segunda parte tomo 18

Dritter Abschnitt
Nachtrag über Proudhon und die Wohnungsfrage
I
In Nr. 86 des „Volksstaats" gibt sich A. Mülberger als Verfasser der von mir in Nr. 51 u. folg. d. Bl. kritisierten Artikel1 zu erkennen. Er überhäuft mich in seiner Antwort mit einer solchen Reihe von Vorwürfen und verrückt dabei so sehr alle Gesichtspunkte, um die es sich handelt, daß ich wohl oder übel darauf erwidern muß. Ich will versuchen, meiner Entgegnung, die sich zu meinem Bedauern großenteils auf dem von Mülberger mir vorgeschriebnen Gebiet der persönlichen Polemik bewegen muß, ein allgemeines Interesse dadurch zu geben, daß ich die Punkte, auf die es hauptsächlich ankommt, nochmals und womöglich deutlicher als vorher entwickle, selbst auf die Gefahr hin, von Mülberger abermals bedeutet zu werden, daß alles dies „im wesentlichen nichts Neues, weder für ihn noch die sonstigen Leser des ,Volksstaat' enthält". Mülberger beklagt sich über Form und Inhalt meiner Kritik. Was die Form angeht, so genügt es zu erwidern, daß ich zu jener Zeit gar nicht wußte, von wem die betreffenden Artikel herrührten. Von einer persönlichen „Voreingenommenheit" gegen den Verfasser konnte also keine Rede sein; gegen die in den Artikeln entwickelte Lösung der Wohnungsfrage war ich allerdings insoweit „voreingenommen", als sie mir aus Proudhon längst bekannt war und meine Ansicht darüber feststand. Über den „Ton" meiner Kritik will ich mit Freund Mülberger nicht streiten. Wenn man so lange in der Bewegung gewesen wie ich, bekommt man eine ziemlich harte Haut gegen Angriffe und setzt eine solche daher auch leicht bei andern voraus. Um Mülberger zu entschädigen, will ich
diesmal versuchen, meinen „Ton" mit der Empfindlichkeit seiner Epidermis (Oberhaut) in ein richtiges Verhältnis zu bringen. Mülberger beklagt sich besonders bitter darüber, daß ich ihn einen Proudhonisten genannt, und beteuert, er sei keiner. Ich muß ihm natürlich glauben, werde aber den Beweis führen, daß die betreffenden Artikel - und mit ihnen allein hatte ich zu tun - nichts enthalten als puren Proudhonismus. Aber auch Proudhon kritisiere ich, nach Mülberger, „leichtfertig" und tue ihm schweres Unrecht:
„Die Lehre vom Kleinbürger Proudhon ist bei uns in Deutschland ein stehendes Dogma geworden, das sogar viele verkünden, ohne auch nur eine Zeile von ihm gelesen zu haben."
Wenn ich bedaure, daß die romanisch redenden Arbeiter seit zwanzig Jahren keine andre Geistesnahrung haben als die Werke Proudhons, so antwortet Mülberger, daß bei den romanischen Arbeitern „die Prinzipien, wie sie von Proudhon formuliert sind, fast allenthalben die treibende Seele der Bewegung bilden". Dies muß ich ableugnen. Erstens liegt die „treibende Seele" der Arbeiterbewegung nirgendswo in den „Prinzipien", sondern überall in der Entwicklung der großen Industrie und deren Wirkungen, der Akkumulation und Konzentration des Kapitals auf der einen und des Proletariats auf der andern Seite. Zweitens ist es nicht richtig, daß die Proudhonschen sogenannten „Prinzipien" bei den Romanen die entscheidende Rolle spielen, die Mülberger ihnen zuschreibt; daß „die Prinzipien der Anarchie, der Organisation des forces economiques, der liquidation sociale1 usw. dort... die wahrhaften Träger der revolutionären Bewegung gev/orden sind". Von Spanien und Italien gar nicht zu reden, wo die proudhonistischen Allerweltsheilmittel nur in der durch Bakunin weiter verballhornten Gestalt irgendwelchen Einfluß gewonnen haben, ist es für jeden, der die internationale Arbeiterbewegung kennt, notorische Tatsache, daß in Frankreich die Proudhonisten eine wenig zahlreiche Sekte bilden, während die Masse der Arbeiter von dem unter dem Titel „Liquidation sociale und Organisation des forces economiques" von Proudhon entworfnen gesellschaftlichen Reformplan nichts wissen will. Es hat sich das u.a. unter der Kommune gezeigt. Obwohl die Proudhonisten stark in ihr vertreten waren, wurde doch nicht der geringste Versuch gemacht, nach Proudhons Vorschlägen die alte Gesellschaft zu liquidieren oder die ökonomischen Kräfte zu organi
sieren. Im Gegenteil. Es gereicht der Kommune zur höchsten Ehre, daß bei allen ihren ökonomischen Maßregeln nicht irgendwelche Prinzipien ihre „treibende Seele" bildeten, sondern - das einfache praktische Bedürfnis. Und deshalb waren diese Maßregeln - die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäcker, das Verbot der Geldstrafen in Fabriken, die Konfiskation stillgesetzter Fabriken und Werkstätten und ihre Überlassung an ArbeiterAssoziationen - durchaus nicht im Geist Proudhons, wohl aber in dem des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus. Die einzige soziale Maßregel, die die Proudhonisten durchsetzten, war - die Bank von Frankreich nicht mit Beschlag zu legen, und zum Teil daran ging die Kommune zugrunde. Ebenso haben die sogenannten Blanquisten, sobald sie den Versuch machten, sich aus bloß politischen Revolutionären in eine sozialistische Arbeiterfraktion mit bestimmtem Programm zu verwandeln - wie dies in dem von den blanquistischen Flüchtlingen in London in ihrem Manifest: „Internationale et Revolution" geschehn ist -, nicht die „Prinzipien" des Proudhonschen Plans der Gesellschaftsrettung proklamiert, wohl aber, und zwar fast buchstäblich, die Anschauungen des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus von der Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und seiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassen und, mit ihnen, des Staats - wie solche bereits im „Kommunistischen Manifest"1 und seitdem unzählige Male ausgesprochen worden. Und wenn Mülberger gar aus der Mißachtung Proudhons bei den Deutschen einen Mangel an Verständnis der romanischen Bewegung „bis zur Kommune von Paris" herleitet, so möge er zum Beweis dieses Mangels diejenige romanische Schrift nennen, die die Kommune nur annähernd so richtig verstanden und dargestellt hat wie die „Adresse des Generalrats der Internationalen über den Bürgerkrieg in Frankreich"2, geschrieben von dem Deutschen Marx. Das einzige Land, wo die Arbeiterbewegung direkt unter dem Einfluß der Proudhonschen „Prinzipien" steht, ist Belgien, und die belgische Bewegung kommt eben deswegen auch, wie Hegel sagt, „von nichts durch nichts zu nichts". Wenn ich es für ein Unglück halte, daß die romanischen Arbeiter, direkt oder indirekt, seit zwanzig Jahren geistig nur von Proudhon zehrten, so finde ich dies nicht in der durchaus mythischen Herrschaft des Proudhonschen Reformrezepts - was Mülberger die „Prinzipien" nennt -, sondern darin, daß ihre ökonomische Kritik der bestehenden Gesellschaft von den durch
1 Siehe Band 4 unserer Ausgabe - 2 siehe Band 17 unserer Ausgabe, S. 313 -365
aus falschen Proudhonschen Wendungen infiziert und ihre politische Aktion durch proudhonistischen Einfluß verhunzt wurde. Ob danach die „verproudhonisierten romanischen Arbeiter" oder die deutschen, die jedenfalls den wissenschaftlichen deutschen Sozialismus unendlich besser begreifen als die Romanen ihren Proudhon, „mehr in der Revolution stehn", werden wir beantworten können, wenn wir erst wissen, was das heißt: „in der Revolution stehn". Man hat reden gehört von Leuten, die „im Christentum, im wahren Glauben, in der Gnade Gottes stehn" usw. Aber in der Revolution, in der gewaltsamsten Bewegung „stehn"? Ist denn „die Revolution" eine dogmatische Religion, an die man glauben muß? Ferner wirft mir Mülberger vor, ich habe, gegen die ausdrücklichen Worte seiner Arbeit, behauptet, er erkläre die Wohnungsfrage für eine ausschließliche Arbeiterfrage. Diesmal hat Mülberger in der Tat recht. Ich hatte die betreffende Stelle übersehn. Unverantwortlicherweise übersehn, denn sie ist eine der bezeichnendsten für die ganze Tendenz seiner Abhandlung. Mülberger sagt wirklich mit dürren Worten: „Da uns so oft und viel der lächerliche Vorwurf gemacht wird, wir treiben Klassenpolitik, wir streben eine Klassenherrschaft an u.dgl. mehr, so betonen wir zunächst und ausdrücklich, daß die Wohnungsfrage keineswegs ausschließlich das Proletariat betrifft, sondern im Gegenteil - sie interessiert in ganz hervorragender Weise den eigentlichen Mittelstand, das Kleingewerbe, die kleine Bourgeoisie, die gesamte Bürokratie... die Wohnungsfrage ist gerade derjenige Punkt der sozialen Reformen, welche mehr als alle andern geeignet erscheint, die absolute innere Identität der Interessen des Proletariats einerseits und der eigentlichen Mittelklassen der Gesellschaft andrerseits aufzudecken. Die Mittelklassen leiden ebenso stark, vielleicht noch stärker unter der drückenden Fessel der Mietwohnung als das Proletariat... Die eigentlichen Mittelklassen der Gesellschaft stehen heute vor der Frage, ob sie... die Kraft finden werden... im Bunde mit der jugendkräftigen und energievollen Arbeiterpartei in den Umgestaltungsprozeß der Gesellschaft einzugreifen, dessen Segnungen gerade ihnen vor allen zugute kommen werden." Freund Mülberger konstatiert hier also folgendes: 1.„Wir" treiben keine „Klassenpolitik" und streben nach keiner „ Klassenherrschaft". Die deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei, eben weil sie eine Arbeiterpartei ist, treibt indes notwendigerweise „Klassenpolitik", die Politik der Arbeiterklasse. Da jede politische Partei darauf ausgeht, die Herrschaft im Staat zu erobern, so strebt die deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei notwendig ihre Herrschaft, die Herrschaft der Arbeiterklasse, also eine „Klassenherrschaft" an. Übrigens hat jede wirkliche proletarische Partei, von den englischen Chartisten'2291 an, immer die
Klassenpolitik, die Organisation des Proletariats als selbständige politische Partei, als erste Bedingung, und die Diktatur des Proletariats als nächstes Ziel des Kampfes hingestellt. Indem Mülberger dies für „lächerlich" erklärt, stellt er sich außerhalb der proletarischen Bewegung und innerhalb des kleinbürgerlichen Sozialismus. 2. Die Wohnungsfrage hat den Vorzug, daß sie keine ausschließliche Arbeiterfrage ist, sondern das Kleinbürgertum „in ganz hervorragender Weise interessiert", indem die „eigentlichen Mittelklassen ebenso stark, vielleicht noch stärker" unter ihr leiden als das Proletariat. Wenn jemand erklärt, das Kleinbürgertum leide, auch nur in einer einzigen Beziehung, „vielleicht noch stärker als das Proletariat", so wird er sich sicher nicht beklagen können, wenn man ihn unter die kleinbürgerlichen Sozialisten rechnet. Hat Mülberger also Grund zur Unzufriedenheit, wenn ich sage: „Es sind vorzugsweise diese der Arbeiterklasse mit andern Klassen, namentlich dem Kleinbürgertum, gemeinsamen Leiden, mit denen sich der kleinbürgerliche Sozialismus, zu dem auch Proudhon gehört, mit Vorliebe beschäftigt. Und so ist es durchaus nicht zufällig, daß unser deutscher Proudhonist sich vor allem der Wohnungsfrage, die, wie wir gesehn haben, keineswegs eine ausschließliche Arbeiterfrage ist, bemächtigt."1 3. Zwischen den Interessen der „eigentlichen Mittelklassen der Gesellschaft" und denen des Proletariats besteht „absolute innere Identität", und es ist nicht das Proletariat, sondern [es sind] diese eigentlichen Mittelklassen, denen die „Segnungen" des bevorstehenden Umgestaltungsprozesses der Gesellschaft „gerade vor allen zugute kommen werden". Die Arbeiter werden also die bevorstehende soziale Revolution „gerade vor allen" im Interesse der Kleinbürger machen. Und ferner besteht eine absolute innere Identität der Interessen der Kleinbürger mit denen des Proletariats. Sind die Interessen der Kleinbürger mit denen der Arbeiter innerlich identisch, so die der Arbeiter mit denen der Kleinbürger. Der kleinbürgerliche Standpunkt ist also in der Bewegung ebenso berechtigt wie der proletarische. Und die Behauptung dieser Gleichberechtigung ist eben, was man kleinbürgerlichen Sozialismus nennt. Es ist daher auch ganz konsequent, wenn Mülberger S. 25 des Separatabdrucks 12301 das „Kleingewerbe" als den „eigentlichen Strebepfeiler der Gesellschaft" feiert, „weil es seiner eigentlichen Anlage nach die drei Faktoren: Arbeit - Erwerb - Besitz in sich vereinigt, weil es in der Vereinigung dieser drei Faktoren der Entwicklungsfähigkeit des Individuums keinerlei
Schranke gegenüberstellt"; und wenn er der modernen Industrie namentlich vorwirft, daß sie diese Pflanzschule von Normalmenschen vernichtet und „aus einer lebenskräftigen, sich immer wieder neu erzeugenden Klasse einen bewußtlosen Haufen Menschen gemacht hat, der nicht weiß, wohin er seinen angstvollen Blick wenden soll". Der Kleinbürger ist also Mülbergers Mustermensch und das Kleingewerbe Mülbergers Muster-Produktionsweise. Habe ich ihn also verlästert, wenn ich ihn unter die kleinbürgerlichen Sozialisten verwies? Da Mülberger jede Verantwortlichkeit für Proudhon ablehnt, so wäre es überflüssig, hier weiter zu erörtern, wie Proudhons Reformpläne dahin abzielen, alle Glieder der Gesellschaft in Kleinbürger und Kleinbauern zu verwandeln. Ebensowenig wird es nötig sein, auf die angebliche Identität der Interessen der Kleinbürger mit denen der Arbeiter einzugehn. Das Nötige findet sich bereits im „Kommunistischen Manifest". (Leipziger Ausgabe 1872, S.12U.21.1) Das Resultat unsrer Untersuchung ist also das, daß neben die „Sage vom Kleinbürger Proudhon" die Wirklichkeit vom Kleinbürger Mülberger tritt. II
Wir kommen Jetzt auf einen Hauptpunkt. Ich warf den Mülbergerschen Artikeln vor, daß sie nach Proudhonscher Manier ökonomische Verhältnisse verfälschen durch Übersetzung in juristische Ausdrucksweise. Als Beispiel dafür hob ich folgenden Mülbergerschen Satz heraus: «Das einmal gebaute Haus dient als ewiger Rechtstitel auf einen bestimmten Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit, wenn auch der wirkliche Wert des Hauses längst schon mehr als genügend in der Form des Mietzinses an den Besitzer gezahlt wurde. So kommt es, daß ein Haus, welches z.B. vor fünfzig Jahren gebaut wurde, während dieser Zeit in dem Ertrag seines Mietzinses zwei-, drei-, fünf-, zehnmal usw. den ursprünglichen Kostenpreis deckte." 2 Mülberger beschwert sich nun: „Diese einfache, nüchterne Konstatierung einer Tatsache veranlaßt Engels, mir zu Gemüte zu führen, daß ich hätte erklären sollen, u)ie das Haus .Rechtstitel' wird - eine Sache, die ganz außerhalb des Bereichs meiner Aufgabe lag... Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Erklärung. Wenn ich nach Proudhon sage, das ökonomische Leben der Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, so schildere ich hiermit die heutige Gesellschaft als eine solche, in der zwar nicht jede Rechtsidee, aber die Rechtsidee der Revolution fehlt, eine Tatsache, die Engels selbst zugeben wird."
