist. so „läßt" sich keine Form in eine „äußere Begrenzung" umwandeln, so wenig als sich ein Apfel in einen Apfel „umwandeln" läßt. Die Form allerdings, welche „die Kritik" der Forschung gibt, läßt sich aus einem andern Grunde in keine „äußere Begrenzung" umwandeln. Über jede „äußere Begrenzung" hinaus, ist sie ein Verschwimmen im aschgrauen, dunkelblauen Dunst des Unsinns.
„Er" (der Kampf des Alten und Neuen) „wäre aber auch da" (nämlich im Augenblicke, wo die Kritik der Forschung „die neue Form gibt") - „nicht einmal möglich, wenn das Alte die Frage nach der Verträglichkeit oder Unverträglichkeit... theoretisch behandelte."
Warum behandelt das Alte diese Frage nun nicht theoretisch? Weil „dies ihm aber im Anfang am wenigsten möglich ist, da es im Augenblick der Uberraschung", d. h. im Anfang, „weder sich noch das Neue kennt", d. h. weder sich noch das Neue theoretisch behandelt. Nicht einmal möglich, wenn die „Unmöglichkeit" leider nicht unmöglich wäre! Wenn der „Kritiker" der theologischen Fakultät weiter „gesteht, daß er absichtlich gefehlt, mit freiem Vorbedacht und nach reiflicher Überlegung den Irrtum begangen" - alles, was die Kritik erlebt, erfahren, getan hat, wandelt sich ihr in ein freies, reines, beabsichtigtes Produkt ihrer Reflexion um so hat dies Geständnis des Kritikers nur einen „unvollkommnen Schein" von Wahrheit. Da die „Kritik der Synoptiker"[39] durch und durch auf theologischem Grund und Boden steht, da sie durchaus theologische Kritik ist, so konnte Herr Bauer, der Privatdozent der Theologie, sie schreiben und lehren, „ohne Fehl und Irrtum" zu begehen. Der Fehler und der Irrtum waren vielmehr auf Seite der theologischen Fakultäten, welche nicht einsahen, wie streng Herr Bauer sein Versprechen gehalten hatte, sein in der „Krit[ik] d[er] Synopt[iker]", Bd. I., Vorrede, p. XXIII gegebenes Versprechen.
„Wenn die Negation auch in diesem ersten Bande noch zu kühn und weitgreifend erscheinen möchte, so erinnern wir daran, daß das wahrhaft Positive erst dann geboren werden kann, wenn die Negation ernstlich und allgemein war ... Am Ende wird sich zeigen, daß erst die verzehrendste Kritik der Welt die schöpferische Kraft Jesu und seines Prinzips lehren wird."
Herr Bauer trennt absichtlich den Herrn „Jesum" und sein „Prinzip", um den positiven Sinn seines Versprechens über jeden Schein der Zweideutigkeit
zu erheben. Und Herr Bauer hat wirklich die „schöpferische" Kraft des Herrn Jesus und seines Prinzips so augenfällig gelehrt, daß sein „unendliches Selbstbeiüußtsein" und der „Geist" nichts anderes als christliche Geschöpfe sind. So sehr der Streit der kritischen Kritik mit der theologischen Fakultät zu Bonn ihre damalige „Politik" erklärt, warum fuhr sie fort, nach der Entscheidung dieses Streits zu politisieren? Man höre: „An diesem Punkte hätte ,die Kritik' entweder stehenbleiben oder sogleich weiter vorschreiten, das politische Wesen untersuchen und als ihren Gegner darstellen sollen wenn es nur möglich gewesen wäre, daß sie im damaligen Kampfe hätte stehenbleiben können, und wenn es nur auf der andern Seite nicht ein gar zu strenges geschichtliches Gesetz wäre, daß ein Prinzip, indem es sich mit seinem Gegensatze zum erstenmal mißt, sich von ihm herabdrücken lassen ... muß." Köstliche apologetische Phrase! „Die Kritik hätte stehnbleiben sollen", wenn es nur möglich gewesen wäre ... „stehnbleiben zu können"! Wer „soll" stehenbleiben? Und wer hätte sollen, was nicht „möglich gewesen wäre ... zu können"? Andrerseits! Die Kritik hätte vorschreiten sollen, „wenn es nur auf der andern Seite nicht ein gar zu strenges, geschichtliches Gesetz wäre etc." Die geschichtlichen Gesetze sind gegen die absolute Kritik auch „gar zu streng"! Ständen sie nur nicht auf einer andern Seite als die kritische Kritik, wie glänzend würde sie weiter vorschreiten! Aber ä la guerre comme a la guerre1! In der Geschichte muß sie eine traurige „Geschichte" aus sich machen lassen! „Wenn die Kritik" (immer Herr Bauer) „... mußte, so wird man doch zugleich zugeben, daß sie sich immer unsicher fühlte, wenn sie sich auf Forderungen dieser" (politischen) „Art einließ, und daß sie durch diese Forderungen mit ihren wahren Elementen in einen Widerspruch trat, der in jenen Elementen bereits seine Auflösung gefunden hatte." Die Kritik war durch die allzustrengen Gesetze der Geschichte zu politischen Schwächen gezwungen worden, aber - fleht sie - man wird doch zugleich zugeben, daß sie, wenn auch nicht wirklich, doch an sich über jene Schwächen erhaben war. Einmal hatte sie dieselben „im Gefühl" überwunden, denn „sie fühlte sich immer unsicher in ihren Forderungen", es war ihr in der Politik übel zumute, sie wußte nicht, wie ihr war. Noch mehr! Sie trat mit ihren wahren Elementen in Widerspruch. Endlich das Allergrößeste! Der Widerspruch, in den sie mit ihren wahren Elementen trat, fand seine Auflösung nicht im Lauf ihrer Entwicklung, sondern „hatte" vielmehr „bereits" in ihren unabhängig von dem Widerspruch existierenden wahren Elementen
xim Kriege ist es einmal nicht anders
seine Auflösung gefunden! Diese kritischen Elemente dürfen von sich rühmen: Ehe denn Abraham war, waren wir. Ehe die Entwicklung den Gegensatz zu uns erzeugte, lag der ungeborne in unserem chaotischen Schoß aufgelöst, gestorben, verdorben. Da nun in den wahren Elementen der Kritik ihr Widerspruch gegen ihre wahren Elemente „bereits seine Auflösung gefunden hatte", da aber ein aufgelöster Widerspruch kein Widerspruch ist, befand sie sich also, genau zu reden, in keinem Widerspruch mit ihren wahren Elementen, in keinem Widerspruch mit sich selbst, und — der allgemeine Zweck der Selbstapologie wäre erreicht. Die Selbstapologie der absoluten Kritik verfügt über ein ganzes apologetisches Wörterbuch:
„nicht einmal eigentlich", „nur nicht gemerkt", „es gab außerdem", „noch nicht vollständig", „trotzdem - dennoch", „nicht nur - sondern hauptsächlich", „ebensosehr eigentlich erst", „die Kritik hätte sollen, wenn es nur möglich gewesen wäre und wenn es auf der andern Seite ...", „wenn ... so wird man doch zugleich zugeben", „war es nun nicht natürlich, war es nicht unvermeidlich", „auch nicht" etc.
Vor nicht gar zu langer Zeit äußerte sich die absolute Kritik über ähnliche apologetische Wendungen wie folgt:
„.Obgleich' und .dennoch', ,zwar' und ,aber', ein himmlisches Nein und ein irdisches Ja sind die Grundsäulen der neueren Theologie, die Stelzen, auf denen sie einherschreitet, der Kunstgriff, auf den sich ihre ganze Weisheit beschränkt, die Wendung, die in allen ihren Wendungen wiederkehrt, ihr A und 0." („Entdecktes] Christentum]", p. 102.)
b) Die Judenfrage Nr. III
Die „absolute Kritik" bleibt nicht dabei stehen, ihre eigentümliche Allmacht, die ndasAlte ebensosehr eigentlich erst schafft wie das Neue", durch ihre Selbstbiographie zu beweisen. Sie bleibt nicht dabei stehen, die Apologie ihrer Vergangenheit höchstselbst zu schreiben. An dritte Personen, an die übrige profane Welt stellt sie jetzt die absolute „Aufgabe", die „Aufgabe, auf die es vielmehr nun ankommt", nämlich die Apologie der Bauerschen Taten und „Werke". Die „Deutsch-Französischen Jahrbücher" brachten eine Kritik von Herrn Bauers „Judenfrage"[40]. Sein Grundirrtum, die Verwechselung der „politischen" mit der „menschlichen Emanzipation", wurde aufgedeckt. Die alte Judenfrage wurde zwar nicht erst in ihre „richtige Stellung" gebracht, sondern die „Judenfrage" wurde in der Stellung behandelt und gelöst, welche die neuere Entwickelung den alten Zeitfragen gegeben hat und wodurch letztere
eben aus „Fragen" der Vergangenheit zu „Fragen" der Gegenwart geworden sind. Im dritten Feldzug der absoluten Kritik soll, wie es scheint, den „DeutschFranzösischen Jahrbüchern" repliziert werden. Zunächst gesteht die absolute Kritik: „In der Judenfrage wurde dasselbe ,Versehn begangen, das menschliche und das politische Wesen identifiziert."
Die Kritik bemerkt, daß: „es zu spät sein würde, wenn man der Kritik wegen der Stellung, die sie vor zwei Jahren noch zum Teil einnahm, einen Vorwurf machen wollte". „Es kommt vielmehr darauf an, die Erklärung davon zu geben, daß die Kritik ..» sogar politisieren mußtel"
„Vor zwei Jahren"? Zählen wir nach der absoluten Zeitrechnung, nach der Geburt des kritischen Weltheilands, der Bauerschen „Literatur-Zeitung"! Der kritische Welterlöser wurde geboren Anno 1843. In demselben Jahre erblickte die zweite, vermehrte Ausgabe der „Judenfrage" das Licht der Welt. Die „kritische" Behandlung der „Judenfrage" in den „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz"erschien noch später, in demselben Jahre 1843 alten Stils. Nach dem Untergang der „Deutschen Jahrbücher" und der „Rheinischen Zeitung" in demselben bedeutungsvollen Jahre 1843 alten Stils oder Jahr I der kritischen Zeitrechnung erschien Herrn Bauers phantastisch-politische Schrift „Staat, Religion und Parthei", welche genau seine alten Irrtümer über das „politische Wesen" wiederholt. Der Apologet ist gezwungen, die Chronologie zu verfälschen. Die „Erklärung", warum Herr Bauer „sogar" politisieren „mußte", gewährt nur unter gewissen Bedingungen ein allgemeines Interesse. Setzt man nämlich die Unfehlbarkeit, Reinheit und Absolutheit der kritischen Kritik als Grunddogma voraus, so verwandeln sich allerdings die Tatsachen, welche diesem Dogma widersprechen, in ebenso schwierige, denkwürdige, geheimnisvolle Rätsel, als es die scheinbar ungöttlichen Handlungen Gottes für den Theologen sind. Betrachtet man dagegen „den Kritiker" als ein endliches Individuum, trennt man ihn nicht von der Schranke seiner Zeit, so ist man der Antwort, warum er sogar innerhalb der Welt sich entwickeln mußte, überhoben, weil die Frage selbst nicht existiert. Beharrt indessen die absolute Kritik auf ihrer Forderung, so erbietet man sich, ein scholastisches Traktätlein zu liefern, welches folgende Zeitfragen behandeln soll:
8 Marx/Engel», Werke. Bd. 2
„Warum die Empfängnis der Jungfrau Maria durch den heiligen Geist grade von Herrn Bruno Bauer bewiesen werden mußte?" „Warum Herr Bauer beweisen mußte, daß der Engel, der dem Abraham erschien, eine wirkliche Emanation Gottes war, eine Emanation, der indessen noch die zur Verdauung von Speisen notwendige Konsistenz abging?" „Warum Herr Bauer die Apologie des preußischen Königshauses liefern und den preußischen Staat zum absoluten Staat erheben mußte?" „Warum Herr Bauer in der »Kritik der Synoptiker' das , unendliche Selbstbewußtsein an die Stelle des Menschen setzen mußte?" „Warum Herr Bauer in seinem ,Entdeckten Christentum die christliche Kreationstheorie in Hegelscher Form wiederholen mußte?" „Warum Herr Bauer die,Erklärung' des Wunders, daß er irren mußte, von sich und andern verlangen mußte?" Bis zum Nachweis dieser ebenso „kritischen" als „absoluten" Notwendigkeiten lauschen wir noch einstweilen den apologetischen Ausflüchten der „Kritik".
„Die Judenfrage ... mußte ... erst in ihre richtige Stellung gebracht werden, als eine religiöse und eine theologische und als eine politische Frage." „Als die Behandlung und Lösung beider Fragen ist die .Kritik' weder religiös noch politisch."
In den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" wird nämlich die Bauersche Behandlung der „Judenfrage" für eine wirklich theologische und phantastisch- politische erklärt. Zunächst in bezug auf den „Vorwurf" ihrer theologischen Beschränktheit antwortet die „Kritik'
„Die Judenfrage ist eine religiöse. Die Aufklärung glaubte sie zu lösen, indem sie den religiösen Gegensatz als einen gleichgültigen bezeichnete oder sogar leugnete. Die Kritik mußte ihn dagegen in seiner Reinheit darstellen."
Bei der politischen Partie der Judenfrage angekommen, werden wir sehn, wie der Theologe, Herr Bauer, auch in der Politik nicht mit der Politik, sondern mit der Theologie beschäftigt ist. Wurde aber in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" seine Behandlung der Judenfrage als eine „rein religiöse" angegriffen, so handelt es sich speziell um seinen Aufsatz in den „Einundzwanzig Bogen":
„Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden."
Dieser Aufsatz hat mit der alten „Aufklärung" nichts zu schaffen. Er enthält die positive Ansicht des Herrn Bauer über die Emanzipationsfähigkeit der heutigen Juden, also über die Möglichkeit ihrer Emanzipation.
„Die Kritik" sagt: „Die Judenfrage ist eine religiöse Frage." Es fragt sich eben, Was eine religiöse Frage ist und namentlich, was sie heutzutage isO Der Theologe wird nach dem Schein urteilen und in einer religiösen Frage eine religiöse Frage erblicken. Aber „die Kritik" erinnere sich ihrer Erklärung gegen Prof. Hinrichs, daß die politischen Interessen der Gegenwart eine gesellschaftliche Bedeutung haben: von politischen Interessen sei „nicht mehr die Rede". Mit demselben Rechte sagten ihr die „Deutsch-Franz[ösischen] Jahrbücher": Die religiösen Tagesfragen haben heutzutage eine gesellschaftliche Bedeutung. Von religiösen Interessen als solchen ist nicht mehr die Rede. Nur noch der Theologe kann glauben, daß es sich um die Religion als Religion handle. Allerdings begingen die etc. Jahrbücher das Unrecht, nicht bei dem Worte „gesellschaftlich" stehenzubleiben. Die wirkliche Stellung des Judentums in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft wurde charakterisiert. Nachdem das Judentum aus der religiösen Vermummung losgeschält und in seinen empirischen, weltlichen, praktischen Kern aufgelöst war, konnte die praktische, wirklich gesellschaftliche Weise, in welcher nun dieser Kern aufzulösen ist, angedeutet werden. Herr Bauer beruhigt sich dabei, daß „eine religiöse Frage" eine „religiöse Frage" ist. Es wurde keineswegs, wie Herr Bauer den Schein vormacht, geleugnetdaß die Judenfrage auch eine religiöse Frage ist. Es wurde vielmehr gezeigt: Herr Bauer begreift nur das religiöse Wesen des Judentums, nicht aber die weltliche, reale Grundlage dieses religiösen Wesens. Er bekämpft das religiöse Bewußtsein als ein selbständiges Wesen. Herr Bauer erklärt daher die wirklichen Juden aus der jüdischen Religion, statt das Geheimnis der jüdischen Religion aus den wirklichen Juden zu erklären. Herr Bauer versteht den Juden also nur, insoweit er unmittelbarer Gegenstand der Theologie oder Theologe ist. Herr Bauer ahnt daher nicht, daß das wirkliche, weltliche Judentum und darum auch das religiöse Judentum fortwährend von dem heutigen bürgerlichen Leben erzeugt wird und im Geldsystem seine letzte Ausbildung erhält. Er konnte dies nicht ahnen, weil er das Judentum nicht als Glied der wirklichen Welt, sondern nur als Glied seiner Welt, der Theologie, kannte, weil er als ein frommer und gottergebener Mann nicht im tätigen Werkeltagsjuden, sondern im scheinheiligen Sabbatjuden den wirklichen Juden erblickte. Für Herrn Bauer, als christgläubigen Theologen, mußte die weltgeschichtliche Bedeutung des Judentums von der Geburtsstunde des Christentums an aufhören#
Die alte orthodoxe Ansicht, daß es sich trotz der Geschichte erhalten habe, mußte daher von ihm wiederholt werden, und der alte theologische Aberglaube, daß das Judentum nur existiere als Bestätigung des göttlichen Fluchs, als sinnfälliger Beweis der christlichen Offenbarung, mußte bei ihm in der kritisch-theologischen Form wiederkehren, daß es nur existiere und existiert habe als roher religiöser Zweifel an der überweltlichen Abkunft des Christentums, d. h. als sinnfälliger Beweis wider die christliche Offenbarung. Man bewies dagegen, daß das Judentum durch die Geschichte, in und mit der Geschichte sich erhalten und entwickelt habe, daß aber nicht mit dem Auge des Theologen, sondern nur mit dem Auge des Weltmannes, weil nicht in der religiösen Theorie, sondern nur in der kommerziellen und industriellen Praxis diese Entwickelung zu finden sei. Man erklärte, warum das praktische Judentum seine Vollendung erst in der vollendeten christlichen Welt erreicht, ja die vollendete Praxis der christlichen Welt selber ist. Man erklärte das Dasein des heutigen Juden nicht aus seiner Religion — als ob diese ein apartes, für sich existierendes Wesen wäre —, man erklärte das zähe Leben der jüdischen Religion aus praktischen Elementen der bürgerlichen Gesellschaft, welche in jener Religion einen phantastischen Reflex finden. Die Emanzipation der Juden zu Menschen oder die menschliche Emanzipation vom Judentum wurde daher nicht, wie von Herrn Bauer, als die spezielle Aufgabe des Juden, sondern als allgemeine praktische Aufgabe der heutigen Welt, die bis in ihr innerstes Herz jüdisch sei, gefaßt. Man bewies, daß die Aufgabe, das jüdische Wesen aufzuheben, in Wahrheit die Aufgabe sei, das Judentum der bürgerlichen Gesellschaft, die Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis, die im Geldsystem ihre Spitze erhält, aufzuheben. Herr Bauer, als echter, wenn auch kritischer Theologe oder theologischer Kritiker, konnte über den religiösen Gegensatz nicht hinauskommen. Er konnte in dem Verhältnis der Juden zur christlichen Welt nur das Verhältnis der jüdischen Religion zur christlichen Religion erblicken. Er mußte sogar den religiösen Gegensatz kritisch wiederherstellen, in dem Gegensatz zwischen dem Verhältnis des Juden und des Christen zur kritischen Religion - dem Atheismus, der letzten Stufe des Theismus, der negativen Anerkennung Gottes. Er mußte endlich in seinem theologischen Fanatismus die Fähigkeit der„heutigen Juden und Christen", d. h. der heutigen Welt, „frei zu werden", auf ihre Fähigkeit, „die Kritik" der Theologie aufzufassen und selbst auszuüben, beschränken. Wie nämlich dem orthodoxen Theologen die ganze Welt in „Religion und Theologie" sich auflöst (er könnte sie ebensogut in Politik, Nationalökonomie etc. auflösen und die Theologie z.B. als die himmlische Nationalökonomie bezeichnen, da sie die Lehre von der Produktion, Distri
bution, Austauscbung und Konsumtion des „geistlichen Reichtums" und der Schätze im Himmel ist!), so löst sich dem radikalen, dem kritischen Theologen die Fähigkeit der Welt, sich zu befreien, in die einzige abstrakte Fähigkeit auf, „Religion und Theologie" als „Religion und Theologie" zu kritisieren. Der einzige Kampf, den er kennt, ist der Kampf gegen die religiöse Befangenheit des Selbstbewußtseins, dessen kritische „Reinheit" und „Unendlichkeit" nicht minder eine theologische Befangenheit ist. Herr Bauer behandelte also die religiöse und theologische Frage in religiöser und theologischer Weise, schon darum, weil er in der „religiösen" Zeitfrage eine „rein religiöse" Frage sah. Seine „richtige Stellung der Frage" stellte die Frage nur in eine „richtige" Stellung zu seiner „eigenen Fähigkeit" - zu antworten! Nun zur politischen Partie der Judenfragel Die Juden (wie die Christen) sind in verschiednen Staaten vollständig politisch emanzipiert. Die Juden und Christen sind weit davon entfernt, menschlich emanzipiert zu sein. Es muß also ein Unterschied zwischen der politischen und der menschlichen Emanzipation stattfinden. Das Wesen der politischen Emanzipation, d. h. des ausgebildeten, modernen Staats, ist daher zu untersuchen. Die Staaten dagegen, welche den Juden noch nicht politisch emanzipieren können, sind wieder am vollendeten politischen Staate zu messen und als unentwickelte Staaten nachzuweisen. Das war der Standpunkt, von dem die „politische Emanzipation" der Juden zu behandeln war und in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" behandelt ist. Herr Bauer verteidigt die „Judenfrage" der „Kritik" wie folgt:
„Den Juden wird gezeigt, daß sie über den Zustand, von dem sie Freiheit verlangten, in einer Illusion befangen waren."
Herr Bauer hat die Illusion der deutschen Juden, in einem Lande, wo kein politisches Gemeinwesen existiert, Teilnahme an dem politischen Gemeinwesen - wo nur politische Privilegien existieren, politische Rechte zu verlangen, allerdings gezeigt. Man hat dagegen Herrn Bauer gezeigt, daß er selbst, nicht minder als die Juden, über den „deutschen politischen Zustand" in „Illusionen" befangen war. Er erklärte nämlich das Verhältnis der Juden in den deutschen Staaten daraus, daß „der christliche Staat" die Juden nicht politisch emanzipieren könne. Er schlug der Tatsache ins Gesicht, er konstruierte den Staat der Privilegien, den christlich-germanischen Staat, als den absoluten christlichen Staat. Man bewies ihm dagegen, daß der politisch vollendete, moderne Staat, der keine religiösen Privilegien kennt, auch der
vollendete christliche Staat sei, daß also der vollendete christliche Staat die Juden nicht nur emanzipieren kann* sondern emanzipiert hat und seinem Wesen nach emanzipieren muß. „Den Juden wird gezeigt ... daß sie sich über sich selbst die größten Illusionen machen, wenn sie Freiheit und Anerkennung der freien Menschlichkeit zu verlangen meinten, während es ihnen nur um ein besonderes Privilegium zu tun sei und zu tun sein könne." Freiheit! Anerkennung der freien Menschlichkeit! Besonderes Privilegium! Erbauliche Worte, um bestimmte Fragen apologetisch zu umgehen! Freiheit ? Es handelte sich um die politische Freiheit. Man hat Herrn Bauer gezeigt, daß der Jude, wenn er Freiheit verlangt und dennoch seine Religion nicht aufgeben will, „politisiert" und keine der politischen Freiheit widersprechende Bedingung stellt. Man zeigte Herrn Bauer, wie die Zersetzung des Menschen in den nichtreligiösen Staatsbürger und den religiösen Privatmenschen keineswegs der politischen Emanzipation widerspricht. Man zeigte ihm, daß, wie der Staat sich von der Religion emanzipiert, indem er sich von der Staatsreligion emanzipiert, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aber die Religion sich selbst überläßt, so der einzelne Mensch sich politisch von der Religion emanzipiert, indem er sich zu ihr nicht mehr als zu einer öffentlichen Angelegenheit, sondern als zu seiner Privatangelegenheit verhält. Man zeigte endlich, daß das terroristische Verhalten der französischen Revolution zur Religion, weit entfernt, diese Auffassung zu widerlegen, sie vielmehr bestätigt. Statt das wirkliche Verhältnis des modernen Staats zur Religion zu untersuchen, mußte Herr Bauer einen kritischen Staat imaginieren, einen Staat, der nichts anders ist als der in seiner Phantasie zum Staat aufgeblähete Kritiker der Theologie. Wenn Herr Bauer in der Politik befangen ist, so nimmt er stets wieder die Politik unter seinen Glauben, den kritischen Glauben, gefangen. Soweit er sich mit dem Staat beschäftigte, verwandelte er ihn immer in ein Argument gegen „den Gegner", die unkritische Religion und Theologie. Der Staat dient als Exekutor der kritisch-theologischen Herzenswünsche. Als Herr Bauer zuerst von der orthodoxen unkritischen Theologie sich befreit hatte, trat ihm die politische Autorität an die Stelle der religiösen Autorität. Sein Glaube an Jehova verwandelte sich in den Glauben an den preußischen Staat. In der Schrift „Evangelische Landeskirche" von Bruno Bauer wurde nicht nur der preußische Staat, sondern, was konsequent war, auch das preußische Königshaus als absolut konstruiert. In Wahrheit aber nahm Herr Bauer kein politisches Interesse an diesem Staat, dessen Verdienst vor den Augen der „Kritik" vielmehr in der Auflösung der Dogmen durch die Union und in der polizeilichen Unterdrückung der dissentierenden Sekten bestand.
Die politische Bewegung, welche in dem Jahre 1840 begann, erlöste Herrn Bauer von seiner konservativen Politik und erhob ihn für einen Augenblick zur liberalen Politik. Es war aber wieder die Politik eigentlich nur ein Prätext für die Theologie. In der Schrift „Die gute Sache der Freiheit und meine eigne Sache" ist der freie Staat der Kritiker der theologischen Fakultät zu Bonn und ein Argument gegen die Religion. In der „Judenfrage" bildet der Gegensatz des Staats und der Religion das Hauptinteresse, so daß die Kritik der politischen Emanzipation sich in eine Kritik der jüdischen Religion verwandelt. In der letzten politischen Schrift „Staat, Religion und Parthei" wird endlich der geheimste Herzenswunsch des zum Staat aufgebläheten Kritikers ausgesprochen. Die Religion wird dem Staatswesen geopfert, oder vielmehr, das Staatswesen ist nur das Mittel, um den Gegner „der Kritik", die unkritische Religion und Theologie, um ihr Leben zu bringen. Endlich, nachdem die Kritik durch die seit 1843 in Deutschland sich ausbreitenden sozialistischen Gedanken von aller Politik, wenn auch nur scheinbar, erlöst worden ist, wie sie durch die politische Bewegung nach 1840 von ihrer konservativen Politik erlöst wurde, endlich kann sie ihre Schriften gegen die unkritische Theologie für gesellschaftlich erklären und ihre eigne kritische Theologie, den Gegensatz von Geist und Masse, wie die Verkündung des kritischen Heilands und Welterlösers, ungehindert betreiben. Zu unserm Thema zurück! Anerkennung der freien Menschlichkeit? Die „freie Menschlichkeit", deren Anerkennung die Juden nicht zu begehren meinten, sondern wirklich begehrten, ist dieselbe „freie Menschlichkeit", welche ihre klassische Anerkennung in den sogenannten allgemeinen Menschenrechten gefunden hat. Herr Bauer selbst behandelte das Streben der Juden nach Anerkennung ihrer freien Menschlichkeit ausdrücklich als ihr Streben nach dem Empfangen der allgemeinen Menschenrechte. In den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" wurde nun dem Herrn Bauer entwickelt, daß diese „freie Menschlichkeit" und ihre „Anerkennung" nichts anders ist als die Anerkennung des egoistischen, bürgerlichen Individuums und der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche den Inhalt seiner Lebenssituation, den Inhalt des heutigen bürgerlichen Lebens bilden, daß die Menschenrechte den Menschen daher nicht von der Religion befreien, sondern ihm die Religionsfreiheit geben, ihn nicht von dem Eigentum befreien, sondern ihm die Freiheit des Eigentums verschaffen, ihn nicht von dem Schmutz des Erwerbs befreien, sondern ihm vielmehr die Gewerbefreiheit verleihen.
Man zeigte nach, wie die Anerkennung der Menschenrechte durch den modernen Staat keinen andern Sinn hat als die Anerkennung der Sklaverei durch den antiken Staat. Wie nämlich der antike Staat das Sklaventum, so hat der moderne Staat die bürgerliche Gesellschaft zur Naturbasis, sowie den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, a. h. den unabhängigen, nur durch das Band des Privatinteresses und der bewußtlosen Naturnotwendigkeit mit dem Menschen zusammenhängenden Menschen, den Sklaven der Erwerbsarbeit und seines eignen wie des fremden eigennützigen Bedürfnisses. Der moderne Staat hat diese seine Naturbasis als solche anerkannt in den allgemeinen Menschenrechten. Und er schuf sie nicht. Wie er das Produkt der durch ihre eigne Entwickelung über die alten politischen Bande hinausgetriebnen bürgerlichen Gesellschaft war, so erkannte er nun seinerseits die eigne Geburtsstätte und Grundlage durch die Proklamation der Menschenrechte an. Daß die Juden also politisch emanzipiert und daß ihnen die „Menschenrechte" verliehen werden, ist ein sich wechselseitig bedingender Akt. Herr Riesser drückt den Sinn, welchen das Begehren der Juden nach Anerkennung der freien Menschlichkeit hat, richtig aus, wenn er unter andern das freie Gehen, Verweilen, Reisen, Gewerbtreiben und dgl. begehrt. Diese Äußerungen der „freien Menschlichkeit" werden ausdrücklich in der französischen Proklamation der Menschenrechte als solche anerkannt. Der Jude hat ein um so größeres Recht auf diese Anerkennung seiner „freien Menschlichkeit", als die „freie bürgerliche Gesellschaft" durchaus kommerziellen jüdischen Wesens und er von vornherein ihr notwendiges Glied ist. Man entwickelte ferner in den „Deutsch-Franz[ösischen] Jahrbüchern", warum das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft par excellence1 „der Mensch" genannt wird und warum die Menschenrechte „angeborne Rechte" heißen. Die „Kritik" wußte nämlich nichts Kritisches über die Menschenrechte zu sagen, als daß sie nicht angeboren, sondern geschichtlich entstanden sind, was schon Hegel zu sagen wußte. Ihrer Behauptung endlich, daß Juden und Christen, um die allgemeinen Menschenrechte zu verleihen und zu empfangen, das Privilegium des Glaubens aufopfern müßten — der kritische Theologe legt allen Dingen seine einzige fixe Idee unter - stellte man speziell die in allen unkritischen Proklamationen der Menschenrechte vorliegende Tatsache gegenüber, daß das Recht, zu glauben, was man will, das Recht, den Kultus einer beliebigen Religion auszuüben, ausdrücklich als allgemeines Menschenrecht anerkannt ist. Die „Kritik" konnte überdem wissen, daß die Partei Hebert namentlich, unter dem Vorwand eines Angriffs auf die Men
1 vorzugsweise
schenrechte, weil auf die Religionsfreiheit, gestürzt wurde, daß ebenso bei der späteren Wiederherstellung der Kultusfreiheit auf die Menschenrechte provoziert wurde. „Was das politischeWesen betrifft, so folgte die Kritik den Widersprüchen desselben bis zu dem Punkte, wo der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis seit 50 Jahren am gründlichsten durchgearbeitet war - bis zum französischen Repräsentativsystem, wo die Freiheit der Theorie von der Praxis desavouiert wird und die Freiheit des praktischen Lebens in der Theorie vergeblich ihren Ausdruck sucht. Nachdem nun noch die Grundtäuschung aufgehoben war, hätte der Widerspruch, der in den Verhandlungen der französischen Kammer nachgewiesen war, der Widerspruch der freien Theorie und der praktischen Geltung der Privilegien, der gesetzlichen Geltung der Privilegien und eines öffentlichen Zustandes, in welchem der Egoismus des reinen Individuums der privilegierten Abgeschlossenheit Meister zu werden sucht, als ein allgemeiner Widerspruch auf diesem Gebiete gefaßt werden müssen." Der Widerspruch, den die Kritik in den Verhandlungen der französischen Kammer nachwies, war nichts anders als ein Widerspruch des Konstitution nalismus. Hätte sie ihn als allgemeinen Widerspruch gefaßt, so hätte sie den allgemeinen Widerspruch des Konstitutionalismus gefaßt. Wäre sie noch weiter gegangen, als sie nach ihrer Meinung „hätte" gehn „müssen", wäre sie nämlich bis zur Aufhebung dieses allgemeinen Widerspruchs fortgegangen, so wäre sie von der konstitutionellen Monarchie richtig bei dem demokratischen Repräsentativstaat, bei dem vollendeten modernen Staat angekommen. Weit entfernt, das Wesen der politischen Emanzipation kritisiert und sein bestimmtes Verhältnis zum menschlichen Wesen ergründet zu haben, wäre sie erst bei dem Faktum der politischen Emanzipation, bei dem entwickelten modernen Staat angelangt, also erst da, wo die Existenz des modernen Staats seinem Wesen entspricht, wo daher auch die nicht nur relativen, sondern absoluten, die sein Wesen selbst konstituierenden Gebrechen angeschaut und charakterisiert werden können. Die oben zitierte „kritische" Stelle ist um so wertvoller, je mehr sie bis zur Evidenz beweist, daß die Kritik in demselben Augenblicke, wo sie das „politische Wesen * tief unter sich erblickt, vielmehr tief unter ihm steht, im politischen Wesen noch die Auflösung ihrer Widersprüche finden muß und noch immer bei ihrer völligen Gedankenlosigkeit über das moderne Staatsprinzip verharrt. Die Kritik stellte der „freien Theorie" die „praktische Geltung der Privilegien" und der „gesetzlichen Geltung der Privilegien" den „öffentlichenZustand" gegenüber. Um die Meinung der Kritik nicht zu mißdeuten, rufen wir uns den in den französischen Kammerverhandlungen von ihr nachgewiesenen Widerspruch
ins Gedächtnis, denselben Widerspruch, der als ein allgemeiner „hätte gefaßt werden müssen". Es handelte sich unter anderm darum, einen Tag in der Woche zu bestimmen, an welchem die Kinder von der Arbeit befreit bleiben sollten. Der Sonntag wurde als dieser Tag vorgeschlagen. Ein Deputierter trug darauf an, die Erwähnung des Sonntags, als inkonstitutionell, im Gesetz zu unterlassen. Der Minister Martin (du Nord) erblickte in diesem Antrag den Antrag auf die Erklärung, das Christentum habe aufgehört zu existieren. Herr Cremieux erklärte im Namen der französischen Juden, daß die Juden, aus Achtung für die Religion der großen Majorität der Franzosen, nichts gegen die Erwähnung des Sonntags einzuwenden hätten. Nach der freien Theorie nun stehn sich Juden und Christen gleich, nach dieser Praxis besitzen die Christen ein Privilegium vor den Juden, denn wie könnte sonst der christliche Sonntag seine Stelle in einem Gesetze finden, das für alle Franzosen gegeben ist? Und hätte der jüdische Sabbat nicht dasselbe Recht etc.? Oder auch im praktischen französischen Leben, wird der Jude nicht wirklich von christlichen Privilegien unterdrückt, aber das Gesetz wagt diese praktische Gleichheit nicht auszusprechen. Von dieser Art sind alle Widersprüche des politischen Wesens, die Herr Bauer in der Judenfrage entwickelt, Widersprüche des Konstitutionalismus, der im allgemeinen der Widerspruch zwischen dem modernen Repräsentativstaat und dem alten Staat der Privilegien ist. Herr Bauer begeht nun ein sehr gründliches Versehen, wenn er durch die Fassung und Kritik dieses Widerspruchs als eines „allgemeinen" von dem politischen Wesen zum menschlichen Wesen sich zu erheben meint. Er hätte sich nur von der halben zur ganzen politischen Emanzipation, von dem konstitutionellen zum demokratischen Repräsentativstaat erhoben. Herr Bauer glaubt mit der Aufhebung des Privilegiums den Gegenstand des Privilegiums aufzuheben. Er sagt in bezug auf dieÄußerung des Herrn Martin (du Nord):
„Es gibt \eine Religion mehr, wenn es feine privilegierte Religion mehr gibt. Nehmt der Religion ihre ausschließende Kraft, und sie existiert nicht mehr."
Wie aber die Gewerbtätigkeit nicht aufgehoben wird, sobald man die Privilegien der Gewerbe, der Zünfte und Korporationen aufhebt, vielmehr erst nach Aufhebung dieser Privilegien die wirkliche Industrie beginnt: wie das Grundeigentum nicht aufgehoben wird, sobald man den privilegierten Grundbesitz aufhebt, vielmehr erst mit Aufhebung seiner Privilegien, in der freien Parzellierung und der freien Veräußerung, seine universelle Bewegung beginnt: wie der Handel durch die Aufhebung der Handelsprivilegien
nicht aufgehoben, sondern im freien Handel erst wahrhaft verwirklicht wird, so entfaltet sich die Religion in ihrer praktischen Universalität (man denke an die nordamerikanischen Freistaaten) erst da, wo es keine privilegierte Religion gibt. Der moderne „öffentliche Zustand", das ausgebildete moderne Staatswesen, hat nicht, wie die Kritik meint, die Gesellschaft der Privilegien, sondern die Gesellschaft der aufgehobnen und aufgelösten Privilegien, die entwickelte bürgerliche Gesellschaft, worin die in den Privilegien noch politisch gebundenen Lebenselemente freigelassen sind, zugrunde liegen. Keine „privilegierte Abgeschlossenheit" steht hier weder der andern noch dem öffentlichen Zustande gegenüber. Wie die freie Industrie und der freie Handel die privilegierte Abgeschlossenheit und damit den Kampf der privilegierten Abgeschlossenheiten untereinander aufheben, dagegen an ihre Stelle den vom Privilegium - welches von der allgemeinen Gesamtheit abschließt, aber zugleich zu einer kleineren exklusiven Gesamtheit zusammenschließt - losgebundenen, selbst nicht mehr durch den Schein eines allgemeinen Bandes an den andern Menschen geknüpften Menschen setzen und den allgemeinen Kampf von Mann wider Mann, Individuum wider Individuum erzeugen, so ist die ganze bürgerliche Gesellschaft dieser Krieg aller nur mehr durch ihre Individualität voneinander abgeschlossenen Individuen gegeneinander und die allgemeine zügellose Bewegung der aus den Fesseln der Privilegien befreiten elementarischen Lebensmächte. Der Gegensatz von demokratischem Repräsentativstaat und bürgerlicher Gesellschaft ist die Vollendung des klassischen Gegensatzes von öffentlichem Gemeinwesen und Sklaventum. In der modernen Welt ist jeder zugleich Mitglied des Sklaventums und des Gemeinwesens. Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit, weil die scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums, welches die zügellose, nicht mehr von allgemeinen Banden und nicht mehr vom Menschen gebundne Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente, wie z.B. des Eigentums, der Industrie, der Religion etc., für seine eigne Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist. An die Stelle des Privilegiums ist hier das Recht getreten. Also erst hier, wo kein Widerspruch zwischen der freien Theorie und der praktischen Geltung der Privilegien stattfindet, vielmehr die praktische Vernichtung der Privilegien, die freie Industrie, der freie Handel etc. der „freien Theorie" entspricht, wo dem öffentlichen Zustand keine privilegierte Abgeschlossenheit entgegensteht, wo der von der Kritik entwickelte Widerspruch aufgehoben ist, ist das vollendete moderne Staatswesen vorhanden.
Hier herrscht auch gradezu die Umkehrung des Gesetzes, das Herr Bauer, bei Gelegenheit der französischen Kammerdebatten, mit Herrn Martin (du Nord) übereinstimmend ausspricht.
„So gut wie Herr Martin (du Nord) in dem Vorschlag, die Erwähnung des Sonntags im Gesetze zu unterlassen, den Antrag auf die Erklärung sah, daß das Christentum aufgehört habe zu existieren, mit demselben Rechte, und dies Recht ist vollkommen begründet, würde die Erklärung, daß das Sabbatsgesetz für den Juden keine Verbindlichkeit mehr habe, die Proklamation der Auflösung des Judentums sein."
In dem entwickelten modernen Staat verhält es sich grade umgekehrt. Der Staat erklärt, daß die Religion, wie die übrigen bürgerlichen Lebenselemente, erst in ihrem vollen Umfang zu existieren begonnen haben, sobald er sie für unpolitisch erklärt und daher sich selbst überläßt. Der Auflösung ihres politischen Daseins, wie etwa der Auflösung des Eigentums durch die Aufhebung des Wahlzensus, der Auflösung der Religion durch die Aufhebung der Staatskirche, eben dieser Proklamation ihres staatsbürgerlichen Todes entspricht ihr gewaltigstes Leben, das nun ungestört seinen eignen Gesetzen gehorcht und die ganze Breite seiner Existenz auseinanderlegt. Die Anarchie ist das Gesetz der von den gliedernden Privilegien emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft, und die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist die Grundlage des modernen öffentlichen Zustandes, wie der öffentliche Zustand wieder seinerseits die Gewähr dieser Anarchie ist. So sehr sich beide entgegengesetzt sind, so sehr bedingen sie sich wechselseitig. Man sieht, wie weit die Kritik befähigt ist, sich das „Neue" anzueignen. Bleiben wir aber innerhalb der Grenzen der „reinen Kritik" stehen, so fragt es sich, warum hat sie ihren bei Gelegenheit der französischen Kammerdebatten entwickelten Widerspruch nicht als allgemeinen Widerspruch gefaßt, was nach ihrer eignen Meinung „hätte" geschehen „müssen" ?
„Der Schritt war aber damals unmöglich - nicht nur weil ... nicht nur weil ... sondern auch, weil die Kritik ohne diesen letzten Rest innerer Verwickelung mit ihrem Gegensatze unmöglich war und zu dem Punkte, wo nur noch ein Schritt übrigblieb, nicht hätte kommen können."
War unmöglich ... weil... unmöglich war! Die Kritik versichert zudem, daß der verhängnisvolle „eine Schritt" unmöglich war, „um zu dem Punkte, wo nur noch ein Schritt übrigblieb, kommen zu können". Und wer wird es bestreiten? Um zu einem Punkte kommen zu können, wo nur noch „ein Schritt" übrigbleibt, ist es absolut unmöglich, den „einen Schritt" noch zu machen, der über den Punkt hinausführt, hinter welchem noch „ein Schritt" übrigbleibt.
Ende gut, alles gut! Am Schlüsse des Treffens gegen die ihrer „Judenfrage" feindliche Masse gesteht die Kritik, daß ihre Fassung der „Menschenrechte", ihre
„Würdigung der Religion in der französischen Revolution", das „freie politische Wesen, auf welches sie am Schluß ihrer Erörterungen zuweilen hinwies", kurz, die ganze „Zeit der französischen Revolution für die Kritik nichts mehr und nichts minder war als ein Symbol - also nicht genau und im prosaischen Sinne jene Zeit der revolutionären Versuche der Franzosen - ein Symbol, also auch nur ein phantastischer Ausdruck für die Gestalten war, die sie am Ende sah".
Wir wollen der Kritik den Trost nicht rauben, daß, wenn sie sich politisch versündigte, es nur am „Schluß" und am „Ende" ihrer Werke geschah. Ein bekannter Trunkenbold pflegte sich dabei zu beruhigen, daß er nie vor Mitternacht betrunken sei. Auf dem Terrain der „Judenfrage" hat die Kritik unstreitig dem Feinde immer mehr Raum abgewonnen. Nr. 1 der „Judenfrage" war die von Herrn Bauer verteidigte Schrift der Kritik noch absolut und hatte die „Wahre" und „allgemeine" Bedeutung der „Judenfrage" enthüllt. Nr. 2 „wollte und durfte" die Kritik nicht über die Kritik hinausgehen. Nr. 3 hätte sie noch „einen Schritt" machen müssen, aber er war „unmöglich" - weil - „unmöglich". Nicht ihr „Wollen und Dürfen", sondern die Verstrickung in ihrem „Gegensatz" hinderte sie an diesem „einen Schritt". Sie hätte gar zu gern über die letzte Barriere hinübergesetzt, aber unglücklicherweise war ein letzter Rest von Masse an ihren kritischen Meilenstiefeln hängengeblieben.
c) Kritische Schlacht gegen die französische Revolution
Die Beschränktheit der Masse hatte Jen „Geist", die Kritik, Herrn Bauer gezwungen, die französische Revolution nicht für jene Zeit der revolutionären Versuche der Franzosen im „prosaischen Sinne", sondern „nur" für das „Symbol und den phantastischen Ausdruck" seiner eignen kritischen Hirngespinste zu halten. Die Kritik tut Buße für ihr „Versehn", indem sie die Revolution einer neuen Prüfung unterwirft. Sie bestraft zugleich den Verführer ihrer Unschuld - „die Masse", indem sie derselben die Resultate dieser „neuen Prüfung" mitteilt.
„Die französische Revolution war ein Experiment, welches durchaus noch dem achtzehnten Jahrhundert angehörte."
Daß ein Experiment des achtzehnten Jahrhunderts, wie die französische Revolution, durchaus noch ein Experiment des achtzehnten Jahrhunderts ist
und nicht etwa ein Experiment des neunzehnten, diese chronologische Wahrheit scheint „durchaus noch" den Wahrheiten anzugehören, die „sich von vornherein von selber verstehen". Eine solche Wahrheit heißt aber in der Terminologie der Kritik, welche sehr gegen die „sonnenklare" Wahrheit eingenommen ist, eine „Prüfung" und findet daher ihren natürlichen Platz in einer „neuen Prüfung der Revolution".
„Die Ideen, welche die französische Revolution hervorgetrieben hatte, führten aber über den Zustand, den sie mit Gewalt aufheben wollte, nicht hinaus."
Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten. In seinem wörtlichen Sinn ist also der kritische Satz wieder eine Wahrheit, die sich von selbst versteht, also abermals eine Prüfung". Von dieser Prüfung unangefochten, hat die französische Revolution Ideen hervorgetrieben, welche über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung, welche 1789 im Cercle social[42] begann, in der Mitte ihrer Bahn Leclerc und Roux zu ihren Hauptrepräsentanten hatte und endlich mit Babeufs Verschwörung für einen Augenblick unterlag, hatte die kommunistische Idee hervorgetrieben, welche Babeufs Freund, Buonarroti, nach der Revolution von 1830 wieder in Frankreich einführte. Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes.
„Nachdem die Revolution daher (!) die feudalistischen Abgrenzungen innerhalb des Volkslebens aufgehoben hatte, war sie gezwungen, den reinen Egoismus der Nationalität zu befriedigen und selbst anzufeuern, sowie auf der andern Seite durch seine notwendige Ergänzung die Anerkennung eines höchsten Wesens, durch diese höhere Bestätigung des allgemeinen Staatswesens, welches die einzelnen selbstsüchtigen Atome zusammenhalten muß, zu zügeln."
Der Egoismus der Nationalität ist der naturwüchsige Egoismus des allgemeinen Staatswesens, im Gegensatz zum Egoismus der feudalistischen Abgrenzungen. Das höchste Wesen ist die höhere Bestätigung des allgemeinen Staatswesens, also auch der Nationalität. Das höchste Wesen soll nichtsdestoweniger den Egoismus der Nationalität, d. i. des allgemeinen Staatswesens, zügeln! Eine wahrhaft kritische Aufgabe, einen Egoismus durch seine Bestätigung und gar durch seine religiöse Bestätigung, d. h. durch die Anerkennung desselben als eines übermenschlichen und darum auch von menschlichen Zügeln befreiten Wesens zu zügeln! Die Schöpfer des höchsten Wesens wußten nichts von dieser ihrer kritischen Intention.
Herr Buchez, der den Fanatismus der Nationalität auf den Fanatismus der Religion stützt, versteht seinen Helden Robespierre besser. Rom und Griechenland scheiterten an der Nationalität. Die Kritik sagt also nichts Spezifisches über die französische Revolution, wenn sie dieselbe an der Nationalität scheitern läßt. Sie sagt ebensowenig über die Nationalität, wenn sie den Egoismus derselben als rein bestimmt. Dieser reine Egoismus erscheint vielmehr als ein sehr dunkler, mit Fleisch und Blut versetzter, naturwüchsiger Egoismus, wenn man ihn etwa mit dem reinen Egoismus des Fichteschen Ich vergleicht. Ist aber seine Reinheit nur relativ, im Gegensatz zu dem Egoismus der feudalistischen Abgrenzungen, so bedurfte es keiner „neuen Prüfung der Revolution", um zu finden, daß der Egoismus, der eine Nation zum Inhalt hat, allgemeiner oder reiner ist als der Egoismus, der einen besonderen Stand und eine besondere Korporation zum Inhalt hat. Die Aufschlüsse der Kritik über das allgemeine Staatswesen sind nicht minder unterrichtend. Sie beschränken sich darauf, daß das allgemeine Staatswesen die einzelnen selbstsüchtigen Atome zusammenhalten muß. Genau und im prosaischen Sinne zu reden, sind die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft keine Atome. Die charakteristische Eigenschaft des Atoms besteht darin, keine Eigenschaften und darum keine durch seine eigne Naturnotwendigkeit bedingte Beziehung zu andern Wesen außer ihm zu haben. Das Atom ist bedürfnislos, selbstgenügsam; die Welt außer ihm ist die absolute Leere, d. h. sie ist inhaltslos, sinnlos, nichtssagend, eben weil es alle Fülle in sich selbst besitzt. Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner unsinnlichen Vorstellung und unlebendigen Abstraktion zum Atom aufblähen, d. h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen, absolut vollen, seligen Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung, jeder seiner Sinne zwingt es, an den Sinn1 der Welt und der Individuen außer ihm zu glauben, und selbst sein profaner Magen erinnert es täglich daran, daß die Welt außer ihm nicht leer, sondern das eigentlich Erfüllende ist. Jede seiner Wesenstätigkeiten und Eigenschaften, jeder seiner Lebenstriebe wird zum Bedürfiiis, zur Not, die seine Selbstsucht zur Sucht nach andern Dingen und Menschen außer ihm macht. Da aber das Bedürfnis des einen Individuums keinen sich von selbst verstehenden Sinn für das andere egoistische Individuum, das die Mittel, jenes Bedürfnis zu befriedigen, besitzt, also keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Befriedigung hat, so muß jedes Individuum diesen Zusammenhang schaffen, indem es gleichfalls zum Kuppler zwischen dem
1 soll wahrscheinlich heißen: an das Sein
fremden Bedürfnis und den Gegenständen dieses Bedürfnisses wird. Die Naturnotwendigkeit also, die menschlichen Wesenseigenschaften, so entfremdet sie auch erscheinen mögen, das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band. Nicht also der Staat hält die Atome der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, sondern dies, daß sie Atome nur in der Vorstellung sind, im Himmel ihrer Einbildung - in der Wirklichkeit aber gewaltig von den Atomen unterschiedene Wesen, nämlich keine göttliche Egoisten, sondern egoistische Menschen. Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.
s,Robespierres und Saint-Justs kolossale Idee, ein ,freies Volk zu bilden, welches nur nach den Regeln der Gerechtigkeit und Tugend lebt - siehe zum Beispiel SaintJusts Bericht über Dantons Verbrechen und den andern über die allgemeine Polizei konnte sich nur durch den Schrecken für einige Zeit halten und war ein Widerspruch, gegen welchen die gemeinen und selbstsüchtigen Elemente des Volkswesens in der feigen und heimtückischen Weise reagierten, die von ihnen nur zu erwarten war."
Diese absolut-kritische Phrase, welche ein „freies Volk" als einen „Wider* Spruch" charakterisiert, gegen welchen die Elemente des „Volkswesens" reagieren müssen, ist so absolut hohl, daß Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend in Robespierres und Saint-Justs Sinne vielmehr nur Lebensäußerungen eines „ Volkes" und nur Eigenschaften des „Volkswesens" sein können. Robespierre und Saint-Just sprechen ausdrücklich von der antiken, nur dem „Volkswesen" angehörigen „Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend". Spartaner, Athener, Römer zur Zeit ihrer Größe sind „freie, gerechte, tugendhafte Völker".
„Welches", fragt Robespierre in der Rede über die Prinzipien der öffentlichen Moral (Sitzung des Konvents vom 5. Februar 1794) - „welches ist das Grundprinzip des demokratischen oder populären Gouvernements? Die Tugend. Ich spreche von der öffentlichen Tugend, welche so große Wunder in Griechenland und Rom bewirkte und welche noch bewundrungswürdigere in dem republikanischen Frankreich bewirken wird; von der Tugend, welche nichts anderes ist als die Liebe des Vaterlandes und seiner Gesetze."
Robespierre bezeichnet sodann ausdrücklich Athener und Spartaner als „peuples libres"1. Er ruft beständig das antike Volkswesen ins Gedächtnis und zitiert seine Heroen wie seine Verderber - Lykurg, Demosthenes, Miltiades, Aristides, Brutus und Catilina, Cäsar, Clodius, Pison.
1 freie Völker
Saint- Just in dem Bericht über Dantons Verhaftung - worauf die Kritik verweist — sagt ausdrücklich: „Die Welt ist leer seit den Römern, und nur die Erinnerung an sie erfüllt sie und prophezeit noch die Freiheit."
Seine Anklage ist in antiker Weise gegen Danton als einen Catilina gerichtet. In dem andern Bericht Saint- Justs über die allgemeine Polizei wird der Republikaner ganz im antiken Sinn, unbeugsam, frugal, einfach usw. geschildert. Die Polizei soll dem Wesen nach ein der römischen Zensur entsprechendes Institut sein. — Codrus, Lykurg, Cäsar, Cato, Catilina, Brutus, Antonius, Cassius fehlen nicht. Endlich charakterisiert Saint- Just die „Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend", die er verlangt, mit einem Worte, wenn er sagt: „Que les hommes revolutionnaires soient des Romains."1
Robespierre, Saint-Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das antike, realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der Grundlage des wirklichen Sklaventums ruhte, mit dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat, welcher auf dem emanzipierten Sklaventum, der bürgerlichen Gesellschaft, beruht, verwechselten. Welche kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität — in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen! Tragisch erscheint diese Täuschung, wenn Saint-Just am Tage seiner Hinrichtung auf die im Saale der Conciergerie hängende große Tabelle der Menschenrechte hinwies und mit stolzem Selbstgefühl äußerte: „C'est pourtant moi qui ai fait cela."2 Eben diese Tabelle proklamierte das Recht eines Menschen, der nicht der Mensch des antiken Gemeinwesens sein kann, so wenig als seine nationalökonomischen und industriellen Verhältnisse die antiken sind. Eis ist hier nicht der Ort, die Täuschung der Terroristen geschichtlich zu rechtfertigen.
„Nach dem Sturz Robespierres eilte die politische Aufklärung und Bewegung dem Punkte zu, wo sie die Beute Napoleons wurde, der nicht lange Zeit nach dem
1 „Daß die revolutionären Menschen Römer S616I1* "" 99 Und doch war ich es, der das gemacht hat."
9 Marx/Engels, Werke, Bd. 2
18. Brumaire sagen konnte: ,Mit meinen Präfekten, Gendarmen und Geistlichen kann ich mit Frankreich machen, was ich will.'" Die profane Geschichte belichtet dagegen: Nach dem Sturz Robespierres beginnt die politische Aufklärung, die sich selbst hatte überbieten wollen, die überschwenglich gewesen war, erst, sich prosaisch zu verwirklichen. Unter der Regierung des Direktoriums^ bricht die bürgerliche Gesellschaft — die Revolution selbst hatte sie von den feudalen Banden befreit und offiziell anerkannt, so sehr der Terrorismus sie einem antik-politischen Leben aufopfern wollte in gewaltigen Lebensströmungen hervor. Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des neuen bürgerlichen Lebens, dessen erster Selbstgenuß noch keck, leichtsinnig, frivol, berauschend ist; wirkliche Aufklärung des französischen Grund und Bodens, dessen feudale Gliederung der Hammer der Revolution zerschlagen hatte und welchen nun die erste Fieberhitze der vielen neuen Eigentümer einer allseitigen Kultur unterwirft; erste Bewegungen der freigewordenen Industrie das sind einige von den Lebenszeichen der neuentstandnen bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft wird positiv repräsentiert durch die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie beginnt also ihr Regiment. Die Menschenrechte hören auf, bloß in der Theorie zu existieren. Was am 18.Brumaire die Beute Napoleons wurde, war nicht, wie die Kritik einem Herrn von Rotteck und Welcker getreulichst glaubt, die revolutionäre Bewegung überhaupt, es war die liberale Bourgeoisie. Man hat nur die Reden der damaligen Gesetzgeber zu lesen, um sich davon zu überzeugen. Man glaubt aus dem Nationalkonvent in eine heutige Deputiertenkammer versetzt zu sein. Napoleon war der letzte Kampf des revolutionären Terrorismus gegen die gleichfalls durch die Revolution proklamierte bürgerliche Gesellschaft und deren Politik. Napoleon besaß allerdings schon die Einsicht in das Wesen des modernen Staats, daß derselbe auf der ungehinderten Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft, auf der freien Bewegung der Privatinteressen etc. als seiner Grundlage ruhe. Er entschloß sich, diese Grundlage anzuerkennen und zu beschützen. Er war kein schwärmerischer Terrorist. Aber Napoleon betrachtete zugleich noch den Staat als Selbstzweck und das bürgerliche Leben nur als Schatzmeister und als seinen Subalternen, der keinen Eigenwillen haben dürfe. Er vollzog den Terrorismus, indem er an die Stelle der permanenten Revolution den permanenten Krieg setzte. Er befriedigte bis zur vollen Sättigung den Egoismus der französischen Nationalität, aber er verlangte auch das Opfer der bürgerlichen Geschäfte, [des] Genusses, Reichtums etc., sooft es der politische Zweck der Eroberung erheischte. Wenn er den Liberalismus
der bürgerlichen Gesellschaft - den politischen Idealismus ihrer alltäglichen Praxis - despotisch unterdrückte, so schonte er nicht mehr ihre wesentlichsten materiellen Interessen, Handel und Industrie, sooft sie mit seinen politischen Interessen in Konflikt gerieten. Seine Verachtung der industriellen hommes d'affaires1 war die Ergänzung zu seiner Verachtung der Ideologen. Auch nach innen hin bekämpfte er in der bürgerlichen Gesellschaft den Gegner des in ihm noch als absoluter Selbstzweck geltenden Staats. So erklärte er im Staatsrat, er werde nicht dulden, daß der Besitzer umfangreicher Ländereien sie nach Belieben bebaue oder nicht bebaue. So faßte er den Plan, durch Aneignung der Roulage2 den Handel dem Staat zu unterwerfen. Französische Handelsleute bereiteten auf das Ereignis vor, welches Napoleons Macht zuerst erschütterte. Pariser Agioteurs zwangen ihn durch eine künstlich geschaffene Hungersnot, die Eröffnung des russischen Feldzugs beinahe um zwei Monate aufzuschieben und daher in eine zu weit vorgerückte Jahreszeit zu verlegen. Wie der liberalen Bourgeoisie in Napoleon noch einmal der revolutionäre Terrorismus gegenübertrat, so trat ihr in der Restauration, in den Bourbonen, noch einmal die Konterrevolution gegenüber. Endlich verwirklichte sie in dem Jahre 1830 ihre Wünsche vom Jahre 1789, nur mit dem Unterschied, daß ihre politische Aufklärung nun vollendet war, daß sie in dem konstitutionellen Repräsentativstaat nicht mehr das Ideal des Staates, nicht mehr das Heil der Welt und allgemein menschliche Zwecke zu erstreben meinte, sondern ihn vielmehr als den offiziellen Ausdruck ihrer ausschließlichen Macht und als die politische Anerkennung ihres besondern Interesses erkannt hatte. Die Lebensgeschichte der französischen Revolution, die von 1789 her datiert, ist mit dem Jahre 1830, wo eins ihrer Momente, nun bereichert mit dem Bewußtsein seiner sozialen Bedeutung, den Sieg davontrug, noch nicht beendigt.
d) Kritische Schlacht gegen den französischen Materialismus
„Der Spinozismus hatte das 18. Jahrhundert beherrscht, sowohl in seiner französischen Weiterbildung, die die Materie zur Substanz machte, wie im Theismus, der die Materie mit einem geistigeren Namen belegte ... Spinozas französische Schule und die Anhänger des Theismus waren nur zwei Sekten, die sich über den wahren Sinn seines Systems stritten ... Das einfache Schicksal dieser Aufklärung war ihr Untergang in der Romantik, nachdem sie sich der Reaktion, die seit der französischen Bewegung begann, hatte gefangengeben müssen."
1 Geschäftsleute - 2 des Frachtverkehrs
Soweit die Kritik. Wir werden der kritischen Geschichte des französischen Materialismus seine profane, massenhafte Geschichte in einer kurzen Skizze gegenüberstellen. Wir werden die Kluft zwischen der Geschichte, wie sie sich wirklich zugetragen hat, und zwischen der Geschichte, wie sie sich zuträgt nach dem Dekret der „absoluten Kritik", der gleichmäßigen Schöpferin des Alten wie des Neuen, ehrfurchtsvoll anerkennen. Wir werden endlich, den Vorschriften der Kritik gehorchend, das „Warum?", „Woher?" und „Wohin?" der kritischen Geschichte zum „Gegenstand eines anhaltenden Studiums machen". „Genau und im prosaischen Sinne zu reden", war die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts und namentlich der französische Materialismus nicht nur ein Kampf gegen die bestehenden politischen Institutionen, wie gegen die bestehende Religion und Theologie, sondern ebensosehr ein offener, ein ausgesprochener Kampf gegen die Metaphysik, des siebzehnten Jahrhunderts und gegen alle Metaphysik, namentlich gegen die des Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz. Man stellte die Philosophie der Metaphysik gegenüber, wie Feuerbach bei seinem ersten entschiedenen Auftreten wider Hegel der trunkenen Spekulation die nüchterne Philosophie gegenüberstellte. Die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, welche von der französischen Aufklärung und namentlich von dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts aus dem Felde geschlagen war, erlebte ihre siegreiche und gehaltvolle Restauration in der deutschen Philosophie und namentlich in der spekulativen deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Nachdem Hegel sie auf eine geniale Weise mit aller seitherigen Metaphysik und dem deutschen Idealismus vereint und ein metaphysisches Universalreich gegründet hatte, entsprach wieder, wie im 18. Jahrhundert, dem Angriff auf die Theologie der Angriff auf die spekulative Metaphysik und auf alle Metaphysik. Sie wird für immer dem nun durch die Arbeit der Spekulation selbst vollendeten und mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus erliegen. Wie aber Feuerbach auf theoretischem Gebiete, stellte der französische und englische Sozialismus und Kommunismus auf praktischem Gebiete den mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus dar. „Genau und im prosaischen Sinne zu reden", gibt es zwei Richtungen des französischen Materialismus, wovon die eine ihren Ursprung von Descartes, die andre ihren Ursprung von Locke herleitet. Der letztere ist vorzugsweise ein französisches Bildungselement und mündet direkt in den Sozialismus. Der erstere, der mechanische Materialismus, verläuft sich in die eigentliche französische Naturwissenschaft. Beide Richtungen durchkreuzen sich im Lauf der
Entwicklung. Auf den direkt von Descartes herdatierenden französischen Materialismus haben wir nicht näher einzugehen, so wenig als auf die französische Schule des Newton und auf die Entwicklung der französischen Naturwissenschaft überhaupt. Daher nur soviel: In seiner Physik hatte Descartes der Materie selbstschöpferische Kraft verliehen und die mechanische Bewegung als ihren Lebensakt gefaßt. Er hatte seine Physik vollständig von seiner Metaphysik getrennt. Innerhalb seiner Physik ist die Materie die einzige Substanz, der einzige Grund des Seins und des Erkennens. Der mechanische französische Materialismus schloß sich der Physik des Descartes im Gegensatz zu seiner Metaphysik an. Seine Schüler waren Antimetaphysiker von Profession, nämlich Physiker. Mit dem Arzte LeRoy beginnt diese Schule, mit dem Arzte Cabanis erreicht sie ihren Höhepunkt, der Arzt La Mettrie ist ihr Zentrum. Descartes lebte noch, als Le Roy die kartesische Konstruktion des Tieres - wie ähnlich im 18. Jahrhundert La Mettrie — auf die menschliche Seele übertrug, die Seele für einen Modus des Körpers und die Ideen für mechanische Bewegungen erklärte. Le Roy glaubte sogar, Descartes habe seine wahre Meinung verheimlicht. Descartes protestierte. Am Ende des 18. Jahrhunderts vollendete Cabanis den kartesischen Materialismus in seiner Schrift „Rapports du physique et du moral de Vhomme" .[45] Der k^tesische Materialismus existiert bis auf den heutigen Tag in Frankreich. Er hat seine großen Erfolge in der mechanischen Naturwissenschaft, der man die Romantik, genau und im prosaischen Sinn zu reden, am allerwenigsten vorwerfen wird. Die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, für Frankreich namentlich durch Descartes repräsentiert, hatte von ihrer Geburtsstunde an den Materialismus zum Antagonisten. Persönlich trat er dem Descartes in der Gestalt des Gassendi, dem Wiederhersteller des epikureischen Materialismus, gegenüber. Der französische und englische Materialismus blieb immer in einem innigen Verhältnis zu Demokrit und Epikur. Einen andern Gegensatz hatte die kartesische Metaphysik an dem englischen Materialisten Hobbes. Gassendi und Hobbes besiegten lange nach ihrem Tode ihren Gegner in demselben Augenblicke, wo dieser als die offizielle Macht schon in allen französischen Schulen herrschte. Voltaire hat bemerkt, daß die Indifferenz der Franzosen des 18. Jahrhunderts gegen die jesuitischen und jansenistischenStreitigkeiten weniger durch die Philosophie als durch die Lawschsn Finanzspekulationen
herbeigeführt wurde. So kann man den Sturz der Metaphysik des 17. Jahrhunderts nur insofern aus der materialistischen Theorie des 18. Jahrhunderts erklären, als man diese theoretische Bewegung selbst aus der praktischen Gestaltung des damaligen französischen Lebens erklärt. Dieses Leben war auf die unmittelbare Gegenwart, auf den weltlichen Genuß und die weltlichen Interessen, auf die irdische Welt gerichtet. Seiner antitheologischen, antimetaphysischen, seiner materialistischen Praxis mußten antitheologische, antimetaphysische, materialistische Theorien entsprechen. Die Metaphysik hatte praktisch allen Kredit verloren. Wir haben hier nur den theoretischen Verlauf kurz anzudeuten. Die Metaphysik war im 17. Jahrhundert (man denke an Descartes, Leib» niz etc.) noch versetzt mit positivem, profanem Gehalte. Sie machte Entdeckungen in der Mathematik, Physik und andern bestimmten Wissenschaften, die ihr anzugehören schienen. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts war dieser Schein vernichtet. Die positiven Wissenschaften hatten sich von ihr getrennt und selbständige Kreise gezogen. Der ganze metaphysische Reichtum bestand nur noch in Gedankenwesen und himmlischen Dingen, grade als die realen Wesen und die irdischen Dinge alles Interesse in sich zu konzentrieren begannen. Die Metaphysik war fad geworden. In demselben Jahre, wo die letzten großen französischen Metaphysiker des ^.Jahrhunderts, Malebranche und Arnauld, starben, wurden Helvetius und Condillac geboren. Der Mann, der die Metaphysik des 17. Jahrhunderts und alle Metaphysik theoretisch um ihren Kredit brachte, war Pierre Bayle. Seine Waffe war der Skeptizismus, geschmiedet aus den metaphysischen Zauberformeln selber. Er selbst ging zunächst aus von der kartesischen Metaphysik. Wie Feuerbach durch die Bekämpfung der spekulativen Theologie zur Bekämpfung der spekulativen Philosophie fortgetrieben wurde, eben weil er die Spekulation als die letzte Stütze der Theologie erkannte, weil er die Theologen zwingen mußte, von der Scheinwissenschaft zu dem rohen, widerlichen Glauben zurückzuflüchten, so trieb der religiöse Zweifel den Bayle zum Zweifel an der Metaphysik, welche diesen Glauben stützte. Er unterwarf daher die Metaphysik in ihrem ganzen geschichtlichen Verlauf der Kritik. Er wurde ihr Geschichtschreiber, um die Geschichte ihres Todes zu schreiben. Er widerlegte vorzugsweise den Spinoza und Leibniz. Pierre Bayle bereitete nicht nur dem Materialismus und der Philosophie des gesunden Menschenverstandes ihre Aufnahme in Frankreich durch die skeptische Auflösung der Metaphysik vor. Er kündete die atheistische Gesellschaft, welche bald zu existieren beginnen sollte, durch den Beweis an, daß
eine Gesellschaft von lauter Atheisten existieren, daß ein Atheist ein ehrbarer Mensch sein könne, daß sich der Mensch nicht durch den Atheismus, sondern durch den Aberglauben und den Götzendienst herabwürdige. Pierre Bayle war nach dem Ausdruck eines französischen Schriftstellers „der letzte der Metaphysiker im Sinne des 17. und der erste der Philosophen im Sinne des 18. Jahrhunderts". Außer der negativen Widerlegung der Theologie und der Metaphysik des 17. Jahrhunderts bedurfte man eines positiven, antimetaphysischen Systems. Man bedurfte eines Buches, welches die damalige Lebenspraxis in ein System brachte und theoretisch begründete. Lockes Schrift über den „Ursprung des menschlichen Verstandes" kam wie gerufen von jenseits des Kanals. Es wurde enthusiastisch als ein sehnlichst erwarteter Gast empfangen. Es fragt sich: Ist Locke etwa ein Schüler des Spinoza? Die „profane" Geschichte mag antworten: Der Materialismus ist der eingeborne Sohn Großbritanniens. Schon sein Scholastiker Duns Scotus fragte sich, „ob die Materie nicht denken könne". Um dies Wunder zu bewerkstelligen, nahm er zu Gottes Allmacht seine Zuflucht, d. h. er zwang die Theologie selbst, den Materialismus zu predigen. Er war überdem Nominalist. Der Nominalismus findet sich als ein Hauptelement bei den englischen Materialisten, wie er überhaupt der erste Ausdruck des Materialismus ist. Der wahre Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft ist Baco. Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die sinnliche Physik als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft. Anaxagoras mit seinen Homoiomerien und Demokrit mit seinen Atomen sind häufig seine Autoritäten. Nach seiner Lehre sind die Sinne untrüglich und die Quelle aller Kenntnisse. Die Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft und besteht darin, eine rationelle Methode auf das sinnlich Gegebene anzuwenden. Induktion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode. Unter den der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen - der Materie. Die primitiven Formen der letztern sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede produzierende Wesenskräfte. In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glänze den ganzen Menschen an. Die
aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen. In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert; die Geometrie wird als die Hauptwissenschaft proklamiert. Der Materialismus wird menschenfeindlich. Um den menschenfeindlichen, fleischlosen Geist auf seinem eignen Gebiet überwinden zu können, muß der Materialismus selbst sein Fleisch abtöten und zum Asketen werden. Er tritt auf als ein Verstandeswesen, aber er entwickelt auch die rücksichtslose Konsequenz des Verstandes. Wenn die Sinnlichkeit alle Kenntnisse den Menschen liefert, demonstriert Hobbes, von Baco ausgehend, so sind Anschauung, Gedanke, Vorstellung etc. nichts als Phantome der mehr oder minder von ihrer sinnlichen Form entkleideten Körperwelt. Die Wissenschaft kann diese Phantome nur benennen. Ein Name kann auf mehrere Phantome angewandt werden. Es kann sogar Namen von Namen geben. Es wäre aber ein Widerspruch, einerseits alle Ideen ihren Ursprung in der Sinnenwelt finden zu lassen und andrerseits zu behaupten, daß ein Wort mehr als ein Wort sei, daß es außer den vorgestellten, immer einzelnen Wesen noch allgemeine Wesen gebe. Eine unkörperliche Substanz ist vielmehr derselbe Widerspruch wie ein unkörperlicher Körper. Körper, Sein, Substanz ist eine und dieselbe reelle Idee. Man kann den Gedanken nicht von einer Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller Veränderungen. Das Wort unendlich ist sinnlos, wenn es nicht die Fähigkeit unseres Geistes bedeutet, ohne Ende hinzuzufügen. Weil nur das Materielle wahrnehmbar, wißbar ist, so weiß man nichts von Gottes Existenz. Nur meine eigne Existenz ist sicher. Jede menschliche Leidenschaft ist eine mechanische Bewegung, die endet oder anfängt. Die Objekte der Triebe sind das Gute. Der Mensch ist denselben Gesetzen unterworfen wie die Natur. Macht und Freiheit sind identisch. Hobbes hatte den Baco systematisiert, aber sein Grundprinzip, denUrsprung der Kenntnisse und Ideen aus der Sinnenwelt, nicht näher begründet. Locke begründet das Prinzip des Baco und Hobbes in seinem Versuch über den Ursprung des menschlichen Verstandes. Wie Hobbes die theistischen Vorurteile des baconischen Materialismus vernichtete, so Collins, Dodwell, Coward, Hartley, Priestley etc. die letzte theologische Schranke des Lockeschen Sensualismus. Mehr als eine bequeme und nachlässige Weise, die Religion loszuwerden, ist der Deismus wenigstens für den Materialisten nicht.
Wir haben schon erwähnt, wie gelegen Lockes Werk den Franzosen kam. Locke hatte die Philosophie des bon sens, des gesunden Menschenverstandes, begründet, d. h. auf einem Umweg gesagt, daß es keine von den gesunden menschlichen Sinnen und dem auf ihnen basierenden Verstand unterschiedne Philosophie gebe. Der unmittelbare Schüler und französische Dolmetscher Lockes, Condiüac, richtete den Lockeschen Sensualismus sogleich gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts. Er bewies, daß die Franzosen dieselbe mit Recht als ein bloßes Machwerk der Einbildungskraft und theologischer Vorurteile verworfen hätten. Er publizierte eine Widerlegung der Systeme von Descartes, Spinoza, Leibniz und Malebranche. In seiner Schrift „L'essai sur l'origine des connaissances humaines" führte er Lockes Gedanken aus und bewies, daß nicht nur die Seele, sondern auch die Sinne, nicht nur die Kunst, Ideen zu machen, sondern auch die Kunst der sinnlichen Empfindung Sache der Erfahrung und Gewohnheit sei. Von der Erziehung und den äußeren Umständen hängt daher die ganze Entwicklung des Menschen ab. Condillac ist erst durch die eklektische Philosophie aus den französischen Schulen verdrängt worden. Der Unterschied des französischen und englischen Materialismus ist der Unterschied beider Nationalitäten. Die Franzosen begaben den englischen Materialismus mit Esprit, mit Fleisch und Blut, mit Beredsamkeit. Sie verleihen ihm das noch fehlende Temperament und die Grazie. Sie zivilisie~ ren ihn. In Helvetius, der ebenfalls von Locke ausgeht, empfängt der Materialismus den eigentlich französischen Charakter. Er faßt ihn sogleich in bezug auf das gesellschaftliche Leben. (Helvetius, „De Thomme"[47].) Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuß und das wohlverstandne persönliche Interesse sind die Grundlage aller Moral. Die natürliche Gleichheit der menschlichen Intelligenzen, die Einheit zwischen dem Fortschritt der Vernunft und dem Fortschritt der Industrie, die natürliche Güte des Menschen, die Allmacht der Erziehung sind Hauptmomente seines Systems. Eine Vereinigung zwischen dem kartesischen und dem englischen Materialismus findet sich in den Schriften La Mettries. Er benutzt die Physik des Descartes bis ins einzelne. Sein „L'homme machine"t48] ist eine Ausführung nach dem Muster der Tier-Maschine des Descartes. In dem „Systeme de la nature"[49-1 von Holbach besteht der physische Teil ebenfalls aus der Verbindung des französischen und englischen Materialismus, wie der moralische Teil wesentlich auf der Moral des Helvetius beruht. Der französische Materialist, der noch am meisten mit der Metaphysik in Verbindung steht und
dafür auch von Hegel belobt wird, Robinet („De la nature"), bezieht sich ausdrücklich auf Leibniz. Von Volney, Dupuis, Diderot etc. brauchen wir nicht zu reden, so wenig wie von den Physiokraten, nachdem wir die doppelte Abstammung des französischen Materialismus von der Physik des Descartes und von dem englischen Materialismus, wie den Gegensatz des französischen Materialismus gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, gegen die Metaphysik des Descartes, Spinoza, Malebranche und Leibniz bewiesen haben. Dieser Gegensatz konnte den Deutschen erst sichtbar werden, seitdem sie selber im Gegensatz zur spekulativen Metaphysik stehn. Wie der k^rtesische Materialismus in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andre Richtung des französischen Materialismus direkt in den Sozialismus und Kommunismus. Es bedarf keines großen Scharfsinnes, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflüsse der äußern Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch erfährt. Wenn das wohlverstandne Interesse das Prinzip aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privatinteresse des Menschen mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt. Wenn der Mensch unfrei im materialistischen Sinne, d. h. frei ist, nicht durch die negative Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so muß man nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen. Diese und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich selbst in den ältesten französischen Materialisten. EU ist hier nicht der Ort, sie zu beurteilen. Bezeichnend für die sozialistische Tendenz des Materialismus ist Mandevilles, eines älteren englischen Schülers von Locke, Apologie der Laster. Er beweist,
daß die Laster in der heutigen Gesellschaft unentbehrlich und nützlich sind. Es war dies keine Apologie der heutigen Gesellschaft. Fourier geht unmittelbar von der Lehre der französischen Materialisten aus. Die Babouvisten waren rohe, unzivilisierte Materialisten, aber auch der entwickelte Kommunismus datiert direkt von dem französischen Materialismus. Dieser wandert nämlich in der Gestalt, die ihm Helvetius gegeben hat, nach seinem Mutterlande, nach England, zurück. Bentham gründet auf die Moral des Helvetius sein System des wohlverstandnen Interesses, wie Owen, von dem System Benthams ausgehend, den englischen Kommunismus begründet. Nach England verbannt, wird der Franzose Cabet von den dortigen kommunistischen Ideen angeregt und kehrt nach Frankreich zurück, um hier der populärste, wenn auch flachste Repräsentant des Kommunismus zu werden. Die wissenschaftlicheren französischen Kommunisten, Dezamy, Gay etc., entwickeln, wie Owen, die Lehre des Materialismus als die Lehre des realen Humanismus und als die logische Basis des Kommunismus. Wo hat nun Herr Bauer oder die Kritik die Aktenstücke zur kritischen Geschichte des französischen Materialismus sich zu verschaffen gewußt? 1. Hegels „Geschichte der Philosophie" stellt den französischen Materialismus als Realisierung der spinozistischen Substanz dar, was jedenfalls ungleich verständiger ist als die „französische Schule des Spinoza". 2. Herr Bauer hatte aus der Hegeischen „Geschichte der Philosophie" sich den französischen Materialismus als Schule des Spinoza herausgelesen. Fand er nun in einem andern Werke Hegels, daß Deismus und Materialismus zwei Parteien eines und desselben Grundprinzips seien, so hatte Spinoza zwei Schulen, die sich über den Sinn seines Systems stritten. Herr Bauer konnte den gedachten Aufschluß finden in Hegels „Phänomenologie". Hier heißt es wörtlich:
„Über jenes absolute Wesen gerät die Aufklärung selbst mit sich in Streit ... und teilt sich in zwei Parteien ... die eine ... nennt jenes prädikatlose Absolute ... das höchste absolute Wesen ... die andre nennt es Materie ... beides ist derselbe Begriff, der Unterschied liegt nicht in der Sache, sondern rein nur in dem verschiednen Ausgangspunkt der beiden Bildungen." (Hegels „Phänomenologie", p. 420, 421, 422.)
3. Endlich konnte Herr Bauer wieder in Hegel finden, daß die Substanz, wenn sie nicht zum Begriff und Selbstbewußtsein fortgehet, sich in die „Romantik" verläuft. Ähnliches haben zu ihrer Zeit die „Hallischen Jahrbücher" [37] entwickelt. Um jeden Preis aber mußte der „Geist" über seinen „Widersacher", den Materialismus, ein „einfältiges Schicksal" verhängen.
Anmerkung. Der Zusammenhang des französischen Materialismus mit Descartes und Locke und der Gegensatz der Philosophie des 18. Jahrhunderts gegen die Metaphysik des 17. Jahrhunderts sind in den meisten neueren französischen Geschichten der Philosophie ausführlich dargestellt. Wir hatten hier, der kritischen Kritik gegenüber, nur Bekanntes zu wiederholen. Dagegen bedarf der Zusammenhang des Materialismus des 18. Jahrhunderts mit dem englischen und französischen Kommanismus des ^.Jahrhunderts noch einer ausführlichen Darstellung. Wir beschränken uns hier darauf, aus Helvetius, Holbach und Bentham einige wenige prägnante Stellen zu zitieren.
1 .Helvetius: „Die Menschen sind nicht bös, aber ihren Interessen unterworfen. Man muß also nicht über die Bösartigkeit der Menschen klagen, sondern über die Unwissenheit der Gesetzgeber, welche das besondere Interesse immer in Gegensatz gegen das allgemeine Interesse gestellt haben." -„Die Moralisten haben bisher keinen Erfolg gehabt, weil man in der Gesetzgebung wühlen muß, um die schöpferische Wurzel der Laster auszureißen. In New-Orleans dürfen die Frauen ihre Männer verstoßen, sobald sie ihrer müde sind. In solchen Ländern findet man keine falschen Frauen, weil sie kein Interesse haben, es zu sein." - „Die Moral ist eine nur frivole Wissenschaft, wenn man sie nicht mit der Politik und Gesetzgebung vereint." - „Die heuchlerischen Moralisten erkennt man einerseits an der Gleichgültigkeit, womit sie die Laster betrachten, welche die Reiche auflösen, und andrerseits an dem Jähzorn, womit sie gegen Privatlaster toben." - „Die Menschen sind weder gut noch böse geboren, aber bereit, das eine oder das andre zu sein, je nachdem ein gemeinschaftliches Interesse sie vereinigt oder scheidet." - „Wenn die Staatsbürger ihr besonderes Wohl nicht bewirken könnten, ohne das allgemeine Wohl zu bewirken, so gäbe es keine Lasterhaften als die Narren." („De l'esprit", Paris 1822, I[50], p. 117, 240, 241, 249, 251, 339 u. 369.) - Wie nach Helvetius die Erziehung, worunter er (cf. 1. c., p. 390) nicht nur die Erziehung im gewöhnlichen Sinn, sondern die Gesamtheit der Lebensverhältnisse eines Individuums versteht, den Menschen bildet, wenn eine Reform nötig ist, welche den Widerspruch zwischen dem besonderen Interesse und dem gemeinschaftlichen Interesse aufhebt, so bedarf er andrerseits zur Durchführung solcher Reform eine Umwandlung des Bewußtseins: „Man kann die großen Reformen nur dadurch bewerkstelligen, daß man die stupide Verehrung der Völker für die alten Gesetze und Gewohnheiten schwächt" (p. 260 1. c.) oder, wie er anderwärts sagt, die Unwissenheit aufhebt.
2. Holbach. „Ce n'est que lui-meme que l'homme peut aimer dans les objets qu'il aime: ce n'est que lui-meme qu'il peut affectionner dans les etres de son espece." „L'homme ne peut jamais se separer de lui-meme dans aucun instant de sa vie: il ne peut se perdre de vue. „C est toujours notre utilite, notre interet ... qui nous fait hair ou aimer les objets"1 („Systeme social", t. I.Paris 1822, p. 80, 112), aber: „L'homme
1 „Nur sich selbst kann der Mensch lieben in den Gegenständen seiner Liebe; nur für sich selbst empfindet er Zuneigung in den Wesen seiner Gattung." „Der Mensch kann sich in keinem Augenblick seines Lebens jemals von sich selbst lösen; er kann sich nicht aus den Augen verlieren." „Immer ist es unser Nutzen, unser Interesse ... die uns die Gegenstände hassen oder lieben machen."
pour son propre interet doit aimer les autres hommes puisqu'ils sont necessaires ä son bien-etre ... La morale lui prouve, que de tous les etres le plus nicessaire ä l'homme cest 1'homme.'11 (p. 76.) „La vraie morale, ainsi que la vraie politique, est celle qui cherche ä approcher les hommes, afin de les faire travailler par des efforts reunis ä leur bonheur mutuel. Toute morale qui separe nos interets de ceux de nos associes est fausse, insensee, contraire a la nature."2(p. 116.) „Aimer les autres ... c'est confondre nos interets avec ceux de nos associes, afin de travailler ä 1'utilite commune ... La vertu n'est que Vutilite des hommes reunis en societe"3 (p. 77). „Un homme sans passions ou sans desirs cesserait d'etre un homme ... Parfaitement detache de lui-meme, comment pourrait-on le determiner a s'attacher ä d'autres? Un homme, indifferent pour tout, prive de passions, qui se suffirait ä lui-meme, ne serait plus un etre sociable ... La vertu n'est que la communication du bien.Ui (1. c., p. 118.) „La morale religieuse ne servit jamais a rendre les mortels plus sociables."5 (p. 36.1. c.)