Bleiben wir zunächst bei dem einmal gebauten Hause. Das Haus, wenn vermietet, bringt seinem Erbauer Grundrente, Reparaturkosten und Zins1 auf sein ausgelegtes Baukapital einschließlich des darauf gemachten Profits2 in der Gestalt von Miete ein, und je nach den Verhältnissen kann der nach und nach gezahlte Mietbetrag zwei-, drei-, fünf-, zehnmal den ursprünglichen Kostenpreis ausmachen. Dies, Freund Mülberger, ist die „einfache, nüchterne Konstatierung" der „Tatsache", die eine ökonomische ist; und wenn wir wissen wollen, wieso „es so kommt", daß sie existiert, so müssen wir die Untersuchung auf ökonomischem Gebiet führen. Sehen wir uns also die Tatsache etwas näher an, damit kein Kind sie weiter mißverstehen könne. Der Verkauf einer Ware besteht bekanntlich darin, daß der Besitzer ihren Gebrauchswert weggibt und ihren Tauschwert einsteckt. Die Gebrauchswerte der Waren unterscheiden sich unter anderem auch darin, daß ihre Konsumtion verschiedene Zeiträume erfordert. Ein Laib Brot wird in einem Tage verzehrt, ein Paar Hosen in einem Jahr verschlissen, ein Haus meinetwegen in hundert Jahren. Bei Waren von langer Verschleißdauer tritt also die Möglichkeit ein, den Gebrauchswert stückweise, jedesmal auf bestimmte Zeit, zu verkaufen, d.h. ihn zu vermieten. Der stückweise Verkauf realisiert also den Tauschwert nur nach und nach; für diesen Verzicht auf sofortige Rückzahlung des vorgeschossenen Kapitals und des darauf erworbenenProfits wird der Verkäufer entschädigt durch einen Preisaufschlag, eine Verzinsung, deren Höhe durch die Gesetze der politischen Ökonomie, durchaus nicht willkürlich, bestimmt wird. Am Ende der hundert Jahre ist das Haus aufgebraucht, verschlissen, unbewohnbar geworden. Wenn wir dann von dem gezahlten Gesamtmietbetrag abziehen: 1. die Grundrente nebst der etwaigen Steigerung, die sie während der Zeit erfahren, und 2. die ausgelegten laufenden Reparaturkosten, so werden wir finden, daß der Rest im Durchschnitt sich zusammensetzt: 1. aus dem ursprünglichen Baukapital des Hauses, 2. aus dem Profit darauf, und 3. aus der Verzinsung des nach und nach fällig gewordenen Kapitals und Profits3. Nun hat zwar am Ende dieses Zeitraums der Mieter kein Haus, aber der Hausbesitzer auch nicht. Dieser hat nur das Grundstück (wenn es ihm nämlich gehört) und die darauf befindlichen Baumaterialien, die aber kein Haus mehr sind. Und wenn das Haus inzwischen „fünf- oder zehnmal den ursprünglichen Kostenpreis deckte", so werden wir sehn, daß dies lediglich einem Aufschlag der Grundrente geschuldet ist; wie dies niemanden ein
1 Im „Volksstaat": Profit - 2 im „Volksstaat" fehlt: einschließlich des darauf gemachten Profits - 3 im „Volksstaat" fehlt: und Profits
Geheimnis ist an Orten wie London, wo Grundbesitzer und Hausbesitzer meist zwei verschiedene Personen sind. Solche kolossale Mietsaufschläge kommen vor in rasch wachsenden Städten, aber nicht in einem Ackerdorf, wo die Grundrente für Bauplätze fast unverändert bleibt. Es ist ja notorische Tatsache, daß, abgesehn von Steigerungen der Grundrente, die Hausmiete dem Hausbesitzer durchschnittlich nicht über 7 p.c. des angelegten Kapitals (inkl. Profits) jährlich einbringt, woraus dann noch Reparaturkosten etc. zu bestreiten sind. Kurz, der Mietvertrag ist ein ganz gewöhnliches Warengeschäft, das für den Arbeiter theoretisch nicht mehr und nicht minder Interesse hat als jedes andere Warengeschäft, ausgenommen das, worin es sich um den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft handelt, während er ihm praktisch als eine der tausend Formen der bürgerlichen Prellerei gegenübertritt, von denen ich Seite 41 des Separatabdrucks12311 spreche, die aber auch, wie ich dort nachgewiesen, einer ökonomischen Regelung unterworfen sind. Mülberger dagegen sieht im Mietvertrag nichts als reine „Willkür" (S. 19 des Separatabdrucks), und wenn ich ihm das Gegenteil beweise, so beklagt er sich, ich sage ihm „lauter Dinge, die er leider schon selbst gewußt". Mit allen ökonomischen Untersuchungen über die Hausmiete kommen wir aber nicht dahin, die Abschaffung der Mietwohnung zu verwandeln in „eine der fruchtbarsten und großartigsten Bestrebungen, welche dem Schoß der revolutionären Idee entstammt". Um dies fertigzubringen, müssen wir die einfache Tatsache aus der nüchternen Ökonomie in die schon viel ideologischere Juristerei übersetzen. „Das Haus dient als ewiger Rechtstitel" auf Hausmiete - „so kommt es", daß der Wert des Hauses in Hausmiete zwei-, drei-, fünf-, zehnmal gezahlt werden kann. Um zu erfahren, wie das „so kommt", hilft uns der „Rechtstitel" keinen Zoll vom Fleck; und deswegen sagte ich, Mülberger hätte erst durch Untersuchung, wie das Haus Rechtstitel wird, erfahren können, wie das „so kommt". Dies erfahren wir erst, wenn wir, wie ich tat, die ökonomische Natur der Hausmiete untersuchen, statt uns über den juristischen Ausdruck, unter welchem die herrschende Klasse sie sanktioniert, zu erbosen. - Wer ökonomische Schritte zur Abschaffung der Hausmiete vorschlägt, der ist doch wohl verpflichtet, etwas mehr von der Hausmiete zu wissen, als daß sie „den Tribut darstellt, den der Mieter dem ewigen Rechte des Kapitals bezahlt". Darauf antwortet Mülberger: „Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Erklärung."
Wir haben also das Haus, obwohl es keineswegs ewig ist, in einen ewigen Rechtstitel auf Hausmiete verwandelt. Wir finden, einerlei wie das „so kommt", daß kraft dieses Rechtstitels das Haus seinen Wert in der Gestalt von Hausmiete mehrfach einbringt. Wir sind, durch die Übersetzung ins Juristische, glücklich so weit von der Ökonomie entfernt, daß wir nur noch die Erscheinung sehen, daß ein Haus sich in Brutto-Miete allmählich mehrfach bezahlt machen kann. Da wir juristisch denken und sprechen, so legen wir an diese Erscheinung den Maßstab des Rechts, der Gerechtigkeit und finden, daß sie ungerecht ist, daß sie der „Rechtsidee der Revolution", was das auch immer für ein Ding sein mag, nicht entspricht und daß der Rechtstitel daher nichts taugt. Wir finden ferner, daß dasselbe vom zinstragenden Kapital und vom verpachteten Ackerland gilt, und haben nun den Vorwand, diese Klassen von Eigentum von den andern auszuscheiden und sie einer ausnahmsweisen Behandlung zu unterwerfen. Diese besteht in der Forderung: 1. dem Eigentümer das Kündigungsrecht, das Recht auf Rückforderung seines Eigentums, zu nehmen; 2. dem Mieter, Borger oder Pächter den Nießbrauch des ihm übertragenen, aber ihm nicht gehörigen Gegenstandes unentgeltlich zu überlassen, und 3. den Eigentümer in längeren Raten ohne Verzinsung abzuzahlen. Und damit haben wir die Proudhonschen „Prinzipien" nach dieser Seite hin erschöpft. Es ist dies Proudhons „gesellschaftliche Liquidation". Beiläufig bemerkt. Daß dieser ganze Reformplan fast ausschließlich den Kleinbürgern und Kleinbauern in der Weise zugute kommen soll, daß er sie in ihrer Stellung als Kleinbürger und Kleinbauern befestigt, liegt auf der Hand. Die nach Mülberger sagenhafte Gestalt des „Kleinbürgers Proudhon" erhält hier also plötzlich eine sehr handgreifliche historische Existenz. Mülberger fährt fort: „Wenn ich nach Proudhon sage, das ökonomische Leben der Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, so schildere ich hiermit die heutige Gesellschaft als eine solche, in der zwar nicht jede Rechtsidee, aber die Rechtsidee der Revolution fehlt, eine Tatsache, die selbst Engels zugeben wird." Leider bin ich außerstande, Mülberger diesen Gefallen zu tun. Mülberger verlangt, die Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, und nennt das eine Schilderung. Wenn mir ein Gerichtshof eine Aufforderung durch Gerichtsvollzieher zukommen läßt, eine Schuld zu bezahlen, so tut er, nach Mülberger, weiter nichts, als daß er mich als einen Menschen schildert, der seine Schulden nicht bezahlt! Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Zumutung. Und gerade hier liegt der wesentliche Unterschied des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus von
Proudhon. Wir schildern - und jede wirkliche Schilderung ist, trotz Mülberger, zugleich die Erklärung der Sache - die ökonomischen Verhältnisse, wie sie sind und wie sie sich entwickeln, und führen, strikt ökonomisch, den Beweis, daß diese ihre Entwicklung zugleich die Entwicklung der Elemente einer sozialen Revolution ist: die Entwicklung - einerseits, einer Klasse, deren Lebenslage sie notwendig zur sozialen Revolution treibt, des Proletariats - andererseits, von Produktivkräften, die, dem Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft entwachsen, ihn notwendig sprengen müssen,und die gleichzeitig die Mittel bieten, die Klassenunterschiede ein für allemal im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts selbst zu beseitigen. Proudhon dagegen stellt an die heutige Gesellschaft die Forderung, sich nicht nach den Gesetzen ihrer eignen ökonomischen Entwicklung, sondern nach den Vorschriften der Gerechtigkeit (die „Rechtsic/ee" gehört nicht ihm, sondern Mülberger) umzugestalten. Wo wir beweisen, predigt und lamentiert Proudhon, und mit ihm Mülberger. Was „die Rechtsidee der Revolution" für ein Ding ist, kann ich absolut nicht erraten. Proudhon allerdings macht sich aus „der Revolution" eine Art Göttin, die Trägerin und Vollstreckerin seiner „Gerechtigkeit"; wobei er dann in den sonderbaren Irrtum verfällt, die bürgerliche Revolution von 1789-1794 und die künftige proletarische Revolution durcheinanderzuwerfen. Dies tut er in fast allen seinen Werken, besonders seit 1848; als Beispiel führe ich nur an: „Idee generale de la Revolution", ed. 1868, p.39 & 40. Da aber Mülberger alle und jede Verantwortlichkeit für Proudhon ablehnt, so bleibt mir verboten, „die Rechtsidee der Revolution" aus Proudhon zu erklären, und ich verharre in ägyptischer Finsternis. Weiter sagt Mülberger: „Aber weder Proudhon noch ich appellieren an eine .ewige Gerechtigkeit', um dadurch die bestehenden ungerechten Zustände zu erklären oder gar, wie dies Engels mir imputiert, die Besserung dieser Zustände von dem Appell an diese Gerechtigkeit zu erwarten." Mülberger muß darauf bauen, daß „Proudhon überhaupt in Deutschland so gut wie gar nicht gekannt" ist. In allen seinen Schriften mißt Proudhon alle gesellschaftlichen, rechtlichen, politischen1,religiösen Sätze an dem Maßstab der „Gerechtigkeit", verwirft sie oder erkennt sie an, je nachdem sie stimmen oder nicht stimmen mit dem, was er „Gerechtigkeit" nennt. In den „Contradictions economiques"[220] heißt diese Gerechtigkeit noch „ewige Gerechtigkeit", justice eternelle. Später wird die Ewigkeit
18 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
verschwiegen, bleibt aber der Sache nach. Z.B. in: „De la Justice dans la Revolution et dans l'Eglise", Ausgabe 1858, ist folgende Stelle der Text der ganzen dreibändigen Predigt (Band I, Seite 42): „Welches ist das Grundprinzip, das organische, regelnde, souveräne Prinzip der Gesellschaften, das Prinzip, welches, sich alle andern unterordnend, regiert, schützt, zurückdrängt, züchtigt, im Notfalle selbst unterdrückt alle rebellischen Elemente? Ist es die Religion, das Ideal, das Interesse?... Dies Prinzip, nach meiner Ansicht, ist die Gerechtigkeit. - Was ist die Gerechtigkeit? Das Wesen der Menschheit selbst. Was ist sie gewesen seit dem Anfang der Welt? Nichts. - Was sollte sie sein? Alles." Eine Gerechtigkeit, die das Wesen der Menschheit selbst ist, was ist das anders als die ewige Gerechtigkeit? Eine Gerechtigkeit, die das organische, regelnde, souveräne Grundprinzip der Gesellschaften, die bisher trotzdem nichts gewesen ist, die aber alles sein soll - was ist sie anders als der Maßstab, an dem alle menschlichen Dinge zu messen, an die in jedem Kollisionsfall als entscheidende Richterin zu appellieren ist? Und habe ich etwas anderes behauptet, als daß Proudhon seine ökonomische Unwissenheit und Hülflosigkeit damit verdeckt, daß er alle ökonomischen Verhältnisse nicht nach den ökonomischen Gesetzen, sondern darnach beurteilt, ob sie mit seiner Vorstellung von dieser ewigen Gerechtigkeit stimmen oder nicht? Und wodurch unterscheidet sich Mülberger von Proudhon, wenn Mülberger verlangt, daß „alle Umsetzungen im Leben der modernen Gesellschaft ... von einer Rechtsidee durchdrungen, d.h. allenthalben nach den strengen Anforderungen der Gerechtigkeit durchgeführt" werden sollen? Kann ich nicht lesen, oder kann Mülberger nicht schreiben? Weiter sagt Mülberger: „Proudhon weiß so gut wie Marx und Engels, daß das eigentlich Treibende in der menschlichen Gesellschaft die ökonomischen, nicht die juridischen Verhältnisse sind, auch er weiß, daß die jeweiligen Rechtsideen eines Volkes nur der Ausdruck, der Abdruck, das Produkt der ökonomischen - insbesondere Produktionsverhältnisse sind... Das Recht ist für Proudhon mit einem Wort - historisch gewordenes ökonomisches Produkt." Wenn Proudhon dies (ich will die unklare Ausdrucksweise Mülbergers passieren lassen und den guten Willen für die Tat nehmen), wenn Proudhon dies alles „ebensogut weiß wie Marx und Engels", wie können wir uns dann noch streiten? Aber es steht eben etwas anders mit der Wissenschaft Proudhons. Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als Interessen. Nun sagt Proudhon in der eben zitierten Stelle seines Hauptwerkes mit dürren Worten, daß das „regelnde, organische souveräne Grundprinzip der Gesellschaften, welches sich alle andern