3. Bentham. Wir zitieren aus Bentham nur eine Stelle, worin er das „interet general6 im politischen Sinn" bekämpft. „L'interet des individus ... doit ceder a l'interet public. Mais ... qu'est-ce que cela signifie? Chaque individu n'est-il pas partie du public autant que chaque autre? Cet interet public, que vous personnifiez, n'est qu'un terme abstrait: il ne represente que la masse des interets individuels ... S'il etait bon de sacrifier la fortune d'un individu pour augmenter celle des autres, il serait encore mieux d en sacrifier un second, un troisieme, sans qu'on puisse assigner aucune limite ... Les interets individuels sont les seuls interets reels."7 (Bentham, „Theorie des peines et des recompenses" etc., Paris 1826,3me ed., II, p. [229,] 230.)
1 „Der Mensch soll in seinem eigenen Interesse die anderen Menschen lieben, weil sie zu seinem Wohlbefinden notwendig sind ... Die Moral beweist ihm, daß von allen Wesen der Mensch dem Menschen das Notwendigste ist." - 2 „Die wahre Moral, wie die wahre Politik, ist jene, die die Menschen einander nahezubringen sucht, um sie mit vereinten Kräften für ihr wechselseitiges Glück arbeiten zu lassen. Jede Moral, die unsere Interessen von denen unserer Genossen trennt, ist falsch, unsinnig, widernatürlich." —3 „Die anderen lieben ... heißt unsere Interessen mit denen unserer Genossen vereinigen, um zum gemeinsamen Nutzen zu arbeiten ... Die Tugend ist nichts als der Nutzen der in der Gesellschaft vereinigten Menschen." —4 „Ein Mensch ohne Leidenschaften oder ohne Wünsche würde aufhören, ein Mensch zu sein ... Völlig von sich selbst abgelöst, wie könnte man ihn dazu bestimmen, sich an andere anzuschließen ? Ein Mensch, der gegen alles gleichgültig, frei von Leidenschaften wäre, der sich selbst genügte, wäre kein geselliges Wesen mehr ... Die Tugend ist nichts als die Mitteilung des Guten." - 5 „Die religiöse Moral diente nie dazu, die Sterblichen geselliger zu machen." — 6 allgemeine Interesse — 7 „Das Interesse der Individuen ... soll dem Gesamtinteresse weichen. Aber ... was bedeutet das? Ist nicht jedes Individuum ebensosehr Teil des Gesamten wie jedes andere? Dieses Gesamtinteresse, das ihr personifiziert, ist nur ein abstrakter Ausdruck; es repräsentiert nur die Masse der individuellen Interessen ... Wenn es gut wäre, das Vermögen eines Individuums zu opfern, um das der anderen zu vergrößern, dann wäre es noch besser, ein zweites, ein drittes zu opfern, ohne daß man irgendeine Grenze angeben könnte ... Die individuellen Interessen sind die einzigen wirklichen Interessen."
e) Schließliche Niederlage des Sozialismus
„Die Franzosen haben eine Reihe von Systemen aufgestellt, wie die Masse zu organisieren sei; sie haben aber phantasieren müssen, da sie die Masse, wie sie ist, als brauchbares Material ansahen."
Die Franzosen und Engländer haben vielmehr bewiesen, und ganz im Detail bewiesen, daß die heutige Gesellschaftsordnung die „Masse, wie sie ist", organisiere und also deren Organisation sei. Die Kritik fertigt nach dem Vorgang der „Allgemeinen Zeitung" t51] durch das gründliche Wort phantasieren sämtliche sozialistischen und kommunistischen Systeme ab. Der ausländische Sozialismus und Kommunismus ist hiermit von der Kritik erschlagen; sie verlegt ihre kriegerischen Operationen nach Deutschland.
„Als die deutschen Aufklärer in ihren Hoffnungen von 1842 sich plötzlich getäuscht sahen und in ihrer Verlegenheit nicht wußten, was nun anzufangen sei, kam ihnen noch zu rechter Zeit die Kunde von den neueren französischen Systemen. Sie konnten nun von der Hebung der niedern Volksklassen reden, und um diesen Preis durften sie sich der Frage überheben, ob sie nicht selbst zur Masse gehörten, die eben nicht nur in den untersten Schichten aufzusuchen ist." Man sieht, die Kritik hat in der Apologie der Bauerschen literarischen Vergangenheit so sehr ihren ganzen Vorrat an wohlmeinenden Gründen erschöpft, daß sie die deutsche sozialistische Bewegung nur mehr aus der „Verlegenheit" der Aufklärer im Jahre 1842 zu erklären weiß. „Zum Glück kam ihnen die Kunde von den neueren französischen Systemen." Warum nicht von den englischen ? Aus dem entscheidenden kritischen Grunde, weil Herr Bauer durch Steins Buch „Der Communismus und Socialismus des heutigen Frankreichs"[52] keine Kunde von den neueren englischen Systemen erhalten hat. Es ist dies derselbe entscheidende Grund, warum für die Kritik in ihrem Gerede über die sozialistischen Systeme immer nur französische Systeme existieren. Die deutschen Aufklärer — klärt die Kritik weiter auf - begingen eine Sünde wider den heiligen Geist. Sie beschäftigten sich mit den schon im Jahre 1842 existierenden „niedern Volksklassen", um sich der damals noch nicht existierenden Frage zu überheben, welchen Rang sie in der Anno 1843 zu stiftenden kritischen Weltordnung einzunehmen berufen seien: Schaf oder Bock, kritischer Kritiker oder unreine Masse, der Geist oder die Materie? Vor allem aber hätten sie ihr eignes kritisches Seelenheil ernstlich bedenken
sollen, denn was hülfe mir alle Welt, die niedern Volksklassen mit eingerechnet, so ich Schaden an meiner Seele nähme?
„Ein geistiges Wesen kann aber nicht gehoben werden, wenn es nicht verändert wird, und verändert kann es nicht werden, ehe es nicht den äußersten Widerstand erfahren hat." Wäre die Kritik bekannter mit der Bewegung der niedern Volksklassen, sie wüßte, daß der äußerste Widerstand, den sie vom praktischen Leben erfahren haben, sie täglich verändert. Die neue prosaische und poetische Literatur, welche in England und Frankreich von den niedern Volksklassen ausgeht, würden ihr beweisen, daß die niedern Volksklassen, auch ohne die unmittelbare Beschattung durch den heiligen Geist der kritischen Kritik, sich geistig zu heben wissen.
„Diejenigen", phantasiert die absolute Kritik weiter, „deren ganzes Besitztum das Wort Organisation der Masse ist" usw.
Von „Organisation der Arbeit" wurde viel gesprochen, obgleich auch dieses „Stichwort" nicht von den Sozialisten selbst, sondern von der politisch-radikalen Partei in Frankreich ausging, welche eine Vermittlung zwischen der Politik und dem Sozialismus versuchte. Von „Organisation der Masse", als einem erst noch zu lösenden Problem, sprach niemand vor der kritischen Kritik. Es wurde im Gegenteil gezeigt, daß die hürgerliche Gesellschaft, die Auflösung der alten feudalen Gesellschaft, diese Organisation ist. Die Kritik führt ihren Fund mit Gänsefüßen an. Die Gans, welche Herrn Bauer jene Parole zur Rettung des Kapitols[53J zugeschnattert hat, ist niemand anders als seine eigene (jans, die kritische Kritik• Sie hat die Masse neu organisiert, indem sie dieselbe als den absoluten Widersacher des Geistes konstruierte. Der Gegensatz des Geistes und der Masse ist die kritische „Organisation der Gesellschaft", wobei der Geist oder die Kritik die organisierende Arbeit, die Masse den Rohstoff und die Geschichte das Fabrikat vorstellt. Fragen wir nach den großen Siegen, welche die absolute Kritik in ihrem dritten Feldzug über die Revolution, den Materialismus und den Sozialismus davongetragen hat, was das letzte Resultat dieser Herkulesarbeiten ist? Kein anderes, als daß jene Bewegungen resultatlos untergingen, weil sie noch mit Masse versetzte Kritik oder mit Materie versetzter Geist War. Sogar in der eignen literarischen Vergangenheit des Herrn Bauer entdeckte die Kritik eine vielseitige Verunreinigung der Kritik durch die Masse. Wenn sie aber hier statt einer Kritik eine Apologie schreibt, statt preiszugeben „sicherstellt", statt in der Versetzung des Geistes mit dem Fleische den Tod auch des Geistes
zu finden, vielmehr die Sache umkehrt und in der Versetzung des Fleisches mit Geist das Leben sogar des Bauerschen Fleisches findet — so ist sie dagegen um so rücksichtsloser und entschiedener terroristisch, sobald die unvollendete, noch mit Masse versetzte Kritik nicht mehr das Werk des Herrn Bauer ist, sondern das Werk ganzer Völker und einer Reihe von profanen Franzosen und Engländern, sobald die unvollendete Kritik nicht mehr „Die Judenfrage" oder „Die gute Sache der Freiheit" oder „Staat, Religion und Parthei", sondern die Revolution, der Materialismus, der Sozialismus, der Kommunismus heißt. Die Kritik hat so die Verunreinigung des Geistes durch die Materie und der Kritik durch die Masse vertilgt, indem sie ihr eignes Fleisch verschonte und fremdes Fleisch kreuzigte. Auf eine oder die andere Weise ist der „mit Fleisch versetzte Geist" oder die „mit Masse versetzte Kritik" jedenfalls aus dem Wege geräumt. An die Stelle dieser unkritischen Versetzung ist die absolut kritische Zersetzung von Geist und Fleisch, Kritik und Masse, ihr reiner Gegensatz getreten. Dieser Gegensatz in seiner welthistorischen Gestalt, wie er das wahre geschichtliche Interesse der Gegenwart bildet, ist der Gegensatz des Herrn Bauer und Konsorten oder des Geistes gegen den sonstigen Rest des Menschengeschlechts als der Materie. Die Revolution, der Materialismus und der Kommunismus haben also ihren geschichtlichen Zweck erfüllt. Sie haben durch ihren Untergang dem kritischen Herrn seine Wege bereitet. Hosiannah!
j) Der spekulative Kreislauf der absoluten Kritik und die Philosophie des Selbstbewußtseins
Die Kritik, weil sie sich auf einem Gebiete angeblich vollendet und rein durchgeführt hatte, beging also nur ein Versehn, „nur" eine „Inkonsequenz", wenn sie nicht auf allen Gebieten der Welt „rein" und „vollendet" war. Das „eine" kritische Gebiet ist kein anderes als das Gebiet der Theologie. Die reine Gegend dieses Gebiets erstreckt sich von der „Kritik der Synoptiker" von Bruno Bauer bis zum „Entdeckten Christentum" von Bruno Bauer als der äußersten Grenzfeste. „Mit dem Spinozismus", heißt es, „war die neuere Kritik endlich ins reine gekommen; es war also eine Inkonsequenz, wenn sie - war es auch nur an einzelnen falsch auslaufenden Punkten - die Substanz auf einem Gebiet unbefangen voraussetzt." Wurde vorhin das Geständnis von der Verwicklung der Kritik in politische Vorurteile sogleich dahin gemildert, daß diese Verwicklung „im Grunde
so locker!" gewesen sei, so wird hier das Geständnis der Inkonsequenz temperiert durch das Einschiebsel, daß sie nur an einzelnen, falsch auslaufenden Punkten begangen wurde. Die Schuld lag nicht an Herrn Bauer, sondern an den falschen Punkten, welche, wie widerspenstige Gäule, mit der Kritik durchliefen. Einige Zitate werden zeigen, daß die Kritik durch die Überwindung des Spinozismus zum Hegeischen Idealismus, von der „Substanz" zu einem andern metaphysischen Ungeheuer, zu dem „Subjekt", der „Substanz als Prozeß", dem „unendlichen Selbstbewußtsein" kam und daß das schließliche Resultat der „vollendeten" und „reinen" Kritik die Wiederherstellung der christlichen Kreationstheorie in spekulativer, Hegelscher Form ist. Schlagen wir zunächst die „Kritik der Synoptiker" auf: „Strauß bleibt dem Standpunkt getreu, welchem die Substanz das Absolute ist. Die Überlieferung in dieser Form der Allgemeinheit, welche noch nicht die wirkliche und vernünftige Bestimmtheit der Allgemeinheit erreicht hat, die nämlich nur im Selbstbewußtsein, in dessen Einzelnheit und Unendlichkeit zu erreichen ist, ist nichts als die Substanz, die aus ihrer logischen Einfachheit herausgetreten und als die Macht der Gemeinde eine bestimmte Form der Existenz angenommen hat." („Kritik der Synopt[iker]", Bd. I, Vorrede, p. VI [- VII].) Überlassen wir „die Allgemeinheit, welche eine Bestimmtheit erreicht", die „Einzelnheit und Unendlichkeit" -den Hegeischen Begriff-ihrem Schicksal. -Statt zu sagen, daß die Anschauung, welche in der StraußischenTheone von der „Macht der Gemeinde" und der „Tradition" durchgeführt wird, ihren abstrakten Ausdruck, ihre logisch-metaphysische Hieroglyphe in der spinozistischen Vorstellung der Substanz besitzt, läßt Herr Bauer „die Substanz aus ihrer logischen Einfachheit heraustreten und in der Macht der Gemeinde eine bestimmte Form der Existenz annehmen". Er wendet den Hegeischen Wunderapparat an, welcher die „metaphysischen Kategorien" die aus der Wirklichkeit extrahierten Abstraktionen - aus der Logik, wo sie in die „Einfachheit" des Gedankens aufgelöst sind, herausspringen und „eine bestimmte Form" der physischen oder menschlichen Existenz annehmen, sich inkarnieren läßt. Hinrichs hilf!
„Mysteriös", fährt die Kritik gegen Strauß fort, „mysteriös ist diese Ansicht, weil sie in jedem Augenblicke, wenn sie den Prozeß, welchem die evangelische Geschichte ihren Ursprung verdankt, erklären und zur Anschauung bringen will, immer nur den Schein eines Prozesses hervorbringen kann [...] Der Satz: ,Die evangelische Geschichte habe in der Tradition ihre Quelle und ihren Ursprung', setzt zweimal dasselbe: ,die Tradition' und die »evangelische Geschichte', setzt beide allerdings auch in Verhältnis, aber sagt uns nicht, welchem innern Prozeß der Substanz die Entwicklung und Auslegung ihren Ursprung verdanke."
10 Marx/ Engels, Werke, Bd. 2
Nach Hegel ist die Substanz als innerer Prozeß zu fassen. Die Entwicklung von dem Standpunkt der Substanz charakterisiert er wie folgt:
„Näher diese Ausbreitung betrachtet, so zeigt sie sich nicht dadurch zustande gekommen, daß ein und dasselbe sich verschieden gestaltet hätte, sondern sie ist die gestaltlose Wiederholung des einen und desselben, das nur ... einen langweiligen Schein von Verschiedenheit enthält." („Phänomenologie", Vorrede, p. 12.) Hinrichs hilf! Herr Bauer fährt fort:
„Die Kritik hat sich demnach gegen sich selbst zu richten und die mysteriöse Substantialität ... dahin aufzulösen, wohin die Entwicklung der Substanz selber treibt, zur Allgemeinheit und Bestimmtheit der Idee und zu deren wirklicher Existenz, dem unendlichen Selbstbewußtsein."
Qje Kritik Hegels gegen den Substantialitätsstandpunkt fährt fort:
„Die Verschlossenheit der Substanz ist aufzuschließen und diese zum Selbstbewußtsein zu erheben." (1. c., p. 7.)
Auch bei Bauer ist das Selbstbewußtsein die zum Selbstbewußtsein erhobne Substanz oder das Selbstbewußtsein als die Substanz, das Selbstbewußtsein ist aus einem Prädikate des Menschen in ein selbständiges Subjekt verwandelt. Es ist die metaphysisch-theologische Karikatur des Menschen in seiner Trennung von der Natur. Das Wesen dieses Selbstbewußtseins ist daher nicht der Mensch, sondern die Idee, deren wirkliche Existenz es ist. Es ist die menschgewordne Idee und darum auch unendlich. Alle menschlichen Eigenschaften verwandeln sich daher mysteriöserweise in Eigenschaften des imaginären „unendlichen Selbstbewußtseins". Herr Bauer sagt daher ausdrücklich von diesem „unendlichen Selbstbewußtsein", daß alles in ihm seinen Ursprung und seine Erklärung, d. h. seinen Existentialgrund finde. Hinrichs hilf !
Herr Bauer fährt fort:
„Die Kraft des Substantialitätsverhältnisses liegt in seinem Triebe, der uns zum Begriff, zur Idee und zum Selbstbewußtsein führt."
Hegel sagt: „So ist der Begriff Sie Wahrheit der Substanz." „Der Übergang des Substantialitätsverhältnisses geschieht durch seine eigne immanente Notwendigkeit und ist weiter nichts, als daß der Begriff ihre Wahrheit ist." „Die Idee ist der adäquate Begriff." „Der Begriff ... zur freien Existenz gediehen ... ist nichts anders als das Ich oder das reine Selbstbewußtsein." („Logik", Hegels Werke, 2. Auflage, 5. Band, p. 6, 9, 229, 13.) Hinrichs hilf!
Hochkomisch erscheint es, wenn Herr Bauer in seiner „Literatur-Zeitung" noch sagt: „Schon Strauß verfiel, weil er die Kritik des Hegeischen Systems nicht zu vollenden vermochte, wenn er auch durch seine halbe Kritik die Notwendigkeit ihrer Vollendung bewies" etc. Nicht die vollendete Kritik des Hegeischen Systems, sondern höchstens die Vollendung des Hegeischen Systems, wenigstens in ihrer Anwendung auf die Theologie, glaubte Herr Bauer selbst in seiner „Kritik der Synoptiker" zu geben. Er bezeichnet seine Kritik (Vorrede der ,,Synopt[iker]", p. XXI) als „letzte Tat eines bestimmten Systems", welches kein anderes System als das Hegeische ist. Der Kampf zwischen Strauß und Bauer über die Substanz und das Selbstbewußtsein ist ein Kampf innerhalb der Hegeischen Spekulationen. In Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichtesche Selbstbewußtsein, die Hegeische notwendig-widerspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist. Das erste Element ist die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche Mensch und die wirkliche Menschengattung. Strauß führt den Hegel auf spinozistischem Standpunkt, Bauer den Hegel auf Fichteschem Standpunkt innerhalb des theologischen Gebietes konsequent durch. Beide kritisierten Hegel, insofern bei ihm jedes der beiden Elemente durch das andere verfälscht wird, während sie jedes derselben zu seiner einseitigen, also konsequenten Ausführung entwickelten. - Beide gehn daher in ihrer Kritik über Hegel hinaus, aber beide bleiben auch innerhalb seiner Spekulation stehen und repräsentieren jeder nur eine Seite seines Systems. Erst Feuerbach, der den Hegel auf Hegelschem Standpunkt vollendete und kritisierte, indem er den metaphysischen absoluten Geist in den „wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur" auflöste, vollendete die Kritik der Religion, indem er zugleich zur Kritik der Hegeischen Spekulation und daher aller Metaphysik die großen und meisterhaften Grundzüge entwarf. Bei Herrn Bauer ist es zwar nicht mehr der heilige Geist, aber es ist das unendliche Selbstbewußtsein, welches dem Evangelisten in die Feder diktiert. „Wir dürfen kein Hehl mehr haben, daß die richtige Auffassung der evangelischen Geschichte auch ihre philosophischen Grundlagen habe, nämlich an der Philosophie des Selbstbewußtseins." (Bruno Bauer, „Krit[ikl der Synopt[ikerl", Vorrede, p- XV.)
10*
Diese Bauersche Philosophie des Selbstbewußtseins, wie die Resultate, welche Herr Bauer aus seiner Kritik der Theologie gewann^ sollen durch einige Auszüge aus dem „Entdeckten Christentum", seiner letzten religionsphilosophischen Schrift, charakterisiert werden. Am angeführten Ort heißt es über die französischen Materialisten: „Wenn die Wahrheit des Materialismus, die Philosophie des Selbstbewußtseins, aufgefunden, und das Selbstbewußtsein als das All, als die Lösung des Rätsels der spinozistischen Substanz und als die wahrhafte causa sui1 erkannt ist ... wozu ist der Geist da? Wozu das Selbstbewußtsein ? Als ob nicht das Selbstbewußtsein, indem es die Welt, den Unterschied setzt, und in dem, was es hervorbringt, sich selbst hervorbringt, da es den Unterschied des Hervorgebrachten Von ihm selbst wieder aufhebt, da es also nur [im Hervorbringen und] in der Bewegung es selber ist - als ob es nicht in dieser Bewegung, die es selber ist, seinen Zweck hätte und sich selbst erst besäße!" („Entdecktes] Christentum]", p. 113.) „Die französischen Materialisten haben die Bewegungen des Selbstbewußtseins allerdings als die Bewegungen des allgemeinen Wesens, der Materie, gefaßt, aber noch nicht sehen können, daß die Bewegung des Universums erst als die Bewegung des Selbstbewußtseins wirklich für sich geworden und zur Einheit mit ihr selbst zusammengegangen ist." (1. c., p. [114-1115.) Hinrichs hilf! Der erste Satz heißt zu deutsch: Die Wahrheit des Materialismus ist das Gegenteil des Materialismus, der absolute, d. h. ausschließliche, überschwengliche Idealismus. Das Selbstbewußtsein, der Geist ist das All. Außer ihm ist nichts. „Das Selbstbewußtsein", nder Geist" ist der allmächtige Schöpfer der Welt, des Himmels und der Erde. Die Welt ist eine Lebensäußerung des Selbstbewußtseins, das sich entäußern und Knechtsgestalt annehmen muß, aber der Unterschied der Welt vom Selbstbewußtsein ist nur ein Scheinunterschied. Das Selbstbewußtsein unterscheidet nichts Wirkliches von sich. Die Welt ist vielmehr nur eine metaphysische Distinktion, ein Gespinst seines ätherischen Gehirns und eine Einbildung desselben. Es hebt daher den Schein, als wenn etwas außer ihm existiere, den es für einen Augenblick konzessioniert hat, wieder auf und erkennt in seinem „Hervorgebrachten" keinen realen, also keinen realiter sich von ihm unterscheidenden Gegenstand an. Durch diese Bewegung aber bringt das Selbstbewußtsein sich erst als absolut hervor, denn der absolute Idealist muß notwendig, um absoluter Idealist zu sein, beständig den sophistischen Prozeß durchmachen, [er hat] erst die Welt außer ihm in ein Scheinwesen, in einen bloßen Einfall seines Gehirns zu verwandeln und hinterher diese Phantasiegestalt für das, was sie ist, für eine
1 Ursache ihrer selbst.
bloße Phantasie zu erklären, um schließlich sein alleiniges, ausschließliches, auch nicht mehr von dem Schein einer Außenwelt geniertes Dasein proklamieren zu können. Der zweite Satz heißt zu deutsch: Die französischen Materialisten haben allerdings die Bewegungen der Materie als geistvolle Bewegungen gefaßt, aber sie haben noch nicht sehen können, daß sie keine materiellen, sondern ideelle Bewegungen, Bewegungen des Selbstbewußtseins, also pure Gedankenbewegungen sind. Sie haben noch nicht sehn können, daß die wirkliche Bewegung des Universums erst als die von der Materie, d. h. von der Wirklichkeit freie und befreite ideale Bewegung des Selbstbewußtseins wahrhaft und wirklich geworden ist, d. h. daß eine von der idealen Hirnbewegung unterschiedne materielle Bewegung nur zum Schein existiert. Hinrichs hilf! Diese spekulative Kreationstheorie findet man fast wörtlich bei Hegel; und man kann sie schon in seinem ersten Werke, in seiner „Phänomenologie", finden.
„Die Entäußerung des Selbstbewußtseins ist es, welche die Dingheit setzt... In dieser Entäußerung setzt es sich als Gegenstand oder den Gegenstand als sich selbst. Andrerseits liegt hierin zugleich dies andre Moment, daß es diese Entäußerung und Gegenständlichkeit ebensosehr aufgehoben und in sich zurückgenommen hat... Dieses ist die Bewegung des Bewußtseins." (Hegjell, „Phänomenologie]", p. [574-1575.) „Das Selbstbewußtsein hat einen Inhalt, den es von sich unterscheidet ... Dieser Inhalt ist in seinem Unterschiede selbst das Ich, denn er ist die Bewegung des Sich-selbstAufhebens ... Dieser Inhalt, bestimmter angegeben, ist nichts anderes als die soeben ausgesprochene Bewegung selbst; denn er ist der Geist, der sich selbst und zwar für sich als Geist durchläuft." (1. c., p. [582-1583.)
In bezug auf diese Kreationstheorie Hegels bemerkt Feuerbach:
„Die Materie ist die Selbstentäußerung des Geistes. Damit bekommt die Materie selbst Geist und Verstand — zugleich ist sie aber doch wieder als ein nichtiges, unwahres Wesen gesetzt, indem erst das aus dieser Entäußerung sich herstellende, d. h. die Materie, die Sinnlichkeit von sich abstreifende Wesen als das Wesen in seiner Vollendung, in seiner wahren Gestalt und Form ausgesprochen wird. Das Natürliche, Materielle, Sinnliche ist also auch hier das zu Negierende, wie in der Theologie die durch die Erbsünde vergiftete Natur." („Philosophie der Zukunft", p. 35.)
Herr Bauer verteidigt also den Materialismus gegen die unkritische Theologie, indem er ihm zugleich vorwirft, „noch nicht" kritische Theologie, Verstandestheologie, Hegeische Spekulation zu sein. Hinrichs! Hinrichs! Herr Bauer, der nun auf allen Gebieten seinen Gegensatz gegen die Substanz, seine Philosophie des Selbstbewußtseins oder des Geistes durchführt,
muß daher auf allen Gebieten nur mit seinen eignen Hirngespinsten zu tun haben. Die Kritik ist in seiner Hand das Instrument, um alles, was außer dem unendlichen Selbstbewußtsein noch eine endliche materielle Existenz behauptet, in bloßen Schein und in reine Gedanken zu sublimieren. Er bekämpft in der Substanz nicht die metaphysische Illusion, sondern den weltlichen Kern - die Natur, die Natur sowohl wie sie außer dem Menschen existiert, als wie sie seine eigne Natur ist. Auf keinem Gebiete die Substanz voraussetzen - er spricht noch in dieser Sprache - heißt ihm also: kein vom Denken unterschiedenes Sein, keine von der geistigen Spontaneität unterschiedene Naturenergie, keine vom Verstand unterschiedene menschliche Wesenskraft, kein von der Tätigkeit unterschiedenes Leic/en, keine von der eignen Wirkung unterschiedene Einwirkung von andern, kein vom Wissen unterschiedenes Fühlen und Wollen, kein vom Kopf unterschiedenes Herz, kein vom Subjekt unterschiedenes Objekt, keine von der Theorie unterschiedenePraxis, keinen vomKritiker unterschiedenen Menschen, keine von der abstrakten Allgemeinheit unterschiedene wirkliche Gemeinschaft, kein vom Ich unterschiedenes Du anerkennen. Es ist daher konsequent, wenn Herr Bauer dazu fortgeht, sich selbst mit dem unendlichen Selbstbewußtsein, mit dem Geist zu identifizieren, d. h. an die Stelle dieser seiner Geschöpfe ihren Schöpfer zu setzen. Es ist ebenso konsequent, die übrige Welt, welche eigensinnig darauf beharrt, etwas von seinem Hervorgebrachten Unterschiedenes zu sein, als halsstarrige Masse und Materie zu verwerfen. Und nun, so hofft er,
dauert es nicht lange, und mit den Körpern wird's zugrunde gehn. t5^ Seine eigne Verstimmung, bisher dem Etwas dieser plumpen Welt nicht beikommen zu können, konstruiert er sich ebenfalls konsequent als Selbstverstimmung dieser Welt, und die Empörung seiner Kritik über die Entwickelung der Menschheit als massenhafte Empörung der Menschheit gegen seine Kritik, gegen den Geist, gegen Herrn Bruno Bauer und Konsorten. Herr Bauer war ein Theologe von Urbeginn an, aber kein gewöhnlicher, sondern ein kritischer Theologe oder theologischer Kritiker. Schon als das äußerste Extrem der althegelschen Orthodoxie, als spekulativer Zurechtmacher alles religiösen und theologischen Unsinns, erklärte er beständig die Kritik für sein Privateigentum. Er bezeichnete damals die Straußische Kritik als menschliche Kritik und machte ausdrücklich im Gegensatz zu derselben das Recht der göttlichen Kritik geltend. Das große Selbstgefühl oder Selbstbewußtsein, welches der versteckte Kern dieser Göttlichkeit war, schälte er
später aus der religiösen Vermummung heraus, verselbständigte es als ein eignes Wesen und erhob es unter der Firma „das unendliche Selbstbeiüußtsein" zum Prinzipe der Kritik. In seiner eignen Bewegung vollzog er sodann die Bewegung, welche die „Philosophie des Selbstbewußtseins" als absoluten Lebensakt beschreibt. Er hob den „Unterschied des Hervorgebrachten", des unendlichen Selbstbewußtseins, von dem Hervorbringenden, ihm selber, wieder auf, und erkannte, daß es in seiner Bewegung „nur er selber war", daß also die Bewegung des Universums erst in seiner idealen Selbstbewegung wahrhaft und wirklich wird. Die göttliche Kritik in ihrer Rückkehr in sich ist auf rationelle, bewußte, kritische Weise wiederhergestellt, das Ansichsein ist zum An- und Fürsichsein, und erst im Schluß ist der erfüllte, verwirklichte, offenbarte Anfang geworden. Die göttliche Kritik im Unterschied von der menschlichen hat sich offenbart als die Kritik, als die reine Kritik, als die kritische Kritik. An die Stelle der Apologie des Alten und Neuen Testaments ist die Apologie der alten und neuen Werke des Herrn Bauer getreten. Der theologische Gegensatz von Gott und Mensch, von Geist und Fleisch, von Unendlichkeit und Endlichkeit ist in den kritisch-theologischen Gegensatz des Geistes, der Kritik oder des Herrn Bauer, und der Materie der Masse oder der profanen Welt verwandelt. Der theologische Gegensatz von Glauben und Vernunft hat sich gelöst in den kritisch-theologischen Gegensatz des gesunden Menschenverstandes und des rein kritischen Denkens. Die „Zeitschrift für spekulative Theologie"[55] hat sich in die kritische „Literatur-Zeitung" verwandelt. Der religiöse Welterlöser endlich ist verwirklicht in dem kritischen Welterlöser, Herrn Bauer. Das letzte Stadium Herrn Bauers ist keine Anomalie in seiner Entwickelung, es ist ihre Rückkehr in sich aus ihrer Entäußerung. Es versteht sich, daß das Moment, worin die göttliche Kritik sich entäußerte und aus sich heraustrat, mit dem Moment zusammenfällt, wo sie teilweise sich untreu wurde und Menschliches schuf. Die absolute Kritik, in ihren Anfangspunkt zurückgekehrt, hat den spekulativen Kreislauf und damit ihren Lebenslauf beendigt. Ihre weitere Bewegung ist reines - über alles massenhafte Interesse erhabnes Kreisen in sich selbst und darum ohne alles weitere Interesse für die Masse.
VII. KAPITEL
Die Korrespondenz der kritischen Kritik
1. Die kritische Masse
Oü peut-on etre mieux Qu*au sein de sa famille?1 f56^ Die kritische Kritik in ihrem absoluten Dasein als Herr Bruno hat die Menschheit in Masse, die ganze Menschheit, die nicht kritische Kritik ist, für ihren Gegensatz erklärt, für ihren wesentlichen Gegenstand, wesentlich, weil die Masse ad majorem gloriam dei2, der Kritik, des Geistes, vorhanden, Gegenstand, weil sie die bloße Materie der kritischen Kritik ist. Die kritische Kritik hat ihr Verhältnis zur Masse als das welthistorische Verhältnis der Gegenwart proklamiert. Man bildet indessen noch keinen welthistorischen Gegensatz durch die Erklärung, sich im Gegensatz zu der ganzen Welt zu befinden. Man kann sich einbilden, der Stein des allgemeinen Anstoßes zu sein, weil man aus Ungeschick allgemein anstößt. Zu einem welthistorischen Gegensatz gehört nicht nur, daß ich die Welt für meinen Gegensatz erkläre, sondern daß anderseits die Welt mich für ihren wesentlichen Gegensatz erklärt, als solchen behandelt und anerkennt. Diese Anerkennung verschafft sich die kritische Kritik durch die Korrespondenz, welche den Beruf hat, das kritische Erlöseramt wie das allgemeine Ärgernis der Welt an dem kritischen Evangelium vor der Welt zu bezeugen. Die kritische Kritik ist sich selbst Gegenstand als Gegenstand der Welt. Die Korrespondenz soll sie als solchen zeigen, als gegenwärtiges Weltinieresse. Die kritische Kritik gilt sich als absolutes Subjekt. Das absolute Subjekt bedarf des Kultus. Zum wirklichen Kultus gehören dritte gläubige Indivi
1 Wo kann man besser aufgehoben sein als im Schöße seiner Familie? - 2 zum höheren Ruhme Gottes
duen. Die heilige Familie zu Charlottenburg empfängt daher den gebührenden Kultus von ihren Korrespondenten. Die Korrespondenten sagen ihr, was sie ist und was ihr Gegner, die Masse, nicht ist. Indem auf diese Weise die Meinung der Kritik von sich selbst als Meinung der Welt dargestellt, indem ihr Begriff verwirklicht wird, verfällt sie allerdings der Inkonsequenz. Innerhalb ihrer selbst zeigt sich eine Art von Massenbildung, nämlich die Bildung einer kritischen Masse, welche den einsilbigen Beruf hat, das unermüdliche Echo der kritischen Stichwörter zu sein. Der Konsequenz wegen ist diese Inkonsequenz verzeihlich. Die kritische Kritik, die nicht in der sündigen Welt zu Hause ist, muß in ihrem eignen Hause eine sündige Welt etablieren. Der Korrespondent der kritischen Kritik, das Glied der kritischen Masse, wandelt nicht auf Rosen. Sein Weg ist ein schwieriger, dornenvoller, ein kritischer Weg. Die kritische Kritik ist ein spiritualistischer Herr, reine Spontaneität, actus purus1, intolerant gegen jede Einwirkung von außen. Der Korrespondent darf also nur ein Scheinsubjekt sein, nur zum Schein sich selbständig zur kritischen Kritik verhalten, nur scheinbar ihr etwas Neues und Eignes mitteilen wollen. In Wahrheit ist er ihr eignes Machwerk, das nur für einen Augenblick vergegenständlichte und verselbständigte Vernehmen ihrer selbst. Die Korrespondenten verfehlen daher nicht, unaufhörlich zu versichern, daß die kritische Kritik selbst weiß, einsieht, kennt, begreift, erfährt, was ihr in demselben Augenblick zum Schein mitgeteilt wird. So braucht z. B.Zerrleder die Wendungen: „Begreifen Sie es? Sie wissen. Sie wissen zum zweiten und dritten Mal. Sie werden nun genug gehört haben, um selbst einsehen zu können." So der Breslauer Korrespondent Fleischhammer: „Daß aber" etc., „wird Ihnen so wenig wie mir ein Rätsel sein." Oder der Züricher Korrespondent Hirzel: „Sie werden wohl selbst erfahren." Der kritische Korrespondent respektiert so sorgsam das absolute Begreifen der kritischen Kritik, daß er ihr selbst da ein Begreifen zumutet, wo absolut nichts zu begreifen ist; z. B. Fleischhammer: „Sie werden mich vollständig (!) begreifen (!), wenn ich Ihnen sage, daß man kaum ausgehen kann, ohne jungen katholischen Geistlichen in ihren langen schwarzen Kutten und Mänteln zu begegnen."
Ja, in ihrer Angst hören die Korrespondenten die kritische Kritik sagen, antworten, ausrufen, auslachen!
1 reine Handlung
So z. B. Zerrleder: „Aber - sagen Sie; nun gut, so hören Sie." So Fleischhammer: „Doch, ich höre schon, was Sie sagen - ich meinte damit auch nur." So Hirzel: „Edelmann, werden Sie ausrufen!" So ein Tübinger Korrespondent: „Lachen Sie mich nicht ausl" Die Korrespondenten gebrauchen daher auch die Wendung, daß sie der kritischen Kritik Tatsachen mitteilen und ihr die geistige Interpretation zumuten, ihr Prämissen liefern und ihr die Konklusion überlassen oder sich gar entschuldigen, ihr längst Bekanntes wiederzukäuen. So Zerrleder:
„Es ist Ihrem Korrespondenten nur möglich, ein Bild, eine Schilderung der Tatsachen zu geben. Der Geist, der diese Dinge belebt, wird ja Ihnen gerade nicht unbekannt sein." Oder auch: „Nun werden Sie sich schon selber den Schluß ziehen."
So Hirzel:
„Daß jede Schöpfung aus dem Extrem ihres Gegensatzes hervorgegangen, mit diesem spekulativen Satze werde ich Sie nicht erst noch unterhalten dürfen."
Oder auch die Erfahrungen des Korrespondenten sind bloß die Erfüllung und Bestätigung kritischer Prophezeiungen. So Fleischhammer:
„Ihre Vorhersagung ist eingetroffen."
So Zerrleder:
„Die Tendenzen, welche ich Ihnen als in der Schweiz immer weiter um sich greifend geschildert habe, weit entfernt, unheilvoll zu sein, sind nur glückliche - nur eine Bestätigung Ihres schon oft ausgesprochenen Gedankens" etc.
Die kritische Kritik fühlt sich zuweilen gedrungen, die Herablassung auszusprechen, die in ihrem Korrespondieren liege, und sie motiviert diese Herablassung dadurch, daß der Korrespondent irgendein Pensum glücklich absolviert habe. So schreibt Herr Bruno dem Tübinger Korrespondenten:
„Es ist wirklich eine Inkonsequenz von mir, daß ich auf deinen Brief antworte. Auf der andern Seite hast du wieder ... so Treffendes bemerkt, daß ich dir ... die erbetene Aufklärung nicht versagen kann."
Die kritische Kritik läßt sich aus der Provinz schreiben, worunter nicht die Provinz im politischen Sinne, die bekanntlich in Deutschland nirgendwo existiert, zu verstehen ist, sondern die kritische Provinz, deren Hauptstadt Berlin ist, Berlin, der Sitz der kritischen Patriarchen und der heiligen kritischen Familie, während in den Provinzen die kritische Masse haust. Die
kritischen Provinzialen wagen nur unter Bücklingen und Entschuldigungen die Aufmerksamkeit der höchsten kritischen Stelle in Anspruch zu nehmen. So schreibt ein Anonymus an Herrn Edgar, der als Mitglied der heiligen Familie ebenfalls ein vornehmer Herr ist:
„Geehrter Herr! Darin, daß die Jugend sich gern bei gemeinschaftlichen Bestrebungen zusammenschließt (unsere beiderseitige Altersverschiedenheit beruht nur auf zwei Jahren), wollen Sie die Entschuldigung für diese Zeilen finden."
Dieser Altersgenosse des Herrn Edgar bezeichnet sich nebenbei als das Wesen der neuesten Philosophie. Ist es nicht in der Ordnung, daß die Kritik mit dem Wesen der Philosophie in Korrespondenz steht? Wenn der Altersgenosse des Herrn Edgar versichert, daß er seineZähne schon verloren habe, so ist das nur eine Anspielung auf sein allegorisches Wesen. Dies „Wesen der neuesten Philosophie" hat „von Feuerbach das Moment der Bildung in die objektive Anschauung setzen gelernt". Es gibt sogleich eine Probe von seiner Bildung und Anschauung, indem es Herrn Edgar zugleich versichert, es habe eine „Totalitätsanschauung von seiner Novelle" - „Es leben feste Grundsätze !"[57] — gewonnen, und zugleich offen gesteht, Herrn Edgars Absicht sei ihm durchaus nicht recht klar geworden, ja schließlich die Versicherung der gewonnenen Totalitätsanschauung durch die Frage paralysiert: „Oder habe ich Sie total mißverstanden?" Nach dieser Probe wird man es in der Ordnung finden, wenn das Wesen der neuesten Philosophie in bezug auf die Masse sich dahin äußert: „Wir müssen uns wenigstens einmal herablassen, den Zauberknoten untersuchen und lösen, der dem gemeinen Menschenverstand den Eingang in die unbeschränkte Denkflut nicht gestattet."
Will man sich eine vollständige Anschauung von der kritischen Masse erwerben, so lese man Herrn Hirzeis aus Zürich Korrespondenz. (Heft V.) Dieser Unglückliche memoriert mit wahrhaft rührender Gelehrigkeit und lobenswertem Gedächtnis die kritischen Stichworte. Herrn Brunos Lieblingsphrasen von den Schlachten, die er geliefert, von den Feldzügen, die er entworfen und geleitet habe, fehlen nicht. Namentlich aber erfüllt Herr Hirzel seinen Beruf als Glied der kritischen Masse, wenn er über die profane Masse und ihr Verhältnis zur kritischen Kritik eifert. Er spricht von der Masse, die an der Geschichte teilzuhaben meine, „von der reinen Masse", von der „reinen Kritik", von der „Reinheit dieses Gegensatzes" - „ein Gegensatz, so rein - wie ihn die Geschichte nie so rein gegeben habe" -, von dem „malkontenten Wesen", von der „vollendeten Leerheit, Verstimmung, Mutlosigkeit, Herzlosigkeit, Zaghaftigkeit, Wut, Erbitterung
der Masse gegen die Kritik", von „der Masse, die nur dazu da sei, um die Kritik durch ihren Widerstand schärfer und wachsamer zu machen". Er spricht von der „Schöpfung aus dem Extrem des Gegensatzes", von der Erhabenheit der Kritik über Haß und dergleichen profane Affekte. Auf diesen Reichtum an kritischen Stichworten beschränkt sich die ganze Lieferung des Herrn Hirzel an die „Literatur-Zeitung". Wie er der Masse ihre Zufriedenheit mit der bloßen „Gesinnung", dem „guten Willen", „der Phrase", dem „Glauben" etc. vorwirft, so begnügt er sich selbst als ein Glied der kritischen Masse mit Phrasen, mit Äußerungen seiner „kritischen Gesinnung", seines „kritischen Glaubens", seines „kritischen guten Wollens", und überläßt Herrn Bruno & Comp, das „Handeln, Arbeiten, Kämpfen" und die „Werke". Trotz der fürchterlichen Schilderung, welche die Mitglieder der „kritischen Masse" von der welthistorischen Spannung der profanen Welt gegen die „kritische Kritik" entwerfen, ist wenigstens für den Ungläubigen noch nicht einmal der Tatbestand konstatiert, der Tatbestand dieser welthistorischen Spannung. Die dienstfertige und unkritische Wiederholung der kritischen „Einbildungen" und „Prätensionen" im Munde der Korrespondenten beweist nur, daß die fixen Ideen des Herrn auch die fixen Ideen des Dieners sind. Einer der kritischen Korrespondenten versucht zwar, aus Tatsachen zu beweisen. „Ihr seht", schreibt er der heiligen Familie, „daß die .Literatur-Zeitung' ihren Zweck erfüllt, d. h. daß sie feinen Anklang findet. Anklang könnte sie nur finden, wenn sie mit der Gedankenlosigkeit mitklingelte, wenn Ihr mit dem Schellenspiel von Redensarten einer ganzen Janitscharenmusik gangbarer Kategorien stolz voranschrittet." Ein Schellenspiel von Redensarten einer ganzen Janitscharenmusik gangbarer Kategorien! Man sieht, der kritische Korrespondent bestrebt sich, in nicht „gangbaren" Redensarten einherzutraben. Seine Auslegung der Tatsache, daß die „Literatur-Zeitung" keinen Anklang findet, muß indes als rein apologetisch zurückgewiesen werden. Man könnte diese Tatsache vielmehr umgekehrt dahin auslegen, daß die kritische Kritik sich im Einklang mit der großen Masse, nämlich der großen Masse der Skribenten befindet, die fernen Anklang findet. Es genügt also nicht, daß die kritischen Korrespondenten die kritischen Redensarten zugleich als „Gebet" an die heilige Familie und zugleich als „Verfluchungsformel" gegen die Masse richten. Es bedarf unkritischer, massenhafter Korrespondenten, es bedarf wirklicher Abgeordneter der Masse an die kritische Kritik, um die wirkliche Spannung der Masse mit der Kritik zu beweisen.
Die kritische Kritik räumt daher auch der unkritischen Masse eine Stelle ein. Sie läßt unbefangene Repräsentanten derselben mit sich korrespondieren, den Gegensatz zu sich als wichtig, als absolut anerkennen und den Angstschrei nach Erlösung aus dem Gegensatz erschallen.
2. Die „unkritische Masse" und die „kritische Kritik"
a) Die „verstockte Masse" und die „unbefriedigte Masse"
Die Herzenshärte, die Verstocktheit und blinde Ungläubigkeit „der Masse" hat einen ziemlich entschiedenen Repräsentanten. Dieser Repräsentant spricht von der nur „hegelsphilosophischen Ausbildung der Berliner Couleur"[58].
„Der wahre Fortschritt", sagt er, „den wir machen können, liegt nur allein in der Erkenntnis der Wirklichkeit. Von Ihnen aber erfahren wir nur, daß unser Erkennen nicht von der Wirklichkeit, sondern von etwas Unwirklichem war."
Er bezeichnet die „Naturwissenschaft" als die Grundlage der Philosophie.
„Ein guter Naturforscher verhält sich zum Philosophen wie dieser zum Theologen."
Er bemerkt ferner von der „Berliner Couleur":
„Ich glaube nicht zuviel gesagt zu haben, wenn ich den Zustand dieser Leute daraus zu erklären suche, daß sie zwar den Prozeß des geistigen Mauserns durchgemacht haben, aber den Mausernstoff noch nicht losgeworden sind, um die Elemente der Neubildung und Verjüngung in sich aufnehmen zu können." „Diese" (die naturwissenschaftlichen und industriellen) „Kenntnisse müssen wir uns noch aneignen." „Die Welt- und Menschenkenntnis, die uns vor allem nötig ist, kann auch nicht allein durch die Schärfe des Denkens gewonnen werden, sondern alle Sinne müssen mitwirken und alle Anlagen des Menschen als nötiges und unentbehrliches Werkzeug dazu verwandt werden, sonst muß die Anschauung und das Erkennen stets mangelhaft bleiben ... und den moralischen Tod herbeiführen."
Dieser Korrespondent vergoldet indes die Pille, die er der kritischen Kritik reicht. Er „läßt Bauers Worte die richtige Anwendung finden", hat „Bauers Gedanken verfolgt", er läßt „Bauer richtig gesagt haben", er polemisiert endlich scheinbar nicht gegen die Kritik selbst, sondern gegen eine von ihr unterschiedene „Berliner Couleur".
Die kritische Kritik, welche sich getroffen fühlt und überdem in allen Glaubensangelegenheiten empfindlich wie eine alte Jungfer ist, läßt sich durch diese Distinktionen und halbe Huldigungen nicht täuschen.
„Sie haben sich getäuscht", antwortet sie, „wenn Sie in der Partei, die Sie im Eingang Ihres Briefes schildern, Ihren Gegner zu sehen meinten; gestehen Sie es sich vielmehr" - und nun folgt die niederschmetternde Bannformel - „Sie sind ein Gegner der Kritik selbst!"
Der Unglückliche! Der Massenhafte! Ein Gegner der Kritik selbstl Was aber den Inhalt jener massenhaften Polemik betrifft, so erklärt die kritische Kritik den Respekt für ihr kritisches Verhältnis zur Naturforschung und zur Industrie.
„Allen Respekt vor der Naturforschungl Allen Respekt vor James Watt und" - wahrhaft erhabene Wendung! - „gar keinen Respekt vor den Millionen, die er seinen Vettern und Basen verschafft hat."
Allen Respekt vor dem Respekt der kritischen Kritik! In demselben Briefe, worin die kritische Kritik der eben erwähnten Berliner Couleur vorwirft, daß sie über gediegene und tüchtige Arbeiten mit leichter Mühe hinaus sind, ohne sie zu studieren, daß sie mit einem Werke fertig sind, indem sie darüber die Bemerkung machen, es sei epochemachend etc., in demselben Briefe wird sie selbst durch eine einfache Respektserklärung mit der gesamten Naturforschung und Industrie fertig. Die Klausel, welche die kritische Kritik ihrer Respektserklärung vor der Naturforschung anhängt, erinnert an des seligen Ritters Krug erste Donnerkeile gegen die Naturphilosophie.
„Die Natur ist nicht die einzige Wirklichkeit, weil wir sie in ihren einzelnen Produkten essen und trinken."
Die kritische Kritik weiß von den einzelnen Produkten der Natur soviel, „daß wir sie essen und trinken". Allen Respekt vor der Naturwissenschaft der kritischen Kritik! Konsequenterweise stellt sie der unbequem zudringlichen Zumutung, „Natur" und „Industrie" zu studieren, folgende unstreitig geistreiche, rhetorische Ausrufung gegenüber:
„Oder (!) meinen Sie, mit der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit sei es schon zu Ende? Oder (!) wissen Sie eine einzige Periode der Geschichte, die in der Tat schon erkannt ist?"
Oder glaubt die kritische Kritik, in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur zum Anfang gekommen zu sein, solange sie das theo
retische und praktische Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder meint sie irgendeine Periode in der Tat schon erkannt zu haben, ohne z.B. die Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens selbst, erkannt zu haben? Allerdings die spiritualistische, die theologische kritische Kritik kennt nur - kennt wenigstens in ihrer Einbildung — die politischen, literarischen und theologischen Haupt- und Staatsaktionen der Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe, sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grob-materiellen Produktion auf der Erde, sondern in der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte. Der Repräsentant der „verstockten" und „herzensharten" Masse, mit seinen treffenden Rügen und Zureden, wird als massenhafter Materialist abgefertigt. Nicht besser geht es einem andern, minder böswilligen, minder massenhaften Korrespondenten, der zwar Erwartungen in die kritische Kritik setzt, ohne sie aber befriedigt zu finden. Der Repräsentant der „unbefriedigten" Masse schreibt:
„Doch muß ich gestehen, daß das erste Heft Ihrer Zeitung noch gar nicht befriedigt hat. Wir hätten doch etwas anderes erwartet."
Der kritische Patriarch antwortet in eigner Person:
„Daß es die Erwartungen nicht befriedigen würde, wußte ich im voraus, weil ich diese Erwartungen mir ziemlich leicht vorstellen konnte. Man ist so ermattet, daß man alles auf einmal haben will. Alles? Nein! Womöglich alles und nichts zugleich. Ein Alles, das keine Mühe macht, ein Alles, das man aufnehmen kann, ohne eine Entwickelung durchzumachen - ein Alles, das in einem Worte da ist."
In seiner Verstimmung über die ungebührlichen Anforderungen der „Masse", die von der aus Grundsatz und Naturanlage „nichts gebenden" Kritik etwas, ja alles verlangt, erzählt der kritische Patriarch in der Weise alter Herren eine Anekdote. Neulich habe ein Berliner Bekannter über die Weitschweifigkeit und breite Umständlichkeit seiner Schriften - bekanntlich schlägt Herr Bruno aus dem Minimum eines noch so kleinen angeblichen Gedankens ein vielbogiges Werk - sich bitter beklagt. Er vertröstete ihn mit dem Versprechen, ihm zur leichteren Aneignung die für den Abdruck des Buchs nötige Druckerschwärze, in eine kleine Kugel geformt, zu schicken. Der Patriarch erklärt sich die Breite seiner „Werke" aus der schlechten Verteilung der Druckerschwärze, wie er das Nichts seiner „Literatur-Zeitung"
aus der Leere der „profanen Masse" erklärt, die, um sich zu füllen, alles und nichts auf einmal verschlucken möchte. Sowenig man die Wichtigkeit der bisherigen Mitteilungen verkennt, sowenig kann man einen welthistorischen Gegensatz darin erblicken, daß ein massenhafter Bekannter der kritischen Kritik sie für hohl, sie ihn dagegen für unkritisch erklärt, daß ein zweiter Bekannter seine Erwartungen in der „Literatur-Zeitung" nicht befriedigt und daß ein dritter Bekannter und Hausfreund ihre Werke zu breit findet. Indessen der Bekannte Nr. 2, der Erwartungen hegt, und der Hausfreund Nr. 3, der die Geheimnisse der kritischen Kritik wenigstens kennenzulernen wünscht, bilden den Übergang zu einem inhaltsvolleren und gespannteren Verhältnis der Kritik und der „unkritischen Masse". So grausam die Kritik gegen die Masse von „verstocktem Herzen" und „gemeinem Menschenverstand" ist, so herablassend werden wir sie gegen die nach Erlösung aus dem Gegensatz wimmernde Masse finden. Die Masse, welche sich zerschlagenen Herzens, bußfertigen Sinnes und demütigen Geistes der Kritik nähert, wird manch gewiegtes, prophetisches, biderbes Wort zum Lohn ihres wackern Strebens empfangen.
b) Die „weichherzige" und „erlösungsbedürftige" Masse
Der Repräsentant der sentimentalen, herzlichen, erlösungsbedürftigen Masse fleht und wedelt um ein wohlmeinendes Wort der kritischen Kritik mit Herzensergießungen, Bücklingen und Augenverdrehungen, wie folgende:
„Warum ich Ihnen dies schreibe, warum ich mich gegen Sie verantworte? Weil ich Sie achte und deshalb Ihre Achtung wünsche; weil ich Ihnen in bezug auf meine Entwicklung den größten Dank schuldig bin und Sie deshalb liebe. Mein Herz treibt mich, gegen Sie, der mich ... getadelt, mich zu verantworten ... Ich bin weit entfernt, mich Ihnen hiermit aufdringen zu wollen, und nach mir urteilend habe ich mir gedacht, daß Ihnen selbst Wohl ein Beweis der Teilnahme von Seiten eines Ihnen sonst noch wenig bekannten Mannes erfreulich sein könnte. Ich mache keineswegs die Prätension, daß Sie diesen Brief beantworten sollen: ich will weder Ihnen die Zeit rauben, die Sie besser gebrauchen können, noch Ihnen eine Last aufladen, noch auch mich der Kränkung aussetzen, etwas, worauf ich hoffte, tmerfüllt zu sehn. Mögen Sie mir das Schreiben für Sentimentalität, Zudringlichkeit oder Eitelkeit (!) auslegen, oder wofür Sie wollen, mögen Sie antworten oder nicht, ich kann dem Triebe nicht widerstehen, es abgehen zu lassen, und wünsche nur, daß Sie den freundlichen Sinn darin erkennen mögen, der es eingegeben hat."!! Wie Gott sich von jeher der Kleinmütigen erbarmte, so sieht auch dieser massenhafte, aber demutsvolle und nach der kritischen Erbarmurig jammernde Korrespondent seine Wünsche erfüllt. Die kritische Kritik antwortet
ihm wohlmeinend. Noch mehr! Sie gibt ihm die tiefsten Aufschlüsse über die Gegenstände seiner Wißbegierde.
„Vor zwei Jahren", belehrt die kritische Kritik, „war es zeitgemäß, an die Aufklärung der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts zu erinnern, um in der Schlacht, die damals geschlagen wurde, an einer Stelle auch diese leichten Truppen agieren zu lassen. Jetzt ist es was ganz anderes. Wahrheiten ändern sich jetzt sehr schnell. Was damals an der Stelle war, ist jetzt ein Versehen."
Natürlich war es auch damals nur „ein Versehen", aber ein Versehen „an der Stelle", wenn die absolute Kritik Allerhöchstselbst, „Anekdota" II, p. 89[59], diese leichten Truppen „unsere Heiligen", unsre „Propheten", „Patriarchen" etc. nannte. Wer wird leichte Truppen eine Truppe von „.Patriarchen * nennen? Es war ein Versehen, „an der Stelle", wenn sie enthusiastisch von der Selbstverleugnung, sittlichen Energie und Begeisterung sprach, womit diese leichten Truppen „zeitlebens für die Wahrheit gedacht, gearbeitet und studiert hätten". Es war ein „Versehen", wenn sie im „Entdeckten Christentum, Vorrede", erklärte, diese „leichten' Truppen hätten „unüberwindlich geschienen, und jeder Kundige hätte ihnen im voraus das Zeugnis ausgestellt, sie würden die Welt aus den Fugen reißen", und es habe „unzweifelhaft geschienen, daß es ihnen auch gelingen würde, der Welt eine neue Gestalt zu geben". Diesen leichten Truppen ? Weiter doziert die kritische Kritik dem wißbegierigen Repräsentanten der „herzlichen Masse":
„Wenn auch die Franzosen sich ein neues geschichtliches Verdienst durch ihre Versuche, eine soziale Theorie aufzustellen, erworben haben, so sind sie jetzt doch erschöpft, ihre neue Theorie war noch nicht rein, ihre sozialen Phantasien, ihre friedliche Demokratie sind durchaus noch nicht von den Voraussetzungen des alten Zustandes frei."
Die Kritik spricht hier - wenn sie anders von irgend etwas spricht - vom Fourierismus, und zwar speziell vom Fourierismus der „Democratie pacifique"t60]. Dieser aber ist weit davon entfernt, die „soziale Theorie" der Franzosen zu sein. Die Franzosen haben soziale Theorien, aber nicht eine soziale Theorie, der verwässerte Fourierismus nun gar, wie ihn die „Democratie pacifique" predigt, ist nichts als die soziale Lehre eines Teils der philanthropischen Bourgeoisie, das Volk ist kommunistisch, und zwar in eine Menge verschiedener Fraktionen gespalten; die wahre Bewegung und Verarbeitung dieser verschiedenen sozialen Schattierungen hat sich nicht nur nicht erschöpft, sondern fängt erst recht an. Sie wird aber nicht in der reinen, d. h. abstrakten Theorie, wie es die kritische Kritik haben möchte, sondern in
11 Marx'EngeU, Werke, Bd -2
einer ganz praktischen Praxis endigen, die sich um die kategorischen Kategorien der Kritik in keiner Weise bekümmern wird.
„Keine Nation", plaudert die Kritik weiter, „hat bis jetzt etwas vor der andern voraus. Wenn eine dahin kommen kann, über die anderen ein geistiges Ubergewicht ... zu bekommen, so wird es die sein, die imstande ist, sich und die andern zu kritisieren und die Ursachen des allgemeinen Verfalls zu erkennen."
Jede Nation hat bis jetzt etwas vor der andern voraus. Wenn aber die kritische Prophezeiung richtig ist, so wird keine Nation einen Vorzug vor der andern haben, denn alle zivilisierten Völker Europas - Engländer, Deutsche, Franzosen - „kritisieren" jetzt „sich und die andern" und „sind imstande, die Ursachen des allgemeinen Verfalls zu erkennen". Endlich ist es eine phrasenhafte Tautologie, zu sagen, daß das „Kritisieren", „Erkennen", daß geistige Tätigkeit ein geistiges Ubergewicht geben, und die Kritik, die sich mit unendlichem Selbstbewußtsein über die Nationen stellt und harrt, bis diese zu ihren Füßen kniend um Erleuchtung flehen, zeigt durch diesen karikierten, christlich-germanischen Idealismus erst recht, daß sie noch bis über die Ohren im Drecke der deutschen Nationalität steckt. Die Kritik der Franzosen und Engländer ist nicht so eine abstrakte, jenseitige Persönlichkeit, die außer der Menschheit steht, sie ist die wirkliche menschliche Tätigkeit von Individuen, die werktätige Glieder der Gesellschaft sind, die als Menschen leiden, fühlen, denken und handeln. Darum ist ihre Kritik zugleich praktisch, ihr Kommunismus ein Sozialismus, in dem sie praktische, handgreifliche Maßregeln geben, in dem sie nicht nur denken, sondern noch mehr handeln, ist die lebendige, wirkliche Kritik der bestehenden Gesellschaft, die Erkenntnis der Ursachen „des Verfalls". Nach den Aufklärungen der kritischen Kritik an das wißbegierige Glied der Masse kann sie mit Recht von ihrer „Literatur-Zeitung" sagen:
„Hier wird die reine, darstellende, die Sache ergreifende, nichts hinzusetzende Kritik geübt."
Hier wird „nichts Selbständiges gegeben", hier wird überhaupt nichts gegeben als die nichtsgebende Kritik, das heißt die Kritik, die sich bis zur äußersten Unkritik vollendet. Die Kritik läßt angestrichene Stellen drucken und erreicht ihre Blüte in Exzerpten. Wolfgang Menzel und Bruno Bauer reichen sich die Bruderhand, und die kritische Kritik steht da, wo die Identitätsphilosophie in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts stand, als Schelling gegen die massenhafte Zumutung protestierte, daß er etwas geben wolle, irgend etwas als die reine, die ganz philosophische Philosophie.
c) Der Gnadendurchbruch der Masse
Der weichherzige Korrespondent, dessen Belehrung wir soeben beiwohnten, stand in einem gemütlichen Verhältnisse zu der Kritik. Die Spannung der Masse mit der Kritik ist an ihm nur auf eine idyllische Weise angedeutet. Beide Seiten des welthistorischen Gegensatzes verhielten sich Wohlmeinend und höflich, darum exoterisch zueinander. Die kritische Kritik in ihrer sanitätswidrigen, geisterschütternden Wirkung auf die Masse erscheint erst an einem Korrespondenten, der mit dem einen Fuß schon in der Kritik, mit dem andern noch in der profanen Welt steht. Er repräsentiert die „Masse" in ihren innem Kämpfen mit der Kritik. In manchen Momenten scheint es ihm, „daß Herr Bruno und seine Freunde die Menschheit nicht verstehen", „die eigentlich Verblendeten sind". Er korrigiert sich sogleich:
„Ja, es steht mir ganz sonnenklar vor Augen, daß Sie recht haben und daß Ihre Gedanken wahr sind, aber entschuldigen Sie, das Volk hat auch nicht unrecht... Ach ja! das Volk hat recht ... Daß Sie recht haben, kann ich nicht leugnen ... Ich weiß wirklich nicht, wo das alles hinaus soll: Sie werden sagen... nun, so bleib doch zu Hause ... Ach, ich kann nicht mehr ... Ach ... man müßte sonst am Ende verrückt werden ... Sie werden wohlwollend aufnehmen ... Glauben Sie mir, von der gewonnenen Erkenntnis wird es einem manchmal so dumm, als ginge einem ein Mühlrad im Kopf herum."
Auch ein anderer Korrespondent schreibt, daß er „mitunter die Fassung verliere". Man sieht, in jenem massenhaften Korrespondenten arbeitet die kritische Gnade am Durchbruch. Der arme Wurm! Die sündhafte Masse zieht ihn von der einen Seite, die kritische Kritik von der andern. Eis ist nicht die gewonnene Erkenntnis, welche den Katechumenen der kritischen Kritik in diesen Zustand von Hebetismus wirft, es ist die Glaubens- und Gewissensfrage, kritischer Christus oder Volk, Gott oder Welt, Bruno Bauer und seine Freunde oder profane Masse! Wie aber dem Durchbruch der göttlichen Gnade die äußerste Zerrissenheit des Sünders vorhergeht, so ist eine niederschlagende Verdummung der Vorläufer der kritischen Gnade. Kommt diese endlich zum Durchbruch, so verliert der Auserwählte zwar nicht die Dummheit, wohl aber das Bewußtsein der Dummheit.
3. Die unkritisch-kritische Masse oder die Kritik und die »Berliner Couleur"
Es ist der kritischen Kritik nicht gelungen, sich als den wesentlichen Gegensatz und darum zugleich als den wesentlichen Gegenstand der Menschheit in Masse darzustellen. Abgesehen von den Repräsentanten der verstockten Masse, welche der kritischen Kritik ihre Gegenstandslosigkeit vorhält und ihr auf die galanteste Weise zu verstehen gibt, daß sie den geistigen „Mausernprozeß" noch nicht durchgemacht habe, vor allem aber sich erst solide Kenntnisse erwerben müsse - ist der weichherzige Korrespondent einmal kein Gegensatz, dann aber ist sein eigentlicher Annäherungsgrund an die kritische Kritik ein rein persönlicher. Er will, wie man in seinem Briefe eines weiteren nachlesen mag, eigentlich nur seine Pietät für Herrn Arnold Rüge mit seiner Pietät für Herrn Bruno Bauer vermitteln. Dieser Vermittelungsversuch macht seinem guten Herzen Ehre. Er bildet aber keinenfalls ein massenhaftes Interesse. Der zuletzt auftretende Korrespondent endlich war nicht mehr wirkliches Glied der Masse, er war ein Katechumene der kritischen Kritik. Überhaupt ist die Masse ein unbestimmter Gegenstand, der daher weder eine bestimmte Aktion ausüben noch auch in ein bestimmtes Verhältnis treten kann. Die Masse, wie sie der Gegenstand der kritischen Kritik ist, hat nichts gemein mit den wirklichen Massen, die wieder sehr massenhafte Gegensätze unter sich bilden. Ihre Masse ist von ihr selbst „gemacht", wie wenn ein Naturforscher, statt von bestimmten Klassen zu reden, die Klasse sich gegenüberstellte. Außer dieser abstrakten Masse, ihrem eignen Hirngespinst, bedarf die kritische Kritik daher noch einer bestimmten, empirisch aufweisbaren, nicht bloß vorgeschützten Masse, um einen wirklich massenhaften Gegensatz zu besitzen. Diese Masse muß in der kritischen Kritik zugleich ihr Heesen und zugleich die Vernichtung ihres Wesens erblicken. Sie muß kritische Kritik, NichtMasse sein wollen, ohne es sein zu können. Diese kritisch-unkritische Masse ist die obenerwähnte „Berliner Couleur". Auf eine Berliner Couleur reduziert sich die mit der kritischen Kritik ernstlich beschäftigte Masse der Menschheit. Die „Berliner Couleur", der „wesentliche Gegenstand" der kritischen Kritik, mit dem sie immer in Gedanken beschäftigt ist und den sie immer in Gedanken mit sich beschäftigt sieht, besteht, soviel wir wissen, aus wenigen ci-devant1 Junghegelianern, denen die kritische Kritik, wie sie
1 ehemaligen
behauptet, teils den horror vacui1, teils das Gefühl der Nichtigkeit einflößt. Wir untersuchen nicht den Tatbestand, wir verlassen uns auf die Äußerungen der Kritik. Die Korrespondenz ist nun hauptsächlich dazu bestimmt, dem Publikum dieses welthistorische Verhältnis der Kritik zu der „Berliner Couleur" Weitläufig auseinanderzusetzen, seine tiefe Bedeutung zu enthüllen, die notwendige Grausamkeit der Kritik gegen diese „Masse" darzutun und endlich den Schein hervorzubringen, als sei alle Welt um diesen Gegensatz ängstlich bemüht, indem sie bald für, bald gegen das Verfahren der Kritik sich äußert. So schreibt die absolute Kritik z. B. einem Korrespondenten, der die Partei der „Berliner Couleur" nimmt:
„Dergleichen Dinge habe ich schon so oft gehört, daß ich gar nicht mehr darauf Rücksicht zu nehmen beschlossen hatte."
Die Welt ahnt nicht, wie oft sie sich mit dergleichen kritischen Dingen zu schaffen machte. Hören wir nun, wie ein Glied der kritischen Masse über die Berliner Couleur berichtet:
„,Wenn einer die Bauers anerkennt"" (man muß die heilige Familie immer pelemele2 anerkennen), „begann seine Antwort, ,so bin ich es: aber die „Literatur-Zeitung"! Alles, was recht ist!' Es war mir interessant zu hören, was einer dieser Radikalen, dieser Klugen von Anno 42 über Euch dächte ..."
Es wird nun berichtet, daß der Unglückliche allerlei an der „LiteraturZeitung" zu tadeln hatte. Die Novelle des Herrn Edgar, „Die drei Biedermänner", fand er roh und outriert. Er begriff nicht, daß die Zensur weniger ein Kampf Mann an Mann, weniger ein Kampf nach außen als ein innerlicher ist. Sie geben sich nicht die Mühe, in sich selbst einzukehren und an die Stelle der zensurwidrigen Phrase den fein durchgeführten, nach allen Seiten hin auseinandergelegten kritischen Gedanken zu setzen. Den Aufsatz des Herrn Edgar über Beraud fand er ungründlich. Der kritische Berichterstatter findet ihn gründlich. Er gesteht zwar selbst: „Ich kenne Berauds Buch - nicht" Dagegen glaubt er, daß es Herrn Edgar gelungen ist etc., und der Glaube macht bekanntlich selig. „Überhaupt", fährt der kritische Gläubige fort, „ist er (der von der Berliner Couleur) mit Edgars Sachen gar nicht recht zufrieden." Er findet auch „Proudhon nicht mit genug gründlichem Ernste behandelt". Hier nun erteilt der Berichterstatter Herrn Edgar das Testimonium:
1 Schauder vor dem Leeren — 2 in Bausch und Bogen
„Ich kenne nun zwar (!?) Proudhon, ich weiß, daß die Darstellung Edgars die charakteristischen Punkte aus ihm genommen und auf anschauliche Weise nebeneinandergestellt hat."
Der einzige Grund, warum Herrn Edgars so vortreffliche Kritik Proudhons nicht gefällt, kann nach dem Berichterstatter nur der sein, daß Herr Edgar keine übeln Winde gegen das Eigentum losgelassen. Ja, man bedenke, der Gegner findet Herrn Edgars Aufsatz über die Union ouvriere unbedeutend. Der Berichterstatter vertröstet Herrn Edgar:
„Natürlich, es ist ja darin nichts Selbständiges gegeben, und diese Leute haben sich wirklich auf den Gruppeschen Standpunkt, auf dem sie freilich immer standen, zurückbegeben. Geben, geben, geben soll die Kritik!"
Als habe die Kritik nicht ganz neue linguistische, historische, philosophische, nationalökonomische, juristische Erfindungen gegeben! Und sie ist so bescheiden, sich sagen zu lassen, sie gebe nichts Selbständiges! Selbst unser kritischer Korrespondent hat der bisherigen Mechanik Unbekanntes gegeben, wenn er Leute auf denselben Standpunkt, auf dem sie immer standen, zurückkehren läßt. Ungeschickt ist die Erinnerung an den Gruppesehen Standpunkt. Gruppe fragte in seiner sonst elenden und nicht nennenswerten Broschüre bei Herrn Bruno an, was er nun Kritisches über die spekulative Logik zu geben habe? Herr Bruno wies ihn an kommende Geschlechter, und „ein Narr wartet auf die Antwort"1:611.
Wie Gott schon den ungläubigen Pharao dadurch strafte, daß er ihn verstockten Herzens machte und seiner Erleuchtung nicht wert erachtete, so versichert der Berichterstatter:
„Sie sind daher auch gar nicht wert, in Eurer .Literatur-Zeitung' den Inhalt zu sehen oder zu erkennen."
Und statt seinem Freunde E dgar anzuraten, sich Gedanken und Kenntnisse zu verschaffen, gibt er den Rat:
„Edgar möge sich einen Phrasensack anschaffen und künftig bei seinen Aufsätzen blind hineingreifen, um einen beim Publikum anklingenden Stil zu erhalten."
Außer den Versicherungen von einer „gewissen Wut, Mißliebigkeit, Inhaltslosigkeit, Gedankenlosigkeit, Ahnung der Sache, hinter die sie nicht kommen können, Gefühl der Nichtigkeit" - alle diese Epitheta, versteht sich, gelten der Berliner Couleur - werden der heiligen Familie Elogen wie folgende gemacht:
„Die Sache durchdringende Leichtigkeit der Behandlung, die Beherrschung der Kategorien, die durch Studium gewonnene Einsicht, kurz, die Herrschaft über die Gegenstände. Er (der von der Berliner Couleur) macht es sich mit der Sache leicht, Ihr macht die Sache leicht." Oder: „Ihr übt in der .Literatur-Zeitung' die reine, darstellende, die Sache ergreifende Kritik." Schließlich heißt's:
„Ich habe Euch das alles so weitläufig geschrieben, weil ich weiß, daß ich Euch durch Mitteilungen der Ansichten meines Freundes eine Freude mache. Ihr seht daraus, daß die .Literatur-Zeitung' ihren Zweck erfüllt." Ihr Zweck ist ihr Gegensatz zur Berliner Couleur. Haben wir soeben die Polemik der Berliner Couleur gegen die kritische Kritik und ihre Zurechtweisung für diese Polemik erlebt, so wird uns nun in doppelter Weise ihr Streben nach der Erbarmung der kritischen Kritik geschildert. Ein Korrespondent schreibt: „Meine Bekannten in Berlin sagten mir, als ich Anfang dieses Jahres dort war, daß Sie alles von sich zurückstießen und fernhielten, sich ganz vereinsamten und jede Annäherung, jeden Umgang mit Geflissentlichkeit vermeiden. Ich kann natürlich nicht wissen, auf welcher Seite die Schuld ist."
Die absolute Kritik antwortet: „Die Kritik macht feine Partei, will keine Partei für sich haben, sie ist einsam einsam, indem sie sich in ihren (!) Gegenstand vertieft, einsam, indem sie sich ihm gegenüberstellt. Sie löst sich von allem ab." Wie die kritische Kritik sich über alle dogmatischen Gegensätze zu erheben meint, indem sie an die Stelle der wirklichen Gegensätze den eingebildeten ihrer selbst und der Welt, des heiligen Geistes und der profanen Masse setzt, so glaubt sie sich über die Parteien zu erheben, indem sie unter den Parteistandpunkt herabfällt, indem sie sich selbst als Partei der übrigen Menschheit gegenüberstellt und alles Interesse in der Persönlichkeit des Herrn Bruno & Comp, konzentriert. Daß die Kritik in der Einsamkeit der Abstraktion thront, daß sie selbst, wenn sie sich scheinbar mit einem Gegenstand beschäftigt, nicht aus ihrer gegenstandslosen Einsamkeit heraus in ein wahrhaft gesellschaftliches Verhältnis zu einem wirklichen Gegenstand tritt, weil ihr Gegenstand nur der Gegenstand ihrer Einbildung, nur ein eingebildeter Gegenstand ist: die Wahrheit dieses kritischen Geständnisses beweist unsere ganze Darstellung. Ebenso richtig bestimmt sie den Charakter ihrer Abstraktion als der absoluten Abstraktion dahin, daß „sie sich von allem ablöst", also eben diese Ablösung des Nichts von allem, von allem Denken, Anschauen etc., der absolute Unsinn ist. Die Einsamkeit übrigens, welche durch
die Ablösung, Abstraktion von allem erreicht wird, ist ebensowenig frei von dem Gegenstand, wovon sie abstrahiert, als Origenes frei von dem Zeugungsgliede war, das er von sich ablöste. Ein anderer Korrespondent beginnt damit, daß er einen von der „Berliner Couleur", den er gesehen und gesprochen habe, als „mißmutig8*, „gedrückt'*, „nicht mehr den Mund auftun könnend", der sonst immer mit einem „recht frechen Worte bei der Hand gewesen sei", als „kleinmütig" schildert. Dies Mitglied der „Berliner Couleur" erzählt dem Korrespondenten, der seinerseits der Kritik referiert:
„Er könne nicht begreifen, wie Leute wie Ihr beide, die doch sonst dem Humanitätsprinzip huldigten, sich so abschließend, so abstoßend, ja hochmütig benehmen könnten." Er wisse nicht, „warum es einige gibt, die, wie es scheint, absichtlich eine Spaltung hervorrufen. Wir stehen doch alle auf demselben Standpunkte, wir huldigen alle dem Extrem, der Kritik, sind alle fähig, einen extremen Gedanken, wenn auch nicht zu erzeugen, so doch aufzufassen und anzuwenden." Er „finde bei dieser Spaltung kein anderes leitendes Prinzip als Egoismus und Hochmut".
Nun legt der Korrespondent ein gutes Wort ein: „Haben denn nicht wenigstens einige unter unsern Freunden die Kritik erfaßt, oder vielleicht den guten Willen der Kritik ... ,ut desint vires, tarnen est laudanda voluntas'1." Die Kritik antwortet durch folgende Antithesen zwischen sich und der Berliner Couleur: „Es seien verschiedene Standpunkte der Kritik." Jene „glaubten die Kritik in der Tasche zu haben", sie „kenne und wende wirklich die Macht der Kritik an", d. h. sie behalte sie nicht in der Tasche. Für die erste sei die Kritik reine Form, für sie dagegen das „Inhaltvollste, vielmehr das einzig Inhaltvolle". Wie das absolute Denken sich selbst als für alle Realität gilt, so die kritische Kritik. Sie erblickt daher außer sich keinen Inhalt, sie ist daher nicht die Kritik wirklicher, außer dem kritischen Subjekt hausender Gegenstände, sie macht vielmehr den Gegenstand, sie ist absolutes Subjekt-Objekt. Weiter! „Die erste Art der Kritik setze sich mit Redensarten über alles, über das Studium der Sachen hinweg, und die zweite löse sich mit Redensarten von allem ab." Die erstere ist „unwissend klug", die zweite ist „lernend". Die zweite ist allerdings unklug und lernt par ?a, par Iä2, aber nur scheinbar, aber nur, um das oberflächlich Erlernte als selbsterfundene Weisheit zum „Stichwort" gegen die Masse, von der sie gelernt, schleudern und es in kritisch-kritischen Unsinn auflösen zu können.
1 .Fehlen auch die Kräfte, so ist doch der Wille zu loben' - 2 hier und da
„Der ersteren sind Worte wie .Extrem', »weitergehen', .nicht weit genug gehen' von Bedeutung und höchste angebetete Kategorien, die andere ergründet die Standpunkte und wendet nicht die Maße jener abstrakten Kategorien auf sie an."
Die Ausrufungen der Kritik Nr. 2, es sei nicht mehr die Rede von der Politik, die Philosophie sei abgetan, ihr Hinwegsetzen über soziale Systeme und Entwickelungen durch Worte wie „phantastisch", „utopisch" etc., was ist das alles anders als eine kritisch-emendierte Wendung des „Weitergehens", „Nicht-weit-genug-Gehens" ? Und ihre „Maße", wie „die Geschichte", „die Kritik", „Zusammenfassen der Gegenstände", „das Alte und das Neue", „Kritik und Masse", „die Ergründung der Standpunkte" - kurz, alle ihre Stichworte, sind etwa keine kategorischen und abstrakt kategorischen Maßel ?
„Die erstere ist theologisch, boshaft, neidisch, kleinlich, anmaßend, die andere das Gegenteil von alledem."
Nachdem die Kritik auf diese Weise sich in einem Atemzuge ein Dutzend Lobsprüche gespendet hat und alles das von sich aussagt, was der Berliner Couleur abgeht, wie Gott alles das ist, was der Mensch nicht ist, stellt sie sich das Zeugnis aus:
„Sie erreichte eine Klarheit, eine Lernbegierde, eine Ruhe, in der sie unangreifbar und unüberwindlich ist."
Sie kann daher über ihren Gegensatz, die Berliner Couleur, „höchstens das Geschäft des olympischen Gelächters auf sich nehmen". Dieses Auslachen — mit gewohnter Gründlichkeit entwickelt sie, was dieses Auslachen ist und was es nicht ist - „dieses Auslachen ist kein Hochmut". Beileibe nicht! Es ist die Negation der Negation. Es ist „nur der Prozeß, den der Kritiker mit Behagen und Seelenruhe gegen einen untergeordneten Standpunkt, der sich ihm gleich dünkt" - welcher Dünkel! - „anwenden muß". Also wenn der Kritiker lacht, so wendet er einen Prozeß an! Und in seiner „Seelenruhe" wendet er den Prozeß des Lachens nicht gegen Personen, sondern gegen einen Standpunktl Selbst das Lachen ist eine Kategorie, die er anwendet und gar anwenden mußl Die außerweltliche Kritik ist keine Wesenstätigkeit des wirklichen, darum in der gegenwärtigen Gesellschaft lebenden, leidenden, an ihren Qualen und Freuden teilnehmenden menschlichen Subjekts. Das wirkliche Individuum ist nur ein Akzidens, ein irdisches Gefäß der kritischen Kritik, die sich in ihm als die ewige Substanz offenbart. Nicht die Kritik des menschlichen Individuums, sondern das unmenschliche Individuum der Kritik ist Subjekt. Nicht die Kritik ist eine Äußerung des Menschen, sondern der Mensch
eine Entäußerung der Kritik, der Kritiker lebt daher völlig außer der Gesellschaft.
„Kann der Kritiker in derjenigen Gesellschaft leben, die er kritisiert?"
Vielmehr: Muß er nicht in dieser Gesellschaft leben, muß er nicht selbst eine Lebensäußerung dieser Gesellschaft sein? Warum verkauft der Kritiker seine Geistesprodukte, da er hiermit das schlechteste Gesetz der heutigen Gesellschaft zu dem seinigen macht?
„Der Kritiker darf es nicht einmal wagen, sich persönlich in die Gesellschaft einzulassen."
Darum bildet er sich eine heilige Familie, wie auch der einsame Gott in der heiligen Familie seine langweilige Trennung von aller Gesellschaft aufzuheben trachtet. Wenn der Kritiker sich von der schlechten Gesellschaft losmachen will, so mache er sich vor allem von der Gesellschaft seiner selbst los.
„So entbehrt der Kritiker aller Freuden der Gesellschaft, aber auch ihreLeiden bleiben ihm fern. Er kennt weder Freundschaft" - mit Ausnahme der kritischen Freunde - „noch Liebe" - mit Ausnahme der Selbstliebe -, „dafür prallt aber die Verleumdung machtlos an ihm ab; nichts kann ihn beleidigen; ihn berührt kein Haß, kein Neid; Ärger und Gram1 sind ihm unbekannte Affekte."
Kurz, der Kritiker ist frei von allen menschlichen Leidenschaften, er ist eine göttliche Person, er kann von sich das Lied der Nonne singen:
Ich gedenk' an keine Liebe, Ich gedenk* an keinen Mann, Ich gedenk' an Gott den Vater, Der mich erhalten kann.
Es ist der Kritik nicht gegeben, irgendeinen Passus zu schreiben, ohne sich zu widersprechen. So sagt sie uns schließlich:
„Das Philistertum, das den Kritiker mit Steinen wirft" - nach biblischer Analogie muß er gesteinigt werden -, „das ihn mißkennt und ihm unreine Motive unterschiebt" der reinen Kritik unreine Motive unterzuschieben! „um ihn sich gleich zu machen" der oben gerügte Gleichheitsdünkel - „es wird von ihm nicht verlacht, denn das ist es nicht wert, sondern durchschaut und von ihm mit Ruhe in seine unbedeutende Bedeutendheit zurückgewiesen." Mehr oben mußte der Kritiker den Prozeß des Auslachens gegen den sich „gleichdünkenden, untergeordneten Standpunkt anwenden". Die Unklarheit der kritischen Kritik über ihre Verfahrungsweise gegen die gottlose
1 In der „Allgemeinen Literatur-Zeitung": Grimm
„Masse" scheint fast auf eine innerliche Gereiztheit, auf eine Galle hinzudeuten, für welche die „Affekte" keine „Unbekannten" sind. Man darf indes nicht verkennen. Nachdem die Kritik bisher als ein Herkules gekämpft, um sich von der unkritischen „profanen Masse" und „allem" abzulösen, hat sie endlich ihre einsame, göttliche, selbstgenügsame absolute Existenz glücklich herausgearbeitet. Wenn in dem ersten Aussprechen dieser ihrer „neuen Phase" die alte Welt der sündlichen Affekte über sie selbst noch eine Macht zu haben scheint, so werden wir sie nun in einer „Kunstgestalt" ihre ästhetische Abkühlung und Verklärung finden und ihre Buße vollbringen sehen, damit sie endlich als zweiter, triumphierender Christus das kritische jüngste Gericht feiern und nach ihrem Sieg über den Drachen ruhig zum Himmel fahren könne.
VI». KAPITEL
Weltgang und Verklärung der „kritischen Kritik" oder „die kritische Kritik" als Rudolph, Fürst von Geroldstein
Rudolph, Fürst von Geroldstein, büßt in seinem Weltgang ein doppeltes Vergehen, sein persönliches Vergehen und das Vergehen der kritischen Kritik. Er selbst hat im eifrigen Zwiegespräch das Schwert auf seinen Vater gezückt, die kritische Kritik hat im eifrigen Zwiegespräch sich zu sündlichen Affekten gegen die Masse hinreißen lassen. Die kritische Kritik hat nicht ein einziges Geheimnis enthüllt. Rudolph tut dafür Buße und enthüllt alle Geheimnisse. Rudolph ist, wie Herr Szeliga berichtet, der erste Diener des Staats der Menschheit. (Humanitätsstaat des Schwaben Egidius. Siehe „Konstitutionelle Jahrbücher" von Dr. Karl Weil, 1844, 2.Band.) Damit die Welt nicht untergehe, müssen nach Herrn Szeligas Behauptung die „Männer der rücksichtslosen Kritik auftreten ... Rudolph ist ein solcher Mann ... Rudolph faßt den Gedanken reiner Kritik. Und dieser Gedanke ist fruchtbringender für ihn und die Menschheit als alle Erfahrungen, welche diese in ihrer Geschichte gemacht, als alles Wissen, das Rudolph aus dieser Geschichte, geleitet selbst von dem treusten Lehrer, sich hat aneignen können ... Das unparteiische Gericht, mit welchem Rudolph seinen Weltgang verewigt, ist in der Tat nichts anderes als die Enthüllung der Geheimnisse der Gesellschaft Er ist „das enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse". Rudolph hat über unendlich mehr äußere Mittel zu gebieten als die übrigen Männer der kritischen Kritik. Sie vertröstet sich: „Unerreichbar sind für den weniger von dem Geschick Begünstigten Rudolphs Resultate (!), nicht unerreichbar das schöne Ziel (!)." Die Kritik überläßt es daher dem von dem Geschick begünstigten Rudolph, ihre eignen Gedanken zu verwirklichen. Sie singt ihm zu: Hahnemann, Geh du voran, Du hast die großen Wasserstiefel an! t63-*
Begleiten wir Rudolph auf seinem kritischen Weltgang, der „fruchtbringend der für die Menschheit ist als alle Erfahrungen, welche die Menschheit in ihrer Geschichte gemacht hat, als alles Wissen" etc., der zweimal die Welt vor dem Untergehn rettet.