unterordnet", nicht das Interesse ist, sondern die Gerechtigkeit. Und er wiederholt dasselbe in allen seinen Schriften an allen entscheidenden Stellen. Was Mülberger nicht verhindert fortzufahren:
„...daß die Idee des ökonomischen Rechts, wie sie von Proudhon am tiefsten in ,La Guerre et la Paix' entwickelt ist, vollständig zusammenfällt mit jenen Grundgedanken Lassalles, wie sie so schön in seinem Vorwort zum .System der erworbenen Rechte' gegeben sind." „La Guerre et la Paix" ist vielleicht das schülerhafteste der vielen schüler haften Werke Proudhons, aber daß es als Beweismittel aufgeführt werde für sein angebliches Verständnis der deutschen materialistischen Geschichtsauffassung, die alle historischen Ereignisse und Vorstellungen, alle Politik, Philosophie, Religion, aus den materiellen, ökonomischen Lebensverhältnissen der fraglichen geschichtlichen Periode erklärt, das konnte ich nicht erwarten. Das Buch ist so wenig materialistisch, daß es seine Konstruktion des Krieges nicht einmal fertigbringen kann, ohne den Schöpfer zu Hülfe zu rufen: „Indessen hatte der Schöpfer, der diese Lebensweise für uns gewählt hat, seine Zwecke" (Bd. II, S. 100 der Ausgabe von 1869). Auf welcher Geschichtskenntnis es beruht, geht daraus hervor, daß es an die geschichtliche Existenz des goldnen Zeitalters glaubt: „ Im Anfang, als die Menschheit noch dünn gesäet war auf dem Erdball, sorgte die Natur ohne Mühe für seine Bedürfnisse. Es war das goldene Zeitalter, das Zeitalter des Überflusses und des Friedens" (ebenda, S. 102). Sein ökonomischer Standpunkt ist der des krassesten Malthusianismus: „Wenn die Produktion verdoppelt wird, so wird die Bevölkerung es bald ebenfalls sein" (S. 106). Und worin besteht denn der Materialismus des Buchs? Darin, daß es behauptet, die Ursache des Kriegs sei von jeher und immer noch: „der Pauperismus" (z.B. Seite 143). Onkel Bräsig war ein ebenso gelungener Materialist, als er in seiner 1848er Rede das große Wort gelassen aussprach: Die Ursache der großen Armut ist die große pauvret61. Lassalles „System der erworbenen Rechte" ist nicht nur in der ganzen Illusion des Juristen, sondern auch in der des Althegelianers befangen. Lassalle erklärt S. VII ausdrücklich, daß auch „im Ökonomischen der Begriff des erworbenen Rechts der treibende Springquell aller weiteren Entwicklung" ist, er will „das Recht als einen vernünftigen, sich aus sich selbst"
(also nicht aus ökonomischen Vorbedingungen) „entwickelnden Organismus" nachweisen (S. XI), es handelt sich für ihn um Ableitung des Rechts, nicht aus ökonomischen Verhältnissen, sondern aus dem „Willensbegriff selbst, dessen Entwicklung und Darstellung die Rechtsphilosophie nur ist" (S. XII). Was soll also das Buch hier? Der Unterschied zwischen Proudhon und Lassalle ist nur der, daß Lassalle ein wirklicher Jurist und Hegelianer war, und Proudhon in der Juristerei und Philosophie, wie in allen andern Dingen, ein reiner Dilettant. Daß Proudhon, der sich bekanntlich fortwährend widerspricht, auch hier und da einmal eine Äußerung tut, die danach aussieht, als erkläre er Ideen aus Tatsachen, weiß ich sehr gut. Dergleichen Äußerungen sind aber ohne allen Belang gegenüber der durchgehenden Denkrichtung des Mannes, und wo sie vorkommen, noch dazu äußerst verworren und in sich inkonsequent. Auf einer gewissen, sehr ursprünglichen Entwicklungsstufe der Gesellschaft stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter eine gemeinsame Regel zu fassen, dafür zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft. Diese Regel, zuerst Sitte, wird bald Gesetz. Mit dem Gesetz entstehn notwendig Organe, die mit seiner Aufrechterhaltung betraut sind - die öffentliche Gewalt, der Staat. Mit der weitern gesellschaftlichen Entwicklung bildet sich das Gesetz fort zu einer mehr oder weniger umfangreichen Gesetzgebung. Je verwickelter diese Gesetzgebung wird, desto weiter entfernt sich ihre Ausdrucksweise von der, in welcher die gewöhnlichen ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgedrückt werden. Sie erscheint als ein selbständiges Element, das nicht aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern aus eignen, inneren Gründen, meinetwegen aus dem „Willensbegriff" die Berechtigung seiner Existenz und die Begründung seiner Fortentwicklung hernimmt. Die Menschen vergessen die Abstammung ihres Rechts aus ihren ökonomischen Lebensbedingungen, wie sie ihre eigne Abstammung aus dem Tierreich vergessen haben. Mit der Fortbildung der Gesetzgebung zu einem verwickelten, umfangreichen Ganzen tritt die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervor; es bildet sich ein Stand berufsmäßiger Rechtsgelehrten, und mit diesen entsteht die Rechtswissenschaft. Diese vergleicht in ihrer weitern Entwicklung die Rechtssysteme verschiedner Völker und verschiedner Zeiten miteinander, nicht als Abdrücke der jedesmaligen ökonomischen Verhältnisse, sondern als Systeme, die ihre Begründung in sich selbst finden. Die Vergleichung
setzt Gemeinsames voraus: dieses findet sich, indem die Juristen das mehr oder weniger Gemeinschaftliche aller dieser Rechtssysteme als Naturrecht zusammenstellen. Der Maßstab aber, an dem gemessen wird, was Naturrecht ist und nicht, ist eben der abstrakteste Ausdruck des Rechts selbst: die Gerechtigkeit. Von jetzt an ist also die Entwicklung des Rechts für die Juristen und die, die ihnen aufs Wort glauben, nur noch das Bestreben, die menschlichen Zustände, soweit sie juristisch ausgedrückt werden, dem Ideal der Gerechtigkeit, der etüigen Gerechtigkeit immer wieder näherzubringen. Und diese Gerechtigkeit ist immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestebnden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeois von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei. Für die preußischen Junker ist selbst die faule Kreisordnung[2321 eine Verletzung der ewigen Gerechtigkeit. Die Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit wechselt also nicht nur mit der Zeit und dem Ort, sondern selbst mit den Personen, und gehört zu den Dingen, worunter, wie Mülberger richtig bemerkt, „jeder etwas anderes versteht". Wenn im gewöhnlichen Leben bei der Einfachheit der Verhältnisse, die da zur Beurteilung kommen, Ausdrücke wie recht, unrecht, Gerechtigkeit, Rechtsgefühl auch in Beziehung auf gesellschaftliche Dinge ohne Mißverständnis hingenommen werden, so richten sie in wissenschaftlichen Untersuchungen über ökonomische Verhältnisse, wie wir gesehn haben, dieselbe heillose Verwirrung an, die z.B. in der heutigen Chemie entstehn würde, wollte man die Ausdrucksweise der phlogistischen Theorie beibehalten. Noch schlimmer wird die Verwirrung, wenn man, wie Proudhon, an dies soziale Phlogiston, die „Gerechtigkeit", glaubt oder, wie Mülberger beteuert, mit dem Phlogiston nicht minder als mit dem Sauerstoff habe es seine vollkommene Richtigkeit.*
* Vor der Entdeckung des Sauerstoffs erklärten sich die Chemiker die Verbrennung des Körpers in atmosphärischer Luft durch die Annahme eines eignen Brennstoffs, des Phlogiston, der bei der Verbrennung entweicht. Da sie fanden, daß verbrannte einfache Körper nach der Verbrennung mehr wogen als vorher, erklärten sie, das Phlogiston habe eine negative Schwere, so daß ein Körper ohne sein Phlogiston mehr wiege als mit ihm. Auf diese Weise wurden dem Phlogiston allmählich die Haupteigenschaften des Sauerstoffs angedichtet, aber alle umgekehrt. Die Entdeckung, daß die Verbrennung in der Verbindung der brennenden Körper mit einem andern, dem Sauerstoff, bestehe, und die Darstellung dieses Sauerstoffs machte dieser Annahme - aber erst nach langem Widerstand der ältern Chemiker - ein Ende.
III
Mülberger beschwert sich ferner, ich nenne seine „emphatische" Auslassung darüber,
„daß es keinen furchtbareren Hohn auf die ganze Kultur unseres gerühmten Jahrhunderts gibt als die Tatsache, daß in den großen Städten 90% und darüber der Bevölkerung keine Stätte haben, die sie ihr eigen nennen können"
- eine reaktionäre Jeremiade. Allerdings. Hätte Mülberger sich darauf beschränkt, wie er vorgibt, die „Greuel der Gegenwart" zu schildern, ich hätte „ihm und seinen bescheidenen Worten" sicher kein böses Wort nachgesagt. Er tut aber etwas ganz andres. Er schildert diese „Greuel" als Wirkung davon, daß die Arbeiter „keine Stätte haben, die sie ihr eigen nennen können". Ob man „die Greuel der Gegenwart" aus der Ursache beklagt, daß das Hauseigentum der Arbeiter abgeschafft ist, oder wie die Junker tun, aus der, daß der Feudalismus und die Zünfte abgeschafft sind - in beiden Fällen kann nichts herauskommen als eine reaktionäre Jeremiade, ein Klagelied über das Hereinbrechen des Unvermeidlichen, des geschichtlich Notwendigen. Die Reaktion liegt eben darin, daß Mülberger das individuelle Hauseigentum der Arbeiter wieder herstellen will - eine Sache, über die die Geschichte längst reinen Bord gemacht hat; daß er sich die Befreiung der Arbeiter nicht anders denken kann als so, daß jeder wieder Eigentümer seines Hauses wird. Weiter:
„Ich sage aufs ausdrücklichste: Der eigentliche Kampf gilt der kapitalistischen Produktionsweise, und nur aus ihrer Umänderung heraus ist eine Besserung der Wohnungsverhältnisse zu hoffen. Engels sieht von alledem nichts ... ich setze die ganze Lösung der sozialen Frage voraus, um zur Ablösung der Mietswohnung schreiten zu können."
Leider sehe ich von alledem auch heute noch nichts. Ich kann doch unmöglich wissen, was jemand, dessen Namen ich nicht einmal kannte, im stillen Kämmerlein seines Gehirns voraussetzt. Ich kann mich nur an die gedruckten Artikel Mülbergers halten. Und da finde ich auch heute noch, daß Mülberger (Seite 15 und 16 des Separatabdrucks), um zur Ablösung der Mietwohnung schreiten zu können, nichts voraussetzt als - die Mietwohnung. Erst auf Seite 17 faßt er „die Produktivität des Kapitals bei den Hörnern", worauf wir noch zurückkommen. Und selbst in seiner Antwort bestätigt er dies, wenn er sagt:
„Es galt vielmehr zu zeigen, wie aus den bestehenden Verhältnissen heraus eine vollständige Umänderung in der Wohnungsfrage durchgesetzt werden könne."
Aus den bestehenden Verhältnissen heraus, und aus der Umänderung (soll heißen Abschaffung) der kapitalistischen Produktionsweise heraus, sind doch wohl ganz entgegengesetzte Dinge. Kein Wunder, daß Mülberger sich beklagt, wenn ich in den philanthropischen Bestrebungen der Herren Dollfus und anderer Fabrikanten, den Arbeitern zu eigenen Häusern zu verhelfen, die einzig mögliche praktische Verwirklichung seiner proudhonistischen Projekte finde. Wenn er einsähe, daß Proudhons Plan zur Gesellschaftsrettung eine sich durchaus auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft bewegende Phantasie ist, so würde er selbstredend nicht daran glauben. Seinen guten Willen habe ich ja nie und nirgends bezweifelt. Warum aber lobt er denn Dr. Reschauer dafür, daß er die Dollfusschen Projekte dem Wiener Stadtrat zur Nachahmung vorschlägt? Ferner erklärt Mülberger:
„Was speziell den Gegensatz zwischen Stadt und Land betrifft, so gehört es unter die Utopien, ihn aufheben zu wollen. Dieser Gegensatz ist ein natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener... Es gilt nicht, diesen Gegensatz aufzuheben,sondern politische und soziale Formen zu finden, in denen er unschädlich, ja sogar fruchtbringend ist. Auf diese Weise ist ein friedlicher Ausgleich, ein allmähliches Gleichgewicht der Interessen zu erwarten."
Also die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land ist eine Utopie, weil dieser Gegensatz ein natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener ist. Wenden wir diese Logik auf andere Gegensätze der modernen Gesellschaft an, und sehen wir, wohin wir dann kommen. Z.B.: „Was speziell den Gegensatz zwischen" Kapitalisten und Lohnarbeitern „betrifft, so gehört es unter die Utopien, ihn aufheben zu wollen. Dieser Gegensatz ist ein natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener. Es gilt nicht, diesen Gegensatz aufzuheben, sondern politische und soziale Formen zu finden, in denen er unschädlich, ja sogar fruchtbringend ist. Auf diese Weise ist ein friedlicher Ausgleich, ein allmähliches Gleichgewicht der Interessen zu erwarten." Womit wir wieder bei Schulze-Delitzsch angekommen sind. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land ist nicht mehr und nicht minder eine Utopie als die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Sie wird von Tag zu Tag mehr eine praktische Forderung der industriellen wie ackerbauenden Produktion.
Niemand hat sie lauter gefordert als Liebig in seinen Schriften über die Chemie des Ackerbaus, worin stets seine erste Forderung is t, daß der Mensch an den Acker das zurückgebe, was er von ihm erhält, und worin er beweist, daß nur die Existenz der Städte, namentlich der großen Städte, dies verhindert. Wenn man sieht, wie hier in London allein eine größere Menge Dünger als das ganze Königreich Sachsen produziert, Tag für Tag unter Aufwendung ungeheurer Kosten - in die See geschüttet wird, und welche kolossalen Anlagen nötig werden, um zu verhindern, daß dieser Dünger nicht ganz London vergiftet, so erhält die Utopie von der Abschaffung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land eine merkwürdig praktische Grundlage. Und selbst das verhältnismäßig unbedeutende Berlin erstinkt seit mindestens dreißig Jahren in seinem eigenen Dreck. Andererseits istes eine reine Utopie, wenn man, wie Proudhon, die jetzige bürgerliche Gesellschaft umwälzen und den Bauer als solchen erhalten will. Nur eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung über das ganze Land, nur eine innige Verbindung der industriellen mit der ackerbauenden Produktion, nebst der dadurch nötig werdenden Ausdehnung der Kommunikationsmittel - die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise dabei vorausgesetzt - ist imstande, die Landbevölkerung aus der Isolierung und Verdummung herauszureißen, in der sie seit Jahrtausenden fast unverändert vegetiert. Nicht das ist eine Utopie, zu behaupten, daß die Befreiung der Menschen aus den durch ihre geschichtliche Vergangenheit geschmiedeten Ketten erst dann vollständig sein wird, wenn der Gegensatz zwischen Stadt und Land abgeschafft ist; die Utopie entsteht erst dann, wenn man sich unterfängt, „aus den bestehenden Verhältnissen heraus" die Form vorzuschreiben, worin dieser oder irgendein anderer Gegensatz der bestehenden Gesellschaft gelöst werden soll. Und das tut Mülberger, indem er sich dieProudhonsche Formel für die Lösung der Wohnungsfrage aneignet. Dann beschwert sich Mülberger, daß ich ihn für „die ungeheuerlichen Anschauungen Proudhons über Kapital und Zins" gewissermaßen mitverantwortlich mache, und sagt:
„Ich setze die Änderung der Produktionsverhältnisse als gegeben voraus, und das den Zinsfuß regelnde Ubergangsgesetz hat nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die gesellschaftlichen Umsetzungen, die Zirkulationsverhältnisse zum Gegenstand... Die Änderung der Produktionsverhältnisse, oder wie die deutsche Schule genauer sagt, die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, ergibt sich freilich nicht, wie mir Engels andichtet, aus einem den Zins aufhebenden Ubergangsgesetz, sondern aus der faktischen Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente, aus der Inbesitznahme der gesamten Industrie von Seiten des arbeitenden Volks. Ob das arbeitende Volk hierbei
mehr der Ablösung oder mehr der sofortigen Expropriation huldigen (!) wird, hat weder Engels noch ich zu entscheiden." Ich reibe mir erstaunt die Augen. Ich lese Mülbergers Abhandlung nochmals von Anfang bis zu Ende durch, um die Stelle zu finden, wo er erklärt, daß seine Ablösung der Mietwohnung „die faktische Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks" als fertig voraussetze. Ich finde die Stelle nicht. Sie existiert nicht. Von „faktischer Besitzergreifung" usw. ist nirgend die Rede. Wohl aber heißt es S. 17:
„Wir nehmen nun an, die Produktivität des Kapitals Werde wirklich bei den Hörnern gefaßt, wie das früher oder später geschehen muß, z.B. durch ein Übergangsgesetz, Welches denZins aller Kapitalien auf ein Prozent festsetzt, wohlgemerkt, mit der Tendenz, auch diesen Prozentsatz immer mehr dem Nullpunkt zu nähern... Wie alle andern Produkte, ist natürlich auch Haus und Wohnung in den Rahmen dieses Gesetzes gefaßt ... Wir sehen also von dieser Seite her, daß sich die Ablösung der Mietwohnung mit Notwendigkeit ergibt als eine Folge der Abschaffung der Produktivität des Kapitals überhaupt." Hier wird also, ganz im Gegensatz zu Mülbergers neuester Wendung, mit dürren Worten gesagt, daß die Produktivität des Kapitals, unter welcher konfusen Phrase er eingestandenermaßen die kapitalistische Produktionsweise versteht, durch das Zinsabschaffungsgesetz allerdings „bei den Hörnern gefaßt werde", und daß gerade infolge dieses Gesetzes „die Ablösung der Mietwohnung sich mit Notwendigkeit ergibt als eine Folge der Abschaffung der Produktivität des Kapitals überhaupt". Keineswegs, sagt Mülberger jetzt. Jenes Ubergangsgesetz hat „nicht die Pro^u^/ionsverhältnisse, sondern dieZiV^u?a/ionsverhältnisse zum Gegenstand". Es bleibt mir in diesem vollkommenen Widerspruch, der nach Goethe „gleich geheimnisvoll für Weise wie für Toren" [233], nur übrig anzunehmen, daß ich es mit zwei ganz verschiedenen Mülbergern zu tun habe, von denen der eine sich mit Recht beschwert, ich habe ihm das „angedichtet", was der andere hat drucken lassen. Daß das arbeitende Volk weder mich noch Mülberger fragen wird, ob es bei der faktischen Besitzergreifung „mehr der Ablösung oder mehr der sofortigen Expropriation huldigen wird", das ist sicher richtig. Es wird höchstwahrscheinlich vorziehen, überhaupt nicht zu „huldigen". Aber von faktischer Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk war ja gar nicht die Rede, sondern nur von Mülbergers Behauptung (S. 17), daß „der Gesamtinhalt der Lösung der Wohnungsfrage in dem Wort: Ablösung gegeben" sei. Wenn er jetzt diese Ablösung für äußerst
zweifelhaft erklärt, wozu dann uns beiden und den Lesern all die nutzlose Mühe machen? Übrigens muß konstatiert werden, daß die „faktische Besitzergreifung" sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seilen des arbeitenden Volks, das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen „Ablösung". Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das „arbeitende Volk" Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente, und wird deren Nießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehaltung des Mietverhältnisses keineswegs aus. Überhaupt handelt es sich nicht um die Frage, ob das Proletariat, wenn es zur Macht gelangt, die Produktionsinstrumente, Rohstoffe und Lebensmittel einfach gewaltsam in Besitz nimmt, ob es sofort Entschädigung dafür zahlt oder das Eigentum daran durch langsame Ratenzahlungen ablöst. Eine solche Frage im voraus und für alle Fälle beantworten zu wollen, hieße Utopien fabrizieren, und das überlasse ich andern.
IV
Soviel Schreiberei war nötig, um durch die mannigfachen Ausflüchte und Windungen Mülbergers hindurch endlich auf die Sache selbst zu kommen, die Mülberger in seiner Antwort sorgfältig zu berühren vermeidet. Was hatte Mülberger in seiner Abhandlung Positives gesagt? Erstens, „der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Kostenpreis eines Hauses, Bauplatzes usw. und seinem heutigen Wert" gehöre von Rechts wegen der Gesellschaft. Dieser Unterschied heißt in ökonomischer Sprache Grundrente. Diese will Proudhon ebenfalls der Gesellschaft zueignen, wie man in „Idee generale de la Revolution", Ausgabe 1868, S. 219, lesen kann. Zweitens, die Lösung der Wohnungsfrage bestehe darin, daß jeder, statt Mieter, Eigentümer seiner Wohnung wird. Drittens, diese Lösung vollzieht sich, indem man die Mietezahlungen durch ein Gesetz in Abzahlungen auf den Kaufpreis der Wohnung verwandelt. - Diese Punkte 2 und 3 sind beide aus Proudhon entlehnt, wie jeder
mann in „Idee gen6rale de la Revolution", S. 199 und folgende, ersehen kann, und wo sich sogar S. 203 der betreffende Gesetzentwurf fertig redigiert vorfindet. Viertens, daß die Produktivität des Kapitals bei den Hörnern gefaßt wird durch ein Übergangsgesetz, wodurch der Zinsfuß vorläufig auf 1 Prozent, vorbehaltlich späterer weiterer Erniedrigung, herabgesetzt wird. Dies ist ebenfalls aus Proudhon entlehnt, wie in „Idee generale", S. 182-186, ausführlich zu lesen. Ich habe bei jedem dieser Punkte die Stelle bei Proudhon zitiert, worin sich das Original der Mülbergerschen Kopie findet, und frage nun, ob ich berechtigt war, den Verfasser eines durchaus proudhonistischen und nichts als proudhonistische Anschauungen enthaltenden Artikels einen Proudhonisten zu nennen oder nicht? Und doch beschwert sich Mülberger über nichts bitterer, als daß ich ihn so nenne, weil ich „auf einige Wendungen stieß, wie sie Proudhon eigentümlich sind"! Im Gegenteil. Die „Wendungen" gehören alle Mülberger, der Inhalt gehört Proudhon. Und wenn ich dann die proudhonistische Abhandlung aus Proudhon ergänze, so klagt Mülberger, ich schiebe ihm die „ungeheuerlichen Anschauungen" Proudhons unter! Was habe ich nun auf diesen proudhonistischen Plan entgegnet? Erstens, daß Übertragung der Grundrente an den Staat gleichbedeutend ist mit Abschaffung des individuellen Grundeigentums. Zweitens, daß die Ablösung der Mietwohnung und die Übertragung des Eigentums der Wohnung an den bisherigen Mieter die kapitalistische Produktionsweise gar nicht berührt. Drittens, daß dieser Vorschlag bei der jetzigen Entwicklung der großen Industrie und der Städte ebenso abgeschmackt wie reaktionär ist, und daß die Wiedereinführung des individuellen Eigentums jedes einzelnen an seiner Wohnung ein Rückschritt wäre. Viertens, daß die zwangsmäßige Herabsetzung des Kapitalzinses die kapitalistische Produktionsweise1 keineswegs angreift, im Gegenteil, wie die Wuchergesetze beweisen, ebenso uralt wie unmöglich ist. Fünftens, daß mit Abschaffung des Kapitalzinses das Mietgeld für Häuser keineswegs abgeschafft ist. Punkt 2 und 4 hat Mülberger jetzt zugegeben. Auf die andern Punkte erwidert er kein Wort. Und doch sind dies grade die Punkte, um die es sich in der Debatte handelt. Aber Mülbergers Antwort ist keine Widerlegung; sie umgeht sorgfältig alle ökonomischen Punkte, welche doch die entschei
denden sind; sie ist eine persönliche Beschwerdeschrift, weiter nichts. So beklagt er sich, wenn ich seine angekündigte Lösung andrer Fragen, z.B. Staatsschulden,Privatschulden, Kredit, vorwegnehme und sage: die Lösung sei überall die, daß, wie bei der Wohnungsfrage, der Zins abgeschafft, die Zinszahlungen in Abzahlungen auf den Kapitalbetrag verwandelt und der Kredit kostenfrei gemacht wird. Trotzdem möchte ich noch heute wetten, daß, wenn diese Mülbergerschen Artikel das Licht der Welt erblicken, ihr wesentlicher Inhalt mit Proudhons „Idee generale": Kredit S. 182, Staatsschulden S. 186, Privatschulden S. 196, ebenso stimmen wird, wie diejenige über die Wohnungsfrage mit den zitierten Stellen desselben Buchs. Bei dieser Gelegenheit belehrt mich Mülberger, daß diese Fragen, wie Steuern, Staatsschulden, Privatschulden, Kredit, wozu jetzt noch die Autonomie der Gemeinde kommt, für den Bauer und für die Propaganda auf dem Lande von der höchsten Wichtigkeit sind. Großenteils einverstanden; aber 1. war von den Bauern bisher gar nicht die Rede, und 2. sind die Proudhonschen „Lösungen" aller dieser Fragen ebenso ökonomisch widersinnig und ebenso wesentlich bürgerlich, wie seine Lösung der Wohnungsfrage. Gegen die Andeutung Mülbergers, als verkennte ich die Notwendigkeit, die Bauern in die Bewegung zu ziehn, brauche ich mich nicht zu verteidigen. Aber das halte ich allerdings für Torheit, zu diesem Zweck den Bauern die Proudhonsche Wunderdoktorei anzuempfehlen. In Deutschland besteht noch sehr viel großes Grundeigentum. Nach der Proudhonschen Theorie müßte dies alles in kleine Bauernhöfe zerteilt werden, was beim heutigen Stand der Ackerbauwissenschaft und nach den in Frankreich und Westdeutschland mit dem Parzellen-Grundeigentum gemachten Erfahrungen geradezu reaktionär wäre. Das noch bestehnde große Grundeigentum wird uns vielmehr eine willkommne Handhabe bieten, den Ackerbau im großen, der allein alle modernen Hilfsmittel, Maschinen usw. anwenden kann .durch assoziierte Arbeiter betreiben zu lassen und dadurch den Kleinbauern die Vorteile des Großbetriebs vermittelst der Assoziation augenscheinlich zu machen. Die dänischen Sozialisten, in dieser Beziehung allen andern voraus, haben dies längst eingesehn.12341 Ebensowenig habe ich nötig, mich dagegen zu verteidigen, als erschienen mir die heutigen infamen Wohnungszustände der Arbeiter „als unbedeutende Kleinigkeit". Ich bin, soviel ich weiß, der erste gewesen, der in deutscher Sprache diese Zustände in ihrer klassisch entwickelten Form, wie sie in England bestehn, geschildert hat: nicht, wie Mülberger meint, weil sie „meinem Rechtsgefühl ins Gesicht schlagen" - wer alle Tatsachen, die seinem
Rechtsgefühl ins Gesicht schlagen, in Bücher verwandeln wollte, der hätte viel zu tun - sondern, wie in der Vorrede meines Buchs1 zu lesen, um dem damals entstehnden, in hohlen Phrasen herumfahrenden deutschen Sozialismus eine tatsächliche Unterlage zu geben durch Beschreibung der von der modernen großen Industrie geschaffnen Gesellschaftszustände. Aber die sogenannte Wohnungs/rage lösen zu wollen, das fällt mir allerdings nicht ein, ebensowenig wie ich mich mit den Details der Lösung der noch wichtigeren Eßfrage befasse. Ich bin zufrieden, wenn ich nachweisen kann, daß die Produktion unsrer modernen Gesellschaft hinreichend ist, um allen Gesellschaftsgliedern genug zu essen zu verschaffen, und daß Häuser genug vorhanden sind, um den arbeitenden Massen vorläufig ein geräumiges und gesundes Unterkommen zu bieten. Wie eine zukünftige Gesellschaft die Verteilung des Essens und der Wohnungen regeln wird, darüber zu spekulieren, führt direkt in die Utopie. Wir können höchstens aus der Einsicht in die Grundbedingungen der sämtlichen bisherigen Produktionsweisen feststellen, daß mit dem Fall der kapitalistischen Produktion gewisse Aneignungsformen der bisherigen Gesellschaft unmöglich werden. Selbst die Übergangsmaßregeln werden sich überall nach den augenblicklich bestehnden Verhältnissen zu richten haben, in Ländern kleinen Grundeigentums wesentlich andre sein als in Ländern großen Grundbesitzes usw. Wohin man kommt, wenn man für diese sogenannten praktischen Fragen, wie Wohnungsfrage usw., Einzellösungen sucht, beweist uns niemand besser als Mülberger selbst, der erst auf 28 Seiten1230' auseinandersetzt, wie „der Gesamtinhalt der Lösung der Wohnungsfrage in dem Wort: Ablösung gegeben sei", um dann, sowie man ihm auf den Leib rückt, verlegen zu stammeln, es sei in der Tat sehr fraglich, ob bei der faktischen Besitzergreifung der Häuser „das arbeitende Volk mehr der Ablösung huldigen werde" oder irgendeiner andern Form der Expropriation. Mülberger verlangt, wir sollen praktisch werden, wir sollen „den wirklichen praktischen Verhältnissen gegenüber" nicht „nur tote abstrakte Formeln ins Feld führen", wir sollen „aus dem abstrakten Sozialismus heraus und an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft herantreten". Hätte Mülberger dies getan, so hätte er sich vielleicht große Verdienste um die Bewegung erworben. Der erste Schritt beim Herantreten an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft besteht doch wohl darin, daß man sie kennenlernt, daß man sie nach ihrem bestehnden ökonomi
1 Vorwort zu „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", siehe Band 2 unserer Ausgabe, S. 232-234
sehen Zusammenhang untersucht. Und was finden wir da bei Mülberger? Zwei ganze Sätze, und zwar:
1. „Was der Lohnarbeiter gegenüber dem Kapitalisten, das ist der Mieter gegenüber dem Hausbesitzer." Ich habe S.61 des Separatabdrucks[231! nachgewiesen, daß dies total falsch ist, und Mülberger hat kein Wort darauf zu erwidern. 2. „Der Stier aber, der" (bei der sozialen Reform) „bei den Hörnern gefaßt werden muß, ist die Produktivität des Kapitals, wie es die liberale Schule der Nationalökonomie nennt, die in Wahrheit nicht existiert, die aber in ihrer scheinbaren Existenz zum Deckmantel aller Ungleichheit dient, welche auf der heutigen Gesellschaft lastet." Der Stier, der bei den Hörnern gefaßt werden muß, existiert also „in Wahrheit nicht", hat also auch keine „Hörner". Nicht er selbst, sondern seine scheinbare Existenz ist vom Übel. Trotzdem ist die „sogenannte Produktivität" (des Kapitals) „imstande, Häuser und Städte aus dem Boden zu zaubern", deren Existenz alles, nur nicht „scheinbar" ist. (S. 12.) Und ein Mann, der, obwohl Marx' „Kapital" „auch ihm wohlbekannt" ist, in dieser hülflos verworrenen Weise über das Verhältnis von Kapital und Arbeit radebrecht, unternimmt es, den deutschen Arbeitern einen neuen und bessern Weg weisen zu wollen, und gibt sich aus für den „Baumeister", der „sich über das architektonische Gefüge der zukünftigen Gesellschaft wenigstens im ganzen und großen klar" ist? Niemand ist näher „an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft herangetreten" als Marx im „Kapital". Er hat fünfundzwanzig Jahre darauf verwandt, sie nach allen Seiten hin zu untersuchen, und die Resultate seiner Kritik enthalten überall ebenfalls die Keime der sogenannten Lösungen, soweit solche überhaupt heutzutage möglich sind. Das aber genügt Freund Mülberger nicht. Das ist alles abstrakter Sozialismus, tote abstrakte Formeln. Statt die „bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft" zu studieren, begnügt sich Freund Mülberger mit der Lektüre einiger Bände Proudhon, die ihm zwar so gut wie nichts über die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft bieten, dagegen aber sehr bestimmte konkrete Wunderkuren für alle gesellschaftlichen Übel, und bringt diesen fertigen sozialen Rettungsplan, dies Proudhonsche System, vor die deutschen Arbeiter unter dem Vorwand, er wolle „den Systemen Adieu sagen", während ich „den umgekehrten Weg wähle!" Um dies zu begreifen, muß ich annehmen, daß ich blind bin und Mülberger taub, so daß eine jede Verständigung zwischen uns rein unmöglich ist.