1. Kritische Verwandlung eines Metzgers in einen Hund oder der Chourineur1
Chourineur war von Haus aus ein Metzger. Verschiedene Kollisionen machen den gewaltsamen Naturmenschen zum Mörder. Rudolph findet ihn zufällig, als er eben die Fleur de Marie mißhandelt. Rudolph versetzt dem gewandten Raufbold einige meisterhafte, imponierende Faustschläge auf das Haupt. Rudolph erwirbt dadurch Chourineurs Achtung. Später in der Verbrecherkneipe äußert sich Chourineurs gutherziges Temperament. Rudolph sagt ihm: „Du hast noch Herz und Ehre." Er flößt ihm durch diese Worte Achtung vor sich selbst ein. Chourineur ist gebessert, oder, wie Herr Szeliga sagt, in ein „moralisches Wesen" umgewandelt. Rudolph nimmt ihn unter seine Protektion. Folgen wir dem von Rudolph geleiteten Bildungsgang Chourineurs. 1. Stadium. Der erste Unterricht, den Chourineur erhält, ist ein Unterricht in der Heuchelei, Treulosigkeit, Heimtücke und Verstellung. Rudolph benutzt den moralisierten Chourineur ganz in derselben Weise, wie Vidocq die von ihm moralisierten Verbrecher benutzte, d. h. er macht ihn zum Mouchard2 und Agent provocateur3. Er gibt ihm den Rat, sich bei dem maitre d'ecole4 das „Ansehen zu geben", als habe er seine „Prinzipien, nicht zu stehlen", verändert, dem maitre d'ecole eine Diebesexpedition vorzuschlagen und ihn dadurch in eine von Rudolph gestellte Falle zu locken. Chourineur hat das Gefühl, daß man ihn zu einer „Farce" mißbrauchen will. Er protestiert gegen die Anmutung, die Rolle des Mouchard und Agent provocateur zu spielen. Rudolph überzeugt den naturwüchsigen Menschen leicht durch die „reine" Kasuistik der kritischen Kritik, daß ein schlechter Streich kein schlechter Streich ist, wenn er aus „guten, moralischen" Gründen verübt wird. Chourineur lockt als Agent provocateur unter dem Schein der Kameradschaft und des Vertrauens seinen ehemaligen Gefährten ins Verderben. Zum ersten Male in seinem Leben begeht er eine Infamie.
1 Messerheld - Spitzname, den er als ehemaliger Bagnosträfling erhalten hatte - 8 Polizeispion - 3 bezahlter Unruhestifter - 4 Schulmeister
2. Stadium. Wir finden den Chourineur wieder als garde-malade1 Rudolphs, den er aus einer Lebensgefahr errettet hat. Chourineur ist ein so anständiges moralisches Wesen geworden, daß er den Vorschlag des Negerarztes David, sich auf den Fußboden zu setzen, ablehnt, aus Furcht, den Teppich zu beschmutzen, ja, er ist zu schüchtern, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Erst setzt er den Stuhl auf den Rücken und dann sich selbst auf die Vorderfüße des Stuhls. Er verfehlt nicht, sich jedesmal zu entschuldigen, sobald er Herrn Rudolph, den er aus Todesgefahr errettet, seinen „Freund" oder Monsieur2 statt Monseigneur3 anredet. Bewundernswürdige Dressur des rücksichtslosen Naturmenschen! Chourineur spricht das innerste Geheimnis seiner kritischen Verwandlung aus, wenn er dem Rudolph gesteht, für ihn dasselbe Attachement zu fühlen, welches ein Bulldogge für seinen Herrn empfindet. „Je me sens pour vous, comme qui dirait Vattachement d'un bouledogue pour son maitreDer ehemalige Metzger ist in einen Hund verwandelt. Von nun an werden sich alle seine Tugenden in die Tugend des Hundes, in das reine „devouement"5 für seinen Herrn auflösen. Seine Selbständigkeit, seine Individualität werden vollständig verschwinden. Wie aber schlechte Maler ihrem Gemälde einen Zettel in den Mund legen müssen, um zu sagen, was es bedeuten soll, so wird Eugen Sue dem „bouledogue" Chourineur einen Zettel in den Mund legen, der fortwährend beteuert: „Die beiden Worte: Du hast Herz und Ehre, haben mich zum Menschen gemacht." Chourineur wird bis zu seinem letzten Atemzug nicht in seiner menschlichen Individualität, sondern in diesem Zettel das Motiv seiner Handlungen finden. Als Probe seiner moralischen Besserung wird er über seine eigne Vortrefflichkeit und über die Schlechtigkeit anderer Individuen vielfach reflektieren, und sooft er mit moralischen Redensarten um sich wirft, wird ihm Rudolph sagen: „Ich höre dich gern so sprechen." Chourineur ist kein gewöhnlicher, sondern ein moralischer Bulldogge geworden. 3. Stadium. Wir haben schon den spießbürgerlichen Anstand, der an die Stelle der rohen, aber kühnen Ungeniertheit Chourineurs getreten ist, bewundert. Wir erfahren nun, daß er, wie es einem „moralischen Wesen" geziemt, auch den Gang und die Haltung des Spießbürgers sich angeeignet hat. „A le voir marcher - on l'eüt pris pour le bourgeois le plus inoffensif du monde."6
1 Krankenwärter - 2 Herr - 3 gnädiger Herr - 4 »Ich fühle für Sie so etwas wie die Anhänglicbikeit einer Bulldogge an ihren Herrn" ~ 5 „Aufopferung" - 6 „Wer ihn so gesehen ... hätte ihn für den unschuldigsten Bürger von der Welt halten müssen."
Noch trauriger wie diese Form ist der Gehalt, den Rudolph seinem kritisch reformierten Leben gibt. Er schickt ihn nach Afrika, um als „ein lebendiges und heilsames Exempel der Reue der ungläubigen Welt zum Schauspiel zu dienen". Nicht seine eigne menschliche Natur hat er von nun an darzustellen, sondern ein christliches Dogma. 4. Stadium. Die kritisch-moralische Umwandlung hat den Chourineur zu einem stillen, vorsichtigen Mann gemacht, der sein Betragen nach den Regeln der Furcht und Lebensklugheit einrichtet.
„Le chourineur", berichtet Murph, dessen indiskrete Einfalt beständig aus der Schule plaudert, „n'a pas dit un mot de l'execution du maitre d'ecole, de peur de se trouver compromis."1
Chourineur weiß also, daß die Exekution des maitre d'ecole eine rechtswidrige Handlung war. Er plaudert sie nicht aus, aus Furcht, sich zu kompromittieren. Weiser Chourineur! 5. Stadium. Chourineur hat seine moralische Bildung so weit vollendet, daß er sein hündisches Verhältnis zu Rudolph unter einer zivilisierten Form sich zum Bewußtsein bringt. Er sagt zu Germain, nachdem er ihn aus einer Todesgefahr errettet hat:
„Ich habe einen Protektor, der für mich dasselbe ist, was Gott für die Priester - es ist, um sich auf die Knie vor ihm zu werfen."
Und in Gedanken liegt er vor seinem Gott auf den Knien.
„Herr Rudolph", fährt er zu Germain fort, „beschützt Sie. Ich sage Herr, aber ich müßte sagen gnädiger Herr. Doch ich habe die Gewohnheit, ihn Herr Rudolph zu nennen, und er erlaubt es mir."
„Herrliches Erwachen und Erblühen!" ruft Szeliga im kritischen Entzücken aus! 6. Stadium. Chourineur beendigt würdig seine Laufbahn des reinen devouement, des moralischen Bulldoggentums, indem er sich schließlich für seinen gnädigen Herrn totstechen läßt. Im Augenblick, wo das Skelett den Prinzen mit seinem Messer bedroht, hält Chourineur den Arm des Mörders auf. Skelett durchsticht ihn. Der sterbende Chourineur aber sagt zu Rudolph:
„Ich hatte recht zu sagen, daß ein Stück Erde" (ein Bulldogge) „wie ich manchmal einem großen gnädigen Herrn wie Ihnen nützlich sein könne."
1 „Der Chourineur hat feein Wort von der Bestrafung des Schulmeisters gesagt, aus Furcht, sich zu kompromittieren."
Dieser hündischen Äußerung, welche den ganzen kritischen Lebenslauf Chourineurs in ein Epigramm zusammenfaßt, fügt der Zettel in seinem Munde hinzu:
„Wir sind quitt, Herr Rudolph. Sie haben mir gesagt, daß ich Herz und Ehre hätte."
Herr Szeliga schreit aus vollen Leibeskräften:
„Welch ein Verdienst erwirbt, sich Rudolph damit, den ,Schurimann (?) der Menschheit (?) zurückgegeben zu haben!"
2. Enthüllung des Geheimnisses der kritischen Religion oder Fleur de Marie
a) Die spekulative „Marien-Blume"
Noch ein Wort über die spekulative „Marien-Blume" des Herrn Szeliga, ehe wir zu der Fleur de Marie des Eugen Sue übergehen. Die spekulative „Marien-Blume" ist vor allem eine Berichtigung. Der Leser könnte nämlich aus der Konstruktion des Herrn Szeliga schließen, Eugen Sue habe
„die Darstellung der objektiven Grundlage" (des „Weltzustandes") „von der Entwicklung der handelnden individuellen Kräfte, welche nur aus jenem Hintergrund begriffen werden können, getrennt".
Außer der Aufgabe, diese irrtümliche, durch Herrn Szeligas Darstellung erzeugte Vermutung des Lesers zu berichtigen, hat Marien-Blume auch noch einen metaphysischen Beruf in unserm, nämlich Herrn Szeligas, „Epos".
„Weltzustand und epische Begebenheit würden auch noch nicht zu einem wahrhaft einigen Ganzen künstlerisch verbunden sein, wenn sie nur in einem bunten Gemisch durcheinanderkreuzten, bald hier ein Stück Weltzustand, und wieder dort eine Szene Handlung miteinander abwechselten. Soll wirkliche Einheit entstehen, so müssen beide, die Geheimnisse dieser befangenen Welt und die Klarheit, Offenheit und Sicherheit, mit welcher Rudolph in sie eindringt und sie enthüllt, in einem Individuum zusammenstoßen ... Marien-Blume hat diese Aufgabe." Herr Szeliga konstruiert Marien-Blume nach der Analogie der Bauerschen Konstruktion der Mutter Gottes. Auf der einen Seite steht das „Göttliche" (Rudolph), „dem alle Macht und Freiheit" zugeschrieben wird, das allein tätige Prinzip. Auf der andern Seite steht der passive „Weltzustand" und die ihm angehörigen Menschen. Der Weltzustand ist der „Boden des Wirklichen". Soll dieser nun nicht „ganz
verlassen" oder „der letzte Rest des Naturzustandes nicht aufgehoben" werden, soll die Welt selbst an dem „Prinzip der Entwicklung", das Rudolph ihr gegenüber in sich konzentriert, noch einigen Anteil haben, soll „das Menschliche nicht als schlechthin unfrei und untätig dargestellt werden", so muß Herr Szeliga dem „Widerspruch des religiösen Bewußtseins" anheimfallen. Obgleich er den Weltzustand und seine Tätigkeit als den Dualismus einer toten Masse und der Kritik (Rudolphs) auseinanderreißt, muß er dennoch dem Weltzustand und der Masse wieder einige Attribute der Göttlichkeit zugestehen und in der Marien-Blume die spekulative Einheit beider, Rudolphs und der Welt, konstruieren. (Siehe „Kritik der Synoptiker", Band I, p. 39.) Außer den wirklichen Beziehungen, in welchen der Hausbesitzer (die handelnde „individuelle Kraft") zu seinem Hause (der „objektiven Grundlage") steht, bedarf die mystische Spekulation, auch die spekulative Ästhetik, noch einer dritten konkreten, spekulativen Einheit, eines Subjekt-Objekts, welches das Haus und der Hausbesitzer in einer Person ist. Weil die Spekulation die natürlichen Vermittlungen in ihrer breiten Umständlichkeit nicht liebt, so sieht sie nicht ein, daß dasselbe „Stück Weltzustand", das Haus z.B., welches für den einen, z.B. für den Hausbesitzer, eine „objektive Grundlage" ist, für den andern, den Baumeister des Hauses z.B., eine „epische Begebenheit" ist. Die kritische Kritik, welche der „romantischen Kunst" das „Dogma der Einheit" zum Vorwurf macht, setzt, um ein „wahrhaft einiges Ganze", um eine „wirkliche Einheit" zu erhalten, an die Stelle des natürlichen und menschlichen Zusammenhangs zwischen Weltzustand und Weltbegebenheit einen phantastischen Zusammenhang, ein mystisches SubjektObjekt, wie Hegel an die Stelle des wirklichen Zusammenhangs von Mensch und Natur ein absolutes Subjekt-Objekt, das die ganze Natur und die ganze Menschheit auf einmal ist, den absoluten Geist, setzt. In der kritischen Marien-Blume wird „die allgemeine Schuld der Zeit, die Schuld des Geheimnisses", zum „Geheimnis der Schuld", wie die allgemeine Schuld des Geheimnisses im verschuldeten Epicier1 zum Geheimnis der Schulden wird. Marien-Blume müßte nach der Mutter-Gottes-Konstruktion eigentlich die Mutter Rudolphs, des Welterlösers, sein. Herr Szeliga erklärt dies ausdrücklich; „Der logischen Folge nach müßte Rudolph der Sohn der Marien-Blume sein." Weil er aber nicht ihr Sohn, sondern ihr Vater ist, so findet Herr Szeliga hierin „das neue Geheimnis, daß die Gegenwart aus ihrem Schöße statt der
1 Krämei"
12 Marx(Engels, Werke, BJ. 2
Zukunft oft die längst hingeschiedene Vergangenheit gebiert". Ja, er entdeckt das andere, noch größere, der massenhaften Statistik direkt widersprechende Geheimnis, daß „ein Kind, wenn es nicht wiederum Vater oder Mutter wird, sondern jungfräulich und unschuldig in die Gruft niedersteigt... wesentlich... Tochter ist". Herr Szeliga folgt getreu der Hegeischen Spekulation, wenn ihm der „logischen Folge" nach die Tochter für die Mutter ihres Vaters gilt. In Hegels Geschichtsphilosophie, wie in seiner Naturphilosophie, gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur, die christliche Religion das Heidentum, das Resultat den Anfang. Nachdem Herr Szeliga bewiesen hat, daß Marien-Blume der „logischen Folge" nach Rudolphs Mutter sein müßte, beweist er nun das Gegenteil, daß sie, „um ganz der Idee zu entsprechen, welche sie in unserm Epos verkörpert, niemals Mutter werden darf". Dies beweist wenigstens, daß die Idee unseres Epos und die logische Folge des Herrn Szeliga sich wechselseitig widersprechen. Die spekulative Marien-Blume ist nichts als die „Verkörperung einer Idee". Und welcher Idee? „Sie hat doch die Aufgabe, gleichsam die letzte Wehmutsträne darzustellen, welche die Vergangenheit vor ihrem gänzlichen Scheiden weint." Sie ist die Darstellung einer allegorischen Träne, und auch dies Wenige, was sie ist, ist sie doch nur „gleichsam". Wir folgen Herrn Szeliga nicht in seiner weitern Darstellung der MarienBlume. Wir überlassen ihr selbst das Vergnügen, nach Herrn Szeligas Vorschrift „gegen jedermann den entschiedensten Gegensatz zu bilden", ein geheimnisvoller Gegensatz, so geheimnisvoll wie die Eigenschaften Gottes. Wir grübeln ebensowenig über „das wahre Geheimnis" nach, das „von Gott in den Busen des Menschen gesenkt ist" und worauf die spekulative Marien-Blume „doch gleichsam" hindeutet. Wir gehen von Herrn Szeligas Marien-Blume zu Eugen Sues Fleur de Marie und zu den kritischen Wunderkuren über, welche Rudolph an ihr vollbringt.
b) Fleur de Marie
Wir finden Marie mitten unter Verbrechern als Freudenmädchen, als Leibeigne der Wirtin der Verbrecher kneipe. Innerhalb dieser Erniedrigung bewahrt sie einen menschlichen Seelenadel, eine menschliche Unbefangenheit und eine menschliche Schönheit, welche ihrer Umgebung imponieren, sie zur poetischen Blume des Verbrecherkreises erheben und ihr den Namen Fleur de Marie erwerben.
Es ist notwendig, Fleur de Marie von ihrem ersten Auftreten an genau zu beobachten, um ihre ursprüngliche Gestalt mit ihrer kritischen Umgestaltung vergleichen zu können. Bei aller Zartheit gibt Fleur de Marie sogleich Beweise von Lebensmut, Energie, Heiterkeit, Elastizität des Charakters, von Eigenschaften, welche allein ihre menschliche Entfaltung innerhalb ihrer entmenschten Lage erklären können. Gegen den Chourineur, der sie mißhandelt, verteidigt sie sich mit ihrer Schere. Das ist die erste Situation, worin wir sie finden. Sie erscheint nicht als ein wehrloses, der überlegenen Brutalität sich widerstandslos preisgebendes Lamm, sondern als ein Mädchen, das seine Rechte geltend zu machen, das einen Kampf zu bestehen weiß. In der Verbrecherkneipe der Rue aux Feves erzählt sie dem Chourineur und Rudolph ihre Lebensgeschichte. Während ihrer Erzählung lacht sie über Chourineurs Witz. Sie klagt sich an, aus dem Gefängnis kommend, die hier erworbenen 300 Francs verfahren und verputzt zu haben, statt Arbeit zu suchen, „aber ich hatte niemand zum Ratgeber". Die Erinnerung an die Katastrophe ihres Lebens - die Verschacherung an die Verbrecherwirtin — stimmt sie wehmütig. Seit ihrer Kindheit ist dies das erstemal, daß sie sich aller dieser Begebenheiten erinnert.
„Le fait est, que me chagrine de regarder ainsi derriere moi ... cta doit etre bien bon d'etre honnete."1
Auf Chourineurs Spott, sie solle honett werden, ruft sie aus: „Honnete, mon dieu! et avec quoi donc veux-tu que je sois honnete?"2
Sie erklärt ausdrücklich, daß sie keine „weinerlich sich Gebärdende" sei: „Je ne suis pas pleurnicheuse"3;
aber ihre Lebenssituation ist traurig „(Ja n'est pas gai."'1
Endlich spricht sie, im Gegensatz zur christlichen Reue, über die Vergangenheit den zugleich stoischen und epikureischen, den menschlichen Grundsatz einer Freien und Starken aus: „Enfin ce qui est fait, est fait."5
1 „Ja, es betrübt mich, wenn ich so in meine Vergangenheit zurücksehe ... es muß doch schön sein, ehrlich zu sein." - 2 „Ehrlich, mein Gott, wie soll ich denn ehrlich sein?"3 „Ich bin nicht weinerlich" - 4 „Angenehm ist es nicht." - 5 „Doch was geschehen ist, ist geschehen."
Begleiten wir nun Fleur de Marie auf ihrer ersten Spazierfahrt mit Rudolph. „Das Bewußtsein deiner fürchterlichen Lage hat dich wohl oft gepeinigt", sagt Rudolph, den es schon prickelt, eine moralische Konversation einzuleiten. „Ja" , antwortet sie, „mehr als einmal sah ich über die Schutzwehren hinüber die Seine an, aber dann betrachtete ich die Blumen, die Sonne, dann sagte ich mir: Der Fluß wird immer da sein, ich bin noch nicht siebzehn Jahr alt, wer weiß? Dans ces moments-lä il me semblait que mon sort n'etait pas merite, qu'il y avait en moi quelque chose de bon. Je me disais, on m a bien tourmente, mais au moins je n'ai jamais fait de mal ä personne."1
Fleur de Marie betrachtet die Lage, worin sie sich befindet, nicht als freie Schöpfung, nicht als Ausdruck ihrer selbst, sondern als ein Los, das sie nicht verdient hat. Dies Mißgeschick kann sich ändern. Sie ist noch jung. Das Gute und das Böse in Mariens Auffassung sind nicht die moralischen Abstraktionen des Guten und des Bösen. Sie ist gut, denn sie hat niemand ein Leid zugefügt, sie war immer menschlich gegen die unmenschliche Umgebung. Sie ist gut, denn Sonne und Blumen offenbaren ihr ihre eigne sonnige und blumige Natur. Sie ist gut, denn sie ist noch jung, hoffend und lebensmutig. Ihre Lage ist nicht gut, weil sie ihr einen unnatürlichen Zwang antut, weil sie nicht die Äußerung ihrer menschlichen Triebe, nicht die Verwirklichung ihrer menschlichen Wünsche, weil sie qualvoll und freudlos ist. An ihrer eigenen Individualität, an ihrem natürlichen Wesen mißt sie ihre Lebenssituation, nicht am Ideal des Guten. In der Natur, wo die Ketten des bürgerlichen Lebens abfallen, wo sie frei ihre eigene Natur äußern kann, sprudelt Fleur de Marie daher eine Lebenslust aus, einen Reichtum der Empfindung, eine menschliche Freude an der Schönheit der Natur, die beweisen, wie die bürgerliche Situation nur ihre Oberfläche gestreift hat, ein bloßes Mißgeschick ist, und wie sie selbst weder gut noch böse, sondern menschlich ist. „Monsieur Rodolphe, quel bonheur ... de l'herbe, des champs! Si vous vouliez me permettre de descendre, il fait si beau ... j'aimerais tant ä courir dans ces prairies!"2
Aus dem Wagen gestiegen, pflückt sie dem Rudolph Blumen, „kann kaum sprechen vor Freude" etc. etc.
1 „... In solchen Augenblicken war es mir, als hätte ich mein Schicksal nicht verdient, als läge etwas Gutes in mir. Ich sagte zu mir: Man hat mich sehr mißhandelt, aber ich habe doch niemandem etwas zuleide getan." - 2 „Herr Rudolph, welches Glück! Gras! Felder! Wenn Sie mir erlauben wollten auszusteigen ... es ist so schön! Ich möchte so gern auf diesen Wiesen gehen!"
Rudolph entdeckt ihr, daß er sie auf den Pachthof der Madame George führen wird. Dort kann sie Taubenschläge, Stallungen etc. sehen; dort gibt es Milch, Butter, Früchte etc. Das sind die wahren Gnadenmittel für dieses Kind. Sie wird sich belustigen, das ist ihr Hauptgedanke. „C'est a n y pas croire ... comme je veux m'amuser l"1 Sie erklärt dem Rudolph ihren eigenen Anteil an ihrem Mißgeschick in der unbefangensten Weise. „Tout mon sort est venu de ce que je n'ai pas economise mon argent."2 Sie rät ihm daher, sparsam zu sein und Geld in die Sparkasse zu hinterlegen. Ihre Phantasie ergeht sich in den Luftschlössern, die Rudolph ihr aufbaut. Sie verfällt nur in Trauer, weil sie „die Gegenwart vergessen hatte" und „der Kontrast dieser Gegenwart mit dem Traum einer freudigen und lachenden Existenz ihr die Greuel ihrer Lage ins Gedächtnis ruft". Bis hierher sehen wir Fleur de Marie in ihrer ursprünglichen unkritischen Gestalt. Eugen Sue hat sich über den Horizont seiner engen Weltanschauung erhoben. Er hat den Vorurteilen der Bourgeoisie ins Gesicht geschlagen. Er wird Fleur de Marie dem Helden Rudolph überliefert haben, um seine Verwegenheit zu sühnen, um sich den Beifall aller alten Männer und Weiber, der gesamten Pariser Polizei, der gangbaren Religion und der „kritischen Kritik" zu erwerben. Madame George, welcher Rudolph die Fleur de Marie überliefert, ist eine unglückliche, hypochondrische und religiöse Frau. Sie empfängt das Kind sogleich mit den salbungsvollen Worten, daß „Gott die segnet, die ihn lieben und fürchten, die unglücklich gewesen sind und die bereuen . Rudolph, der Mann der „reinen Kritik", läßt den unseligen, im Aberglauben ergrauten Pfaffen Laporte herbeirufen. Er ist bestimmt, die kritische Reform der Fleur de Marie zu vollbringen. Marie naht heiter und unbefangen dem alten Pfaffen. Eugen Sue in seiner christlichen Brutalität läßt ihr sogleich von einem „bewundrungswürdigen Instinkt" ins Ohr flüstern, daß „die Scham da endet, wo die Reue und Buße anfangen", nämlich in der alleinseligmachenden Kirche. Er vergißt die heitre Unbefangenheit auf der Spazierfahrt, eine Heiterkeit, welche die Gnadenmittel der Natur und die freundliche Teilnahme Rudolphs erzeugt hatten, und welche nur durch den Gedanken, zu der Verbrecherwirtin zurückkehren zu müssen, getrübt wurde. Der Pfaffe Laporte wirft sich sogleich in überirdische Positur. Sein erstes Wort ist:
1 „Das klingt ganz unglaublich! Wie will ich mich freuen!" - 3 „Ich bin auch bloß deshalb in meine üble Lage gekommen, weil ich mein Geld nicht gespart hatte."
„Gottes Barmherzigkeit ist unerschöpflich, mein teures Kind! Er hat sie dir bewiesen, indem er dich in sehr schmerzlichen Prüfungen nicht verlassen hat ... der großmütige Mann, der dich gerettet, hat dieses Schriftwort" - man merke wohl: das Schriftwort, nicht einen menschlichen Zweck! - „verwirklicht: Der Herr ist nahe denen, die ihn anrufen; er wird die Wünsche derer erfüllen, die ihn anrufen; er wird hören ihr Schreien und er wird sie erretten ... der Herr wird sein Werk vollenden." Marie versteht noch nicht den bösartigen Sinn des pfäffischen Sermons. Sie antwortet: „Ich werde beten für die, die sich meiner erbarmt und mich zu Gott zurückgeführt haben." Ihr erster Gedanke ist nicht Gott, sondern ihr menschlicher Retter, und für ihn, nicht für ihre eigne Absolution will sie beten. Sie traut ihrem Gebete einen Einfluß auf das Heil andrer zu. Ja, sie ist noch so naiv, zu unterstellen,daß sie schon zu Gott zurückgeführt ist. Der Pfaffe muß diesen heterodoxen Wahn zerstören. „Bald", unterbricht er sie, „bald wirst du die Absolution verdienen, die Absolution von deinen großen Fehlern ... denn um noch einmal mit dem Propheten zu sprechen: Der Herr hält alle die aufrecht, die nahe am Fallen sind." Man übersehe nicht die unmenschliche Wendung des Priesters. Bald wirst du die Absolution verdienen! Noch sind dir deine Sünden nicht vergeben. WieLaporte dem Mädchen zum Empfange das Sündenbewußtsein, so präsentiert ihr Rudolph beim Abschied ein goldnes Kreuz, ein Symbol der christlichen Kreuzigung, die ihr bevorsteht. Marie wohnt schon einige Zeit auf dem Pachthofe der Madame George. Lauschen wir zunächst einem Zwiegespräch des greisen Pfaffen Laporte mit Madame George. Eine „Heirat" hält er für die Marie unmöglich, „weil kein Mann, trotz seiner Bürgschaft, der Vergangenheit, welche ihre Jugend besudelt hat, die Stirne zu bieten den Mut haben wird". Er setzt hinzu, „sie habe große Fehler zu sühnen, der moralische Sinn hätte sie aufrechterhalten müssen". Er beweist die Möglichkeit, sich aufrechtzuerhalten, wie der gemeinste Bourgeois: „es seien viele wohltätige Leute in Paris". Der heuchlerische Priester weiß sehr wohl, daß diese wohltätigen Leute von Paris zu jeder Stunde auf den belebtesten Straßen gleichgültig an den kleinen Mädchen von sieben bis acht Jahren vorübergehen, welche bis um Mitternacht allumettes1 und dergleichen feilbieten, wie es einst Marie getan, und deren zukünftiges Los fast ohne Ausnahme das der Marie ist.
1 Streichhölzer
Der Pfaffe hat es auf die Buße Mariens abgesehen; in seinem Innern ist sie verurteilt. Folgen wir der Fleur de Marie auf einem Abendspaziergang mit Laporte, den sie nach Hause begleitet.
„Siehe, mein Kind", beginnt er mit salbungsvoller Schönrednerei, „den unermeßlichen Horizont, dessen Grenzen man nicht mehr wahrnimmt" - es ist nämlich Abend - „es scheint mir, daß die Stille und die Unbegrenztheit uns fast eine Idee der Ewigkeit gebe ... Ich sage dir das, Marie, weil du empfindsam bist für die Schönheiten der Schöpfung ... Ich war oft gerührt von der religiösen Bewundrung, welche sie dir einflößen, dir - die so lange des religiösen Gefühls enterbt war."
Es ist dem Pfaffen schon gelungen, die unmittelbar naive Freude der Marie an den Naturschönheiten in eine religiöse Bewunderung umzuwandeln. Die Natur ist schon für sie zur devot gewordnen, christianisierten Natur, zur Schöpfung erniedrigt. Das durchsichtige Luftmeer ist zum dunkeln Symbol einer flauen Ewigkeit entweiht. Sie hat schon gelernt, daß alle menschlichen Äußerungen ihres Wesens „profan", der Religion, der wahren Weihe enterbt, irreligiös, gottlos waren. Der Pfaffe muß sie vor sich selbst beschmutzen, ihre natürlichen und geistigen Kräfte und Gnadenmittel in den Staub ziehen, damit sie empfänglich werde für das übernatürliche Gnadenmittel, das er ihr verspricht - für die Taufe. Als Marie dem Pfaffen nun ein Geständnis machen will und ihn um Nachsicht bittet, antwortet er:
„Der Herr hat dir bewiesen, daß er barmherzig ist."
Marie darf in der Nachsicht, die sie erfährt, nicht eine natürliche, sich von selbst verstehende Beziehung eines verwandten menschlichen Wesens zu ihr, dem menschlichen Wesen, erblicken. Sie muß darin eine überschwengliche, übernatürliche, übermenschliche Barmherzigkeit und Herablassung, in der menschlichen Nachsicht eine göttliche Barmherzigkeit erblicken. Sie muß alle menschlichen und natürlichen Verhältnisse in Verhältnisse zu Gott transzendieren. Die Weise, wie Fleur de Marie in ihrer Antwort auf das pfäffische Salbadern von Gottes Barmherzigkeit eingeht, beweist, wie weit die religiöse Doktrin sie schon verderbt hat. Sobald sie in ihre verbesserte Lage getreten sei, sagt sie, habe sie nur ihr neues Glück empfunden.
„Jeden Augenblick dachte ich an Herrn Rudolph. Oft hob ich die Augen gen Himmel, nicht um Gott, sondern um ihn, Herrn Rudolph, dort zu suchen und ihm zu danken. Ja - ich klage mich dessen an, mein Vater, ich dachte mehr an ihn als an Gott; denn er hatte für mich getan, was Gott allein hätte tun können ... Ich war glücklich, glücklich wie jemand, der für immer einer großen Gefahr entronnen ist."
Fleur de Marie findet es schon unrecht, eine neue glückliche Lebenssituation einfach als das, was sie wirklich ist, als ein neues Glück empfunden, d. h. sich natürlich und nicht übernatürlich zu ihr verhalten zu haben. Sie klagt sich schon an, in dem Menschen, der sie gerettet hat, das, was er wirklich war, ihren Retter, gesehen und nicht an seine Stelle einen imaginären Retter, Gott, untergeschoben zu haben. Schon ist sie ergriffen von der religiösen Heuchelei, welche dem andern Menschen nimmt, was er um mich verdient hat, um es Gott zu geben, welche überhaupt alles Menschliche am Menschen als ihm fremd und alles Unmenschliche an ihm als sein eigentliches Eigentum betrachtet. Marie erzählt uns, daß die religiöse Transformation ihrer Gedanken, ihrer Empfindungen, ihres Verhaltens zum Leben durch Madame George und Laporte bewirkt worden sei.
„Als Rudolph mich von der Cite wegführte, hatte ich schon unbestimmt das Bewußtsein meiner Erniedrigung, aber die Erziehung, die Ratschläge, die Beispiele, welche ich von Ihnen und Madame George erhalten habe, haben mir begreiflich gemacht ... daß ich mehr schuldig als unglücklich gewesen bin ... Sie und Madame George haben mir die unendliche Tiefe meiner Verwerfung begreiflich gemacht."
D. h., dem Priester Laporte und der Madame George verdankt sie es, das menschliche und darum erträgliche Bewußtsein der Erniedrigung mit dem christlichen und darum unerträglichen Bewußtsein einer unendlichen Verworfenheit vertauscht zu haben. Der Pfaffe und die Betschwester haben sie belehrt, sich von christlichem Standpunkt aus zu beurteilen. Marie empfindet die Größe des geistigen Unglücks, worin man sie gestürzt hat. Sie sagt:
„Weil das Bewußtsein des Guten und Bösen mir so fürchterlich sein sollte, warum überließ man mich nicht meinem unglücklichen Los? ... Hätte man mich nicht der Infamie entrissen, das Elend, die Schläge würden mich sehr bald getötet haben; wenigstens wäre ich gestorben in der Unwissenheit über eine Reinheit, die ich immer vergebens wünschen werde."
Der herzlose Pfaffe antwortet:
„Selbst die edelste Natur, wenn sie auch nur einen Tag in den Schmutz versunken war, woraus man dich gezogen hat, bewahrt davon ein unauslöschliches Brandmal. Das ist die Unabänderlichkeit der göttlichen Justiz."
Fleur de Marie, tief von diesem honigglatten Pfaffenfluch verwundet, ruft aus: „Ihr seht es also, daß ich verzweifeln muß."
Der ergraute Sklave der Religion erwidert: „Du mußt daran verzweifeln, aus deinem Leben diese trostlose Seite auszureißen, aber du mußt hoffen in die unendliche Barmherzigkeit Gottes. Hier unten für dich, armes Kind, Tränen, Reue, Buße, aber eines Tages dort oben, dort oben, Verzeihung, ewige Glückseligkeit!" Marie ist noch nicht blödsinnig genug, um mit der ewigen Glückseligkeit und der Verzeihung dort oben sich beruhigen zu lassen. „Mitleid", ruft sie aus, „Mitleid, meinGott! ich bin noch so jung... malheurä moi!1" Und die heuchlerische Sophistik des Priesters erreicht ihre Spitze: „Im Gegenteil, Glück dir, Marie, Glück dir, welcher der Herr die Gewissensbisse schickt, voll von Bitterkeit, aber wohltätig! Sie beweisen die religiöse Empfänglichkeit deiner Seele ... jedes deiner Leiden wird dort oben gezählt werden. Glaube mir, Gott hat dich einen Augenblick auf dem schlechten Wege gelassen, um dir den Ruhm der Reue vorzubehalten und die ewige Belohnung, welche der Buße geschuldet ist."
Von diesem Augenblick an ist Marie zur Leibeignen des Sündenbewußtseins geworden. Während sie in der unglücklichsten Lebenssituation sich zu einer liebenswürdigen, menschlichen Individualität zu bilden wußte und innerhalb der äußern Erniedrigung sich ihres menschlichen Wesens, als ihres wahren Wesens, bewußt war, wird ihr nun der Schmutz der jetzigen Gesellschaft, der sie äußerlich berührt hat, zu ihrem innersten Wesen und die stete hypochondrische Selbstquälerei mit diesem Schmutz zur Pflicht, zu der von Gott selbst vorgezeichneten Lebensaufgabe, zum Selbstzweck ihres Daseins. Während sie früher sich rühmte: „Je ne suis pas pleurnicheuse", während sie wußte: „Ce qui est fait, est fait", wild ihr nun die Selbstzerknirschung zum Guten und die Reue zum Ruhm. Es zeigt sich später, daß Fleur de Marie Rudolphs Tochter ist. Wir finden sie wieder als Prinzessin von Geroidstein. Wir belauschen sie in einem Zwiegespräch mit ihrem Vater: „En vain je prie Dieu de me delivrer de ces obsessions, de remplir uniquement mon cceur de son pieux amour, de ses saintes esperances, de me prendre enfin toute entiere, puisque je veux me donner toute entiere ä lui ... il n'exauce pas mes vceux - sans doute, parce que mes preoccupations terrestres me rendent indigne d entrer en commun avec lui."2
1 wehe mir! -3 „Vergebens bitte ich Gott, mich von diesen Versuchungen zu befreien, mein Herz nur mit seiner frommen Liebe, seinen heiligen Hoffnungen zu erfüllen, mich ganz anzunehmen, da ich ganz ihm angehören will. Er erhört meine Wünsche nicht, ohne Zweifel, weil meine irdischen Gedanken mich unwürdig machen, mit ihm in Gemeinschaft zu treten."
Nachdem der Mensch seine Verirrungen als unendliche Verbrechen gegen Gott eingesehen hat, kann er sich nur der Erlösung und Gnade versichern, wenn er sich ganz Gott hingibt, ganz der Welt und der Beschäftigung mit der Welt abstirbt. Nachdem Fleur de Marie eingesehn hat, daß die Befreiung aus ihrer unmenschlichen Lebenslage ein göttliches Wunder ist, muß sie selbst zur Heiligen werden, um solchen Mirakels würdig zu sein. Ihre menschliche Liebe muß sich in die religiöse Liebe, das Streben nach Glück in das Streben nach ewiger Glückseligkeit, die weltliche Befriedigung in die heilige Hoffnung, die Gemeinschaft mit den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott verwandeln. Gott soll sie ganz nehmen. Sie spricht selbst das Geheimnis aus, warum er sie nicht ganz nimmt. Sie hat sich ihm noch nicht ganz gegeben, ihr Herz ist noch von irdischen Angelegenheiten befangen und besessen. Es ist dies das letzte Aufflackern ihrer tüchtigen Natur. Sie gibt sich ganz an Gott, indem sie der Welt ganz abstirbt und ins Kloster geht.
Niemand soll ins Kloster gehn, Als er sei denn wohlversehn Mit gehörigem Sündenvorrat, Damit es ihm so früh als spat Nicht mög' an Vergnügen fehlen, Sich mit Reue durchzuquälen. (Goethe.)
Im Kloster wird Fleur de Marie durch die Intrigen Rudolphs zur Äbtissin promoviert. Sie weigert sich im Anfang, diese Stelle anzunehmen, im Gefühl ihrer Unwürdigkeit. Die alte Äbtissin redet ihr zu:
„Je vous dirai plus, ma chere fille, avant d'entrer au bercail, votre existence aurait ete aussi egaree, qu'elle a ete au contraire pure et louable ... que les vertus evangiliques, clont vous avez donne l'exemple depuis votre sejour ici, expieraient et racheteraient encore aux yeux du Seigneur un passe si coupable qu il füt."1
Wir sehen aus den Worten der Äbtissin, daß die weltlichen Tugenden der Fleur de Marie in evangelische Tugenden sich verwandelt haben, oder vielmehr ihre wirklichen Tugenden dürfen nur mehr evangelisch karikiert auftreten. Marie antwortet auf die Worte der Äbtissin: „Sainte mere - je crois maintenant pouvoir accepter."2
1 „Mehr noch, meine teure Tochter! Wäre auch dein Leben vor deinem Eintritte in den Orden so voll Verirrungen gewesen, als es im Gegenteile rein und löblich war, so hätten doch deine evangelischen Tugenden, von denen du uns während deines Aufenthaltes hier das Beispiel gegeben hast, in den Augen des Herrn selbst die schuldvollste Vergangenheit gesühnt und abgebüßt." - 2 „Heilige Mutter - ich glaube jetzt annehmen zu können."
Das Klosterleben entspricht Mariens Individualität nicht - sie stirbt. Das Christentum tröstet sie nur in der Einbildung, oder ihr christlicher Trost ist eben die Vernichtung ihres wirklichen Lebens und Wesens - ihr Tod. Rudolph hat also die Fleur de Marie erst in eine reuige Sünderin, dann die reuige Sünderin in eine Nonne und endlich die Nonne in eine Leiche verwandelt. Bei ihrem Leichenbegängnis hält außer dem katholischen Priester noch der kritische Priester Szeliga einen Leichensermon. Ihr „unschuldiges" Dasein nennt er ihr „vergängliches" Dasein und stellt es der „ewigen und unvergeßlichen Schuld" gegenüber. Er rühmt es, daß ihr „letzter Atemzug" die „Bitte um Vergebung und Verzeihung ist. Wie aber der protestantische Geistliche, nachdem er die Notwendigkeit der Gnade des Herrn, die Teilnahme des Verstorbenen an der allgemeinen Erbsünde und die Stärke seines Sündenbewußtseins dargestellt hat, nun mit einer weltlichen Wendung die Tugenden des Verstorbenen anpreisen muß, so braucht auch Herr Szeliga die Wendung:
„Und doch ist ihr persönlich nichts zu vergeben."
Er wirft endlich auf Mariens Grab die verwelkteste Blume der Kanzelberedsamkeit:
„Innerlich rein wie selten ein Mensch, entschlummerte sie dieser Welt." Amen!
3. Enthüllung der Geheimnisse des Rechts
a) Der mattre d'ecole1 oder die neue Straftheorie. Das enthüllte Geheimnis des Zellularsystems. Medizinische Geheimnisse
Der maitre d'ecole ist ein Verbrecher von herkulischer Körperkraft und großer geistiger Energie. Er ist von Haus aus ein gebildeter und unterrichteter Mann. Er, der leidenschaftliche Athlet, gerät in Kollision mit den Gesetzen und Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaft, deren allgemeines Maß die Mittelmäßigkeit, die zarte Moral und der stille Handel ist. Er wird zum Mörder und überläßt sich allen Ausschweifungen eines gewaltigen Temperaments, das nirgends eine angemessene menschliche Tätigkeit findet. Rudolph hat diesen Verbrecher eingefangen. Er will ihn kritisch reformieren, er will an ihm ein Exempel für die juristische Welt statuieren. Er hadert mit der juristischen Welt nicht über die „Strafe" selbst, sondern über
1 Schulmeister
die Art und Weise der Strafe. Er entdeckt nach dem bezeichnenden Ausdruck des Negerarztes David eine Straftheorie, die des „größten deutschen Kriminalisten" würdig wäre und die seither sogar das Glück gehabt hat, von einem deutschen Kriminalisten mit deutschem Ernst und deutscher Gründlichkeit verteidigt zu werden. Rudolph ahnt nicht einmal, daß man sich über die Kriminalisten erheben könne, sein Ehrgeiz geht darauf, „der größte Kriminalist", primus inter pares1, zu sein. Er läßt den maitre d'ecole von dem Negerarzt David blenden. Rudolph wiederholt zuerst alle trivialen Einwürfe gegen die Todesstrafe, sie sei wirkungslos auf den Verbrecher, sie sei wirkungslos auf das Volk, dem sie als ein unterhaltendes Schauspiel erscheine. Rudolph statuiert ferner einen Unterschied zwischen dem maitre d'ecole und der Seele des maitre d'ecole. Nicht den Menschen, nicht den wirklichen maitre d'ecole will er retten, sondern seiner Seelen Seelenheil.
„Das Heil einer Seele", doziert er, „ist eine heilige Sache ... Jedes Verbrechen büßt sich und läßt sich zurückerkaufen, hat der Erlöser gesagt, aber nur für den, der ernsthaft die Buße und die Reue will. Der Ubergang vom Tribunal zum Schafott ist zu kurz ... Du" (der maitre d'ecole) „hast verbrecherisch deine Kraft mißbraucht, ich werde deine Kraft paralysieren ... du wirst vor dem Schwächsten zittern, deine Strafe wird deinem Verbrechen gleichkommen ... aber diese fürchterliche Strafe wird dir wenigstens den grenzenlosen Horizont der Buße lassen ... Ich trenne dich nur von der Außenwelt, um dich, allein mit der Erinnerung deiner Schandtaten, in eine undurchdringliche Nacht zu versenken ... Du wirst gezwungen sein, in dich zu blicken ... deine Intelligenz, die du degradiert hast, wird erwachen und dich zur Buße führen."
Da Rudolph die Seele für heilig, den Leib des Menschen aber für profan hält, da er also nur die Seele als das wahre, weil dem Himmel - nach Herrn Szeligas kritischer Umschreibung der Menschheit - angehörige Wesen betrachtet, so gehört der Leib, die Kraft des maitre d'ecole nicht der Menschheit an, ihre Wesensäußerung ist nicht menschlich zu bilden und der Menschheit zu vindizieren, sie ist nicht als ein selbstmenschliches Wesen zu behandeln. Der maitre d'ecole hat seine Kraft mißbraucht, Rudolph paralysiert, lähmt, vernichtet diese Kraft. Es gibt kein kritischeres Mittel, um die verkehrten Äußerungen einer menschlichen Wesenskraft loszuwerden, als die Vernichtung dieser Wesenskraft. Es ist dies das christliche Mittel, welches das Auge ausreißt, wenn das Auge Ärgernis gibt, die Hand abschlägt, wenn die Hand Ärgernis gibt, mit einem Wort, den Leib tötet, wenn der Leib Ärgernis gibt, denn Auge, Hand, Leib sind eigentlich bloß überflüssige,
1 der Erste unter Gleichen
sündige Zutaten des Menschen. Man muß die menschliche Natur totschlagen, um ihre Krankheiten zu heilen. Auch die massenhafte Jurisprudenz, mit der kritischen hierin übereinstimmend, findet in der Lähmung, im Paralysieren der menschlichen Kräfte das Gegengift gegen die störenden Äußerungen dieser Kräfte. Was Rudolph, den Mann der reinen Kritik, an der profanen Kriminalistik geniert, ist der zu rasche Übergang von dem Tribunal auf das Schafott. Er hingegen will die Rache am Verbrecher mit der Buße und dem Sündenbewußtsein des Verbrechers, die körperliche Strafe mit der geistlichen Strafe, die sinnliche Marter mit der unsinnlichen Marter der Reue verbinden. Die profane Strafe soll zugleich ein christlich-moralisches Erziehungsmittel sein. Diese Straftheorie, welche die Jurisprudenz mit der Theologie verbindet, dies „enthüllte Geheimnis des Geheimnisses , ist durchaus keine andere als die Straftheorie der katholischen Kirche, wie schon Bentham in seinem Werk „Theorie der Strafen und Belohnungen" weitläufig auseinandergesetzt hat. Ebenso hat Bentham in der angeführten Schrift die moralische Nichtigkeit der jetzigen Strafen bewiesen. Er nennt die gesetzlichen Züchtigungen „gerichtliche Parodien". Die Strafe, die Rudolph am maitre d'ecole vollzieht, ist dieselbe Strafe, die Origenes an sich selbst vollzog. Er entmannt ihn, er beraubt ihn eines Zeugungsgliedes, des Auges. „Das Auge ist des Leibes Licht." Daß Rudolph gerade auf die Blendung verfällt, macht seinem religiösen Instinkt alle Ehre. Es ist die Strafe, die in dem ganz christlichen Reich von Byzanz an der Tagesordnung war und in der kräftigen Jugendperiode der christlich-germanischen Reiche von England und Frankreich blühte. Die Trennung des Menschen von der sinnlichen Außenwelt, das Zurückschleudern in sein abstraktes Innere, um ihn zu bessern - die Blendung - ist eine notwendige Konsequenz der christlichen Doktrin, nach welcher die vollendete Durchführung dieser Trennung, die reine Isolierung des Menschen auf sein spiritualistisches „Ich", das Gute selbst ist. Wenn Rudolph nicht, wie es-in Byzanz und im Frankenreiche geschah, den maitre d'ecole in ein wirkliches Kloster steckt, so steckt er ihn wenigstens in ein ideales Kloster, in das Kloster einer undurchdringlichen, von dem Licht der Außenwelt nicht unterbrochenen Nacht, in das Kloster eines tatlosen Gewissens und eines Sündenbewußtseins, das nur mit gespenstischen Erinnerungen bevölkert ist. Eine gewisse spekulative Scham erlaubt dem Herrn Szeliga nicht, offenherzig auf die Straftheorie seines Helden Rudolph, auf die Verbindung der weltlichen Strafe mit der christlichen Reue und Buße, einzugehen. Er schiebt ihm dagegen, versteht sich auch als der Welt erst zu enthüllendes Geheimnis,
die Theorie unter, v/onach der Verbrecher in der Strafe zum „Richter" über sein „eignes" Verbrechen erhoben werden soll. Das Geheimnis dieses enthüllten Geheimnisses ist die Hegeische Straftheorie. Nach Hegel fällt der Verbrecher in der Strafe über sich selbst das Urteil. Gans hat diese Theorie weitläufiger ausgeführt. Sie ist bei Hegel das spekulative Schönpflaster des alten jus talionis1, das Kant als die einzig rechtliche Straftheorie entwickelt hatte. Bei Hegel bleibt die Selbstrichtung des Verbrechers eine bloße „Idee", eine bloß spekulative Interpretation der gangbaren empirischen Kriminalstrafen. Er überläßt daher ihren Modus der jedesmaligen Bildungsstufe des Staats, d. h., er läßt die Strafe bestehen, wie sie besteht. Eben hierin zeigt er sich kritischer als sein kritischer Nachbeter. Eine «Sfra/theorie, welche zugleich im Verbrecher den Menschen anerkennt, kann dies nur in der Abstraktion, in der Einbildung tun, eben weil die Strafe, der Zwang dem menschlichen Verhalten widersprechen. In der Ausführung wäre die Sache zudem unmöglich. An die Stelle des abstrakten Gesetzes würde die rein subjektive Willkür treten, da es jedesmal von den offiziellen, „ehrbaren und anständigen" Männern abhängen müßte, die Strafe nach der Individualität des Verbrechers einzurichten. Schon Plato hat die Einsicht besessen, daß das Gesetz einseitig sein und von der Individualität abstrahieren muß. Unter menschlichen Verhältnissen dagegen wird die Strafe wirklich nichts anderes sein als das Urteil des Fehlenden über sich selbst. Man wird ihn nicht überreden wollen, daß eine äußere, ihm von andern angetane Gewalt eine Gewalt sei, die er sich selbst angetan habe. In den andern Menschen wird er vielmehr die natürlichen Erlöser von der Strafe finden, die er über sich selbst verhängt hat, d. h. das Verhältnis wird sich geradezu umkehren. Rudolph spricht seinen innersten Gedanken - den Zweck der Blendung aus, wenn er dem maitre d'ecole sagt: „Chacune de tes paroles sera une priere."2 Er will ihn beten lehren. Er will den herkulischen Räuber in einen Mönch verwandeln, dessen ganze Arbeit das Beten ist. Wie human ist gegen diese christliche Grausamkeit die gewöhnliche Straftheorie, welche einem Menschen einfach den Kopf abschlägt, wenn sie ihn vernichten will. Es versteht sich endlich von selbst, daß die wirkliche massenhafte Gesetzgebung, sooft es ihr ernstlich um die Besserung der Verbrecher zu tun war, ungleich verständiger und humaner verfuhr als der deutsche Harun al Raschid. Die vier holländischen Agrikulturkolonien, die Verbrecherkolonie Ostwald im Elsaß sind wahrhaft menschliche Versuche gegenüber der Blendung des maitre
1 Rechts, Gleiches mit Gleichem zu vergelten - 2 „Jedes deiner Worte wird ein Gebet sein."
d'ecole. Wie Rudolph die Fleur de Marie entleibt, indem er sie dem Pfaffen und dem Sündenbewußtsein überliefert, wie er den Chourineur entleibt, indem er ihm seine menschliche Selbständigkeit raubt und ihn zum Bulldoggen herabwürdigt, so entleibt er den maitre d'ecole, indem er ihm die Augen aussticht, damit er „beten" lerne. Dies ist allerdings die Weise, wie alle Wirklichkeit „einfach" aus der „reinen Kritik" hervorgeht, nämlich als Entstellung und sinnlose Abstraktion von der Wirklichkeit. Herr Szeliga läßt sogleich nach der Blendung des maitre d'ecole ein moralisches Wunder sich ereignen. „Der furchtbare Schulmeister erkennt" nach seinem Bericht „,plötzlich' die Macht der Ehrlichkeit und Redlichkeit an, er sagt zum Schurimann: Ja, dir kann ich Oertrauen, du hast niemals gestohlen."
Unglücklicherweise hat Eugen Sue eine Äußerung des maitre d'ecole über Chourineur aufbewahrt, welche dieselbe Anerkennung enthält und keine Wirkung der Blendung sein kann, weil sie vor derselben stattgefunden hat. Der maitre d'ecole äußert sich nämlich in seinem tete-ä-tete1 mit Rudolph über Chourineur dahin: „Du reste il n'est pas capable de vendre un ami. Non: il a du bon ... il a toujours eu des idees singulieres."2
Das moralische Wunder des Herrn Szeliga wäre hiermit vernichtet. Wir betrachten nun die wirklichen Ergebnisse von Rudolphs kritischer Kur. Wir finden den maitre d'ecole zunächst auf einer Expedition mit der Chouette nach dem Gut zu Bouqueval, um der Fleur de Marie einen schlechten Streich zu spielen. Der Gedanke, der ihn beherrscht, ist natürlich der Gedanke der Rache gegen Rudolph, und er weiß sich nur metaphysisch an ihm zu rächen, indem er ihm zum Trotz, „das Böse denkt und ausheckt. „II m'a ote la vue, il ne m'a pas ote la pensee du mal."3
Er erzählt der Chouette, warum er sie aufsuchen ließ:
„Ich langweilte mich, ich ganz allein mit diesen honetten Leuten."
Wenn Eugen Sue seine mönchische, seine bestialische Wollust an der Selbsterniedrigung des Menschen so weit befriedigt, daß er den maitre d'ecole auf den Knien vor der alten Hexe Chouette und dem kleinen Kobold
1 vertraulichen Zwiegespräch - 2 „Übrigens ist er der Mann nicht, der einen Freund verrät. Nein, er ist ein guter Kerl... er hat immer seltsame Ideen gehabt." — 3 „Er hat mir das Augenlicht genommen, aber die Gedanken an das Böse konnte er mir nicht nehmen."
Tortillard flehen läßt, ihn nicht zu verlassen, so vergißt der große Moralist, daß er der Chouette die Blume eines teuflischen Selbstgenusses reicht. Wie Rudolph dem Verbrecher die Macht der physischen Gewalt, die er ihm als nichtig darstellen will, eben durch die gewalttätige Blendung bewies, so lehrt hier Eugen Sue den maitre d'ecole die Macht der vollen Sinnlichkeit erst recht anerkennen. Er lehrt ihn einsehen, daß ohne sie der Mensch entmannt ist und zur widerstandslosen Zielscheibe des Kinderspottes wird. Er überzeugt ihn, daß die Welt seine Verbrechen verdient hat, weil er nur die Augen zu verlieren braucht, um von ihr mißhandelt zu werden. Er raubt ihm seine letzte menschliche Illusion, denn der maitre d'ecole glaubt an die Anhänglichkeit der Chouette. Er hatte zu Rudolph geäußert: „Sie würde sich für mich ins Feuer werfen lassen." Dagegen genießt Eugen Sue die Satisfaktion, daß der maitre d'ecole in höchster Verzweiflung ausruft: „Mon dieu! mon dieu! mon dieu!"1 Er hat „beten" gelernt! Und Herr Sue findet in diesem „appel involontaire de la commiseration divine, quelque chose de providentiel"2. Die erste Folge der Rudolphschen Kritik ist dies unwillkürliche Gebet. Ihm folgt auf dem Fuße eine unfreiwillige Buße im Pachthof zu Bouqueval, wo dem maitre d'ecole im Traum die Gespenster der Gemordeten erscheinen. Wir überschlagen die weitläufige Schilderung dieses Traums, um den kritisch-reformierten maitre d'ecole im Keller der Bras rouge, angeschmiedet an Ketten, von Ratten halb zerfressen, halb verhungert, von den Quälereien der Chouette und des Tortillard halb verrückt, brüllend wie ein Vieh, wiederzufinden. Tortillard hat die Chouette in seine Hände geliefert. Betrachten wir ihn während der Operation, die er mit ihr vornimmt. Er kopiert den Helden Rudolph nicht nur äußerlich, indem er der Chouette die Augen auskratzt, sondern auch moralisch, indem er Rudolphs Heuchelei wiederholt und seine grausame Handlung mit devoten Redensarten ausschmückt. Sobald der maitre d'ecole die Chouette in seiner Gewalt hat, äußert er „une joie effrayante"3, seine Stimme zittert vor Wut.
„Tu sens bien", sagt er, „que je ne veux pas en finir tout de suite ... torture pour torture ... il faut que je te parle longuement avant de te tuer ... <;a va etre äffreux pour toi. D'abord, vois-tu ... depuis ce reve de la ferme de Bouqueval, qui m'a remis sous les yeux tous nos crimes, depuis ce reve, qui a manque de me rendre fou ... qui me rendra fou ... il s'est passe en moi un changement etrange ... J ai eu horreur de ma ferocite passee ... d'abord je ne t'ai pas permis de martyriser la goualeuse, cela
1 „Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!" - 2 „unwdtkürtichen Anruf der göttlichen Barmherzigkeit, etwas Tiefergreifendes" - 3 „eine fürchterliche Freude"
n'etait rien encore ... en m'entrainant ici dans cette cave, en m'y faisant souffrir le froid et la faim ... tu m'as laisse tout ä l'epouvante de mes reflexions ... Oh! tu ne sais pas ce que c'est que d'etre seul ... l'isolement m'a purifie. Je ne l'aurais pas cru possible ... une preuve que je suis peut-etre moins scelerat qu'autrefois ... ce que j'eprouve une joie infinie ä te tenir la ...monstre ... non pour me venger, mais ... mais pour venger nos victimes ... oui, j'aurai accompli un devoir quand de ma propre main j'aurai puni ma complice ... j'ai maintenant horreur de mes meurtres passes, et pourtant... trouves-tu pas cela bizarre? c'est sans crainte, c'est avec securite que je vais commettre sur toi un meurtre affreux avec des raffinements affreux ... dis ... dis ... confois-tu cela?"1
Der maitre d'ecole durchläuft in diesen wenigen Worten eine ganze Tonleiter moralischer Kasuistik. Seine erste Äußerung ist eine offenherzige Äußerung der Rachelust. Er will Tortur für Tortur geben. Er will die Chouette morden, er will ihre Todesangst durch einen langen Sermon verlängern, und - köstliche Sophistik! diese Rede, womit er sie peinigt, ist ein moralischer Sermon. Er behauptet, der Traum zu Bouqueval habe ihn gebessert. Er offenbart zugleich die eigentliche wahre Wirkung dieses Traums, indem er gesteht, daß er ihn fast verrückt gemacht habe, daß er ihn verrückt machen wird. Als einen Beweis seiner Besserung führt er an, daß er die Peinigung der Fleur de Marie verhindert habe. Bei Eugen Sue müssen die Personen, früher der Chourineur, hier der maitre d'ecole, seine eigene schriftstellerische Absicht, welche ihn bestimmt, sie so und nicht anders handeln zu lassen, als ihre Reflexion, als das bewußte Motiv ihrer Handlung aussprechen. Sie müssen beständig sagen: Hierin hab' ich mich gebessert, darin, darin etc. Da sie zu keinem wirklich
1 „Du siehst wohl ein, daß ich damit nicht gleich ein Ende machen will... Folter gegen Foltert... Ich muß lange mit dir reden, ehe ich dich umbringe ... Das wird schrecklich für dich sein ... Zuerst, siehst du, ... ist seit jenem Traume in Bouqueval, der mir alle unsere Verbrechen wieder vorführte, seit jenem Traume, der mich beinahe wahnsinnig machte und mich noch wahnsinnig machen wird ... ist in mir eine seltsame Veränderung vorgegangen ... Ich habe vor meiner frühern Bosheit geschaudert. Zuerst ließ ich dich die Nachtigall nicht mißhandeln - das war aber noch nichts. Als du mich hier in diesem Keller an die Kette legtest, mich Kälte und Hunger leiden ließest ... übergabst du mich ganz dem Grauen vor meinen Gedanken. Du weißt nicht, was es heißt, allein ... zu sein ... die Absonderung hat mich gereinigt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Ein anderer Beweis, daß ich vielleicht minder schlecht bin als sonst, ist die unsägliche Freude, die ich empfinde, dich, Ungeheuer, hier festzuhalten - nicht um mich zu rächen, sondern um unsere Opfer zu rächen. Ja, ich werde eine Pflicht erfüllen, wenn ich mit eigener Hand meine Mitschuldige strafe ... Ich verabscheue jetzt meine frühern Mordtaten, und doch - findest du das nicht seltsam? - werde ich ohne Furcht, mit völliger Ruhe an dir einen schrecklichen Mord mit ausgesucht schrecklicher Grausamkeit begehen. Sag, sag, begreifst du das ?"
13 Marx/Engelj, V/erlt«, Bd. 2
inhaltsvollen Leben kommen, so müssen sie unbedeutenden Zügen, wie hier der Beschützung der Fleur de Marie, durch ihre Zunge starke Töne verleihen. Nachdem der maitre d'ecole die wohltätige Wirkung des Traumes zu Bouqueval berichtet hat, muß er erklären, warum Eugen Sue ihn in einen Keller einsperren ließ. Er muß das Verfahren des Romanschreibers vernünftig finden. Er muß der Chouette sagen: Dadurch, daß du mich in einen Keller einsperrtest, mich von Ratten benagen, mich Hunger und Durst leiden ließest, hast du meine Besserung vollendet. Die Einsamkeit hat mich gereinigt. Das tierische Gebrüll, die rasende Wut, die furchtbare Rachelust, womit der maitre d'ecole die Chouette empfängt, schlagen dieser moralischen Phraseologie ins Gesicht. Sie verraten den Charakter der Reflexionen, die er in seinem Kerker anstellte. Der maitre d'ecole scheint dies selbst zu empfinden, aber als ein kritischer Moralist wird er die Widersprüche zu vereinigen wissen. Eben die „grenzenlose Freude", die Chouette in seiner Gewalt zu haben, erklärt er für ein Zeichen seiner Besserung. Seme Rachlust ist nämlich keine natürliche, sondern eine moralische Rachlust. Nicht sich, sondern seine und Chouettes gemeinschaftliche Opfer will er rächen. Wenn er sie mordet, so begeht er keinen Mord, er erfüllt eine Pflicht. Er rächt sich nicht an ihr, er bestraft als ein unparteiischer Richter seine Mitschuldige. Er hat einen Schauder vor seinen vergangenen Mordtaten, und dennoch - er selbst ist über seine Kasuistik verwundert - und dennoch fragt er die Chouette, findest du es nicht bizarr? furchtlos, sorglos will ich dich töten! Aus nicht angegebenen moralischen Gründen weidet er sich zugleich an dem Gemälde des Mords, den er begehen will, als eines meurtre affreux1, als eines meurtre avec des raffinements affreux2. Daß der maitre d'ecole die Chouette mordet, entspricht seinem Charakter, namentlich nach der Grausamkeit, womit sie ihn mißhandelt hat. Daß er aber aus moralischen Motiven mordet, daß er seine barbarische Freude an dem meurtre affreux, an den raffinements affreux moralisch interpretiert, daß er die Reue über die vergangenen Mordtaten eben in der Vollbringung einer neuen Mordtat bewährt, daß er aus einem einfachen ein doppelsinniger, ein moralischer Mörder geworden ist - das ist das glorreiche Resultat von Rudolphs kritischer Kur. Die Chouette sucht sich dem maitre d'ecole zu entziehen. Er bemerkt es und hält sie fest.
1 schrecklichen Mordes - 2 Mordes mit ausgesucht schrecklicher Grausamkeit
„Tiens-toi donc, la chouette, il faut que je finisse de t'expliquer comment peu ä peu j'en suis venu ä me repentir ... cette revelation te sera odieuse ... et eile te prouvera aussi combien je dois etre impitoyable dans la vengeance, que je veux exercer sur toi au nom de nos victimes ... II faut que je me häte ... la joie de te tenir la me fait boudir le sang ... j'aurai le temps de te rendre les approches de la mort effroyables en te forf ant de m entendre ... Je suis aveugle ... et ma pensee prend une forme, un corps pour me representer incessamment d une maniere visible, presque palpable ... les traits de mes victimes ... les idees s'imagent presque materiellement dans le cerveau. Quand au repentir se joint une expiation d'une effrayante severite ... une expiation qui change notre vie en une longue insomnie remplie d hallucinations vengeresses ou de reflexions desesperees ... peut-etre alors le pardon des hommes succede au remords et a l'expiation."1 Der maitre d'ecole fährt fort in seiner Heuchelei, die sich jeden Augenblick als Heuchelei verrät. Chouette soll hören, wie er nach und nach zur Reue gekommen ist. Diese Enthüllung wird ihr gehässig sein, denn sie wird beweisen, daß es seine Pflicht ist, eine unbarmherzige Rache nicht in seinem eignen Namen, sondern im Namen ihrer gemeinschaftlichen Opfer an ihr zu vollziehen. Plötzlich unterbricht der maitre d'ecole seine didaktische Vorlesung. Er muß, wie er sagt, „eilen" mit seiner Lektion, denn: die Freude, sie zu halten, macht das Blut in seinen Adern springen; moralischer Grund, die Vorlesung abzukürzen! Dann beschwichtigt er wieder sein Blut. Die lange Zeit, während welcher er ihr Moral predigt, ist ja nicht für seine Rache verloren. Sie wird ihr „die Annäherung des Todes fürchterlich machen". Anderer moralischer Grund, seinen Sermon auszuspinnen! Und nun, nach diesen moralischen Gründen, kann er getrost seinen moralischen Text wieder da aufnehmen, wo er ihn hat fallenlassen. Der maitre d'ecole beschreibt richtig den Zustand, worin die Isolierung von der Außenwelt den Menschen stürzt. Der Mensch, dem die sinnliche Welt zu einer bloßen Idee wird, ihm verwandeln sich dagegen bloße Ideen in sinnliche Wesen. Die Gespinste seines Gehirns nehmen körperliche Form an.
1 „Halt still, Eule, ich muß dir vollends erklären, wie ich zur Reue gekommen bin. Diese Erzählung wird dir ... widerwärtig sein, sie wird dir beweisen, wie unbarmherzig ich in der Rache sein werde, die ich im Namen unserer Opfer an dir üben will. Aber ich muß mich beeilen — mein Blut hüpft vor Freude, dich hier zu halten ... ich werde doch Zeit haben, dir die Nähe des Todes schrecklich zu machen, wenn ich dich zwinge, mich anzuhören ... Ich bin blind, und meine Gedanken nehmen eine Gestalt, einen Körper an, um mir unablässig sichtbar, fast greifbar, die Züge meiner Opfer vorzustellen ... Die Ideen bilden sich beinahe materiell im Gehirn ab ... Wenn sich mit der Reue eine entsetzlich harte Buße verbindet, eine Buße, welche das Leben in eine lange schlaflose Nacht mit verzweiflungsvollen Gedanken und rächenden Visionen verwandelt - dann folgt vielleicht der Reue und der Buße die Verzeihung der Menschen."
Innerhalb seines Geistes erzeugt sich eine Welt von greifbaren, fühlbaren Gespenstern. Das ist das Geheimnis aller frommen Visionen, das ist zugleich die allgemeine Form der Verrücktheit. Der maitre d'ecole, der die Phrasen Rudolphs über die „Macht der Reue und Buße, verbunden mit schrecklichen Martern' wiederholt, wiederholt sie daher schon als ein halb Verrückter und bewährt so tatsächlich den Zusammenhang des christlichen Sündenbewußtseins mit dem Wahnsinn. Ebenso, wenn der maitre d'ecole die Verwandlung des Lebens in emeTraumnackt, die von Blendwerken erfüllt wird, als das wahre Ergebnis der Reue und Buße betrachtet, so spricht er das wahre Geheimnis der reinen Kritik und der christlichen Besserung aus. Sie besteht eben darin, den Menschen in ein Gespenst und sein Leben in ein Traumleben zu verwandeln. Eugen Sue empfindet an diesem Punkt, wie sehr die heilsamen Gedanken, die er den blinden Räuber dem Rudolph nachplaudern läßt, durch dessen Verfahren gegen die Chouette blamiert werden. Er legt daher dem maitre d'ecole in den Mund: „La salutaire influence de ces pensees est teile que ma fureur s apaise."1
Der maitre d'ecole gesteht also nun, daß seinmoralischerZorn nichts anders als eine profane Wut war.
„Le courage ... la force ... la volonte me manquent pour te tuer ... non, ce n'est pas ä moi de verser ton sang ... ce serait ... un meurtre", er nennt die Sache bei ihrem Namen ... „meurtre excusable peut-etre ... mais ce serait toujours un meurtre."2
Zu rechter Zeit verwundet die Chouette den maitre d'ecole mit ihrem Stilett. Eugen Sue kann ihn nun ohne weitere moralische Kasuistik die Chouette töten lassen.
„11 poussa un cri de douleur ... les ardeurs feroces de sa vengeance, de ses rages, ses instincts sanguinaires, brusquement reveilles et exasperes par cette attaque, firent une explosion soudaine, terrible, oü s'abima sa raison dejä fortement ebranlee ... Ah vipere! ... j'ai senti ta dent ... tu seras comme moi sans yeux."3 Er kratzt ihr die Augen aus.
1 „Diese Gedanken haben einen so heilsamen Einfluß, daß meine Wut nachläßt." — 2 „Es gebricht mir an Mut, an Kraft und an dem Willen, dich zu strafen ... Nein, es steht mir nicht zu, dein Blut zu vergießen; es wäre das ein Mord, ein zu entschuldigender vielleicht, aber doch immer ein Mord." - 3 „Er stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus. Die Glut ... seines Rachedurstes, seiner Wut, seines Blutdurstes, die durch diesen Angriff plötzlich geweckt und zum Äußersten gesteigert wurde, brach gräßlich aus, und sein bereits erschütterter Verstand verließ ihn ganz und gar. - Ah, Schlange, ich habe deinen Zahn gefühlt! ... Du sollst wie ich ohne Augen sein."
In dem Augenblick, wo die durch Rudolphs Kur nur heuchlerisch, nur sophistisch verbrämte, nur asketisch übermannte Natur des maitre d'ecole hervorbricht, ist die Explosion um so gewaltsamer und fürchterlicher. Eugen Sues Geständnis, wonach die Vernunft des maitre d'ecole, durch alle Ereignisse, die Rudolph vorbereitet hatte, schon stark erschüttert war, ist dankenswert.
„Der letzte Strahl seiner Vernunft erlosch in diesem Schrei des Entsetzens, in diesem Schrei eines Verdammten" (er sieht die Gespenster der Ermordeten) „... der maitre d'ecole tobt und brüllt wie ein rasendes Tier ... Er schleift die Chouette zu Tode." Herr Szeliga murmelt in seinen Bart: „Mit dem Schulmeister kann nicht eine so schnelle (!) und glückliche (!) Umwandlung (!) als mit dem Schurimann vorgehen." Wie Rudolph die Fleur de Marie zur Bewohnerin des Klosters, so macht er den maitre d'ecole zum Bewohner des Irrenhauses, des Bicetre. Er hat nicht nur seine physische, er hat auch seine geistige Kraft paralysiert. Und mit Recht. Denn nicht nur mit der physischen, auch mit der geistigen Kraft hat er gesündigt, und nach der Straftheorie Rudolphs muß man die sündigenden Kräfte vernichten. Aber noch hat Herr Eugen Sue „die Buße und Reue, verbunden mit einer schrecklichen Rache", nicht vollendet. Der maitre d'ecole kommt wieder zu Verstand, bleibt aber aus Furcht, der Justiz ausgeliefert zu werden, im Bicetre und spielt den Verrückten. Herr Sue vergißt, daß „jedes seiner Worte ein Gebet sein sollte" und daß es schließlich vielmehr das unartikulierte Heulen und Rasen eines Wahnsinnigen ist, oder stellt etwa ironischerweise Herr Sue diese Lebensäußerung mit dem Beten auf eine Rangstufe? Die Idee der Strafe, welche Rudolph in der Blendung des maitre d'ecole anwendet, diese Isolierung des Menschen auf seine Seele und von der Außenwelt, die Verbindung der juristischen Strafe mit der theologischen Quälerei, hat ihre entschiedenste Ausführung - im Zellularsystem. Herr Sue feiert daher auch das Zellularsystem.
„Wie vieler Jahrhunderte bedurfte es, um zu erkennen, daß es nur ein Mittel gibt, um den reißend um sich greifenden Aussatz, welcher den sozialen Körper bedroht" (nämlich die Verdorbenheit in den Gefängnissen), „zu tilgen - die Isolierung." Herr Sue teilt die Ansicht der honetten Leute, welche die Ausbreitung der Verbrechen aus der Einrichtung der Gefängnisse erklären. Um den Verbrecher der schlechten Gesellschaft zu entziehen, überlassen sie ihn seiner eignen Gesellschaft.
Herr Eugen Sue erklärt: „Ich würde mich glücklich schätzen, wenn meine schwache Stimme unter all denen gehört werden könnte, welche mit so großem Recht und so großer Beharrlichkeit auf die vollständige, absolute Anwendung des Zellularsystems dringen."
Herrn Sues Wunsch ist nur teilweise in Erfüllung gegangen. In den diesjährigen Verhandlungen der Deputiertenkammer über das Zellularsystem mußten sogar die offiziellen Verteidiger dieses Systems zugestehn, daß es früher oder später die Verrücktheit der Verbrecher zur Folge habe. Alle Gefängnisstrafe über 10 Jahre mußte daher in Deportation verwandelt werden. Hätten Herr Tocqueville und Herr Beaumont den Roman Eugen Sues gründlich studiert, sie hätten unfehlbar die absolute, vollständige Anwendung des Zellularsystems durchgesetzt. Wenn Eugen Sue nämlich den Verbrechern bei gesundem Verstände die Gesellschaft entzieht, um sie verrückt zu machen, so gibt er den Verrückten Gesellschaft, um sie zu Verstand zu bringen.
„L'experience prouve que pour les alienes 1 isolement est aussi funeste qu'il est salutaire pour les detenus criminels."1 Wenn nun Herr Sue und sein kritischer Held Rudolph weder mit der katholischen Straftheorie noch mit dem methodistischen Zellularsystem das Recht um irgendein Geheimnis ärmer gemacht haben, so haben sie dagegen die Medizin mit neuen Geheimnissen bereichert, und am Ende ist es ebenso verdienstvoll, neue Geheimnisse zu entdecken, als alte Geheimnisse zu enthüllen. Die kritische Kritik berichtet mit Herrn Sue übereinstimmend über die Blendung des maitre d'ecole:
„Er glaubt nicht einmal, wenn man ihm sagt, er sei des Lichts seiner Augen beraubt." Der maitre d'ecole konnte nicht an den Verlust des Augenlichts glauben, weil er wirklich noch sah, Herr Sue beschreibt einen neuen Star, er teilt ein wirkliches Geheimnis für die massenhafte, unkritische Ophthalmologie mit. Die Pupille ist weiß nach der Operation. Es handelt sich also um einen Linsenstar. Diesen hat man freilich bis jetzt wohl durch Verletzung der Linsenkapsel herbeiführen können, auch ziemlich schmerzlos, wenn auch nicht völlig ohne Schmerz. Da aber die Mediziner nur auf naturgemäßem, nicht auf kritischem Wege dies Resultat erreichen, so blieb nichts übrig, als nach der
1 „Die Erfahrung beweist, daß bei Irren die Isolierung so verderblich, wie sie bei Verbrechern heilsam ist."
Verletzung die Entzündung mit ihrer plastischen Ausschwitzung abzuwarten, um eine Trübung der Linse zu erhalten. Ein noch größeres Wunder und Geheimnis trägt sich im 3. Kapitel des 3. Bandes mit dem maitre d ecole zu. Der Erblindete sieht wieder: „La chouette, le maitre d'ecole et Tortillard virent le pretre et Fleur de Marie."1
Wollen wir dieses Sehen des maitre d'ecole nun nicht nach dem Vorgang der „Kritik der Synoptiker" als ein schriftstellerisches Wunder deuten, so wird der maitre d'ecole sich seinen Star wieder haben operieren lassen. Später ist er wieder erblindet. Er hat also sein Auge zu früh gebraucht, durch Lichtreiz ist eine Entzündung herbeigeführt worden, welche mit einer Lähmung der Retina endete und eine unheilbare Amaurose bewirkte. Daß dieser Prozeß hier in einer Sekunde vor sich geht, ist ein neues mystere für die unkritische Ophthalmologie.
I) Belohnung und Strafe. Die doppelte Justiz, nebst Tabelle
Held Rudolph enthüllt die neue Theorie, welche die Gesellschaft durch Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen aufrechterhält. Unkritisch betrachtet, ist diese Theorie keine andre als die Theorie der heutigen Gesellschaft. Wie wenig läßt sie es an Belohnungen für die Guten und an Strafen für die Bösen fehlen! Gegen dies enthüllte Geheimnis, wie unkritisch ist nicht der massenhafte Kommunist Owen, der in der Strafe und Belohnung die Heiligung der gesellschaftlichen Rangunterschiede und den vollkommnen Ausdruck einer knechtischen Verworfenheit erblickt. Als neue Enthüllung könnte es erscheinen, daß Eugen Sue von der Justiz von einem Pendant zur Kriminaljustiz die Belohnungen ausgehn läßt und, unzufrieden mit einer Gerichtsbarkeit, zwei erfindet. Leider ist auch dies enthüllte Geheimnis die Wiederholung einer alten, von Bentham in seinem oben angeführten Buche weitläufig entwickelten Lehre. Dagegen soll Herrn Eugen Sue die Ehre nicht streitig gemacht werden, auf eine ungleich kritischere Weise vneBentham seinen Vorschlag motiviert und entwickelt zu haben. Während der massenhafte Engländer ganz auf ebener Erde stehenbleibt, erhebt sich die Suesche Deduktion in die kritische Region des Himmels. Herr Sue entwickelt wie folgt:
„Um die Bösen zu schrecken, materialisiert man die vorweggenommenen Wirkungen des himmlischen Zorns. Warum sollte man nicht die Wirkung der göttlichen
1 „Die Eule, der Schulmeister und der kleine Lahme sahen den Geistlichen und Marie."
Belohnung in bezug auf die Guten in ähnlicher Weise materialisieren und auf Erden antizipieren?"
Nach unkritischer Ansicht hat man umgekehrt in der himmlischen Kriminaltheorie nur die irdische idealisiert, wie man in der göttlichen Belohnung nur die menschliche Lohndienerei idealisiert hat. Wenn die Gesellschaft nicht alle Guten belohnt, so ist dies unumgänglich nötig, damit die göttliche Gerechtigkeit doch irgend etwas vor der menschlichen voraus habe. Herr Sue gibt nun in der Ausmalung seiner kritisch belohnenden Justiz „ein Beispiel jenes weiblichen", von Herrn Edgar an der Flora Tristan mit aller „Ruhe des Erkennens ' gerügten „Dogmatismus, der eine Formel haben will und sich dieselbe nach den Kategorien des Bestehenden bildet". Herr Eugen Sue entwirft zu jedem Stück der bestehenden Kriminaljustiz, die er bestehen läßt, ein bis ins Detail kopierendes Gegenbild der belohnenden Justiz, die er hinzufügt. Wir wollen, zur leichteren Übersicht des Lesers, seine Schilderung von Bild und Gegenbild in eine Tabelle zusammenbringen. Herr Sue, von dem Anblick dieses Gemäldes ergriffen, ruft aus:
„Helas, c'est une Utopie, mais supposez qu'une societe soit organisee de teile Sorte!"1
Das wäre also die kritische Organisation der Gesellschaft. Wir müssen diese Organisation gegen den Vorwurf Eugen Sues, daß sie bisher noch ein Utopien geblieben sei, förmlich in Schutz nehmen. Sue hat den „Tugendpreis", der jährlich inParis ausgeteilt wird und den er selbst erwähnt, wieder vergessen. Dieser Preis ist sogar doppelt organisiert, der materielle prix Montyon für edle Handlungen der Männer und Frauen, und der prix rosiere2 für die sittsamsten Mädchen. Hier fehlt sogar die von Eugen Sue verlangte Rosen-Krone nicht. Was die espionage de vertu3 wie die surveillance de haute charite morale4 betrifft, so ist sie von den Jesuiten längst organisiert. Überdem signalisieren und denunzieren das „Journal des Debats"[851, der „Siecle"[66], die „Petites Affiches de Paris"l-87-' etc. die Tugenden, edlen Handlungen und Verdienste sämtlicher Pariser Stockjobbers täglich zu kostenden Preisen, abgesehen vom Signalisieren und Denunzieren der politischen edlen Handlungen, für welche jede Partei ihr eignes Organ besitzt. Schon der alte Voß hat bemerkt, daß Homer besser ist als seine Götter. Das „enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse", Rudolph, können wir daher für Eugen Sues Ideen verantwortlich machen.
1 „Ach, das ist eine Utopie; aber nehmt an, eine Gesellschaft wäre auf diese Art organisierU" -2 Rosenpreis- 3 Tugendspionage - 4 Aufsicht der hohen moralischen Fürsorge
Tabelle der kritisch vollständigen Justiz
Bestehende Justiz Kritisch ergänzende Justiz
Namen: Justice Criminelle1 Namen: Justice Vertueuse2
Signalement: hält in der Hand ein Schwert, um die Bösen um einen Kopf zu verkürzen.
Signalement: hält in der Hand eine Krone, um die Guten um einen Kopf zu erhöhen.
Zweck.: Bestrafung des Bösen, Gefangenschaft, Infamie, Lebensberaubung. Das Volk erfährt die schreckliche Züchtigung für den Bösen.
Zweck: Belohnung des Guten, Freitisch, Ehre, Lebenserhaltung.
Das Volk erfährt den eklatanten Triumph für den Guten.
Mittel, um die Bösen zu entdecken: Polizeiliche Spionage, Mouchards, um den Bösen aufzulauern.
Mittel, um die Guten zu entdecken: Espionage de vertu3, Mouchards, um den Tugendhaften aufzulauern.
Entscheidung, oh einer ein Böser sei: Les assises du crime, Assisen für das Verbrechen. Das öffentliche Ministerium signalisiert die Verbrechen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Rache.
Entscheidung, ob einer ein Guter sei: Assises de la vertu, Assisen für die Tugend. Das öffentliche Ministerium signalisiert die edlen Handlungen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Erkenntlichkeit.
Zustand des Verbrechers nach dem Urteil: Er steht unter der surveillance de la haute police4. Er wird ernährt im Gefängnis. Der Staat macht Ausgaben für ihn.
Zustand des Tugendhaften nach dem Urteil: Er steht unter der surveillance de la haute charite morale5. Er wird ernährt in seinem Hause. Der Staat macht Ausgaben für ihn.
Exekution: Der Verbrecher steht auf dem Schafott.
Exekution: Grade gegenüber dem Schafott des Verbrechers erhebt sich ein Piedestal, worauf der grand homme de bien6 steigt - ein Tugendpranger.
1 Kriminal]ustiz - 2 Tugendjustiz - 3 Tugendspionage - 4 Aufsicht der hoben Polizei 6 Aufsicht der hohen moralischen Fürsorge -6 große Biedermann
Uberdem berichtet Herr Szeliga:
„Außerdem sind der Stellen, mit denen Eugen Sue die Erzählung unterbricht, Episoden einleitet und schließt, sehr vie le, und alle sind Kritik.."
c) Aufhebung der Verwilderung innerhalb der Zivilisation und der Rechtslosigkeit im Staate
Das juristische Präventivmittel zur Aufhebung der Verbrechen und damit der Verwilderung innerhalb der Zivilisation besteht in der „schützenden Tutelle, welche der Staat über die Kinder der Hingerichteten und zu lebenslänglichen Strafen Verurteilten übernimmt". Sue will die Verteilung der Verbrechen liberaler organisieren. Keine Familie soll mehr ein erbliches Privilegium auf das Verbrechen besitzen - die freie Konkurrenz der Verbrechen soll über das Monopol siegen. „Die Rechtslosigkeit im Staat" hebt Herr Sue durch die Reform des code penal1 in seinem Abschnitt über die „abus de confiance"2 und namentlich durch die Einsetzung von besoldeten Armenadvokaten auf. In Piemont, Holland etc., wo der Arrnenaclvokat existiert, findet Herr Sue daher die Rechtslosigkeit im Staat aufgehoben. Die französische Gesetzgebung fehlt nur darin, daß sie den Armenadvokaten nicht besoldet, nicht ausschließlich auf das Armenfach anweist, und die gesetzliche Grenze der Armut zu eng ist. Als wenn die Rechtslosigkeit nicht eben erst recht im Prozeß selbst begönne, und als wenn man in Frankreich nicht längst wüßte, daß das Recht nichts gibt, sondern nur das Vorhandene sanktioniert. Die schon trivial gewordene Unterscheidung von droit3 und fait1 scheint dem kritischen Romanschreiber ein mystere de Paris geblieben zu sein. Nimmt man zu der kritischen Enthüllung der rechtlichen Geheimnisse noch die großen Reformen hinzu, die Eugen Sue mit den huissiers' anstellen will, so wird man das Pariser Journal „Satan" t68J begreifen. Es läßt ein Stadtviertel an jenen „grand reformateur ä tant la ligne"6 schreiben, seinen Straßen fehle noch die Gasbeleuchtung. Herr Sue antwortet, daß er diesem Übel im 6. Band seines „Juif errant"' abhelfen werde. Ein anderes Stadtviertel klagt über den mangelhaften Präliminarunterricht. Er verspricht, die Reform des Präliminarunternchts für dieses Stadtviertel im 10. Bande seines „Juif errant" zu bewerkstelligen.