Genug. Wenn diese Polemik zu weiter nichts dient, so hat sie jedenfalls das Gute, den Beweis geliefert zu haben, was es mit der Praxis dieser sich so nennenden „praktischen" Sozialisten auf sich hat. Diese praktischen Vorschläge zur Beseitigung aller sozialen Übel, diese gesellschaftlichen Allerweltsheilmittel, sind stets und überall das Fabrikat von Sektenstiftern gewesen, die zu einer Zeit auftraten, wo die proletarische Bewegung noch in ihrer Kindheit lag. Auch Proudhon gehört zu ihnen. Die Entwicklung des Proletariats wirft diese Kinderwindeln bald beiseite und erzeugt in der Arbeiterklasse selbst die Einsicht, daß nichts unpraktischer ist, als diese vorher ausgeklügelten, auf alle Fälle anwendbaren „praktischen Lösungen", und daß der praktische Sozialismus vielmehr in einer richtigen Erkenntnis der kapitalistischen Produktionsweise nach ihren verschiednen Seiten hin besteht. Eine Arbeiterklasse, die hierin Bescheid weiß, wird im gegebnen Falle nie in Verlegenheit sein, gegen welche sozialen Institutionen und in welcher Weise sie ihre Hauptangriffe zu richten hat.
Karl Marx
An den Redakteur der „Times"
[„The Times" Nr.27577 vom 3. Januar 1873]
Sir, Man macht mich auf eine Notiz in der heutigen „Times" aufmerksam, betitelt „Karl Marx und die Internationale". Dort wird behauptet, der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation habe bei seiner Aufforderung an die verschiedenen Föderationen und Sektionen, die durch den Generalrat zu ernennenden Bevollmächtigten selber vorzuschlagen, erklärt, daß es
„unbedingt notwendig sei, gleichzeitig eine genaue Abschrift an Karl Marx nach London zu senden. Die Absicht dabei sei, daß nur die Personen ein Beglaubigungsschreiben erhielten, die Karl Marx genehm wären und durch ihn bestätigt würden, und da diese Vertreter natürlich ständig mit ihm in Verbindung stehen müßten, werde er im Grunde genommen der Autokrat dieser Bewegung sein." Das fragliche Zirkular ist mit anderen zusammen im Leipziger „Volksstaat" vom 25.Dezember veröffentlicht.1235 ] Es fordert die deutschen Mitglieder der Assoziation auf, eine Abschrift ihrer Vorschläge zwecks Feststellung der Authentizität an den früheren korrespondierenden Sekretär für Deutschland (das heißt an mich) zu senden. Es ist einleuchtend, daß der neue Generalrat weder diePersonen noch ihre Handschrift kennen kann. Der von mir verlangte Dienst erschien dem New-Yorker Generalrat so selbstverständlich, daß man sich mit mir über diese Angelegenheit nicht einmal vorher in Verbindung setzte. Mit der Feststellung der Authentizität von Vertretern für die anderen Länder, wo die freie Organisation der Internationale auf gesetzliche Hindernisse stößt, habe ich überhaupt nichts zu tun.
In der Notiz wird ferner mitgeteilt:
„In Frankreich schließen diese Vertreter Mitglieder ohne Untersuchung aus und lösen Sektionen, Komitees und Föderationen nach Belieben auf." Ihr Korrespondent wird erklären müssen, wie diese Vertreter all diese Greuel begehen können, bevor ein einziger von ihnen ernannt worden ist. Wenn in Frankreich Personen aus der Internationale ausgeschlossen worden sind, so ist das durch die lokalen Sektionen erfolgt und keineswegs durch den New-Yorker Generalrat.
Ich verbleibe, Sir, Ihr ergebener Diener Karl Marx
2. Januar
Aus dem Englischen.
19 Marx/Engels, Werte, Bd. 18
Friedrich Engels
Die „Krisis" in Preußen
[„Der Volksstaat" Nr. 5 vom 15. Januar 1873] In der Tat, die „große Nation" Frankreich ist durch die „große Nation" Deutschland mit Recht verdrängt worden. In Versailles entsteht eine politische Krisis, weil die französischen Krautjunker sich verschwören, die Monarchie an die Stelle der bestehenden Republik zu setzen; in Berlin bricht gleichzeitig eine Krisis aus, weil die preußischen Krautjunker die ihnen, achtzig Jahre nach der Französischen Revolution, noch immer zustehende altfeudale gutsherrliche Polizei nicht opfern wollen. Kann man noch einen Augenblick zweifeln an der Überlegenheit der deutschen „Kultur" über die französische Zivilisation? Die Franzosen zanken sich, mit gewohnter Oberflächlichkeit, über bloße Formen wie Republik und Monarchie. Die gründlichen Preußen gehn der Sache auf den Grund, indem sie endlich, endlich, 1872, die letzten in Europa außer Mecklenburg und Rußland, die Grundlage der Gesellschaft, das Sitzfleisch der Bauern, vor gutsherrlichen Stockprügeln in Sicherheit bringen - oder auch nicht! Nichts ist bezeichnender für die erbärmliche Haltung der preußischen Bourgeoisie als diese ganze Kreisordnungsposse'232'. 1848 hatte Preußen seine Revolution; die Bourgeoisie hatte die Macht in der Hand; die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung - gleichviel welche - hätte hingereicht, sie ihr zu erhalten. Der Schrecken bei den Feudalen und Bürokraten war so groß, daß damals die Abschaffung der noch bestehenden Reste des Feudalismus selbstredend schien. In der Tat enthielten die ersten Verfassungsentwürfe von 1848 und selbst 1849, wenn auch in gewohnter miserabler Form, doch alles Wesentliche in dieser Richtung. Der allergeringste Widerstand der Bourgeoisie hätte hingereicht, die Wiederkehr der Feudal
rechte unmöglich zu machen; außer den paar Krautjunkern lag ja niemand etwas daran als dem Romantiker Friedrich Wilhelm IV. Aber kaum hatte die europäische Reaktion gesiegt, da kroch die preußische Bourgeoisie zu den Füßen Manteuffels und erwiderte jeden seiner Peitschenhiebe mit dankerfülltem Schweifwedeln. Nicht nur, daß sie den ostelbischen Junkern Gutspolizei und allerhand andern feudalen Plunder zurückgab; sie züchtigte sich selbst für ihren sündhaften Liberalismus, indem sie sogar die 1808 hergestellte Gewerbefreiheit eigenhändig vernichtete und mitten im neunzehnten Jahrhundert die Zünfte wiederherstellte.12361 Die Bourgeoisie ist, im besten Falle, eine unheroische Klasse. Selbst ihre glänzendsten Errungenschaften, die englischen des 17. und die französischen des 18. Jahrhunderts, hat nicht sie sich erkämpft, sondern die plebejische Volksmasse für sie, die Arbeiter und Bauern. Auch in Frankreich hat die Bourgeoisie aus den Schrecken der Junitage 1848 sich gerettet, indem sie sich einem Komödianten zu Füßen warf; auch in England trat nach 1848 eine lange Periode der Reaktion ein; aber in beiden Ländern stützte sich diese Reaktion auf den Vorwand, die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft vor den Angriffen des Proletariats zu schützen. In Preußen war das Resultat der Revolution, dem Romantiker Friedrich Wilhelm IV. endlich die Erfüllung seiner mittelalterlichen Herzenswünsche zu erlauben, indem die siegreiche Reaktion eine Menge antiromantischer Institutionen wegschwemmte, die von Friedrich II. an bis Stein und Hardenberg sich in den preußischen Staat eingeschmuggelt hatten. Unter dem Vorwande, die bürgerliche Gesellschaft vor dem Proletariat zu schützen, wurde sie wieder unter die Herrschaft des Feudalismus gestellt. Keine Bourgeoisie der Welt kann sich einer solchen Schmachperiode rühmen wie die von der preußischen unter Manteuffel durchgemachte. In welchem andern Lande wäre es möglich gewesen, einen Hinckeldey als Vorkämpfer und Märtyrer der Freiheit zu feiern?12371 Endlich kommt, infolge sich durchkreuzender Palastintrigen, die Neue /Ira'238'. Ein altliberales Ministerium fällt der Bourgeoisie unverhofft in den Schoß. Und sie, die keinen Finger gerührt hatte, um es ins Leben zu rufen, sie, die feigste aller Bourgeoisien, bildet sich plötzlich ein, sie sei am Staatsruder, der alte preußische Militär- und Polizeistaat sei verschwunden, sie könne Minister ein- und absetzen und dem Hof ihren Willen auftrotzen. Hatte die Manteuffelsche Periode ihre Feigheit bewiesen, so deckte die Neue Ära ihre politische Unfähigkeit auf. Der Preis, um den das altliberale Ministerium zugelassen wurde, war die Durchführung der Armee-Reorganisation. Der italienische Krieg1239' gab
den erwünschten Anlaß, sie vom Landtage zu verlangen. Einerseits hatte die Mobilmachung von 1859 bewiesen, daß die alte Armee-Organisation sich total überlebt hatte. Andererseits bewies die Gleichgültigkeit, mit der in Frankreich die Annexation von Savoyen und Nizza hingenommen worden, daß der französische Chauvinismus nur durch Aussicht auf Eroberungen am Rhein wirksam in Bewegung zu setzen sei, d.h. durch einen Krieg gegen Preußen. Es stand also fest, sobald Louis Bonapartes Kaisertum wieder, durch innere Ereignisse in Frankreich, in Gefahr kam, diese Gefahr nur abzuleiten sei durch einen Krieg gegen Preußen, der, ohne Allianzen, nur die Niederlage der alten preußischen Armee zur Folge haben konnte. Andererseits hatte Preußen, obwohl selbst wesentlich Militärstaat, die Notwendigkeit der modernen großen Armeen nicht geschaffen. Dazu war es zu schwach. Aber es konnte sich der allgemeinen kontinentalen Notwendigkeit um so weniger entziehen, als seine zweideutige „Politik der freien Hand" ihm alle verläßlichen Allianzen abgeschnitten hatte. Und endlich, mochte die Armee-Reorganisation sein wie sie wollte, die preußische Bourgeoisie mußte wissen, daß sie sie nicht verhindern konnte. Ihr einzig richtiger Operationsplan konnte also nur darin bestehen, gegen Bewilligung der unvermeidlichen Reorganisation sich soviel politische Konzessionen wie nur möglich zu erschachern. Aber der preußischen Bourgeoisie, noch braun und blau wie sie war von den Fußtritten des Manteuffelschen Regiments, war über Nacht der Kamm geschwollen. Sie kam sich plötzlich vor als die entscheidende Macht im Staat; sie verwarf die Armee-Reorganisation. Damit war der Traum wieder zu Ende. Bismarck kam, sie zu belehren, daß ihre papierne Verfassung und ihre Kammerabstimmungen einfach leeres Stroh seien, daß in Preußen der König regiere und daß die Kammern nur zum Jasagen da seien. Die Armee-Reorganisation wurde trotz der Verfassung durchgeführt und die Abgeordneten wieder ä la Manteuffel behandelt. Nach einem kurzen Scheinwiderstand, den sie selbst eher müde wurde als ihr Gegner Bismarck, fand die Bourgeoisie im dänischen Krieg'2401 den ersten Vor wand zu schamhaften Versöhnungsversuchen; und nach Sadowa'241' genierte sie sich durchaus nicht mehr und sank begeistert zu Füßen Bismarcks nieder und figurierte jetzt nur noch in seinem Gefolge; nach dem französischen Krieg'242' kannte ihre Begeisterung keine Grenzen mehr, von da an gehörte sie Bismarck mit Leib und Seele, sie war in ihm förmlich ausgelöscht. Aber es gibt ein Ding in der Welt, das Hegel entdeckt und „die Ironie der Geschichte" genannt hat. Diese Ironie der Geschichte hat mit größeren Leuten als Bismarck ihr Spiel getrieben, und auch der preußische Staat und
Bismarck sind ihr verfallen. Von dem Augenblick an, wo die langersehnten Ziele der preußischen Politik eins nach dem andern erreicht wurden, von dem Augenblick an begannen die Grundlagen des preußischen Staates zu wackeln. Das alte Preußen beruht wesentlich auf dem Junkertum, aus dem Offiziere und Bürokratie sich hauptsächlich ergänzen. Das Junkertum existiert in voller Blüte nur in den sechs östlichen Provinzen und bedarf, bei dem meist beschränkten Grundbesitz der Junker, eines gewissen Maßes feudaler Vorrechte zu seiner Existenz; ohne diese würden die meisten Junker bald zu einfachen Gutsbesitzern herabsinken. Solange ihm nur zwei westliche Provinzen gegenüberstanden, lief das Junkertum keine Gefahr. Aber schon die Annexationen von 186612431 verstärkten das bürgerliche und bäuerliche Element im Staate in gewaltigem Maß. Es war nicht bloß legitimistische Flause, es war weit mehr das richtige Bewußtsein der eigenen gefährdeten Stellung, das den Widerstand der Partei Stahl-Gerlach12441 gegen diese Annexionen hervorrief. Die Einfügung der Kleinstaaten in den Norddeutschen Bund[245!, die Übertragung der entscheidenden Staatsfunktionen an diesen Bund, die damit verbundene Mediatisierung des preußischen Herrenhauses, der endliche Anschluß der Südstaaten - alles das waren ebensoviel harte Schläge für das Junkertum, das im Reich nur noch eine verschwindende Minorität bildete. Damit nicht genug. Jede Regierung, auch die despotischste, ist gezwungen, mit Rücksicht auf die bestehenden Verhältnisse zu regieren, sonst bricht sie sich selbst den Hals. Preußen konnte Kleindeutschland sich unterwerfen, aber es konnte nicht sein Junkertum fünfundzwanzig Millionen westelbischen Deutschen aufzwingen. Im Gegenteil: Das Junkertum, für das alte Preußen ein Bedürfnis, wurde für das „Reich" ein Hemmschuh. Wie Bismarck genötigt gewesen war, die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit zwischen den Einzelstaaten und andere bürgerliche Reformen - freilich in bürokratisch verstümmelter Form - gegen seine frühern Ansichten durchzuführen, so verurteilte ihn die Ironie der Geschichte endlich dazu, ihn, den Junker par excellence, die Axt ans Junkertum zu legen durch die Kreisordnung.