1 Strafgesetzbuch - 2 Vertrau.ensbruch — 3 Recht - 4 Tatsache - 5 Gerichtsvollziehern 6 „großen, nach Zeilen bezahlten Reformator" - 7 „Ewigen Juden"
4. Das enthüllte Geheimnis des „Standpunktes"
„Nicht auf seinem erhabenen (!) Standpunkt bleibt Rudolph stehen ... er scheut die Mühe nicht, die Standpunkte rechts und links, den oben, den in der Tiefe, aus freier Wahl einzunehmen." Szeliga. Ein Hauptgeheimnis der kritischen Kritik ist der „Standpunkt" und die Beurteilung vom Standpunkte des Standpunktes. Jeder Mensch wie jedes geistige Produkt verwandelt sich ihr in einen Standpunkt. Es ist nichts leichter, als hinter das Geheimnis des Standpunktes zu kommen, wenn man das allgemeine Geheimnis der kritischen Kritik, alten, spekulativen Kohl neu aufzuwärmen, durchschaut hat. Zunächst spreche sich die Kritik selbst durch den Mund des Patriarchen, des Herrn Bruno Bauer, über ihre Theorie des „Standpunktes" aus.
„Die Wissenschaft ... hat es nie mit diesem einzelnen Individuum oder diesem bestimmten Standpunkt zu tun ... Sie wird es allerdings nicht daran fehlen lassen und die Schranke eines Standpunktes, wenn es sich der Mühe verlohnt und diese Schranke wirklich allgemeine menschliche Bedeutung hat, aufheben; aber sie faßt dieselbe als reine Kategorie und Bestimmtheit des Selbstbewußtseins und spricht demnach nur für diejenigen, welche die Kühnheit haben, sich in die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins zu erheben, d. h. in jener Schranke nicht mit aller Gewalt stehenbleiben wollen." („Anekdota", T. II, p. 127.)
Das Geheimnis dieser Bauerschen Kühnheit ist die Hegeische „Phänomenologie". Weil Hegel hier das Selbstbewußtsein an die Stelle des Menschen setzt, so erscheint die verschiedenartigste menschliche Wirklichkeit nur als eine bestimmte Form, als eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. Eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist aber eine „reine Kategorie", ein bloßer „Gedanke", den ich daher auch im „reinen" Denken aufheben und durch reines Denken überwinden kann. In Hegels „Phänomenologie" werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewußtseins stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein „Gedankending", in eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im „Äther des reinen Gedankens" auflösen kann. Die „Phänomenologie" endet daher konsequent damit, an die Stelle aller menschlichen Wirklichkeit das „absolute Wissen" zu setzen - Wissen, weil dies die einzige Daseinsweise des Selbstbewußtseins ist und weil das Selbstbewußtsein für die
einzige Daseinsweise des Menschen gilt - absolutes Wissen, eben weil das Selbstbewußtsein nur sich selbst weiß und von keiner gegenständlichen Welt mehr geniert wird. Hegel macht den Menschen zum Menschen des Selbstbewußtseins, statt das Selbstbewußtsein zum Selbstbewußtsein des Menschen, des wirklichen, daher auch in einer wirklichen, gegenständlichen Welt lebenden und von ihr bedingten Menschen zu machen. Er stellt die Welt auf den Kopf und kann daher auch im Kopf alle Schranken auflösen, wodurch sie natürlich für die schlechte Sinnlichkeit, für den wirklichen Menschen bestehenbleiben. Uberdem gilt ihm notwendigerweise alles das als Schranke, was die Beschränktheit des allgemeinen Selbstbewußtseins verrät, alle Sinnlichkeit, Wirklichkeit, Individualität der Menschen wie ihrer Welt. Die ganze „Phänomenologie" will beweisen, daß das Selbstbewußtsein die einzige und alle Realität ist. Herr Bauer hat in neuerer Zeit das absolute Wissen in Kritik umgetauft und die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins in den profaner klingenden Standpunkt. In den „Anekdotis" stehen noch beide Namen zusammen, und der Standpunkt wird noch durch die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins kommentiert. Weil die „religiöse Welt als religiöse Welt" nur als die Welt des Selbstbewußtseins existiert, so kann der kritische Kritiker - Theologe ex professo1 — gar nicht auf den Gedanken geraten, daß es eine Welt gibt, worin Bewußtsein und Sein unterschieden sind, eine Welt, die nach wie vor stehenbleibt, wenn ich bloß ihr Gedankendasein, ihr Dasein als Kategorie, als Standpunkt aufhebe, d. h., wenn ich mein eignes subjektives Bewußtsein modifiziere, ohne die gegenständliche Wirklichkeit auf wirklich gegenständliche Weise zu verändern, d.h., ohne meine eigne gegenständliche Wirklichkeit zu verändern, meine eigne und die der andern Menschen. Die spekulative mystische Identität von Sein und Denken wiederholt sich daher in der Kritik als die gleich mystische Identität von Praxis und Theorie. Daher ihr Ärger gegen die Praxis, die noch etwas anders als Theorie, und gegen die Theorie, die noch etwas anders als die Auflösung einer bestimmten Kategorie in die „schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins' sein will. Ihre eigne Theorie beschränkt sich darauf, alles Bestimmte für einen Gegensatz gegen die schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, daher für nichtig zu erklären, so z.B. den Staat, das Privateigentum usw. Es muß umgekehrt gezeigt werden, wie Staat, Privateigentum usw. die Menschen in Abstraktionen verwandeln oder Produkte des abstrakten Menschen sind, statt die Wirklichkeit der individuellen, konkreten Menschen zu sein.
1 von Amts wegen
Es versteht sich endlich von selbst, daß, wenn Hegels „Phänomenologie" ihrer spekulativen Erbsünde zum Trotz an vielen Punkten die Elemente einer wirklichen Charakteristik der menschlichen Verhältnisse gibt, Herr Bruno und Konsorten dagegen nur die inhaltslose Karikatur liefern, eine Karikatur, die sich damit begnügt, irgendeine Bestimmtheit aus einem geistigen Produkt oder auch aus realen Verhältnissen und Bewegungen herauszunehmen, diese Bestimmtheit in eine Gedankenbestimmtheit, in eine Kategorie zu verwandeln und diese Kategorie für den Standpunkt des Produkts, des Verhältnisses und der Bewegung auszugeben, um nun mit altkluger Weisheit vom Standpunkt der Abstraktion, der allgemeinen Kategorie, des allgemeinen Selbstbewußtseins auf diese Bestimmtheit triumphierend herabsehen zu können. Wie für Rudolph alle Menschen auf dem Standpunkt des Guten oder Bösen stehen und nach diesen beiden fixen Vorstellungen beurteilt werden, so für Herrn Bauer und Konsorten auf dem Standpunkte der Kritik oder der Masse. Beide aber verwandeln die wirklichen Menschen in abstrakte Standpunkte.
5. Enthüllung des Geheimnisses Von der Utilisierung der menschlichen Triebe oder Clemence d'Harüille
Rudolph hat bisher nur die Guten in seiner Weise zu belohnen und die Bösen in seiner Weise zu bestrafen gewußt. Wir werden ihn nun an einem Beispiel die Leidenschaf ten nützlich machen und dem „schönen Naturell der Clemence von Harville eine angemessene Entwicklung geben sehen". „Rudolph", sagt Herr Szeliga, „weist sie auf die unterhaltende Seite der Wohltätigkeit hin. Ein Gedanke, der von einer Menschenkenntnis, wie sie nur aus dem durch die Prüfung hindurchgegangenen Innern Rudolphs hervorgehen kann, zeugt." Die Ausdrücke, deren sich Rudolph in der Unterhaltung mit Clemence bedient: „faire attrayant", „utiliser le goüt naturel", „regier l'intrigue", „utiliser les penchants ä la dissimulation et ä la ruse", „changer en qualites genereuses des instincts imperieux, inexorables"1 etc. - diese Ausdrücke ebensosehr wie die Triebe selbst, welche hier der weiblichen Natur vorzugsweise zugeschrieben werden, verraten die geheime Quelle von Rudolphs Weisheit - Fourier. Es ist ihm eine populäre Darstellung der fourieristischen Lehre in die Hand gefallen. Die Anwendung ist wieder ebensosehr Rudolphs kritisches Eigentum wie die obige Ausführung der Theorie Benthams.
1„anziehend machen", „den natürlichen Geschmack ausnutzen", „die Intrige regeln", „die Neigung zur Verstellung und zur List ausnutzen", „die herrischen, unerbittlichen Instinkte in edle Eigenschaften umwandeln"
Nicht in der Wohltätigkeit als solcher soll die junge Marquise eine Befriedigung ihres menschlichen Wesens, einen menschlichen Inhalt und Zweck der Tätigkeit und darum eine Unterhaltung finden. Die Wohltätigkeit bietet vielmehr nur den äußern Anlaß, nur den Vorwand, nur die Materie zu einer Art von Unterhaltung, die ebensogut jede andre Materie zu ihrem Inhalt machen könnte. Das Elend wird mit Bewußtsein ausgebeutet, um dem Wohltäter „das Pikante des Romans, Befriedigung der Neugierde, Abenteuer, Verkleidungen, Genuß der eignen Vortrefflichkeit, Nervenerschütterungen" und dergleichen zu verschaffen. Rudolph hat damit unbewußt das längst enthüllte Geheimnis ausgesprochen, daß das menschliche Elend selbst, daß die unendliche Verworfenheit, welche das Almosen empfangen muß, der Aristokratie des Geldes und der Bildung zum Spiel, zur Befriedigung ihrer Selbstliebe, zum Kitzel ihres Übermuts, zum Amüsement dienen muß. Die vielen Wohltätigkeitsvereine in Deutschland, die vielen wohltätigen Gesellschaften in Frankreich, die zahlreichen wohltätigen Donquichotterien in England, die Konzerte, Bälle, Schauspiele, Essen für Arme, selbst die öffentlichen Subskriptionen für Verunglückte haben keinen andern Sinn. In dieser Weise wäre also auch die Wohltätigkeit längst als Unterhaltung organisiert. Die plötzliche, unmotivierte Umwandlung der Marquise bei dem bloßen Wort „amüsant" läßt uns an der Nachhaltigkeit ihrer Kur zweifeln, oder vielmehr diese Umwandlung ist nur zum Schein plötzlich und unmotiviert, nur zum Schein durch die Schilderung der charite1 als eines Amüsements bewirkt. Die Marquise liebt Rudolph, und Rudolph will sich mit ihr verkleiden, intrigieren, auf Wohltätigkeitsabenteuer ausziehen. Später, bei einem wohltätigen Besuch der Marquise in dem Gefängnisse Saint-Lazare, kömmt der Fleur de Marie gegenüber ihre Eifersucht zum Vorschein, und aus Wohltätigkeit gegen ihre Eifersucht verschweigt sie dem Rudolph die Detention der Marie. Im besten Falle aber ist es dem Rudolph gelungen, eine unglückliche Frau mit unglücklichen Wesen eine alberne Komödie spielen zu lehren. Das Geheimnis der von ihm ausgeheckten Philanthropie verriet jener Dandin von Paris, der seine Dame nach dem Tanze mit folgenden Worten zum Souper aufforderte:
„Ah Madame! ce n'est pas assez d'avoir danse au benefice des ces pauvres Polonais ... soyons philanthropes jusqu au bout ... allons souper maintenant au Profit des pauvresl"2
1 Wohltätigkeit" 2 „Ah, gnädige Frau, es ist nicht genug, zum Wohle dieser armen Polen getanzt zu haben ... seien wir Menschenfreunde bis zum letzten ... lassen Sie uns letzt zum Nutzen der Armen zu Abend essen "
6. Enthüllung des Geheimnisses der Emanzipation der Weiber oder Louise Morel
Bei Gelegenheit der Verhaftung der Louise Morel stellt Rudolph Reflexionen an, die sich dahin resümieren: „Der Herr verdirbt oft die Magd, sei es durch Schrecken, Überraschung oder durch sonstige Benutzung der Gelegenheiten, welche die Natur des Dienstverhältnisses herbeiführt. Er stürzt sie in Unglück, Schmach, Verbrechen. Das Gesetz bleibt diesem Gegenstand fremd ... Der Verbrecher, der das Mädchen zum Kindermord faktisch gezwungen hat, wird nicht gestraft.'1 Rudolphs Reflexionen erstrecken sich nicht einmal so weit, das Dienstverhältnis selbst semer allerdurchlauchtigsten Kritik zu unterwerfen. Als ein kleiner Herrscher ist er ein großer Gönner von Dienstverhältnissen. Noch weniger geht Rudolph dazu fort, die allgemeine Stellung des Weibes in der heutigen Gesellschaft als unmenschlich zu begreifen. Ganz seiner bisherigen Theorie getreu, vermißt er nichts als ein Gesetz, welches den Verführer straft und die Reue und Buße mit schrecklichen Züchtigungen verbindet. Rudolph hätte sich nur in der existierenden Gesetzgebung anderer Länder umzusehen. Die englische Gesetzgebung erfüllt alle seine Wünsche. Sie geht in ihrem Zartgefühl, das Blackstone rühmlich hervorhebt, so weit, auch den, der ein Freudenmädchen verführt, der Felonie für schuldig zu erklären. Herr Szeliga bläst Tusch: „Dies! - denkt! ~ Rudolph! - und nun haltet diese Gedanken gegen eure Phantasien von der Emanzipation des Weibes, Die Tat dieser Emanzipation ist aus ihnen fast mit Händen zu greifen, während ihr von Hause aus viel zu praktisch seid und daher mit euren bloßen Versuchen so vielfach verunglückt."
Jedenfalls verdankt man Herrn Szeliga die Enthüllung des Geheimnisses, daß eine Tat fast mit Händen aus Gedanken gegriffen werden kann. Was seine drollige Vergleichung Rudolphs mit den Männern betrifft, welche die Emanzipation des Weibes gelehrt haben, so vergleiche man Rudolphs Gedanken etwa mit folgenden Phantasien Fouriers:
„Ehebruch, Verführung macht den Verführern Ehre, ist guter Ton ... Aber, armes Mädchen! der Kindermord, welch ein Verbrechen! Wenn sie auf Ehre hält, muß sie die Spuren der Unehre auslöschen, und wenn sie den Vorurteilen der Welt ihr Kind aufopfert, so ist sie noch mehr geschändet und verfällt den Vorurteilen des Gesetzes ... Das ist der fehlerhafte Kreislauf, welchen aller zivilisierte Mechanismus beschreibt." „Die junge Tochter, ist sie nicht eine Ware, zum Verkauf ausgeboten für den ersten besten, der das exklusive Eigentum dieses Mädchens erhandeln will? ... De meme qu'en
grammaire deux negations valent une affirmation, l'on peut dire qu'en negoce conjugal deax prostitations valent une vertu."1 „Die Veränderung einer geschichtlichen Epoche läßt sich immer aus dem Verhältnis des Fortschritts der Frauen zur Freiheit bestimmen, weil hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint. Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation." „Die Erniedrigung des weiblichen Geschlechts ist ein wesentlicher Charakterzug der Zivilisation wie der Barbarei, nur mit dem Unterschied, daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseins weise erhebt ... Keinen trifft die Strafe, das Weib in der Sklaverei zu erhalten, tiefer als den Mann selbst." (Fourier.)'69^ Dem Gedanken Rudolphs gegenüber ist es überflüssig, auf Fouriers meisterhafte Charakteristik der Ehe wie auf die Schriften der materialistischen Fraktion des französischen Kommunismus hinzuweisen. Der traurigste Abhub der sozialistischen Literatur, wie er bei dem Romanschreiber zu finden ist, enthüllt der kritischen Kritik immer noch unbekannte „Geheimnisse".
7. Enthüllung der nationalökonomischen Geheimnisse
a) Theoretische Enthüllung der nationalökonomischen Geheimnisse
Erste Enthüllung: Der Reichtum führt häufig zur Verschwendung, die Verschwendung zum Ruin. Zweite Enthüllung: Die eben beschriebnen Folgen des Reichtums entspringen aus einem Mangel an Unterweisung für die reiche Jugend. Dritte Enthüllung: Die Erbschaft und das Privateigentum sind und müssen unverletzlich und geheiligt sein. Vierte Enthüllung: Der Reiche schuldet moralisch den Arbeitern Rechenschaft von der Anwendung seines Vermögens. Ein großes Vermögen ist ein erbliches Depositum - ein Feudallehen —, klugen, festen, geschickten, großmütigen Händen anvertraut, die zugleich beauftragt sind, es fruchtbar zu machen und es so zu verwenden, daß alles, was das Glück hat, sich in dem Bereich der glänzenden und heilsamen Ausstrahlung des großen Vermögens zu befinden, befruchtet, belebt, verbessert wird.
1 „... Wie in der Grammatik zwei Verneinungen gleich einer Bejahung sind, so, kann man sagen, sind im Ehehandel zwei Prostitutionen gleich einer Tugend."
Fünfte Enthüllung: Der Staat hat der unerfahrnen reichen Jugend die Rudimente der individuellen Ökonomie zu geben. Er muß das Vermögen moralisieren. Sechste Enthüllung: Endlich muß der Staat auf die ungeheure Frage von der Organisation der Arbeit eingehen. Er muß das heilsame Beispiel von der Assoziation der Kapitalien und der Arbeit geben, und zwar von einer Assoziation, welche honett, intelligent, billig ist, welche das Wohlsein des Arbeiters sichert, ohne dem Vermögen des Reichen zu schaden, welche zwischen diesen zwei Klassen Bande der Zuneigung, der Erkenntlichkeit etabliert und dadurch für immer die Ruhe des Staats sichert. Da der Staat einstweilen noch nicht auf diese Theorie eingeht, so gibt Rudolph selbst einige praktische Exempel. Sie werden das Geheimnis enthüllen, daß Herrn Sue, Herrn Rudolph und der kritischen Kritik die alierbekanntesten ökonomischen Verhältnisse „Mysterien" geblieben sind.
b) „Die Arrr.enbank"
Rudolph errichtet eine Armenbank. Die Statuten dieser kritischen Armenbank sind folgende: Sie soll honette Arbeiter, welche Familie haben, während der arbeitslosen Zeit unterstützen. Sie soll die Almosen und die Pfandhäuser ersetzen. Sie verfügt über eine jährliche Revenue von 12000 Francs und verteilt Hülfsanleihen von 20 bis 40 Francs ohne Interessen. Sie erstreckt ihre Wirksamkeit zunächst auf das siebte Arrondissement von Paris, v/o die meisten Arbeiter wohnen. Die Arbeiter oder Arbeiterinnen, welche auf Unterstützung Anspruch machen, müssen Träger eines Zertifikats sein, welches von ihrem letzten Patron ausgestellt ist, ihr gutes Betragen verbürgt und die Ursache wie das Datum der Unterbrechung ihrer Arbeit angibt. Diese Anleihen sind monatlich zurückzuzahlen, zum sechsten oder zum zwölften Teil je nach der Wahl des Leihers, von dem Tag an, wo er wieder Beschäftigung gefunden hat. Als Garantie der Anleihe gilt die Verpflichtung auf Ehrenwort. Zwei andre Arbeiter müssen überdem Bürgschaft leisten für die parole juree1 des Leihers. Da der kritische Zweck der Armenbank darin besteht, einen der schwersten Unfälle des Arbeiterlebens, die Unterbrechung der Arbeit, zu heilen, so würden die Hülfsleistungen durchaus nur den arbeitslosen Handwerkern zukommen. Herr Germain, der dies Institut verwaltet, bezieht ein jährliches Gehalt von 10000 Francs.
1 das gegebeneWort
14 Marx/Engels, We/lce, Bd. 2
Werfen wir nun einen massenhaften Blick auf die Praxis der kritischen Nationalökonomie. Die jährliche Revenue beträgt 12000 Francs. Die Unterstützungen belaufen sich für jede Person auf 20 bis 40, also im Durchschnitt auf 30 Francs. Die Anzahl der offiziell als „elend" anerkannten Arbeiter des siebenten Arrondissements beläuft sich wenigstens auf 4000. Es können also jährlich 400, d. h. der zehnte Teil der allerhülfsbedürftigsten Arbeiter des siebenten Arrondissements unterstützt werden. In Paris ist es wenig, wenn wir die Durchschnittszahl der arbeitslosen Zeit auf vier Monate (viel zu gering taxiert), also auf 16 Wochen reduzieren. 30 Francs, auf 16 Wochen verteilt, sind auf die Woche etwas weniger als 37 Sous und 3 Centimes, macht auf den Tag noch nicht 27 Cts. Die tägliche Ausgabe für einen einzelnen Gefangnen beträgt in Frankreich durchschnittlich etwas mehr als 47 Cts., wovon die Speisung allein etwas über 30 Cts. wegnimmt. Der Arbeiter, den Herr Rudolph unterstützt, besitzt aber Familie. Schätzen wir die Familie im Durchschnitt außer Mann und Frau auf nur zwei Kinder, so bleiben 27 Cts. unter vier Personen zu verteilen. Hiervon geht die Wohnung - das Minimum auf den Tag 15 Cts. - ab, bleiben 12 Cts. Das Brot, welches ein einzelner Gefangener im Durchschnitt verzehrt, kostet ungefähr 14 Cts. Der Arbeiter samt Familie wird also, abgesehn von allen andern Bedürfnissen, mit der Unterstützung der kritischen Armenbank noch nicht den vierten Teil des nötigen Brots kaufen können und einem gewissen Hungertod anheimfallen, wenn er nicht zu den Mitteln, denen diese Armenbank vorbeugen will, zu dem Pfandhaus, dem Bettel, dem Diebstahl und der Prostitution seine Zuflucht nimmt. Um so glänzender bedenkt der Mann der rücksichtslosen Kritik dagegen den Verwalter der Armenbank. Die verwaltete Revenue beträgt 12000, das Gehalt des Verwalters 10000 Frcs. Die Verwaltung kostet also 45 Prozent, beinahe das Dreifache der massenhaften Armenverwaltung in Paris, welche ungefähr 17 Prozent kostet. Nehmen wir aber einen Augenblick an, die Unterstützung, welche die Armenbank gewährt, sei eine wirkliche und nicht bloß illusorische Unterstützung, so beruht die Einrichtung des enthüllten Geheimnisses aller Geheimnisse auf dem Wahn, daß es nur einer andern Distribution des Salärs bedürfe, damit der Arbeiter das ganze Jahr hindurch leben könne. Im prosaischen Sinne zu sprechen, beträgt das Einkommen von 7500000 französischen Arbeitern auf den Kopf nur 91 Frcs., das Einkommen von andern 7500000 französischen Arbeitern auf den Kopf nur 120 Frcs., also schon von 15000000 Arbeitern weniger, als absolut zum Leben nötig ist. Der Gedanke der kritischen Armenbank reduziert sich darauf - wenn er anders vernünftig gefaßt wird -, daß dem Arbeiter während der Zeit, wo er
Beschäftigung hat, soviel vom Salär abgezogen wird, als er braucht, um in der arbeitslosen Zeit zu leben. Ob ich ihm eine bestimmte Summa Geldes in der arbeitslosen Zeit vorstrecke und er mir diese Summe in der Arbeitszeit zurückgibt, oder ob er mir in der Arbeitszeit eine bestimmte Summe abgibt und ich sie ihm in der arbeitslosen Zeit zurückgebe, ist ein und dasselbe. Er gibt mir immer das in seiner Arbeitszeit, was er von mir in seiner arbeitslosen Zeit erhält. Die „reine" Armenbank unterschiede sich also von den massenhaften Sparkassen nur durch zwei sehr originelle, sehr kritische Eigenschaften, einmal, daß die Bank ihr Geld ä fonds perdu1 ausleiht, in der törichten Voraussetzung, daß der Arbeiter zurückzahlen könne, wenn er wolle, und daß er immer zurückzahlen wolle, wenn er könne; dann aber dadurch, daß die Bank keine Zinsen für die vom Arbeiter hinterlegten Summen zahlt. Weil die hinterlegte Summe in der Form des Vorschusses erscheint, tut die Bank schon ein Großes, wenn sie selbst keine Zinsen vom Arbeiter nimmt. Die kritische Armenbank unterscheidet sich also dadurch von den massenhaften Sparkassen, daß der Arbeiter seine Zinsen und die Bank ihr Kapital verliert.
c) Musterwirtschaft zu Bouqueval
Rudolph stiftet eine Mustenvirtschaft zu Bouqueval. Der Ort ist um so glücklicher gewählt, als er noch feudaler Erinnerungen sich erfreut - nämlich eines chateau seigneurial2. Jeder der sechs männlichen Arbeiter, welche diese Pächterei beschäftigt, erhält 150 ecus oder 450 Frcs., jede der weiblichen Arbeiterinnen 60 ecus oder 180 Frcs. jährlichen Arbeitslohn. Sie haben außerdem freies Essen und freie Wohnung. Das gewöhnliche alltägliche Essen der Leute von Bouqueval besteht aus einer „formidablen" Platte Schinken, aus einer nicht minder furchtbaren Platte Hammelfleisch und endlich aus einem nicht minder massenhaften Stück Kalbfleisch, wozu als Nebengerichte zwei Wintersalate, zwei große Käse, Erdäpfel, Zider etc. hinzukommt. Jeder der sechs männlichen Arbeiter arbeitet zweimal mehr als der gewöhnliche französische Ackerbautaglöhner. Da die ganze Summe des jährlich von Frankreich produzierten Einkommens bei gleicher Teilung im Durchschnitt nur 93 Frcs. betrüge, da die unmittelbar mit Landbau beschäftigte Einwohnerzahl Frankreichs 2/3 der Gesamtbevölkerung beträgt, so kann man schließen, welche Revolution nicht nur in der Verteilung, sondern auch in der Produktion des Nationalreichtums
1 auf Nimmerwiedersehen - 2 herrschaftlichen Schlosses
die allgemeine Nachahmung der Musterwirtschaft des deutschen Kalifen hervorbringen würde. Demnach hat Rudolph diese ungeheure Vergrößerung der Produktion nur dadurch erreicht, daß er jeden Arbeiter zweimal soviel wie bisher arbeiten und sechsmal soviel verzehren läßt. Da der französische Bauer sehr fleißig ist, so müssen Arbeiter, die zweimal soviel arbeiten, übermenschliche Athleten sein, worauf auch die „formidablen" Fleisch-Schüsseln hindeuten sollen. Wir können also annehmen, daß jeder dieser sechs Arbeiter täglich wenigstens ein Pfund Fleisch verzehrt. Wenn alles in Frankreich produzierte Fleisch gleich verteilt würde, so käme auf den Kopf täglich noch nicht 1/4Pfund Fleisch. Man sieht also, welche Revolution auch in dieser Hinsicht das Beispiel Rudolphs hervorrufen würde. Die Landbaubevölkerung würde allein mehr Fleisch verzehren, als in Frankreich produziert wird, so daß Frankreich durch diese kritische Reform aller Viehzucht überhoben würde. Der fünfte Teil des Bruttoertrags, welchen Rudolph, nach dem Berichte des Verwalters von Bouqueval, des Vaters Chatelain, außer dem hohen Salär und der luxuriösen Beköstigung den Arbeitern zukommen läßt, ist nichts anderes als seine Grundrente. Man nimmt nämlich nach einer Durchschnittsberechnung an, daß im allgemeinen, nach Abzug aller Produktionskosten und des Gewinns für das Betriebskapital, ein Fünfteil des Bruttoertrags für den französischen Grundeigentümer übrigbleibt oder daß seine Rentenquote sich auf den fünften Teil des Bruttoertrags beläuft. Obgleich nun Rudolph den Gewinn seines Betriebskapitals unstreitig unverhältnismäßig verringert, indem er die Ausgabe für die Arbeiter unverhältnismäßig steigert - nach Chaptal („De l'industrie frangaise", I, 239) ist der Durchschnittspreis der jährlichen Einnahmen der französischen Lohnbauern 120 Frcs. -, obgleich er seine ganze Grundrente den Arbeitern schenkt, berichtet dennoch Vater Chatelain, daß Monseigneur bei dieser Methode sein Einkommen steigere und dergestalt die andern unkritischen Grundeigentümer zu einer ähnlichen Wirtschaft anfeure. Die Musterwirtschaft von Bouqueval ist ein bloßer phantastischer Schein; ihr verborgener Fonds ist nicht der natürliche Grund und Boden von Bouqueval, sondern der märchenhafte Fortunatussäckel1701 Rudolphs! Die kritische Kritik lärmt:
„Man sieht es dem ganzen Plan auf den ersten Blick an, daß er kein Utopien ist."
Nur die kritische Kritik kann es einem Fortunatussäckel auf den ersten Blick ansehen, daß er kein Utopien ist. Der kritische erste Blick ist - der „böse Blick"!
8. Rudolph, „das enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse"
Das Wundermittel, womit Rudolph alle seine Erlösungen und Wunderkuren bewirkt, sind nicht seine schönen Worte, sondern sein bares Geld. So sind die Moralisten, sagt Fourier. Man muß ein Millionär sein, um es ihren Helden nachmachen zu können. Die Moral ist die „Impuissance mise en action"1 . So oft sie ein Laster bekämpft, unterliegt sie. Und Rudolph erhebt sich nicht mal auf den Standpunkt der selbständigen Moral, welche wenigstens auf dem Bewußtsein der Menschenwürde beruht. Seine Moral beruht dagegen auf dem Bewußtsein der menschlichen Schwäche. Er ist die theologische Moral. Wir haben die Heldentaten, die er mit seinen fixen, christlichen Ideen, an denen er die Welt mißt, mit der „charite", dem „devouement", der „abnegation", dem „repentir", den „bons" und den „mechants", der „recompense" und der „punition", den „chatiments terribles", dem „isolement", dem „salut de l'ame"2etc. vollbringt, bis ins Detail verfolgt und als Eulenspiegeleien nachgewiesen. Wir haben es hier nur noch mit dem persönlichen Charakter Rudolphs, dem „enthüllten Geheimnis aller Geheimnisse" oder dem enthüllten Geheimnis der „reinen Kritik" zu tun. Der Gegensatz des „Guten und des „Bösen" tritt dem kritischen Herkules schon als Jüngling in zwei Personifikationen gegenüber; Murph und Polidori sind beide Lehrer Rudolphs. Der erste erzieht ihn zum Guten und ist „der Gute". Der zweite erzieht ihn zum Bösen und ist „der Böse". Damit diese Auffassung durchaus nichts an Trivialität ähnlichen Auffassungen in andern moralischen Romanen nachgebe, darf „der Gute", Murph, nicht „savant"3, nicht „besonders geistig bevorzugt" sein. Dagegen ist er ehrlich, einfach, einsilbig, weiß mit den Silben schändlich, niederträchtig gegen das Böse sich groß und hat einen horreur4 vor dem Niedrigen. Er setzt, um mit Hegel zu reden, ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d. h. in eine Eine Note. Polidori dagegen ist ein Wunder an Klugheit, Kenntnissen und Bildung, dabei von der „gefährlichsten Immoralität", und namentlich besitzt er, was Eugen Sue als ein Glied der jungen frommen Bourgeoisie Frankreichs nicht vergessen durfte: „le plus effrayant scepticisme"0. Eugen Sues und seines
1 „in Aktion gesetzte Machtlosigkeit" ~ 2 „Wohltätigkeit", „Aufopferung", „Entsagung", „Reue", „Guten", „Bosen", „Belohnung", „Bestrafung", „schrecklichen Züchtigungen", „Isolierung", „Seelenheil" - 3 „gelehrt" - 4 Schauder -5 „den fürchterlichsten Skeptizismus"
Helden Geistesenergie und Bildung mag man aus dem panischen Schrecken vor dem Skeptizismus beurteilen.
„Murph", sagt Herr Szeliga, „ist zugleich die verewigte Schuld des dreizehnten Januar und die ewige Tilgung dieser Schuld durch unvergleichliche Liebe und Aufopferung für die Person Rudolphs." Wie Rudolph der deus ex machina1 und der Mittler der Welt, so ist Murph wieder der persönliche deus ex machina und der Mittler Rudolphs.
„Rudolph und das Heil der Menschheit, Rudolph und die Verwirklichung der Wesensvollkommenheiten des Menschen ist für Murph eine untrennbare Einheit, eine Einheit, der er sich nicht mit der dummen hündischen Ergebenheit des Sklaven hingibt, sondern wissend und selbständig."
Murph ist also ein aufgeklärter, wissender und selbständiger Sklave. Er personifiziert, wie jeder Fürstendiener, seinen Herrn mit dem Heil der Menschheit. Graun schmeichelt dem Murph mit der Anrede „intrepide garde du corps"2. Rudolph selbst nennt ihn den modele d'un valei!3, und er ist wirklich ein musterhafter Bedienter. Er war sehr pünktlich darin, wie Eugen Sue berichtet, den Rudolph im tete-ä-tete4 mit Monseigneur anzureden. Bei andern nennt er ihn des Inkognito wegen mit den Lippen Monsieur, aber mit dem Herzen Monseigneur.
„Murph hebt mit den Schleier von den Geheimnissen, aber nur um Rudolphs willen. Er hilft an der Arbeit, die Macht der Geheimnisse zu zerstören."
Die Dichtigkeit des Schleiers, der dem Murph die einfachsten Weltzustände verhüllt, mag man aus seiner Unterhaltung mit dem Gesandten Graun beurteilen. Aus der gesetzlichen Befugnis der Selbstverteidigung im Notfall schließt er darauf, daß Rudolph den gefesselten und „wehrlosen" maitre d'ecole als Femrichter habe blenden dürfen. Seine Schilderei, wie Rudolph vor den Assisen seine „edeln" Handlungen erzählen, schönrednerische Phrasen auskramen und sein großes Herz strömen lassen werde, ist eines Gymnasiasten würdig, der soeben Schillers „Räuber gelesen hat. Das einzige Geheimnis, welches Murph der Welt zu lösen gibt, ist die Frage, ob er mit Kohlenstaub oder mit schwarzer Farbe sein Gesicht eingerußt hat, als er den charbonnier5 spielte.
1 wörtlich: Gott aus der Maschine (im antiken Theater eine durch Maschinerie auf die Szene gebrachte Göttererscheinung, die in die dramatische Verwicklung eingriff und sie löste); im übertragenen Sinne: das unerwartete Auftreten einer Person, die die Situation rettet - 2 unerschrockener Leibwächter - 3 Muster eines Bedienten - 4 Gespräch unter vier Augen — 5 Kohlenträger
„Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden." (Matth[aus] 13, 49.) „Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun; Preis aber und Ehre und Frieden all denen, die Gutes tun." (Paul[us] Röm[er] 8,7.)
Rudolph macht sich selbst zu einem solchen Engel. Er zieht in die Welt aus, die Bösen von den Gerechten zu scheiden, die Bösen zu bestrafen, die Guten zu belohnen. Die Vorstellung des Bösen und Guten hat sich seinem schwachen Gehirn so sehr eingeprägt, daß er an den leibhaften Satan glaubt und den Teufel lebendig einfangen will, wie weiland Prof. Sack, zu Bonn. Andrerseits versucht er dagegen, den Gegensatz des Teufels, Gott, im kleinen zu kopieren. Er liebt es „de jouer un peu le role de la providence"1. Wie in der Wirklichkeit alle Unterschiede immer mehr in den Unterschied von arm und reich zusammenschmelzen, so lösen sich in der Idee alle aristokratischen Unterschiede in den Gegensatz des Guten und des Bösen auf. Diese Unterscheidung ist die letzte Form, welche der Aristokrat seinen Vorurteilen erteilt. Rudolph selbst gilt sich als ein Guter, und die Bösen sind dazu da, ihm den Selbstgenuß seiner eignen Vortrefflichkeit zu gewähren. Betrachten wir „den Guten" etwas näher. Herr Rudolph übt eine Wohltätigkeit und eine Verschwendung aus, wie etwa der Kalif von Bagdad in Tausend und eine Nacht. Er kann diese Lebensweise unmöglich führen, ohne sein kleines deutsches Ländchen wie ein Vampir bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Nach Herrn Sues eignem Bericht würde er unter die mediatisierten deutschen Fürsten1711 gehören, hätte ihn nicht die Protektion eines französischen Marquis vor der unfreiwilligen Abdankung gerettet. Die Größe seines Landes ist nach dieser Angabe zu taxieren. Wie kritisch Rudolph seine eignen Verhältnisse beurteilt, mag man ferner daraus ersehen, daß er, der kleine deutsche Serenissimus, in Paris ein halbes Inkognito bewahren zu müssen glaubt, um kein Aufsehen zu erregen. Er führt eigens einen Kanzler aus dem kritischen Grunde mit sich, damit er ihm „le cote theatral et pueril du pouvoir souverain"2 darstelle; als habe ein kleiner Serenissimus außer sich und seinem Spiegel noch einen dritten Repräsentanten der theatralischen und kindischen Seite der souveränen Macht nötig. Rudolph hat seine Leute in dieselbe kritische Selbstverkennung zu versetzen gewußt. So merken der Bediente Murph und der Gesandte Graun nicht, wie der Pariser homme d'affaires3, Monsieur Badinot, sie persifliert, wenn er sich den Anschein gibt, als halte er ihre Privataufträge für Staatsangelegenheiten, wenn er sarkastisch plaudert über die
1 „ein wenig die Rolle der Vorsehung zu spielen" — 2 „die theatralische und kindische Seite der souveränen Macht" - 3 Haushofmeister
„rapports occultes qui peuvent exister entre les interets le plus divers et les destines des emptres . „ Ja", berichtet der Gesandte Rudolphs, „er hat die Unverschämtheit, mir manchmal zu sagen: .Wieviel dem Volk unbekannte Komplikationen in der Regierung eines Staates! Wer würde sagen, daß die Noten, die ich Ihnen, Herr Baron, mitteile, zweifelsohne ihren Teil von Einfluß auf den Gang der europäischen Angelegenheiten haben?'" Der Gesandte und Murph finden nicht darin die Unverschämtheit, daß man ihnen einen Einfluß auf die europäischen Angelegenheiten zumutet, sondern daß Badinot seinen niedrigen Beruf dergestalt idealisiert. Rufen wir uns zunächst eine Szene aus Rudolphs häuslichem Leben ins Gedächtnis. Rudolph erzählt dem Murph, „er sei in den Augenblicken seines Stolzes und seiner Glückseligkeit". Gleich darauf gerät er außer sich, weil Murph ihm auf eine Frage nicht antworten will. „Je vous ordonne de parier."2 Murph will sich nicht befehlen lassen. Rudolph sagt ihm: „Je n'aime pas les reticences."3 Er vergißt sich bis zu der Gemeinheit, dem Murph anzudeuten, daß er ihm alle seine Dienste bezahle. Der Knabe ist nicht eher zu beruhigen, bis Murph ihn an den dreizehnten Januar erinnert. Nachträglich macht sich die Knechtsnatur Murphs, die sich einen Augenblick vergessen hatte, geltend. Er reißt sich die „Haare" aus, die er glücklicherweise nicht besitzt, er verzweifelt darüber, den hohen Herrn, der ihn „das Muster von einem Bedienten", der ihn „seinen guten, seinen alten, seinen getreuen Murph" nennt, etwas rauh angelassen zu haben. Nach diesen Proben des Schlechten in ihm wiederholt Rudolph seine fixen Ideen über das „Gute" und das „Schlechte" und berichtet über die Fortschritte, die er im Guten macht. Er nennt Almosen und Mitleid die keuschen und frommen Trösterinnen seiner verwundeten Seele. Sie an verworfene, unwürdige Wesen prostituieren, das wäre entsetzlich, unfromm, ein Sakrilegium. Versteht sich, Mitleid und Almosen sind Trösterinnen seiner Seele. Sie entweihen wäre daher ein Sakrilegium. Es wäre „Zweifel einflößen an Gott, und der, welcher gibt, muß an ihn glauben machen'. Einem Verworfenen ein Almosen geben - der Gedanke ist nicht auszudenken 1 Jede seiner Seelenbewegungen ist für Rudolph von unendlicher Wichtigkeit. Er taxiert und beobachtet sie daher beständig. So tröstet sich der Tor hier gegen Murph, daß Fleur de Marie ihn gerührt habe. „Ich war bewegt bis zu Tränen, und man klagt mich an, blasiert, hart, unbeugsam zu sein!" Nachdem er dergestalt seine eigne Güte bewiesen hat, exaltiert er sich über das
1 „geheimnisvolle Verbindung, die zwischen den verschiedensten Interessen und den Geschicken der Staaten bestehen könne" - 2 „Ich befehle Ihnen zu sprechen." - 3 „Ich liebe das Verschweigen nicht."
„Schlechte", über die Schlechtigkeit der unbekannten Mutter der Marie, und mit aller möglichen Feierlichkeit wendet er sich zu Murph: „Tu le sais certaines vengeances me sont bien cheres, certaines suffrances bien precieuses."1 Dabei schneidet er so diabolische Fratzen, daß der getreuliche Bediente erschrocken ausruft: „Helas, Monseigneur!"2 Dieser große Herr ähnelt den Gliedern des Jungen Englandst721, die auch die Welt reformieren wollen, edle Handlungen begehen und ähnlichen hysterischen Zufällen unterworfen sind. Den Aufschluß zu den Abenteuern und Situationen, denen sich Rudolph aussetzt, finden wir zunächst in seinem abenteuerlichen Naturell. Er liebt „das Pikante des Romans, Zerstreuung, Abenteuer, Verkleidung", seine „Neugierde" ist „unersättlich", er empfindet das „Bedürfnis lebhafter, stechender Gemütsaufregung", er ist „begierig nach gewaltsamen Nervenerschütterungen". Dieses sein Naturell wird unterstützt durch die Sucht, die Vorsehung zu spielen und die Welt nach seinen fixen Einbildungen einzurichten. Sein Verhältnis zu dritten Personen ist entweder durch eine abstrakte fixe Idee vermittelt oder durch ganz persönliche, zufällige Motive. So befreit er den Negerarzt David und seine Geliebte nicht aus der unmittelbar menschlichen Teilnahme, welche diese Personen einflößen, nicht um sie selbst zu befreien, sondern um dem Sklaveneigentümer Willis gegenüber die Vorsehung zu spielen und seinen Unglauben an Gott zu züchtigen. So erscheint ihm der maitre d'ecole als ein gefundnes Fressen, um seine längst ausgeheckte Straftheorie anzuwenden. Die Unterhaltung Murphs mit dem Gesandten Graun läßt uns von der andern Seite tiefe Blicke in die rein persönlichen Motive tun, welche Rudolphs edle Handlungen bestimmen. Das Interesse des Monseigneur an Fleur de Marie rührt, wie Murph sagt, „ä part"3 das Mitleid, welches die Arme einflößt, daher,weil die Tochter, deren Verlust er so bitter empfindet, gegenwärtig dasselbe Alter haben würde. Der Anteil Rudolphs an der Marquise von Harville hat, „ä part" seine menschenfreundlichen Marotten, den persönlichen Grund, daß ohne den alten Marquis von Harville und dessen Freundschaft mit dem Kaiser Alexander Rudolphs Vater aus der Reihe der deutschen Souveräne eliminiert worden wäre. Seine Wohltätigkeit gegen Madame George und sein Interesse für Germain, ihren Sohn, hat denselben Grund. Madame George gehört der Familie Harville an.
1 „Du weißt es — manche Rache ist für mich sehr süß, mancher Schmerz gibt mir Wonne." -2 „Ach, gnädiger Herr!" - 3 „abgerechnet"
„C'est non moins ä ses malheurs et a ses vertus qua cette parente que la pauvre Madame George a du les incessantes bontes de son Altesse."1
Der Apologet Murph versucht die Doppelsinnigkeit von Rudolphs Motiven durch Wendungen wie „surtout, a part, non moins que"2 zu vertuschen. Rudolphs ganzer Charakter faßt sich endlich zusammen in der „reinen" Heuchelei, womit er die Ausbrüche seiner schlechten Leidenschaften als Ausbrüche gegen die Leidenschaften der Schlechten vor sich selbst und andern darzustellen weiß, in ähnlicher Weise, wie die kritische Kritik ihre eignen Dummheiten als Dummheiten der Masse, ihre gehässigen Rankünen gegen die Entwickelung der Welt außer ihr als Rankünen der Welt außer ihr gegen die Entwickelung, endlich ihren Egoismus, der allen Geist in sich' verschluckt zu haben meint, als egoistischen Widerspruch der Masse gegen den Geist darstellt. Wir werden die „reine" Heuchelei Rudolphs in seinem Verhalten zum maitre d'ecole, zur Gräfin Sarah Mac Gregor und zum Notar Jacques Ferrand beweisen. Rudolph hat den maitre d'ecole zu einem Einbruch in seine Wohnung überredet, um ihn in die Falle zu locken und seiner habhaft zu werden. Er hat hierbei ein rein persönliches, kein allgemein menschliches Interesse. Der maitre d'ecole ist nämlich im Besitz des Portefeuilles der Gräfin Mac Gregor, und Rudolph hat ein großes Interesse, sich dieses Portefeuilles zu bemächtigen. Bei Gelegenheit des tete-ä-tete mit dem maitre d'ecole heißt es ausdrücklich:
„Rodolphe se trouvait dans une anxiete cruelle; s'il laissait echapper cette occasion de s'emparer du maitre d'ecole, il ne la retrouverait sans doute jamais; ce brigand empörterait les secrets que Rodolphe avait tant d'interet ä savoir."3
Rudolph bemächtigt sich also im maitre d'ecole des Portefeuilles der Gräfin Mac Gregor; er bemächtigt sich des maitre d'ecole aus persönlichem Interesse; er blendet ihn aus persönlicher Leidenschaft. Als Chourineur dem Rudolph den Kampf des maitre d'ecole mit Murph erzählt und sein Sträuben damit motiviert, daß er wußte, was ihm bevorstehe, antwortet Rudolph: „Er wußte es nicht", und er sagt dies „d'un air
1 „Deshalb empfing die arme Madame George nicht bloß wegen ihres Unglücks und ihrer Tugend, sondern auch wegen dieser Verwandtschaft so viele Wohltaten von Seiner Hoheit." - 2 „besonders, abgerechnet, nicht weniger als" — 3 „Rudolph befand sich in der äußersten Verlegenheit. Wenn er sich diese Gelegenheit entgehen ließ, sich des Schulmeisters zu bemächtigen, so bot sich vielleicht nie wieder eine andre dar. Der Räuber ... würde dann die Geheimnisse mit sich genommen haben, an denen Rudolph so viel lag."
sombre, les traits contractes par cette expression presque feroce, dont nous avons parle"1. Der Gedanke der Rache fährt ihm durch den Kopf, er antizipiert den wilden Genuß, den ihm die barbarische Bestrafung des maitre d'ecole bereiten wird. So ruft auch Rudolph beim Eintreten des Negerarztes David, den er zum Werkzeug seiner Rache bestimmt hat:
,„Vengeance! ... Vengeance!' s'ecria Rodolphe avec une jureur froide et concentree."
Eine kalte und konzentrierte Wut arbeitete in ihm. Dann murmelt er seinen Plan dem Arzt leise ins Ohr, und als dieser zurückbebt, weiß er sogleich der persönlichen Rache ein „reines" theoretisches Motiv unterzuschieben. Es handle sich, sagt er, nur um die „Anwendung einer Idee", die ihm schon oft durch sein erhabenes Gehirn gefahren sei, und er vergißt nicht, salbungsvoll hinzuzusetzen: „Er wird noch den unbegrenzten Horizont der Reue vor sich haben." Er ahmt die spanische Inquisition nach, welche, nach der Verweisung der zum Feuer Verurteilten an die weltliche Justiz, eine heuchlerische Bitte um Barmherzigkeit für den reuigen Sünder hinzufügte. Es versteht sich, daß der gnädige Herr, als das Verhör und die Exekution des maitre d'ecole vor sich gehen sollen, in einem höchst komfortablen Kabinett, in einem langen, höchst schwarzen Schlafrock und in einer höchst interessanten Blässe dasitzt, und, um den Gerichtshof getreu zu kopieren, einen langen Tisch mit Uberführungsstücken vor sich stehen hat. Er muß nun auch den Ausdruck der Wildheit und Rache, womit er dem Chourineur und dem Arzt den Plan der Blendung mitteilte, verlieren und in der hochkomischen, feierlichen Haltung eines Weltrichters aus eigner Erfindung, „ruhig, traurig, gefaßt" sich präsentieren. Um gar keinen Zweifel über das „reine Motiv der Blendung übrigzulassen, gesteht der alberne Murph dem Gesandten Graun:
„Die grausame Bestrafung des maitre d'ecole bezweckte vorzugsweise, mich an dem Meuchelmörder zu rächen."
In einem tete-a-tete mit Murph äußert sich Rudolph dahin:
„Ma Haine des mechants ... est devenue plus vivace, mon aversion pour Sarah augmente en raison sans doute du chagrin que me cause la mort de ma fille." 3
1 „mit finsterer Miene, die Züge verzerrt durch den harten, fast wilden Ausdruck, von dem wir bereits gesprochen haben" - 2 „,Rache! Rache!' rief Rudolph mit kaltblütiger, heftiger Wut". — 3 „Mein Haß gegen die Schlechten ... ist stärker geworden, und meine Abneigung gegen Sarah mehrt sich ohne Zweifel in dem Verhältnisse wie der Gram über den Tod meiner Tochter."
Rudolph unterrichtet uns von der größern Lebhaftigkeit, welche sein Haß gegen die Bösen gewonnen hat. Versteht sich, sein Haß ist ein kritischer, reiner, moralischer Haß, der Haß gegen die Bösen, weil sie böse sind. Er betrachtet diesen Haß daher als einen Fortschritt, den er selbst im Guten macht. Zugleich aber verrät er, daß dieses Wachstum des moralischen Hasses nichts anders ist als eine heuchlerische Sanktion, womit er die Zunahme seiner persönlichen Abneigung gegen Sarah beschönigt. Die unbestimmte moralische Einbildung - die Zunahme des Hasses gegen die Bösen ist nur die Schale der bestimmten unmoralischen Tatsache, der Zunahme der Abneigung gegen Sarah. Diese Abneigung hat einen sehr natürlichen, sehr individuellen Giund, seinen persönlichen Kummer. Dieser Kummer ist das Maß semer Abneigung. Sans doute!1 Eine noch widerlichere Heuchelei zeigt sich in Rudolphs Zusammenkunft mit der sterbenden Gräfin Mac Gregor. Nach der Enthüllung des Geheimnisses, daß Fleur de Marie die Tochter Rudolphs und der Gräfin ist, nähert sich ihr Rudolph, ,,1'air menagant, impitoyable"2. Sie bittet ihn um Gnade. „Pas de grace", antwortet er, „malediction sur vous ... vous ... mon mauvais genie et celui de ma race"3. Also die „race" will er rächen. Er berichtet der Gräfin nun weiter, wie er, zur Buße für den Mordanfall auf seinen Vater, den Weltgang, worin er die Guten belohnt und die Bösen bestraft, sich auferlegt habe. Rudolph peinigt die Gräfin, er überläßt sich seiner Gereiztheit, er vollzieht aber in seinen eigenen Augen nur die Aufgabe, die er sich nach dem dreizehnten Januar gestellt hat, de „poursuivre le mal"4. Als er fortgeht, ruft Sarah: „,Pitie! je meurs!' ,Mourez donc, mauditel' dit Rodolphe efirayant de fureur."5
In den letzten Worten „effrayant de fureur" sind die reinen, kritischen und moralischen Motive seiner Handlungsweise verraten. Ebendiese Wut hat ihn das Schwert gegen seinen, wie Herr Szeliga ihn nennt, Hochseligen Vater zücken lassen. Statt dieses Böse in sich selbst zu bekämpfen, bekämpft er es als reiner Kritiker an andern. Schließlich hebt Rudolph selbst seine katholische Straftheorie auf. Er wollte die Todesstrafe abschaffen, die Strafe in Buße verwandeln, aber nur,
1 Ohne Zweifel! - 2 „mit drohender, unbarmherziger Miene" - 3 „Keine Gnade ... Fluch über Sie, denn Sie waren mein und meiner Familie böser Geist." - 4 „das Böse zu verfolgen" - 5 „.Erbarmen! Ich sterbe!" ,So sterben Sie beladen mit meinem Fluche!' entgegnete Rudolph, der in seinem Zorn schrecklich war."
solange der Mörder fremde Leute ermordet und die Glieder der Rudolphischen Familie ungeschoren läßt. Rudolph adoptiert die Todesstrafe, sobald der Mord einen der Seinigen trifft, er bedarf einer doppelten Gesetzgebung, eine für seine eigne Person und eine für die profanen Personen. Durch Sarah erfährt er, daß Jacques Ferrand den Tod der Fleur de Marie herbeigeführt habe. Er sagt zu sich selbst:
„Nein! es ist nicht genug!... welche Glut der Rache!... welcher Durst nach Blut!... welche ruhige und reflektierte Wut! ... Solange ich nicht wußte, daß eines der Opfer dieses Ungeheuers mein Kind war, sagte ich mir: der Tod dieses Menschen würde unfruchtbar sein ... das Leben ohne Geld, das Leben ohne Sättigung seiner frenetischen Sinnlichkeit wird eine lange und doppelte Tortur sein ... Aber es ist meine Tochter! ... Ich werde diesen Menschen töten!"
Und er stürzt fort, um ihn zu töten, findet ihn aber in einem Zustand, der die Mordtat überflüssig macht. Der „gute" Rudolph! Mit der Fieberglut der Rachlust, mit dem Durst nach Blut, mit der ruhigen und reflektierten Wut, mit der Heuchelei, welche jede schlechte Regung kasuistisch beschönigt, besitzt er gerade alle die Leidenschaften des Bösen, um derentwillen er andern die Augen aussticht. Nur Glückszufälle, Geld und Rang retten den „Guten' vor demBagno. „Die Macht der Kritik" macht zum Ersatz für seine sonstige Nichtigkeit diesen Don Quijote zum „bon locataire", „bon voisin", „bon ami", „bon pere", „bon bourgeois", „bon citoyen", „bon prince"1, und wie diese Tonleiter, die Herr Szeliga absingt, weiter heißt. Das ist mehr als alle Resultate, welche „die Menschheit in ihrer ganzen Geschichte" gewonnen hat. Das reicht hin, damit Rudolph „die Welt" zweimal vor dem „Untergehen" reffe!
1 „guten Mieter", „guten Nachbarn", „guten Freund", „guten Vater", „guten Bürger", .guten Staatsbürger", „guten Fürsten"
IX. KAPITEL
Das kritische jüngste Gericht
Die kritische Kritik hat durch Rudolph zweimal die Welt vor dem Untergehn gerettet, aber nur, um nun selbst den Weltuntergang zu beschließen. Und ich sah und hörete einen starken Engel, Herrn Hirzel, von Zürich aus mitten durch den Himmel fliegen. Und er hatte in seiner Hand ein Büchlein als wie das fünfte Heft der „Allgememen Literatur-Zeitung aufgetan; und er setzte seinen rechten Fuß auf die Masse und den linken auf Charlottenburg; und er schrie mit großer Stimme, wie ein Löwe brüllt, und seine Worte erhoben sich wie eine Taube Zirb! Zirb! in die Region des Pathos und zu den donnerähnlichen Aspekten des kritischen jüngsten Gerichts. „Wenn endlich sich alles gegen die Kritik verbündet, und - wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dieser Zeitpunkt ist nicht mehr fern - wenn die ganze zerfallende Welt - es ward ihr gegeben, zu streiten mit den Heiligen - sich zum letzten Angriff um sie herum gruppiert, dann wird der Mut der Kritik und ihre Bedeutung die größte Anerkennung gefunden haben. Um den Ausgang kann es uns nicht bange sein. Das Ganze wird darauf hinauslaufen, daß wir das Konto mit den einzelnen Gruppen schließen - und wir werden sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wir werden die Schafe zu unserer Rechten stellen und die Böcke zur Linken — und ein allgemeines Armutszeugnis der feindlichen Ritterschaft - es sind Geister der Teufel, sie gehen aus auf den ganzen Kreis der Welt, sie zu versammeln in den Streit, auf jenen großen Tag Gottes, des Allmächtigen - ausstellen, und werden sich verwundern, die auf Erden wohnen." Und da der Engel schrie, redeten sieben Donner ihre Stimmen: Dies irae, dies illa Solvet saeclum in favilla. Iudex ergo cum sedebit, Quidquid latet adparebit, Nil inultum remanebit, Quid sum miser tunc dicturus?1 etc.
1 Der Tag des Zornes, jener Tag wird die Welt m Asche zerstäuben. Wenn dann der Richter zu Gericht sitzen wird, wird zum Vorschein kommen, was verborgen ist, nichts wird ungestraft bleiben, was werde ich Elender dann sagen?
Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen. Das muß zum ersten alles geschehen. Denn es werden falsche Christus und falsche Propheten aufstehen, Herr Buchez und Roux von Paris, Herr Friedrich Rohmer und Theodor Rohmer von Zürich, und werden sagen: Hier ist Christus! Aber alsdann wird erscheinen das Zeichen der Gebrüder Bauer in der Kritik, und erfüllen wird sich das Schriftwort über das Bauernwerk: Quand les bceufs vont deux a deux Le labourage en va mieux!1
Historische Nachrede
Wie wir nachträglich erfahren haben, ist nicht die Welt, sondern die kritische „Literatur-Zeitung" untergegangen.
1 Wenn die Ochsen paarweise gehen, dann geht die Feldarbeit besser voranl

FRIEDRICH ENGELS
Die Lage der arbeitenden Klasse in England
Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen1741

Umschlag der Erstausgabe

An die arbeitenden Klassen Großbritanniens [7dJ
Arbeiter! Euch widme ich ein Werk, in dem ich den Versuch gemacht habe, meinen deutschen Landsleuten ein treues Bild eurer Lebensbedingungen, eurer Leiden und Kämpfe, eurer Hoffnungen und Perspektiven zu zeichnen. Ich habe lange genug unter euch gelebt, um einiges von euren Lebensumständen zu wissen; ich habe ihrer Kenntnis meine ernsteste Aufmerksamkeit gewidmet; ich habe die verschiedenen offiziellen und nichtoffiziellen Dokumente studiert, soweit ich die Möglichkeit hatte, sie mir zu beschaffen - ich habe mich damit nicht begnügt, mir war es um mehr zu tun als um die nur abstrakte Kenntnis meines Gegenstandes, ich wollte euch in euren Behausungen sehen, euch in eurem täglichen Leben beobachten, mit euch plaudern über eure Lebensbedingungen und Schmerzen, Zeuge sein eurer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht eurer Unterdrücker. Ich verfuhr dabei so: Ich verzichtete auf die Gesellschaft und die Bankette, den Portwein und den Champagner der Mittelklasse und widmete meine Freistunden fast ausschließlich dem Verkehr mit einfachen Arbeitern; ich bin froh und stolz zugleich, so gehandelt zu haben. Froh, weil ich mir auf diese Weise manche frohe Stunde verschaffte, während ich gleichzeitig euer wirkliches Leben kennenlernte - manche Stunde, die sonst vertan worden wäre in konventionellem Geschwätz und langweiliger Etikette; stolz, weil mir dies Gelegenheit gab, einer unterdrückten und verleumdeten Klasse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der bei allen ihren Fehlern und unter allen Nachteilen ihrer Lage höchstens eine englische Krämerseele die Achtung versagen wird; stolz auch, weil ich auf diese Weise in die Lage versetzt wurde, das englische Volk zu bewahren vor der wachsenden Verachtung, die auf dem Festland die unvermeidliche Konsequenz der brutal-eigennützigen Politik und überhaupt des Auftretens eurer herrschenden Mittelklasse gewesen ist.
Dank meiner gleichzeitigen umfassenden Gelegenheit zur Beobachtung der Mittelklasse, eures Gegners, bin ich sehr schnell zu dem Schluß gelangt, daß ihr im Recht, völlig im Recht seid, wenn ihr von ihnen keinerlei Hilfe erwartet. Ihre Interessen sind den euren diametral entgegengesetzt, obgleich sie immer versuchen werden, das Gegenteil zu behaupten und in euch den Glauben zu wecken an ihr herzlichstes Mitgefühl mit eurem Schicksal, Ihre Taten strafen sie Lügen. Ich hoffe mehr als genügendes Beweismaterial dafür erbracht zu haben, daß die Mittelklasse — was immer sie zu sagen beliebt — in Wirklichkeit kein anderes Ziel kennt, als sich durch eure Arbeit zu bereichern, solange sie deren Produkt verkaufen kann, und euch dem Hungertod zu überlassen, sobald sie aus diesem indirekten Handel mit Menschenfleisch keinen Profit schlagen kann. Was haben sie getan, um ihre vorgeblichen guten Absichten euch gegenüber zu beweisen? Haben sie euren Leiden jemals irgendwie ernste Beachtung geschenkt? Haben sie mehr getan, als die Kosten zu bewilligen für ein halbes Dutzend Untersuchungskommissionen, deren umfangreiche Berichte verurteilt sind, ewig unter Haufen von Makulatur auf den Regalen des Home Office1 zu schlummern? Haben sie sich je dazu aufgeschwungen, aus ihren modernen Blaubüchern auch nur ein einziges lesbares Buch zusammenzustellen, das jedem die Möglichkeit geben würde, sich ohne Mühe einiges Material über die Lebenslage der großen Mehrheit der „freigebornen Briten" zu machen? Natürlich nicht, das sind Dinge, über die sie nicht zu sprechen lieben - sie überließen es einem Ausländer, der zivilisierten Welt über die entwürdigende Lage zu berichten, in der ihr zu leben gezwungen seid. Ein Ausländer für sie, ich hoffe, nicht für euch. Mag auch mein Englisch nicht rein sein, so werdet ihr doch hoffentlich finden, daß es deutliches Englisch ist. Kein Arbeiter in England - nebenbei gesagt, auch in Frankreich nicht - hat mich je als Ausländer behandelt. Mit dem größten Vergnügen sah ich euer Freisein von dem verderblichen Fluch der nationalen Beschränktheit und der nationalen Überheblichkeit, die schließlich nichts ist als Egoismus im großen - ich beobachtete eure Sympathie mit jedem, der seine Kräfte ehrlich dem menschlichen Fortschritt widmet, ob er ein Engländer oder nicht eure Bewunderung für alles Edle und Gute, ob auf eurem Heimatboden erwachsen oder nicht - ich fand, daß ihr mehr seid als nur Engländer, Angehörige einer einzelnen, isolierten Nation; ich fand, daß ihr Menschen seid, Angehörige der großen und internationalen Familie der Menschheit, die erkannt haben, daß ihre Interessen und die der ganzen menschlichen Rasse die
1 Ministerium des Innern
gleichen sind, und als solche, als Glieder dieser Familie der „einen und unteilbaren" Menschheit, als menschliche Wesen in der nachdrücklichsten Bedeutung des Wortes, als solche begrüßen ich und viele andere auf dem Festland eure Fortschritte in jeder Richtung und wünschen euch schnellen Erfolg. Vorwärts denn auf dem beschrittenen Wege. Vieles steht euch noch bevor; seid standhaft, laßt euch nicht entmutigen — euer Erfolg ist gewiß, und jeder einzelne Schritt vorwärts auf dem Wege, den ihr zu gehen habt, wird unserer gemeinsamen Sache dienen, der Sache der Menschheit!
Barmen (Rheinpreußen), 15.März 1845
Friedrich Engels
Vorwort
Die nachfolgenden Bogen behandeln einen Gegenstand, den ich anfangs nur als einzelnes Kapitel einer umfassenderen Arbeit über die soziale Geschichte Englands darstellen wollte, dessen Wichtigkeit mich jedoch bald nötigte, ihm eine selbständige Bearbeitung zu geben. Die Lage der arbeitenden Klasse ist der tatsächliche Boden und Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegenwart, weil sie die höchste, unverhüllteste Spitze unsrer bestehenden sozialen Misere ist. Der französische und deutsche Arbeiterkommunismus sind direkt, der Fourierismus und der englische Sozialismus sowie der Kommunismus der deutschen gebildeten Bourgeoisie sind indirekt durch sie erzeugt. Einerseits, um den sozialistischen Theorien, andrerseits, um den Urteilen über ihre Berechtigung einen festen Boden zu geben, um allen Schwärmereien und Phantastereien pro et contra1 ein Ende zu machen, ist die Erkenntnis der proletarischen Zustände deshalb eine unumgängliche Notwendigkeit. Die proletarischen Zustände existieren aber in ihrer klassischen Form, in ihrer Vollendung nur im britischen Reich, namentlich im eigentlichen England; und zugleich ist nur in England das nötige Material so vollständig zusammengetragen und durch offizielle Untersuchungen konstatiert, als es zu einer irgendwie erschöpfenden Darstellung des Gegenstandes nötig ist. Ich hatte während einundzwanzig Monaten Gelegenheit, das englische Proletariat, seine Bestrebungen, seine Leiden und Freuden in der Nähe aus persönlicher Anschauung und persönlichem Verkehr kennenzulernen und zugleich meine Anschauung durch den Gebrauch der nötigen authentischen Quellen zu ergänzen. Was ich gesehen, gehört und gelesen habe, ist in vorliegender Schrift verarbeitet. Ich bin darauf vorbereitet, meinen Standpunkt nicht nur, sondern auch die gegebenen Tatsachen von vielen Seiten her
1 für und wider
angegriffen zu sehen, besonders wenn mein Buch in die Hände von Engländern gerät; ich weiß ebensogut, daß man hier und da eine unbedeutende Unrichtigkeit, wie sie bei dem umfassenden Gegenstande und seinen weitläufigen Voraussetzungen selbst von einem Engländer nicht zu vermeiden wäre, wird um so eher nachweisen können, als selbst in England noch kein einziges Werk existiert, das wie das meinige alle Arbeiter behandelt; aber ich stehe keinen Augenblick an, die englische Bourgeoisie herauszufordern: mir auch nur bei einer einzigen Tatsache, die irgendwie von Bedeutung für den Standpunkt des Ganzen ist, eine Unrichtigkeit nachzuweisen — nachzuweisen mit ebenso authentischen Belegen, wie ich sie angeführt habe. Für Deutschland insbesondere hat die Darstellung der klassischen Proletariatszustände des britischen Reichs - und namentlich im gegenwärtigen Augenblick - große Bedeutung. Der deutsche Sozialismus und Kommunismus ist mehr als jeder andre von theoretischen Voraussetzungen ausgegangen; wir deutschen Theoretiker kannten von der wirklichen Welt noch viel zu wenig, als daß uns die wirklichen Verhältnisse unmittelbar zu Reformen dieser „schlechten Wirklichkeit" hätten treiben sollen. Von den öffentlichen Vertretern solcher Reformen ist wenigstens fast kein einziger anders als durch die Feuerbachsche Auflösung der Hegeischen Spekulation zum Kommunismus gekommen. Die wirklichen Lebensumstände des Proletariats sind so wenig gekannt unter uns, daß selbst die wohlmeinenden „Vereine zur Hebung der arbeitenden Klassen", in denen jetzt unsre Bourgeoisie die soziale Frage mißhandelt, fortwährend von den lächerlichsten und abgeschmacktesten Meinungen über die Lage der Arbeiter ausgehen. Uns Deutschen vor allen tut eine Kenntnis der Tatsachen in dieser Frage not. Und wenn auch die proletarischen Zustände Deutschlands nicht zu der Klassizität ausgebildet sind wie die englischen, so haben wir doch im Grunde dieselbe soziale Ordnung, die über kurz oder lang auf dieselbe Spitze getrieben werden muß, welche sie jenseits der Nordsee bereits erlangt hat - falls nicht beizeiten die Einsicht der Nation Maßregeln zustande bringt, die dem ganzen sozialen System eine neue Basis geben. Dieselben Grundursachen, welche in England das Elend und die Unterdrückung des Proletariats bewirkt haben, sind in Deutschland ebenfalls vorhanden und müssen auf die Dauer dieselben Resultate erzeugen. Einstweilen wird aber das konstatierte englische Elend uns einen Anlaß bieten, auch unser deutsches Elend zu konstatieren, und einen Maßstab, woran wir seine Ausdehnung und die Größe der - in den schlesischen und böhmischen Unruhen1761 zutage gekommenen - Gefahr messen können, welche von dieser Seite der unmittelbaren Ruhe Deutschlands droht.
Schließlich habe ich noch zwei Bemerkungen zu machen. Erstens, daß ich das Wort Mittelklasse fortwährend im Sinne des englischen middle-class (oder wie fast immer gesagt wird: middle-classes) gebraucht habe, wo es gleich dem französischen bourgeoisie die besitzende Klasse, speziell die von der sogenannten Aristokratie unterschiedene besitzende Klasse bedeutet -dieKIasse, welche in Frankreich und England direkt und in Deutschland als „öffentliche Meinung" indirekt im Besitze der Staatsmacht ist. So habe ich auch die Ausdrücke: Arbeiter (working men) und Proletarier, Arbeiterklasse, besitzlose Klasse und Proletariat fortwährend als gleichbedeutend gebraucht. - Zweitens, daß ich bei den meisten Zitaten die Partei meiner Gewährsleute aus dem Grunde angeführt habe, weil fast durchgängig die Liberalen das Elend der Ackerbaudistrikte hervorzuheben, das der Fabrikdistrikte aber wegzuleugnen suchen, während umgekehrt die Konservativen die Not der Fabrikdistrikte anerkennen, aber von der der Ackerbaugegenden nichts wissen wollen. Aus dieser Ursache habe ich auch, wo mir offizielle Dokumente abgingen, in der Schilderung der Industriearbeiter immer einen liberalen Beleg vorgezogen, um die liberale Bourgeoisie aus ihrem eignen Munde zu schlagen, und überhaupt mich nur dann auf Tories oder Chartisten berufen, wenn ich entweder die Richtigkeit der Sache aus eigner Anschauung kannte oder von der Wahrheit der Aussage durch den persönlichen oder literarischen Charakter meiner Autoritäten überzeugt sein konnte.
Barmen, den 15.März 1845
F. Engels
TO THE WORKING GLASSES
OB
Working Men!
To you I dedicate a work, in which I have tried to lay before my German Countrymen a faithful picture of your condition, of your sufferings and struggles, of your hopes and prospects. I have lived long enough amidst you to know something about your circumstances; 1 have devoted to their knowledge my most serious attention, 1 have studied the various official and non-official documcnts as far as 1 was able to get hold of them — I have not been satisfied with this, I wanted inore ihan a merc abstract knowledge of my subjecl, ! wanted to see you in your own homes, to observe you in your every-day life, to chal with you on your condition and grievances, to ^vitnes9 your struggles against the social and political power of your oppressors. 1 havo done so: I forsook the Company and the dinner-parties, the port-wine and champaign of the iniddleclasses, and devoted my leisure-hours almosl exclusivcly to the intercotirse with piain Working Men; I am both glad and proud of having done so. Glad, because thus I was induced to spend many a happy hour In oblaiuing a knowledge of the realities of life — many an hour.
Erste Seite der Widmung Engels' ,An die arbeitenden Klassen Großbritanniens"

Einleitung
Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle. Diese Erfindungen gaben bekanntlich den Anstoß zu einer industriellen Revolution, einer Revolution, die zugleich die ganze bürgerliche Gesellschaft umwandelte und deren weltgeschichtliche Bedeutung erst jetzt anfängt erkannt zu werden. England ist cler klassische Boden dieser Umwälzung, die um so gewaltiger war, je geräuschloser sie vor sich ging, und England ist darum auch das klassische Land für die Entwicklung ihres hauptsächlichsten Resultates, des Proletariats. Das Proletariat kann nur in England in allen seinen Verhältnissen und nach allen Seiten hin studiert werden. Wir haben es hier einstweilen nicht mit der Geschichte dieser Revolution, nicht mit ihrer ungeheuren Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft zu tun. Diese Darstellung muß einer künftigen, umfassenderen Arbeit vorbehalten bleiben. Für den Augenblick müssen wir uns auf das wenige beschränken, das zum Verständnis der nachfolgenden Tatsachen, zum Verständnis der gegenwärtigen Lage der englischen Proletarier notwendig ist. Vor der Einführung der Maschinen geschah die Verspinnung und Verwebung der Rohstoffe im Hause des Arbeiters. Frau und Töchter spannen das Garn, das der Mann verwebte oder das sie verkauften, wenn der Familienvater nicht selbst es verarbeitete. Diese Weberfamilien lebten meist auf dem Lande, in der Nähe der Städte, und konnten mit ihrem Lohn ganz gut auskommen, da der heimische Markt noch für die Nachfrage nach Stoffen entscheidend, ja fast der einzige Markt war und die mit der Eroberung fremder Märkte, mit der Ausdehnung des Handels später hereinbrechende Übermacht der Konkurrenz noch nicht fühlbar auf den Arbeitslohn drückte. Dazu kam eine dauernde Steigerung der Nachfrage im heimischen Markt, die mit der langsamen Vermehrung der Bevölkerung Schritt hielt und also sämtliche
Arbeiter beschäftigte, und dann die Unmöglichkeit einer heftigen Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander, die aus der ländlichen Vereinzelung ihrer Wohnungen entstand. So kam es, daß der Weber meist imstande war, etwas zurückzulegen und sich ein kleines Grundstück zu pachten, das er in seinen Mußestunden ~ und deren hatte er so viele als er wollte, da er weben konnte, wann und wielange er Lust verspürte - bearbeitete. Freilich war er ein schlechter Bauer und betrieb seine Ackerwirtschaft nachlässig und ohne viel reellen Ertrag; aber er war doch wenigstens kein Proletarier, er hatte, wie die Engländer sagen, einen Pfahl in den Boden seines Vaterlandes eingeschlagen, er war ansässig und stand um eine Stufe höher in der Gesellschaft als der jetzige englische Arbeiter. Auf diese Weise vegetierten die Arbeiter in einer ganz behaglichen Existenz und führten ein rechtschaffenes und geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, und konnten außerdem noch an den Erholungen und Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen; und alle diese Spiele, Kegel, Ballspiel usw., trugen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Kräftigung ihres Körpers bei. Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdecken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landluft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, so kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer acht- oder zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit war keine Rede. Was der moralische und intellektuelle Charakter dieser Klasse war, läßt sich erraten. Abgeschlossen von den Städten, in die sie nie hineinkamen, da das Garn und Gewebe an reisende Agenten gegen Auszahlung des Lohns abgeliefert wurde, so abgeschlossen, daß alte Leute, die ganz in der Nähe von Städten wohnten, doch nie hingingen, bis sie endlich durch die Maschinen ihres Erwerbs beraubt und gezwungen wurden, in den Städten sich nach Arbeit umzusehen, standen sie auf der moralischen und intellektuellen Stufe der Landleute, mit denen sie ohnehin noch durch ihre kleine Pachtung meistens unmittelbar verknüpft waren. Sie sahen ihren Squire — den bedeutendsten Grundherrn der Gegend - für ihren natürlichen Vorgesetzten an, sie frugen ihn um Rat, legten ihm ihre kleinen Zwiste zur Entscheidung vor und gaben ihm alle Ehre, die dies patriarchalische Verhältnis mit sich brachte. Sie waren „respektable" Leute und gute Familienväter, lebten moralisch, weil sie keine
Veranlassung hatten, unmoralisch zu sein, da keine Schenken und liederlichen Häuser in ihrer Nähe waren, und weil der Wirt, bei dem sie dann und wann ihren Durst löschten, auch ein respektabler Mann und meist ein großer Pächter war, der auf gutes Bier, gute Ordnung und frühen Feierabend hielt. Sie hatten ihre Kinder den Tag über im Hause bei sich und erzogen sie in Gehorsam und der Gottesfurcht; das patriarchalische Familienverhältnis blieb ungestört, solange die Kinder noch nicht selbst verheiratet waren; die jungen Leute wuchsen in idyllischer Einfalt und Vertraulichkeit mit ihren Gespielen heran, bis sie heirateten, und wenn auch geschlechtlicher Verkehr vor der Ehe fast durchgängig vorkam, geschah dies doch nur, wo die moralische Verpflichtung zur Ehe von beiden Seiten anerkannt war, und die nachfolgende Heirat brachte alles wieder ins gleiche. Kurz, die damaligen englischen Industriearbeiter lebten und dachten auf dieselbe Weise, wie man es in Deutschland noch hie und da findet, in Abgeschlossenheit und Zurückgezogenheit, ohne geistige Tätigkeit und ohne gewaltsame Schwankungen in ihrer Lebenslage. Sie konnten selten lesen und noch viel weniger schreiben, gingen regelmäßig in die Kirche, politisierten nicht, konspirierten nicht, dachten nicht, ergötzten sich an körperlichen Übungen, hörten die Bibel mit angestammter Andacht vorlesen und vertrugen sich bei ihrer anspruchslosen Demut mit den angeseheneren Klassen der Gesellschaft ganz vortrefflich. Dafür aber waren sie auch geistig tot, lebten nur für ihre kleinlichen Privatinteressen, für ihren Webstuhl und ihr Gärtchen und wußten nichts von der gewaltigen Bewegung, die draußen durch die Menschheit ging. Sie fühlten sich behaglich in ihrem stillen Pflanzenleben und wären ohne die industrielle Revolution nie herausgetreten aus dieser allerdings sehr romantisch-gemütlichen, aber doch eines Menschen unwürdigen Existenz. Sie waren eben keine Menschen, sondern bloß arbeitende Maschinen im Dienst der wenigen Aristokraten, die bis dahin die Geschichte geleitet hatten; die industrielle Revolution hat auch nur die Konsequenz hiervon durchgesetzt, indem sie die Arbeiter vollends zu bloßen Maschinen machte und ihnen den letzten Rest selbständiger Tätigkeit unter den Händen wegnahm, sie aber eben dadurch zum Denken und zur Forderung einer menschlichen Stellung antrieb. Wie in Frankreich die Politik, so war es in England die Industrie und die Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, die die letzten in der Apathie gegen allgemein menschliche Interessen versunkenen Klassen in den Strudel der Geschichte hineinriß.
Die erste Erfindung, die in der bisherigen Lage der englischen Arbeiter eine durchgreifende Veränderung hervorbrachte, war die Jenny^ des Webers James Hargreaves zu Standhill bei Blackburn in Nord-Lancashire (1764).
Diese Maschine war der rohe Anfang der späteren Mule und wurde mit der Hand in Bewegung gesetzt, hatte aber statt einer Spindel, wie das gewöhnliche Handspinnrad, deren sechzehn bis achtzehn, die von einem einzigen Arbeiter getrieben wurden. Hierdurch wurde es möglich, bedeutend mehr Garn zu liefern als bisher; während früher, wo ein Weber immer drei Spinnerinnen beschäftigt hielt, nie genug Garn dagewesen war und der Weber oft auf Garn hatte warten müssen, war jetzt mehr Garn da, als von den vorhandenen Arbeitern verwebt werden konnte. Die Nachfrage nach gewebten Zeugen, die ohnehin im Zuwachs war, stieg noch mehr durch den billigeren Preis dieser Zeuge, der aus den durch die neue Maschine erniedrigten Produktionskosten cles Garns folgte; es waren mehr Weber nötig, und der Weblohn stieg. Jetzt, da der Weber mehr an seinem Stuhl verdienen konnte, ließ er seine Ackerbaubeschäftigung allmählich fallen und legte sich ganz aufs Weben. Um diese Zeit konnte eine Familie von vier Erwachsenen und zwei Kindern, die zum Spulen angehalten wurden, bei täglich zehnstündiger Arbeit vier Pfund Sterling -achtundzwanzig Taler preußisch Kurant - in der Woche verdienen, und oft noch mehr, wenn das Geschäft gut ging und die Arbeit drängte; es kam oft genug vor, daß ein einzelner Weber an seinem Stuhl wöchentlich zwei Pfund verdiente. Nach und nach verschwand so die Klasse der ackerbauenden Weber ganz und löste sich in die neuentstehende Klasse der bloßen Weber auf, die allein vom Arbeitslohn lebten, gar keinen Besitz, nicht einmal den Scheinbesitz einer Pachtung hatten und somit Proletarier (working men) wurden. Hierzu kam noch, daß auch das alte Verhältnis des Spinners zum Weber aufgehoben wurde. Bisher war, soweit dies anging, unter einem Dach das Garn gesponnen und verwoben worden. Jetzt, wo die Jenny ebensogut wie der Webstuhl eine kräftige Hand erforderte, fingen auch Männer an zu spinnen, und ganze Familien lebten von ihr allein, während andre wiederum das jetzt veraltete und überflügelte Spinnrad beiseite stellen und, wenn ihnen die Mittel zum Ankauf einer Jenny fehlten, allein von dem Webstuhl des Familienvaters leben mußten. Hiermit fing die in der späteren Industrie so unendlich ausgebildete Teilung der Arbeit beim Weben und Spinnen an. Während so schon mit der ersten noch sehr unvoilkommnen Maschine das industrielle Proletariat sich entwickelte, gab dieselbe Maschine Anlaß zur Entstehung auch des Ackerbauproletariats. Bisher hatte es eine große Menge kleiner Grundeigentümer gegeben, die Yeomen genannt wurden und die in derselben Stille und Gedankenlosigkeit hinvegetiert hatten wie ihre Nachbarn, die ackerbauenden Weber. Sie bebauten ihre Fleckchen Land ganz in der alten nachlässigen Weise ihrer Väter und widersetzten sich jeder Neuerung mit der Hartnäckigkeit, die solchen durch eine Reihe von Generationen
stabil gebliebenen Gewohnheitsmenschen eigentümlich ist. Unter ihnen gab es auch viele kleine Pächter, aber nicht Pächter im heutigen Sinne des Worts, sondern Leute, die entweder durch vertragsmäßige Erbpacht oder kraft alter Sitte ihr Fleckchen Land von ihren Vätern und Großvätern überkommen und darauf bisher so fest gesessen hatten, als ob es ihnen eigentümlich gehöre. Jetzt wurden, da sich die Industriearbeiter vom Ackerbau zurückzogen, eine Menge Grundstücke frei, und auf ihnen nistete sich die neue Klasse der großen Pächter ein, die fünfzig, hundert, zweihundert und mehr Morgen zusammen in Pacht nahmen, tenants-at-will waren, d. h. Pächter, deren Pacht jedes Jahr gekündigt werden konnte, und die nun durch besseren Ackerbau und großartigere Wirtschaft den Ertrag der Grundstücke zu steigern wußten. Sie konnten ihre Produkte wohlfeiler verkaufen als der kleine Yeoman, und diesem blieb nun, da sein Grundstück ihn nicht mehr ernährte, nichts übrig, als es zu verkaufen und entweder eine Jenny oder einen Webstuhl anzuschaffen oder sich als Taglöhner, Ackerbauproletarier, bei dem großen Pächter zu verdingen. Seine angestammte Trägheit und die nachlässige Art der Bebauung seines Grundstücks, die er von seinen Vorfahren überkommen hatte und über die er sich nicht erheben konnte, ließen ihm nichts andres übrig, als er in die Notwendigkeit versetzt wurde, gegen Leute zu konkurrieren, die ihre Pacht nach vernünftigeren Prinzipien und mit allen Vorteilen betrieben, die eine große Wirtschaft und die Anlage von Kapitalien in der Verbesserung des Bodens in die Hand geben. Die Bewegung der Industrie blieb indes hierbei nicht stehen. Einzelne Kapitalisten fingen an, Jennys in großen Gebäuden aufzustellen und durch Wasserkraft zu treiben, wodurch sie in den Stand gesetzt wurden, die Arbeiterzahl zu verringern und ihr Garn wohlfeiler zu verkaufen als die einzelnen Spinner, die bloß mit der Hand die Maschine bewegten. Es fielen fortwährend Verbesserungen der Jenny vor, so daß jeden Augenblick eine Maschine veraltet war und verändert oder gar beiseite geworfen werden mußte; und wenn der Kapitalist durch Anwendung der Wasserkraft selbst mit älteren Maschinen noch bestehen konnte, so war dies dem einzelnen Spinner auf die Dauer unmöglich. Und wenn schon hierin der Anfang des Fabriksystems lag, so erhielt dies durch dieSpinning~Throstle,d'ieRichardArkwright, ein Barbier aus Preston in Nord-Lancashire, 1767 erfand, eine neue Ausdehnung. Diese Maschine, im Deutschen gewöhnlich Kettenstuhl genannt, ist neben der Dampfmaschine die wichtigste mechanische Erfindung des achtzehnten Jahrhunderts. Sie ist von vornherein auf eine mechanische Triebkraft berechnet und auf ganz neuen Prinzipien basiert. Durch die Vereinigung der Eigentümlichkeiten der Jenny und des Kettenstuhls brachte Samuel Crompton aus Firwood (Lancashire) 1785
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die Mule zustande, und da Arkwright um dieselbe Zeit die Kardier- und Vorspinnmaschinen erfand, so war hierdurch für das Spinnen der Baumwolle das Fabriksystem zum allein herrschenden geworden. Allmählich fing man an, diese Maschinen durch einige unbedeutende Veränderungen auf das Spinnen der Wolle und später (im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts) auch des Flachses anwendbar zu machen und dadurch auch hier die Handarbeit zu verdrängen. Aber auch hierbei blieb es nicht; m den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Dr. Cartwright, ein Landpfarrer, den mechanischen Webstuhl erfunden und gegen 1804 so weit gebracht, daß er erfolgreich gegen die Handweber konkurrieren konnte; und alle diese Maschinen erhielten doppelte Wichtigkeit durch James Watts Dampfmaschine, die um 1764 erfunden und seit 1785 zur Betreibung von Spinnmaschinen angewandt worden war. Mit diesen Erfindungen, die seitdem noch jedes Jahr verbessert wurden, war der Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit in den Hauptzweigen der englischen Industrie entschieden, und die ganze Geschichte dieser letzteren berichtet von nun an nur, wie die Handarbeiter aus einer Position nach der andern durch die Maschinen vertrieben wurden. Die Folgen hiervon waren auf der einen Seite rasches Fallen der Preise aller Manufakturwaren, Aufblühen des Handels und der Industrie, Eroberung fast aller unbeschützten fremden Märkte, rasche Vermehrung der Kapitalien und des Nationalreichtums; auf der andern eine noch viel raschere Vermehrung des Proletariats, Zerstörung alles Besitzes, aller Sicherheit des Erwerbs für die arbeitende Klasse, Demoralisation, politische Aufregung und alle die den besitzenden Engländern so höchst widerwärtigen Tatsachen, die wir in den nachfolgenden Bogen zu betrachten haben werden. Haben wir schon oben gesehen, welche Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen der unteren Klassen eine einzige unbeholfene Maschine wie die Jenny hervorbrachte, so wird man sich nicht mehr über das wundern, was ein vollständig ineinandergreifendes System fein ausgearbeiteter Maschinerie bewirkt hat, welches das rohe Material von uns empfängt und uns fertiggewebten Stoff zurückgibt. Verfolgen wir indes die Entwicklung1 der englischen Industrie* etwas genauer und fangen wir mit ihrem Hauptzweige, der Baumwollenindustrie an.