Diese Kreisordnung ist eins der jammervollsten Gesetze, die je gemacht worden. Ihr Inhalt läßt sich in zwei Worten zusammenfassen. Sie nimmt dem einzelnen Junker die ihm kraft feudalen Vorrechtes zustehende Macht, um sie, unter dem Schein der Selbstverwaltung der Kreise, der Junker^/asse wiederzugeben. Nach wie vor wird der größere und große Grundbesitz in den Ackerbaudistrikten der östlichen Provinzen herrschen; er erhält sogar neuen Machtzuwachs durch Zureihung von Befugnissen, die bisher dem Staat zukamen. Aber der einzelne Junker verliert die Ausnahmsstellung,
die er als Feudalherr hatte. Er sinkt herab zum einfachen modernen Gutsbesitzer - und damit hört er auf, Junker zu sein. Damit ist aber auch die Grundlage des alten Preußens untergraben, und daher hatte das Herrenhaus von seinem Standpunkt ganz recht mit seinem Widerstand gegen die Kreisordnung. Mit der Kreisordnung kein Junkertum, und ohne Junkertum kein spezifisches Preußen mehr. Die preußische Bourgeoisie blieb sich in dieser Angelegenheit ihrer würdig. Erst hieß es, die Kreisordnung sei nur eine Abschlagszahlung auf die Selbstverwaltung, man müsse sie nehmen, weil man zur Zeit nichts Besseres erreichen könne, sie sei ein Kompromiß mit der Regierung, aber man dürfe sich nun auch keinen Zollbreit mehr abhandeln lassen. Das Herrenhaus verwirft die Kreisordnung. Die Regierung, obwohl schon durch den Kompromiß gegenüber dem Abgeordnetenhause gebunden, verlangt von diesem neue Zugeständnisse. Das Haus ist mutig genug, sie ohne weiteres zu bewilligen; dafür wird den Bourgeois ein Pairsschub12461 versprochen und eine Reform des Herrenhauses in Aussicht gestellt. Der Pairsschub erfolgt - fünfundzwanzig Generale und Bürokraten -, das Herrenhaus nimmt an. Der Kompromiß ist gerettet, aber - die Reform des Herrenhauses ist beseitigt. Man tröstet sich eben damit, daß die Kreisordnung doch ein ganz gewaltiger Fortschritt sei - da kommt die Nachricht von der Ministerkrisis. Roon, Selchow, Itzenplitz wollen abdanken - Sieg der Liberalen auf der ganzen Linie - Unvermeidlichkeit eines liberalen? - nein, das grade nicht, eines - einheitlichen Ministeriums! Unsere Bourgeois sind so genügsam! Sie begnügen sich sogar mit noch weniger. Bismarck gibt die Ministerpräsidentschaft ab, Roon, der Gegner der Kreisordnung, tritt an seine Stelle, noch ein anderer General tritt ins Ministerium, Selchow und Itzenplitz bleiben, das einheitliche Ministerium ist weniger einheitlich als je, die feudalen Elemente darin sind verstärkt, und der Bourgeois trinkt seinen Schoppen ruhig weiter im stolzen Bewußtsein, daß Bismarck schließlich doch die Seele des Ganzen ist. Dies Exempel zeichnet genau die Stellung der preußischen Bourgeoisie. Sie rechnet es sich zum Verdienst an, daß Bismarck durch die geschichtliche Lage, in die er Preußen versetzt hat, und durch den industriellen Fortschritt der letzten zwanzig Jahre gezwungen wird, das zu tun, was sie selbst 1848 bis 1850 zu feig war durchzusetzen. Sie hat nicht einmal den Mut, ihren Bismarck zu zwingen, diese kleinen Reformen einfach, offen bürgerlich, ohne polizeistaatliche Verhunzung durchzuführen; sie jubelt laut auf, daß Bismarck genötigt ist, ihre eignen Forderungen von 1846[247) zu - kastrieren. Und zwar, wohlgemerkt, nur ihre ökonomischen Forderungen ~ Dinge,
deren Durchführung tausend Bismarcks nicht verhindern könnten, selbst wenn sie wollten. Von politischen Forderungen, von Übertragung der politischen Macht an die Bourgeoisie, ja davon ist höchstens noch anstandshalber die Rede. Die preußische Bourgeoisie will die politische Herrschaft nicht; faul vor der Reife, wie das offizielle Rußland schon zu Voltaires Zeit, ist sie, ohne je geherrscht zu haben, bereits auf derselben Stufe der Entartung angekommen, die die französische Bourgeoisie nach achtzigjährigen Kämpfen und nach langer Herrschaft erreicht hat. Panem et circenses, Brot und Schaustücke, verlangte das verkommene römische Plebejertum von seinen Kaisern; panem et circenses, Schwindelprofit und brutalen Luxus, verlangt nicht das preußische Volk, sondern die preußische Bourgeoisie von den seinigen. Die römischen Plebejer mitsamt ihren Kaisern wurden weggeschwemmt von den germanischen Barbaren; hinter den preußischen Bourgeois erheben sich drohend die deutschen Arbeiter.
Geschrieben Anfang Januar 1873.
Karl Marx
[Antwort auf das neue Zirkular der angeblichen Majorität des Britischen Föderalrats12481]
[„The International Herald" Nr.43 vom 25. Januar 1873] Das neue Zirkular der angeblichen Majorität des B[ritish] F[ederal] C[ouncil]1 gibt vor, eine Erwiderung auf die zwei Zirkulare des B. F. C. und der Manchester Foreign Section2 zu sein. In Wirklichkeit widerlegt es nicht einen einzigen in diesen Zirkularen angeführten Punkt. Es versucht nur, seinen Lesern durch persönliches Geschwätz, Verleumdung und Lügen Sand in die Augen zu streuen, wobei es mit dem unvermeidlichen Mangel an Kenntnis der Geschichte der Internationale seitens der neu gebildeten Sektionen rechnet. Es ist sehr charakteristisch, daß von sechs Mitgliedern des Exekutivkomitees, deren Unterschriften am Ende dieses Zirkulars erscheinen, zwei, die Herren Jung und Pape, keinen locus standi3 mehr im B.F.C. haben. Sie waren Delegierte, der erste für Middlesbrough, der zweite für Nottingham, und eine der obigen Sektionen hat die Vollmacht zurückgezogen, während die andere das Manifest einstimmig abgelehnt hat. Wir werden nur einige Beispiele anführen, die die Unverschämtheit der Behauptungen des fraglichen Dokuments kennzeichnen. In bezug auf die sogenannten amtlichen Berichte wird gesagt: „Es ist keine Liste der Delegierten nach Den Haag gegeben worden, obwohl die Zirkulare glatt von ,64' sprechen." Der hier erwähnte Bericht ist nur eine amtliche Ausgabe der vom Kongreß angenommenen Resolutionen[249J, und die Delegiertenliste - die bereits in Den Haag gedruckt und in den meisten Zeitungen auf dem Kontinent, sei es der Internationale, sei es der bürgerlichen Presse, nachgedruckt worden ist - dürfte hier fehl am Platz gewesen sein. Außerdem bringt der Bericht
1 Britischen Föderalrats - 2 siehe vorl. Band, S. 197-207 - 3 festen Platz.
für jede Abstimmung die Stimmenzahl und da, wo namentliche Abstimmung erfolgte, auch die Namen. „Resolutionen sind unterdrückt oder gefälscht worden - z.B. sollte die Resolution bezüglich des Beitrags an den Generalrat diesen Beitrag auf 1 sh. jährlich für jedes Mitglied der Assoziation, einschließlich der Trade-Unions, erhöhen." Der amtliche Bericht konstatiert in Punkt 2 unter der Überschrift „An den Generalrat zu zahlende Beiträge": Im Hinblick auf die Forderungen, den Betrag dieser Beiträge einerseits zu erhöhen und andererseits zu ermäßigen, hat der Kongreß den Beitrag von 1 d. mit 17 gegen 12 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen beibehalten.1 Was ist da unterdrückt? Was das „Fälschen" von Resolutionen betrifft, so sollen sie es wagen, eine einzige Resolution des Berichts zu bezeichnen, die nicht genau mit den Protokollen übereinstimmt. Wozu andererseits die Verfasser dieses Zirkulars auf dem Gebiet des „Fälschens" fähig sind, geht aus ihren Behauptungen über die Resolution des Kongresses bezüglich der politischen Wirksamkeit hervor. Erstens ist der Satz „Politische Macht zu erobern, ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen" wörtlich in die Resolution IX der Londoner Konferenz aus der Inauguraladresse der Internationale (1864) übernommen worden, obgleich sie behaupten, daß er vom Haager Kongreß erfunden worden sei. Zweitens behaupten die Autoren des Zirkulars, daß es eine falsche Übersetzung wäre, das französische „doit servir" durch das englische „ought to serve"2 wiederzugeben. Wenn ein Fehler gemacht worden wäre, so hätte ihn der alte Generalrat in der amtlichen englischen Übersetzung des französischen Originaltextes der Konferenz-Resolutionen gemacht. Aber es liegt kein Fehler vor. Da die Autoren des Zirkulars weder mit dem Englischen noch mit dem Französischen auf bestem Fuße zu stehen scheinen, müssen wir sie auf irgendein bekanntes Wörterbuch verweisen, z.B. auf „Boyer's Englisch-Französisches Wörterbuch, Paris, Bandry, 1854", unter ought „ought to be so - cela doit etre ainsi"3. Um die Feststellung zu widerlegen, daß die Haager Resolutionen in Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn, Portugal, Amerika, Dänemark, Polen und der Schweiz voll bestätigt worden sind, fordert das Zirkular von John Haies die Adressen der Sekretäre dieser verschiedenen Länder. Was Deutschland betrifft, braucht er nur den „Volksstaat" und ein halbes Dutzend anderer Arbeiterzeitungen anzusehen; was Österreich und Ungarn angeht, den „Volkswillen", Portugal den „Pensamento Social", Dänemark
den „Socialisten", Spanien die „Emancipacion", Holland „De Werkman", Italien die „Plebe", die Schweiz die „Egalite" und die „Tagwacht"[2501. Was Amerika betrifft, so ernannte im vergangenen Jahr die einzige dort existierende Arbeiterföderation dieselben Männer für ihren Föderalrat, die jetzt den Generalrat bilden. Hinsichtlich Polens und Frankreichs werden die Adressen der jeweiligen Korrespondenten gewiß nicht der Diskretion von John Haies und Konsorten anvertraut werden. Was den „spontanen" Charakter der sezessionistischen Bewegung angeht, so ist die einfache Tatsache die: der im vorigen September in SaintImier in Opposition zum Haager Kongreß der Internationale abgehaltene Kongreß nahm eine offizielle Resolution an, diese Bewegung überall zu organisieren, indem man „mit allen Sektionen und Föderationen zu einer sofortigen Vereinbarung kommt", die der Sezession gewogen sind, um einen sezessionistischen „internationalen Kongreß innerhalb spätestens sechs Monaten" durchführen zu können.
Geschrieben Mitte Januar 1873. Aus dem Englischen.
Karl Marx Der politische Indifferentismus125"
„Die Arbeiterklasse darf sich nicht als politische Partei konstituieren, sie darf unter keinem Vorwand eine politische Aktion unternehmen, weil der Kampf gegen den Staat die Anerkennung des Staats ist, und das steht im Widerspruch zu den ewigen Prinzipien! Die Arbeiter dürfen keine Streiks führen, denn Kräfte vergeuden, um die Erhöhung des Arbeitslohnes zu erreichen oder seine Kürzung zu verhindern, heißt das System der Lohnarbeit anerkennen, und das steht im Widerspruch zu den ewigen Prinzipien der Befreiung der Arbeiterklasse! Wenn sich die Arbeiter in ihrem politischen Kampf gegen den bürgerlichen Staat vereinigen, nur um Konzessionen zu erreichen, dann schließen sie Kompromisse, und das steht im Widerspruch zu den ewigen Prinzipien! Man muß daher jede friedliche Bewegung verdammen, wie sie die englischen und amerikanischen Arbeiter aus schlechter Gewohnheit unternehmen. Die Arbeiter sollen nicht ihre Kräfte vergeuden, um eine legale Grenze des Arbeitstages zu erreichen, denn das heißt, Kompromisse mit den Unternehmern schließen, die dann die Arbeiter nur noch 10 oder 12 Stunden statt 14 oder 16 ausbeuten könnten. Desgleichen sollen sie sich nicht bemühen, das gesetzliche Verbot der Fabrikarbeit von Mädchen unter zehn Jahren zu erreichen, denn durch dieses Mittel wird noch nicht die Ausbeutung der Knaben unter zehn Jahren aufgehoben; sie gehen dadurch einen neuen Kompromiß ein, und das verstößt gegen die Reinheit der ewigen Prinzipien! Noch weniger dürfen die Arbeiter verlangen, daß, wie es in der amerikanischen Republik geschieht, der Staat, dessen Budget auf Kosten der Arbeiterklasse aufgestellt wird, verpflichtet werden soll, den Kindern der Arbeiter Grundschulbildung zu gewähren, denn Grundschulbildung ist noch nicht Universalbildung. Es ist besser, wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen können, als daß sie den
Unterricht von einem Lehrer einer staatlichen Schule bekommen. Es ist bedeutend besser, wenn Unwissenheit und eine tägliche Arbeit von 16 Stunden die Arbeiterklasse abstumpfen, als daß die ewigen Prinzipien verletzt werden! Wenn der politische Kampf der Arbeiterklasse gewaltsame Formen annimmt, wenn die Arbeiter an Stelle der Diktatur der Bourgeoisie ihre revolutionäre Diktatur setzen, dann begehen sie das schreckliche Verbrechen derPrinzipienverletzung, weil sie um der Befriedigung ihrer kläglichen profanen Tagesbedürfnisse willen, um der Brechung des Widerstandes der Bourgeoisie willen, dem Staate eine revolutionäre und vorübergehende Form geben, statt die Waffen niederzulegen und den Staat abzuschaffen. Die Arbeiter dürfen keine einzelnen Gewerksgenossenschaften für jeden Beruf bilden, weil sie damit die gesellschaftliche Arbeitsteilung, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft existiert, verewigen; diese Arbeitsteilung, die die Arbeiter trennt, ist doch die wirkliche Grundlage ihrer Sklaverei. Mit einem Wort, die Arbeiter sollen die Hände verschränken und ihre Zeit nicht für politische und ökonomische Bewegungen verschwenden. All diese Bewegungen können ihnen nichts als unmittelbare Resultate bringen. Als wirklich religiöse Leute müssen sie, die Tagesbedürfnisse verachtend, voller Glauben ausrufen: ,Gekreuziget werde unsere Klasse, untergehen möge unsere Rasse, doch die ewigen Prinzipien müssen makellos bleiben!' Wie fromme Christen müssen sie den Worten des Priesters glauben, die Güter dieser Erde verachten und nur danach trachten, das Paradies zu gewinnen. Lesen sie statt Paradies die soziale Liquidation, die an einem schönen Tag in irgendeinem Krähwinkel der Welt vor sich gehen wird, niemand weiß, wie und von wem verwirklicht, und die Mystifikation ist voll und ganz dieselbe. In Erwartung dieser famosen sozialen Liquidation muß sich also die Arbeiterklasse wie eine Herde wohlgenährter Schafe anständig benehmen, die Regierung in Ruhe lassen, die Polizei fürchten, die Gesetze achten und ohne Murren das Kanonenfutter liefern. In ihrem alltäglichen praktischen Leben müssen die Arbeiter die gehorsamsten Diener des Staats sein, in ihrem Innern aber müssen sie auf das energischste gegen seine Existenz protestieren und ihm ihre tiefe theoretische Verachtung durch Kaufen und Lesen von literarischen Traktaten über die Abschaffung des Staats bekunden; sie müssen sich aber hüten, der kapitalistischen Ordnung einen anderen Widerstand entgegenzusetzen als Deklamationen über die Gesellschaft der Zukunft, in der die Existenz dieser verhaßten Ordnung aufhören wird!"