* Nach Porters „[The] Progress of the Nation" [Der Fortschritt der Nation], London, 1836 I vol., 1838 II vol., 1843 III vol. (aus offiziellen Angaben) und anderen meist ebenfalls offiziellen Quellen. - (1892) Die obige geschichtliche Skizze der industriellen Umwälzung ist in Einzelheiten ungenau; es lag aber 1843/44 kein besseres Quellenmaterial vor.[77J
1 Im Original (1845) Verwicklung; (1892) Entwicklung
In den Jahren 1771 bis 1775 wurden im Durchschnitt jährlich weniger als fünf Millionen Pfund roher Baumwolle importiert; im Jahre 1841 fünfhundertachtundzwanzig Millionen, und die Einfuhr von 1844 wird mindestens sechshundert Millionen Pfund betragen. 1834 exportierte England 556 Millionen Yards gewebter Baumwollenstoffe, 761/a Millionen Pfund Baumwollengarn und für 1200000 Pfd. St. baumwollne Strumpfwaren. In demselben Jahre arbeiteten über acht Millionen Mulespindeln, 110000 mechanische und 250000 Handwebstühle, ungerechnet die Kettenstu'nlspindeln, im Dienst der Baumwollenindustrie, und nach MacCullochs Berechnung lebten damals direkt oder indirekt beinahe anderthalb Millionen Menschen in den drei Reichen von diesem Industriezweige, von denen 220000 allein in den Fabriken arbeiteten; die Kraft, die von diesen Fabriken gebraucht wurde, war 33000 Pferde Dampfkraft und 11 000 Pferde Wasserkraft. Jetzt reichen alle diese Zahlen bei weitem nicht mehr aus, und man wird ruhig annehmen können, daß im Jahre 1845 die Kraft und Zahl der Maschinen sowie die Zahl der Arbeiter um die Hälfte größer sein wird als 1834. Der Hauptsitz dieser Industrie ist Lancashire, von wo sie auch ausging; sie hat diese Grafschaft durch und durch revolutioniert, aus einem obskuren, schlecht bebauten Sumpf in eine belebte, arbeitsame Gegend umgeschaffen, ihre Bevölkerung in achtzig Jahren verzehnfacht und Riesenstädte wie Liverpool und Manchester mit zusammen 700000 Einwohnern und ihre Nebenstädte Bolton (60000 Einw.), Rochdale (75000 Einw.), Oldham (50000 Einw.), Preston (60000Einw.), Ashton und Stalybridge (40000 Einw.) und eine ganze Masse andere Fabrikstädte wie mit einem Zauberschlage aus dem Boden wachsen lassen. Die Geschichte von Süd-Lancashire weiß von den größten Wundern der neueren Zeit, und doch spricht kein Mensch von ihr, und alle diese Wunder hat die Baumwollenindustrie zuwege gebracht. Außerdem bildet Glasgow ein zweites Zentrum für den Baumwollendistrikt Schottlands, Lanarkshire und Renfrewshire, und auch hier hat die Bevölkerung der Zentralstadt sich seit der Einführung dieser Industrie von 30000 auf 300000 vermehrt. Die Strumpfwirkerei von Nottingham und Derby erhielt durch die erniedrigten Garnpreise ebenfalls einen neuen Anstoß, und einen zweiten durch eine Verbesserung des Strumpfstuhls, wodurch mit einem Stuhl zwei Strümpfe zu gleicher Zeit gewebt werden konnten; die Spitzenfabrikation wurde seit 1777, in welchem Jahre die LaceMaschine erfunden wurde, ebenfalls ein bedeutender Industriezweig; bald darauf erfand Lindley die Point-nei-Maschine und 1809 Heathcote die Bobbinnet-Maschine, wodurch die Verfertigung von Spitzen unendlich vereinfacht und der Verbrauch infolge der billigen Preise ebensosehr gesteigert wurde, so daß jetzt mindestens 200000 Menschen von dieser Fabrikation sich 18»
ernähren. Sie hat ihre Hauptsitze in Nottingh am, Leicester und dem Westen von England (Wiltshire, Deüonshire etc.). Dieselbe Ausdehnung haben die von der Baumwollenindustrie abhängigen Arbeitszweige, das Bleichen, Färben und Drucken, erfahren. Die Bleicherei erhielt durch die Anwendung von Chlor statt des Sauerstoffs in der Schnellbleiche, die Färberei und Druckerei durch die rasche Entwicklung der Chemie und die Druckerei durch eine Reihe der glänzendsten mechanischen Erfindungen außerdem noch einen Aufschwung, der neben der durch die Zunahme der Baumwollenfabrikation bedingten Ausdehnung dieser Geschäftsbranchen sie zu einer vorher nie gekannten Blüte erhob. In der Verarbeitung der Wolle entwickelte sich dieselbe Tätigkeit. Sie war bisher der Hauptzweig der englischen Industrie gewesen, aber die Masse der Produktion in jenen Jahren ist nichts gegen das, was heute fabriziert wird. 1782 lag die ganze Wollernte der vorhergehenden drei Jahre aus Mangel an Arbeitern noch unverarbeitet da und hätte liegenbleiben müssen, wenn nicht die neuerfundne Maschinerie zu Hülfe gekommen wäre und sie versponnen hätte. Die Übertragung dieser Maschinen auf die Wollspinnerei wurde mit dem besten Erfolg durchgeführt. Jetzt trat in den Wollbezirken dieselbe rasche Entwicklung ein, die wir in den Baumwolldistrikten gesehen haben. 1738 waren im West Riding von Yorkshire 75 000 Stück wollne Tuche gemacht worden, 1817 wurden 490 000 gemacht, und so rasch war die Ausdehnung der Wollenindustrie, daß 1834 schon 450000 Stück Tuche mehr ausgeführt wurden als1825. 1801 wurden 101 Millionen Pfund Wolle (wovon 7 Millionen importierte) verarbeitet, 1835 180 Millionen Pfund (wovon 42 Millionen importierte). Der Hauptbezirk dieser Industrie ist das West Riding von Yorkshire, wo in Bradford namentlich die lange englische Wolle zu Strickgarnen etc., und in den übrigen Städten, Leeds,Halifax,Huddersfield etc., die kurze Wolle zu festgedrehten Garnen und zur Tuchweberei verarbeitet wird; dann der angrenzende Teil von Lancashire, die Gegend von Rochdale, wo neben der Baumwollverarbeitung viel Flanell gemacht wird, und der Westen von England, der die feinsten Tuche fabriziert. Der Zuwachs der Bevölkerung ist hier ebenfalls bemerkenswert:
Bradford hatte 1801 29 000 und 1831 77 000 Einwohner Halifax „ 1801 63000 „ 1831 110000 Huddersfield „ 1801 15000 „ 1831 34000 Leeds „ 1801 53000 „ 1831 123000 und das ganze West Riding „ 1801 564000 „ 1831 980000
eine Bevölkerung, die sich seit 1831 noch um mindestens 20 bis 25 Prozent vermehrt haben muß. Die Wollenspinnerei beschäftigte 1835 in den drei Reichen 1313 Fabriken mit 71 300 Arbeitern - letztere sind übrigens nur ein kleiner Teil der Menge, die direkt und indirekt von der Verarbeitung der Wolle leben, und schließen fast alle Weber aus. Der Fortschritt entwickelte sich in der Leinenindustrie später, weil hier die natürliche Beschaffenheit des rohen Materials die Anwendung der Spinnmaschine sehr erschwerte. Zwar wurden schon in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts in Schottland derartige Versuche gemacht, indes erst 1810 gelang es dem Franzosen Girard, die Flachsspinnerei auf eine praktische Weise einzurichten, und selbst Girards Maschinen erlangten erst durch die Verbesserungen, die sie in England erfuhren, und ihre1 allgemeine Anwendung in Leeds, Dundee und Belfast auf britischem Boden die Bedeutung, die ihnen gebührte. Jetzt aber dehnte sich die englische Leinenindustrie rasch aus. 1814 wurden nach Dundee 3000 Tons Flachs importiert*, 1833 an 19000 Tons Flachs und 3400 Tons Hanf. Die Ausfuhr irischer Leinen nach Großbritannien stieg von 32 Millionen Yards (1800) auf 53 Millionen (1825), von denen ein großer Teil wieder exportiert wurde; die Ausfuhr englischer und schottischer Leinengewebe stieg von 24 Millionen Yards (1820) auf 51 Millionen (1833). Die Zahl der Flachsspinnereien belief sich 1835 auf 347 mit 33000 Arbeitern; davon waren die Hälfte im südlichen Schottland, über 60 im West Riding von Yorkshire (Leeds und Umgegend), 25 in Belfast in Irland und die übrigen in Dorsetshire und Lancashire. Die Weberei wird im südlichen Schottland und hier und da in England, besonders aber in Irland betrieben. Mit gleichem Erfolge legten sich die Engländer auf die Verarbeitung der Seide. Hier bekamen sie das Material aus Südeuropa und Asien fertig gesponnen, und die Hauptarbeit war das Zusammendrehen der feinen Fäden (Trafnieren). Bis 182,4 hinderte der schwere Zoll auf Rohseide (4 Shilling per Pfund) die englische Seidenindustrie sehr, und nur der Markt Englands und seiner Kolonien stand ihr durch Schutzzölle zu Gebote. Jetzt wurde der Eingangszoll auf einen Penny herabgesetzt, und sogleich vermehrte sich die Zahl der Fabriken bedeutend; in einem Jahre stieg die Anzahl der Doublierspindeln von 780000 auf 1 180000, und wenn auch die Handelskrisis von 1825 diesen
* Das englische Ton ist ein Gewicht von 2240 Pfund englisch, (1892) fast 1000 Kilogramm.
1 (1892) und durch ihre
Industriezweig für einen Augenblick lähmte, so wurde doch schon 1827 mehr fabriziert als je, da das mechanische Geschick und die Erfahrung der Engländer ihren Tramiermaschinen den Vorrang vor den unbeholfenen Einrichtungen ihrer Konkurrenten sicherte. 1835 besaß das britische Reich 263 Tramierfabriken mit 30000 Arbeitern, die meistens in Cheshire (Macclesfield, Congleton und Umgegend), Manchester undSomersetshire angelegt waren. Außerdem gibt es noch viele Fabriken zur Bearbeitung des Seidenabfalls von den Kokons, aus denen ein eigner Artikel (Spunsilk) gemacht wird und mit dem die Engländer selbst die Pariser und Lyoner Webereien versorgen. Das Verweben der so tramierten und gesponnenen Seide geschieht besonders in Schottland {Paisley usw.) und London (Spitalfields), dann aber auch in Manchester und anderswo. Aber der riesenhafte Aufschwung, den die englische Industrie seit 1760 genommen hat, beschränkt sich nicht auf die Fabrikation der Kleidungsstoffe. Der Anstoß, der einmal gegeben war, verbreitete sich über alle Zweige der industriellen Tätigkeit, und eine Menge Erfindungen, die außer allem Zusammenhang mit den bisher erwähnten standen, erhielten durch ihre Gleichzeitigkeit mit der allgemeinen Bewegung doppelte Wichtigkeit. Zugleich aber wurde nun, nachdem die unermeßliche Bedeutung der mechanischen Kraft in der Industrie einmal praktisch erwiesen war, auch alles in Bewegung gesetzt, um diese Kraft nach allen Seiten hin auszubeuten1 und zum Vorteile der einzelnen Erfinder und Fabrikanten auszubeuten; und überdies setzte die Frage nach Maschinerie, Brenn- und Verarbeitungsmaterial schon direkt eine Masse Arbeiter und Gewerbe in verdoppelte Tätigkeit. Die Dampfmaschine gab den weiten Kohlenlagern Englands erst Bedeutung; die Maschinenfabrikation entstand erst jetzt und mit ihr ein neues Interesse an den Eisenbergwerken, die das rohe Material für die Maschinen lieferten; die vermehrte Konsumtion der Wolle hob die englische Schafzucht, und die zunehmende Einfuhr von Wolle, Flachs und Seide rief eine Vergrößerung der englischen Handelsmarine hervor. Vor allem hob sich die Eisenproduktion. Die eisenreichen Berge Englands waren bisher wenig ausgebeutet worden; man hatte das Eisenerz stets mit Holzkohlen geschmolzen, die mit der besseren Bebauung des Bodens und der Ausrottung der Wälder immer teurer und seltner wurden; im vorigen Jahrhundert erst fing man an, geschwefelte Steinkohlen (coke) hierzu anzuwenden, und seit 1780 entdeckte man eine neue Methode, das mit Koks geschmolzene Eisen, das bisher nur als Gußeisen zu gebrauchen gewesen war, auch in brauchbares Schmiedeeisen zu verwandeln. Diese
1 (1892) zu benutzen
Methode, die in der Entziehung des im Schmelzen dem Eisen sich beimischenden Kohlenstoffs besteht, nennen die Engländer puddling, und durch sie wurde der englischen Eisenproduktion ein ganz neues Feld eröffnet. Die Hochöfen wurden fünfzigmal größer gemacht als früher, man vereinfachte das Schmelzen des Erzes durch heiße Gebläse und konnte dadurch das Eisen so wohlfeil produzieren, daß eine Masse Dinge, die früher von Holz oder Stein gemacht worden waren, jetzt von Eisen angefertigt wurden. 1788 errichtete Thomas Paine, der bekannte Demokrat, in Yorkshire die erste eiserne Brücke, der eine Unzahl folgten, so daß jetzt fast alle Brücken, namentlich auf Eisenbahnen, von Gußeisen gemacht werden und in London sogar eine Brücke über die Themse, die Southwark-Brücke, von diesem Material konstruiert worden ist; eiserne Säulen, Gestelle der Maschinen usw., sind allgemein, und seit der Einführung der Gasbeleuchtung und Eisenbahnen sind der englischen Eisengewinnung neue Abzugsquellen eröffnet. Nägel und Schrauben wurden allmählich auch mit Maschinen gemacht; Huntsman, ein Sheffielder, fand 1760 eine Methode, um Stahl zu gießen, wodurch viele Arbeit überflüssig gemacht und die Anfertigung ganz neuer, wohlfeiler Waren ermöglicht wurde; und durch die größere Reinheit des ihr zu Gebote stehenden Materials sowie durch vollkommnere Instrumente, neue Maschinerie und detailliertere Teilung der Arbeit wurde erst jetzt die Metallwarenfabrikation von England bedeutend. Die Bevölkerung von Birmingham wuchs von 73000 (1801) auf 200000 (1844), die von Sheffield von 46000 (1801) auf 110000 (1844), und der Kohlenverbrauch der letzteren Stadt allein belief sich 1836 auf 515000 Tons. 1805 wurden 4300 Tons Eisenwaren und 4600 Tons Roheisen, 1834 16200 Tons Eisenwaren und 107000 Tons Roheisen exportiert, und die ganze Eisengewinnung, 1740 nur noch 17000 Tons betragend, stieg 1834 auf beinahe 700000 Tons. Die Schmelzung des Roheisens konsumiert allein jährlich über 3 Millionen Tons Kohlen, und welche Wichtigkeit überhaupt die Kohlenbergwerke im Laufe der letzten sechzig Jahre bekommen haben, davon kann man sich keine Vorstellung machen. Alle englischen und schottischen Kohlenlager werden jetzt ausgebeutet, und die Gruben von Northumberland und Durham allein liefern jährlich über 5 Millionen Tons zur Verschiffung und beschäftigen 40000 bis 50000 Arbeiter. Nach dem „Durham Chronicle"t78] waren in den beiden genannten Grafschaften
1753 14 Kohlengruben 1800 40 1836 76 und 1843 130
im Betrieb. Dabei werden alle Gruben jetzt mit viel mehr Tätigkeit ausgebeutet als früher. Eine ähnliche vermehrte Tätigkeit wurde in den Zinn-, Kupfer- und Bleibergwerken angev/endet, und neben der Ausdehnung der Glasfabrikation entstand ein neuer Industriezweig in der Anfertigung der Töpferwaren, die durch Josiah Wedgwood um 1763 Bedeutung erhielt. Dieser reduzierte die ganze Fabrikation des Steinguts auf wissenschaftliche Prinzipien, führte einen besseren Geschmack ein und gründete die Töpfereien (potteries) von Nord-Staffordshire, einen Bezirk von acht englischen Meilen im Quadrat, der, früher eine unfruchtbare Wüste, jetzt mit Fabriken und Wohnungen besät ist und über 60000 Menschen ernährt. In diesen allgemeinen Strudel der Bewegung wurde alles hineingerissen. Der Ackerbau erlitt ebenfalls einen Umschwung. Und nicht nur, daß, wie wir oben sahen, das Grundeigentum in die Hände anderer Besitzer und Bebauer überging, sondern auch auf andre Weise noch wurde der Ackerbau affiziert. Die großen Pächter wandten Kapital an die Verbesserung des Bodens, rissen unnötige Scheidewände nieder, legten trocken, düngten, wandten bessere Instrumente an und führten eine systematische Abwechselung der Bebauung (cropping by rotation) ein. Auch ihnen half der Fortschritt der Wissenschaften; Sir H.Davy wandte die Chemie mit Erfolg auf den Ackerbau an, und die Entwicklung der Mechanik gab ihnen eine Menge Vorteile an die Hand. Dazu stieg infolge der vermehrten Bevölkerung die Nachfrage nach Ackerbauprodukten so sehr, daß von 1760 bis 1834 6 840540 englische Morgen wüstes Land urbar gemacht wurden und trotzdem England aus einem kornausführenden Lande ein korneinführendes wurde. Dieselbe Tätigkeit in der Herstellung der Kommunikation1. Von 1818 bis 1829 wurden in England und Wales 1000 englische Meilen Chausseen von der gesetzlichen Breite von 60 Fuß angelegt und fast alle alten nach MacAdams Prinzip erneuert. In Schottland legte die Behörde der öffentlichen Arbeiten seit 1803 an neunhundert Meilen Chaussee und über tausend Brücken an, wodurch in den Hochlanden das Volk mit einem Male in die Nähe der Zivilisation gebracht wurde. Die Hochländer waren bisher meist Wilddiebe und Schmuggler gewesen; jetzt wurden sie fleißige Ackerbauer und Handwerker, und obwohl gälische Schulen zur Erhaltung der Sprache errichtet worden sind, verschwindet gälisch-keltische Sitte und Sprache rasch vor dem Anrücken der englischen Zivilisation. Ebenso in Irland. Zwischen den Grafschaften Cork, Limerich und Kerry lag bisher ein wüster Landstrich ohne alle fahrbaren Wege, der wegen seiner Unzugänglichkeit der Zufluchtsort aller
1 (1892) Kommunikfition-m
Verbrecher und der Hauptschutz der keltisch-irischen Nationalität in SüdIrland war; man durchschnitt ihn mit Landstraßen und eröffnete dadurch der Zivilisation Zugänge auch in diese wilde Gegend. Das ganze britische Reich, namentlich aber England, das vor sechzig Jahren ebenso schlechte Wege besaß wie damals Deutschland und Frankreich, ist jetzt mit einem Netze der schönsten Chausseen überzogen, und auch diese sind, wie fast alles in England, das Werk der Privatindustrie, da der Staat wenig oder gar nichts dazu getan hat. Vor 1755 hatte England fast gar keine Kanäle. 1755 wurde in Lancashire der Kanal von Sankey Brook, nach St. Helens angelegt; und 1759 baute James Brindley den ersten bedeutenden Kanal, den des Herzogs von Bridgewater, der von Manchester und den Kohlenbergwerken der Umgegend nach der Mündung des Mersey geht und bei Barton in einem Aquädukt über den Fluß Irwell geführt wird. Von hier an datiert sich das englische Kanalwesen, dem erst Brindley Wichtigkeit gegeben hat. Jetzt wurden Kanäle nach allen Richtungen hin angelegt und Flüsse schiffbar gemacht. In England allein sind 2200 Meilen Kanal und 1800 Meilen schiffbarer Flüsse; in Schottland wurde der /?a/edonische Kanal, der das Land quer durchschneidet, und in Irland ebenfalls verschiedene Kanäle angelegt. Auch diese Anlagen sind, wie die Eisenbahnen und Chausseen, fast alle das Werk von Privatleuten und Kompagnien. Die Eisenbahnen sind erst in der neuesten Zeit angelegt. Die erste größere war die von Liverpool nach Manchester (1830 eröffnet); seitdem sind alle großen Städte miteinander durch Schienenwege verbunden worden. London mit Southampton, Brighton, Dover, Colchester, Cambridge, Exeter (über Bristol) und Birmingham; Birmingham mit Gloucester, Liverpool, Lancaster (über Newton und Wigan und über Manchester und Bolton), ferner mit Leeds (über Manchester und Halifax und über Leicester, Derby und Sheffield); Leeds mit Hull und Newcastle (über York). Dazu die vielen kleineren, die im Bau begriffenen und projektierten Linien, die es bald möglich machen werden, von Edinburgh nach London in einem Tage zu reisen. Wie der Dampf die Kommunikation zu Lande revolutioniert hatte, so gab er auch der zu Wasser ein neues Ansehen. Das erste Dampfschiff fuhr 1807 auf dem Hudson in Nordamerika; das erste im britischen Reich 1811 auf dem Clyde. Seitdem sind über sechshundert in England gebaut worden, und über fünfhundert waren 1836 in britischen Häfen in Tätigkeit. Das ist in kurzem die Geschichte der englischen Industrie in den letzten sechzig Jahren, eine Geschichte, die ihresgleichen nicht hat in den Annalen der Menschheit. Vor sechzig, achtzig Jahren ein Land wie alle andern, mit kleinen Städten, wenig und einfacher Industrie und einer dünnen, aber ver
hältnismäßig großen Ackerbaubevölkerung; und jetzt ein Land wie kein anderes, mit einer Hauptstadt von drittehalb Millionen Einwohnern, mit kolossalen Fabrikstädten, mit einer Industrie, die die ganze Welt versorgt und die fast alles mit den kompliziertesten Maschinen macht, mit einer fleißigen, intelligenten, dichtgesäten Bevölkerung, von der zwei Drittel durch die Industrie1 in Anspruch genommen werden und die aus ganz andern Klassen besteht, ja, die eine ganz andre Nation mit andern Sitten und andern Bedürfnissen bildet als damals. Die industrielle Revolution hat für England dieselbe Bedeutung wie die politische Revolution für Frankreich und die philosophische für Deutschland, und der Abstand zwischen dem England von 1760 und dem von 1844 ist mindestens ebenso groß wie der zwischen dem Frankreich des ancien regime2 und dem der Julirevolution. Die wichtigste Frucht aber dieser industriellen Umwälzung ist das englische Proletariat. Wir haben oben gesehen, wie das Proletariat durch die Einführung der Maschinen ins Leben gerufen wurde. Die rasche Ausdehnung der Industrie erforderte Hände; der Arbeitslohn stieg, und infolgedessen wanderten Scharen von Arbeitern aus den Ackerbaubezirken nach den Städten. Die Bevölkerung vermehrte sich reißend, und fast aller Zuwachs kam auf die Klasse der Proletarier. Dazu war in Irland erst seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ein geordneter Zustand eingetreten; auch hier vermehrte sich die in den früheren Unruhen durch englische Barbarei mehr als dezimierte Bevölkerung schnell, besonders seitdem der Aufschwung der Industrie anfing, eine Menge Irländer nach England herüberzuziehen. So entstanden die großen Fabrik- und Handelsstädte des britischen Reichs, in denen mindestens drei Viertel der Bevölkerung der Arbeiterklasse angehören und die kleine Bourgeoisie nur aus Krämern und sehr, sehr wenigen Handwerkern besteht. Denn wie die neue Industrie erst dadurch bedeutend wurde, daß sie die Werkzeuge in Maschinen, die Werkstätten in Fabriken - und dadurch die arbeitende Mittelklasse in arbeitendes Proletariat, die bisherigen Großhändler in Fabrikanten verwandelte; wie also schon hier die kleine Mittelklasse verdrängt und die Bevölkerung auf den Gegensatz von Arbeitern und Kapitalisten reduziert wurde, so geschah dasselbe, außer dem Gebiet der Industrie im engeren Smne, in den Handwerken und selbst im Handel. An die Stelle der ehemaligen Meister und Gesellen traten große Kapitalisten und Arbeiter, die nie Aussicht hatten, sich über ihre Klasse zu erheben; die Handwerke wurden fabrikmäßig betrieben, die Teilung der Arbeit streng durchgeführt und die kleinen Meister, die gegen
1 In den englischen Ausgaben von 1887 und 1892: trade and commerce ..." [In" dustrie und Handel] - 2 alten Regimes (vor der Französischen Revolution 1789-1794)
die großen Etablissements nicht konkurrieren konnten, in die Klasse der Proletarier herabgedrängt. Zu gleicher Zeit aber wurde dem Arbeiter durch die Aufhebung des bisherigen Handwerksbetriebs, durch die Vernichtung der kleinen Bourgeoisie alle Möglichkeit genommen, selbst Bourgeois zu werden. Bisher hatte er immer die Aussicht gehabt, sich als ansässiger Meister irgendwo niederlassen, später vielleicht Gesellen annehmen zu können; jetzt aber, wo die Meister selbst durch die Fabrikanten verdrängt, wo zum selbständigen Betrieb einer Arbeit große Kapitalien nötig wurden, wurde das Proletariat erst eine wirkliche, feste Klasse der Bevölkerung, während es früher oft nur ein Durchgang in die Bourgeoisie war. Wer jetzt als Arbeiter geboren wurde, hatte keine andere Aussicht, als lebenslang Proletarier zu bleiben. Jetzt also erst war das Proletariat imstande, selbständige Bewegungen vorzunehmen. Auf diese Weise wurde die ungeheure Masse von Arbeitern zusammengebracht, die jetzt das ganze britische Reich erfüllt und deren soziale Lage sich mit jedem Tage der Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt mehr und mehr aufdrängt. Die Lage der arbeitenden Klasse, das heißt die Lage der ungeheuren Majorität des englischen Volks, die Frage: Was soll aus diesen besitzlosen Millionen werden, die heute das verzehren, was sie gestern verdient haben, die mit ihren Erfindungen und ihrer Arbeit Englands Größe geschaffen haben, die täglich ihrer Macht sich mehr und mehr bewußt werden und täglich dringender ihren Anteil an den Vorteilen der gesellschaftlichen Einrichtungen verlangen - diese Frage ist seit der Reformbill ['9] die nationale Frage geworden. Alle einigermaßen wichtigen Parlamentsdebatten lassen sich auf sie reduzieren; und wenn auch die englische Mittelklasse es sich bis jetzt nicht gestehen will, wenn sie dieser großen Frage auch auszuweichen und sich ihre besondern Interessen als die wahrhaft nationalen hinzustellen sucht, so hilft ihr das doch gar nichts. Mit jeder Parlamentssession gewinnt die arbeitende Klasse Terrain, verlieren die Interessen der Mittelklassen an Bedeutung, und obwohl die Mittelklasse die Hauptmacht, ja die einzige Macht des Parlaments ist, so war doch die letzte Session 1844 eine fortwährende Debatte über Arbeiterverhältnisse (die Armenbill, die Fabrikenbill, die Bill über das Verhältnis von Herren und Dienern)[80J, und Thomas Duncombe, der Vertreter der Arbeiterklasse im Unterhause, war der große Mann der Session, während die liberale Mittelklasse mit ihrer Motion wegen Abschaffung der Korngesetze und die radikale Mittelklasse mit ihrem Antrag auf Steuerverweigerung eine jämmerliche Rolle spielten. Selbst die Debatten über Irland waren im Grunde nur Debatten über die Lage des irischen Proletariats und die Mittel,
ihm aufzuhelfen. Es ist aber auch hohe Zeit, daß die englische Mittelklasse den nicht bittenden, sondern drohenden und fordernden Arbeitern Konzessionen macht, denn in kurzem möchte es zu spät sein. Aber bei alledem will die englische Mittelklasse und namentlich die fabrizierende, die aus der Not der Arbeiter sich direkt bereichert, nichts von dieser Not wissen. Sie, die sich als die mächtige, die Nation repräsentierende Klasse fühlt, schämt sich, den wunden Fleck Englands den Augen der Welt bloßzulegen; sie will es sich nicht gestehen, daß die Arbeiter elend sind, weil sie, die besitzende, industrielle Klasse, die moralische Verantwortlichkeit für dieses Elend tragen müßte. Daher das spöttische Gesicht, was die gebildeten Engländer - und nur diese, das heißt die Mittelklasse, kennt man auf dem Kontinent - was die gebildeten Engländer aufzusetzen pflegen, wenn man von der Lage der Arbeiter zu sprechen anfängt; daher die totale Unwissenheit über alles, was die Arbeiter angeht, bei der ganzen Mittelklasse; daher die lächerlichen Böcke, die diese Klasse in und außer dem Parlament schießt, wenn die Verhältnisse des Proletariats zur Sprache kommen; daher die lächelnde Sorglosigkeit, in der sie auf einem Boden lebt, der unter ihren Füßen ausgehöhlt ist und jeden Tag einstürzen kann, und dessen baldiger Einsturz so sicher ist wie irgendein mathematisches oder mechanisches Gesetz; daher das Wunder, daß die Engländer noch kein einziges vollständiges Buch über die Lage ihrer Arbeiter besitzen, obwohl sie nun schon seit wer weiß wie vielen Jahren daran herumuntersuchen und herumflicken. Daher aber auch der tiefe Groll der ganzen Arbeiterklasse von Glasgow bis London gegen die Reichen, von denen sie systematisch ausgebeutet und dann gefühllos ihrem Schicksal überlassen wird - ein Groll, der über nicht gar zu lange - man kann sie fast berechnen - in einer Revolution ausbrechen muß, gegen die die erste französische und das Jahr 1794 ein Kinderspiel sein wird.
Das industrielle Proletariat
Die Reihenfolge, nach der wir die verschiedenen Sektionen des Proletariats zu betrachten haben, ergibt sich von selbst aus der vorhergehenden Geschichte seiner Entstehung. Die ersten Proletarier gehörten der Industrie an und wurden direkt durch sie erzeugt; die industriellen Arbeiter, diejenigen, die sich mit der Verarbeitung von Rohstoffen beschäftigen, werden also zunächst unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Erzeugung des industriellen Materials, der Roh- und Brennstoffe selbst, wurde erst infolge des industriellen Umschwungs bedeutend und konnte so ein neues Proletariat hervorbringen: die Arbeiter in den Kohlengruben und Metallbergwerken. In dritter Instanz wirkte die Industrie auf den Ackerbau und in vierter auf Irland zurück, und demgemäß ist auch den dahin gehörenden Fraktionen des Proletariats ihre Stelle anzuweisen. Wir werden auch finden, daß, etwa mit Ausnahme der Irländer, der Bildungsgrad der verschiedenen Arbeiter genau im Verhältnis zu ihrem Zusammenhange mit der Industrie steht und daß also die industriellen Arbeiter am meisten, die bergbauenden schon weniger und die ackerbauenden noch fast gar nicht über ihre Interessen aufgeklärt sind. Wir werden selbst unter den industriellen Proletariern diese Reihenfolge wiederfinden und sehn, wie die Fabrikarbeiter, diese ältesten Kinder der industriellen Revolution, von Anfang an bis jetzt der Kern der Arbeiterbewegung gewesen sind und wie die übrigen ganz in demselben Maße sich der Bewegung anschlössen, in welchem ihr Handwerk von dem Umschwung der Industrie ergriffen wurde; wir werden so an dem Beispiel Englands, an dem gleichen Schritt, den die Arbeiterbewegung mit der industriellen Bewegung hielt, die geschichtliche Bedeutung der Industrie verstehen lernen. Da aber in diesem Augenblick so ziemlich das ganze industrielle Proletariat von der Bewegung ergiffen ist und die Lage der einzelnen Sektionen, eben weil sie alle industriell sind, viel Gemeinsames hat, so werden wir dies vorweg durchzunehmen haben, damit wir später jede einzelne Verzweigung desto schärfer in ihrer Eigentümlichkeit betrachten können.
Schon oben wurde angedeutet, wie die Industrie den Besitz in den Händen weniger zentralisiert. Sie erfordert große Kapitalien, mit denen sie kolossale Etablissements errichtet und dadurch die kleine, handwerksmäßige Bourgeoisie ruiniert - und mit denen sie sich die Naturkräfte dienstbar macht, um den einzelnen Handarbeiter aus dem Markte zu schlagen. Die Teilung der Arbeit, die Benutzung der Wasser- und besonders der Dampfkraft und der Mechanismus der Maschinerie - das sind die drei großen Hebel, mit denen die Industrie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts daran arbeitet, die Welt aus ihren Fugen zu heben. Die kleine Industrie schuf die Mittelklasse, die große schuf die Arbeiterklasse und hob die wenigen Auserwählten der Mittelklasse auf den Thron, aber nur um sie einst desto sicherer zu stürzen. Einstweilen indes ist es ein nicht geleugnetes und leicht erklärbares Faktum, daß die zahlreiche kleine Mittelklasse der „guten alten Zeit" durch die Industrie zerstört und in reiche Kapitalisten auf der einen und arme Arbeiter auf der andern Seite aufgelöst ist.* Die zentralisierende Tendenz der Industrie bleibt aber hierbei nicht stehen. Die Bevölkerung wird ebenso zentralisiert wie das Kapital; ganz natürlich, denn in der Industrie wird der Mensch, der Arbeiter, nur als ein Stück Kapital angesehen, dem der Fabrikant dafür, daß es ihm zur Benutzung sich hingibt, Zinsen, unter dem Namen Arbeitslohn, erstattet. Das industrielle große Etablissement erfordert viele Arbeiter, die zusammen in einem Gebäude arbeiten; sie müssen zusammen wohnen, sie bilden schon bei einer mäßigen Fabrik ein Dorf. Sie haben Bedürfnisse und zur Befriedigung derselben andere Leute nötig; Handwerker, Schneider, Schuster, Bäcker, Maurer und Schreiner ziehen sich hin. Die Bewohner des Dorfs, namentlich die jüngere Generation, gewöhnt sich an die Fabrikarbeit, wird mit ihr vertraut, und wenn die erste Fabrik, wie sich versteht, nicht alle beschäftigen kann, so fällt der Lohn, und die Ansiedlung neuer Fabrikanten ist die Folge davon. So wird aus dem Dorf eine kleine Stadt, aus der kleinen Stadt eine große. Je größer die Stadt, desto größer die Vorteile der Ansiedlung. Man hat Eisenbahnen, Kanäle und Landstraßen; die Auswahl zwischen den erfahrnen Arbeitern wird immer größer; man kann neue Etablissements wegen der Konkurrenz unter den Bauleuten und Maschinenfabrikanten, die man gleich bei der Hand hat, billiger anlegen als in einer entferntem Gegend, wohin Bauholz, Maschinerie, Bauleute und Fabrikarbeiter erst transportiert werden müssen; man hat einen
* Vgl. hierüber meine „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" In diesem Aufsatz wird von der „freien Konkurrenz" ausgegangen; aber die Industrie ist nur die Praxis der freien Konkurrenz und diese nur das Prinzip der Industrie.
Markt, eine Börse, an der sich die Käufer drängen; man steht in direkter Verbindung mit den Märkten, die das rohe Material liefern oder die fertige Ware abnehmen. Daher die wunderbar schnelle Vermehrung der großen Fabrikstädte. Allerdings hat das platte Land dagegen wieder den Vorteil, daß dort gewöhnlich der Lohn billiger ist; das platte Land und die Fabrikstadt bleiben so in fortwährender Konkurrenz, und wenn heute der Vorteil auf Seite der Stadt ist, so sinkt morgen draußen der Lohn wieder so viel, daß neue Anlagen auf dem Lande sich vorteilhafter anbringen lassen. Aber dabei bleibt die zentralisierende Tendenz der Industrie doch in voller Kraft, und jede neue Fabrik, die auf dem Lande angelegt wird, trägt den Keim zu einer Fabrikstadt in sich. Wäre es möglich, daß dies tolle Treiben der Industrie noch einhundert Jahre so voranginge, so würde jeder der industriellen Bezirke Englands eine einzige große Fabrikstadt sein und Manchester und Liverpool bei Warrington oder Newton sich begegnen; denn auch im Handel wirkt diese Zentralisation der Bevölkerung ganz auf dieselbe Weise, und darum monopolisieren ein paar große Häfen wie Liverpool, Bristol, Hull und London fast ganz den Seehandel des britischen Reichs. Da in diesen großen Städten die Industrie und der Handel am vollständigsten zu ihrer Entwicklung kommen, so treten also auch hier ihre Konsequenzen in bezug auf das Proletariat am deutlichsten und offensten hervor. Hier ist die Zentralisation des Besitzes auf den höchsten Punkt gekommen; hier sind die Sitten und Verhältnisse der guten alten Zeit am gründlichsten vernichtet; hier ist man weit genug gekommen, um sich bei dem Namen Old merry England1 gar nichts mehr denken zu können, weil man das Old England selbst nicht einmal aus der Erinnerung und den Erzählungen der Großeltern mehr kennt. Daher gibt es hier auch nur eine reiche und eine arme Klasse, denn die kleine Bourgeoisie verschwindet mit jedem Tage mehr. Sie, die stabilste Klasse früher, ist jetzt die beweglichste geworden; sie besteht nur noch aus den wenigen Trümmern einer vergangenen Zeit und einer Anzahl von Leuten, die sich gern ein Vermögen machen wollen, kompletten Industrierittern und Spekulanten, von denen einer reich wird, wo neunundneunzig Bankerott machen und wo von diesen neunundneunzig mehr als die Hälfte nur vom Bankerotteren leben. Die ungeheure Mehrzahl in diesen Städten bilden aber die Proletarier, und wie es diesen ergeht, welchen Einfluß die große Stadt auf sie ausübt, werden wir jetzt untersuchen.
1 Altes glückliches England
Die großen Städte
So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen, ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Zentralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht; sie hat London zur kommerziellen Hauptstadt der Welt erhoben, die riesenhaften Docks geschaffen und die Tausende von Schiffen versammelt, die stets die Themse bedecken. Ich kenne nichts Imposanteres als den Anblick, den die Themse darbietet, wenn man von der See nach London Bridge hinauffährt. Die Häusermassen, die Werfte auf beiden Seiten, besonders von Woolwich aufwärts, die zahllosen Schiffe an beiden Ufern entlang, die sich immer dichterund dichter zusammenschließen und zuletzt nur einen schmalen Weg in der Mitte des Flusses frei lassen, einen Weg, auf dem hundert Dampfschiffe aneinander vorüberschießen - das alles ist so großartig, so massenhaft, daß man gar nicht zur Besinnung kommt und daß man vor der Größe Englands staunt, noch ehe man englischen Boden betritt* Aber die Opfer, die alles das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben, sich mit Mühe und Not durch das Menschengewühl, die endlosen Reihen von Wagen und Karren durchgeschlagen, wenn man die „schlechten Viertel" der Weltstadt besucht hat, dann merkt man erst, daß diese Londoner das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Zivilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, daß hundert
* (1892) Das war vor beinahe 50 Jahren, zur Zeit der malerischen Segelschiffe. Diese liegen - soweit noch welche nach London kommen - jetzt in den Docks, die Themse ist bedeckt von rußigen, häßlichen Dampfern.
Kräfte, die in ihnen schlummerten, untätig blieben und unterdrückt wurden, damit einige wenige sich voller entwickeln und durch die Vereinigung mit denen anderer multipliziert werden konnten. Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht alle Menschen mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? und haben sie nicht alle ihr Glück am Ende doch durch ein und dieselben Mittel und Wege zu erstreben? Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden aneinander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es keinem ein, die andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind; und wenn wir auch wissen, daß diese Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewußt auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben. Daher kommt es denn auch, daß der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle, hier offen erklärt ist. Wie Freund Stirner sehen die Leute einander nur für brauchbare Subjekte an; jeder beutet den andern aus, und es kommt dabei heraus, daß der Stärkere den Schwächeren unter die Füße tritt und daß die wenigen Starken, das heißt die Kapitalisten, alles an sich reißen, während den vielen Schwachen, den Armen, kaum das nackte Leben bleibt. Und was von London gilt, das gilt auch von Manchester, Birmingham und Leeds, das gilt von allen großen Städten. Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der andern Seite, überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand, überall gegenseitige Plünderung unter dem Schutz des Gesetzes, und das alles so unverschämt, so offenherzig, daß man vor den Konsequenzen unseres gesellschaftlichen Zustandes, wie sie hier unverhüllt auftreten, erschrickt und sich über nichts wundert als darüber, daß das ganze tolle Treiben überhaupt noch zusammenhält.
17 Mars/Engels Werke, BJ. 2
Da in diesem sozialen Kriege das Kapital, der direkte oder indirekte Besitz der Lebensmittel und Produktionsmittel, die Waffe ist, mit der gekämpft wird, so ist es einleuchtend, daß alle Nachteile eines solchen Zustandes auf den Armen fallen. Kein Mensch kümmert sich um ihn; hineingestoßen in den wirren Strudel, muß er sich durchschlagen, so gut er kann. Wenn er so glücklich ist, Arbeit zu bekommen, d. h. wenn die Bourgeoisie ihm die Gnade antut, sich durch ihn zu bereichern, so wartet seiner ein Lohn, der kaum hinreicht, Leib und Seele zusammenzuhalten; bekommt er keine Arbeit, so kann er stehlen, falls er die Polizei nicht fürchtet, oder verhungern, und die Polizei wird auch hierbei Sorge tragen, daß er auf eine stille, dieBourgeoisienicht verletzende Weise verhungert. Währendmeiner Anwesenheit in England sind wenigstens zwanzig bis dreißig Menschen unter den empörendsten Umständen direkt Hungers gestorben, und bei der Totenschau fand sich selten eine Jury, die den Mut hatte, dies geradezu auszusprechen. Die Zeugenaussagen mochten noch so klar, noch so unzweideutig sein - die Bourgeoisie, aus der die Jury gewählt war, fand immer eine Hintertür, durch die sie dem schrecklichen Verdikt: Hungers gestorben, entgehen konnte. Die Bourgeoisie darf in diesen Fällen die Wahrheit aber nicht sagen, sie spräche ja ihr eigen Urteil aus. Aber auch indirekt sind viele - noch viel mehr als direkt - Hungers gestorben, indem der anhaltende Mangel zureichender Lebensmittel tödliche Krankheiten hervorrief und so seine Opfer hinwegraffte; indem er sie so schwächte, daß gewisse Umstände, die sonst ganz glücklich abgelaufen wären, notwendig schwere Krankheiten und den Tod herbeiführten. Die englischen Arbeiter nennen das sozialen Mord und klagen die ganze Gesellschaft an, daß sie fortwährend dies Verbrechen begehe. Haben sie unrecht? Allerdings verhungern immer nur einzelne - aber welche Garantie hat der Arbeiter, daß er nicht morgen auch an die Reihe kommt? Wer sichert ihm seine Stellung? Wer leistet ihm Gewähr, daß, wenn er morgen von seinem Brotherrn aus irgendeinem Grund oder Ungrund entlassen wird, er sich mit den Seinigen so lange durchschlägt, bis er einen andern findet, der ihm „Brot gibt" ? Wer verbürgt dem Arbeiter, daß der gute Wille zur Arbeit hinreichend ist, um Arbeit zu bekommen, daß Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, und wie die vielen von der weisen Bourgeoisie ihm empfohlenen Tugenden alle heißen, für ihn wirklich der Weg zum Glücke sind? Niemand. Eiweiß, daß er heute etwas hat und daß es nicht von ihm selbst abhängt, ob er morgen auch noch etwas hat; er weiß, daß jeder Wind, jede Laune des Arbeitgebers, jede schlechte Handelskonjunktur ihn in den wilden Strudel zurückstoßen kann, aus dem er sich temporär gerettet hat und in dem es schwer, oft
unmöglich ist, oben zu bleiben. Er weiß, daß, wenn er heute leben kann, es sehr ungewiß ist, ob er dies auch morgen kann. Gehen wir indes zu einer detaillierteren Untersuchung des Zustandes über, in den der soziale Krieg die besitzlose Klasse versetzt. Sehen wir, was für Lohn denn eigentlich die Gesellschaft dem Arbeiter für seine Arbeit in Wohnung, Kleidung und Nahrung erstattet, welch eine Existenz sie denen gewährt, die das meiste zur Existenz der Gesellschaft beitragen; nehmen wir zuerst die Wohnungen vor. Jede große Stadt hat ein oder mehrere „schlechte Viertel", in denen sich die arbeitende Klasse zusammendrängt. Oft freilich wohnt die Armut in versteckten Gäßchen dicht neben den Palästen der Reichen; aber im allgemeinen hat man ihr em apartes Gebiet angewiesen, wo sie, aus den Augen der glücklicheren Klassen verbannt, sich mit sich selbst durchschlagen mag, so gut es geht. Diese schlechten Viertel sind in England in allen Städten ziemlich egal eingerichtet - die schlechtesten Häuser in der schlechtesten Gegend der Stadt; meist zweistöckige oder einstöckige Ziegelgebäude in langen Reihen, möglicherweise mit bewohnten Kellerräumen und fast überall unregelmäßig angelegt. Diese Häuschen von drei bis vier Zimmern und einer Küche werden Cottages genannt und sind in ganz England - einige Teile von London ausgenommen - die allgemeinen Wohnungen der arbeitenden Klasse. Die Straßen selbst sind gewöhnlich ungepflastert, höckerig, schmutzig, voll vegetabilischen und animalischen Abfalls, ohne Abzugskanäle oder Rinnsteine, dafür aber mit stehenden, stinkenden Pfützen versehen. Dazu wird die Ventilation durch die schlechte, verworrene Bauart des ganzen Stadtviertels erschwert, und da hier viele Menschen auf einem kleinen Räume leben, so kann man sich leicht vorstellen, welche Luft in diesen Arbeiterbezirken herrscht. Die Straßen dienen überdies bei schönem Wetter als Trockenplatz; es werden von Haus zu Haus Leinen quer herüber gespannt und mit nasser Wäsche behangen. Nehmen wir einige dieser schlechten Viertel durch. Da ist zuerst London*, und in London die berühmte „Rabenheckerei" (rookery), St. Giles, die jetzt endlich durch ein paar breite Straßen durchbrochen und so vernichtet
* Seitdem ich die nachfolgende Darstellung geschrieben, ist mir ein Artikel über die Arbeiterdistrikte in London im „ Illuminated Magazine" (Oktober 1844) zu Gesicht gekommen, der mit meiner Schilderung - an vielen Stellen fast wörtlich, aber auch sonst der Sache nach überall vollständig übereinstimmt. Er ist überschrieben: „The Dwellings of the Poor, from the note-book of an M. D." (Medicinae Doctor) [Die Behausungen der Armen, aus dem Notizbuch eines Dr. med.].
werden soll. Dies St. Giles liegt mitten im bevölkertsten Teile der Stadt, umgeben von glänzenden, breiten Straßen, in denen die schöne Welt Londons sich herumtreibt - ganz in der Nähe von Oxford Street und Regent Street, von Trafalgar Square und dem Strand. Es ist eine unordentliche Masse von hohen, drei- bis vierstöckigen Häusern, mit engen, krummen und schmutzigen Straßen, auf denen wenigstens ebensoviel Leben ist wie auf den Hauptrouten durch die Stadt, nur daß man in St. Giles bloß Leute aus der arbeitenden Klasse sieht. Auf den Straßen wird Markt gehalten, Körbe mit Gemüse und Obst, natürlich alles schlecht und kaum genießbar, verengen die Passage noch mehr, und von ihnen, wie von den Fleischerläden, geht ein abscheulicher Geruch aus. Die Häuser sind bewohnt vom Keller bis hart unters Dach, schmutzig von außen und innen, und sehenaus, daß kein Mensch drin wohnen möchte. Das ist aber noch alles nichts gegen die Wohnungen in den engen Höfen und Gäßchen zwischen den Straßen, in die man durch bedeckte Gänge zwischen den Häusern hineingeht und in denen der Schmutz und die Baufälligkeit alle Vorstellung übertrifft - fast keine ganze Fensterscheibe ist zu sehen, die Mauern bröcklig, diaTürpfosten und Fensterrahmen zerbrochen und lose, die Türen von alten Brettern zusammengenagelt oder gar nicht vorhanden - hier in diesem Diebsviertel sogar sind keine Türen nötig, weil nichts zu stehlen ist. Haufen von Schmutz und Asche liegen überall umher, und die vor die Tür geschütteten schmutzigen Flüssigkeiten sammeln sich in stinkenden Pfützen. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, die am schlechtesten bezahlten Arbeiter mit Dieben, Gaunern und Opfern der Prostitution bunt durcheinander - die meisten sind Irländer oder Abkömmlinge von lrländern, und diejenigen, die selbst noch nicht in dem Strudel moralischer Verkommenheit, der sie umgibt, untergegangen sind, sinken doch täglich tiefer, verlieren täglich mehr und mehr die Kraft, den demoralisierenden Einflüssen der Not, des Schmutzes und der schlechten Umgebung zu widerstehen. Aber St. Giles ist nicht das einzige „schlechte Viertel" Londons. In dem ungeheuren Straßenknäul gibt es Hunderte und Tausende verborgener Gassen und Gäßchen, deren Häuser zu schlecht sind für alle, die noch etwas auf menschliche Wohnung verwenden können — oft dicht neben den glänzenden Häusern der Reichen findet man solche Schlupfwinkel der bittersten Armut. So wurde vor kurzem, bei Gelegenheit einer Totenschau, eine Gegend dicht bei Portman Square, einem sehr anständigen öffentlichen Platze, als der Aufenthalt „einer Menge durch Schmutz und Armut demoralisierter Irländer" bezeichnet. So findet man in Straßen wie Long Acre usw., die zwar nicht fashionabel, aber doch anständig sind, eine Menge Kellerwoh
nungen, aus denen kränkliche Kindergestalten und halbverhungerte, zerlumpte Frauen ans Tageslicht steigen. In der unmittelbaren Nähe des Drury Lane Theaters — des zweiten von London - sind einige der schlechtesten Straßen der ganzen Stadt - Charles, King und Parier Street, deren Häuser ebenfalls von den Kellern an bis unters Dach von lauter armen Familien bewohnt sind. In den Pfarren1 St. John und St. Margaret in Westminster wohnten 1840 nach dem Journal der Statistischen Gesellschaft 5366 Arbeiterfamilien in 5294 „Wohnungen" - wenn sie diesen Namen verdienen -, Männer, Weiber und Kinder, ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht zusammengeworfen, zusammen 26830 Individuen, und von der obigen Familienzahl hatten drei Viertel nur ein einziges Zimmer. In der aristokratischen Pfarre St. Georg, Hanover Square, wohnten nach derselben Autorität 1465 Arbeiterfamilien, zusammen an 6000 Personen, in gleichen Verhältnissen - auch hier über zwei Drittel der ganzen Anzahl auf je ein Zimmer für die Familie zusammengedrängt. Und wie wird die Armut dieser Unglücklichen, bei denen selbst Diebe nichts mehr zu finden hoffen, von den besitzenden Klassen auf gesetzlichem Wege ausgebeutet! Die scheußlichen Wohnungen bei Drury Lane, deren eben erwähnt wurde, bezahlen folgende Mieten: zwei Kellerwohnungen 3 sh. (1 Taler), ein Zimmer parterre 4 sh., eine Treppe hoch 4l/2 sh., zwei Treppen hoch 4 sh., Dachstuben 3 sh. wöchentlich - so daß allein die ausgehungerten Bewohner der Charles Street den Häuserbesitzern einen jährlichen Tribut von 2000 Pfd. St. (14000 Taler) und die erwähnten 5366 Familien in Westminster eine jährliche Miete von zusammen 40000 Pfd. St. (270000 Taler) bezahlen. Der größte Arbeiterbezirk liegt indes östlich vom Tower - in Whitechapel und Bethnal Green, wo die Hauptmasse der Arbeiter Londons konzentriert ist. Hören wir, was Herr G. Aiston, der Prediger von St.Philip's, Bethnal Green, über den Zustand seiner Pfarre sagt:
„Sie enthält 1400 Häuser, die von 2795 Familien oder ungefähr 12000 Personen bewohnt werden. Der Raum, auf dem diese große Bevölkerung wohnt, ist weniger als 400 Yards (1200 Fuß) im Quadrat, und bei solch einer Zusammendrängung ist es nichts Ungewöhnliches, daß ein Mann, seine Frau, vier bis fünf Kinder und zuweilen noch Großvater und Großmutter in einem einzigen Zimmer von zehn bis zwölf Fuß im Quadrat gefunden werden, worin sie arbeiten, essen und schlafen. Ich glaube, daß, ehe der Bischof von London die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese so höchst arme Pfarre hinlenkte, man da am Westende der Stadt ebensowenig von ihr wußte wie von den Wilden Australiens oder der Südsee-lnseln. Und wenn wir uns einmal mit den Leiden dieser Unglücklichen durch eigne Anschauung bekannt machen, wenn wir sie
1 (1892) Pfarreien
bei ihrem kargen Mahle belauschen und sie von Krankheit oder Arbeitslosigkeit gebeugt sehen, so werden wir eine solche Masse von Hülf losigkeit und Elend linden, daß eine Nation wie die unsrige über die Möglichkeit derselben sich zu schämen hat. Ich war Pfarrer bei Huddersfield während der drei Jahre, in denen die Fabriken am schlechtesten gingen; aber ich habe nie eine so gänzliche Hülflosigkeit der Armen gesehen wie seitdem inBethnal Green. Nicht ein Familienvater aus zehnen in der ganzen Nachbarschaft hat andere Kleider als sein Arbeitszeug, und das ist noch so schlecht und zerlumpt wie möglich; ja viele haben außer diesen Lumpen keine andere Decke während der Nacht und als Bette nichts als einen Sack mit Stroh und Hobelspänen."
Wir sehen schon aus der obigen Beschreibung, wie es in diesen Wohnungen selbst auszusehen pflegt. Zum Überfluß wollen wir den englischen Behörden, die zuweilen dahin geraten, noch in einige Proletarierwohnungen folgen. Bei Gelegenheit einer Totenschau, die Herr Carter, Coroner für Surrey, über die Leiche der 45jährigen Ann Galway am 16. November 1843 abhielt, erzählen die Journale folgendes von der Wohnung der Verstorbenen: Sie hatte in Nr. 3, White Lion Court, Bermondsey Street, London, mit ihrem Mann und ihrem 19jährigen Sohne in einem kleinen Zimmer gewohnt, worin sich weder Bettstelle oder Bettzeug noch sonstige Möbel befanden. Sie lag tot neben ihrem Sohn auf einem Haufen Federn, die über ihren fast nackten Körper gestreut waren, denn es war weder Decke noch Bettuch vorhanden. Die Federn klebten so fest an ihr über den ganzen Körper, daß der Arzt die Leiche nicht untersuchen konnte, bevor sie gereinigt war, und dann fand er sie ganz abgemagert und über und über von Ungeziefer zerbissen. Ein Teil des Fußbodens im Zimmer war aufgerissen, und das Loch wurde von der Familie als Abtritt benutzt. Montag, den 15. Januar 1844 wurden zwei Knaben vor das Polizeigericht von Worship Street, London, gebracht, weil sie aus Hunger einen halbgekochten Kuhfuß von einem Laden gestohlen und sogleich verzehrt hatten. Der Polizeirichter sah sich veranlaßt, weiter nachzuforschen, und erhielt von den Polizei dienern bald folgende Aufklärung: Die Mutter dieser Knaben war die Witwe eines alten Soldaten und späteren Polizeidieners, der es seit dem Tode ihres Mannes mit ihren neun Kindern sehr schlecht ergangen war. Sie wohnte Nr. 2, Pool's Place, Quaker Street, Spitalfields, im größten Elende. Als der Polizeidiener zu ihr kam, fand er sie mit sechs ihrer Kinder in einem kleinen Hinterstübchen buchstäblich zusammengedrängt, ohne Möbel, ausgenommen zwei alte Binsenstühle ohne Boden, einen kleinen Tisch mit zwei zerbrochenen Beinen, eine zerbrochene Tasse und eine kleine Schüssel. Auf dem Herde kaum ein Funken Feuer, und in der Ecke so viel alte Lumpen, als eine Frau in ihre Schürze nehmen konnte, die aber der ganzen Familie
zum Bette dienten. Zur Decke hatten sie nichts als ihre ärmliche Kleidung. Die arme Frau erzählte ihm, daß sie voriges Jahr ihr Bett habe verkaufen müssen, um Nahrung zu erhalten; ihre Bettücher habe sie dem Viktualienhändler als Unterpfand für einige Lebensmittel dagelassen, und sie habe überhaupt alles verkaufen müssen, um nur Brot zu bekommen. Der Polizeirichter gab der Frau einen beträchtlichen Vorschuß aus der Armenbüchse. Im Februar 1844 wurde eine Witwe von sechzig Jahren, Theresa Bishop, mit ihrer 26jährigen kranken Tochter der Wohltätigkeit des Polizeirichters von Marlborough Street empfohlen. Sie wohnte in Nr. 5, Brown Street, Grosvenor Square, in einem kleinen Hmterzimmer, nicht größer als ein Schrank, worin nicht ein einziges Stück Möbel war. In einer Ecke lagen einige Lumpen, auf denen die beiden schliefen; eine Kiste diente als Tisch und Stuhl zugleich. Die Mutter verdiente etwas durch Stubenreinigen; sie hatten, wie der Wirt sagte, seit Mai 1843 in diesem Zustande gelebt, allmählich alles verkauft oder versetzt, was sie noch hatten, und dennoch nie die Miete bezahlt. Der Polizeirichter ließ ihnen ein Pfund aus der Armenbüchse zukommen. Es fällt mir nicht ein, zu behaupten, alle Londoner Arbeiter lebten in einem solchen Elend wie die obigen drei Familien; ich weiß wohl, daß zehn es besser haben, wo einer so ganz und gar von der Gesellschaft mit Füßen getreten wird - aber ich behaupte, daß Tausende von fleißigen und braven Familien, viel braver, viel ehrenwerter als sämtliche Reiche von London, in dieser eines Menschen unwürdigen Lage sich befinden und daß jeder Proletarier, jeder ohne Ausnahme, ohne seine Schuld und trotz allen seinen Anstrengungen, von gleichem Schicksal getroffen werden kann. Aber bei alledem sind diejenigen noch glücklich, die nur noch ein Obdach irgendeiner Art haben - glücklich gegen die ganz Obdachlosen. In London stehen jeden Morgen fünfzigtausend Menschen auf, ohne zu wissen, wo sie für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen sollen. Die glücklichsten dieser Zahl, denen es gelingt, am Abend einen oder ein paar Pence zu erübrigen, gehen in ein sogenanntes Logierhaus (lodging-house), deren es in allen großen Städten eine Menge gibt und wo sie für ihr Geld ein Unterkommen finden. Aber welch ein Unterkommen! Das Haus ist von oben bis unten mit Betten angefüllt, vier, fünf, sechs Betten in einer Stube, soviel ihrer hineingehen. In jedes Bett werden vier, fünf, sechs Menschen gestopft, ebenfalls soviel ihrer hineingehen - Kranke und Gesunde, Alte und Junge, Männer und Weiber, Trunkene und Nüchterne, wie es gerade kommt, alles bunt durcheinander. Da gibt es denn Streit, Schlägereien und Verwundungen
- und wenn sich die Bettgenossen vertragen, so ist das noch schlimmer, es werden Diebstähle verabredet oder Dinge getrieben, deren Bestialität unsere menschlicher gewordenen Sprachen nicht in Worten wiedergeben wollen. Und diejenigen, die kein solches Nachtlager bezahlen können? Nun, die schlafen, wo sie Platz finden, in Passagen, Arkaden, in irgendeinem Winkel, wo die Polizei oder die Eigentümer sie ungestört schlafen lassen; einzelne kommen wohl unter in den Zufluchtshäusern, die hier und dort von der Privatwohltätigkeit errichtet wurden - andere schlafen in den Parks auf den Bänken, dicht unter den Fenstern der Königin Viktoria - hören wir, was die „Times" [83J vom Oktober 1843 sagt:
„Aus unserm gestrigen Polizeibericht geht hervor, daß eine Durchschnittsanzahl von fünfzig menschlichen Wesen jede Nacht in den Parks schlafen, ohne anderen Schutz gegen das Wetter als die Bäume und einige Höhlungen in den Dämmen. Die meisten derselben sind junge Mädchen, die von Soldaten verführt, in die Hauptstadt gebracht und in die weite Welt hinausgestoßen sind, hinaus in all die Verlassenheit der Not in einer fremden Stadt, in all die wilde Unbekümmertheit frühreifen Lasters. Das ist in Wahrheit schrecklich. Arme muß es überall geben. Der Mangel wird überallhin seinen Weg finden und sich mit seiner ganzen Scheußlichkeit im Herzen einer großen und üppigen Stadt niederlassen. In den tausend engen Gassen und Gäßchen einer volkreichen Metropole muß es immer, fürchten wir, viel Leiden geben, viel, das das Auge beleidigt - viel, das nie ans Tageslicht kommt. Aber daß im Kreise, den sich Reichtum, Fröhlichkeit und Glanz gezogen haben, daß nahe an der königlichen Größe von St. James, hart am strahlenden Palast von Bayswater, wo das alte und das neue aristokratische Viertel sich begegnen, in einer Gegend, wo das vorsichtige Raffinement moderner Städtebaukunst sich gehütet hat, auch nur die kleinste Hütte für die Armut zu errichten, in einer Gegend, die den ausschließlichsten Genüssen des Reichtums geweiht zu sein scheint - daß da Not und Hunger und Krankheit und Laster mit all ihren verwandten Schrecken einherziehen, verzehrend Leib auf Leib, Seele auf Seele! Es ist in der Tat ein monströser Zustand. Die höchsten Genüsse, welche körperliche Gesundheit, geistige Anregung, unschuldigere Sinnenfreuden gewähren können, in unmittelbarer Berührung mit dem härtesten Elend! Reichtum, von seinen glänzenden Salons herab lachend, mit brutaler Gedankenlosigkeit lachend bei den ungekannten Wunden des Mangels! Freude, unbewußt aber grausam verhöhnend den Schmerz, der dort unten stöhnt! Alle Gegensätze im Kampf, alle im Widerstreit, nur nicht das Laster, das in Versuchung führt, und das Laster, das sich versuchen läßt ... Aber alle Menschen mögen des gedenken: daß in dem glänzendsten Bezirk der reichsten Stadt auf dieser Erde, Nacht auf Nacht, Winter auf Winter, Weiber zu finden sind, Weiber jung an Jahren, alt an Sünden und Leiden, Ausgestoßene der Gesellschaft, verfaulend in Hunger, Schmutz und Krankheit. Mögen sie des gedenken und lernen, nicht zu
theoretisieren, sondern zu handeln. Gott weiß, es ist viel Raum da zum Handeln heutzutage!"
Ich sprach oben von Zufluchtshäusern für Obdachlose. Wie sehr diese überlaufen sind, mögen uns zwei Beispiele lehren. Ein neuerrichtetes „Refuge of the Houseless"1 in Upper Ogle Street, das jede Nacht 300 Personen beherbergen kann, nahm seit seiner Eröffnung am 27. Januar bis zum 17. März 1844 2740 Personen für eine oder mehrere Nächte auf; und obwohl die Jahreszeit günstiger wurde, war die Zahl der Applikanten sowohl in diesem als in den Asylen von Whitecross Street und Wapping stark im Zunehmen begriffen, und jede Nacht mußten eine Menge Obdachloser aus Mangel an Raum zurückgewiesen werden. In einem andern, dem Zentral-Asyl von Playhouse Yard, wurden in den ersten drei Monaten des Jahres 1844 durchschnittlich jede Nacht 460 Nachtlager gegeben, im ganzen 6681 Personen beherbergt und 96141 Rationen Brot verteilt. Dennoch erklärt das leitende Komitee, daß auch diese Anstalt dem Andränge der Benötigten einigermaßen erst dann genügt habe, als auch das östliche Asyl der Aufnahme von Obdachlosen geöffnet worden sei. Verlassen wir London, um die übrigen großen Städte der drei Reiche der Reihe nach durchzugehen. Nehmen wir zunächst Dublin, eine Stadt, deren Einfahrt von der See aus ebenso reizend wie die von London imposant ist; die Bai von Dublin ist die schönste des ganzen britischen Inselreichs und pflegt von den Irländern wohl gar mit der von Neapel verglichen zu werden. Die Stadt selbst hat ebenfalls große Schönheiten2, und die aristokratischen Teile derselben sind besser und geschmackvoller angelegt als die irgendeiner andern britischen Stadt. Aber dafür gehören auch die ärmeren Bezirke von Dublin zu dem Widerlichsten und Häßlichsten, was man in der Welt sehen kann. Allerdings hat daran der irische Volkscharakter, der sich unter Umständen erst im Schmutz behaglich fühlt, seinen Anteil; aber da wir in jeder großen Stadt Englands und Schottlands auch Tausende von Irländern finden und jede arme Bevölkerung allmählich in dieselbe Unreinlichkeit versinken muß, so ist das Elend in Dublin nichts Spezifisches, nichts der irischen Stadt allein Angehöriges mehr, sondern etwas, das allen großen Städten der ganzen Welt gemeinsam ist. Die armen Distrikte von Dublin sind überaus ausgedehnt, und der Schmutz, die Unbewohnbarkeit der Häuser, die Vernachlässigung der Straßen übersteigen alle Begriffe. Von der Art, wie die Armen hier zusammengedrängt sind, kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man hört, daß 1817 nach dem Bericht der Inspektoren des
1 Obdachlosenasyl - 2 (1892) Schönheit
Arbeitshauses* in Barrack Street in 52 Häusern mit 390 Zimmern 1318 Personen und in Church Street und der Umgegend in 71 Häusern mit 393 Zimmern 1997 Menschen wohnten; daß
„in diesem und dem anstoßenden Distrikt eine Menge stinkender (foul) Gäßchen und Höfe sind, daß manche Keller ihr Licht nur durch die Türe empfangen und in mehreren derselben die Einwohner auf der nackten Erde schlafen, obwohl die Mehrzahl derselben doch wenigstens Bettstellen besitzt — daß aber z. B. Nicholson's Court in 28 kleinen, elenden Stuben 151 Menschen in der größten Not enthält, so daß in dem ganzen Hof nur zwei Bettstellen und zwei Bettdecken zu finden waren".
Die Armut ist so groß in Dublin, daß eine einzige wohltätige Anstalt, die der „Mendicity Association"1, täglich 2500 Personen, also ein Prozent der ganzen Bevölkerung, aufnimmt, den Tag über ernährt und abends wieder entläßt. Ein Gleiches erzählt uns Dr. Alison von Edinburgh - wieder einer Stadt, deren prächtige Lage, die ihr den Namen des modernen Athens verschafft hat, und deren glänzendes aristokratisches Viertel in der Neustadt schroff mit dem stinkenden Elend der Armen in der Altstadt kontrastiert. Alison behauptet, dieser große Stadtteil sei ebenso unflätig und scheußlich wie die schlechtesten Distrikte von Dublin, und die „Mendicity Association" würde in Edinburgh eine ebenso große Proportion Notleidender zu unterstützen haben wie in der irischen Hauptstadt; ja, er sagt, die Armen in Schottland, namentlich in Edinburgh und Glasgow, seien schlimmer daran als in irgendeiner andern Gegend des britischen Reichs, und die elendesten seien nicht Irländer, sondern Schotten. Der Prediger der alten Kirche in Edinburgh, Dr. Lee, sagte 1836 vor der Commission of Religious Instruction3 aus:
„Er habe solches Elend wie in seiner Pfarre nirgends zuvor gesehen. Die Leute seien ohne Möbel, ohne alles; häufig wohnten zwei Ehepaare in einem Zimmer. An einem Tage sei er in sieben Häusern gewesen, in denen kein Bett - in einigen sogar kein Stroh gewesen sei; achtzigjährige Leute hätten auf dem bretternen Boden geschlafen, fast alle brächten die Nacht in ihren Kleidern zu. In einem Kellerraum habe
* Zitiert in Dr. W. P. Alison, F. R. S. E., fellow and late President of the Royal College of Physicians etc. etc., „Observations on the Management of the Poor in Scotland and its Effects on the Health of Great Towns" [Betrachtungen über die Behandlung der Armen in Schottland und ihre Auswirkung auf die Gesundheit in den großen Städten], Edinburgh 1840. - Der Verfasser ist religiöser Tory und Bruder des Historikers Arch[ibald] Alison.
1 „Bettler(türsorge)-Vereinigung" - 2 Kommission für religiöse Unterweisung
er zwei schottische Familien vom Lande gefunden; bald nach ihrer Ankunft in der Stadt seien zwei Kinder gestorben, das dritte sei zur Zeit seines Besuchs im Sterben gewesen - für jede Familie habe ein schmutziger Strohhaufen in einem Winkel gelegen, und obendrein habe der Keller, der so dunkel gewesen sei, daß man bei Tage keinen Menschen darin habe erkennen können, noch einen Esel beherbergt. Es müsse ein Herz von Demant bluten machen, solches Elend in einem Lande wie Schottland zu sehen." Ähnlicbes berichtet Dr. Hennen im „Edinburgh Medical and Surgical Journal". Aus einem Parlamentsberichte* geht hervor, welche Unreinlichkeit - wie unter solchen Umständen wohl zu erwarten ist - in den Häusern der Edinburgher Armen herrscht. Auf den Bettpfosten halten Hühner ihr Nachtlager, Hunde und sogar Pferde schlafen mit den Menschen in einem Zimmer, und die natürliche Folge davon ist, daß ein entsetzlicher Schmutz und Gestank sowie Heere von Ungeziefer aller Art in diesen Wohnungen existieren. Die Bauart Edinburghs begünstigt diesen scheußlichen Zustand soviel wie möglich. Die Altstadt ist an beiden Abhängen eines Hügels gebaut, über dessen Rücken die Hochstraße (high street) läuft. Von dieser aus laufen nach beiden Seiten eine Menge schmaler, krummer Gäßchen, von ihren vielen Windungen wynds genannt, den Berg hinab, und diese bilden den proletarischen Stadtteil. Die Häuser der schottischen Städte sind überhaupt hoch, fünf- und sechsstöckig wie in Paris, und im Gegensatz zu England, wo soviel wie möglich jeder sein apartes Haus hat, von einer großen Anzahl verschiedener Familien bewohnt; die Zusammendrängung vieler Menschen auf einer kleinen Fläche wird hierdurch noch vergrößert.
„Diese Straßen", sagt ein englisches Journal in einem Artikel über die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter in Städten** - „diese Straßen sind oft so eng, daß man aus dem Fenster des einen Hauses in das des gegenüberstehenden steigen kann, und dabei sind die Häuser so hoch Stock auf Stock getürmt, daß das Licht kaum in den Hof oder die Gasse, die dazwischenliegt, hineinzudringen vermag. In diesem Teile der Stadt sind weder Kloaken noch sonstige zu den Häusern gehörende Abzüge oder Abtritte; und daher wird aller Unrat, Abfall und Exkremente von wenigstens 50000 Personen jede Nacht in die Rinnsteine geworfen, so daß trotz alles Straßenkehrens eine
* Report to the Home Secretary from the Poor-Law Commissioners, on an Inquiry into the Sanitary Condition of the Labouring Classes of Great Britain. With Appendices. Presented to both Houses of Parliament in July 1842 [Bericht der Armengesetz-Kommissare an den Innenminister über eine Untersuchung der sanitären Lage der arbeitenden Klassen Großbritanniens. Mit Anhängen. Beiden Häusern des Parlaments im Juli 1842 vorgelegt], - 3 vols. in Folio. - Gesammelt und geordnet aus ärztlichen Berichten von Edwin Chadwick, Sekretär der Armengesetz-Kommission. ** „The Artizan", 1843, Oktcberheft. - Eine Monatsschrift.
Masse aufgetrockneten Kots und ein stinkender Dunst entsteht und dadurch nicht nur Auge und Geruch beleidigt, sondern auch die Gesundheit der Bewohner aufs höchste gefährdet wird. Ist es zu verwundern, daß in solchen Lokalitäten alle Rücksichten auf Gesundheit, Sitten und selbst den gewöhnlichsten Anstand gänzlich vernachlässigt werden? Im Gegenteil, alle, die den Zustand der Bewohner näher kennen, werden Zeugnis geben, welchen hohen Grad Krankheit, Elend und Demoralisation hier erreicht haben. Die Gesellschaft ist in diesen Gegenden zu einer unbeschreiblich niedrigen und elenden Stufe herabgesunken. - Die Wohnungen der ärmeren Klasse sind im allgemeinen sehr schmutzig und augenscheinlich nie auf irgendeine Weise gereinigt; sie bestehen in den meisten Fällen aus einem einzigen Zimmer, das, bei der schlechtesten Ventilation, dennoch wegen zerbrochener, schlecht passender Fenster kalt ist - zuweilen feucht und teilweise unter der Erde, immer schlecht möbliert und durchaus unwohnlich, so daß ein Strohhaufen oft einer ganzen Familie zum Bette dient, auf dem Männer und Weiber, Junge und Alte in empörender Verwirrung durcheinanderliegen. Wasser ist nur bei den öffentlichen Pumpen zu haben, und die Mühe, mit der es herbeigeholt werden muß, begünstigt natürlich alle möglichen Unflätereien."
In andern großen Hafenstädten sieht es nicht besser aus. Liverpool mit all seinem Handel, Glanz und Reichtum behandelt dennoch seine Arbeiter mit derselben Barbarei. Ein volles Fünftel der Bevölkerung - also über 45000 Menschen wohnen in engen, dunklen, feuchten und schlecht ventilierten Kellern, deren es 7862 in der Stadt gibt. Dazu kommen noch 2270 Höfe (courts), d. h. kleine Plätze, die nach allen vier Seiten zugebaut sind und nur einen schmalen, meist überwölbten Zugang haben, die also gar keine Ventilation zulassen, meist sehr schmutzig und fast ausschließlich von Proletariern bewohnt sind. Von solchen Höfen werden wir mehr zu sprechen haben, wenn wir zu Manchester kommen. In Bristol wurden bei einer Gelegenheit 2800 Arbeiterfamilien besucht, und von diesen hatten 46 Prozent nur ein einziges Zimmer. Ganz dasselbe finden wir in den Fabrikstädten. In Nottingham sind im ganzen 11 000 Häuser, von denen zwischen 7000 und 8000 mit der Rückwand aneinander gebaut sind, so daß keine durchgehende Ventilation möglich ist; dazu ist meistens nur ein gemeinsamer Abtritt für mehrere Häuser vorhanden. Bei einer vor kurzem gehaltenen Inspektion fand man viele Reihen Häuser über seichte Abzugsgräben gebaut, die mit nichts weiter als den Brettern des Fußbodens bedeckt waren. In Leicester, Derby und Sheffield sieht es nicht anders aus. Von Birmingham berichtet der oben zitierte Artikel des „Artizan":
„In den älteren Teilen der Stadt sind viele schlechte Gegenden, schmutzig und vernachlässigt, voll stehender Pfützen und Haufen Abfalls. Die Höfe sind in Birmingham sehr zahlreich, über zweitausend, und enthalten die größte Zahl der Arbeiter
klasse. Sie sind meist eng, kotig, schlecht ventiliert und mit schlechten Abzügen, enthalten von acht bis zu zwanzig Häusern, die meist nur nach einer Seite hin zu lüften sind, weil sie die Rückwand mit einem andern Gebäude gemein haben, und im Hintergrunde des Hofs liegt ziemlich allgemein ein Aschenloch oder dergleichen, dessen Schmutz sich nicht beschreiben läßt. Es muß indes bemerkt werden, daß die neueren Höfe verständiger angelegt und anständiger gehalten sind; und selbst in den Höfen sind die Cottages viel weniger gedrängt als in Manchester und Liverpool, weshalb denn auch Birmingham während der Herrschaft epidemischer Krankheiten viel weniger Sterbefälle hatte als z. B. Wolverhampton, Dudley und Bilston, die nur einige Meilen davon liegen. Kellerwohnungen sind in Birmingham ebenfalls unbekannt, obwohl einige Kellerlokale ungeeigneterweise zu Werkstätten benutzt werden. Die Logierhäuser für Proletarier sind etwas zahlreich (über 400), hauptsächlich in Höfen im Mittelpunkte der Stadt; sie sind fast alle ekelhaft schmutzig und dumpfig, die Zufluchtsörter von Bettlern, Landstreichern" (trampers - über die nähere Bedeutung dieses Wortes später), „Dieben und Huren, die hier ohne alle Rücksicht auf Anstand oder Komfort essen, trinken, rauchen und schlafen, in einer nur diesen degradierten Menschen erträglichen Atmosphäre."
Glasgow bat in vieler Beziehung Ähnlichkeit mit Edinburgh - dieselben Wynds, dieselben hohen Häuser. Über diese Stadt bemerkt der „Artizan":
„Die arbeitende Klasse macht hier etwa 78 Prozent der ganzen Bevölkerung (an 300000) aus und wohnt in Stadtteilen, welche in Elend und Scheußlichkeit die niedrigsten Schlupfwinkel von St. Giles und Whitechapel, die Liberties von Dublin, die Wynds von Edinburgh übertreffen. Solche Gegenden gibt es in Menge im Herzen der Stadt — südlich vom Trongate, westlich vom Salzmarkt, im Calton, seitwärts von der Hochstraße usw. - endlose Labyrinthe enger Gassen oder Wynds, in welche fast bei jedem Schritt Höfe oder Sackgassen münden, die von alten, schlecht ventilierten, hochgetürmten, wasserlosen und verfallenden Häusern gebildet werden. Diese Häuser sind förmlich vollgedrängt von Einwohnern; sie enthalten drei oder vier Familien - vielleicht zwanzig Personen - auf jedem Stockwerke, und zuweilen ist jedes Stockwerk in Schlafstellen vermietet, so daß fünfzehn bis zwanzig Personen in einem einzigen Zimmer aufeinandergepackt, wir mögen nicht sagen untergebracht, sind. Diese Distrikte beherbergen die ärmsten, depraviertesten und wertlosesten Mitglieder der Bevölkerung und sind als die Quellen jener furchtbaren Fieberepidemien zu betrachten, die von hier aus Verwüstung über ganz Glasgow verbreiten."
Hören wir, wie J. C. Symons, Regierungskommissär bei der Untersuchung über die Lage der Handweber, diese Stadtteile beschreibt*:
* „Arts and Artisans at Home and Abroad" [Handwerke und Handwerker im Inund Ausland]. By J.C. Symons. Edinburgh 1839. - Der Verfasser, wie es scheint, selbst ein Schotte, ist ein Liberaler und folglich fanatisch gegen jede selbständige Arbeiterbewegung eingenommen. Die [.. J zitierten Stellen finden sich p. 116 u. folg.
„Ich habe das Elend in einigen seiner schlimmsten Phasen, sowohl hier als auf dem Kontinente, gesehen, aber ehe ich die Wynds von Glasgow besuchte, glaubte ich nicht, daß in irgendeinem zivilisierten Lande soviel Verbrechen, Elend und Krankheit existieren könne. In den niedrigeren Logierhäusern schlafen zehn, zwölf, ja zuweilen zwanzig Personen von beiden Geschlechtern und jedem Alter in verschiedenen Abstufungen der Nacktheit auf dem Fußboden durcheinander. Diese Wohnstätten sind gewöhnlich (generally) so schmutzig, feucht und verfallen, daß kein Mensch sein Pferd darin unterbringen möchte." Und an einer andern Stelle: „Die Wynds von Glasgow enthalten eine fluktuierende Bevölkerung von fünfzehnbis dreißigtausend Menschen. Dies Viertel besteht aus lauter engen Gassen und viereckigen Höfen, in deren Mitte jedesmal ein Misthaufen liegt. So empörend das äußere Ansehen dieser Orte war, so war ich doch noch wenig vorbereitet auf den Schmutz und das Elend drinnen. In einigen dieser Schlafstuben, die wir" (derPolizeisuperintendent Hauptmann Miller und Symons) „bei Nacht besuchten, fanden wir eine vollständige Schicht menschlicher Wesen auf dem Fußboden ausgestreckt, oft fünfzehn bis zwanzig, einige bekleidet, andre nackt, Männer und Weiber durcheinander. Ihr Bett war eine Lage modriges Stroh mit einigen Lumpen vermengt. Wenig oder keine Möbel waren da, und das einzige, was diesen Löchern etwas wohnlichen Anschein gab, war ein Feuer im Kamin. Diebstahl und Prostitution machen die Haupterwerbsquellen dieser Bevölkerung aus. Niemand schien sich die Mühe zu geben, diesen Augiasstall, dies Pandämonium, diesen Knäuel von Verbrechen, Schmutz und Pestilenz im Zentrum der zweiten Stadt des Reichs zu fegen. Eine ausgedehnte Besichtigung der niedrigsten Bezirke andrer Städte zeigte mir nie etwas, das halb so schlecht gewesen wäre, weder an Intensität moralischer und physischer Verpestung noch an verhältnismäßiger Dichtigkeit der Bevölkerung. - In diesem Viertel sind die meisten Häuser durch den Court of Guild als verfallen und unbewohnbar bezeichnet - aber gerade diese sind am meisten bewohnt, weil von ihnen nach dem Gesetz keine Miete gefordert werden kann." Der große Industriebezirk in der Mitte der britischen Insel, der dichtbevölkerte Strich von West-Yorkshire und Süd'Lcmcashire gibt mit seinen vielen Fabrikstädten den übrigen großen Städten nichts nach. Der Wollenbezirk des West Riding von Yorkshire ist eine reizende Gegend, ein schönes grünes Hügelland, dessen Erhöhungen nach Westen zu immer steiler werden, bis sie in dem schroffen Kamm von Blackstone Edge - der Wasserscheide zwischen dem irischen und deutschen Meere - ihre höchste Spitze erreichen. Die Täler des Aire, an dem Leeds liegt, und des Calder, durch welches die Manchester-Leeds-Eisenbahn läuft, gehören zu den anmutigsten Englands und sind überall mit Fabriken, Dörfern und Städten besäet; die bruchsteinernen, grauen Häuser sehen so nett und reinlich aus gegen die geschwärzten Ziegelgebäude von Lancashire, daß es eine Lust ist. Aber wenn man in die Städte
selbst kommt, findet man wenig Erfreuliches. Leeds liegt, wie der „Artizan" (a. a. 0.) es schildert und wie ich es bestätigt fand,
„an einem sanften Abhänge, der in das Tal des Aire hinabläuft. Dieser Fluß durchschlängelt die Stadt auf einer Länge von ungefähr anderthalb Meilen* und ist während des Tauwetters oder heftiger Regengüsse starken Überschwemmungen ausgesetzt. Die höhergelegenen, westlichen Stadtteile sind für eine so große Stadt reinlich, aber die niedrigeren Gegenden um den Fluß und seine tributären Bäche (becks) sind schmutzig, eng und schon an und für sich hinreichend, um das Leben der Einwohner besonders kleiner Kinder - zu verkürzen; hierzu noch gerechnet den ekelhaften Zustand der Arbeiterbezirke um Kirkgate, March Lane, Cross Street und Richmond Road, der sich hauptsächlich von ungepflasterten und abflußlosen Straßen, unregelmäßiger Bauart, den vielen Höfen und Sackgassen und der gänzlichen Abwesenheit auch der gewöhnlichsten Reinlichkeitsmittel herschreibt - das alles zusammengenommen, und wir haben Ursachen genug, um uns die übergroße Sterblichkeit in diesen unglücklichen Regionen des schmutzigsten Elends zu erklären. - Infolge der Überschwemmungen des Aire" (der, wie hinzugefügt werden muß, gleich allen der Industrie dienstbaren Flüssen am einen Ende klar und durchsichtig in die Stadt hineinund am andern dick, schwarz und stinkend von allem möglichen Unrat wieder herausfließt) „werden die Wohnhäuser und Keller häufig so voll Wasser, daß dies auf die Straße hinausgepumpt werden muß; und zu solchen Zeiten steigt das Wasser, selbst wo Kloaken sind, aus denselben in die Keller**, erzeugt miasmatische, stark mit Schwefelwasserstoffgas vermischte Ausdünstungen und hinterläßt einen ekelhaften, der Gesundheit höchst nachteiligen Rückstand. Während der Frühjahrsüberschwemmung von 1839 waren die Wirkungen einer solchen Verstopfung der Kloaken so nachteilig, daß nach dem Bericht des Zivilstandsregistrators in diesem Stadtteil während des Quartals auf zwei Geburten drei Todesfälle kamen, wo in demselben Quartal alle andren Stadtteile drei Geburten auf zwei Todesfälle hatten."