Niemand wird bestreiten, daß die Apostel des politischen Indifferentismus, hätten sie sich so klar ausgesprochen, von der Arbeiterklasse längst zum Teufel gejagt worden wären; die Arbeiterklasse hätte das als Beleidigung doktrinärer Bourgeois und verkommener Edelleute aufgefaßt, die so dumm oder so naiv sind, ihr jedes reale Kampfmittel zu verweigern, weil man all diese Kampfmittel der heutigen Gesellschaft entnehmen muß und weil die fatalen Bedingungen dieses Kampfes das Unglück haben, sich nicht den idealistischen Phantasien anzupassen, die diese Doktoren der Sozialwissenschaft unter den Namen Freiheit, Autonomie, Anarchie zur Gottheit erhoben haben. Doch ist jetzt die Bewegung der Arbeiterklasse so stark, daß diese philanthropischen Sektierer nicht mehr den Mut haben, über den ökonomischen Kampf dieselben großen Wahrheiten zu wiederholen, die sie unaufhörlich über den politischen Kampf proklamierten. Sie sind zu feige, um diese Wahrheiten auch auf die Streiks, Koalitionen, Gewerksgenossenschaften, auf die Gesetze über Frauen- und Kinderarbeit, über die Beschränkung des Arbeitstages etc. etc. anzuwenden. Sehen wir nun zu, inwieweit sie sich auf die guten Traditionen, auf die Scham, auf die Ehrlichkeit, auf die ewigen Prinzipien berufen können! Die ersten Sozialisten (Fourier, Owen, Saint-Simon etc.) mußten sich da die sozialen Verhältnisse noch nicht genug entwickelt waren, um der Arbeiterklasse die Konstituierung als politische Partei zu ermöglichen - auf Träume von der Mustergesellschaft der Zukunft beschränken und alle Versuche, wie Streiks, Koalitionen, politische Aktionen, verurteilen, die von Arbeitern unternommen worden waren, um ihre Lage etwas zu verbessern. Wenn wir aber kein Recht haben, diese Patriarchen des Sozialismus zu verleugnen, ebensowenig wie die modernen Chemiker das Recht haben, ihre Väter, die Alchimisten, zu verleugnen, müssen wir uns doch hüten, in ihre Fehler zurückzufallen, die, würden sie von uns begangen, unverzeihlich wären. Dennoch veröffentlichte viel später, im Jahre 1839, als der politische und ökonomische Kampf der Arbeiterklasse in England einen schon stark ausgeprägten Charakter annahm, Bray, einer der Schüler Owens und einer derjenigen, die schon lange vor Proudhon den Mutualismus entdeckten, ein Buch: „Labour's wrongs and labour's remedy" (Der Arbeit Übel und der Arbeit Heilmittel). In einem der Kapitel über die Unwirksamkeit aller Heilmittel, die man durch den Gegenwartskampf erreichen will, gibt er eine bittere Kritik sowohl aller ökonomischen wie der politischen Bewegungen der englischen Arbeiter; er verurteilt die politische Bewegung, die Streiks, die Verkürzung der
Arbeitszeit, die Regulierung der Fabrikarbeit der Frauen und Kinder, weil uns alles das, seiner Meinung nach, statt aus dem heutigen Zustand der Gesellschaft hinauszuführen, nur an diesen kettet und die Gegensätze nur noch weiter verschärft. Und jetzt kommen wir zu dem Orakel jener Doktoren der Sozialwissenschaft, zu Proudhon. Während der große Meister den Mut aufbrachte, sich energisch gegen alle ökonomischen Bewegungen (Koalitionen, Streiks etc.) auszusprechen, die zu den erlösenden Theorien seines Mutualismus im Widerspruch standen, aber dennoch durch seine Schriften und seine persönliche Teilnahme den politischen Kampf der Arbeiterklasse förderte, wagen es seine Schüler nicht, gegen die Bewegung offen aufzutreten. Bereits 1847, zu einer Zeit, als das große Werk des Meisters, das „System der ökonomischen Widersprüche" 12201 erschien, habe ich alle seine Sophismen gegen die Arbeiterbewegung widerlegt.* Aber im Jahre 1864, nach Annahme der Lex Ollivier, eines Gesetzes, das, wenn auch in sehr beschränktem Maße, den französischen Arbeitern das Koalitionsrecht gewährte, kehrte Proudhon in seinem Buche „Die politischen Fähigkeiten der Arbeiterklassen", das einige Tage nach seinem Tode veröffentlicht wurde, wieder zum selben Thema zurück. Die Angriffe des Meisters waren so sehr nach dem Geschmack der Bourgeois , daß die „Times " anläßlich des großen Streiks der Londoner Schneider im Jahre 1866 Proudhon die Ehre erwies, ihn zu übersetzen und die Streikenden mit seinen eigenen Worten zu verurteilen. Hier einige Beispiele dafür. Die Bergarbeiter von Rive-de-Gier waren in einen Streik getreten; um sie zur Vernunft zu bringen, eilten Soldaten herbei. „Die Behörde", ruft Proudhon aus, „welche die Bergarbeiter von Rive-de-Gier niederschießen ließ, befand sich in einer unglücklichen Situation. Aber sie handelte wie der alte Brutus, als er sich für seine väterliche Liebe oder für seine Pflicht als Konsul zu entscheiden hatte; er mußte seine Kinder opfern, um die Republik zu retten. Brutus zögerte nicht, und die Nachwelt hat nicht gewagt, ihn deswegen zu verdammen." **
* Siehe in dem Büchlein „Misere de la philosophie. Reponse ä la philosophie de la misere de M.Proudhon" (Paris, A.Frank, 1847), Kapitel II, § 5, „Les greves et les coalitions des ouvriers"1. "'* Proudhon, P.-J. „De la capacite politique des classes ouvrieres", Paris, Lacroix & Co, 1868, p.327.
Kein Arbeiter wird sieb erinnern, daß ein Bourgeois jemals gezögert hätte, seine Arbeiter zu opfern, um seine Interessen zu retten. Was für Brutusse sind doch die Bourgeois! „Nein, es gibt ebensowenig ein Recht auf Koalition, wie es ein Recht auf Betrug und Diebstahl gibt, ebensowenig wie es ein Recht auf Blutschande oder Ehebruch gibt."* Man muß jedoch sagen, daß es gewiß ein Recht auf Dummheit gibt. Was sind das nun für ewige Prinzipien, in deren Namen der Meister seine Abrakadabra-Bannflüche schleudert? Erstes ewiges Prinzip: „Die Höhe des Arbeitslohnes bestimmt den Preis der Waren." Sogar diejenigen, die keine Ahnung von der politischen Ökonomie haben und nicht wissen, daß der große bürgerliche Ökonom Ricardo in seinem 1817 erschienenen Buche „Prinzipien der politischen Ökonomie" diesen traditionellen Irrtum ein für allemal widerlegt hat, kennen die bemerkenswerte Tatsache, daß die englische Industrie ihre Waren zu einem niedrigeren Preis als irgendein anderes Land verkaufen kann, während die Arbeitslöhne in England relativ höher sind als in irgendeinem anderen LandEuropas. Zweites ewiges Prinzip: „Das Gesetz, das die Koalitionen zuläßt, ist in höchstem Maße antijuristisch, antiökonomisch und widerspricht jeder Gesellschaft und jeder Ordnung." Mit einem Worte, „es widerspricht dem ökonomischen Recht der freien Konkurrenz". Wäre der Meister etwas weniger chauvin1 gewesen, so hätte er sich gefragt, wie es zu erklären sei, daß in England vor vierzig Jahren ein Gesetz erlassen wurde, das so dem ökonomischen Recht der freien Konkurrenz widerspricht, und wie es kommt, daß dieses Gesetz, das so jeder Gesellschaft und jeder Ordnung widerspricht, in dem Maße, wie sich die Industrie entwickelt und zugleich mit ihr die freie Konkurrenz, sich gerade den bürgerlichen Staaten als eine Notwendigkeit aufdrängt. Er hätte vielleicht entdeckt, daß dieses Recht (mit einem großen R) nur in den ökonomischen Lehrbüchern existiert, die von den unwissenden Brüdern der bürgerlichen politischen Ökonomie verfaßt sind, in denselben Lehrbüchern, die auch Perlen wie folgende enthalten: „Das Eigentum ist die Frucht der Arbeit" - anderer, vergessen sie hinzuzufügen.
* op. cit., p. 333
Drittes ewiges Prinzip: „So wird man unter dem Vorwand, die Arbeiterklasse aus einer sogenannten sozialen Erniedrigung herausführen, damit beginnen müssen, eine ganze Klasse von Bürgern zu verleumden: die Klasse der Herren, der Unternehmer, der Fabrikbesitzer und Bourgeois; man wird die werktätige Demokratie zur Geringschätzung und zum Haß gegen diese unwürdigen Bundesgenossen der Mittelklasse aufrufen; man wird der gesetzlichen Unterdrückung den Kampf in Handel und Industrie, der Staatspolizei den Klassenantagonismus vorziehen." * Um der Arbeiterklasse den Ausweg aus ihrer sogenannten sozialen Erniedrigung zu versperren, verdammt der Meister die Koalitionen, die die Arbeiterklasse zu einer Klasse konstituieren, welche der respektablen Kategorie der Fabrikherren, Unternehmer, Bourgeois feindlich gegenübersteht, jener Kategorie, die gewiß, wie Proudhon, die Staatspolizei dem Klassenantagonismus vorzieht. Um diese respektable Klasse vor jeder Unannehmlichkeit zu bewahren, empfiehlt der gute Proudhon den Arbeitern bis zum Aufkommen der mutualistischen Gesellschaft die „Freiheit oder Konkurrenz", die „trotz ihrer großen Übelstände" doch „unsere einzige Garantie" bildet.** Der Meister predigte den Indifferentismus auf ökonomischem Gebiet, um die Freiheit oder bürgerliche Konkurrenz, unsere einzige Garantie, zu beschützen; die Schüler predigen den Indifferentismus auf politischem Gebiet, um die bürgerliche Freiheit, ihre einzige Garantie, zu beschützen. Wenn die ersten Christen, die ebenfalls den politischen Indifferentismus predigten, der starken Hand eines Kaisers bedurften, um sich aus Unterdrückten in Unterdrücker zu verwandeln, so glauben die modernen Apostel des politischen Indifferentismus gar nicht daran, daß ihre ewigen Prinzipien ihnen die Enthaltung von weltlichen Genüssen und vergänglichen Privilegien der bürgerlichen Gesellschaft auferlegen. Wir müssen nichtsdestoweniger anerkennen, daß sie die 14 oder 16 Arbeitsstunden, die auf den Fabrikarbeitern lasten, mit einem Stoizismus ertragen, der der christlichen Märtyrer würdig ist.
London, Januar 1873 Karl Marx
Geschrieben Ende 1872/Anfang Januar 1873. Nach: „Almanacco Repubblicano per l'anno 1874", Aus dem Italienischen.