Andre dicht bevölkerte Bezirke sind ohne alle Abzüge oder so schlecht damit versehen, daß sie keinen Vorteil davon haben. In einigen Häuserreihen sind die Keller selten trocken; in andern Bezirken sind mehrere Straßen mit fußtiefem, weichem Kot bedeckt. Die Einwohner haben sich vergebens bemüht, diese Straßen von Zeit zu Zeit mit Schaufeln Asche zu reparieren; aber trotzdem stehen Mist jauche und aus den Häusern weggeschüttetes, schmutziges Wasser in allen Löchern, bis Wind und Sonne es vertrocknet haben (vgl. Bericht des Stadtrats im „Statistical Journal" vol. 2, p. 404).
* Überall, wo von Meilen ohne nähere Bezeichnung die Rede ist, sind englische gemeint, deren 69l/2 auf den Grad des Äquators und also etwa 5 auf die deutsche Meile gehen. ** Man vergesse nicht, daß diese „Keller" keine Rumpelkammern, sondern Wohnungen für Menschen sind.
Eine gewöhnliche Cottage in Leeds bedeckt nicht mehr Grundfläche als fünf Yards im Quadrat und besteht gewöhnlich aus einem Keller, einem Wohnzimmer und einer Schlafstube. Diese engen, Tag und Nacht von Menschen gefüllten Wohnungen sind ein anderer, der Sittlichkeit wie dem Gesundheitszustande der Einwohner gefährlicher Punkt. Und wie sehr diese Wohnungen gedrängt sind, erzählt der oben zitierte Bericht über den Gesundheitszustand der arbeitenden Klasse:
„ In Leeds fanden wir Brüder und Schwestern und Kostgänger beider Geschlechter, die dasselbe Schlafzimmer mit den Eltern teilten; daraus entstehen denn Folgen, vor deren Betrachtung das menschliche Gefühl zurückschaudert." Ebenso Bradford, das nur sieben Meilen von Leeds, im Mittelpunkte mehrerer zusammenstoßenden Täler an einem kleinen, pechschwarzen, stinkenden Flusse liegt. Die Stadt bietet an einem schönen Sonntage - denn an Werktagen wird sie von einer grauen Wolke Kohlenrauch verhüllt von den umliegenden Höhen einen prächtigen Anblick dar; aber drinnen herrscht derselbe Schmutz und dieselbe Unwohnlichkeit wie in Leeds. Die älteren Stadtteile sind an steilen Abhängen eng und unregelmäßig gebaut; in den Gassen, Sackgassen und Höfen liegt Schmutz und Schutt angehäuft; die Häuser sind verfallen, unsauber und unwohnlich, und in der unmittelbaren Nähe des Flusses und der Talsohle fand ich manche, deren unteres, halb in den Bergabhang hinein vergrabenes Stockwerk ganz unbewohnbar war. Überhaupt sind die Stellen der Talsohle, an denen sich Arbeiterwohnungen zwischen die hohen Fabriken gedrängt haben, die am schlechtesten gebauten und unreinlichsten der ganzen Stadt. In den neueren Gegenden dieser wie jeder andern Fabrikstadt sind die Cottages regelmäßiger, in Reihen angelegt, teilen aber auch hier alle Übelstände, die mit der hergebrachten Art, die Arbeiter unterzubringen, verknüpft sind und von denen wir bei Gelegenheit von Manchester näher sprechen werden. Ein Gleiches gilt von den übrigen Städten des West Riding, namentlich Barnsley, Halifax und Huddersfield. Letzteres, bei seiner reizenden Lage und modernen Bauart bei weitem die schönste aller Fabrikstädte von Yorkshire und Lancashire, hat dennoch auch seine schlechten Bezirke; denn ein von einer Bürger Versammlung zur Besichtigung der Stadt ernanntes Komitee berichtete am 5. August 1844:
„Es sei notorisch, daß in Huddersfield ganze Straßen und viele Gassen und Höfe weder gepflastert noch mit Kloaken oder sonstigen Abzügen versehen seien; daß hier Abfall, Unrat und Schmutz jeder Art aufgehäuft liege, in Gärung und Fäulnis übergehe, und fast überall stehendes Wasser in Pfützen sich ansammle, daß infolgedessen die anschließenden Wohnungen notwendig schlecht und schmutzig seien, so daß an
solchen Orten Krankheiten sich erzeugten und die Gesundheit der ganzen Stadt bedrohten." t84l
Gehen wir über, oder mit der Eisenbahn mitten durch Blackstone Edge, so kommen wir auf den klassischen Boden, auf dem die englische Industrie ihr Meisterwerk vollbracht hat und von dem alle Bewegungen der Arbeiter ausgehen, nach Sad-Lancashire mit seiner Zentralstadt Manchester. Wieder haben wir ein schönes Hügelland, das sich von der Wasserscheide westwärts nach dem irischen Meere zu sanft abdacht, mit den reizenden grünen Tälern des Ribble, Irwell und Mersey und ihrer Nebenflüsse; ein Land, das vor hundert Jahren noch zum größten Tede bloßer Sumpf und wenig bevölkert, jetzt mit Städten und Dörfern übersäet und der bevölkertste Landstrich von England ist. In Lancashire, und namentlich in Manchester, findet die Industrie des britischen Reichs, wie ihren Ausgangspunkt, so ihr Zentrum; die Börse von Manchester ist das Thermometer für alle Schwankungen des industriellen Verkehrs, die modferne Kunst der Fabrikation hat in Manchester ihre Vollendung erreicht. In der Baumwollenindustrie von SüdLancashire erscheint die Benutzung der Elementarkräfte, die Verdrängung der Handarbeit durch Maschinerie (besonders im mechanischen Webstuhl und der Selfaktor-Mule) und die Teilung der Arbeit auf ihrer höchsten Spitze, und wenn wir in diesen drei Elementen das Charakteristische der modernen Industrie erkannten, so müssen wir gestehen, daß auch in ihnen die Baumwollenverarbeitung allen übrigen Industriezweigen von Anfang an bis jetzt vorausgeblieben ist. Zu gleicher Zeit indes mußten hier auch die Folgen der modernen Industrie für die arbeitende Klasse sich am vollständigsten und reinsten entwickeln und das industrielle Proletariat in seiner vollsten Klassizität zur Erscheinung kommen; die Erniedrigung, in welche der Arbeiter durch die Anwendung von Dampfkraft, Maschinerie und Arbeitsteilung versetzt wird, und die Versuche des Proletariats, sich aus dieser entwürdigenden Lage zu erheben, mußten hier ebenfalls auf die höchste Spitze getrieben werden und am klarsten zum Bewußtsein kommen. Deshalb also, weil Manchester der klassische Typus der modernen Industriestadt ist, und dann auch, weil ich es so genau wie meine eigne Vaterstadt - genauer als die meisten Einwohner - kenne, werden wir uns hier etwas länger aufzuhalten haben. Die Städte um Manchester herum weichen in Beziehung auf die Arbeitsbezirke1 wenig von der Zentralstadt ab - nur daß in ihnen die Arbeiter womöglich einen noch größeren Teil der Bevölkerung bilden als dort. Diese Orte nämlich sind rein industriell und lassen alle kommerziellen Geschäfte
1 (1892) Arbeiterbezirke
18 M*rx/Eng«U, Werl», Bd. 2
in und durch Manchester besorgen; sie hängen in jeder Beziehung von Manchester ab und sind daher nur von Arbeitern, Fabrikanten und untergeordneten Krämern bewohnt - während Manchester doch noch eine sehr bedeutende kommerzielle Bevölkerung, namentlich Kommissions- und angesehene Detailhäuser besitzt. Daher sind Bolton, Preston, Wigan, Bury, Rochdale, Middleton, Heywood, Oldham, Ashton, Stalybridge, Stockport usw., obwohl fast alles Städte von dreißig-, fünfzig-, siebzig- bis neunzigtausend Einwohnern, fast lauter große Arbeiterviertel, nur von Fabriken und einigen Hauptstraßen, deren Fronten von Läden gebildet werden, unterbrochen und mit einigen Chausseezugängen versehen, an denen die Gärten und Häuser der Fabrikanten wie Villen angebaut sind. Die Städte selbst sind schlecht und unregelmäßig gebaut, mit schmutzigen Höfen, Gassen und Hintergäßchen, voll Kohlenrauch, und haben ein besonders unwohnliches Aussehen von dem ursprünglich hochroten, mit der Zeit aber schwarz gerauchten Ziegel, der hier das allgemeine Baumaterial ist. Kellerwohnungen sind hier allgemein; wo es irgend angeht, werden diese unterirdischen Löcher angelegt, und ein sehr bedeutender Teil der Bevölkerung wohnt in ihnen. Zu den schlechtesten dieser Städte gehört nächst Preston und Oldham Bolton, elf Meilen nordwestlich von Manchester gelegen. Es hat, soviel ich bei meiner mehrmaligen Anwesenheit bemerken konnte, nur eine und noch dazu ziemlich schmutzige Hauptstraße, Deansgate, die zugleich als Markt dient, und ist bei dem schönsten Wetter immer noch ein finsteres, unansehnliches Loch, trotzdem daß es außer den Fabriken nur ein- und zweistöckige niedrige Häuser hat. Wie überall ist der ältere Teil der Stadt besonders verfallen und unwohnlich. Ein schwarzes Wasser, von dem man zweifelt, ob es ein Bach oder eine lange Reihe stinkender Pfützen ist, fließt hindurch und trägt das Seinige dazu bei, die ohnehin nicht reine Luft vollends zu verpesten. Da ist ferner Stockport, das zwar auf der Cheshire-Seite des Mersey liegt, aber doch zum industriellen Bezirk von Manchester gehört. Es liegt in einem engen Tal den Mersey entlang, so daß auf der einen Seite die Straße steil bergab und auf der andern ebenso steil wieder bergauf führt und die Eisenbahn von Manchester nach Birmingham auf einem hohen Viadukt über die Stadt und das ganze Tal hinweggeht. Stockport ist im ganzen Bezirk als eins der finstersten und räucherigsten Nester bekannt und sieht in der Tat, besonders vom Viadukt herab, äußerst unfreundlich aus. Aber noch viel unfreundlicher sehen die Cottages und Kellerwohnungen der Proletarier aus, die in langen Reihen sich durch alle Teile der Stadt von der Talsohle bis auf die Krone der Hügel hinziehen. Ich erinnere mich nicht, in irgend
einer andern Stadt dieses Bezirks verhältnismäßig so viele bewohnte Keller gesehen zu haben. Wenige Meilen nordöstlich von Stockport liegt Ashton-under-Lyne, einer der neuesten Fabrikorte der Gegend. Es liegt am Abhänge eines Hügels, an dessen Fuß der Kanal und der Fluß Tarne sich hinziehen, und ist im allgemeinen nach dem neueren, regelmäßigeren System gebaut. Fünf oder sechs lange Parallelstraßen ziehen sich quer den Hügel entlang und werden rechtwinklig von andern, ins Tal hinabführenden Straßen durchschnitten. Die Fabriken werden durch diese Bauart alle aus der eigentlichen Stadt heraus verdrängt, auch wenn nicht die Nähe des Wassers und der Wasserstraße sie sämtlich unten ins Tal hinabgezogen hätte, wo sie dicht zusammengedrängt stehen und aus ihren Schornsteinen dicken Rauch ergießen. Dadurch bekommt Ashton ein viel freundlicheres Aussehen als die meisten andern Fabrikstädte; die Straßen sind breit und reinlicher, die Cottages sehen neu, frischrot und wohnlich aus. Aber das neue System, Cottages für die Arbeiter zu bauen, hat auch seine schlechten Seiten; jede Straße hat ihre versteckte Hintergasse, zu der ein enger Seitenweg führt und die dafür desto schmutziger ist. Und auch in Ashton - obwohl ich kein Gebäude, außer einigen am Eingang, gesehen habe, das mehr als fünfzig Jahre alt sein könnteauch in Ashton gibt es Straßen, in denen die Cottages schlecht und alt werden, in deren Mauerecken die Ziegel nicht mehr halten wollen und sich verschieben, in denen die Wände rissig werden und den inwendig aufgeweißten Kalk abbröckeln lassen; Straßen, deren unreinliches und schwarzgeräuchertes Aussehen den übrigen Städten des Bezirks nichts nachgibt - nur daß dies in Ashton Ausnahme und nicht Regel ist. Eine Meile weiter östlich liegt Stalybridge, ebenfalls am Tarne. Wenn man von Ashton über den Berg kommt, hat man oben auf der Spitze rechts und links schöne, große Gärten mit villenartigen, prächtigen Häusern in der Mitte — meist im „elisabetheischen" Stil gebaut, der sich zum gotischen genauso verhält wie die protestantisch-anglikanische Religion zur apostolischrömisch-katholischen. Einhundert Schritte weiter, und Stalybridge zeigt sich im Tal - aber ein schroffer Gegensatz gegen die prächtigen Landsitze, schroff sogar noch gegen die bescheidenen Cottages von Ashton 1 Stalybridge liegt in einer engen, gewundenen Talschlucht, noch viel enger als das Tal bei Stockport, deren beide Abhänge mit einem unordentlichen Gewirre von Cottages, Häusern und Fabriken besetzt sind. Wenn man hineingeht, so sind gleich die ersten Cottages eng, räucherig, alt und verfallen, und wie die ersten Häuser, so die ganze Stadt. Wenige Straßen liegen in der schmalen Talsohle; die meisten laufen kreuz und quer durcheinander, bergauf und
bergab, fast in allen Häusern ist wegen dieser abschüssigen Lage das Erdgeschoß halb in die Erde vergraben, und welche Massen von Höfen, Hintergassen und abgelegenen Winkeln aus dieser konfusen Bauart entstehen, kann man von den Bergen sehen, von denen aus man die Stadt hier und da fast in der Vogelperspektive unter sich hat. Dazu den entsetzlichen Schmutz gerechnet - und man begreift den widerlichen Eindruck, den Stalybridge trotz seiner hübschen Umgebung macht. Doch genug über diese kleineren Städte. Sie haben alle ihr Apartes, aber im ganzen leben die Arbeiter in ihnen gerade wie in Manchester; darum habe ich auch nur ihre eigentümliche Bauart besonders geschildert und bemerke nur, daß alle allgemeineren Bemerkungen über den Zustand der Arbeiterwohnungen in Manchester auch auf die umhegenden Städte ihre volle Anwendung finden. Gehen wir nun zur Zentralstadt selbst über. Manchester liegt am Fuße des südlichen Abhangs einer Hügelkette, die sich von Oldham her zwischen die Täler des Irwell und des Medlock drängt und deren letzte Spitze Kersall-Moor, die Rennbahn und zugleich der Möns sacer1 von Manchester1851, bildet. Das eigentliche Manchester liegt auf dem linken Ufer des Irwell, zwischen diesem Flusse und den beiden kleineren, Irk und Medlock, die sich hier in den Irwell ergießen. Auf dem rechten Irwellufer und eingefaßt von einer starken Biegung dieses Flusses, liegt Salford, weiter westlich Pendieton; nördlich vom Irwell liegen Higher und Lower Broughton, nördlich vom Irk Cheetham Hill; südlich vom Medlock liegt Hulme, weiter östlich Chorlton-on-Medlock, noch weiter, ziemlich im Osten von Manchester, Ardwick• Der ganze Häuserkomplex wird im gewöhnlichen Leben Manchester genannt und faßt eher über als unter viermaihunderttausend Menschen. Die Stadt selbst ist eigentümlich gebaut, so daß man jahrelang in ihr wohnen und täglich hinein- und herausgehen kann, ohne je in ein Arbeiterviertel oder nur mit Arbeitern in Berührung zu kommen solange man nämlich eben nur seinen Geschäften nach- oder spazierengeht. Das kommt aber hauptsächlich daher, daß durch unbewußte, stillschweigende Übereinkunft wie durch bewußte ausgesprochene Absicht die Arbeiterbezirke von den der Mittelklasse überlassenen Stadtteilen aufs schärfste getrennt oder, wo dies nicht geht, mit dem Mantel der Liebe verhüllt werden. Manchester enthält in seinem Zentrum einen ziemlich ausgedehnten kommerziellen Bezirk, etwa eine halbe Meile lang und ebenso breit, der fast nur aus Kontoren und Warenlagern (warehouses) besteht. Fast der ganze Bezirk ist unbewohnt und während der Nacht einsam und öde - nur wacht
1 heilige Berg


habende Pohzeidiener streichen mit ihren Blendlaternen durch clie engen, dunklen Gassen. Diese Gegend wird von einigen Hauptstraßen durchschnitten, auf denen sich der ungeheure Verkehr drängt und in denen die Erdgeschosse mit brillanten Läden besetzt sind; in diesen Straßen finden sich hier und da bewohnte Oberräume, und hier ist auch bis spät abends ziemlich viel Leben auf der Straße. Mit Ausnahme dieses kommerziellen Distrikts ist das ganze eigentliche Manchester, ganz Salford und Hulme, ein bedeutender Teil von Pendieton und Chorlton, zwei Drittel von Ardwick und einzelne Striche von Cheetham Hill und Broughton - alles lauter Arbeiterbezirk, der sich wie ein durchschnittlich anderthalb Meilen breiter Gürtel um das kommerzielle Viertel zieht. Draußen, jenseits dieses Gürtels, wohnt die höhere und mittlere Bourgeoisie - die mittlere in regelmäßigen Straßen in der Nähe der Arbeiterviertel, namentlich in Chorlton und den tieferliegenden Gegenden von Cheetham Hill, die höhere in den entfernteren villenartigen Gartenhäusern von Chorlton und Ardwick oder auf den luftigen Höhen von Cheetham Hill, Broughton und Pendieton - in einer freien, gesunden Landluft, in prächtigen, bequemen Wohnungen, an denen halbstündlich oder viertelstündlich die nach der Stadt fahrenden Omnibusse vorbeikommen. Und das schönste bei der Sache ist, daß diese reichen Geldaristokraten mitten durch die sämtlichen Arbeiterviertel auf dem nächsten Wege nach ihren Geschäftslokalen in der Mitte der Stadt kommen können, ohne auch nur zu merken, daß sie in die Nähe des schmutzigsten Elends geraten, das rechts und links zu finden ist. Die Hauptstraßen nämlich, die von der Börse nach allen Richtungen aus der Stadt hinausführen, sind an beiden Seiten mit einer fast ununterbrochenen Reihe von Läden besetzt und so in den Händen der mittleren und kleineren Bourgeoisie, die schon um ihres Vorteils willen auf anständigeres und reinliches Aussehen hält und halten kann. Allerdings haben diese Läden immerhin einige Verwandtschaft mit den Distrikten, die hinter ihnen liegen, sind also im kommerziellen Viertel und der Nähe der Bourgeoisiebezirke eleganter als da, wo sie schmutzige Arbeitercottages verdecken; aber sie sind immerhin hinreichend, um vor den Augen der reichen Herren und Damen mit starkem Magen und schwachen Nerven das Elend und den Schmutz zu verbergen, die das ergänzende Moment zu ihrem Reichtum und Luxus bilden. So ist z. B. Deansgate, das von der alten Kirche in gerader Richtung nach Süden führt, anfangs mit Warenlagern und Fabriken, dann mit Läden zweiten Ranges und einigen Bierhäusern, weiter südlich, wo es das kommerzielle Viertel verläßt, mit unansehnlicheren Läden, die, je weiter man kommt, desto schmutziger und mehr und mehr von Schenken und Schnapshäusern unterbrochen werden, bebaut, bis am südlichen Ende das
Aussehen der Läden keinen Zweifel darüber läßt, daß Arbeiter und nur Arbeiter ihre Kunden sind. So Market Street, von der Börse südöstlich laufend; anfangs brillante Läden ersten Ranges und in den höheren Stockwerken Kontore und Warenlager; weiterhin in der Fortsetzung (Piccadilly) kolossale Hotels und Warenlager; in der weiteren Fortsetzung (London Road) in der Gegend des Medlock Fabriken, Schenken, Läden für niedere Bourgeoisie und Arbeiter, dann an Ardwick Green Wohnungen für höhere und mittlere Bourgeoisie, und von da an große Gärten und Landhäuser für die reicheren Fabrikanten und Kaufleute. Auf diese Weise kann man wohl, wenn man Manchester kennt, von den Hauptstraßen aus auf die anschließenden Bezirke schließen, aber man ist sehr selten imstande, von ihnen aus die wirk~ liehen Arbeiterbezirke selbst zu Gesicht zu bekommen. Ich weiß sehr wohl, daß diese heuchlerische Bauart mehr oder weniger allen großen Städten gemein ist; ich weiß ebenfalls, daß die Detailhändler schon wegen der Natur ihres Geschäfts die großen durchführenden Straßen für sich in Beschlag nehmen müssen; ich weiß, daß man überall an solchen Straßen mehr gute als schlechte Häuser hat und daß in ihrer Nähe der Grundwert höher ist als in abgelegenen Gegenden; aber ich habe zugleich eine so systematische Absperrung der Arbeiterklasse von den Hauptstraßen, eine so zartfühlende Verhüllung alles dessen, was das Auge und die Nerven der Bourgeoisie beleidigen könnte, nirgends gefunden als in Manchester. Und doch ist gerade Manchester sonst weniger planmäßig oder nach Polizeivorschriften und dagegen mehr durch den Zufall gebaut als irgendeine andre Stadt; und wenn ich die eifrigen Beteuerungen der Mittelklasse, daß es den Arbeitern ganz vortrefflich gehe, dabei erwäge, so will es mich doch dünken, als seien die liberalen Fabrikanten, die „big whigs" von Manchester, nicht so ganz unschuldig an dieser schamhaften Bauart. Ich erwähne noch eben, daß die Fabrikanlagen sich fast alle dem Lauf der drei Flüsse oder der verschiedenen Kanäle, die sich durch die Stadt verzweigen, anschließen, und gehe dann zur Schilderung der Arbeiterbezirke selbst über. Da ist zuerst die Altstadt von Manchester, die zwischen der Nordgrenze des kommerziellen Viertels und dem Irk liegt. Hier sind die Straßen, selbst die besseren, eng und krumm - wie Todd Street, Long Millgate, Withy Grove und Shude Hill die Häuser schmutzig, alt und baufällig und die Bauart der Nebenstraßen vollends abscheulich. Wenn man von der alten Kirche in Long Millgate hineingeht, so hat man gleich rechts eine Reihe altmodischer Häuser, an denen keine einzige Frontmauer senkrecht geblieben ist; es sind die Reste des alten, vorindustriellen Manchester, deren frühere Einwohner sich mit ihren Nachkommen in besser gebaute
Bezirke gezogen und die Häuser, die ihnen zu schlecht waren, einer stark mit irischem Blut vermischten Arbeiterrasse überlassen haben. Man ist hier wirklich in einem fast unverhüllten Arbeiterviertel, denn selbst die Läden und Kneipen der Straße nehmen sich nicht die Mühe, etwas reinlich auszusehen. Aber das ist all noch nichts gegen die Gassen und Höfe, die dahinter liegen und zu denen man nur durch enge, überbaute Zugänge gelangt, in denen keine zwei Menschen aneinander vorbei können. Von der unordentlichen, aller vernünftigen Baukunst hohnsprechenden Zusammenwürfelung der Häuser, von der Gedrängtheit, mit der sie hier förmlich aneinandergepackt sind, kann man sich keine Vorstellung machen. Und es sind nicht nur die aus der alten Zeit Manchesters hinterlassenen Gebäude, die dieSchuld davon tragen; die Verwirrung ist in neuerer Zeit erst auf die Spitze getrieben worden, indem überall, wo die ganze Bauart der früheren Epoche noch ein Fleckchen Raum ließ, später nach- ^ gebaut und angeflickt wurde, bis endlich zwischen den Häusern kein
ganzen Altstadt. Diese Zeichnung wird hinreichen, um die wahnsinnige Bauart des ganzen Bezirks, namentlich des in der Nähe des Irk, zu charakterisieren. Das Ufer des Irk ist hier auf der Südseite sehr steil und zwischen fünfzehn und dreißig Fuß hoch; an diese abschüssige Bergwand sind meist noch drei Reihen Häuser hingepflanzt, deren niedrigste sich unmittelbar aus dem Flusse erhebt, während die Vorderwand der höchsten auf dem Niveau der Hügelkrone in Long Millgate steht. Dazwischen stehen noch Fabriken am Flusse kurz die Bauart ist hier ebenso eng und unordentlich wie im unteren Teil von Long Millgate. Rechts und links führen eine Menge überbauter Zugänge von der Hauptstraße in die vielen Höfe ab, und wenn man hineingeht, so gerät man in einen Schmutz und eine ekelhafte Unsauberkeit, die ihresgleichen nicht hat - namentlich in den Höfen, die nach dem Irk hinabführen und die unbedingt die scheußlichsten Wohnungen enthalten, welche mir bis jetzt vorgekommen sind. In einem dieser Höfe steht gleich am Eingange, wo der bedeckte Gang aufhört, ein Abtritt, der keine Tür hat und so schmutzig ist, daß die Einwohner nur durch eine stagnierende Pfütze von
Zoll breit Platz blieb, der sich noch hätte verbauen lassen. Zur Bestätigung zeichne ich ein kleines Fleckchen aus dem Plane von Manchester hier ab - es ist nicht das schlimmste Stück und nicht der zehnte Teil der
faulem Urin und Exkrementen, die i'nn umgibt, in den Hof oder heraus können; es ist der erste Hof am Irk oberhalb Ducie Bridge, wenn jemand Lust haben sollte, nachzusehen; unten am Flusse stehen mehrere Gerbereien, die die ganze Umgegend mit animalischem Verwesungsgeruch erfüllen. In die Höfe unterhalb Ducie Bridge steigt man meist auf engen, schmutzigen Treppen hinab und gelangt nur über Haufen von Schutt und Unrat an die Häuser. Der erste Hof unterhalb Ducie Bridge heißt Ällen's Court und war zur Cholerazeit in einem solchen Zustande, daß die Gesundheitspolizei ihn ausräumen, fegen und mit Chlor ausräuchern ließ; Dr. Kay gibt in einer Broschüre* eine schreckenerregende Beschreibung von der damaligen Lage dieses Hofes. Seitdem scheint er teilweise abgebrochen und neu erbaut worden zu sein - von Ducie Bridge herab sieht man wenigstens noch mehrere Mauerruinen und hohe Schutthaufen neben einigen Häusern neueren Baues. Die Aussicht von dieser Brücke - zartfühlenderweise von einer mannshohen gemauerten Brustwehr den kleineren Sterblichen verhüllt - ist überhaupt charakteristisch für den ganzen Bezirk. In der Tiefe fließt oder vielmehr stagniert der Irk, ein schmaler, pechschwarzer, stinkender Fluß, voll Unrat und Abfall, den er ans rechte, flachere Ufer anspült; bei trocknem Wetter bleibt an diesem Ufer eine lange Reihe der ekelhaftesten schwarzgrünen Schlammpfützen stehen, aus deren Tiefe fortwährend Blasen miasmatischer Gase aufsteigen und einen Geruch entwickeln, der selbst oben auf der Brücke, vierzig oder fünfzig Fuß über dem Wasserspiegel, noch unerträglich ist. Der Fluß selbst wird dazu noch alle fingerlang durch hohe Wehre aufgehalten, hinter denen sich der Schlamm und Abfall in dicken Massen absetzt und verfault. Oberhalb der Brücke stehen hohe Gerbereien, weiter hinauf Färbereien, Knochenmühlen und Gaswerke, deren Abflüsse und Abfälle samt und sonders in den Irk wandern, der außerdem noch den Inhalt der anschießenden Kloaken und Abtritte aufnimmt. Man kann sich also denken, welcher Beschaffenheit die Residuen sind, die der Fluß hinterläßt. Unterhalb der Brücke sieht man in die Schutthaufen, den Unrat, Schmutz und Verfall der Höfe auf dem linken, steilen Ufer; ein Haus steht immer dicht hinter dem andern, und wegen der Steigerung des Ufers sieht man von jedem ein Stück - alle schwarzgeraucht, bröckelig, alt, mit zerbrochnen Fensterscheiben und Fensterrahmen. Den Hintergrund bilden kasernenartige, alte
* „The Moral and Physical Condition of the Wcrking Classes, employed in the Cotton Manufacture in Manchester" [Die sittliche und physische Lage der in der Baumwollfabrikation in Manchester beschäftigten arbeitenden Klassen]. By James Ph.Kay, Dr. Med. 2nd edit. 1832. - Verwechselt die Arbeiterklasse im allgemeinen mit der Fabrikarbeiterklasse, sonst vortrefflich.
Fabrikgebäude. Auf dem rechten, flacheren Ufer steht eine lange Reihe Häuser und Fabriken - gleich das zweite Haus ist eine Ruine ohne Dach, mit Schutt angefüllt, und das dritte steht so niedrig, daß das unterste Stockwerk unbewohnbar und infolgedessen ohne Fenster und Türen ist. Den Hintergrund bildet hier der Armenkirchhof, die Bahnhöfe der Liverpooler und Leedser Eisenbahnen und dahinter das Arbeitshaus, die „ArmengesetzBastille" von Manchester, das wie eine Zitadelle von einem Hügel hinter hohen Mauern und Zinnen drohend auf das gegenüberliegende Arbeiterviertel herabschaut. Oberhalb Ducie Bridge wird das linke Ufer flacher und das rechte dagegen steiler, der Zustand der Wohnungen auf beiden Seiten des Irk indessen eher schlimmer als besser. Wenn man hier von der Hauptstraße noch immer Long Millgate - links abgeht, so ist man verloren; man gerät aus einem Hof in den andern, das geht um lauter Ecken, durch lauter enge, schmutzige Winkel und Gänge, bis man nach wenig Minuten alle Richtung verloren hat und gar nicht mehr weiß, wohin man sich wenden soll. Überall halb oder ganz verfallene Gebäude-einzelne sind wirklich unbewohnt, und das will hier' viel heißen - in den Häusern selten ein bretterner oder steinerner Fußboden, dagegen fast immer zerbrochene, schlecht passende Fenster und Türen, und ein Schmutz! - Schutthaufen, Abfall und Unflat überall; stehende Pfützen statt der Rinnsteine, und ein Geruch, der es allein jedem einigermaßen zivilisierten Menschen unerträglich machen würde, in einem solchen Distrikt zu wohnen. Die neuerbaute Verlängerung der Leedser Eisenbahn, welche hier den Irk überschreitet, hat einen Teil dieser Höfe und Gäßchen weggefegt, dagegen andre wieder erst recht dem Blicke offengelegt. So ist unmittelbar unterhalb der Eisenbahnbrücke ein Hof, der an Schmutz und Scheußlichkeit alle andern weit übertrifft, eben weil er bisher so abgeschlossen, so zurückgezogen war, daß man nur mit Mühe hineingelangen konnte; ich selbst hätte ihn ohne die durch den Eisenbahnviadukt geschaffne Lücke nie gefunden, obwohl ich diese ganze Gegend genau zu kennen glaubte. Man gelangt über ein holpriges Ufer, zwischen Pfählen und Waschleinen hindurch in dies Chaos kleiner, einstöckiger und einstubiger Hütten, von denen die meisten ohne allen künstlichen Fußboden sind Küche, Wohn- und Schlafzimmer, alles vereinigt. In einem solchen Loche, das kaum sechs Fuß lang und fünf breit war, sah ich zwei Betten - und was für Bettstellen und Betten - die nebst einer Treppe und einem Herd gerade hinreichten, um das ganze Zimmer zu füllen. In mehreren andern sah ich gar nichts, obwohl die Tür weit offenstand und die Einwohner an ihr lehnten. Vor den Türen überall Schutt und Unrat; daß eine Art von Pflaster darunter
sei, war nicht zu sehen, sondern bloß hie und da mit den Füßen herauszufühlen. Der ganze Haufen menschenbewohnter Viehställe war auf zwei Seiten von Häusern und einer Fabrik, auf der dritten vom Fluß begrenzt, und außer dem schmalen Ufersteig führte nur noch ein enger Torweg hinaus - in ein andres, fast ebenso schlecht gebautes und gehaltenes Labyrinth von Wohnungen. Genug davon! In dieser Weise ist die ganze Irkseite bebaut, ein planlos zusammengewürfeltes Chaos von Häusern, die der Unbewohnbarkeit mehr oder weniger nahestehen und deren unreinliches Innere der unflätigen Umgebung vollkommen entspricht. Wie sollen die Leute auch reinlich sein! Nicht einmal für die Befriedigung der allernatürlichsten und alltäglichsten Bedürfnisse gibt es geeignete Gelegenheit. Die Abtritte sind hier so rar, daß sie entweder alle Tage voll werden oder den meisten zu entlegen sind. Wie sollten sich die Leute waschen, wo sie nur das schmutzige Irkwasser nahebei haben und Wasserleitungen und Pumpen erst in honetten Stadtteilen vorkommen! Wahrhaftig, man kann es diesen Heloten der modernen Gesellschaft nicht zurechnen, wenn ihre Wohnungen nicht reinlicher sind als die Schweineställe, die hier und da mitten dazwischen stehen! Schämen sich doch die Hausbesitzer nicht, Wohnungen zu vermieten wie die sechs oder sieben Keller am Kai, gleich unterhalb Scotland Bridge, deren Fußboden mindestens zwei Fuß unter dem Wasserspiegel - bei niedrigem Wasser — des nicht sechs Fuß davon fließenden Irk liegt, oder wie das obere Stock im Eckhaus auf dem entgegengesetzten Ufer gleich oberhalb der Brücke, dessen Erdgeschoß unbewohnbar, ohne alle Ausfüllung für Tür- und Fensterlöcher - doch das ist ja ein Fall, der in dieser ganzen Gegend nicht selten vorkommt, wobei dann gewöhnlich dies offene untere Stockwerk von der ganzen Nachbarschaft aus Mangel an andern Lokalitäten als Abtritt benutzt wird! Verlassen wir den Irk, um auf der entgegengesetzten Seite von Long Millgate wieder in die Mitte der Arbeiterwohnungen zu dringen, so kommen wir in ein etwas neueres Viertel, das sich von der St.-Michaelis-Kirche bis Withy Grove und Shude Hill erstreckt. Hier ist wenigstens etwas mehr Ordnung; statt der chaotischen Bauart finden wir hier wenigstens lange, gerade Gassen und Sackgassen oder absichtlich gebaute, meist viereckige Höfe; aber wenn früher jedes einzelne Haus, so ist hier wenigstens jede Gasse und jeder Hof willkürlich und ohne alle Rücksicht auf die Lage der übrigen angebaut. Bald läuft eine Gasse in dieser, bald in jener Richtung, alle fingerlang gerät man in einen Sack oder um eine zugebaute Ecke, die gerade wieder dahin führt, von wo man ausgegangen ist - wer nicht in diesem Labyrinth eine gute Zeit lang gewohnt hat, findet sich gewiß nicht hindurch. Die
Ventilation der Straßen - wenn ich das Wort von diesem Distrikt gebrauchen darf - und Höfe wird dadurch ebenso unvollkommen wie die der Irkgegend; und wenn dennoch dieser Bezirk etwas vor dem Irktale voraus haben sollte die Häuser sind allerdings neuer, die Straßen haben wenigstens zuweilen Rinnsteine so hat er dagegen auch wieder fast unter jedem Hause eine Kellerwohnung, was sich im Irktale eben wegen des größeren Alters und der nachlässigeren Bauart der Häuser selten findet. Im übrigen ist der Schmutz, die Schutt- und Aschenhaufen, die Pfützen auf den Straßen beiden Vierteln gemeinsam, und in dem Distrikt, von dem wir jetzt reden, finden wir außerdem noch einen andern Umstand, der für die Reinlichkeit der Einwohner sehr nachteilig ist, nämlich die Masse Schweine, die hier überall auf den Gassen umherspazieren, den Unrat durchschnüffeln oder in den Höfen in kleinen Ställen eingesperrt sind. Die Schweinemäster mieten sich hier, wie in den meisten Arbeiterbezirken von Manchester, die Höfe und setzen Schweineställe hinein; fast in jedem Hofe ist ein solcher abgesperrter Winkel oder gar mehrere, in welche die Bewohner des Hofs allen Abfall und Unrat hineinwerfen - dabei werden die Schweine fett, und die ohnehin in diesen nach allen vier Seiten verbauten Höfen eingesperrte Luft vollends schlecht von den verwesenden vegetabilischen und animalischen Stoffen. Man hat durch diesen Bezirk eine breite, ziemlich honette Straße - Millers Street gebrochen und den Hintergrund mit ziemlichem Erfolge verdeckt; wenn man sich aher von der Neugier in einen der zahlreichen Gänge, die in die Höfe führen, verleiten läßt, so kann man diese buchstäbliche Schweinerei alle zwanzig Schritt wiederholt sehen. Das ist die Altstadt von Manchester - und wenn ich meine Schilderung noch einmal durchlese, so muß ich bekennen, daß sie, statt übertrieben zu sein, noch lange nicht grell genug ist, um den Schmutz, die Verkommenheit und Unwohnlichkeit, die allen Rücksichten auf Reinlichkeit, Ventilation und Gesundheit hohnsprechende Bauart dieses mindestens zwanzig- bis dreißigtausend Einwohner fassenden Bezirks anschaulich zu machen. Und ein solches Viertel existiert im Zentrum der zweiten Stadt Englands, der ersten Fabrikstadt der Welt! Wenn man sehen will, wie wenig Raum der Mensch zum Bewegen, wie wenig Luft - und welche Luft! - er zum Atmen im Notfall zu haben braucht, mit wie wenig Zivilisation er existieren kann, dann hat man nur hieher zu kommen. Es ist freilich die /Igstadt - und darauf berufen sich die Leute hier, wenn man ihnen von dem scheußlichen Zustande dieser Hölle auf Erden spricht -, aber was will das sagen? Alles, was unsren Abscheu und unsre Indignation hier am heftigsten erregt, ist neueren Ursprungs, gehört der industriellen Epoche an. Die paar hundert Häuser, die
dem alten Manchester angehören, sind von ihren ursprünglichen Bewohnern längst verlassen; nur die Industrie hat sie mit den Scharen von Arbeitern vollgepfropft, die jetzt in ihnen beherbergt werden; nur die Industrie hat jedes Fleckchen zwischen diesen alten Häusern verbaut, um Obdach zu gewinnen für die Massen, die sie sich aus den Ackerbaugegenden und aus Irland verschrieb; nur die Industrie gestattet es den Besitzern dieser Viehställe, sie an Menschen für hohe Miete zur Wohnung zu überlassen, die Armut der Arbeiter auszubeuten, die Gesundheit von Tausenden zu untergraben, damit nur sie sich bereichern; nur die Industrie hat es möglich gemacht, daß der kaum aus der Leibeigenschaft befreite Arbeiter wieder als ein bloßes Material, als Sache gebraucht werden konnte, daß er sich in eine Wohnung sperren lassen muß, die jedem andern zu schlecht und die er nun für sein teures Geld das Recht hat vollends verfallen zu lassen. Das hat nur die Industrie getan, die ohne diese Arbeiter, ohne die Armut und Knechtschaft dieser Arbeiter nicht hätte leben können. Es ist wahr, die ursprüngliche Anlage dieses Viertels war schlecht, man konnte nicht viel Gutes daraus machen - aber haben die Grundbesitzer, hat die Verwaltung etwas getan, um das beim Nachbau zu verbessern? Im Gegenteil, wo noch ein Winkelchen frei war, ist ein Haus hingesetzt, wo noch ein überflüssiger Ausgang, ist er zugebaut worden; der Grundwert stieg mit dem Aufblühen der Industrie, und je mehr er stieg, desto toller wurde darauf losgebaut, ohne Rücksicht auf die Gesundheit und Bequemlichkeit der Einwohner - es ist keine Baracke so schlecht, es findet sich immer ein Armer, der keine bessere bezahlen kann —, nur mit Rücksicht auf den größtmöglichen Gewinn. Doch es ist einmal die Altstadt, und damit beruhigt sich die Bourgeoisie; sehen wir denn, wie die Neustadt (the New Town) sich anläßt. Die Neustadt, auch die Irische Stadt (the IrishTown) genannt, zieht sich jenseits der Altstadt einen Lehmhügel zwischen dem Irk und St. George's Road hinauf. Hier hört alles städtische Aussehen auf; einzelne Reihen Häuser oder Straßenkomplexe stehen wie kleine Dörfer hier und da auf dem nackten, nicht einmal mit Gras bewachsenen Lehmboden; die Häuser oder vielmehr Cottages sind in schlechtem Zustande, nie repariert, schmutzig, mit feuchten und unreinen Kellerwohnungen versehen; die Gassen sind weder gepflastert noch haben sie Abzüge, dagegen zahlreiche Kolonien von Schweinen, die in kleinen Höfen und Ställen abgesperrt sind oder ungeniert an der Halde spazierengehn. Der Kot auf den Wegen ist hier so groß, daß man nur bei äußerst trocknem Wetter Aussicht hat durchzukommen, ohne bei jedem Schritt bis über die Knöchel zu versinken. In der Nähe von St. George's Road schließen sich die einzelnen bebauten Flecken dichter aneinander, man
gerät in eine fortlaufende Reihe Gassen, Sackgassen, Hintergassen und Höfe, die je gedrängter und unordentlicher werden, je näher man dem Zentrum der Stadt kommt. Dafür sind sie freilich auch öfter gepflastert oder wenigstens mit gepflasterten Fußwegen und Rinnsteinen versehen; der Schmutz, die schlechte Beschaffenheit der Häuser und besonders der Keller bleibt aber derselbe. Es wird am Orte sein, hier einige allgemeine Bemerkungen über die in Manchester übliche Bauart der Arbeiterviertel zu machen. Wir haben gesehen, wie in der Altstadt meist der reine Zufall über die Gruppierung der Häuser verfügte. Jedes Haus ist ohne Rücksicht auf die übrigen gebaut, und die winkligen Zwischenräume der einzelnen Wohnungen werden in Ermangelung eines andern Namens Höfe (courts) genannt. In den etwas neueren Teilen desselben Viertels und in andren Arbeitsvierteln1, die aus den ersten "Zeiten der aufblühenden Industrie herrühren, finden wir ein etwas planmäßigeres Arrangement. Der Zwischenraum zwischen zwei Straßen wird in regelmäßigere, meist viereckige Höfe geteilt, etwa so:
die von vornherein so angelegt wurden und zu denen verdeckte Gänge von den Straßen führen. Wenn die ganz planlose Bauart der Gesundheit der Bewohner durch Verhinderung der Ventilation schon sehr nachteilig war, so ist es diese Art, die Arbeiter in Höfe einzusperren, die nach allen Seiten von Gebäuden umschlossen sind, noch viel mehr. Die Luft kann hier platterdings nicht heraus; die Schornsteine der Häuser selbst sind, solange Feuer angehalten wird, die einzigen Abzüge für die eingesperrte Luft des Hofes.*
* Und doch behauptet einmal ein weiser englischer Liberaler - im „Bericht der Children s Empl[oyment] Commfission]" —, diese Höfe seien das Meisterstück der Städtebaukunst, weil sie, gleich einer Anzahl kleiner öffentlicher Plätze, die Ventilation und den Luftzug verbesserten! Freilich, wenn jeder Hof zwei oder vier breite, oben offene, gegenüberstehende Zugänge hätte, wodurch die Luft streichen könnte aber sie haben nie zwei, sehr selten einen offnen, und fast alle nur schmale, überbaute Einlasse.
Strasse
Strasse
1 (1S92) Arbeitervierteln
Dazu kommt noch, daß die Häuser um solche Höfe meist doppelt, je zwei mit der Rückwand zusammengebaut sind, und schon das ist hinreichend, um alle gute, durchgehende Ventilation zu verhindern. Und da die Straßenpolizei sich nicht um den Zustand dieser Höfe bekümmert, da alles ruhig liegenbleibt, was hineingeworfen wird, so darf man sich nicht über den Schmutz und die Haufen von Asche und Unrat wundern, die man hier findet. Bin ich doch in Höfen gewesen — sie liegen an Millers Street —, die mindestens einen halben Fuß tiefer lagen als die Hauptstraße und die auch nicht den mindesten Abfluß für das bei Regenwetter sich in ihnen ansammelnde Wasser hatten! In späterer Zeit hat man eine andre Bauart angefangen, die jetzt die allgemeine ist. Die Arbeitercottages werden jetzt nämlich fast nie einzeln, sondern immer dutzend-, ja schockweise gebaut - ein einziger Unternehmer baut gleich eine oder ein paar Straßen. Diese werden dann auf folgende Weise angelegt: Die eine Front - vgl. die Zeichnung unten - bilden Cottages ersten Ranges, die so glücklich sind, eine Hintertür und einen kleinen Hof zu besitzen, und die die höchste Miete bringen. Hinter den Hofmauern dieser Cottages ist eine schmale Gasse, die Hintergasse (back street), die an beiden Enden zugebaut ist und in die entweder ein schmaler Weg oder ein bedeckter Gang von der Seite her führt. Die Cottages, die auf diese Gasse führen, bezahlen am wenigsten Miete und sind überhaupt am meisten vernachlässigt. Sie haben die Rückwand gemeinsam mit der dritten Reihe Cottages, die nach der entgegengesetzten Seite hin auf die Straße gehen und weniger Miete als die erste, dagegen mehr als die zweite Reihe tragen. Die Anlage der Straßen ist also etwa so:
Strasse
Drille Reihe Cottages Mittelreihe
Erste Reihe mit Höfen
Durch diese Bauart wird zwar für die erste Reihe Cottages eine ziemlich gute Ventilation gewonnen und die der dritten Reihe wenigstens nicht gegen die der entsprechenden in der frühern Bauart verschlechtert; dagegen ist die Mittelreihe mindestens ebenso schlecht ventiliert wie die Häuser in den Höfen und die Hintergasse selbst stets in demselben schmutzigen und unansehnlichen Zustande wie jene. Die Unternehmer ziehen diese Bauart
C/3
I L.
Strasse
vor, weil sie ihnen Raum spart und Gelegenheit gibt, die besser bezahlten Arbeiter durch höhere Miete in den Cottages der ersten und dritten Reihe desto erfolgreicher auszubeuten. Diese dreierlei Formen des Cottagebaues findet man in ganz Manchester, ja in ganz Lancashire und Yorkshire wieder, oft vermengt, aber meist hinreichend geschieden, um hieraus schon auf das verhältnismäßige Alter der einzelnen Stadtteile schließen zu können. Das dritte System, das der Hintergassen, ist das in dem großen Arbeiterbezirk östlich von St. George's Road, zu beiden Seiten von Oldham Road und Great Ancoats Street, entschieden vorherrschende und findet sich auch in den übrigen Arbeiterbezirken von Manchester und seinen Vorstädten am häufigsten. In dem erwähnten großen Bezirk, den man unter dem Namen Ancoats begreift, sind die meisten und größten Fabriken von Manchester an den Kanälen angelegt - kolossale sechs- bis siebenstöckige Gebäude, die mit ihren schlanken Rauchfängen hoch über die niedrigen Arbeitercottages emporragen. Die Bevölkerung des Bezirks sind daher hauptsächlich Fabrikarbeiter und, in den schlechtesten Straßen, Handweber. Die Straßen, die dem Zentrum der Stadt am nächsten liegen, sind die ältesten und daher die schlechtesten, doch sind sie gepflastert und mit Abzügen versehen; ich rechne hierzu die nächsten Parallelstraßen von Oldham Road und Great Ancoats Street. Weiterhin nach Nordosten findet man manche neugebaute Straße; hier sehen die Cottages nett und reinlich aus, die Türen und Fenster sind neu und frisch angestrichen, die inneren Räume rein geweißt; die Straßen selbst sind luftiger, die leeren Bauplätze zwischen ihnen größer und häufiger. Aber das läßt sich nur von der kleineren Zahl der Wohnungen sagen; dazu kommt dann noch, daß Kellerwohnungen fast unter jeder Cottage eingerichtet, daß viele Straßen ungepflastert und ohne Abzüge sind, und vor allem, daß dieses nette Aussehen doch nur Schein ist, Schein, der nach den ersten zehn Jahren schon verschwunden ist. Die Bauart der einzelnen Cottages selbst ist nämlich nicht weniger verwerflich als die Anlage der Straßen. Solche Cottages sehen alle anfangs nett und solide aus, die massiven Ziegelmauern bestechen das Auge, und wenn man durch eine neugebaute Arbeiterstraße geht, ohne sich um die Hintergassen oder die Bauart der Häuser selbst näher zu bekümmern, so stimmt man in die Behauptung der liberalen Fabrikanten ein, daß nirgends die Arbeiter so gut wohnen wie in England. Aber wenn man näher zusieht, so findet mein, daß die Mauern dieser Cottages so dünn sind, wie es nur möglich ist, sie zu machen. Die äußeren Mauern, die das Kellerstockwerk, das Erdgeschoß und das Dach tragen, sind höchstens einen ganzen Ziegel dick - so daß in jeder waagerechten Schicht die 19 Marx/Engels, Werlte, Bd. 2
Ziegel mit der langen Seite aneinandergefügt werden (| | |); ich habe aber manche Cottage von derselben Höhe - einige sogar noch im Bau gesehen, bei denen die äußern Mauern nur einen halben Ziegel dick waren und die Ziegel also nicht der Breite, sondern der Länge nach gelegt waren, so daß sie mit der schmalen Seite aneinanderstießen (l I I I I l). Dies geschieht teilweise, um Material zu sparen, teilweise aber auch, weil die Bauunternehmer nie die Eigentümer des Bodens sind, sondern ihn nach englischer Sitte nur auf zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig oder neunundneunzig Jahre gemietet haben, nach welcher Zeit er mit allem, was darauf ist, dem ursprünglichen Besitzer wieder zufällt, ohne daß dieser für gemachte Anlagen etwas zu vergüten hätte. Die Anlagen werden also vom Pächter darauf berechnet, daß sie nach Ablauf der kontraktlichen Zeit so wertlos wie möglich sind; und da solche Cottages oft nur zwanzig oder dreißig Jahre vor diesem Zeitpunkte errichtet werden, so ist es leicht zu begreifen, daß die Unternehmer nicht zuviel darauf verwenden werden. Dazu kommt noch, daß diese Unternehmer, meist Maurer und Zimmerleute oder Fabrikanten, teils um den Mietertrag nicht zu verringern, teils wegen herannahenden Rückfalls des Bauplatzes, wenig oder gar nichts auf Reparaturen verwenden, daß wegen Handelskrisen und der darauffolgenden Brotlosigkeit oft ganze Straßen leerstehen und daß infolge hiervon die Cottages sehr rasch verfallen und in unbewohnbaren Zustand geraten. Man rechnet wirklich allgemein, daß Arbeiterwohnungen durchschnittlich nur vierzig Jahre bewohnbar bleiben; das klingt wunderbar genug, wenn man die schönen, massiven Mauern neuerbauter Cottages dabei sieht, die eine Dauer von ein paar Jahrhunderten zu versprechen scheinen - aber es ist dennoch so, die Knickerei der ursprünglichen Anlage, die Vernachlässigung aller Reparaturen, das häufige Leerstehen, der fortwährende schnelle Wechsel der Bewohner und dazu die Verwüstungen, die die Einwohner während der letzten zehn Jahre der Bewohnbarkeit, meist Irländer, anrichten, indem sie das Holzwerk oft genug aufbrechen und zur Heizung gebrauchen - alles das macht diese Cottages nach vierzig Jahren zu Ruinen. Daher kommt es denn auch, daß der Distrikt von Ancoats, der erst seit dem Aufblühen der Industrie, ja meist erst in diesem Jahrhundert erbaut wurde, dennoch eine Menge alter und verfallender Häuser zählt, ja daß die größere Zahl der Häuser schon jetzt in dem letzten Stadium der Bewohnbarkeit sich befindet. Ich will nicht davon reden, wieviel Kapital auf diese Weise verschwendet wird, mit wiewenig mehr ursprünglicher Anlage und späterer Reparatur dieser ganze Bezirk lange Jahre hindurch reinlich, anständig und wohnlich gehalten werden könnte - mich geht hier nur die Lage der Häuser und ihrer Bewohner an,
und da muß allerdings gesagt werden, daß es kein schädlicheres und demoralisierenderes System, die Arbeiter unterzubringen, gibt, als gerade dieses. Der Arbeiter ist gezwungen, solche verkommene Cottages zu bewohnen, weil er keine besseren bezahlen kann oder weil keine besseren in der Nähe seiner Fabrik liegen, vielleicht auch gar, weil sie dem Fabrikanten gehören und dieser ihn nur dann in Arbeit nimmt, wenn er eine solche Wohnung bezieht. Natürlich wird es mit den vierzig Jahren so genau nicht gehalten, denn wenn die Wohnungen in einem stark bebauten Stadtteil liegen und also bei teurer Grundpacht viel Aussicht da ist, stets Mieter für jene zu finden, tun die Unternehmer auch wohl etwas, um sie über vierzig Jahre hinaus einigermaßen in bewohnbarem Zustande zu erhalten; aber auch gewiß nicht mehr als das Allernötigste, und diese reparierten Wohnungen sind dann gerade die allerschlechtesten. Zuweilen, bei drohenden Epidemien, wird das sonst sehr schläfrige Gewissen der Gesundheitspolizei etwas aufgeregt, und dann unternimmt sie Streifzüge in die Arbeiterdistrikte, schließt ganze Reihen von Kellern und Cottages, wie dies z.B. mit mehreren Gassen in der Nähe von Oldham Road geschehen ist; aber das dauert nicht lange, die geächteten Wohnungen finden bald wieder Insassen, und die Eigentümer stehen sich besser dabei, wenn sie sich wieder Mieter suchen - man weiß ja, daß die Gesundheitspolizei so bald nicht wiederkommt! Diese östliche und nordöstliche Seite von Manchester ist die einzige, an welcher sich die Bourgeoisie nicht angebaut hat - aus dem Grunde, weil der hier zehn oder elf Monate im Jahr herrschende West- und Südwestwind den Rauch aller Fabriken - und der ist nicht gering - stets nach dieser Seite hinübertreibt. Den können die Arbeiter allein einatmen. Südlich von Great Ancoats Street liegt ein großer halbbebauter Arbeiterbezirk - ein hügeliger, nackter Strich Landes, mit einzelnen unordentlich angelegten Häuserreihen oder Karrees besetzt. Dazwischen leere Bauplätze, uneben, lehmig, ohne Gras und daher bei feuchtem Wetter kaum zu passieren. Die Cottages sind alle schmutzig und alt, liegen oft in tiefen Löchern und erinnern überhaupt an die Neustadt. Die von der Birminghamer Eisenbahn durchschnittene Strecke ist die am dichtesten bebaute, also auch die schlechteste. Hier fließt in unzähligen Krümmungen der Medlock durch ein Tal, das stellenweise mit dem des Irk auf gleicher Stufe steht. Zu beiden Seiten des wieder pechschwarzen, stagnierenden und stinkenden Flusses, von seinem Eintritt in die Stadt bis zu seiner Vereinigung mit dem Irwell, zieht sich ein breiter Gürtel von Fabriken und Arbeiterwohnungen, welche letzteren alle in dem schlechtesten Zustande sind. Das Ufer ist meist abschüssig und bis in den Fluß hinein bebaut, gerade wie wir es am Irk gesehen haben,
und die Anlage der Häuser und Straßen ist gleich schlecht, ob sie auf der Seite von Manchester oder der von Ardwick, Chorlton oder Hulme angelegt sind. Der abscheulichste Fleck - wenn ich alle die einzelnen Flecke detaillieren wollte, würde ich nicht zu Ende kommen - liegt aber auf der Manchester-Seite, gleich südwestlich von Oxford Road und heißt Klein-Irland (Little Ireland). In einem ziemlich tiefen Loche, das in einem Halbkreis vom Medlock und an allen vier Seiten von hohen Fabriken, hohen bebauten Ufern oder Aufschüttungen umgeben ist, liegen in zwei Gruppen etwa 200 Cottages, meist mit gemeinschaftlichen Rückwänden für je zwei Wohnungen, worin zusammen an 4000 Menschen, fast lauter Irländer, wohnen. Die Cottages sind alt, schmutzig und von der kleinsten Sorte, die Straßen uneben, holperig und zum Teil ungepflastert und ohne Abflüsse; eine Unmasse Unrat, Abfall und ekelhafter Kot liegt zwischen stehenden Lachen überall herum, die Atmosphäre ist durch die Ausdünstungen derselben verpestet und durch den Rauch von einem Dutzend Fabrikschornsteinen verfinstert und schwer gemacht - eine Menge zerlumpter Kinder und Weiber treibt sich hier umher, ebenso schmutzig wie die Schweine, die sich auf den Aschenhaufen und in den Pfützen wohl sein lassen - kurz, das ganze Nest gewährt einen so unangenehmen, so zurückstoßenden Anblick wie kaum die schlechtesten Höfe am Irk. Das Geschlecht, das in diesen verfallenden Cottages, hinter den zerbrochenen und mit Ölleinwand verklebten Fenstern, den rissigen Türen und abfaulenden Pfosten oder gar in den finstern nassen Kellern, zwischen diesem grenzenlosen Schmutz und Gestank in dieser wie absichtlich eingesperrten Atmosphäre lebt - das Geschlecht muß wirklich auf der niedrigsten Stufe der Menschheit stehn - das ist der Eindruck und die Schlußfolgerung, die einem bloß die Außenseite dieses Bezirks aufdrängt. Aber was soll man sagen, wenn man hört*, daß in jedem dieser Häuschen, das allerhöchstens zwei Zimmer und den Dachraum, vielleicht noch einen Keller hat, durchschnittlich zwanzig Menschen wohnen, daß in dem ganzen Bezirk nur auf etwa 120 Menschen ein - natürlich meist ganz unzugänglicher — Abtritt kommt und daß trotz alles Predigens der Ärzte, trotz der Aufregung, in die zur Cholerazeit die Gesundheitspolizei über den Zustand von Klein-Irland geriet, dennoch alles heute im Jahr der Gnade 1844 fast in demselben Zustande ist wie 1831 ? Dr. Kay erzählt, daß nicht nur die Keller, sondern sogar die Erdgeschosse aller Häuser in diesem Bezirk feucht seien; daß früher eine Anzahl Keller mit Erde aufgefüllt worden, allmählich aber wieder ausgeleert und jetzt von Irländern bewohnt würden - daß in einem Keller das Wasser - da der Boden
* Dr. Kay, a.a.O.
des Kellers tiefer lag als der Fluß - fortwährend aus einem mit Lehm verstopften Versenkloch herausgequollen sei, so daß der Bewohner, ein Handweber, jeden Morgen seinen Keller habe trocken schöpfen und das Wasser auf die Straße gießen müssen! Weiter abwärts liegt, auf der linken Seite desMedlock, Hulme, das eigentlich nur ein großes Arbeiterviertel ist und dessen Zustand fast ganz mit dem des Bezirks von Ancoats übereinstimmt. Die dichter bebauten Bezirke meist schlecht und dem Verfall nahend, die weniger bevölkerten von neuerer Bauart, luftiger, aber meist im Kot versunken. Feuchte Lage der Cottages allgemein, ebenso die Bauart mit Hintergassen und Kellerwohnungen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Medlock, im eigentlichen Manchester, liegt ein zweiter großer Arbeiterdistrikt, der sich zu beiden Seiten von Deansgate bis an das kommerzielle Viertel erstreckt und teilweise der Altstadt nichts nachgibt. Namentlich in der unmittelbaren Nähe des kommerziellen Viertels, zwischen Bridge Street und Quay Street, Princess Street und Peter Street, übertrifft die Gedrängtheit der Bauart stellenweise die engsten Höfe der Altstadt. Hier findet man lange schmale Gassen, zwischen denen enge, winklige Höfe und Passagen sich befinden, deren Aus- und Eingänge so unordentlich angelegt sind, daß man in diesem Labyrinth alle Augenblicke in einem Sack festrennt oder an der ganz verkehrten Stelle herauskommt, wenn man nicht jede Passage und jeden Hof genau kennt. In diesen engen, verfallenen und schmutzigen Gegenden wohnt nach Dr. Kay die demoralisierteste Klasse von ganz Manchester, deren Handwerk Diebstahl oder Prostitution ist, und allem Anscheine nach hat er, auch jetzt noch, darin recht. Als auch hier die Gesundheitspolizei 1831 ihren Streifzug machte, fand sie in diesem Bezirk die Unreinlichkeit ebenso groß wie am Irk oder in Little Ireland (daß es damit jetzt noch nicht viel besser steht, kann ich bezeugen) und unter anderem in Parliament Street für dreihundertundachtzig Menschen und in Parliament Passage für dreißig starkbevölkerte Häuser nur einen einzigen Abtritt. Gehen wir über den Irwell nach Salford, so finden wir auf einer von diesem Flusse gebildeten Halbinsel eine Stadt, die achtzigtausend Einwohner zählt und eigentlich nur ein großer, von einer einzigen breiten Straße durchschnittener Arbeiterbezirk ist. Salford, früher bedeutender als Manchester, war damals der Hauptort des umliegenden Distrikts und gibt ihm noch den Namen (Salford Hundred). Daher kommt es, daß sich auch hier ein ziemlich alter und folglich jetzt sehr ungesunder, schmutziger und verfallener Bezirk vorfindet, der der alten Kirche von Manchester gegenüberliegt und in ebenso schlechtem Zustande ist wie die Altstadt auf der andern Seite des Irwell. Weiter vom Flusse ab liegt ein neuerer Distrikt, der aber ebenfalls
schon über vierzig Jahre und daher baufällig genug ist. Ganz Salford ist in Höfen oder schmalen Gassen gebaut, die so eng sind, daß sie mich an die engsten erinnerten, die ich gesehen habe, nämlich an die schmalen Gäßchen von Genua. In dieser Beziehung ist die durchschnittliche Bauart von Salford noch bedeutend schlechter als die von Manchester, und ebenso ist es mit der Reinlichkeit. Wenn in Manchester die Polizei wenigstens von Zeit zu Zeit alle sechs bis zehn Jahre einmal - sich in die Arbeiterbezirke begab, die schlechtesten Wohnungen schloß, die schmutzigsten Stellen dieses Augiasstalles fegen ließ, so scheint sie in Salford gar nichts getan zu haben. Die engen Seitengassen und Höfe von Chapel Street, Greengate und Gravel Lane sind gewiß seit ihrer Erbauung nicht gereinigt worden - jetzt geht die Liverpooler Eisenbahn auf einem hohen Viadukt mitten dadurch und hat manchen der schmutzigsten Winkel weggenommen, aber was hilft das? Wenn man über diesen Viadukt fährt, so sieht man noch Schmutz und Elend genug von oben herab, und wenn man sich die Mühe nimmt, diese Gäßchen zu durchstreichen, durch die offenen Türen und Fenster in die Keller und Häuser hineinzublicken, so kann man sich jeden Augenblick überzeugen, daß die Arbeiter von Salford in Wohnungen leben, in denen Reinlichkeit und Bequemlichkeit unmöglich sind. Ganz dasselbe finden wir in den entfernter gelegenen Strichen von Salford, in Islington, an Regent Road und hinter der Boltoner Eisenbahn. Die Arbeiterwohnungen zwischen Oldfield Road und Cross Lane, wo sich zu beiden Seiten von Hope Street eine Menge von Höfen und Gassen im schlechtesten Zustande finden, wetteifern an Schmutz und gedrängter Einwohnerschaft mit der Altstadt von Manchester; in dieser Gegend fand ich einen Mann, der dem Aussehen nach sechzig Jahre alt war, in einem Kuhstall wohnend - er hatte sich den fensterlosen, weder gedielten noch gepflasterten viereckigen Kasten mit einer Art Rauchfang versehen, eine Bettstelle hineingebracht und wohnte darin, obwohl der Regen durch das schlechte, verfallene Dach troff. Der Mann war zu alt und zu schwach zur regelmäßigen Arbeit und ernährte sich durch Mistfahreri usw. mit seiner Schubkarre; die Mistpfütze stieß dicht an seinen Stall. Das sind die verschiedenen Arbeiterbezirke von Manchester, wie ich sie selbst während zwanzig Monaten zu beobachten Gelegenheit hatte. Fassen wir das Resultat unsrer Wanderung durch diese Gegenden zusammen, so müssen wir sagen, daß dreihundertfünfzigtausend Arbeiter von Manchester und seinen Vorstädten fast alle in schlechten, feuchten und schmutzigen Cottages wohnen, daß die Straßen, die sie einnehmen, meist in dem schlechtesten und unreinsten Zustande sich befinden und ohne alle Rücksicht auf Ventilation, bloß mit Rücksicht auf den dem Erbauer zufließenden Gewinn
angelegt worden sind - mit einem Wort, daß in den Arbeiterwohnungen von Manchester keine Reinlichkeit, keine Bequemlichkeit, also auch keine Häuslichkeit möglich ist; daß in diesen Wohnungen nur eine entmenschte, degradierte, intellektuell und moralisch zur Bestialität herabgewürdigte, körperlich kränkliche Rasse sich behaglich und heimisch fühlen kann. Und ich bin nicht der einzige, der das behauptet; wir haben gesehen, daß Dr. Kay ganz dieselbe Beschreibung gibt, und zum Überfluß will ich noch die Worte eines Liberalen, einer anerkannten und sehr geschätzten Autorität der Fabrikanten, eines fanatischen Gegners aller selbständigen Arbeiterbewegungen, die Worte des Herrn Senior hersetzen*:
„Als ich durch die Wohnungen der Fabrikarbeiter in der irischen Stadt, Ancoats und Klein-Irland ging, erstaunte ich nur darüber, daß es möglich sei, in solchen Wohnungen eine erträgliche Gesundheit zu bewahren. Diese Städte - denn das sind sie in Ausdehnung und Einwohnerzahl - sind errichtet worden mit der äußersten Rücksichtslosigkeit gegen alles, ausgenommen unmittelbaren Nutzen für die spekulierenden Erbauer. Ein Zimmermann und ein Maurer vereinigen sich, eine Reihe Bauplätze zu kaufen" (d. h. auf eine Anzahl Jahre zu mieten) „und diese mit sogenannten Häusern zu bedecken; an einer Stelle fanden wir eine ganze Straße, die dem Laufe eines Grabens folgte, damit man ohne die Kosten der Ausgrabung tiefere Keller bekam Keller, nicht zu Rumpelkammern und Niederlagen, sondern zu Wohnungen für Menschen.Kern einzigesHaus in dieser Straße entging derCholera. Und im allgemeinen sind die Straßen in diesen Vorstädten ungepflastert, mit einem Düngerhaufen oder einer Lache in der Mitte, die Häuser mit der Rückwand zusammengebaut und ohne Ventilation oder Trockenlegung, und ganze Familien sind auf den Winkel eines Kellers oder einer Dachstube beschränkt."
Ich erwähnte schon oben einer ungewöhnlichen Tätigkeit, die die Gesundheitspolizei zur Cholerazeit in Manchester entwickelte. Als nämlich diese Epidemie herannahte, befiel ein allgemeiner Schrecken die Bourgeoisie dieser Stadt; man erinnerte sich auf einmal der ungesunden Wohnungen der Armut und zitterte bei der Gewißheit, daß jedes dieser schlechten Viertel ein Zentrum für die Seuche bilden würde, von wo aus sie ihre Verwüstungen nach allen Richtungen in die Wohnsitze der besitzenden Klasse ausbreite. Sogleich wurde eine Gesundheitskommission ernannt, um diese Bezirke zu untersuchen und über ihren Zustand genau an den Stadtrat zu berichten. Dr. Kay, selbst Mitglied der Kommission, die jeden einzelnen Polizeidistrikt, mit Ausnahme des elften, speziell besichtigte, gibt aus ihrem Bericht einzelne
* Nassau W. Senior, „Letters on the Factory Act to the Rt. Hon. the President of the Board of Trade" [Briefe über das Fabrikgesetz an den sehr ehrenwerten Präsidenten des Handelsamtes] (Chas. Poulett Thomson Esq.). London 1837. - p. 24.
Auszüge. Es wurden im ganzen 6951 Häuser - natürlich nur im eigentlichen Manchester, mit Ausschluß von Salford und den übrigen Vorstädten inspiziert; davon hatten 2565 dringend einen inneren Kalkanstrich nötig, an 960 waren notwendige Reparaturen vernachlässigt (were out of repair), 939 waren ohne hinreichende Abflüsse, 1435 waren feucht, 452 schlecht ventiliert, 2221 ohne Abtritte. Von den inspizierten 687 Straßen waren 248 ungepflastert, 53 nur teilweise gepflastert, 112 schlecht ventiliert, 352 enthielten stehende Pfützen, Haufen von Unrat, Abfall und dergleichen. Natürlich einen solchen Augiasstall vor der Ankunft der Cholera zu fegen war platterdings unmöglich; daher begnügte man sich mit der Reinigung einiger der schlechtesten Winkel und ließ sonst alles beim alten - es versteht sich, daß an den gereinigten Stellen, wie Klein-Irland beweist, nach ein paar Monaten die alte Unfläterei wiederhergestellt war. Und über den inneren Zustand dieser Wohnungen berichtet dieselbe Kommission Ähnliches, wie wir von London, Edinburgh und anderen Städten hörten:
„Oft ist eine ganze irische Familie in einem Bett zusammengedrängt; oft verbirgt ein Haufen schmutziges Stroh und Decken von altem Sackleinen alle in einem ununterscheidbaren Haufen, wo jeder durch Mangel, Stumpfsinn und Liederlichkeit gleich erniedrigt ist. Oft fanden die Inspektoren in einem Hause mit zwei Zimmern zwei Familien; in dem einen Zimmer schliefen sie alle, das andre war gemeinsames Eßzimmer und Küche; und oft wohnte mehr als eine Familie in einem einstubigen feuchten Keller, in dessen pestilenzialischer Atmosphäre zwölf bis sechzehn Menschen zusammengedrängt waren; zu diesen und anderen Quellen von Krankheiten kamen noch, daß Schweine darin gehalten wurden und andere Ekelhaftigkeiten der empörendsten Art sich vorfanden."*
Wir müssen hinzufügen, daß viele Familien, die selbst nur ein Zimmer haben, darin Kostgänger und Schlafgenossen für eine Entschädigung aufnehmen, daß solche Kostgänger von beiden Geschlechtern nicht selten sogar mit dem Ehepaar in einem und demselben Bette schlafen und daß z.B. der eine Fall, daß ein Mann, seine Frau und seine erwachsene Schwiegerin in einem Bette schliefen, nach dem „Bericht über den Gesundheitszustand der Arbeiterklasse", in Manchester sechs- oder mehrmal vorgefunden wurde. Die gemeinen Logierhäuser sind auch hier sehr zahlreich; Dr. Kay gibt ihre Zahl 1831 auf 267 im eigentlichen Manchester an, und seitdem muß sie sich sehr vermehrt haben. Diese nehmen jedes zwischen zwanzig und dreißig Gäste auf und beherbergen also zusammen jede Nacht zwischen fünf- und siebentausend Menschen; der Charakter der Häuser und ihrer Kunden ist
* Kay, a. a. 0. p. 32.
derselbe wie in den andern Städten. Fünf bis sieben Betten liegen in jedem Zimmer ohne Bettstellen auf der Erde, und darauf werden soviel Menseben gelegt, wie sich finden, und alles durcheinander. Welche physische und moralische Atmosphäre in diesen Höhlen des Lasters herrscht, brauche ich wohl nicht zu sagen. Jedes dieser Häuser ist ein Fokus des Verbrechens und der Schauplatz von Handlungen, die die Menschlichkeit empören und vielleicht ohne diese gewaltsame Zentralisation der Unsitthchkeit nie zur Ausführung gekommen wären. Die Anzahl der in Kellerwohnungen lebenden Individuen gibt Gas^ell* für das eigentliche Manchester auf 20000 an. Das „Weekly Dispatch" gibt die Anzahl „nach offiziellen Berichten" auf 12 Prozent der Arbeiterklasse an, was damit stimmen würde - die Anzahl der Arbeiter zu 175 000 angenommen, sind 12Prozent gleich 21 000. Die Kellerwohnungen in den Vorstädten sind mindestens ebenso zahlreich, und so wird die Zahl der in Manchester im weiteren Sinne in Kellern wohnenden Personen nicht unter 40000 bis 50000 betragen. Soviel über die Wohnungen der Arbeiter in den großen Städten. Die Befriedigung des Bedürfnisses für Obdach wird einen Maßstab abgeben für die Art, in welcher alle übrigen Bedürfnisse befriedigt werden. Daß in diesen schmutzigen Löchern nur eine zerlumpte, schlecht genährte Einwohnerschaft sich aufhalten kann, läßt sich schon schließen. Und so ist es auch. Die Kleidung der Arbeiter ist bei der ungeheuren Majorität in sehr schlechtem Zustande. Schon die Stoffe, die dazu genommen werden, sind nicht die geeignetsten; Leinen und Wolle sind aus der Garderobe beider Geschlechter fast verschwunden, und an ihre Stelle ist Baumwolle getreten.
* P. Gaskell, „The Manufacturing Population of England, its Moral, Social, and Physical Conditions, and the Changes which have arisen from the Use of Steam Machinery; with an Examination of Infant Labour' . „Fiat Justitia" [Die Fabrikarbeiterbevölkerung Englands, ihre sittliche, soziale und physische Lage und die durch die Anwendung von Dampfmaschinen verursachten Veränderungen. Nebst einer Untersuchung der Kinderarbeit. Es walte Gerechtigkeit]. - 1833. - Hauptsächlich die Lage der Arbeiter in Lancashire schildernd. Der Verfasser ist ein Liberaler, schrieb aber zu einer Zeit, wo es noch nicht zum Liberalismus gehörte, das „Glück" der Arbeiter zu preisen. Daher ist er noch unbefangen und darf noch Augen haben für die Übel des jetzigen Zustandes, und namentlich des Fabriksystems. Dafür schrieb er aber auch vor der Factories Inquiry Commission [Fabrik-Untersuchungskommission] und entnimmt aus zweideutigen Quellen manche später durch den Kommissionsbericht widerlegte Behauptung. Das Werk, obwohl im ganzen gut, ist daher, und weil er wie Kay die Arbeiterklasse überhaupt mit der Fabrikarbeiterklasse im besondern verwechselt, in Einzelheiten nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Die in der Einleitung gegebene Entwicklungsgeschichte des Proletariats ist hauptsächlich aus diesem Werke genommen.
Die Hemden sind von gebleichtem oder buntem Kattun, ebenso die Kleider der Frauenzimmer meist gedruckter Kattun, wollene Unterröcke sieht man ebenfalls selten auf den Waschleinen. Die Männer haben meist Beinkleider von Baumwollensamt oder anderen schweren baumwollenen Stoffen und Röcke oder Jacken von demselben Zeuge. Der Baumwollensamt (fustian) ist sogar sprichwörtlich die Tracht der Arbeiter geworden -fustian-jackets, so werden die Arbeiter genannt und nennen sich selbst so im Gegensatz zu den Herren in wollenem Tuch (broadcloth), welches letztere ebenfalls als Bezeichnung für die Mittelklasse gebraucht wird. Als Feargus O'Connor, der Chartistenchef, während der Insurrektion von 1842[S8] nach Manchester kam, erschien er unter dem rasendsten Beifall der Arbeiter in einem baumwollensamtnen Anzüge. Hüte sind in England die allgemeine Tracht auch der Arbeiter, Hüte der verschiedensten Formen, runde, kegelförmige oder zylindrische, breitrandig, schmalrandig oder randlos - nur jüngere Leute tragen in den Fabrikstädten Mützen. Wer keinen Hut hat, faltet sich von Papier eine niedrige, viereckige Kappe. Die ganze Bekleidung der Arbeiter - auch vorausgesetzt, daß sie in gutem Zustande ist - ist wenig in Einklang mit dem Klima. Die feuchte Luft Englands, die mit ihren schnellen Witterungswechseln mehr als jede andere Erkältungen hervorruft, nötigt fast die ganze Mittelklasse, Flanell auf der bloßen Haut des Oberkörpers zu tragen; flanellne Halsbinden, Jacken und Leibbinden sind fast allgemein im Gebrauch. Die arbeitende Klasse entbehrt nicht nur dieser Vorsorge, sondern ist auch fast nie imstande, überhaupt einen Faden Wolle zur Kleidung zu verwenden. Die schweren Baumwollenzeuge aber, obwohl dicker, steifer und schwerer als wollenes Tuch, halten dennoch Kälte und Nässe viel weniger ab als dieses, bleiben wegen ihrer Dicke und wegen der Natur des Materials länger feucht und haben überhaupt nicht die Dichtigkeit des gewalkten Wollentuchs. Und wenn der Arbeiter sich einmal einen wollenen Rock für den Sonntag anschaffen kann, so muß er in einen der „billigen Läden" gehen, wo er schlechtes, sogenanntes „devil's dust'^-Tuch bekommt, das „nur aufs Verkaufen, nicht aufs Tragen' gemacht ist und nach vierzehn Tagen reißt oder fadenscheinig wird - oder er muß sich beim Trödler einen halbverschlissenen alten Rock kaufen, dessen beste Zeit vorüber ist und der ihm nur für wenige Wochen gute Dienste leistet. Dazu kommt aber noch bei den meisten der schlechte Zustand ihrer Garderobe und von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit, die besseren Kleidungsstücke ins Pfandhaus zu tragen. Bei einer sehr, sehr großen Anzahl aber, besonders denen irischen Bluts, sind die Kleider wahre Lumpen, die
1 Teufelsdreck (Tuch, hergestellt aus minderwertigen, auf der Reißwolfmaschine - engl, devil: Teufel - verarbeiteten Wollresten)
oft gar nicht mehr flickfähig sind oder bei denen man vor lauter Flicken die ursprüngliche Farbe gar nicht mehr erkennt. Die Engländer oder die AngloIren flicken doch noch und haben es in dieser Kunst merkwürdig weit gebracht - Wolle oder Sackleinen auf Baumwollensamt oder umgekehrt, das macht ihnen gar nichts aus - aber die echten, eingewanderten Irländer flicken fast nie, nur im höchsten Notfalle, wenn das Kleid sonst in zwei Stücke reißt; gewöhnlich hangen die Lumpen des Hemdes durch die Risse des Rocks oder der Hosen heraus; sie tragen, wie Thomas Carlyle* sagt,
„einen Anzug von Fetzen, die aus- und anzuziehen eine der schwierigsten Operationen ist und nur an Festtagen und zu besonders günstigen Zeiten vorgenommen wird". Die Irländer haben auch das früher in England unbekannte Barfußgehen mit herübergebracht. Jetzt sieht man in allen Fabrikstädten eine Menge Leute, namentlich Kinder und Weiber, barfuß umhergehen, und dies findet allmählich auch bei den ärmeren Engländern Eingang. Wie mit der Kleidung, so mit der Nahrung. Die Arbeiter bekommen das, was der besitzenden Klasse zu schlecht ist. In den großen Städten Englands kann man alles aufs beste haben, aber es kostet teures Geld; der Arbeiter, der mit seinen paar Groschen haushalten muß, kann so viel nicht anlegen. Dazu bekommt er seinen Lohn meist erst Samstag abends ausgezahlt - man hat angefangen, schon Freitag zu zahlen, aber diese sehr gute Einrichtung ist noch lange nicht allgemein - und so kommt er Samstag abends um vier, fünf oder sieben Uhr erst auf den Markt, von dem während des Vormittags schon die Mittelklasse sich das Beste ausgesucht hat. Des Morgens strotzt der Markt von den besten Sachen, aber wenn die Arbeiter kommen, ist das Beste fort, und wenn es auch noch da wäre, so würden sie es wahrscheinlich nicht kaufen können. Die Kartoffeln, die der Arbeiter kauft, sind meist schlecht, die Gemüse verwelkt, der Käse alt und von geringer Qualität, der Speck ranzig, das Fleisch mager, alt, zäh, von alten, oft kranken oder verreckten Tieren oft schon halb faul. Die Verkäufer sind meistens kleine Höker, die schlechtes Zeug zusammenkaufen und es eben wegen seiner Schlechtigkeit so billig wieder verkaufen können. Die ärmsten Arbeiter müssen noch einen andern Kunstgriff gebrauchen, um mit ihrem wenigen Gelde selbst bei der schlechtesten Qualität der einzukaufenden Artikel auszukommen. Da nämlich um zwölf Uhr am Sonnabendabend alle Läden geschlossen werden müssen und am Sonntag nichts verkauft werden darf, so werden zwischen zehn und zwölf Uhr diejenigen Waren, die bis zum Montagmorgen verderben würden, zu
* Thomas Carlyle, „Chartism". London 1840. - p. 28. - Über Thomas Carlyle siehe unten [siehe die Fußnoten S. 486 u. 502].
Spottpreisen losgeschlagen. Was aber um zehn Uhr noch liegengeblieben ist, davon sind neun Zehntel am Sonntagmorgen nicht mehr genießbar, und gerade diese Waren bilden den Sonntagstisch der ärmsten Klasse. Das Fleisch, das die Arbeiter bekommen, ist sehr häufig ungenießbar - weil sie's aber einmal gekauft haben, so müssen sie es essen. Am 6. Januar (wenn ich nicht sehr irre) 1844 war Marktgericht (court leet) in Manchester, wobei elf Fleischverkäufer gestraft wurden, weil sie ungenießbares Fleisch verkauft hatten. Jeder derselben hatte ein ganzes Rind oder Schwein oder mehrere Schafe oder 50 bis 60Pfund Fleisch, die alle in diesem Zustande konfisziert worden waren. Bei einem derselben wurden 64 gefüllte Weihnachtsgänse mit Beschlag belegt, die zu Liverpool nicht verkauft und infolgedessen nach Manchester transportiert worden waren, wo sie faul und stinkend auf den Markt kamen. Die ganze Geschichte mit Namen und Strafbetrag wurde damals im „Manchester Guardian" 1871 erzählt. In den sechs Wochen vom I.Juli bis 14. August berichtet dasselbe Blatt drei Fälle derselben Art; nach der Nummer vom 3. Juli wurde zu Heywood ein Schwein von 200 Pfund, das tot und faul gefunden, bei einem Schlächter zerhackt und zum Verkauf ausgestellt war, konfisziert; nach der vom 3I.Juli wurden zwei Schlächter zu Wigan, deren einer schon früher sich desselben Vergehens schuldig gemacht hatte, wegen Ausstellung von ungenießbarem Fleisch in 2 Pfd. St. und 4 Pfd. St. Strafe genommen, und laut Nummer vom 10. August bei einem Krämer zu Bolton 26 ungenießbare Schinken mit Beschlag belegt, öffentlich verbrannt und der Krämer im Betrage von 20 sh. gestraft. Das sind aber lange noch nicht alle Fälle, noch nicht einmal ein Durchschnitt für die Zeit von sechs Wochen, wonach der Jahresdurchschnitt zu berechnen wäre - es kommen oft Zeiten, wo jede Nummer des zweimal wöchentlich erscheinenden „Guardian" einen solchen Fall aus Manchester oder dem umhegenden Fabrikdistrikt bringt und wenn man bedenkt, wie viele Fälle bei den ausgedehnten Märkten, die sich an allen Hauptstraßenfronten entlangziehen, und bei der wenigen Aufsicht den Marktinspektoren entgehen müssen - wie ist sonst auch die Frechheit erklärlich, mit der ganze Stücke Vieh zum Verkauf gebracht werden? wenn man bedenkt, wie groß die Versuchung bei den oben angegebenen unbegreiflich niedrigen Strafbeträgen sein muß - wenn man bedenkt, in welchem Zustande ein Stück Fleisch schon sein muß, um von den Inspektoren als total ungenießbar konfisziert werden zu können, so kann man unmöglich glauben, daß die Arbeiter im Durchschnitt gutes und nahrhaftes Fleisch bekommen. Aber sie werden auch auf noch andere Weise von der Geldgier der Mittelklasse geprellt. Die Krämer und Fabrikanten verfälschen alle Nahrungsmittel auf eine unverantwortliche Weise und mit der größten
Rücksichtslosigkeit gegen die Gesundheit derer, die sie verzehren sollen. Wir ließen oben den „Manchester Guardian" sprechen, hören wir jetzt ein anderes Blatt der Mittelklasse - ich liebe es, meine Gegner zu Zeugen zu nehmen — hören wir den „Liverpool Mercury":
„Gesalzene Butter wird für frische verkauft, entweder indem die Klumpen mit einem Überzuge von frischer Butter bedeckt oder indem ein frisches Pfund zum Schmecken oben hingelegt und nach dieser Probe die gesalzenen Pfunde verkauft werden, oder indem das Salz ausgewaschen und die Butter dann für frische verkauft wird. Unter den Zucker wird gestoßener Reis oder andere wohlfeile Sachen gemischt und zum vollen Preise verkauft. Der Abfall der Seifensiedereien wird ebenfalls mit andern Stoffen vermischt und als Zucker verkauft. Unter gemahlnen Kaffee wird Zichorie oder anderes wohlfeiles Zeug gemischt, ja sogar unter ungemahlnen, wobei die Mischung in die Form von Kaffeebohnen gebracht wird. Kakao wird sehr häufig mit feiner brauner Erde versetzt, die mit Hammelfett gerieben ist und sich dann mit dem echten Kakao leichter vermischt. Tee wird mit Schlehenblättern und anderem Unrat vermischt, oder ausgebrauchte Teeblätter werden getrocknet, auf kupfernen heißen Platten geröstet, damit sie wieder Farbe bekommen, und so für frisch verkauft. Pfeffer wird mit Staub von Hülsen usw. verfälscht; Portwein wird geradezu fabriziert (aus Farbstoffen, Alkohol usw.), da es notorisch ist, daß in England allein mehr davon getrunken wird, als in ganz Portugal wächst, und Tabak wird mit ekelhaften Stoffen aller Art vermischt in allen möglichen Formen, die diesem Artikel gegeben werden."
(Ich kann hinzusetzen, daß wegen der allgemeinen Tabaksverfälschung mehrere der angesehensten Tabakshändler von Manchester im vorigen Sommer öffentlich erklärten, kein derartiges Geschäft könne ohne Verfälschung bestehen, und daß keine einzige Zigarre, die weniger als3Pence kostet, ganz aus Tabak besteht.) Natürlich bleibt es nicht bei den Betrügereien in Nahrungsmitteln, deren ich noch ein Dutzend - unter andern die Niederträchtigkeit, Gips oder Kreide unter das Mehl zu mischen - anführen könnte; in allen Artikeln wird betrogen, Flanell, Strümpfe usw. werden gereckt, um größer zu erscheinen, und laufen nach der ersten Wäsche ein, schmales Tuch wird für anderthalb oder drei Zoll breiteres verkauft, Steingut wird so dünn glasiert, daß die Glasur so gut wie keine ist und gleich springt, und hundert andere Schändlichkeiten.Tout comme chez nous1 - aber wer die üblen Folgen der Betrügerei am meisten zu tragen hat, das sind die Arbeiter. Der Reiche wird nicht betrogen, weil er die teuren Preise der großen Läden bezahlen kann, die auf guten Ruf halten müssen und sich selbst am meisten schaden würden, wenn sie schlechte, verfälschte Ware hielten; der Reiche ist verwöhnt durch gute Kost und merkt den Betrug leichter mit seiner feinen Zunge.
1 Ganz wie bei uns
Aber der Arme, der Arbeiter, bei dem ein paar Pfennige viel ausmachen, der für wenig Geld viel Waren haben muß, der auf die Qualität so genau nicht sehen darf und kann, weil er nie Gelegenheit hatte, seinen Geschmackssinn zu verfeinern, der bekommt all die verfälschte, ja oft vergiftete Ware; er muß zu kleinen Krämern gehen, muß vielleicht sogar auf Kredit kaufen, und diese Krämer, die wegen ihres kleinen Kapitals und der größern Geschäftsunkosten bei gleicher Qualität gar nicht einmal so wohlfeil verkaufen können wie die bedeutenden Detaillisten, müssen schon um der von ihnen verlangten niedrigeren Preise und um der Konkurrenz der übrigen willen verfälschte Ware wissentlich oder unwissentlich anschaffen. Dazu, wenn ein bedeutender Detaillist, der großes Kapital in seinem Geschäft stecken hat, bei einem entdeckten Betrug durch seinen ruinierten Kredit mit ruiniert ist - was verschlägt es einem Winkelkrämer, der eine einzige Straße mit Waren versorgt, ob man ihm Betrügereien nachweist? Traut man ihm in Ancoats nicht mehr, so zieht er nach Chorlton oder Hulme, wo ihn niemand kennt und wo er wieder von vorn anfängt zu betrügen; und gesetzliche Strafen stehen auf den wenigsten Verfälschungen, es sei denn, daß sie zugleich einen Akzise-Unterschleif involvieren. Aber nicht nur in der Qualität, sondern auch in der Quantität der Waren wird der englische Arbeiter betrogen; die kleinen Krämer haben großenteils falsche Maße und Gewichte, und eine unglaubliche Menge Straffälle wegen solcher Vergehen sind täglich in den Polizeiberichten zu lesen. Wie allgemein diese Art Betrügerei in den Fabrikdistrikten ist, mögen ein paar Auszüge aus dem „Manchester Guardian" lehren; sie erstrecken sich nur über einen kurzen Zeitraum, und selbst hier liegen mir nicht alle Nummern vor: Guardfian], 16. Juni 1844. Rochdaler Sessionen - 4 Krämer wegen zu leichter Gewichte in 5 bis 10 sh. gestraft. Stockporter Sessionen - 2 Krämer mit 1 sh. bestraft - einer davon hatte sieben leichte Gewichte und eine falsche Waagschale, und beide waren vorher gewarnt. Guard. \9. Juni. Rochdaler Sessionen - ein Krämer mit 5 und zwei Bauern mit 10 sh. Strafe belegt. Guard. 22. Juni. Manchester Friedensgericht - 19 Krämer von 21/a sh. bis 2 Pfd. gestraft. Guard. 26. Juni. Ashtoner Sessionen - 14 Krämer und Bauern von 21/a sh bis 1 Pfd. St. bestraft. Hyder kleine Session - 9 Bauern und Krämer in die Kosten und 5 sh. Strafe verurteilt. Guard. 6.Juli. Manchester - 16 Krämer verurteilt in die Kosten und Strafen bis zu 10 sh. Guard. 13. Juli. Manchester - 9 Krämer von 21/2 bis 20 sh. bestraft.
Guard. 24. Juli. Rochdaler - 4 Krämer von 10 bis 20 sb. bestraft. Guard. 27. Juli. Bolton - 12 Krämer und Wirte verurteilt in die Kosten. Guard. 3. Aug. Bolton - drei desgleichen zu 21/2 bis 5 sh. Strafe. Guard. 10.Aug. Bolton - ein desgleichen zu 5 sh. Strafe. Und aus denselben Gründen, aus denen der Betrug in der Qualität der Waren hauptsächlich auf die Arbeiter fiel, aus denselben fällt auch der quantitative Betrug auf sie. Die gewöhnliche Nahrung der einzelnen Arbeiter selbst ist natürlich nach dem Arbeitslohn verschieden. Die besserbezahlten Arbeiter, besonders solche Fabrikarbeiter, bei denen jedes Familienglied imstande ist, etwas zu verdienen, haben, solange das dauert, gute Nahrung, täglich Fleisch und abends Speck und Käse. Wo weniger verdient wird, findet man nur sonntags oder zwei- bis dreimal wöchentlich Fleisch, dafür mehr Kartoffeln und Brot; gehen wir allmählich tiefer, so finden wir die animalische Nahrung auf ein wenig unter die Kartoffeln geschnittenen Speck reduziert - noch tiefer verschwindet auch dieses, es bleibt nur Käse, Brot, Hafermehlbrei (porridge) und Kartoffeln, bis auf der tiefsten Stufe, bei den Irländern, nur Kartoffeln die Nahrung bilden. Dazu wird allgemein ein dünner Tee, vielleicht mit etwas Zucker, Milch oder Branntwein vermischt, getrunken; der Tee gilt in England und selbst in Irland für ein ebenso notwendiges und unerläßliches Getränk wie bei uns der Kaffee, und wo kein Tee mehr getrunken wird, da herrscht immer die bitterste Armut. Alles das aber unter der Voraussetzung, daß der Arbeiter beschäftigt ist; wenn er keine Arbeit hat, so ist er ganz dem Zufall überlassen und ißt, was er geschenkt bekommt, sich zusammenbettelt oder - stiehlt; und wenn er nichts bekommt, so verhungert er eben, wie wir vorhin gesehen haben. Es versteht sich überhaupt, daß die Quantität der Nahrung sich wie die Qualität nach dem Lohne richtet und daß bei den schlechter bezahlten Arbeitern, wenn sie noch gar eine starke Familie haben, auch während voller Beschäftigung Hungersnot herrscht; und die Zahl dieser schlechter bezahlten Arbeiter ist sehr groß. Namentlich in London, wo die Konkurrenz der Arbeiter in demselben Maße steigt wie die Bevölkerung, ist diese Klasse sehr zahlreich, aber auch in allen andern Städten finden wir sie. Da werden denn allerlei Auskunftsmittel gesucht, Kartoffelschalen, Gemüseabfall, faulende Vegetabilien* aus Mangel an anderer Nahrung gegessen und alles begierig herbeigeholt, was vielleicht noch ein Atom Nahrungsstoff enthalten könnte. Und wenn der Wochenlohn vor dem Ende der Woche verzehrt
* „Weekly Dispatch", April oder Mai 1844, nach einem Berichte des Dr. Southwood Smith über die Lage der Armen in London.
ist, so kommt es oft genug vor, daß die Familie in den letzten Tagen derselben gar nichts oder nur soviel Nahrung bekommt, als dringend nötig ist, sie vor dem Verhungern zu schützen. Eine solche Lebensweise kann natürlich nur Krankheiten in Masse erzeugen, und wenn diese eintreten, wenn vollends der Mann, von dessen Arbeit die Familie hauptsächlich lebt und dessen angestrengte Tätigkeit am meisten Nahrung erfordert, der also auch am ersten unterliegt - wenn dieser vollends1 krank wird, so ist die Not erst groß, so tritt die Brutalität, mit der die Gesellschaft ihre Mitglieder gerade dann verläßt, wenn sie ihrer Unterstützung am meisten bedürfen, erst recht grell hervor. Fassen wir nun zum Schluß die angeführten Tatsachen nochmals kurz zusammen: Die großen Städte sind hauptsächlich von Arbeitern bewohnt, da im günstigsten Falle ein Bourgeois auf zwei, oft auch drei, hier und da auf vier Arbeiter kommt; diese Arbeiter haben selbst durchaus kein Eigentum und leben von dem Arbeitslohn, der fast immer aus der Hand in den Mund geht; die in lauter Atome aufgelöste Gesellschaft kümmert sich nicht um sie, überläßt es ihnen, für sich und ihre Familien zu sorgen, und gibt ihnen dennoch nicht die Mittel an die Hand, dies auf eine wirksame und dauernde Weise tun zu können; jeder Arbeiter, auch der beste, ist daher stets der Brotlosigkeit, das heißt dem Hungertode ausgesetzt, und viele erliegen ihm; die Wohnungen der Arbeiter sind durchgehends schlecht gruppiert, schlecht gebaut, in schlechtem Zustande gehalten, schlecht ventiliert, feucht und ungesund; die Einwohner sind auf den kleinsten Raum beschränkt, und in den meisten Fällen schläft wenigstens eine Familie in einem Zimmer; die innere Einrichtung der Wohnungen ist ärmlich in verschiedenen Abstufungen bis zum gänzlichen Mangel auch der notwendigsten Möbel; die Kleidung der Arbeiter ist ebenfalls durchschnittlich kärglich und bei einer großen Menge zerlumpt; die Nahrung im allgemeinen schlecht, oft fast ungenießbar und in vielen Fällen wenigstens zeitweise in unzureichender Quantität, so daß im äußersten Falle Hungertod eintritt. Die Arbeiterklasse der großen Städte bietet uns so eine Stufenleiter verschiedener Lebenslagen dar - im günstigsten Falle eine temporär erträgliche Existenz, für angestrengte Arbeit guten Lohn, gute Wohnung und gerade keine schlechte Nahrung - alles natürlich vom Arbeiterstandpunkt aus gut und erträglich - im schlimmsten bitteres Elend, das sich bis zur Obdachlosigkeit und dem Hungertode steigern kann; der Durchschnitt liegt aber dem schlimmsten Falle weit näher als dem besten. Und diese Stufenleiter teilt sich nicht etwa bloß in fixe Klassen, so daß man
1 (1892) wenn vollends dieser
sagen könnte: Dieser Fraktion der Arbeiter geht es gut, jener schlecht, und so bleibt es und ist es schon von jeher gewesen; sondern, wenn das auch hier und da der Fall ist, wenn einzelne Arbeitszweige im ganzen einen Vorzug vor andern genießen, so schwankt doch auch die Lage der Arbeiter in jeder Branche so sehr, daß ein jeder einzelne Arbeiter in den Fall kommen kann, die ganze Stufenleiter zwischen verhältnismäßigem Komfort und dem äußersten Mangel, ja dem Hungertode durchzumachen - wie denn auch fast jeder englische Proletarier von bedeutenden Glückswechseln zu erzählen weiß. Die Ursachen davon wollen wir jetzt etwas näher betrachten.
20 Marx/Engels, Woiie, Bd. 2
Die Konkurrenz
Wir haben in der Einleitung gesehen, wie die Konkurrenz gleich im Anfange der industriellen Bewegung das Proletariat schuf, indem sie bei vermehrter Nachfrage nach gewebten Stoffen den Weblohn steigerte und dadurch die webenden Bauern veranlaßte, ihre Ackerwirtschaft dranzugehen, um am Webstuhl desto mehr verdienen zu können; wir haben gesehen, wie sie die kleinen Bauern durch das System der Bewirtschaftung im großen verdrängte, sie zu Proletariern herabsetzte und dann teilweise in die Städte zog; wie sie ferner die kleine Bourgeoisie zum größten Teil ruinierte und ebenfalls zu Proletariern herabdrückte, wie sie das Kapital in den Händen weniger und die Bevölkerung in den großen Städten zentralisierte. Das sind die verschiedenen Wege und Mittel, durch welche die Konkurrenz, wie sie in der modernen Industrie zur vollen Erscheinung und zur freien Entwicklung ihrer Konsequenzen kam, das Proletariat schuf und ausdehnte. Wir werden jetzt ihren Einfluß auf das schon bestehende Proletariat zu betrachten haben. Und hier haben wir zuerst die Konkurrenz der einzelnen Arbeiter unter sich in ihren Folgen zu entwickeln. Die Konkurrenz ist der vollkommenste Ausdruck des in der modernen bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Kriegs Aller gegen Alle. Dieser Krieg, ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles, also auch im Notfalle ein Krieg auf Leben und Tod, besteht nicht nur zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Klassen; jeder ist dem andern im Wege, und jeder sucht daher auch alle, die ihm im Wege sind, zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen. Die Arbeiter konkurrieren unter sich, wie die Bourgeois unter sich konkurrieren. Der mechanische Weber konkurriert gegen den Handweber, der unbeschäftigte oder schlecht bezahlte Handweber gegen den beschäftigten oder besser bezahlten und sucht ihn zu verdrängen. Diese Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander ist aber die schlimmste Seite der jetzigen Verhältnisse für den
Arbeiter, die schärfste Waffe gegen das Proletariat in den Händen der Bourgeoisie. Daher das Streben der Arbeiter, diese Konkurrenz durch Assoziationen aufzuheben, daher die Wut der Bourgeoisie gegen diese Assoziationen und ihr Triumph über jede diesen beigebrachte Schlappe. Der Proletarier ist hülflos; er kann für sich selbst nicht einen einzigen Tag leben. Die Bourgeoisie hat sich das Monopol aller Lebensmittel im weitesten Sinne des Worts angemaßt. Was der Proletarier braucht, kann er nur von dieser Bourgeoisie, die durch die Staatsgewalt in ihrem Monopol geschützt wird, erhalten. Der Proletarier ist also rechtlich und tatsächlich der Sklave der Bourgeoisie; sie kann über sein Leben und seinen Tod verfügen. Sie bietet ihm ihre Lebensmittel an, aber für ein „Äquivalent", für seine Arbeit; sie läßt ihm sogar noch den Schein, als ob er aus freiem Willen handelte, mit freier, zwangloser Einwilligung, als mündiger Mensch einen Vertrag mit ihr abschlösse. Schöne Freiheit, wo dem Proletarier keine andere Wahl bleibt, als die Bedingungen, die ihm die Bourgeoisie stellt, zu unterschreiben oder — zu verhungern, zu erfrieren, sich nackt bei den Tieren des Waldes zu betten! Schönes „Äquivalent", dessen Betrag ganz im Belieben der Bourgeoisie steht! Und ist der Proletarier ein solcher Narr, lieber verhungern zu wollen, als sich in die „billigen" Vorschläge der Bourgeois, seiner „natürlichen Vorgesetzten"*, zu fügen - je nun, es findet sich leicht ein anderer, es gibt Proletarier genug in der Welt, und nicht alle sind so verrückt, nicht alle ziehen den Tod dem Leben vor. Da haben wir die Konkurrenz der Proletarier untereinander. Wenn alle Proletarier nur den Willen aussprächen, lieber verhungern als für die Bourgeoisie arbeiten zu wollen, so würde diese schon von ihrem Monopol abstehen müssen; aber das ist nicht der Fall, das ist sogar ein ziemlich unmöglicher Fall, und daher ist die Bourgeoisie noch immer guter Dinge. Nur eine Schranke hat diese Konkurrenz der Arbeiter - kein Arbeiter wird für weniger arbeiten wollen, als er zu seiner Existenz nötig hat; wenn er einmal verhungern soll, so wird er lieber faul als arbeitend verhungern wollen. Freilich ist diese Schranke relativ; der eine braucht mehr als der andere, der eine ist an mehr Bequemlichkeit gewöhnt als der andere-derEngländer, der noch etwas zivilisiert ist, braucht mehr als der Irländer, der in Lumpen geht, Kartoffeln ißt und in einem Schweinestall schläft. Aber das hindert den Irländer nicht, gegen den Engländer zu konkurrieren und allmählich den Lohn und mit ihm den Zivilisationsgrad des englischen Arbeiters auf das Niveau des irischen herabzudrükken. Gewisse Arbeiten erfordern einen bestimmten Zivilisationsgrad, und dahin gehören fast alle industriellen; daher muß der Lohn hier schon im Interesse
* Lieblingsausdruck der englischen Fabrikanten.
der Bourgeoisie selbst so hoch sein, daß er dem Arbeiter möglich macht, sich in dieser Sphäre zu erhalten. Der frischeingewanderte, im ersten besten Stalle kampierende Irländer, der selbst in einer erträglichen Wohnung jede Woche auf die Straße gesetzt wird, weil er alles versäuft und die Miete nicht bezahlen kann, der würde ein schlechter Fabrikarbeiter sein; daher muß den Fabrikarbeitern so viel gegeben werden, daß sie ihre Kinder zu regelmäßiger Arbeit erziehen können - aber auch nicht mehr, damit sie nicht den Lohn ihrer Kinder entbehren können und sie etwas anderes werden lassen als bloße Arbeiter. Auch hier ist die Schranke, das Minimum des Lohns, relativ; wo jeder in der Familie arbeitet, braucht der einzelne um soviel weniger zu erhalten, und die Bourgeoisie hat die Gelegenheit zur Beschäftigung und Rentbarmachung der Weiber und Kinder, die ihr in der Maschinenarbeit gegeben wurde, zur Herabdrückung des Lohns weidlich benutzt. Natürlich ist nicht in jeder Familie jeder arbeitsfähig, und eine solche Familie würde sich schlecht stehen, wenn sie zu dem auf eine ganz arbeitsfähige Familie berechneten Minimum des Lohns arbeiten wollte; daher stellt sich der Lohn hier auf einen Durchschnitt, bei dem es der ganz arbeitsfähigen Familie ziemlich gut, der weniger arbeitsfähige Mitglieder zählenden ziemlich schlecht geht. Aber im schlimmsten Falle wird jeder Arbeiter lieber das bißchen Luxus oder Zivilisation aufgeben, an das er gewöhnt war, um nur die nackte Existenz zu fristen; er wird lieber einen Schweinestall als gar kein Obdach, lieber Lumpen als gar keine Kleider, lieber nur Kartoffeln haben wollen als verhungern. Er wird lieber, in Aussicht auf bessere Zeiten, mit halbem Lohn zufrieden sein, als sich still auf die Straße setzen und vor den Augen der Welt sterben, wie so mancher Brotlose es getan hat. Dies bißchen also, dies etwas mehr als nichts, ist das Minimum des Lohns. Und wenn mehr Arbeiter da sind, als die Bourgeoisie zu beschäftigen für gut hält, wenn also am Ende des Konkurrenzkampfs doch noch eine Zahl übrigbleibt, die keine Arbeit findet, so muß diese Zahl eben verhungern; denn der Bourgeois wird ihnen doch wahrscheinlich keine Arbeit geben, wenn er die Produkte ihrer Arbeit nicht mit Nutzen verkaufen kann. Wir sehen hieraus, was das Minimum des Lohns ist. Das Maximum wird durch die Konkurrenz der Bourgeois gegeneinander festgestellt, denn wir sahen, wie auch diese konkurrieren. Der Bourgeois kann sein Kapital nur durch Handel oder Industrie vergrößern, und zu beiden Zwecken braucht er Arbeiter. Selbst wenn er sein Kapital auf Zinsen legt, braucht er sie indirekt, denn ohne Handel und Industrie würde ihm niemand Zinsen dafür geben, würde niemand es benutzen können. So braucht allerdings der Bourgeois den Proletarier, aber nicht zum unmittelbaren Leben - er könnte ja von seinem
Kapitale zehren —, sondern wie man einen Handelsartikel oder ein Lasttier braucht, zur Bereicherung. Der Proletarier verarbeitet dem Bourgeois die Waren, die dieser mit Nutzen verkauft. Wenn also die Nachfrage nach diesen Waren wächst, so daß die gegeneinander konkurrierenden Arbeiter alle beschäftigt werden, vielleicht einige zu wenig da sind, so fällt die Konkurrenz der Arbeiter weg, und die. Bourgeois fangen an, gegeneinander zu konkurrieren. Der Arbeiter suchende Kapitalist weiß sehr wohl, daß er bei den infolge der vermehrten Nachfrage steigenden Preisen größeren Gewinn macht, also auch lieber etwas mehr Lohn bezahlt, als sich den ganzen Gewinn entgehen läßt; er wirft mit der Wurst nach dem Schinken, und wenn er nur diesen bekommt, gönnt er dem Proletarier gern die Wurst. So jagt ein Kapitalist dem andern die Arbeiter ab, und der Lohn steigt. Aber nur so hoch, wie die steigende Nachfrage erlaubt. Wenn der Kapitalist, der wohl von seinem außerordentlichen Gewinn etwas aufopferte, auch von seinem ordentlichen, d. h. Durchschnittsgewinn etwas opfern sollte, so hütet er sich wohl, höheren als Durchschnittslohn zu zahlen. Hieraus können wir den Durchschnittslohn bestimmen. Unter Durchschnittsverhältmssen, d. h. wenn weder Arbeiter noch Kapitalisten Grund haben, besonders gegeneinander zu konkurrieren, wenn gerade so viel Arbeiter da sind, als beschäftigt werden können, um die gerade verlangten Waren zu verfertigen, wird der Lohn etwas mehr als das Minimum betragen. Wie sehr er das Minimum übersteigen wird, wird von den Durchschnittsbedürfnissen und dem Zivilisationsgrad der Arbeiter abhängen. Wenn die Arbeiter gewohnt sind, wöchentlich mehrere Male Fleisch zu essen, so werden sich die Kapitalisten bequemen müssen, den Arbeitern so viel Lohn zu bezahlen, daß diesen eine solche Nahrung erschwinglich wird. Nicht weniger, weil die Arbeiter nicht unter sich konkurrieren, also auch keine Ursache haben, mit weniger vorliebzunehmen; nicht mehr, weil der Mangel der Konkurrenz unter den Kapitalisten diesen keine Veranlassung gibt, die Arbeiter durch außerordentliche Begünstigungen an sich zu ziehen. Dies Maß der durchschnittlichen Bedürfnisse und der durchschnittlichen Zivilisation der Arbeiter ist durch die komplizierten Verhältnisse der heutigen englischen Industrie ein sehr verwickeltes und für verschiedene Arbeiterklassen verschiedenes geworden, wie schon oben angedeutet wurde. Die meisten industriellen Arbeiten erfordern indes eine gewisse Geschicklichkeit und Regelmäßigkeit, und für diese, die dann auch einen gewissen Zivilisationsgrad erfordern, muß dann auch der Durchschnittslohn so sein, daß er den Arbeiter veranlaßt, sich diese Geschicklichkeit anzueignen und dieser Regelmäßigkeit der Arbeit sich zu unterwerfen. Daher kommt es, daß der
Lohn der Industriearbeiter durchschnittlich höher ist als der der bloßen Lastträger, Tagelöhner usw., namentlich höher als der der Arbeiter auf dem Lande, wozu freilich noch die Verteurung der Lebensmittel in den Städten ihr Teil beiträgt. Oder deutsch gesprochen: Der Arbeiter ist rechtlich und faktisch Sklave der besitzenden Klasse, der Bourgeoisie, so sehr ihr Sklave, daß er wie eine Ware verkauft wird, wie eine Ware im Preise steigt und fällt. Steigt die Nachfrage nach Arbeitern, so steigen die Arbeiter im Preise; fällt sie, so fallen sie im Preise; fällt sie so sehr, daß eine Anzahl Arbeiter nicht verkäuflich sind, „auf Lager bleiben", so bleiben sie eben liegen, und da sie vom bloßen Liegen nicht leben können, so sterben sie Hungers. Denn, um in der Sprache der Nationalökonomen zu sprechen, die auf ihren Unterhalt verwendeten Kosten würden sich nicht „reproduzieren", würden weggeworfnes Geld sein, und dazu gibt kein Mensch sein Kapital her. Und soweit hat Herr Malthus mit seiner Populationstheorie1 vollkommen recht. Der ganze Unterschied gegen die alte, offenherzige Sklaverei ist nur der, daß der heutige Arbeiter frei zu sein scheint, weil er nicht auf einmal verkauft wird, sondern stückweise, pro Tag, pro Woche, pro Jahr, und weil nicht ein Eigentümer ihn dem andern verkauft, sondern er sich selbst auf diese Weise verkaufen muß, da er ja nicht der Sklave eines einzelnen, sondern der ganzen besitzenden Klasse ist. Für ihn bleibt die Sache im Grunde dieselbe, und wenn dieser Schein der Freiheit ihm auch einerseits einige wirkliche Freiheit geben muß, so hat er auf der andern Seite auch den Nachteil, daß ihm kein Mensch seinen Unterhalt garantiert, daß er von seinem Herrn, der Bourgeoisie, jeden Augenblick zurückgestoßen und dem Hungertode überlassen werden kann, wenn die Bourgeoisie kein Interesse mehr an seiner Beschäftigung, an seiner Existenz hat. Die Bourgeoisie dagegen steht sich bei dieser Einrichtung viel besser als bei der alten Sklaverei - sie kann ihre Leute abdanken, wenn sie Lust hat, ohne daß sie dadurch ein angelegtes Kapital verlöre, und bekommt überhaupt die Arbeit viel wohlfeiler getan, als es sich durch Sklaven tun läßt, wie dies Adam Smith* ihr zu Tröste vorrechnet. Hieraus folgt denn auch, daß Adam Smith ganz recht hat, wenn er (a. a. 0. [p. 133]) den Satz aufstellt:
* „Man hat gesagt, daß der Verschleiß eines Sklaven auf Kosten seines Herrn vor sich gehe, während der eines freien Arbeiters für Rechnung dieses Arbeiters geschehe. Aber der Verschleiß des letzteren ist ebenfalls für Rechnung des Herrn. Der den Tagelöhnern, Dienern usw. von jeglicher Art bezahlte Lohn muß so hoch sein, daß er diese
1 Bevölkerungstheorie
„daß die Nachfrage nach Arbeitern, gerade wie die Nachfrage nach irgendeinem andern Artikel, die Produktion von Arbeitern, die Quantität der erzeugten Menschen reguliert, diese Produktion beschleunigt, wenn sie zu langsam geht, sie aufhält, wenn sie zu rasch fortschreitet". Ganz wie mit jedem andern Handelsartikel - ist zuwenig da, so steigen die Preise, d. h. der Lohn, es geht den Arbeitern besser, die Heiraten vermehren sich, es werden mehr Menschen erzeugt, es wachsen mehr Kinder heran, bis genug Arbeiter produziert sind; ist zuviel da, so fallen die Preise, es tritt BrotIosigkeit, Elend, Hungersnot und infolge davon Seuchen ein, und raffen die „überflüssige Bevölkerung" weg. Und Malthus, der obigen Smithschen Satz weiter ausführt, hat ebenfalls in seiner Weise recht, wenn er behauptet, es sei stets überflüssige Bevölkerung da, es seien immer zuviel Menschen in der Welt; er hat nur dann unrecht, wenn er behauptet, es seien mehr Menschen da, als von den vorhandenen Lebensmitteln ernährt werden könnten. Die überflüssige Bevölkerung wird vielmehr durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich erzeugt, die jeden einzelnen Arbeiter zwingt, täglich so viel zu arbeiten, als seine Kräfte ihm nur eben gestatten. Wenn ein Fabrikant täglich zehn Arbeiter neun Stunden lang beschäftigen kann, so kann er, wenn die Arbeiter zehn Stunden täglich arbeiten, nur neun beschäftigen, und der zehnte wird brotlos. Und wenn der Fabrikant zu einer Zeit, wo die Nachfrage nach Arbeitern nicht sehr groß ist, die neun Arbeiter durch die Drohung, sie zu entlassen, zwingen kann, für denselben Lohn täglich eine Stunde mehr, also zehn Stunden zu arbeiten, so entläßt er den zehnten und spart dessen Lohn. Wie hier im kleinen, so geht es bei einer Nation im großen. Die durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich auf ihr Maximum gesteigerten Leistungen jedes einzelnen, die Teilung der Arbeit, die Einführung von Maschinerie, die Benutzung der Elementarkräfte werfen eine Menge Arbeiter außer Brot. Diese brotlosen Arbeiter kommen aber aus dem Markte; sie können nichts mehr kaufen, also die früher von ihnen verlangte Quantität Handelswaren wird jetzt nicht mehr verlangt, braucht also nicht mehr angefertigt zu werden, die
in den Stand setzt, die Rasse der Tagelöhner und Diener in der Weise fortzupflanzen, wie es die zunehmende, stationäre oder abnehmende Nachfrage der Gesellschaft nach solchen Leuten gerade verlangt. Aber obgleich der Verschleiß eines freien Arbeiters ebenfalls auf Kosten des Herrn vor sich geht, so kostet er ihm doch in der Regel viel weniger als der eines Sklaven. Der Fonds, der dazu bestimmt ist, den Verschleiß eines Sklaven zu reparieren oder zu ersetzen, wird gewöhnlich von einem nachlässigen Herrn oder unaufmerksamen Aufseher verwaltet etc." - A.Smith, „Wealth of Nations" [Der Reichtum der Nationen], 1,8, p. 134 der MacCullochschen vierbändigen Ausgabe.
früher mit deren Verfertigung beschäftigten Arbeiter werden also wieder brotlos, treten vom Markte ebenfalls ab, und so geht es immer 'weiter, immer denselben Kreislauf durch - oder vielmehr, so würde es gehen, wenn nicht andre Umstände dazwischenträten. Die Einführung der oben angeführten industriellen Mittel, die Produktion zu vermehren, führt nämlich auf die Dauer niedrigere Preise der produzierten Artikel und infolge davon einen vermehrten Konsum herbei, so daß ein großer Teil der außer Brot gesetzten Arbeiter in neuen Arbeitszweigen und freilich nach langen Leiden endlich doch wieder unterkommt. Tritt hierzu noch, wie es in England während der letzten sechzig Jahre geschah, die Eroberung fremder Märkte, so daß die Nachfrage nach Manufakturwaren fortwährend und rasch steigt, so steigt auch die Nachfrage nach Arbeitern und mit ihr die Bevölkerung in demselben Verhältnisse. Statt also abzunehmen, hat sich die Einwohnerzahl des britischen Reichs reißend schnell vermehrt, vermehrt sich noch fortwährend und bei all der steigenden Ausdehnung der Industrie, bei all der im ganzen und großen steigenden Nachfrage nach Arbeitern hat England, nach dem Geständnisse aller offiziellen Parteien (d. h. der Tories, Whigs und Radikalen), dennoch fortwährend überzählige und überflüssige Bevölkerung, ist dennoch fortwährend im ganzen die Konkurrenz unter den Arbeitern größer als die Konkurrenz um Arbeiter. Woher kommt dieser Widerspruch? Aus dem Wesen der Industrie und Konkurrenz und den darin begründeten Handelskrisen. Bei der heutigen regellosen Produktion und Verteilung der Lebensmittel, die nicht um der unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse, sondern um des Geldgewinns willen unternommen wird, bei dem System, wonach jeder auf eigne Faust arbeitet und sich bereichert, muß alle Augenblicke eine Stockung entstehen. England z. B. versorgt eine Menge Länder mit den verschiedensten Waren. Wenn nun auch der Fabrikant weiß, wieviel von jedem Artikel in jedem einzelnen Lande jährlich gebraucht wird, so weiß er doch nicht, wieviel zu jeder Zeit die Vorräte dort betragen, und noch viel weniger, wieviel seine Konkurrenten dorthin schicken. Er kann nur aus den ewig schwankenden Preisen einen unsichern Schluß auf den Stand der Vorräte und der Bedürfnisse machen, er muß aufs Geratewohl seineWaren hinausschicken; alles geschieht blindlings ins Blaue hinein, mehr oder weniger nur unter der Ägide des Zufalls. Auf die geringsten günstigen Berichte hin schickt jeder, was er kann und nicht lange, so ist ein solcher Markt überfüllt mit Waren, der Verkauf stockt, die Kapitalien1 bleiben aus, die Preise fallen, und die englische
1 (1892) Rückflüsse
Industrie hat keine Beschäftigung für ihre Arbeiter mehr. Im Anfange der industriellen Entwicklung beschränkten sich diese Stockungen auf einzelne Fabrikationszweige und einzelne Märkte; aber durch die zentralisierende Wirkung der Konkurrenz, die die Arbeiter, die in einem Arbeitszweige brotlos werden, auf die am leichtesten erlernbaren aus den übrigen, und die in einem Markte nicht mehr unterzubringenden Waren auf die übrigen Märkte wirft und dadurch allmählich die einzelnen kleinen Krisen näher zusammenrückt, sind diese nach und nach in eine einzige Reihe von periodisch wiederkehrenden Krisen vereinigt worden. Eine solche Krisis pflegt alle fünf Jahre auf eine kurze Periode der Blüte und des allgemeinen Wohlbefindens zu folgen; der heimische Markt wie alle fremden Märkte liegen voll englischer Fabrikate und können diese letzteren nur langsam konsumieren; die industrielle Bewegung stockt in fast allen Zweigen; die kleineren Fabrikanten und Kaufleute, die das Ausbleiben ihrer Kapitalien nicht überstehen können, fallieren, die größeren hören während der Dauer der schlimmsten Epoche auf, Geschäfte zu machen, setzen ihre Maschinen still oder lassen nur „kurze Zeit" arbeiten, d. h. etwa nur halbe Tage; der Lohn fällt durch die Konkurrenz der Brotlosen, die Verringerung der Arbeitszeit und den Mangel an gewinnbringenden Warenverkäufen; allgemeines Elend verbreitet sich unter den Arbeitern, die etwaigen kleinen Ersparnisse einzelner sind rasch verzehrt, die wohltätigen Anstalten werden überlaufen, die Armensteuer verdoppelt, verdreifacht sich und reicht doch nicht aus, die Zahl der Verhungernden vermehrt sich, und auf einmal tritt die ganze Menge der „überflüssigen" Bevölkerung in schreckenerregender Anzahl hervor. Das dauert dann eine Zeitlang; die „Uberflüssigen"1 schlagen sich durch, so gut es geht, oder schlagen sich auch nicht durch; die Wohltätigkeit und die Armengesetze helfen vielen zu einer mühsamen Fristung ihrer Existenz; andre finden hier und da in solchen Arbeitszweigen, die der Konkurrenz weniger offengelegt worden sind, die der Industrie ferner stehen, eine kümmerliche Lebenserhaltung und mit wie wenigem kann der Mensch sich nicht für eine Zeitlang durchschlagen! -Allmählich wird der Stand der Dinge günstiger; die aufgehäuften Warenvorräte werden konsumiert, die allgemeine Niedergeschlagenheit der Handels- und Industriemänner hindert ein zu rasches Auf füllen der Lücken, bis endlich steigende Preise und günstige Berichte von allen Seiten die Tätigkeit wieder herstellen. Die Märkte liegen meist weit entfernt; bis die ersten neuen Zufuhren hingelangen können, steigt die Nachfrage fortwährend und mit ihr die Preise; man reißt sich um die zuerst ankommenden Waren, die
1 (1892) „Überschüssigen"
ersten Verkäufe beleben den Verkehr noch mehr, die noch erwarteten Zufuhren versprechen noch höhere Preise, man fängt in Erwartung eines ferneren Aufschlags an, auf Spekulation zu kaufen und so die für den Konsum bestimmten Waren gerade zur nötigsten Zeit dem Konsum zu entziehen - die Spekulation steigert die Preise noch mehr, da sie andre zum Kaufen ermutigt und neue Zufuhren vorwegnimmt - alles das wird nach England berichtet, die Fabrikanten fangen wieder flott an zu arbeiten, neue Fabriken werden errichtet, alle Mittel aufgeboten, um die günstige Epoche auszubeuten; die Spekulation tritt auch hier ein, ganz mit derselben Wirkung wie auf den fremden Märkten, die Preise steigernd, die Waren dem Konsum wegnehmend, durch beides die industrielle Produktion zur höchsten Kraftanstrengung treibend - dann kommen die „unsoliden" Spekulanten, die mit fiktivem Kapital arbeiten, vom Kredit leben, die ruiniert sind, wenn sie nicht gleich flott verkaufen können, und stürzen sich in dies allgemeine, unordentliche Wettrennen nach Geldgewinn, vermehren die Unordnung und Hast durch ihre eigne zügellose Leidenschaft, welche Preise und Produktion bis zum Wahnsinn steigert - es ist ein tolles Treiben, das auch den Ruhigsten und Erfahrensten ergreift, es wird gehämmert, gesponnen, gewoben, als gälte es, die ganze Menschheit neu zu equipieren, als wären ein paar Tausend Millionen neuer Konsumenten auf dem Monde entdeckt worden. Auf einmal fangen drüben die unsoliden Spekulanten, die Geld haben müssen, zu verkaufen an - unter dem Marktpreise, versteht sich, denn die Sache hat Eile dem einen Verkauf folgen mehrere, die Preise wanken, die Spekulanten werfen erschreckt ihre Waren in den Markt, der Markt ist in Unordnung, der Kredit ist erschüttert, ein Haus nach dem andern stellt die Zahlungen ein, Bankerott folgt auf Bankerott, und man findet, daß dreimal mehr Ware am Platze und unterwegs ist, als der Konsum erfordern würde. Die Nachrichten kommen nach England, wo in der Zwischenzeit noch immer mit aller Gewalt fabriziert worden - ein panischer Schrecken ergreift auch hier die Gemüter, die Fallissements von drüben ziehen andre in England nach sich, die Stockung stürzt dazu noch eine Menge Häuser, in der Angst werden auch hier alle Vorräte gleich an den Markt gebracht und der Schrecken dadurch noch übertrieben. Das ist der Anfang derKrisis, die dann wieder genau denselben Verlauf nimmt wie die vorige und später wieder in eine Periode der Blüte umschlägt. So geht es in einem fort, Blüte, Krisis, Blüte, Krisis, und dieser ewige Kreislauf, in dem sich die englische Industrie bewegt, pflegt sich, wie gesagt, in je fünf oder sechs Jahren zu vollenden. Hieraus geht hervor, daß zu allen Zeiten, ausgenommen in den kurzen Perioden höchster Blüte, die englische Industrie eine unbeschäftigte Reserve
von Arbeitern haben muß, um eben während der am meisten belebten Monate die im Markte verlangten Massen von Waren produzieren zu können. Diese Reserve ist mehr oder minder zahlreich, je nachdem die Lage des Marktes minder oder mehr die Beschäftigung eines Teiles derselben veranlaßt. Und wenn auch bei dem höchsten Blütenstande des Marktes wenigstens zeitweise die Ackerbaudistrikte, Irland und die weniger von dem Aufschwung ergriffenen Arbeitszweige eine Anzahl Arbeiter liefern können, so bilden diese einerseits doch eine Minderzahl und gehören andrerseits ebenfalls zur Reserve, nur mit dem Unterschiede, daß der jedesmalige Aufschwung es erst zeigt, daß sie dazu gehören. Man schränkt sich, wenn sie zu den belebteren Arbeitszweigen übertreten, daheim ein, um den Ausfall weniger zu merken, arbeitet länger, beschäftigt Weiber und jüngere Leute, und wenn sie beim Eintritt der Krisis entlassen zurückkommen, finden sie, daß ihre Stellen besetzt und sie überflüssig sind - wenigstens großenteils. Diese Reserve, zu der während der Krisis eine ungeheure Menge und während der Zeitabschnitte, die man als Durchschnitt von Blüte und Krisis annehmen kann, noch immer eine gute Anzahl gehören - das ist die „überzählige Bevölkerung" Englands, die durch Betteln und Stehlen, durch Straßenkehren, Einsammeln von Pferdemist, Fahren mit Schubkarren oder Eseln, Herumhökern oder einzelne gelegentliche kleine Arbeiten eine kümmerliche Existenz fristet. Man sieht in allen großen Städten eine Menge solcher Leute, die so durch kleine gelegentliche Verdienste „Leib und Seele zusammenhalten", wie die Engländer sagen. Es ist merkwürdig, zu welchen Erwerbszweigen diese „überflüssige Bevölkerung" ihre Zuflucht nimmt. Die Londoner Straßenkehrer (cross sweeps1) sind weltbekannt; bisher wurden aber nicht nur diese Kreuzwege, sondern auch in andern großen Städten die Hauptstraßen von Arbeitslosen gekehrt, die von der Armen- oder Straßenverwaltung dazu angenommen wurden - jetzt hat man eine Maschine, die täglich durch die Straßen rasselt und den Arbeitslosen diesen Erwerbszweig verdorben hat. Auf den großen Routen, die in die Städte führen und auf denen viel Wagenverkehr ist, sieht man eine Menge Leute mit kleinen Karren, die den frischgefallnen Pferdemist mit Lebensgefahr zwischen den vorbeirollenden Kutschen und Omnibussen wegscharren und zum Verkauf einsammeln - dafür müssen sie oft noch wöchentlich ein paar Shilling an die Straßenverwaltung bezahlen, und an vielen Orten ist es ganz verboten, weil sonst die Straßenverwaltung ihren zusammengekehrten Kot, der nicht den gehörigen Anteil Pferdemist enthielt, nicht als Dünger verkaufen konnte. Glücklich sind diejenigen „Überflüs
1 (1892) crossing sweeps
sigen", die sich eine Schubkarre verschaffen und damit Fuhren tun können, noch glücklicher diejenigen, denen es gelingt, Geld für einen Esel nebst Karre zu bekommen - der Esel muß sich sein Futter selbst suchen oder erhält ein wenig zusammengesuchten Abfall und kann doch einiges Geld einbringen. Die meisten „Überflüssigen" werfen sich aufs Hökern. Namentlich Samstag abends, wenn die ganze Arbeiterbevölkerung auf den Straßen ist, sieht man die Menge zusammen, die davon lebt. Schnürriemen, Hosenträger, Litzen, Orangen, Kuchen, kurz alle möglichen Artikel werden von zahllosen Männern, Frauen und Kindern ausgeboten - und auch sonst sieht man alle Augenblicke solche Höker mit Orangen, Kuchen, Ginger-beer oder Nettlebeer* in den Straßen stehen oder umherziehen. Zündhölzchen und derartige Dinge, Siegellack, Patent-Kompositionen zum Feueranzünden usw. bilden ebenfalls Handelsartikel für diese Leute. Andre - sogenannte jobbers - gehen in den Straßen umher und sehen sich nach gelegentlichen kleinen Arbeiten um; manchem derselben gelingt es, sich ein Tagewerk zu verschaffen, viele sind nicht so glücklich.
„An den Toren aller Londoner Docks", erzählt der Rev[eren]d W.Champneys, Prediger im östlichen Distrikt von London, „erscheinen jeden Morgen im Winter schon vor Tagesanbruch Hunderte von Armen, die in der Hoffnung, ein Tagewerk zu erlangen, auf die Eröffnung der Tore warten, und wenn die jüngsten und stärksten und die am meisten bekannten engagiert worden sind, gehen noch Hunderte niedergeschlagen von getäuschter Hoffnung zu ihren ärmlichen Wohnungen zurück." Was bleibt diesen Leuten, wenn sie keine Arbeit finden und sich nicht gegen die Gesellschaft auflehnen v/ollen, anders übrig als zu betteln? Und da kann man sich nicht über die Menge von Bettlern, die meist arbeitsfähige Männer sind, wundern, mit denen die Polizei fortwährend zu kämpfen hat. Die Bettelei dieser Männer hat aber einen eigentümlichen Charakter. Solch ein Mann pflegt mit seiner Familie umherzuziehen, in den Straßen ein bittendes Lied zu singen oder in einem Vortrage die Mildtätigkeit der Nachbarn anzusprechen. Und es ist auffallend, daß man diese Bettler fast nur in Arbeiterbezirken findet, daß es fast nur Gaben von Arbeitern sind, von denen sie sich erhalten. Oder die Familie stellt sich schweigend an eine belebte Straße und läßt, ohne ein Wort zu sagen, den bloßen Anblick der Hülflosigkeit wirken. Auch hier rechnen sie nur auf die Teilnahme der Arbeiter, die aus Erfahrung wissen, wie der Hunger tut, und jeden Augenblick in die gleiche Lage kommen können; denn man findet diese stumme und doch so
* Zwei kühlende und moussierende Getränke, das erste von Wasser, Zucker und etwas Ingwer, das andre von Wasser, Zucker und Nesseln bereitet und bei den Arbeitern, namentlich Mäßigkeitsmännern, beliebt.
höchst ergreifende Ansprache fast nur an solchen Straßen, die von Arbeitern frequentiert, und zu solchen Stunden, in denen sie von Arbeitern passiert werden; namentlich aber Sonnabend abends, wo überhaupt die „Geheimnisse" der Arbeiterbezirke in den Hauptstraßen sich enthüllen und die Mittelklasse sich von diesen so verunreinigten Gegenden soviel wie möglich zurückzieht. Und wer von den Überflüssigen Mut und Leidenschaft genug hat, sich der Gesellschaft offen zu widersetzen und auf den versteckten Krieg, den die Bourgeoisie gegen ihn führt, mit dem offnen Krieg gegen die Bourgeoisie zu antworten, der geht hin, stiehlt und raubt und mordet. Dieser Überflüssigen gibt es nach den Berichten der Armengesetzkommissäre durchschnittlich anderthalb Millionen in England und Wales, in Schottland läßt sich die Zahl wegen Mangel an Armengesetzen nicht bestimmen, und von Irland werden wir speziell zu sprechen haben. Diese anderthalb Millionen schließen übrigens nur diejenigen ein, die wirklich die Armenverwaltung um Hülfe ansprechen; die große Menge, die sich, ohne dies letzte, so sehr gescheute Auskunftsmittel anzuwenden, forthilft, ist darin nicht eingeschlossen; dafür fällt aber auch ein guter Teil der obigen Zahl auf die Ackerbaudistrikte und kommt hier also nicht in Betracht. Während einer Krisis vermehrt sich diese1 Zahl natürlich um ein bedeutendes, und die Not steigt auf den höchsten Grad. Nehmen wir z.B. die Krisis von 1842, die, weil die letzte, auch die heftigste war - denn die Intensität der Krisen wächst mit jeder Wiederholung, und die nächste, die wohl 1847spätestens eintreten wird*, wird allem Anscheine nach noch heftiger und dauernder sein. Während dieser Krisis stieg die Armensteuer in allen Städten auf einen nie gekannten Höhepunkt. Unter andern mußten in Stockport von jedem Pfund, das an Hausmiete bezahlt wurde, acht Shilling Armensteuer bezahlt werden, so daß die Steuer allein 40 Prozent vom Mietbetrage der ganzen Stadt ausmachte; dazu standen ganze Straßen leer, so daß mindestens 20000 Einwohner weniger als gewöhnlich da waren und man an die Türen der leerstehenden Häuser geschrieben fand: Stockport to let - Stockport zu vermieten. In Bolton, wo in gewöhnlichen Jahren der Armensteuer zahlende Mietertrag durchschnittlich 86000Pfd. St. betrug, sank er auf 36000 Pfd. St.; dagegen stieg die Anzahl der zu unterstützenden Armen auf 14000, also über 20 Prozent der ganzen Einwohnerzahl. In Leeds hatte die Armenverwaltung einen Reservefonds von 10000 Pfd. St. - dieser, sowie eine Kollekte von 7000 Pfd. St., wurde schon, ehe die Krisis ihren Höhepunkt erreichte,
* (1887 Fußnote) And it came in 1847 [Und sie kam 1847],
1 (1892) die
vollständig erschöpft. So war es überall; ein Bericht, den ein Komitee der AntiKorngesetz-Ligue im Januar 1843 über den Zustand der Industriebezirke im Jahre 1842 erstattete und der auf ausführlichen Angaben der Fabrikanten beruhte, sagt aus, daß die Armensteuer durchschnittlich doppelt so hoch gewesen sei als 1839 und die Zahl der Unterstützungsbedürftigen sich seit jener Zeit verdreifacht, ja verfünffacht habe; daß eine Menge Applikanten einer Klasse angehörten, die bis jetzt nie um Unterstützung angehalten hätten usw.; daß die arbeitende Klasse über zwei Drittel weniger Lebensmittel zu verfügen habe als 1834/36; daß die Konsumtion von Fleisch bedeutend geringer gewesen sei - an einigen Orten 20 Prozent, an andern bis zu 60 Prozent; daß selbst die gewöhnlichen Handwerker, Schmiede, Maurer usw., die sonst in den gedrücktesten Perioden noch volle Beschäftigung hatten, ebenfalls viel an Mangel an Arbeit und Lohnherabsetzung gelitten hätten - und daß selbst jetzt, im Januar 1843, der Lohn noch fortwährend im Fallen sei. Und das sind Berichte von Fabrikanten! Die brotlosen Arbeiter, deren Fabriken stillstanden, deren Brotherren ihnen keine Arbeit geben konnten, standen überall auf den Straßen, bettelten einzeln oder in Haufen, belagerten scharenweise die Chausseen und sprachen die Vorüberkommenden um Unterstützung an - sie baten aber nicht kriechend, wie gewöhnliche Bettler, sondern drohend durch ihre Zahl, ihre Gebärden und Worte. So sah es in allen Industriebezirken aus, von Leicester bis Leeds und von Manchester bis Birmingham. Hier und da brachen einzelne Unruhen aus, so im Juli in den Töpfereien von Nord-Staffordshire; die fürchterlichste Gärung herrschte unter den Arbeitern, bis sie endlich im August in der allgemeinen Insurrektion der Fabrikdistrikte zum Ausbruche kam. Als ich Ende November 1842 nach Manchester kam, standen noch überall eine Menge Arbeitsloser an den Straßenecken, und viele Fabriken standen noch still; in den nächsten Monaten bis Mitte 1843 verloren sich die unfreiwilligen Eckensteher allmählich, und die Fabriken kamen wieder in Betrieb. Was hier für eine Masse von Elend und Not unter diesen Arbeitslosen während einer solchen Krisis herrscht, brauche ich wohl nicht erst zusagen. Die Armensteuer reicht nicht aus - bei weitem nicht; die Wohltätigkeit der Reichen ist ein Schlag ins Wasser, dessen Wirkung in einem Augenblick verschwunden ist; die Bettelei kann, wo so viele sind, nur wenigen helfen. Wenn nicht die kleinen Krämer den Arbeitern zu solchen Zeiten auf Kredit verkauften, solange sie können - sie lassen sich freilich auch tüchtig dafür nachzahlen -, und wenn nicht die Arbeiter unter sich einander unterstützten, solange sie können, so würde jede Krisis allerdings Massen von „Überflüs
sigen" durch Hungersnot wegraffen. So aber, da die gedrückteste Epoche doch nur kurz ist, ein Jahr, höchstens zwei oder dritthalb Jahre dauert, kommen die meisten doch noch mit dem nackten Leben und schweren Entbehrungen davon. Daß indirekt, durch Krankheiten usw., in jeder Krisis eine Menge Opfer fallen, werden wir sehen. Einstweilen wenden wir uns zu einer andern Ursache der Erniedrigung, der die englischen Arbeiter anheimgegeben sind, einer Ursache, die noch fortwährend daran arbeitet, jene Klasse immer tiefer und tiefer herabzudrücken.
Die irische Einwanderung
Wir erwähnten schon mehrere Male gelegentlich der Irländer, die sich nach England hinübergesiedelt haben, und werden die Ursachen und Wirkungen dieser Einwanderung jetzt näher zu erörtern haben. Die rasche Ausdehnung der englischen Industrie hätte nicht stattfinden können, wenn England nicht an der zahlreichen und armen Bevölkerung von Irland eine Reserve gehabt hätte, über die es verfügen konnte. Der Irländer hatte daheim nichts zu verlieren, in England viel zu gewinnen, und seit der Zeit, daß es in Irland bekannt wurde, auf der Ostseite des Georgskanals sei sichre Arbeit und guter Lohn für starke Arme zu finden, sind jedes Jahr Scharen von Irländern herübergekommen. Man rechnet, daß bis jetzt über eine Million auf diese Weise eingewandert sind und jährlich noch an fünfzigtausend einwandern, die sich fast alle auf die Industriebezirke, namentlich die großen Städte werfen und dort die niedrigste Klasse der Bevölkerung bilden. So sind in London 120000, in Manchester 40000, in Liverpool 34000, Bristol 24000, Glasgow 40000, Edinburgh 29000 arme Irländer* Diese Leute, fast ohne alle Zivilisation aufgewachsen, an Entbehrungen aller Art von Jugend auf gewöhnt, roh, trunksüchtig, unbekümmert um die Zukunft, kommen so herüber und bringen alle ihre brutalen Sitten mit herüber in eine Klasse der englischen Bevölkerung, die wahrlich wenig Reiz zur Bildung und Moralität hat. Lassen wir Thomas Carlyle** sprechen:
„Die wilden milesischen Gesichter***, die nach falscher Schlauheit, Schlechtigkeit, Unvernunft, Elend und Spötterei aussehen, grüßen euch an allen unsren Haupt- und Nebenstraßen. Der englische Kutscher, wie er vorbeirollt, schlägt mit der Peitsche
* Archibald Alison, High Sheriff of Lanarkshire, „The Principles of Population, and their Connection with Human Happiness" [Die Bevölkerungsprinzipien und ihr Zusammenhang mit dem menschlichen Glück], 2 vols. 1840. - Dieser Alison ist der Geschichtschreiber der französischen Revolution und wie sein Bruder, der Dr. W. P. Alison, religiöser Tory. ** „Chartism", p. 28, 31 usw. *** Miles ist der Name der alten keltischen Könige von Irland.
nach dem Milesier; dieser verflucht ihn mit seiner Zunge, hält den Hut hin und bettelt. Er ist das schlimmste Übel, mit dem dies Land zu kämpfen hat. Mit seinen Lumpen und seinem verwilderten Lachen ist er bei der Hand, alle Arbeit zu tun, die nur starke Arme und einen starken Rücken erfordert - für einen Lohn, der ihm Kartoffeln kauft. Er braucht nur Salz zur Würze; er schläft ganz vergnügt im ersten besten Schweinestall oder Hundestall, nistet sich in Scheunen ein und trägt einen Anzug von Fetzen, die aus- und anzuziehen eine der schwierigsten Operationen ist, die nur an Festtagen und zu besonders günstigen Zeiten vorgenommen wird. Der sächsische Mann, der auf solche Bedingungen nicht arbeiten kann, wird brotlos. Der unzivilisierte Irländer, nicht durch seine Kraft, sondern durch das Gegenteil davon, treibt den sächsischen Eingebornen aus und nimmt von seiner Stelle Besitz. Da wohnt er in seinem Schmutz und seiner Unbekümmertheit, in seiner betrunkenen Gewaltsamkeit und Falschheit, der fertige Nukleus von Degradation und Unordnung. Wer sich noch zu schwimmen, noch an der Oberfläche sich zu halten abmüht, der kann hier ein Beispiel sehen, wie der Mensch existieren kann, nicht schwimmend, sondern untergesunken ... Daß die Lage der niedrigen Masse der englischen Arbeiter immer näher kommt der der irischen, die mit ihnen in allen Märkten konkurrieren; daß alle Arbeit, die mit bloßer Körperstärke ohne viel Geschicklichkeit abgetan werden kann, nicht für englischen Lohn getan wird, sondern für eine Annäherung an irischen Lohn, d. h. für etwas mehr als ,halbsatt von Kartoffeln schlechtester Sorte für dreißig Wochen im Jahr' - für etwas mehr, aber mit der Ankunft jedes neuen Dampfboots von Irland diesem Endziel näherrückend - wer sieht das nicht? Carlyle hat hierin - wenn wir die übertriebene und einseitige Verwerfung des irischen Nationalcharakters ausnehmen — vollkommen recht. Diese irischen Arbeiter, die für vier Pence (31/3 Silbergroschen) nach England herüberfahren - auf dem Verdeck der Dampfschiffe, wo sie oft so gedrängt stehen wie Vieh - nisten sich überall ein. Die schlechtesten Wohnungen sind übrigens gut genug für sie; ihre Kleider machen ihnen wenig Müh, solange sie nur noch mit einem Faden zusammenhalten, Schuhe kennen sie nicht; ihre Nahrung sind Kartoffeln und nur Kartoffeln - was sie drüber verdienen, vertrinken sie, was braucht ein solches Geschlecht viel Lohn? Die schlechtesten Viertel aller großen Städte sind von Irländern bewohnt; überall, wo ein Bezirk sich durch besondern Schmutz und besondern Verfall auszeichnet, kann man darauf rechnen, vorzugsweise diese keltischen Gesichter anzutreffen, die man auf den ersten Blick von den sächsischen Physiognomien der Eingebornen unterscheidet, und die singende, aspirierte irische Brogue zu hören, die der echte Irländer nie verlernt. Zuweilen habe ich sogar irischkeltisch in den dichtestbevölkerten Teilen von Manchester sprechen hören. Die Mehrzahl der Familien, die in Kellern wohnen, sind fast überall irischen Ursprungs. Kurz, die Irländer haben es herausgefunden, wie Dr. Kay sagt, was das Minimum der Lebensbedürfnisse ist, und lehren es nun den
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englischen Arbeitern. Auch den Schmutz und die Trunksucht haben sie mit* gebracht. Diese Unreinlichkeit, die auf dem Lande, wo die Bevölkerung zerstreut lebt, nicht soviel schadet, die aber dem Irländer zur andern Natur geworden ist, wird hier in den großen Städten durch ihre Konzentration erst schreckenerregend und gefahrbringend. Wie es der Milesier zu Hause gewohnt war, schüttet er auch hier allen Unrat und Abfall vor die Haustüre und bringt dadurch die Pfützen und Kothaufen zusammen, die die Arbeiterviertel verunzieren und ihre Luft verpesten. Wie zu Hause baut er sich seinen Schweinstall ans Haus, und wenn er das nicht kann, so läßt er sein Schwein bei sich im Zimmer schlafen. Diese neue abnorme Art von Viehzucht in den großen Städten ist ganz irischen Ursprungs; der Irländer hängt an seinem Schwein wie der Araber an seinem Pferd, nur daß er's verkauft, wenn es zum Schlachten fett genug ist — sonst aber ißt er mit ihm und schläft mit ihm, seine Kinder spielen mit ihm und reiten darauf und wälzen sich mit ihm im Kot, wie man das in allen großen Städten Englands Tausende von Malen sehen kann. Und was dabei für ein Schmutz, für eine Unwohnlichkeit in den Häusern selbst herrscht, davon kann man sich keine Vorstellung machen. Möbel ist der Irländer nicht gewohnt - ein Haufen Stroh, ein paar Lumpen, die zu Kleidern total verdorben sind, das ist genug für sein Nachtlager. Ein Stück Holz, ein zerbrochner Stuhl, eine alte Kiste statt des Tisches, mehr braucht er nicht; ein Teekessel, einige Töpfe und Scherben, das reicht hin, um seine Küche, die zugleich Schlaf- und Wohnzimmer ist, auszurüsten. Und wenn es ihm an Feuerung mangelt, so wandert alles Brennbare in seinem Bereich, Stühle, Türpfosten, Gesimse, Dielen, wenn sie ja da sein sollten, in den Kamin. Dazu - was braucht er viel Raum? Drüben, in seiner Lehmhütte, war nur ein innerer Raum für alle häuslichen Zwecke; mehr als ein Zimmer braucht die Familie auch in England nicht. So ist auch diese Zusammendrängung vieler in einem einzigen Zimmer, die jetzt so allgemein sich findet, hauptsächlich durch die irische Einwanderung hereingebracht. Und da der arme Teufel doch einen Genuß haben muß und von allen andern ihn die Gesellschaft ausgeschlossen hat - so geht er hin und trinkt Branntwein. Der Branntwein ist das einzige, was dem Irländer das Leben der,Mühe wert macht - der Branntwein und allenfalls sein sorgloses, heiteres Temperament, und daher schwelgt er auch im Branntwein bis zur brutalsten Betrunkenheit. Der südliche, leichtsinnige Charakter des Irländers, seine Roheit, die ihn wenig über einen Wilden stellt, seine Verachtung aller menschlicheren Genüsse, deren er eben wegen dieser Roheit unfähig ist, sein Schmutz und seine Armut, alles das begünstigt bei ihm die Trunksucht - die Versuchung ist zu groß, er kann ihr nicht widerstehen, und sowie er Geld bekommt, muß
er's durch die Kehle jagen. Wie sollte er auch anders? Wie will die Gesellschaft, die ihn in eine Lage versetzt, in der er fast notwendig ein Säufer werden muß, die ihn in allem vernachlässigt und verwildern läßt - wie will sie ihn hernach verklagen, wenn er wirklich ein Trunkenbold wird? Mit einem solchen Konkurrenten hat der englische Arbeiter zu kämpfen mit einem Konkurrenten, der auf der niedrigsten Stufe steht, die in einem zivilisierten Lande überhaupt möglich ist, und der deshalb auch weniger Lohn braucht als irgendein andrer. Daher ist es gar nicht anders möglich, als daß, wie Carlyle sagt, der Lohn des englischen Arbeiters in allen Zweigen, in denen der Irländer mit ihm konkurrieren kann, immer tiefer und tiefer herabgedrückt wird. Und dieser Arbeitszweige sind viele. Alle diejenigen, die wenig oder gar keine Geschicklichkeit erfordern, stehen dem Irländer offen. Freilich für Arbeiten, die eine lange Lehrzeit oder regelmäßig anhaltende Tätigkeit erfordern, steht der liederliche, wankelmütige und versoffene Irländer zu tief. Um Mechaniker (mechanic ist im Englischen jeder zur Verfertigung von Maschinerie gebrauchter Arbeiter), um Fabrikarbeiter zu werden, müßte er erst englische Zivilisation und englische Sitten annehmen, kurz, erst der Sache nach Engländer werden. Aber wo es eine einfache, weniger exakte Arbeit gilt, wo es mehr auf Stärke als auf Geschicklichkeit ankommt, da ist der Irländer ebensogut wie der Engländer. Daher sind auch diese Arbeitszweige vor allen von Irländern überlaufen: die Handweber, Maurergesellen, Lastträger und Jobbers und dergleichen zählen Massen von Irländern, und die Eindrängung dieser Nation hat hier sehr viel zur Erniedrigung des Lohnes und der Arbeiterklasse selbst beigetragen. Und wenn auch die in andre Arbeitszweige eingedrungenen Irländer zivilisierter werden mußten, so blieb doch immer noch genug von der alten Wirtschaft hängen, um auch hier - neben dem Einflüsse, den die Umgebung von Irländern überhaupt hervorbringen mußte - degradierend auf die englischen Arbeitsgenossen einzuwirken. Denn wenn fast in jeder großen Stadt ein Fünftel oder ein Viertel der Arbeiter Irländer oder in irischem Schmutz aufgewachsene Kinder von Irländern sind, so wird man sich nicht darüber wundern, daß das Leben der ganzen Arbeiterklasse, ihre Sitten, ihre intellektuelle und moralische Stellung, ihr ganzer Charakter einen bedeutenden Teil von diesem irischen Wesen angenommen hat, so wird man begreifen können, wie die schon durch die moderne Industrie und ihre nächsten Folgen hervorgerufene indignierende Lage der englischen Arbeiter auf eine hohe Stufe der Entwürdigung gesteigert werden konnte1.
1 (1892) .. . indignierende Lage der englischen Arbeiter noch entwürdigender gemacht werden konnte
Resultate
Wenn wir jetzt die Verhältnisse, unter denen die englische Arbeiterklasse der Städte lebt, in ziemlicher Ausführlichkeit betrachtet haben, so wird es nun an der Zeit sein, aus diesen Tatsachen weitere Schlüsse zu ziehen und diese wiederum mit dem Tatbestande zu vergleichen. Sehen wir denn zu, was unter solchen Umständen aus den Arbeitern selbst geworden ist, was für Leute wir an ihnen haben, wie ihr körperlicher, intellektueller und moralischer Zustand beschaffen ist. Wenn ein einzelner einem andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten den Tod zuzieht, so nennen wir das Totschlag; wenn der Täter im voraus wußte, daß der Schaden tödlich sein würde, so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die Gesellschaft*
* Wenn ich in dem Sinne wie hier und anderwärts von der Gesellschaft als einer verantwortlichen Gesamtheit spreche, die ihre Rechte und Pflichten hat, so versteht es sich, daß ich damit die Macht der Gesellschaft meine, diejenige Klasse also, die gegenwärtig die politische und soziale Herrschaft besitzt und damit zugleich auch die Verantwortlichkeit für die Lage derer trägt, denen sie keinen Teil an der Herrschaft gibt. Diese herrschende Klasse ist in England wie in allen andern zivilisierten Ländern die Bourgeoisie. Daß aber die Gesellschaft und speziell die Bourgeoisie die Pflicht hat, jedes Gesellschaftsglied mindestens in seinem Leben zu schützen, dafür z. B. zu sorgen, daß niemand verhungert - diesen Satz brauch' ich meinen deutschen Lesern nicht erst zu beweisen. Schrieb' ich für die englische Bourgeoisie, da wäre das freilich anders. — (1887) And so it is now in Germany. Our German capitalists are fully up to the English level, in this respect at least, in the year of grace, 1886. [Und so ist es jetzt in Deutschland. Unsere deutschen Kapitalisten stehen, zumindest in dieser Beziehung, mit den Engländern auf völlig gleichem Niveau, im gesegneten Jahr 1886.] - (1892) Wie hat sich das alles seit 50 Jahren geändert! Heute gibt es englische Bourgeois, die Verpflichtungen der Gesellschaft gegen die einzelnen Gesellschaftsglieder anerkennen; aber deutsche?!?
Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt - so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord. Ich werde nun zu beweisen haben, daß die Gesellschaft in England diesen von den englischen Arbeiterzeitungen mit vollem Rechte als solchen bezeichneten sozialen Mord täglich und stündlich begeht; daß sie die Arbeiter in eine Lage versetzt hat, in der diese nicht gesund bleiben und nicht lange leben können; daß sie so das Leben dieser Arbeiter stückweise, allmählich untergräbt und sie so vor der Zeit ins Grab bringt; ich werde ferner beweisen müssen, daß die Gesellschaft weiß, wie schädlich eine solche Lage der Gesundheit und dem Leben der Arbeiter ist, und daß sie doch nichts tut, um diese Lage zu verbessern. Daß sie um die Folgen ihrer Einrichtungen weiß, daß ihre Handlungsweise also nicht bloßer Totschlag, sondern Mord ist, habe ich schon bewiesen, wenn ich offizielle Dokumente, Parlaments- und Regierungsberichte als Autorität für das Faktum des Totschlags anführen kann. Daß eine Klasse, welche in den oben geschilderten Verhältnissen lebt und so schlecht mit den allernotwendigsten Lebensbedürfnissen versehen ist, nicht gesund sein und kein hohes Alter erreichen kann, versteht sich von vornherein von selbst. Gehen wir indes die einzelnen Umstände nochmals und in spezieller Beziehung auf den Gesundheitszustand der Arbeiter durch. Schon die Zentralisation der Bevölkerung in großen Städten äußert ungünstigen Einfluß; die Atmosphäre von London kann nie so rein, so sauerstoffhaltig sein wie die eines Landdistrikts; drittehalb Millionen Lungen und drittehalb hunderttausend Feuer, auf drei bis vier geographischen Quadratmeilen zusammengedrängt, verbrauchen eine ungeheure Menge Sauerstoff, der sich nur mit Schwierigkeit wieder ersetzt, da die städtische Bauart an und für sich die Ventilation erschwert. Das durch Atmen und
Brennen erzeugte kohlensaure Gas bleibt vermöge seiner spezifischen Schwere in den Straßen, und der Hauptzug des Windes streicht über den Dächern der Häuser hinweg. Die Lungen der Einwohner erhalten nicht das volle Quantum Sauerstoff, und die Folge davon ist körperliche und geistige Erschlaffung und Niederhaltung der Lebenskraft. Aus diesem Grunde sind die Einwohner großer Städte zwar den akuten, besonders entzündlichen Krankheiten weit weniger ausgesetzt als die Landleute, die in einer freien, normalen Atmosphäre leben, leiden aber dafür desto mehr an chronischen Übeln. Und wenn schon das Leben in großen Städten an und für sich der Gesundheit nicht zuträglich ist, wie groß muß dieser nachteilige Einfluß einer abnormen Atmosphäre erst in den Arbeiterbezirken sein, wo, wie wir sahen, alles vereinigt ist, was die Atmosphäre verschlechtern kann. Auf dem Lande mag es unschädlich genug sein, dicht neben dem Hause eine Mistpfütze zu haben, weil hier die Luft von allen Seiten freien Zutritt hat; aber mitten in einer großen Stadt, zwischen verbauten, allem Luftzuge abgeschnittenen Gassen und Höfen, ist es ganz etwas anderes. Aller verfaulende animalische und vegetabilische Stoff entwickelt Gase, die der Gesundheit entschieden schädlich sind, und wenn diese Gase keinen freien Abzug haben, so müssen sie die Atmosphäre verpesten. Der Unrat und die stehenden Pfützen in den Arbeitervierteln der großen Städte sind daher von den schlimmsten Folgen für die öffentliche Gesundheit, weil sie gerade die krankheiterzeugenden Gase hervorbringen; ebenso die Ausdünstungen der verunreinigten Flüsse. Aber das ist noch lange nicht alles. Es ist wirklich empörend, wie die große Menge der Armen von der heutigen Gesellschaft behandelt wird. Man zieht sie in die großen Städte, wo sie eine schlechtere Atmosphäre als in ihrer ländlichen Heimat einatmen. Man verweist sie in Bezirke, die nach ihrer Bauart schlechter ventiliert sind als alle übrigen. Man entzieht ihnen alle Mittel zur Reinlichkeit, man entzieht ihnen das Wasser, indem man nur gegen Bezahlung Röhren legt und die Flüsse so verunreinigt, daß sie zu Reinlichkeitszwecken nicht mehr taugen; man zwingt sie, allen Abfall und Kehricht, alles schmutzige Wasser, ja oft allen ekelhaften Unrat und Dünger auf die Straße zu schütten, indem man ihnen alle Mittel nimmt, sich seiner sonst zu entledigen; man zwingt sie dadurch, ihre eignen Distrikte zu verpesten. Damit noch nicht genug. Alle möglichen Übel werden auf das Haupt der Armen gehäuft. Ist die Bevölkerung der Stadt überhaupt schon zu dicht, so werden sie erst recht auf einen kleinen Raum zusammengedrängt. Nicht damit zufrieden, die Atmosphäre in der Straße verdorben zu haben, sperrt man sie dutzendweise in ein einziges Zimmer, so daß die Luft, die sie nachts atmen, vollends zum Ersticken wird. Man gibt ihnen
feuchte Wohnungen, Kellerlöcher, die von unten, oder Dachkammern, die von oben nicht wasserdicht sind. Man baut ihre Häuser so, daß die dumpfige Luft nicht abziehen kann. Man gibt ihnen schlechte, zerlumpte oder zerlumpende Kleider und schlechte, verfälschte und schwerverdauliche Nahrungsmittel. Man setzt sie den aufregendsten Stimmungswechseln, den heftigsten Schwankungen von Angst und Hoffnung aus - man hetzt sie ab wie das Wild und läßt sie nicht zur Ruhe und zum ruhigen Lebensgenuß kommen. Man entzieht ihnen alle Genüsse außer dem Geschlechtsgenuß und dem Trunk, arbeitet sie dagegen täglich bis zur gänzlichen Abspannung aller geistigen und physischen Kräfte ab und reizt sie dadurch fortwährend zum tollsten Übermaß in den beiden einzigen Genüssen, die ihnen zu Gebote stehen. Und wenn das alles nicht hilft, wenn sie das alles überstehen, so fallen sie der Brotlosigkeit einer Krisis zum Opfer, in der ihnen auch das wenige entzogen wird, was man ihnen bisher noch gelassen hatte. Wie ist es möglich, daß unter solchen Umständen die ärmere Klasse gesund sein und lange leben kann? Was läßt sich da anderes erwarten als eine übermäßige Proportion von Sterbefällen, eine fortwährende Existenz von Epidemien, eine sicher fortschreitende körperliche Schwächung der arbeitenden Generation? Sehn wir zu, wie die Tatsachen stehen. Daß die Wohnungen der Arbeiter in den schlechten Stadtteilen, vereinigt mit der sonstigen Lebenslage dieser Klasse, eine Menge Krankheiten hervorrufen, wird uns von allen Seiten her bezeugt. Der oben zitierte Artikel des „Artizan" behauptet mit vollem Recht, daß Lungenkrankheiten die notwendige Folge von solchen Einrichtungen sein müssen und wirklich besonders häufig unter den Arbeitern vorkämen1. Daß die schlechte Atmosphäre Londons und besonders der Arbeitergegenden die Ausbildung der Schwindsucht im höchsten Grade begünstigt, zeigt das hektische Aussehen so vieler Leute, denen man auf der Straße begegnet. Wenn man morgens früh um die Zeit, wo alles an die Arbeit geht, ein wenig durch die Straßen streicht, so erstaunt man über die Menge halb oder ganz schwindsüchtig aussehender Leute, denen man begegnet. Selbst in Manchester sehen die Menschen so nicht aus; diese bleichen, hochaufgeschossenen, engbrüstigen und hohläugigen Gespenster, an denen man jeden Augenblick vorüberkommt, diese schlaffen, kraftlosen, aller Energie unfähigen Gesichter hab' ich nur in London in so auffallender Menge gesehen - obwohl auch in den Fabrikstädten des Nordens die Schwindsucht eine Menge Opfer jährlich hinwegrafft. Mit der Schwindsucht konkurriert noch, außer anderen Lungenkrank
1 (1892) vorkommen
heiten und dem Scharlachfieber, vor allen die Krankheit, die die fürchterlichsten Verwüstungen unter den Arbeitern anrichtet - der Typhus. Dies allgemein verbreitete Übel wird von dem offiziellen Bericht über den Gesundheitszustand der Arbeiterklasse direkt aus dem schlechten Zustande der Wohnungen in Beziehung auf Ventilation, Trockenlegung und Reinlichkeit abgeleitet. Dieser Bericht - der, nicht zu vergessen, von den ersten Medizinern Englands auf die Angaben von anderen Medizinern hin ausgearbeitet ist - dieser Bericht behauptet, daß ein einziger schlechtventilierter Hof, eine einzige Sackgasse ohne Abzüge, besonders wenn die Bewohner gedrängt wohnen und organische Stoffe in der Nähe sich zersetzen, imstande ist, Fieber zu erzeugen, und es fast immer erzeugt. Dies Fieber hat fast überall denselben Charakter und entwickelt sich beinahe in allen Fällen zum ausgebildeten Typhus. In den Arbeiter bezirken aller großen Städte, selbst in einzelnen schlechtgebauten und -gehaltenen Straßen kleinerer Orte findet es sich, und seine größte Verbreitung erhält es in den schlechten Vierteln, obwohl es natürlich auch in den besseren Bezirken einzelne Opfer aufsucht. In London hat es seit geraumer Zeit geherrscht; seine außerordentliche Heftigkeit im Jahre 1837 veranlaßte den erwähnten offiziellen Bericht. Nach dem Jahresbericht des Dr. Souihwood Smith über das Londoner Fieberhospital im Jahre 1843 war die Zahl der verpflegten Kranken 1462, um 418 höher als in irgendeinem frühern Jahr. In den feuchten und schmutzigen Gegenden des Ost-, Nord- und Süddistrikts von London hatte diese Krankheit außerordentlich heftig gewütet. Viele der Patienten waren eingewanderte Arbeiter vom Lande, die unterwegs und nach ihrer Ankunft die härtesten Entbehrungen ausgestanden, an den Straßen halbnackt und halbverhungert geschlafen, keine Arbeit gefunden hatten und so dem Fieber verfallen waren. Diese Leute wurden so schwach ins Hospital geliefert, daß eine ungewöhnlich große Quantität von Wein, Kognak, Ammoniumpräparaten und anderen stimulierenden Mitteln angewandt werden mußte. Von sämtlichen Kranken starben 16x/a Prozent. Auch in Manchester ist dies bösartige Fieber zu finden; in den schlechteren Arbeitervierteln der Altstadt, Ancoats, Little Ireland usw., ist es fast nie exstinkt, doch herrscht es hier, wie überhaupt in den englischen Städten, nicht in der Ausdehnung, die man erwarten sollte. In Schottland und Irland dagegen grassiert der Typhus mit einer Heftigkeit, die alle Begriffe übersteigt; in Edinburgh und Glasgow trat er 1817 nach der Teurung, 1826 und 1837 nach den Handelskrisen mit besonderer Wut auf und ließ jedesmal, nachdem er etwa drei Jahre lang gewütet, für eine Zeitlang etwas nach; in Edinburgh waren während der Epidemie von 1817 an 6000, in der von 1837 an 10000 Personen vom Fieber ergriffen worden, und nicht
nur die Zahl der Kranken, sondern auch die Heftigkeit der Krankheit und die Proportion der Sterbefälle vermehrte sich mit jeder neuen Wiederholung der Epidemie.* Aber die Wut der Krankheit scheint in allen früheren Perioden ein Kinderspiel gegen ihr Auftreten nach der Krisis von 1842 gewesen zu sein. Ein Sechstel aller Armen in ganz Schottland wurde vom Fieber ergriffen und das Übel durch wandernde Bettler mit reißender Schnelligkeit von einem Ort zum andern getragen; es erreichte die mittleren und höheren Klassen der Gesellschaft nicht - in zwei Monaten waren mehr Fieberkranke als in zwölf Jahren vorher. In Glasgow erkrankten im Jahre 1843 zwölf Prozent der Bevölkerung, 32000 Menschen, am Fieber, von denen 32 Prozent starben, während die Sterblichkeit in Manchester und Liverpool gewöhnlich nur acht Prozent beträgt. Die Krankheit hatte ihre Krisen am siebenten und fünfzehnten Tage; an diesem letzteren wurde der Patient gewöhnlich gelb, was unsere Autorität für einen Beweis hält, daß die Ursache des Übels auch in geistiger Aufregung und Angst zu suchen sei.** In Irland sind diese epidemischen Fieber ebenfalls heimisch. Während 21 Monaten der Jahre 1817/18 gingen 39000 Fieberkranke und in einem späteren Jahr nach Sheriff Alison (im zweiten Bande der „Principles of Population") sogar 60000 Fieberkranke durch das Dubliner Hospital. In Cork hatte das Fieberspital 1817/18 den siebenten Teil der Bevölkerung aufzunehmen, in Limerick war zu derselben Zeit ein Viertel und im schlechten Viertel von Waterford neunzehn Zwanzigstel der Einwohner fieberkrank.*** Wenn man sich die Umstände ins Gedächtnis zurückruft, unter denen die Arbeiter leben, wenn man bedenkt, wie gedrängt ihre Wohnungen sind, wie vollgepfropft jeder Winkel von Menschen ist, wie Kranke und Gesunde in einem Zimmer, auf einem Lager schlafen, so wird man sich noch wundern, daß eine ansteckende Krankheit, wie dies Fieber, sich nicht noch mehr verbreitet. Und wenn man bedenkt, wie wenig medizinische Hülfe den Erkrankten zu Gebote steht, wie viele von allem ärztlichen Rate verlassen und mit den gewöhnlichsten diätarischen1 Vorschriften unbekannt bleiben, so erscheint die Sterblichkeit noch gering. Dr. Alison, der diese Krankheit genau kennt, führt sie geradezu auf die Not und die elende Lage der Armen zurück,
* Dr. Alison, „Management] of [tlie] Poor in Scotland". ** Dr. Alison, in einem Artikel, vorgelesen vor der British Association for the Advancement of Science [Englische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft] in York, Oktober 1844. *** Dr. Alison, „Management] of [the] Poor in Scotland".
1 (1892) diätetischen
wie der zitierte Bericht; er behauptet, daß Entbehrungen und ungenügende Befriedigung der Lebensbedürfnisse den Körper für die Ansteckung zugänglich und überhaupt die Epidemie erst furchtbar mache und rasch verbreite. Er beweist, daß jedesmal eine Periode der Entbehrung - eine Handelskrisis oder eine Mißernte - in Schottland wie in Irland das epidemische Auftreten des Typhus hervorgebracht hat und daß die Wut der Krankheit fast ausschließlich auf die arbeitende Klasse gefallen ist. Es ist bemerkenswert, daß nach seiner Aussage die Mehrzahl der dem Typhus erliegenden Individuen Familienväter sind, also grade diejenigen, welche von den Ihrigen am wenigsten entbehrt werden können; dasselbe sagen mehrere von ihm zitierte irische Ärzte aus. Eine andere Reihe von Krankheiten hat weniger in der Wohnung als in der Nahrung der Arbeiter ihre unmittelbare Ursache. Die an und für sich schon schwerverdauliche Kost der Arbeiter ist vollends für kleine Kinder ungeeignet; und doch fehlen dem Arbeiter die Mittel und die Zeit, seinen Kindern passendere Nahrung zu verschaffen. Dazu kommt noch die sehr verbreitete Sitte, den Kindern Branntwein oder gar Opium zu geben, und aus alledem entstehen unter Mitwirkung der übrigen für die körperliche Entwicklung schädlichen Lebensverhältnisse die verschiedensten Krankheiten der Verdauungsorgane, die ihre Spuren für das ganze Leben zurücklassen. Fast alle Arbeiter haben einen mehr oder weniger schwachen Magen und sind trotzdem gezwungen, fortwährend bei der Diät zu bleiben, die die Ursache ihres Übels war. Wie sollten sie's auch wissen, was daran schuld ist — und wenn sie's wüßten, wie sollten sie eine passendere Diät halten können, solange sie nicht in eine andere Lebenslage versetzt und anders gebildet werden? Aber aus dieser schlechten Verdauung entwickeln sich schon während der Kindheit neue Krankheiten. Skrofeln sind fast allgemein unter den Arbeitern verbreitet, und skrofulöse Eltern haben skrofulöse Kinder, besonders wenn die ursprüngliche Ursache der Krankheit wiederum auf die geerbte skrofulöse Anlage dieser letzteren wirkt. Eine zweite Folge dieser ungenügenden Ernährung des Körpers während der Entwicklung ist Rachitis (englische Krankheit, knotige Auswüchse an den Gelenken), die sich ebenfalls sehr häufig an den Kindern der Arbeiter findet. Die Verhärtung der Knochen wird verzögert, der Knochenbau überhaupt in seiner Ausbildung gehemmt, und neben den gewöhnlichen rachitischen Affektionen findet man oft genug Verkrümmung der Beine und des Rückgrats. Wie sehr alle diese Übel durch die Wechselfälle verschlimmert werden, denen die Arbeiter durch die Schwankungen des Handels, die Brotlosigkeit und den knappen Lohn der Krisen ausgesetzt sind, brauch' ich wohl nicht erst zu sagen. Der
temporäre Mangel an zureichender Nahrung, dem fast jeder Arbeiter wenigstens einmal in seinem Leben eine Zeitlang ausgesetzt wird, trägt nur dazu bei, die Folgen der schlechten, aber doch zureichenden Nahrung zu verschlimmern. Kinder, die gerade zu der Zeit, wo sie die Nahrung am nötigsten hätten, nur halbsatt zu essen bekommen - und wie viele gibt es deren während jeder Krisis, ja noch in den besten Perioden des Verkehrs solche Kinder müssen notwendig schwach, skrofulös und rachitisch in hohem Grade werden. Und daß sie's werden, zeigt der Augenschein. Die Vernachlässigung, zu der die große Masse der Arbeiterkinder verurteilt wird, hinterläßt unvertilgbare Spuren und hat die Schwächung der ganzen arbeitenden Generation zur Folge. Dazu noch die ungeeignete1 Kleidung dieser Klasse und die hier gesteigerte Unmöglichkeit, sich vor Erkältungen zu schützen, dann die Notwendigkeit zu arbeiten, solange die Unpäßlichkeit eben erlaubt, die im Krankheitsfall gesteigerte Not der Familie, die nur zu gewöhnliche Entbehrung alles ärztlichen Beistandes gerechnet - so2 wird man sich ungefähr vorstellen können, was der Gesundheitszustand der englischen Arbeiter ist. Die schädlichen Folgen, welche einzelnen Arbeitszweigen, wie sie jetzt betrieben v/erden, eigen sind, will ich hier noch gar nicht erwähnen. Dazu kommen noch andere Einflüsse, die die Gesundheit einer großen Zahl von Arbeitern schwächen. Vor allem der Trunk. Alle Lockungen, alle möglichen Versuchungen vereinigen sich, um die Arbeiter zur Trunksucht zu bringen. Der Branntwein ist ihnen fast die einzige Freudenquelle, und alles vereinigt sich, um sie ihnen recht nahezulegen. Der Arbeiter kommt müde und erschlafft von seiner Arbeit heim; er findet eine Wohnung ohne alle Wohnlichkeit, feucht, unfreundlich und schmutzig; er bedarf dringend einer Aufheiterung, er muß etwas haben, das ihm die Arbeit der Mühe wert, die Aussicht auf den nächsten sauren Tag erträglich macht; seine abgespannte, unbehagliche und hypochondrische Stimmung, die schon aus seinem ungesunden Zustande, namentlich aus der Indigestion entsteht, wird durch seine übrige Lebenslage, durch die Unsicherheit seiner Existenz, durch seine Abhängigkeit von allen möglichen Zufällen und sein Unvermögen, selbst etwas zur Sicherstellung seiner Lage zu tun, bis zur Unerträglichkeit gesteigert; sein geschwächter Körper, geschwächt durch schlechte Luft und schlechte Nahrung, verlangt mit Gewalt nach einem Stimulus von außen her; sein geselliges Bedürfnis kann nur in einem Wirtshause befriedigt werden, er hat durchaus keinen andern Ort, wo er seine Freunde treffen könnte - und bei alledem sollte der Arbeiter nicht die stärkste Versuchung zur Trunksucht
1 (1892) ... noch gerechnet die ungeeignete - 2 (1892) ... Beistands - so
haben, sollte imstande sein, den Lockungen des Trunks zu widerstehen? Im Gegenteil, es ist die moralische und physische Notwendigkeit vorhanden, daß unter diesen Umständen eine sehr große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen muß. Und abgesehen von den mehr physischen Einflüssen, die den Arbeiter zum Trunk antreiben, wirkt das Beispiel der großen Menge, die vernachlässigte Erziehung, die Unmöglichkeit, die jüngeren Leute vor der Versuchung zu schützen, in vielen Fällen der direkte Einfluß trunksüchtiger Eltern, die ihren Kindern selbst Branntwein geben, die Gewißheit, im Rausch wenigstens für ein paar Stunden die Not und den Druck des Lebens zu vergessen, und hundert andere Umstände so stark, daß man den Arbeitern ihre Vorliebe für den Branntwein wahrlich nicht verdenken kann. Die Trunksucht hat hier aufgehört, ein Laster zu sein, für das man den Lasterhaften verantwortlich machen kann, sie wird ein Phänomen, die notwendige, unvermeidliche Folge gewisser Bedingungen auf ein, wenigstens diesen Bedingungen gegenüber, willenloses Objekt. Diejenigen, die den Arbeiter zum bloßen Objekt gemacht haben, mögen die Verantwortlichkeit tragen. Aber mit derselben Notwendigkeit, mit der eine große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen, mit derselben Notwendigkeit äußert der Trunk seine zerstörenden Wirkungen auf Geist und Körper seiner Opfer. Alle Krankheitsanlagen, die aus den Lebensverhältnissen der Arbeiter entspringen, werden durch ihn gefördert, die Entwicklung von Lungen- und Unterleibskrankheiten sowie die Entstehung und Verbreitung des Typhus werden im höchsten Grade durch ihn begünstigt. Eine andere Ursache körperlicher Übel liegt für die arbeitende Klasse in der Unmöglichkeit, sich in Krankheitsfällen den Beistand geschickter Ärzte zu verschaffen. Es ist wahr, daß eine Menge wohltätiger Anstalten diesem Mangel abzuhelfen suchen, daß z.B. das Krankenhaus in Manchester jährlich an 22000 Kranke teils aufnimmt, teils mit ärztlichem Rat und Arznei unterstützt - aber was ist das alles in einer Stadt, wo nach Gaskells Berechnung* dreiviertel der Einwohner jährlich ärztlicher Hülfe bedürfen? Die englischen Ärzte rechnen hohe Gebühren, und die Arbeiter sind nicht imstande, diese zu bezahlen. Sie können also entweder gar nichts tun, oder sie sind gezwungen, wohlfeile Quacksalber und Quackarzneien zu gebrauchen, mit denen sie sich auf die Dauer mehr schaden als nützen. Eine überaus große Anzahl solcher Quacksalber treibt ihr Wesen in allen englischen Städten und verschafft sich durch Annoncen, Maueranschläge und sonstige Kniffe eine Kundschaft aus den ärmeren Klassen. Außerdem aber werden noch eine
* „[The] Manufacturing Population of England", c. 8.
Menge sogenannter Patent-Arzneien (patent medicines) für alle möglichen und unmöglichen Übel verkauft, Morrisons Pillen, Parrs Lebenspillen, Dr. Mainwarings Pillen und tausend andere Pillen, Essenzen und Balsame, die alle die Eigenschaft haben, sämtliche Krankheiten in der Welt zu kurieren. Diese Arzneien enthalten zwar selten geradezu schädliche Dinge, wirken aber doch sehr häufig, wenn oft und viel genossen, auf den Körper nachteilig, und da den unkundigen Arbeitern in allen Annoncen vorgepredigt wird, man könne nicht zuviel davon nehmen, so darf man sich nicht wundern, wenn diese fortwährend, mit und ohne sonstige Veranlassung, große Quantitäten verschlucken. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß der Verfertiger der Parrschen Lebenspillen in einer Woche 20000 bis 25000 Schachteln von diesen heilsamen Pillen verkauft — und sie werden eingenommen, von diesem gegen Verstopfung, von jenem gegen Diarrhöe, gegen Fieber, Schwäche und alle möglichen Übel. Wie unsere deutschen Bauern zu gewissen Jahreszeiten sich schröpfen oder zur Ader ließen, so nehmen jetzt die englischen Arbeiter ihre Patentmedizin, um sich selbst dadurch zu schaden und dem Fabrikanten derselben ihr Geld in die Tasche zu jagen. Eins der schädlichsten von diesen Patentmitteln ist ein Trank, der von Opiaten, besonders Laudanum, bereitet und unter dem Namen „Godfrey's Cordial" verkauft wird. Frauen, die zu Hause arbeiten und eigne oder fremde Kinder zu verwahren haben, geben ihnen diesen Trank, damit sie ruhig sein und, wie viele meinen, kräftiger werden sollen. Sie fangen oft schon gleich nach der Geburt an zu medizinieren, ohne die schädlichen Folgen dieser „Herzstärkung" zu kennen, so lange bis die Kinder sterben. Je stumpfer der Organismus des Kindes gegen die Wirkungen des Opiums wird, desto größere Quantitäten werden ihm davon gegeben. Wenn das „Cordial" nicht mehr zieht, wird auch wohl unvermischtes Laudanum gereicht, oft 15 bis 20 Tropfen auf einmal. Der Coroner von Nottingham bezeugte einer Regierungskommission*, daß ein
* „Report of Commission of Inquiry into the Employment of Children and Young Persons in Mines and Collieries and in the Trades and Manufactures in which Numbers of them work together, not being included under the Terms of the Factories' Regulation Act." First and Second Reports [Bericht der Untersuchungskommission über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen in Bergwerken und Kohlengruben und m den Handwerken und Industrien, in denen viele zusammenarbeiten, die nicht unter das Fabrikordnungsgesetz fallen. Erster und zweiter Bericht]. Gr ainger's Rept., second Rept. Gewöhnlich als „Children s Employment Commission's Rept." zitiert - einer der besten offiziellen Berichte, der eine Unmasse der wertvollsten, aber auch der schreckenerregendsten Tatsachen enthält. Der erste Bericht kam 1841, der zweite zwei Jahre später heraus.
Apotheker nach eigner Aussage dreizehn Zentner Sirup1 in einem Jahre zu „Godfrey's Cordial" verarbeitet habe. Man kann sich leicht denken, was die Folgen für die so behandelten Kinder sind. Sie werden blaß, welk und schwach und sterben meist, ehe sie zwei Jahre alt sind. Die Anwendung dieser Medizin ist in allen großen Städten und Industriebezirken des Reichs sehr verbreitet. Die Folge von allen diesen Einflüssen ist eine allgemeine Schwächung des Körpers bei den Arbeitern. Man findet wenig starke, wohlgebaute und gesunde Leute unter ihnen - wenigstens unter den Industriearbeitern, die meist in geschlossenen Räumen arbeiten, und von diesen nur ist hier die Rede. Sie sind fast alle schwächlich, von eckigem, aber nicht kräftigem Knochenbau, mager, bleich und mit Ausnahme der bei ihrer Arbeit besonders angestrengten Muskeln schlaff von Fieber. Fast alle leiden an schlechter Verdauung und sind infolgedessen mehr oder weniger hypochondrisch und von trüber, unbehaglicher Gemütsstimmung. Ihr geschwächter Körper ist nicht imstande, einer Krankheit Widerstand zu leisten, und wird daher bei jeder Gelegenheit davon ergriffen. Daher altern sie früh und sterben jung. Die Sterblichkeitstabellen liefern dafür einen unwidersprechlichen Beweis. Nach dem Berichte des Generalregistrators G. Graham ist die Sterblichkeit von ganz England und Wales jährlich etwas unter 2,/4 Prozent, d. h. aus 45 Menschen stirbt jedes Jahr einer* Wenigstens war dies der Durchschnitt der Jahre 1839/40 - im nächsten Jahre nahm die Sterblichkeit etwas ab und war nur einer aus 46. In den großen Städten aber stellt sich das Verhältnis ganz anders. Mir liegen (im „Manchester Guardian", 31. Juli 1844) offizielle Sterblichkeitstabellen vor, nach denen sich die Sterblichkeit einiger großer Städte so berechnet: In Manchester inklusive Salford und Chorlton 1 aus 32,72 und exklusive Salford und Chorlton 1 aus 30,75; in Liverpool inklusive West-Derby (Vorstadt) 31,90 und exklusive West-Derby 29,90, während der Durchschnitt sämtlicher angegebenen Distrikte von Cheshire, Lancashire und Yorkshire - und diese schließen eine Menge ganz oder halb ländlicher Distrikte ein, dazu viele kleine Städte — mit einer Bevölkerung von 2172506 Menschen eine Sterblichkeit von 1 aus 39,80 ergibt. Wie ungünstig
* „Fifth Annual Report of [the] Reg[istrar] Gen[eral] of Births, Deaths and Marriages" [Fünfter Jahresbericht des Generalregistrators über Geburten, Sterbefälle und Eheschließungen].
1 In der englischen Ausgabe 1887: ... thirteen hundredweight of laudanum ... [dreizehn Zentner Laudanum]
die Arbeiter in den Städten gestellt sind, zeigt die Sterblichkeit von Prescot in Lancashire - einem von Kohlengrubenarbeitern bewohnten und, da die Arbeit in den Gruben keine sehr gesunde ist, an Gesundheit noch unter den Ackerbaubezirken stehenden Distrikt. Aber die Arbeiter wohnen auf dem Lande, und die Sterblichkeit stellt sich auf 1 in 47,54, also beinahe 21/2 vorteilhafter als der Durchschnitt von ganz England. Sämtliche Angaben beruhen auf den Sterblichkeitstabellen von 1843. Noch höher ist das Verhältnis der Sterblichkeit in den schottischen Städten; in Edinburgh 1838,39 1 aus 29, ja 1831 in der Altstadt allein 1 aus 22; in Glasgow nach Dr. Cowan (Vital Statistics of Glasgow)[895 durchschnittlich seit 1830 1 aus 30, in einzelnen Jahren 1 aus 22 bis 24. Daß diese enorme Verkürzung der durchschnittlichen Lebensdauer hauptsächlich auf die arbeitende Klasse fällt, ja daß der Durchschnitt aller Klassen durch die geringere Sterblichkeit der höheren und mittleren Klassen noch verbessert wird, wird uns von allen Seiten bezeugt. Eins der neuesten Zeugnisse ist das des Arztes P. H. Holland in Manchester, der in offiziellem Auftrage* die Vorstadt von Manchester, Chorlton-on-Medlock, untersuchte. Er klassifiziert Häuser und Straßen in je drei Klassen und fand
Sterblichkeit I.Klasse laus 51 II. „ 1 „ 45 III. „ 1 „ 36
folgende Unterschiede der Sterblichkeit:
Erste Straßenklasse: Häuser »I s» »»
»» »> »»
Zweite Straßenklasse: Häuser I. Klasse II. „ III. „
aus 55 „ 38
Dritte Straßenklasse: Häuser I. Klasse II. „ III. „
fehlen 1 aus 35 1 „ 25
Aus mehreren andern von Holland gegebenen Tabellen geht hervor, daß die Sterblichkeit in den Straßen zweiter Klasse 18 Prozent und dritter Klasse
* Vgl. „Report of Commission of Inquiry into the State of large Towns and populous Districts", first Report, 1844, Appendix [Bericht der Untersuchungskommission über den Zustand der großen Städte und dichtbevölkerten Gebiete, erster Bericht, 1844, Anhang].
68 Prozent größer ist als in denen erster Klasse; daß die Sterblichkeit in den Häusern zweiter Klasse 31 Prozent und dritter Klasse 78 Prozent größer ist als in denen erster Klasse; daß die Sterblichkeit in den schlechten Straßen, die verbessert wurden, sich um 25 Prozent vermindert hat. Er schließt mit der für einen englischen Bourgeois sehr offenen Bemerkung:
„Wenn wir finden, daß die Sterblichkeit in einigen Straßen viermal so hoch ist als in anderen und in ganzen Straßenklassen doppelt so hoch ist als in andern Klassen, wenn wir ferner finden, daß sie so gut wie unveränderlich hoch ist in den Straßen, die in schlechtem Zustande sind, und so gut wie unveränderlich niedrig in gutkonditionierten Straßen, so können wir dem Schluß nicht widerstehen, daß Massen unserer Mitmenschen, Hunderte unserer nächsten Nachbarn jährlich getötet (destroyed) werden aus Mangel an den allergewöhnlicbsten Vorsichtsmaßregeln."
Der Bericht über den Gesundheitszustand der arbeitenden Klassen enthält eine Angabe, die dasselbe Faktum beweist. In Liverpool war 1840 die durchschnittliche Lebensdauer der höheren Klassen (gentry, professional men etc.) 35, der Geschäftsleute und bessergestellten Handwerker 22 Jahre, der Arbeiter, Tagelöhner und der dienenden Klasse überhaupt nur 15 Jahre. Die Parlamentsberichte enthalten noch eine Menge ähnlicher Tatsachen. Die Sterblichkeitslisten werden hauptsächlich durch die vielen Todesfälle unter den kleinen Kindern der Arbeiterklasse so hoch gesteigert. Der zarte Körper eines Kindes widersteht den ungünstigen Einflüssen einer niedrigen Lebenslage am wenigsten; die Vernachlässigung, der es oft ausgesetzt ist, wenn beide Eltern arbeiten oder einer von beiden tot ist, rächt sich sehr bald, und so darf man sich nicht wundern, wenn z. B. in Manchester, laut dem letzterwähnten Bericht, über 57 Prozent der Arbeiterkinder vor dem fünften Jahre sterben, während von den Kindern der höheren Klassen nur 20 Prozent und im Durchschnitt aller Klassen in Landdistrikten von allen Kindern unter dem fünften Jahre nicht volle 32 Prozent* sterben. Der mehrerwähnte Artikel des „Artizan" gibt uns hierüber genauere Nachweisungen, indem er die Proportionen der Sterbefälle bei einzelnen Kinderkrankheiten in den Städten denen auf dem Lande gegenüberstellt und so beweist, daß Epidemien im allgemeinen in Manchester und Liverpool dreimal tödlicher sind als in Landdistrikten; daß Krankheiten des Nervensystems in den Städten verfünffacht und Magenübel mehr als verdoppelt werden, während die Todesfälle infolge von Lungenkrankheiten in Städten sich zu
* „Factories Inquiry Commission's Report", 3rd vol. Report of Dr. Hawkins on Lancashire, wo Dr. Roberton, „die Hauptautorität für die Statistik in Manchester", als Gewährsmann angeführt wird.
dienen auf dem Lande verhalten wie 21'2 zu 1. Todesfälle von kleinen Kindern infolge von Pocken, Masern, Stickhusten und Scharlachfieber vervierfachen sich; die infolge von Wasser im Gehirn verdreifachen und infolge von Krämpfen verzehnfachen sich in Städten. Um noch eine schlagende Autorität aufzuführen, gebe ich hier eine Tabelle, die Dr. Wade in seiner „History of the Middle and Working Classes"1 (London, 1835, 3 rd ed.) nach dem Bericht des parlamentarischen Fabrikkomitees vom Jahre 1832 gibt.
Von 10000 Menseben Unter 5 20 40 60 70 80 90 100 und sterben 5 Jabren bis 19 bis 39 bis 59 bis 69 bis 79 bis 89 bis 99 drüber
in der Grafschaft Rulland — gesunder Agrikulturdistrikt.. 2865
in der Grafschaft Essex — marschiger Agrikulturdistrikt.. 3159
in der Stadt Carlisle 1779-1787,vor Einführung der Fabriken 4403
in der Stadt Carlisle nach Einführung der Fabriken 4738
in der Stadt Preston, Fabrikstadt 4947
in der Stadt Leeds, Fabrikstadt 5286
891 1275 1299 1189
1110 1526 1413 963
9113 1006 1201 940
930 1261 1134 677
1136 1379 1114 553
927 1228 1198 593
1428 938 112 3
1019 630 77a 3
826 533 153 22
727 452 80 1
532 298 38 3
512 225 29 2
Außer diesen verschiedenen Krankheiten, die die notwendige Folge der jetzigen Vernachlässigung und Unterdrückung der ärmeren Klasse sind, gibt es aber noch andere Einflüsse, die zur Vermehrung der Sterblichkeit unter kleinen Kindern beitragen. In vielen Familien arbeitet die Frau so gut wie der Mann außer dem Hause, und die Folge davon ist die gänzliche Vernachlässigung der Kinder, die entweder eingeschlossen oder zum Verwahren ausgemietet werden. Da ist es denn kein Wunder, wenn Hunderte von solchen
1 Geschichte der Mittel- und arbeitenden Klassen - 2 (1845 und 1892) irrtümlich 177 3 (1845 und 1892) irrtümlich 921
22 Marx/Engels, Werke, Bd. 2
Kindern durch allerlei Unglücksfälle das Leben verlieren. Nirgends werden so viel Kinder überfahren und überritten, nirgends fallen so viele zu Tode, ertrinken oder verbrennen als in den großen Städten Englands. Namentlich sind Todesfälle infolge von Brandwunden oder Übergießung mit heißem Wasser häufig - in Manchester während der Wintermonate fast jede Woche einmal, in London ebenfalls häufig, doch sieht man dort selten etwas davon in den Blättern; mir ist nur eine Angabe im „Weekly Dispatch" vom 15. Dezember 1844 zur Hand, wonach in der Woche vom 1. bis 7. Dezember sechs derartige Fälle vorgekommen waren. Diese armen Kinder, die auf eine so fürchterliche Weise ums Leben kommen, sind rein die Opfer unserer gesellschaftlichen Unordnung und der bei der Erhaltung dieser Unordnung interessierten besitzenden Klasse — und doch weiß man nicht, ob nicht selbst dieser schreckliche, qualvolle Tod eine Wohltat für die Kinder war, indem er sie vor einem langen Leben voll Mühe und Elend, reich an Leiden und arm an Genüssen, bewahrte. So weit ist es gekommen in England - und die Bourgeoisie liest das alles täglich in den Zeitungen und kümmert sich nicht drum. Sie wird sich aber auch nicht beklagen können, wenn ich sie nach den angeführten offiziellen und nichtoffiziellen Zeugnissen, die sie kennen muß, geradezu des sozialen Mordes beschuldige. Entweder sorge sie dafür, daß diesem entsetzlichen Zustande abgeholfen werde - oder sie trete die Verwaltung der allgemeinen Interessen an die arbeitende Klasse ab. Und zu letzterem hat sie keine Lust, während sie zu ersterem — solange sie Bourgeoisie und in Bourgeoisievorurteilen befangen bleibt - nicht die Kraft besitzt; denn wenn sie jetzt endlich, nachdem Hunderttausende von Schlachtopfern gefallen sind, einige kleinliche Vorsorge für die Zukunft trifft, einen „Metropolitan Buildings Act"[90] erläßt, wonach wenigstens die rücksichtsloseste Zusammendrängung von Wohnungen etwas beschränkt wird wenn sie mit Maßregeln prunkt, die, weit entfernt, auf die Wurzel des Übels einzugehen, noch lange nicht an die Anordnungen der allgewöhnlichsten Gesundheitspolizei reichen, so wird sie sich dadurch doch nicht von der Anklage reinigen können. Die englische Bourgeoisie hat nur die Wahl, entweder mit der unwiderlegbaren Anklage des Mordes auf ihren Schultern und trotz dieser Anklage fortzuregieren - oder zugunsten der Arbeiterklasse abzudanken. Bis jetzt hat sie das erstere vorgezogen. Gehen wir von der physischen auf die geistige Lage der Arbeiter über. Wenn die Bourgeoisie ihnen vom Leben so viel läßt, als eben nötig ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie ihnen auch nur so viel Bildung gibt, als im Interesse der Bourgeoisie liegt. Und das ist so viel wahrlich nicht. Die Bildungsmittel sind in England unverhältnismäßig gering gegen die Volkszahl.
Die wenigen der arbeitenden Klasse zu Gebote stehenden Wochenschulen können nur von den wenigsten besucht werden und sind außerdem schlecht, die Lehrer - ausgediente Arbeiter und sonstige untaugliche Leute, die nur, um leben zu können, Schulmeister wurden - sind großenteils selbst in den notdürftigsten Elementarkenntnissen unerfahren, ohne die dem Lehrer so nötige sittliche Bildung und ohne alle öffentliche Kontrolle. Auch hier herrscht die freie Konkurrenz, und wie immer haben die Reichen den Nutzen, und die Armen, für die die Konkurrenz eben nicht frei ist, die nicht die gehörigen Kenntnisse haben, um urteilen zu können, haben den Schaden, Ein Schulzwang existiert nirgends, in den eigentlichen Fabriken, wie wir sehen werden, nur dem Namen nach, und als in der Session von 1843 die Regierung diesen scheinbaren Schulzwang in Kraft treten lassen wollte, opponierte die fabrizierende Bourgeoisie aus Leibeskräften, obwohl die Arbeiter sich entschieden für den Schulzwang aussprachen. Ohnehin arbeitet eine große Menge Kinder die ganze Woche über in Fabriken und zu Hause und kann deshalb die Schule nicht besuchen. Denn die Abendschulen, wohin diejenigen gehen sollen, die des Tages beschäftigt sind, werden fast gar nicht und ohne Nutzen besucht. Es wäre auch wirklich gar zuviel verlangt, wenn junge Arbeiter, die sich zwölf Stunden lang abgeplagt haben, nun noch von acht bis zehn Uhr in die Schule gehen sollten. Und diejenigen, die es tun, schlafen dort meistens ein, wie durch den Children's Empl[oyment] Rep[or]t in Hunderten von Aussagen konstatiert ist. Allerdings hat man Sonntagsschulen eingerichtet, die aber ebenfalls höchst mangelhaft mit Lehrern besetzt sind und nur denen, die schon in der Wochenschule etwas gelernt haben, nützen können. Der Zeitraum von einem Sonntag zum andern ist zu lang, als daß ein ganz ungebildetes Kind in der zweiten Lektion das nicht wieder vergessen haben sollte, was es in der ersten, acht Tage früher, gelernt hat. Der Bericht der Children's Employment Commission liefert Tausende von Beweisen, und die Kommission selbst spricht sich aufs entschiedenste dahin aus, daß weder die Wochen- noch die Sonntagsschulen dem Bedürfnis der Nation auch nur im entferntesten entsprechen. Dieser Bericht liefert Beweise von Unwissenheit unter der arbeitenden Klasse Englands, die man nicht aus einem Lande wie Spanien und Italien erwarten sollte. Es kann aber nicht anders sein; die Bourgeoisie hat wenig zu hoffen, aber manches zu fürchten von der Bildung der Arbeiter; die Regierung hat in ihrem ganzen kolossalen Budget von 55000000 Pfd. St. nur einen einzigen winzigen Posten von 40000 Pfd. St. für öffentlichen Unterricht; und wenn nicht der Fanatismus der religiösen Sekten wäre, der wenigstens ebensoviel verdirbt, als er hier und da bessert, so würden die Unterrichtsmittel noch viel elender sein. Aber
so errichtet die Hochkirche ihre National Schools1 und jede Sekte ihre Schulen, einzig in der Absicht, die Kinder ihrer Glaubensgenossen in ihrem Schoß zu behalten und womöglich hier und da den andern Sekten eine arme Kinderseele abzujagen. Die Folge davon ist, daß die Religion und gerade die unfruchtbarste Seite der Religion, die Polemik, zum vorzüglichsten Unterrichtsgegenstande erhoben und das Gedächtnis der Kinder mit unverständlichen Dogmen und theologischen Distinktionen vollgepfropft, daß der Sektenhaß und die fanatische Bigotterie so früh wie möglich geweckt und alle vernünftige, geistige und sittliche Bildung schändlich vernachlässigt wird. Die Arbeiter haben oft genug eine rein weltliche öffentliche Erziehung, die Religion den Geistlichen jeder Sekte überlassend, vom Parlament gefordert - sie haben bis jetzt noch kein Ministerium gefunden, das ihnen etwas Ähnliches bewilligt hätte. Natürlich. Der Minister ist der gehorsame Knecht der Bourgeoisie, und diese teilt sich in zahllose Sekten; jede Sekte aber gönnt dem Arbeiter nur dann die sonst gefährliche Erziehung, wenn er das Gegengift der speziell dieser Sekte angehörigen Dogmen mit in den Kauf nehmen muß. Und da sich diese Sekten noch bis heute um die Oberherrschaft zanken, so bleibt die Arbeiterklasse einstweilen ohne Bildung. Zwar rühmen sich die Fabrikanten, der großen Mehrzahl das Lesen beigebracht zu haben, aber es ist auch ein Lesen danach - wie der Bericht der Children's Employment Commission zeigt. Wer das Alphabet kennt, sagt, er könne lesen, und dabei beruhigen sich die Fabrikanten. Und wenn man die konfuse englische Orthographie bedenkt, bei der das Lesen eine wahre Kunst ist und nur nach langem Unterricht gelernt werden kann, so findet man diese Unwissenheit begreiflich. Schreiben vollends können sehr wenige - orthographisch schreiben selbst sehr viele „Gebildete" nicht. Die Sonntagsschulen der Hochkirche, der Quäker und ich glaube noch mehrerer andern Sekten lehren gar kein Schreiben, „weil dies eine zu weltliche Beschäftigung für den Sonntag sei". Wie es sonst mit der Bildung, die den Arbeitern geboten wird, steht, sollen ein paar Beispiele zeigen. Sie sind aus dem Ch[ildren's] EmpI[oyment] Commiss[ion's]-Bericht, der sich leider nicht auf die eigentliche Fabrikindustrie ausdehnt.
„In Birmingham", sagt Kommissär Grainger, „sind die von mir geprüften Kinder in ihrer Gesamtheit gänzlich ohne alles, was auch nur im entferntesten eine nützliche Erziehung genannt werden könnte. Obwohl fast in allen Schulen nur Religionsunterricht gegeben wird, zeigten sie doch im allgemeinen auch hierüber die gröbste Unwissenheit." - „In Wolverhampton", erzählt Kommissär Hörne, „fand ich unter andern
1 Volksschulen
folgende Beispiele: Ein Mädchen, 11 Jahre, war in einer Wochen- und Sonntagsschule gewesen, .hatte nie von einer andern Welt, vom Himmel oder einem andern Leben gehört'. Ein andrer, 17 Jahre alt, wußte nicht, wieviel zwei mal zwei machten, wieviel Farthings" (L/4 Penny) „in 2 Pence seien, selbst als man das Geld ihm in die Hand legte. Einige Knaben hatten nie von London oder selbst von Willenhall gehört, obwohl letzteres nur eine Stunde von ihrem Wohnort entfernt liegt und fortwährend in Kommunikation mit Wolverhampton steht. Einige hatten nie den Namen der Königin oder Namen wie Nelson, Wellington, Bonaparte gehört. Aber es war bemerkenswert, daß diejenigen, die selbst von Sankt Paulus, Moses oder Salomon nie gehört hatten, über Leben, Taten und Charakter Dick Turpins, des Straßenräubers, und besonders Jack Sheppards, des Diebs und Gefängnisbrechers, sehr wohl unterrichtet waren. Ein Junge, 16 Jahre alt, wußte nicht, wieviel zwei mal zwei machten oder wieviel vier Farthings machten - ein Junge von 17 Jahren behauptete, zehn Farthings seien zehn halbe Pence, und ein dritter, 17 Jahre alt, antwortete kurz auf einige sehr einfache Fragen: ,Er wisse nichts von gar nichts (he was ne judge o' nothin')'" (Hörne, Rept., App. Part II, Q. 18, No. 216,217,226,233 etc.).
Diese Kinder, die vier bis fünf Jahre hindurch mit religiösen Dogmen geplagt werden, wissen am Ende soviel wie vorher.
Ein Kind „ist fünf Jahre lang regelmäßig zur Sonntagsschule gegangen; weiß nicht, wer Jesus Christus war, hat den Namen aber gehört; hat nie von den zwölf Aposteln, Simson, Moses, Aaron usw. gehört" (ibid. Evid. p. q. 39, I. 33). Ein andres „sechs Jahre regelmäßig zur Sonntagsschule gegangen. Weiß, wer Jesus Christus war, er starb am Kreuz, sein Blut zu vergießen, um unsern Erlöser zu erlösen; hat nie von St.Petrus oder Paulus gehört" (ibid. p. q. 36, I. 46). Ein drittes „sieben Jahre in verschiednen Sonntagsschulen gewesen, kann nur in den dünnen Büchern lesen, leichte einsilbige Wörter; hat von den Aposteln gehört, weiß nicht, ob St. Peter einer war oder St. Johann, es müßte denn Sankt Johann Wesley (Stifter der Methodisten) sein usw." (ibid. p. q. 34, I. 58), auf die Frage, wer Jesus Christus sei, erhielt Hörne u. a. noch folgende Antworten: „Er war Adam"; „er war ein Apostel"; „er war der Sohn des Herrn des Erlösers (he was the Saviour's Lord's Son)", und von einem sechzehnjährigen Jungen: „Er war ein König von London vor langer, langer Zeit."
In Sheffield ließ Kommissär Symons die Sonntagsschüler lesen; sie waren nicht imstande zu sagen, was sie gelesen hatten oder was für Leute die Apostel gewesen seien, von denen sie soeben gelesen hatten. Nachdem er sie alle nach der Reihe wegen der Apostel befragt hatte, ohne eine richtige Antwort zu erhalten, rief ein kleiner schlau aussehender Junge mit großer Zuversicht aus:
„Ich weiß es, Herr, es waren die Aussätzigen!" (Symons, Rept., App. Part I, pp. E 22 sqq.) Aus den Töpfereibezirken und aus Lancashire wird Ähnliches berichtet.
Man sieht, was die Bourgeoisie und der Staat für die Erziehung und Ausbildung der arbeitenden Klasse getan haben. Glücklicherweise sind die Verhältnisse, in denen diese Klasse lebt, derart, daß sie ihr eine praktische Bildung geben, welche nicht nur den Schulkram ersetzt, sondern auch die mit ihm verbundenen verworrenen religiösen Vorstellungen unschädlich macht und die Arbeiter sogar an die Spitze der nationalen Bewegung Englands stellt. Not lehrt beten und, was mehr heißen will, denken und handeln. Der englische Arbeiter, der kaum lesen und noch weniger schreiben kann, weiß dennoch sehr gut, was sein eignes Interesse und das der ganzen Nation ist - er weiß auch, was das spezielle Interesse der Bourgeoisie ist und was er von dieser Bourgeoisie zu erwarten hat. Kann er nicht schreiben, so kann er doch sprechen, öffentlich sprechen; kann er nicht rechnen, so kann er doch mit nationalökonomischen Begriffen soviel kalkulieren, als dazu gehört, einen korngesetzabschaffenden Bourgeois zu durchschauen und zu widerlegen; bleiben ihm trotz aller Mühe der Pfaffen die himmlischen Fragen sehr unklar, so weiß er desto besser Bescheid in irdischen, politischen und sozialen Fragen. Wir werden davon noch weiter zu reden haben und gehen jetzt zur sittlichen Charakterisierung unserer Arbeiter über. Daß der Moralunterricht, der in allen Schulen Englands mit dem religiösen vereinigt ist, von keiner besseren Wirkung sein kann als dieser, ist ziemlich klar. Die einfachen Prinzipien, welche für den Menschen das Verhältnis des Menschen zum Menschen regulieren, Prinzipien, die schon durch den sozialen Zustand, den Krieg Aller gegen Alle, in die greulichste Verwirrung geraten, müssen dem ungebildeten Arbeiter vollends unklar und fremd bleiben, wenn sie mit religiösen, unverständlichen Lehrsätzen vermischt und in der religiösen Form eines willkürlichen, unbegründeten Befehls vorgetragen werden. Die Schulen tragen nach dem Geständnis aller Autoritäten, namentlich der Child. Empl. Comm., zur Sittlichkeit der arbeitenden Klasse fast gar nichts bei. So rücksichtslos, so dumm borniert ist die englische Bourgeoisie in ihrem Egoismus, daß sie sich nicht einmal die Mühe gibt, den Arbeitern die heutige Moral einzuprägen, eine Moral, welche die Bourgeoisie sich doch in ihrem eignen Interesse und zu ihrem eignen Schutz zusammengestümpert hat! Selbst diese Sorge für sich selbst macht der schlaff werdenden, trägen Bourgeoisie zuviel Mühe, selbst das scheint ihr überflüssig. Die Zeit wird freilich kommen, wo sie ihr Versäumnis zu spät bereuen wird. Aber beklagen darf sie sich nicht, wenn die Arbeiter von dieser Moral nichts wissen und sich nicht nach ihr richten. So sind die Arbeiter, wie körperlich und intellektuell, auch moralisch von der machthabenden Klasse ausgestoßen und vernachlässigt. Die einzige
Rücksicht, die man noch für sie hat, ist das Gesetz, das sich an sie anklammert, sobald sie der Bourgeoisie zu nahe treten - wie gegen die unvernünftigen Tiere wendet man nur ein Bildungsmittel auf sie an - die Peitsche, die brutale, nicht überzeugende, nur einschüchternde Gewalt. Es ist also auch nicht zu verwundern, wenn die so wie Tiere behandelten Arbeiter entweder wirklich zu Tieren werden oder sich nur durch den glühendsten Haß, durch fortwährende innere Empörung gegen die machthabende Bourgeoisie das Bewußtsein und Gefühl ihrer Menschheit bewahren können. Sie sind nur Menschen, solange sie den Zorn gegen die herrschende Klasse fühlen; sie werden Tiere, sobald sie sich geduldig in ihr Joch fügen und sich nur das Leben im Joch angenehm zu machen suchen, ohne das Joch selbst brechen zu wollen. Das ist also alles, was die Bourgeoisie zur Bildung der arbeitenden Klasse getan hat - und wenn wir die übrigen Umstände erwägen, in denen diese letztere lebt, so werden wir ihr den Ingrimm, den sie gegen die herrschende Klasse hegt, vollends nicht verübeln können. Die sittliche Bildung, die dem Arbeiter in der Schule nicht gereicht wird, wird ihm auch in seinen sonstigen Lebensverhältnissen nicht geboten - wenigstens die sittliche Bildung nicht, die in den Augen der Bourgeoisie etwas gilt. Seine ganze Stellung und Umgebung enthält die stärksten Neigungen zur Immoralität. Er ist arm, das Leben hat keinen Reiz für ihn, fast alle Genüsse sind ihm versagt, die Strafen des Gesetzes haben nichts Fürchterliches mehr für ihn — was soll er sich also in seinen Gelüsten genieren, weshalb soll er den Reichen im Genuß seiner Güter lassen, statt sich selbst einen Teil davon anzueignen? Was für Gründe hat der Proletarier, nickt zu stehlen? Es ist all recht schön und klingt den Bourgeois angenehm genug ins Ohr, wenn man von der „Heiligkeit des Eigentums" spricht - aber für den, der kein Eigentum hat, hört die Heiligkeit des Eigentums von selber auf. Das Geld ist der Gott dieser Welt. Der Bourgeois nimmt dem Proletarier sein Geld und macht ihn dadurch zum praktischen Atheisten. Kein Wunder also, wenn der Proletarier seinen Atheismus bewährt und die Heiligkeit und die Macht des irdischen Gottes nicht mehr respektiert. Und wenn die Armut des Proletariers bis zum wirklichen Mangel der nötigsten Lebensbedürfnisse, bis zum Elend und zur Brotlosigkeit gesteigert wird, so steigt der Reiz zur Nichtachtung aller gesellschaftlichen Ordnung noch mehr. Das wissen auch die Bourgeois großenteils selbst. Symons bemerkt*, daß die Armut dieselbe zerrüttende Wirkung auf den Geist ausübe wie die Trunksucht auf den Körper, und vollends Sheriff Alison erzählt den Besitzenden ganz genau, was die Folgen der
* „Arts and Artisans".
sozialen Unterdrückung für die Arbeiter sein müssen.* Das Elend läßt dem Arbeiter nur die Wahl, langsam zu verhungern, sich rasch zu töten oder sich zu nehmen, was er nötig hat, wo er es findet, auf deutsch, zu stehlen. Und da werden wir uns nicht wundern dürfen, wenn die meisten den Diebstahl dem Hungertode oder dem Selbstmorde vorziehen. Es gibt freilich auch unter den Arbeitern eine Anzahl, die moralisch genug sind, um nicht zu stehlen, selbst wenn sie aufs Äußerste gebracht werden, und diese verhungern oder töten sich. Der Selbstmord, der sonst das beneidenswerte Privilegium der höheren Klassen war, ist in England auch unter den Proletariern Mode geworden, und eine Menge armer Leute töten sich, um dem Elend zu entgehen, aus dem sie sich sonst nicht zu retten wissen. Aber noch viel demoralisierender als die Armut wirkt auf die englischen Arbeiter die Unsicherheit der Lebensstellung, die Notwendigkeit, vom Lohn aus der Hand in den Mund zu leben, kurz das, was sie zu Proletariern macht. Unsre kleinen Bauern in Deutschland sind großenteils auch arm und leiden oft Mangel, aber sie sind weniger abhängig vom Zufall, sie haben wenigstens etwas Festes. Aber der Proletarier, der gar nichts hat als seine beiden Hände, der heute verzehrt, was er gestern verdiente, der von allen möglichen Zufällen abhängt, der nicht die geringste Garantie für seine Fähigkeit, sich die nötigsten Lebensbedürfnisse zu erwerben, besitzt - jede Krisis, jede Laune seines Meisters kann ihn brotlos machen -, der Proletarier ist in die empörendste, unmenschlichste Lage versetzt, die ein Mensch sich denken kann. Dem Sklaven ist wenigstens seine Existenz durch den Eigennutz seines Herrn gesichert, der Leibeigne hat doch ein Stück Land, wovon er lebt, sie haben wenigstens für das nackte Leben eine Garantie - aber der Proletarier ist allein auf sich selbst angewiesen und doch zugleich außerstand gesetzt, seine Kräfte so anzuwenden, daß er auf sie rechnen kann. Alles, was der Proletarier zur Verbesserung seiner Lage selbst tun kann, verschwindet wie ein Tropfen am Eimer gegen die Fluten von Wechselfällen, denen er ausgesetzt ist und über die er nicht die geringste Macht hat. Er ist das willenlose Objekt aller möglichen Kombinationen von Umständen und kann vom Glück noch sagen, wenn er nur auf kurze Zeit das nackte Leben rettet. Und wie sich das von selbst versteht, richtet sich sein Charakter und seine Lebensweise wieder nach diesen Umständen. Entweder sucht er sich in diesem Strudel oben zu halten, seine Menschheit zu retten, und das kann er wieder nur in der Empörung** gegen die Klasse, die ihn so schonungslos ausbeutet
* „Prin[ciples] of Population]" vol. II, p. 196, 197. ** Wir werden später sehen, wie die Empörung des Proletariers gegen die Bourgeoisie in England durch das Recht der freien Assoziation gesetzlich legitimiert ist.
und dann seinem Schicksal überläßt, die ihn zu zwingen sucht, in dieser, eines Menschen unwürdigen Lage zu bleiben, gegen die Bourgeoisie - oder er gibt den Kampf gegen seine Lage als fruchtlos auf und sucht, soviel er kann, von den günstigen Momenten zu profitieren. Sparen nützt ihm zu nichts, denn er kann sich höchstens soviel sammeln, als er braucht, um sich ein paar Wochen lang zu ernähren - und wird er einmal brotlos, so bleibt es nicht bei ein paar Wochen. Sich auf die Dauer Eigentum erwerben kann er nicht, und könnte er's, so müßte er dann ja aufhören, Arbeiter zu sein, und ein andrer träte an seine Stelle. Was kann er also Besseres tun, wenn er guten Lohn bekommt, als gut davon leben? Der englische Bourgeois wundert und skandalisiert sich aufs höchste über das flotte Leben der Arbeiter während der Zeit, daß der Lohn hoch ist — und doch ist es nicht nur ganz natürlich, sondern sogar ganz vernünftig von den Leuten, daß sie das Leben genießen, wenn sie können, statt Schätze zu sammeln, die ihnen nichts nützen und die am Ende doch wieder die Motten und der Rost, d. h. die Bourgeois fressen. Aber solch ein Leben ist demoralisierend wie kein andres. Was Carlyle von den Baumwollspinnern sagt, gilt von allen englischen Industriearbeitern:
„Bei ihnen ist das Geschäft heute blühend, morgen welk - ein fortwährendes Hasardspiel, und so leben sie auch wie Spieler, heute im Luxus, morgen im Hunger. Schwarze meuterische Unzufriedenheit verzehrt sie, das elendeste Gefühl, das in des Menschen Brust wohnen kann. Der englische Handel mit seinen weltweiten Konvulsionen und Schwankungen, mit seinem unermeßlichen Dampfproteus hat alle Pfade für sie unsicher gemacht wie ein Zauberbann; Nüchternheit, Festigkeit, ruhige Dauer, die ersten Segnungen des Menschen sind ihnen fremd ... Diese Welt ist für sie kein heimatlich Haus, sondern ein dumpfiges Gefängnis voll toller, fruchtloser Plage, Rebellion, Groll, Ingrimm gegen sich selbst und alle Menschen. Ist es eine grüne, blumige Welt, gemacht und regiert von einem Gott - oder ist es ein düster-brodelndes Tophet von Vitriolrauch, Baumwollstaub, Schnapslärm, Wut und Arbeitsqual, gemacht und regiert von einem Teufel? *
Und weiter p. 40:
„Wenn Ungerechtigkeit, Untreue gegen Wahrheit, Tatsache und Ordnung der Natur das einzige Übel unter der Sonne ist und das Bewußtsein, Unrecht, Ungerechtigkeit zu ertragen, das einzige unerträglich schmerzliche Gefühl, so wäre unsre große Frage wegen der Lage der Arbeiter diese: Ist dies gerecht? Und vor allem: Was halten sie selbst von der Gerechtigkeit der Sache? - Ihre Worte sind Antwort genug, ihre Taten noch mehr... Empörung, plötzlicher rachelustiger Trieb zur Empörung gegen die höheren Klassen, abnehmende Achtung gegen die Befehle ihrer weltlichen Obern,
* „Chartism", p. 34ff.
abnehmender Glaube gegen die Lehren ihrer geistlichen Obern wird mehr und mehr die allgemeine Stimmung der niederen Klassen. Diese Stimmung mag getadelt, mag bestraft werden, aber alle müssen sie als dort wirklich existierend anerkennen, müssen wissen, daß es traurig ist und, wo nicht geändert, unheilbringend sein wird."
Carlyle hat in den Tatsachen ganz recht und nur darin unrecht, daß er die wilde Leidenschaft der Arbeiter gegen die höheren Klassen tadelt. Diese Leidenschaft, dieser Zorn ist vielmehr der Beweis, daß die Arbeiter das Unmenschliche ihrer Lage fühlen, daß sie sich nicht zum Tier herabdrängen lassen wollen und daß sie dereinst sich aus der Knechtschaft der Bourgeoisie befreien werden. Wir sehen es ja an denen, die diesen Zorn nicht teilen entweder unterwerfen sie sich in Demut dem Geschick, das sie trifft, leben als ehrliche Privatleute, so gut es geht, kümmern sich nicht um den Gang der Welt, helfen der Bourgeoisie die Ketten der Arbeiter fester zu schmieden1 und stehen auf dem geistig-toten Standpunkte der vorindustriellen Periode - oder sie lassen sich vom Schicksal werfen und spielen mit ihm, verlieren auch innerlich den festen Halt, den sie schon äußerlich verloren haben, leben in den Tag hinein, trinken Schnaps und laufen den Mädeln nach - in beiden Fällen sind sie Tiere. Diese letzteren tragen denn auch hauptsächlich zu der „schnellen Vermehrung des Lasters" bei, über die die sentimentale Bourgeoisie so entsetzt ist, nachdem sie selbst die Ursachen derselben in Bewegung gesetzt hat. Eine andre Quelle der Demoralisation unter den Arbeitern ist die Verdammung zur Arbeit. Wenn die freiwillige produktive Tätigkeit der höchste Genuß ist, den wir kennen, so ist die Zwangsarbeit die härteste, entwürdigendste Qual. Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas tun zu müssen, was einem widerstrebt. Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto mehr muß ihm seine Arbeit verhaßt sein, weil er den Zwang, die Zwecklosigkeit für ihn selbst fühlt, die in ihr liegen. Weshalb arbeitet er denn? Aus Lust am Schaffen? Aus Naturtrieb? Keineswegs. Er arbeitet um des Geldes, um einer Sache willen, die mit der Arbeit selbst gar nichts zu schaffen hat, er arbeitet, weil er muß, und arbeitet noch dazu so lange und so ununterbrochen einförmig, daß schon aus diesem Grunde allein ihm die Arbeit in den ersten Wochen zur Qual werden muß, wenn er noch irgend menschlich fühlt. Die Teilung der Arbeit hat die vertierenden Wirkungen der Zwangsarbeit überhaupt noch vervielfacht. In den meisten Arbeitszweigen ist die Tätigkeit des Arbeiters auf eine kleinliche, rein mechanische Manipulation beschränkt, die sich Minute für Minute wiederholt
1 (1892) ... fester schmieden
und jahraus, jahrein dieselbe bleibt.* Wer von Kindesbeinen an jeden Tag zwölf Stunden und drüber Nadelknöpfe gemacht oder Kammräder abgefeilt und außerdem in den Verhältnissen eines englischen Proletariers gelebt hat, wieviel menschliche Gefühle und Fähigkeiten mag der in sein dreißigstes Jahr hinüberretten? Dasselbe ist's mit der Einführung der Dampf kraft und der Maschinen. Die Tätigkeit des Arbeiters wird leicht, die Anstrengung der Muskel wird gespart und die Arbeit selbst unbedeutend, aber eintönig im höchsten Grade. Sie gewährt ihm kein Feld für geistige Tätigkeit und nimmt doch seine Aufmerksamkeit gerade so viel in Anspruch, daß er, um sie gut zu besorgen, an nichts andres denken darf. Und eine Verurteilung zu einer solchen Arbeit - einer Arbeit, die alle disponible Zeit des Arbeiters in Anspruch nimmt, ihm kaum Zeit zum Essen und Schlafen, nicht einmal zu körperlicher Bewegung in freier Luft, zum Genuß der Natur, geschweige zu geistiger Tätigkeit läßt - eine solche Verurteilung soll den Menschen nicht zum Tier herabwürdigen! Der Arbeiter hat wieder nur die Alternative, sich in sein Schicksal zu ergeben, ein „guter Arbeiter" zu werden, das Interesse des Bourgeois „treulich" wahrzunehmen - und dann vertiert er ganz gewiß — oder sich zu sträuben, für seine Menschheit zu kämpfen, solange es geht, und das kann er nur im Kampf gegen die Bourgeoisie. Und wenn alle diese Ursachen eine Masse von Demoralisation unter der arbeitenden Klasse erzeugt haben, dann tritt eine neue Ursache hinzu, um diese Demoralisation weiter zu verbreiten und auf den höchsten Gipfel zu treiben - die Zentralisation der Bevölkerung. Die englischen Schriftsteller der Bourgeoisie schreien Zeter über die entsittlichenden Wirkungen der großen Städte - diese umgekehrten Jeremiasse weinen Klagelieder nicht über die Zerstörung, sondern über den Flor derselben. Sheriff Alison schiebt fast alles und Dr. Vaughan, Verfasser eines Buches „The Age of Great Cities"1, noch viel mehr auf diese Ursache. Natürlich. Bei den übrigen Ursachen, die auf Körper und Geist der Arbeiter zerstörend wirken, kommt das Interesse der besitzenden Klasse zu direkt ins Spiel. Sagten sie: die Armut, die Unsicherheit der Stellung, die Überarbeitung und Zwangsarbeit Sei die Hauptursache - so würde jeder, so würden sie sich selbst antworten müssen: Also geben wir den Armen Eigentum, garantieren wir ihnen ihre Existenz, erlassen wir Gesetze gegen Überarbeitung - und das darf die Bourgeoisie nicht
* Soll ich auch hierBourgeoisiezeugnisse für mich sprechen lassen? Ich wähle nur eins, das jeder nachlesen kann, in Adam Smiths „Wealth of Nations" (zitierte Ausg.), vol. 3, book 5, cap. 1, pag. 297.
1 „Das Alter der großen Städte"
zugeben. Aber die großen Städte sind so ganz von selbst herangewachsen, die Leute sind ganz freiwillig hineingezogen, und der Schluß, daß einzig die Industrie und die von ihr profitierende Mittelklasse diese großen Städte geschaffen habe, hegt so fern, daß es der herrschenden Klasse gar zu leicht einfallen muß, alles Unheil auf diese anscheinend unvermeidliche Ursache zu wälzen - wo doch die großen Städte nur dem wenigstens im Keime schon existierenden Unheil eine schnellere und reifere Entwicklung geben können. Alison ist wenigstens noch so human, daß er dies anerkennt - er ist kein vollständig ausgebildeter, industrieller und liberaler, sondern nur ein halbentwickelter, torystischer Bourgeois und hat deshalb hie und da offne Augen, wo die wahren Bourgeois stockblind sind. Ihn wollen wir hier reden lassen:
„Es ist in den großen Städten, daß das Laster seine Versuchungen, die Wollust ihre Netze ausbreiten, daß die Schuld durch die Hoffnung der Straflosigkeit und die Trägheit durch häufiges Beispiel angespornt wird. Hieher zu diesen großen Stapelplätzen menschlicher Verdorbenheit fliehen die Schlechten und Liederlichen von der Einfachheit des Landlebens, hier finden sie Opfer für ihre Schlechtigkeit und Gewinn als Lohn für die Gefahren, in die sie sich begeben. Die Tugend wird in Dunkelheit gehüllt und unterdrückt, die Schuld reift in der Schwierigkeit der Entdeckung, Ausschweifungen werden durch unverzüglichen Genuß belohnt. Wer bei Nacht durch St. Giles, durch die engen gedrängten Gäßchen von Dublin, die ärmeren Viertel von Glasgow geht, wird dies bestätigt finden, wird sich nicht wundern, daß soviel, sondern daß sowenig Verbrechen in der Welt ist ... Die große Ursache der Verderbtheit der großen Städte ist die ansteckende Natur des bösen Beispiels und die Schwierigkeit, der Verführung des Lasters aus dem Wege zu gehen, wenn sie in nahe und tägliche Berührung mit der heranwachsenden Generation gebracht werden. Die Reichen sind eo ipso1 nicht besser, auch sie können in derselben Lage der Versuchung nicht widerstehen; das besondre Unglück der Armen ist, daß sie überall den verlockenden Gestalten des Lasters und den Verführungen verbotner Genüsse begegnen müssen ... Die erwiesene Unmöglichkeit, die Reize des Lasters vor dem jüngern Teile der Armen in großen Städten zu verbergen, ist die Ursache der Demoralisation." Nach einer längeren Sittenschilderung fährt unser Autor fort: „Alles das kommt nicht von außerordentlicher Depravation des Charakters, sondern von der fast unwiderstehlichen Natur der Versuchungen, denen die Armen ausgesetzt sind. Die Reichen, die das Betragen der Armen tadeln, würden dem Einfluß ähnlicher Ursachen wohl ebenso rasch nachgeben. Es gibt einen Grad des Elends, ein Sich-Aufdrängen der Sünde, denen entgegenzutreten die Tugend selten fähig ist und der besonders die Jugend gewöhnlich nicht widerstehen kann. Der Fortschritt des Lasters in solchen Umständen ist fast so gewiß und oft ebenso rasch wie der der physischen Ansteckung."
1 selbstverständlich
Und an einer späteren Stelle:
„Wenn die höheren Klassen die Arbeiter für ihren Vorteil in großen Massen auf einen engen Raum zusammengezogen haben, wird die Ansteckung des Verbrechens reißend schnell und unvermeidlich. Die niederen Klassen, wie sie jetzt in Beziehung auf religiösen und moralischen Unterricht gestellt sind, sind häufig kaum mehr dafür zu tadeln, daß sie den auf sie eindringenden Versuchungen nachgeben, als dafür, daß sie dem Typhus zum Opfer fallen."*
Genug! Der Halbbourgeois Alison verrät uns, wenn auch in bornierter Ausdrucksweise, die schlimmen Folgen der großen Städte für die sittliche Entwicklung der Arbeiter. Ein anderer, ganzer Bourgeois, ein Mann nach dem Herzen der Antikorngesetzligue, der Doktor Andrew Ure**, verrät uns die andre Seite. Er erzählt uns, daß das Leben in großen Städten Kabalen unter den Arbeitern erleichtere und dem Plebs Macht gebe. Wenn hier die Arbeiter nicht erzogen (d. h. zum Gehorsam gegen die Bourgeoisie erzogen) seien, so würden sie die Dinge einseitig, vom Standpunkt einer sinistren Selbstsucht ansehen und sich leicht von schlauen Demagogen verführen lassen ja, sie seien kapabel, ihren besten Wohltäter, den frugalen und unternehmenden Kapitalisten, mit einem eifersüchtigen und feindseligen Auge anzusehen. Hier könne nur gute Erziehung helfen, sonst müsse Nationalbankerott und andre Schrecken folgen, da eine Revolution der Arbeiter sonst nicht ausbleiben könne. Und unser Bourgeois hat ganz recht mit seinen Befürchtungen. Wenn die Zentralisation der Bevölkerung schon auf die besitzenden Klassen anregend und entwickelnd wirkt, so treibt sie die Entwicklung der Arbeiter noch weit rascher vorwärts. Die Arbeiter fangen an, sich als Klasse in ihrer Gesamtheit zu fühlen, sie werden gewahr, daß sie, obwohl einzeln schwach, doch zusammen eine Macht sind; die Trennung von der Bourgeoisie, die Ausbildung den Arbeitern und ihrer Lebensstellung eigentümlicher Anschauungen und Ideen wird befördert, das Bewußtsein, unterdrückt zu werden, stellt sich ein, und die Arbeiter bekommen soziale und politische Bedeutung. Die großen Städte sind der Herd der Arbeiterbewegung, in ihnen haben die Arbeiter zuerst angefangen, über ihre Lage nachzudenken und gegen sie anzukämpfen, in ihnen kam der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie zuerst zur Erscheinung, von ihnen sind Arbeiterverbindungen, Chartismus und Sozialismus ausgegangen. Die großen Städte haben die Krankheit des sozialen Körpers, die auf dem Lande in chronischer
* „[The] Princ[iples] of Population", vol. II, p. 76ff., p. 135. ** „Philosophy of Manufactures". London, 1835. - Wir werden von diesem säubern Buche noch mehr zu sprechen haben. Die angeführten Stellen stehen p. 406 ff.
Form auftritt, in eine akute verwandelt, und dadurch das eigentliche Wesen derselben und zugleich die rechte Art, sie zu heilen, an den Tag gebracht. Ohne die großen Städte und ihren treibenden Einfluß auf die Entwicklung der öffentlichen Intelligenz wären die Arbeiter lange nicht so weit, als sie jetzt sind. Dazu haben sie die letzte Spur des patriarchalischen Verhältnisses zwischen den Arbeitern und den Brotherren zerstört, wozu auch die große Industrie durch Vervielfachung der von einem einzigen Bourgeois abhängigen Arbeiter beitrug. Die Bourgeoisie jammert freilich darüber, und sie hat recht - denn unter diesem Verhältnis war der Bourgeois ziemlich sicher vor einer Auflehnung der Arbeiter. Er konnte sie nach Herzenslust ausbeuten und dominieren und erhielt noch Gehorsam, Dank und Zuneigung in den Kauf von dem dummen Volke, wenn er ihm außer dem Lohn etwas Freundlichkeit, die ihm nichts kostete, und vielleicht einige kleine Vorteile zukommen ließ - alles zusammen anscheinend aus purer überflüssiger, aufopfernder Herzensgüte, und doch noch lange nicht den zehnten Teil seiner Schuldigkeit. Als einzelner Bourgeois, der in Verhältnisse gestellt war, die er selbst nicht geschaffen hatte, tat er allerdings seine Schuldigkeit wenigstens teilweise, aber als Mitglied der regierenden Klasse, die schon dadurch, daß sie regiert, für die Lage der ganzen Nation verantwortlich ist und die Wahrung des allgemeinen Interesses übernimmt, tat er gar nichts von dem, was er mit seiner Stellung übernahm, sondern beutete noch obendrein die ganze Nation zu seinem eignen Privatvorteil aus. In dem patriarchalischen Verhältnis, das die Sklaverei der Arbeiter heuchlerisch verdeckte, mußte der Arbeiter geistig tot, über seine eignen Interessen total unwissend, ein bloßer Privatmensch bleiben. Erst als er seinem Brotherrn entfremdet, als es offenbar wurde, daß er mit diesem nur durch das Privatinteresse, nur durch den Geldgewinn zusammenhänge, als die scheinbare Zuneigung, die nicht die geringste Probe aushielt, gänzlich wegfiel, erst da fing der Arbeiter an, seine Stellung und seine Interessen zu erkennen und sich selbständig zu entwickeln; erst da hörte er auf, auch in seinen Gedanken, Gefühlen und Willensäußerungen der Sklave der Bourgeoisie zu sein. Und dazu hat hauptsächlich die Industrie im großen Maßstabe und die großen Städte gewirkt. Ein anderes Moment, das von bedeutendem Einfluß auf den Charakter der englischen Arbeiter war, bildet die irische Einwanderung, von der auch schon in diesem Sinn die Rede war. Sie hat allerdings, wie wir sehen1, einerseits die englischen Arbeiter degradiert, sie der Zivilisation entrissen und ihre Lage verschlimmert - aber auch andrerseits dadurch zur Austiefung der
1 (1892) sahen
Kluft zwischen Arbeitern und Bourgeoisie und so zur Beschleunigung der herannahenden Krisis beigetragen. Denn der Verlauf der sozialen Krankheit, an der England leidet, ist derselbe wie der einer physischen Krankheit; sie entwickelt sich nach gewissen Gesetzen und hat ihre Krisen, deren letzte und heftigste über das Schicksal des Kranken entscheidet. Und da die englische Nation bei dieser letzten Krisis doch nicht untergehen kann, sondern erneut und wiedergeboren aus ihr hervorgehen muß, so kann man sich nur über alles freuen, was die Krankheit auf die Spitze treibt. Und dazu trägt die irische Einwanderung außerdem noch bei durch das leidenschaftliche, lebendige irische Wesen, welches sie in England einbürgert und in die englische Arbeiterklasse bringt. Irländer und Engländer verhalten sich in vielen Beziehungen wie Franzosen und Deutsche, und die Mischung des leichteren, erregbaren, heißen irischen Temperaments mit dem ruhigen, ausdauernden, verständigen englischen kann auf die Dauer nur für beide Teile günstig sein. Der schroffe Egoismus der englischen Bourgeoisie würde weit mehr in der Arbeiterklasse sitzen geblieben sein, wenn nicht das bis zur Wegwerfung großmütige, vorwiegend vom Gefühl beherrschte irische Wesen hinzugekommen und einerseits durch Stammverschmelzung, andrerseits durch den gewöhnlichen Verkehr den rein verständigen, kalten englischen Charakter gemildert hätte. Wir werden uns nach alledem nicht mehr darüber wundern, daß die arbeitende Klasse allmählich ein ganz andres Volk geworden ist als die englische Bourgeoisie. Die Bourgeoisie hat mit allen andern Nationen der Erde mehr Verwandtes als mit den Arbeitern, die dicht neben ihr wohnen. Die Arbeiter sprechen andre Dialekte, haben andre Ideen und Vorstellungen, andre Sitten und Sittenprinzipien, andre Religion und Politik als die Bourgeoisie. Es sind zwei ganz verschiedene Völker, so verschieden, wie sie der Unterschied der Rasse nur machen kann, und von denen wir bisher auf dem Kontinent nur das eine, die Bourgeoisie, gekannt haben. Und doch ist gerade das andre, aus den Proletariern bestehende Volk das für die Zukunft Englands bei weitem wichtigste.* Von dem öffentlichen Charakter der englischen Arbeiter, wie er sich in Assoziationen und politischen Prinzipien ausspricht, werden wir noch weiter zu sprechen haben — hier wollen wir nur die Resultate der eben zusammengestellten Ursachen erwähnen, insofern diese auf den Privatcharakter der
* (1892) Dieselbe Auffassung, daß die große Industrie die Engländer in zwei verschiedene Nationen gespalten hat, ist bekanntlich, ungefähr gleichzeitig, auch von Disraeli ausgeführt worden in seinem Roman „Sybil, or the Two Nations" [Sibylle oder die beiden Nationen].
Arbeiter wirken. Der Arbeiter ist bei weitem humaner im gewöhnlichen Leben als der Bourgeois. Ich erwähnte schon oben, daß die Bettler fast nur an Arbeiter zu appellieren pflegen und überhaupt mehr von seiten der Arbeiter für die Erhaltfang der Armen getan wird als von seiten der Bourgeoisie. Diese Tatsache - man kann sie übrigens alle Tage bestätigt sehen — bestätigt u. a. auch Herr Parkinson, Kanonikus von Manchester:
„Die Armen geben einander mehr, als die Reichen den Armen geben. Ich kann meine Versicherung durch das Zeugnis eines unserer ältesten, geschicktesten, beobachtendsten und humansten Ärzte, des Dr. Bardsley, bestätigen. Dieser hat öffentlich erklärt, daß die Gesamtsumme, welche die Armen jährlich einander geben, diejenige übertrifft, welche die Reichen in derselben Zeit beisteuern."*
Auch sonst tritt die Humanität der Arbeiter überall erfreulich hervor. Sie haben selbst harte Schicksale erfahren und können daher für diejenigen Mitgefühl hegen, denen es schlecht geht; für sie ist jeder Mensch ein Mensch, während der Arbeiter dem Bourgeois weniger als ein Mensch ist; daher sind sie umgänglicher, freundlicher, und obwohl sie das Geld nötiger haben als die Besitzenden, dennoch weniger darauf erpicht, weil ihnen das Geld nur um dessentwillen Wert hat, was sie dafür kaufen, während es für den Bourgeois einen besondern, inhärenten Wert, den Wert eines Gottes hat und den Bourgeois so zum gemeinen, schmutzigen „Geldmenschen" macht. Der Arbeiter, der dies Gefühl der Ehrfurcht vor dem Gelde nicht kennt, ist daher nicht so habgierig wie der Bourgeois, der alles nur tut, um Geld zu verdienen, der seinen Lebenszweck im Anhäufen von Geldsäcken sieht. Darum ist der Arbeiter auch viel unbefangener, hat viel offnere Augen für Tatsachen als der Bourgeois und sieht nicht alles durch die Brille des Eigennutzes an. Vor religiösen Vorurteilen schützt ihn seine mangelhafte Erziehung; er versteht nichts davon und plagt sich nicht damit herum, er kennt den Fanatismus nicht, der die Bourgeoisie befangen hält, und wenn er ja etwas Religion haben sollte, so ist sie nur nominell, nicht einmal theoretisch - praktisch lebt er nur für diese Welt und sucht sich in ihr einzubürgern. Alle Schriftsteller der Bourgeoisie stimmen darin überein, daß die Arbeiter keine Religion haben und die Kirche nicht besuchen. Allenfalls die Irländer sind auszunehmen und einige ältere Leute, dann die Halbbourgeois, die Aufseher, Werkmeister und dergleichen. Aber unter der Masse findet man fast überall
* „On the present Condition of the Labouring Poor in Manchester etc." [Über die gegenwärtige Lage der arbeitenden Armen in Manchester usw.]. By the Rev. Rd. Parkinson, Canon of Manchester. 3rd edit. London and Manchester, 1841. Pamphlet.
eine gänzliche Indifferenz gegen die Religion, und wenn es hoch kommt, ein bißchen Deismus, das zu unentwickelt ist, um1 zu etwas mehr als zu Redensarten dienen zu können oder etwas mehr als einen vagen Schrecken vor Ausdrücken wie infidel (Ungläubiger) und atheist hervorzurufen. Die Geistlichkeit aller Sekten steht sehr schlecht bei den Arbeitern angeschrieben, obwohl sie ihren Einfluß auf diese erst in der letzten Zeit verloren hat; jetzt steht sie aber so, daß der bloße Ruf: he is a parson — er ist ein Pfaff! oft genug imstande ist, einen Geistlichen von der Tribüne öffentlicher Versammlungen zu verjagen. Und wie schon die Lebenslage überhaupt, so trägt auch der Mangel an religiöser und sonstiger Bildung dazu bei, die Arbeiter unbefangener, freier von überkommenen stabilen Grundsätzen und vorgefaßten Meinungen zu halten, als der Bourgeois dies ist. Dieser sitzt in seinen Klassenvorurteilen, in den ihm von Jugend auf eingetrichterten Prinzipien bis über die Ohren eingerammt; mit ihm ist nichts anzufangen, er ist wesentlich, wenn auch in liberaler Form, konservativ, sein Interesse mit dem Bestehenden verwachsen, er ist aller Bewegung abgestorben. Er tritt ab von der Spitze der historischen Entwicklung, die Arbeiter treten erst rechtlich und dereinst auch faktisch an seine Stelle. Dies und die daraus folgende öffentliche Tätigkeit der Arbeiter, die wir später erledigen werden, sind die günstigen Seiten des Charakters dieser Klasse; die ungünstigen sind ebenso rasch zusammengefaßt und folgen ebenso natürlich aus den angegebenen Ursachen. Trunksucht, Regellosigkeit des geschlechtlichen Verkehrs, Roheit und Mangel an Achtung für das Eigentum sind die Hauptpunkte, die der Bourgeois ihr vorwirft. Daß die Arbeiter stark trinken, ist nicht anders zu erwarten. Sheriff Alison behauptet, daß in Glasgow jeden Sonnabendabend an dreißigtausend Arbeiter berauscht sind, und die Zahl ist gewiß nicht zu gering; daß in dieser Stadt 1830 auf zwölf Häuser und 1840 auf je zehn Häuser eine Branntweinschenke kam, daß in Schottland 1823 für 2300000 Gallonen, 1837 für 6620000 Call., und in England 1823 für 1 976000 Gall., 1837 für 7875 000 Gall. Branntwein Akziseabgabe bezahlt wurde.* Die Bierakte von 1830, welche die Errichtung von Bierhäusern, sogenannten Jerry-Shops, erleichterte - deren Besitzer zum Verkauf von Bier, to be drunk on the premises (das im Hause selbst getrunken werden darf), konzessioniert ist - diese Akte erleichterte auch die Ausbreitung der Trunksucht, indem sie jedem die Schenke fast vor die Türe brachte. Fast in jeder Straße findet man mehrere dieser Bierhäuser, und wo auf dem Lande
* „[The] Princfiples] of Population", passim.
1 (1892) ... Deismus, zu unentwickelt, um
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zwei oder drei Häuser zusammenstehen, so ist ganz gewiß ein Jerry-Shop darunter. Außerdem gibt es noch Hush-Shops, d. h. heimliche Schenken, die nicht konzessioniert sind, in Menge und ebensoviele Branntweinbrennereien, die mitten in den großen Städten, in abgelegenen, von der Polizei selten besuchten Vierteln große Quantitäten dieses Getränks produzieren. Gaskell (a. a. O.) schlägt die Zahl dieser letzteren in Manchester allein auf über hundert und ihre jährliche Produktion auf mindestens 156000 Gallonen an. In Manchester sind außerdem über tausend Schenken, also im Verhältnis zur Häuserzahl wenigstens ebensoviele als in Glasgow. In allen andern großen Städten sieht es ebenso aus. Und wenn man nun noch außer den gewöhnlichen Folgen der Trunksucht bedenkt, daß Männer und Weiber von jedem Alter, selbst Kinder, oft Mütter mit ihren Kleinen auf dem Arme, hier mit den am tiefsten gesunkenen Opfern des Bourgeoisieregimes, mit Dieben, Betrügern und prostituierten Mädchen zusammenkommen, wenn man bedenkt, daß manche Mutter dem Säugling, den sie auf den Armen trägt, Branntwein zu trinken gibt, so wird man die demoralisierende Wirkung des Besuchs solcher Orte allerdings zugeben. Namentlich Samstagabends, wenn der Lohn ausbezahlt ist und etwas früher als gewöhnlich Feierabend gemacht wird, wenn die ganze arbeitende Klasse aus ihren schlechten Vierteln sich in die Hauptstraßen ergießt, kann man die Trunkenheit in ihrer ganzen Brutalität sehen. Ich bin selten an einem solchen Abend aus Manchester herausgekommen, ohne einer Menge schwankender oder in den Rinnsteinen liegender Betrunkener zu begegnen. Am Sonntagabend pflegt sich dieselbe Szene, nur weniger lärmend, zu wiederholen. Und wenn das Geld auf ist, so gehen die Trinker zum ersten besten Pfandhaus, deren in jeder großen Stadt eine Menge sind — in Manchester über sechzig und in einer einzigen Straße von Salford (Chapel Street) zehn bis zwölf -, und versetzen, was sie noch haben. Möbel, Sonntagskleider, wo sie existieren, Geschirre werden jeden Sonnabendabend in Massen aus den Pfandhäusern abgeholt, um fast immer vor dem nächsten Mittwoch wieder hineinzuwandern, bis zuletzt irgendein Zufall die Einlösung unmöglich macht und ein Stück nach dem andern dem Wucherer verfällt oder bis dieser auf die verschlissene und ausgenutzte Ware keinen Heller mehr vorschießen will. Wenn man die Verbreitung der Trunksucht unter den Arbeitern in England selbst gesehen hat, so glaubt man gern der Behauptung Lord Ashleys*, daß diese Klasse jährlich an fünfundzwanzig Millionen Pfund Sterling für geistige Getränke ausgibt, und welche Verschlechterung der äußeren Lage, welche furchtbare Zerrüttung der geistigen und körperlichen Gesundheit,
* Unterhaussitzung vom 28. Februar 1843.
welche Zerstörung aller häuslichen Verhältnisse daraus entsteht, kann sich jeder leicht denken. Die Mäßigkeitsvereine haben allerdings viel getan, aber was verschlagen ein paar Tausend „Teetotallers"1 auf die Millionen Arbeiter? Wenn Father Mathew, der irische Mäßigkeitsapostel, durch die englischen Städte reist, so nehmen oft dreißig- bis sechzigtausend Arbeiter die „pledge" (das Gelübde), aber nach vier Wochen ist das bei den meisten wieder vergessen. Wenn man z.B. die Massen zusammenzählt, die in den letzten drei bis vier Jahren in Manchester das Mäßigkeitsgelübde abgelegt haben, so kommen mehr Leute heraus, als überhaupt in der Stadt wohnen - und doch merkt man nicht, daß der Trunk abnimmt. Neben der Zügellosigkeit im Genuß geistiger Getränke bildet die Zügellosigkeit des geschlechtlichen Verkehrs eine Hauptuntugend vieler englischer Arbeiter. Auch diese folgt mit eiserner Konsequenz, mit unumgänglicher Notwendigkeit aus der Lage einer Klasse, die sich selbst überlassen wird, ohne die Mittel zu besitzen, von dieser Freiheit geeigneten Gebrauch zu machen. Die Bourgeoisie hat ihr nur diese beiden Genüsse gelassen, während sie ihr eine Menge von Mühen und Leiden auferlegt hat, und die Folge davon ist, daß die Arbeiter, um doch etwas vom Leben zu haben, alle Leidenschaft auf diese beiden Genüsse konzentrieren und sich ihnen im Übermaß und auf die regelloseste Weise ergeben. Wenn man die Leute in eine Lage versetzt, die nur dem Tier zusagen kann, so bleibt ihnen nichts übrig, als sich zu empören oder in der Bestialität unterzugehen. Und wenn obendrein noch die Bourgeoisie selbst ihr redlich Teil zur direkten Hebung der Prostitution beiträgt - wie viele von den 40000 Freudenmädchen, die jeden Abend die Straßen von London füllen*, leben von der tugendhaften Bourgeoisie? - wie viele von ihnen haben es der Verführung eines Bourgeois zu danken, daß sie ihren Körper den Vorübergehenden feilbieten müssen, um zu leben? - so hat sie wahrlich am wenigsten das Recht, den Arbeitern ihre sexuale Brutalität vorzuwerfen. Die Fehler der Arbeiter lassen sich überhaupt alle auf Zügellosigkeit der Genußsucht, Mangel an Vorhersicht und an Fügsamkeit in die soziale Ordnung, überhaupt auf die Unfähigkeit, den augenblicklichen Genuß dem entfernteren Vorteil aufzuopfern, zurückführen. Aber wie ist das zu verwundern? Eine Klasse, die wenig und nur die sinnlichsten Genüsse sich für saure Arbeit erkaufen kann, muß sich die nicht toll und blind auf diese Genüsse werfen? Eine Klasse, um deren Bildung sich niemand kümmert, die
* Sheriff Alison, „[The] Princ[iples] of Population", vol. II.
1 .Abstinenzler"
allen möglichen Zufällen unterworfen ist, die gar keine Sicherheit der Lebenslage kennt, was für Gründe, was für ein Interesse hat die, Vorhersicht zu üben, ein „solides" Leben zu führen und, statt von der Gunst des Augenblicks zu profitieren, auf einen entfernteren Genuß zu denken, der gerade für sie und ihre ewig schwankende, sich überschlagende Stellung noch sehr ungewiß ist? Eine Klasse, die alle Nachteile der sozialen Ordnung zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, eine Klasse, der diese soziale Ordnung nur feindselig erscheint, von der verlangt man noch, daß sie diese soziale Ordnung respektieren soll? Das ist wahrlich zuviel. Aber die Arbeiterklasse kann der sozialen Ordnung, solange diese besteht, nicht entrinnen, und wenn der einzelne Arbeiter gegen sie aufsteht, so fällt der größte Schaden auf ihn. So macht die soziale Ordnung dem Arbeiter das Familienleben fast unmöglich; ein unwohnliches, schmutziges Haus, das kaum zum nächtlichen Obdach gut genug, schlecht möbliert und oft nicht regendicht und nicht geheizt ist, eine dumpfige Atmosphäre im menschengefüllten Zimmer erlaubt keine Häuslichkeit; der Mann arbeitet den ganzen Tag, vielleicht auch die Frau und die älteren Kinder, alle an verschiedenen Orten, sehen sich nur morgens und abends - dazu die stete Versuchung zum Branntweintrinken; wo kann dabei das Familienleben existieren? Dennoch kann der Arbeiter der Familie nicht entrinnen, er muß in der Familie leben, und die Folge davon sind fortwährende Familienzerrüttungen und häusliche Zwiste, die sowohl auf die Eheleute wie namentlich auf ihre Kinder im höchsten Grade demoralisierend wirken. Vernachlässigung aller häuslichen Pflichten, Vernachlässigung besonders der Kinder ist nur zu häufig unter den englischen Arbeitern und wird nur zu sehr durch die bestehenden Einrichtungen der Gesellschaft hervorgebracht. Und Kinder, die auf diese Weise wild, in der demoralisierendsten Umgebung, zu der oft genug die Eltern selbst gehören, heranwachsen, die sollen nachher noch fein moralisch werden? Es ist wirklich zu naiv, welche Forderungen der selbstzufriedene Bourgeois an den Arbeiter stellt. Die Nichtachtung der sozialen Ordnung tritt am deutlichsten in ihrem Extrem, im Verbrechen auf. Wirken die Ursachen, die den Arbeiter demoralisieren, stärker, konzentrierter als gewöhnlich, so wird er mit derselben Gewißheit Verbrecher, mit der das Wasser bei 80 Grad Reaumur aus dem tropfbaren in den luftförmigen Aggregatzustand übergeht. Der Arbeiter wird durch die brutale und brutalisierende Behandlung der Bourgeoisie gerade ein so willenloses Ding wie das Wasser und ist gerade mit derselben Notwendigkeit den Gesetzen der Natur unterworfen - bei ihm hört auf einem gewissen Punkte alle Freiheit auf. Mit der Ausdehnung des Proletariats hat daher auch das Verbrechen in England zugenommen, und die britische Nation ist die
verbrecherischste der Welt geworden. Aus den jährlich veröffentlichten „Kriminal-Tabellen" des Ministeriums des Innern geht hervor, daß in England die Vermehrung des Verbrechens mit unbegreiflicher Schnelligkeit vor sich gegangen ist. Die Anzahl der Verhaftungen für Kriminalverbrechen betrug im Jahre 1805 4605 „ „ 1810 5146 „ „ 1815 78181 „ „ 1820 13710 „ „ 1825 14437 „ „ 1830 18107 „ „ 1835 20731 „ „ 1840 27187 „ „ 1841 27760 „ „ 1842 31309 in England und Wales allein; also versiebenfachten sich die Verhaftungen in 37 Jahren. Von diesen Verhaftungen kommen allein auf Lancashire im Jahre 1842 4497, also über 14 Prozent, und auf Middlesex (einschließlich London) 4094, also über 13 Prozent. So sehen wir, daß zwei Distrikte, die große Städte mit viel Proletariat einschließen, allein über den vierten Teil des gesamten Verbrechens hervorbringen, obgleich ihre Gesamtbevölkerung lange nicht den vierten Teil der des ganzen Landes ausmacht. Die Kriminaltabellen beweisen auch noch direkt, daß fast alles Verbrechen auf das Proletariat fällt, denn 1842 konnten von jeden 100 Verbrechern durchschnittlich 32,35 nicht lesen und schreiben, 58,32 unvollkommen lesen und schreiben, 6,77 gut lesen und schreiben, 0,22 hatten noch höhere Bildung genossen, und von 2,34 konnte die Bildung nicht angegeben werden. In Schottland hat das Verbrechen noch viel schneller zugenommen. Hier waren 1819 nur 89 und 1837 schon 3176, 1842 sogar 4189 Kriminalverhaftungen vorgekommen. In Lanarkshire, wo Sheriff Alison selbst den offiziellen Bericht abfaßte, hat sich die Bevölkerung in 30 Jahren, das Verbrechen alle 51/2 Jahre verdoppelt, also sechsmal rascher als die Bevölkerung zugenommen. Die Verbrechen selbst sind, wie in allen zivilisierten Ländern, bei weitem der Mehrzahl nach Verbrechen gegen das Eigentum, also solche, die in Mangel dieser oder jener Art ihren Grund haben, denn was einer hat, stiehlt er nicht. Das Verhältnis der Verbrechen gegen Eigentum zur Volkszahl, das sich in den Niederlanden wie 1 : 7140, in Frankreich wie 1 : 1804 stellt, stand zur Zeit, als Gaskell
1 (1845 und 1892) irrtümlich 7898
schrieb, in England wie 1 : 799; das der Verbrechen gegen Personen zur Volkszahl in den Niederlanden wie I : 28904, in Frankreich wie 1 : 17573, in England wie 1:23395; das des Verbrechens überhaupt zur Volkszahl in Ackerbaudistrikten wie I : 1043, in Fabrikdistrikten wie 1 :840*; in ganz England stellt sich dies jetzt kaum auf 1 : 660**, und es sind kaum zehn Jahre, seit Gaskells Buch erschien! Diese Tatsachen sind wahrlich mehr als hinreichend, um jeden, selbst einen Bourgeois, zur Besinnung und zum Nachdenken über die Folgen eines solchen Zustandes zu bringen. Wenn sich die Demoralisation und die Verbrechen noch zwanzig Jahre lang in diesem Maße vermehren - und wenn die englische Industrie in diesen zwanzig Jahren weniger glücklich ist als bisher, so muß die Progression des Verbrechens sich nur noch beschleunigen - was wird dann das Resultat sein? Wir sehen schon jetzt die Gesellschaft in voller Auflösung begriffen, wir können keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne in den schlagendsten Tatsachen die Lockerung aller sozialen Bande lesen zu müssen. Ich greife aufs Geratewohl in den Haufen englischer Zeitungen, die vor mir liegen; da ist ein „Manchester Guardian" (30.Oktober 1844), der über drei Tage berichtet; er gibt sich gar nicht mehr die Mühe, über Manchester genaue Nachrichten zu geben und erzählt bloß die interessantesten Fälle, daß in einer Fabrik die Arbeiter, um höheren Lohn zu erlangen, die Arbeit eingestellt hätten und vom Friedensrichter zu ihrer Wiederaufnahme gezwungen seien; daß in Salford ein paar Knaben Diebstähle verübt und ein bankerotter Kaufmann seine Gläubiger habe betrügen wollen. Ausführlicher sind die Nachrichten aus den Nebenorten: in Ashton zwei Diebstähle, ein Einbruch, ein Selbstmord, in Bury ein Diebstahl, in Bolton zwei Diebstähle, ein Akzisebetrug, in Leigh ein Diebstahl, in Oldham Arbeitseinstellung wegen Lohn, ein Diebstahl, eine Schlägerei zwischen Irländerinnen, ein nicht zur Arbeiterverbindung gehörender Hutmacher von den Mitgliedern der Verbindung mißhandelt, eine Mutter von ihrem Sohn geschlagen, in Rochdale eine Reihe Schlägereien, ein Angriff auf die Polizei, ein Kirchenraub, in Stockport Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem Lohn, ein Diebstahl, ein Betrug, Schlägerei, ein Mann, der seine Frau mißhandelt, in Warrington ein Diebstahl und eine Schlägerei, in Wigan ein Diebstahl und ein Kirchenraub. Die Berichte der Londoner Zeitungen sind noch viel schlimmer; Betrügereien, Diebstähle, Raubanfälle, Familienzerwürfnisse drängen eins das andere;
* „[The] Manuf[acturing] Popul[ation] of Englfand]" chapt. 10. ** Die Zahl der überführten Verbrecher (22 733) dividiert in die Volkszahl (ca. 15 Millionen).

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