*op.cit.,p. 337-338
Friedrich Engels Von der Autorität112521
Einige Sozialisten haben in letzter Zeit einen regelrechten Kreuzzug gegen das eröffnet, was sie das Autoritätsprinzip nennen. Sie brauchen nur zu sagen, dieser oder jener Akt sei autoritär, um ihn zu verurteilen. Mit diesem summarischen Verfahren wird derart Mißbrauch getrieben, daß es nötig ist, die Angelegenheit ein wenig aus der Nähe zu betrachten. Autorität will in dem Sinn des Wortes, um den es sich hier handelt, soviel besagen wie: Überordnung eines fremden Willens über den unseren; Autorität setzt auf der anderen Seite Unterordnung voraus. Da nun diese zwei Worte einen üblen Klang haben und das Verhältnis, das sie zum Ausdruck bringen, für den untergeordneten Teil unangenehm ist, handelt es sich um die Frage, ob es nicht ein Mittel gibt, anders auszukommen; ob wir nicht unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen - einen anderen sozialen Zustand ins Leben rufen können, in dem diese Autorität keinen Sinn mehr hat und folglich verschwinden muß. Wenn wir die ökonomischen - industriellen und landwirtschaftlichen - Verhältnisse untersuchen, die die Grundlage der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft bilden, so finden wir, daß sie die Tendenz haben, die isolierte Tätigkeit mehr und mehr durch die kombinierte Tätigkeit der Individuen zu ersetzen. An die Stelle der kleinen Werkstätten isolierter Produzenten ist die moderne Industrie getreten, mit großen Fabriken und Werkstätten, in denen Hunderte von Arbeitern komplizierte, mit Dampf angetriebene Maschinen überwachen; die Fuhrwerke und Karren der großen Landstraßen sind abgelöst worden durch die Züge der Eisenbahn, wie die kleinen Ruderboote und Segelfeluken durch die Dampfboote. Maschinen und Dampf bringen selbst die Landwirtschaft nach und nach unter ihre Herrschaft, indem sie langsam aber sicher an die Stelle kleiner Eigentümer große Kapitalisten setzen, die mit Hilfe von Lohnarbeitern große Landflächen bebauen. Überall tritt die kombinierte Tätigkeit, die Komplizierung voneinander
20 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
abhängender Prozesse, an die Stelle der unabhängigen Tätigkeit der Individuen. Wer aber kombinierte Tätigkeit sagt, sagt Organisation; ist nun Organisation ohne Autorität möglich? Nehmen wir einmal an, eine soziale Revolution habe die Kapitalisten entthront, deren Autorität heutzutage die Produktion und die Zirkulation der Reichtümer lenkt. Nehmen wir, um uns ganz auf den Standpunkt der Antiautoritarier zu stellen, weiter an, der Grund und Boden und die Arbeitsinstrumente seien zum kollektiven Eigentum der Arbeiter geworden, die sich ihrer bedienen. Wird die Autorität dann verschwunden sein oder wird sie nur die Form gewechselt haben? Sehen wir zu. Nehmen wir als Beispiel eine Baumwollspinnerei. Die Baumwolle muß mindestens sechs aufeinanderfolgende Operationen durchlaufen, bevor sie die Gestalt des Fadens annimmt, Operationen, die - zum größten Teil in verschiedenen Sälen vor sich gehen. Außerdem braucht man, um die Maschinen in Gang zu halten, einen Ingenieur, der die Dampfmaschine überwacht, Mechaniker für die laufenden Reparaturen und viele ungelernte Arbeiter, die die Produkte von einem Saal in den anderen zu schaffen haben etc. Alle diese Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, sind gezwungen, ihre Arbeit zu einer Stunde zu beginnen und zu beenden, die von der Autorität des Dampfs festgesetzt ist, der sich keinen Deut um die individuelle Autonomie kümmert. Es ist also zuerst einmal nötig, daß die Arbeiter sich über die Arbeitsstunden einigen; sind diese Stunden einmal festgelegt, so ist jedermann ohne jede Ausnahme ihnen unterworfen. Weiterhin treten in jedem Saal und in jedem Augenblick Detailfragen über die Produktionsweise, die Verteilung des Materials etc. auf, Fragen, die sofort gelöst werden müssen, wenn nicht die gesamte Produktion im selben Augenblick zum Stehen kommen soll; ob sie nun auf Entscheid eines an die Spitze jedes Arbeitszweigs gestellten Delegierten gelöst werden oder, wenn dies möglich ist, durch Majoritätsbeschluß, stets wird sich doch der Wille eines jeden unterordnen müssen; das bedeutet, daß die Fragen autoritär gelöst sein werden. Der mechanische Automat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen. Wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft, kann man über die Tore dieser Fabriken schreiben: Laßt alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet![Z53! Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Erfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen diese sich an ihm, indem sie ihn, in dem Maße, wie er sie in seinen Dienst stellt, einem wahren Despotismus unterwerfen, der von aller sozialen Organisation unabhängig ist. Die Autorität in der Großindustrie abschaffen
wollen, bedeutet die Industrie selber abschaffen wollen; die Dampfspinnerei vernichten, um zum Spinnrad zurückzukehren. Nehmen wir als anderes Beispiel eine Eisenbahn. Auch hier ist die Kooperation einer Unmenge von Individuen absolut notwendig: eine Kooperation, die zu ganz bestimmten Stunden stattfinden muß, damit es zu keinem Unglück kommt. Auch hier ist die erste Bedingung des Betriebs ein dominierender Wille, der jede untergeordnete Frage beiseite schiebt, mag dieser Wille nun durch einen einzelnen Delegierten repräsentiert sein oder durch ein Komitee, dem die Ausführung der Beschlüsse einer Mehrheit von Interessenten übertragen ist. In dem einen wie in dem anderen Fall haben wir es mit einer ganz ausgesprochenen Autorität zu tun. Mehr noch: Was geschähe mit dem ersten abgehenden Zuge, wenn die Autorität der Bahnangestellten über die Herren Reisenden abgeschafft wäre? Aber die Notwendigkeit einer Autorität, und zwar einer gebieterischen Autorität, tritt am anschaulichsten bei einem Schiff auf hoher See zutage. Hier hängt, im Augenblick der Gefahr, das Leben aller davon ab, daß alle sofort und absolut dem Willen eines einzelnen gehorchen. Jedesmal, wenn ich dergleichen Argumente den wildesten Antiautoritariern unterbreitete, wußten sie mir nichts zu antworten als: „Ah! Das ist wahr, aber hier handelt es sich nicht um eine Autorität, die wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auftrag!" Diese Herren glauben die Sache verändert zu haben, wenn sie deren Namen verändern. So machen sich diese tiefen Denker über die Welt lustig. Wir haben also gesehen, daß einerseits eine gewisse, ganz gleich auf welche Art übertragene Autorität und andererseits eine gewisse Unterordnung Dinge sind, die sich uns aufzwingen unabhängig von aller sozialen Organisation, zusammen mit den materiellen Bedingungen, unter denen wir produzieren und die Produkte zirkulieren lassen. Andererseits haben wir gesehen, daß die materiellen Produktions- und Zirkulationsbedingungen durch die Großindustrie und die Großlandwirtschaft unweigerlich erweitert werden und die Tendenz haben, das Feld dieser Autorität mehr und mehr auszudehnen. Es ist folglich absurd, vom Prinzip der Autorität als von einem absolut schlechten und vom Prinzip der Autonomie als einem absolut guten Prinzip zu reden. Autorität und Autonomie sind relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen Entwicklung variieren. Wenn die Autonomisten sich damit begnügten, zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität einzig und allein auf jene Grenzen beschränken wird, in denen die Produktionsbedingungen sie unvermeidlich machen, so könnte man
sich verständigen; sie sind indessen blind für alle Tatsachen, die die Sache notwendig machen, und stürzen sich auf das Wort. Warum begnügen sich die Antiautoritarier nicht damit, gegen die politische Autorität, den Staat, zu wettern? Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten. Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat auf einen Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen. Hätte die Pariser Kommune nur einen einzigen Tag Bestand gehabt, wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht dieser Autorität des bewaffneten Volks bedient hätte? Kann man sie nicht, im Gegenteil, dafür tadeln, daß sie sich ihrer nicht umfassend genug bedient hat? Also von zwei Dingen eins: Entweder wissen die Antiautoritarier nicht, was sie sagen, und in diesem Fall säen sie nur Konfusion; oder sie wissen es, und in diesem Fall üben sie Verrat an der Bewegung des Proletariats» In dem einen wie in dem anderen Fall dienen sie der Reaktion.
Federico Engels
Geschrieben zwischen Oktober ] 872 und März 1873. Nach: „Almanacco Repubblicano per I'anno 1874". Aus dem Italienischen.
Friedrich Engels
[Mitteilungen über die Tätigkeit der Internationale auf dem Kontinent[254]]
I
[„The International Herald" Nr.41 vom 11. Januar 1873] Wir erhalten vom Kontinent folgende Information: Aus dem italienischen Organ der Internationale „La Plebe" war zu ersehen, daß die italienische Regierung, die sich nirgendwo mit den sezessionistischen Sektionen befaßt, gegen die Sektion in Lodi, die den neuen Generalrat anerkannt und den Haager Resolutionen zugestimmt hatte, einen heftigen Verfolgungsfeldzug eröffnet hat. Die Sektion wurde aufgelöst und Haftbefehle gegen alle Mitglieder des Komitees erlassen, von denen drei tatsächlich ins Gefängnis geworfen wurden, während die sechs anderen entkamen. Unter den Verhafteten befindet sich Bignami, der Redakteur der „Plebe". Auch die Nummer dieser Zeitung, welche die Adresse des Generalrats enthielt (veröffentlicht in Nr. 34 des „ International Herald")[255', wurde aus diesem Grund konfisziert, während die wütendsten Manifeste der Sezessionisten frei zirkulieren dürfen. Die Gefangenen sollen wegen Hochverrats verurteilt werden. Unsere Madrider Zeitung „La Emancipacion" stellt fest, daß die Widerstandsbewegung gegen die sezessionistische Tätigkeit des Spanischen Föderalrats täglich anwächst. In dem Augenblick, als dieser Rat einen Kongreß für den 26. Dezember nach Cordoba berief11"1, um die Haager Resolutionen anzunehmen oder abzulehnen, erklärte die Neue Madrider Föderation, daß sich der Rat durch diese Handlungsweise selbst außerhalb der Internationale gestellt habe, und forderte alle Sektionen und lokalen Föderationen auf, keine Delegierten zu dem Sezessions-Kongreß zu schicken, sondern einen neuen provisorischen Föderalratzu ernennen12561. Diesem Vorschlag haben die lokalen Föderationen von Lerida, Toledo, Saragossa, Vitoria, Alcalä de Henares, die Neue Föderation von Cädiz und die bedeutenden Sektionen von Valencia, Denia, Pont de Vilumara und
anderen Orten zugestimmt. Außerdem hat die Föderation von Gracia (einem Fabrikvorort von Barcelona) die Haager Resolutionen angenommen und das Verhalten der spanischen Delegierten auf diesem Kongreß getadelt[202i, während die Föderation von Granada beschlossen hat, einen Delegierten zu dem Sezessions-Kongreß nach Cordoba zu entsenden, aber zu diesem Zweck einen standhaften Gegner der Sezessionisten gewählt hat[25?1. Zweifellos wird der Spanische Föderalrat in Cordoba seine eigenen Wege gehen, aber das wird nur die Krisis auf die Spitze treiben. Aus einem Brief aus Portugal war zu ersehen, daß dort die von der Internationale organisierte Bewegung der Arbeiterklasse außergewöhnliche Dimensionen annimmt. Allein in Lissabon und der Nachbarschaft sind über fünfzehntausend Arbeiter in Gewerksvereinen organisiert worden, und die Organisation dehnte sich schon nach Oporto und dem Norden aus. Alle diese Vereine sind durch die Internationale gebildet worden und stehen weiterhin unter ihrem direkten Einfluß. Die Internationale wird jedoch durch die Gesetze des Landes daran gehindert, sich selbst in voller Freiheit zu organisieren. Die Zeitung der Internationale, „0 Pensamento Social", trägt sich jetzt selbst. Wir können hinzufügen, daß es in Portugal keine Sezessionisten gibt. Die Haager Resolutionen sind nicht nur einstimmig bestätigt, sondern mit Begeisterung aufgenommen worden. Das „Pensamento" enthält in seiner Nr. 25 einen Artikel, der den Haager Kongreß für den bedeutendsten erklärt, der überhaupt seit Gründung der Internationale abgehalten worden ist, und der seine Resolutionen als die Manifestation eines gewaltigen Fortschritts in der Entwicklung der Assoziation begrüßt.12581 Aus den obigen Mitteilungen wird man ersehen, daß die ehemalige Majorität des Britischen Föderalrats in ihrer Handlungsweise buchstäblich die des spanischen Sezessions-Rats nachgeahmt hat. Daraus geht offenbar hervor, daß man hier und in Spanien nach dem gleichen Plan vorgegangen und von denselben Drahtziehern geführt worden ist. Leider hat sich in Spanien eine Anzahl echter Mitglieder der Internationale dem letzten Aufstand angeschlossen, und das mag den Sezessionisten einen momentanen Vorteil verschaffen.12591
II
[„The International Herald" Nr.44 vom !.Februar 1873] Ein Brief des Spanischen Föderalrats lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß in Spanien jetzt die Lokomotivführer und Heizer
streiken und die Eisenbahngesellschaften dabei sind, Männer in England, Belgien und anderen Ländern anzuwerben, um mit ihnen die Versuche der eigenen Arbeiter zur Verbesserung ihrer Lage zu vereiteln.'2601 Unser Rat beauftragte ein Komitee, eine Zeitungsnotiz über die Sache abzufassen und sie an die Zeitungen zu senden. Das Komitee kam seinem Auftrag nach, wie durch das Erscheinen der Notiz in den am darauffolgenden Sonnabend herausgegebenen Zeitungen erwiesen ist. Weitere Schritte sind unternommen worden, um die Lokomotivführer und Heizer Englands mit dem spanischen Streik bekannt zu machen.
III
[„The International Herald" Nr.45 vom 8. Februar 1873] Wir haben vom Kontinent interessante Nachrichten. Der Bericht aus Deutschland brachte Kunde von einem großen Sieg. Das Mitglied der Internationale, der Abgeordnete des deutschen Reichstages, Bebel, der von einem sächsischen Gerichtshof wegen Beleidigungen, begangen in einer Rede, zu neun Monaten Gefängnis und zum Verlust aller aus der öffentlichen Wahl hervorgegangenen Rechte verurteilt worden war, ist soeben, am 20. Januar, durch eine Majorität von 10 470 Stimmen gegen 4420, die der Regierungskandidat erhalten hat, wiedergewählt worden. Damit ist Bebel zum dritten Mal in seinem Kreis gewählt worden und mit 2500 Stimmen mehr, als er bei jeder früheren Wahl gehabt hatte. So wird Bismarck wieder dem einzigen Manne gegenübertreten müssen, der es im jetzigen Reichstag wagt, ihm im Interesse seiner Wählerschaft offen entgegenzutreten, und der der einzige Mann ist, vor dem er wirklich Angst hat. Alles ist getan worden, um Bebels Wiederwahl zu verhindern: Einschüchterung, Auflösung der Wählerversammlungen durch die Polizei etc.; sein Gegenkandidat war fast der anständigste Mann, den man auftreiben konnte, aber trotz all dieser Anstrengungen gaben die Arbeiter von Glauchau und der Nachbarschaft Bebel beinahe drei von jeweils vier abgegebenen Stimmen, und das ohne irgendeinen Samuel Morley, der die Unkosten bezahlt hätte.1 Weitere Einzelheiten sind über den Sezessions-Kongreß in Spanien eingegangen. Er war anscheinend in jeder Hinsicht ein Minoritätskongreß. Von 101 lokalen Föderationen, die zusammen 398 Sektionen zählen, waren
nur 41 lokale Föderationen oder 57 Sektionen vertreten, so daß die auf diesem Kongreß erfolgten Abstimmungen von Delegierten vorgenommen worden sind, die nicht einmal ein Sechstel der in Spanien bestehenden Sektionen vertraten. Die obigen Zahlen, dem sezessionistischen Blatt „La Federacion" entnommen, können nicht bestritten werden. Überrumpeln und eine Minoritätsabstimmung zur Sanktion ihrer Handlungen zuwege bringen, das ist überall die Politik der Sezessionisten; ein weiterer Beweis dafür, daß sie überall nach denselben geheimen Instruktionen handeln. In Frankreich sind in fast allen großen Städten zahlreiche Verhaftungen angeblicher Mitglieder der Internationale vorgenommen worden. Es ist natürlich unmöglich zu erfahren, ob die wirklichen Mitglieder der Assoziation entdeckt worden sind, und selbst wenn es bekannt wäre, könnte es im Interesse der Verhafteten nicht veröffentlicht werden, da es in Frankreich jetzt strafbar ist, der Internationale anzugehören. Man weiß nur, daß die wenigen Sezessionisten in Frankreich ungestraft herumlaufen. Im Gegenteil, sie stehen in so ausgezeichneten Beziehungen zur Regierung des Herrn Thiers, daß sie, z.B. in Beziers, von einem Polizeiinspektor, einem gewissen Bousquet, vertreten werden, für dessen Rechtschaffenheit sich das Evangelium der Sezessions-Partei, das „Bulletin Jurassien", kürzlich in größter Begeisterung verbürgt hat.
IV
[„The International Herald" Nr.46 vom 15. Februar 1873] Aus Portugal hören wir, daß die Portugiesische Föderation, als sie erfuhr, daß der sogenannte spanische Kongreß zu Cordoba sich für die Sezession erklärt hatte, sich sofort an die Neue Madrider Föderation (der Internationale) wandte und erklärte, daß Portugal wie ein Mann auf Seiten der Assoziation gegen die Sezessionisten stehe, daß Versuche gemacht worden seien, der geheimen Allianz121 Eingang in ihren Reihen zu verschaffen und daß Bakunin selbst einem von ihnen geschrieben habe, um sie zu überreden, diese geheime Gesellschaft zu unterstützen; daß sie jedoch einmütig beschlossen hätten, Bakunin ihre ausdrückliche Mißbilligung hinsichtlich der Aktionen der Allianz auszudrücken. Dieser Brief an die Neue Madrider Föderation ist von dem Sekretär Franca im Auftrage und im Namen der Delegierten der Sektionen geschrieben und unterzeichnet und in der Madrider „Emancipacion" vom 1. Februar veröffentlicht worden. Die Portugiesische Föderation zählt jetzt mehr als 15 000 Mitglieder; sie umfaßt
allein in Lissabon 48 Sektionen, unterteilt nach Berufen, von denen jede einen Berufsverband bildet. Soviel zu der Behauptung der Sezessionisten, daß alle organisierten Föderationen auf ihrer Seite seien.
Geschrieben Januar/Mitte Februar 1873. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Notizen für den G[eneral-] Rat12611
1. „International Herald" und „Emancipacion" regelmäßig gesandt, sind hoffentlich angekommen. 2. Die Bande Haies hat am 26. Januar wirklich ihren Kongreß abgehalten, ganze 10 Mann, sie wagen nicht einmal zu sagen, welche Sektionen sie zu vertreten vorgeben. Elendes Fiasko. Natürlich beschlossen, weder die Haager Beschlüsse] noch den G[eneral-] R[at] anzuerkennen. Bericht erste Hälfte - in „Eastern Post" 12621 1 . Februar, die heutige enthält keine Fortsetzung! Der F[öderal~] R[at] wird die Sachen offiziell zuschicken. Die Leute haben fast allen Anhang verloren außer dem persönlichen Schwanz von Haies im East End von London. Einer der Unterzeichner des Halesschen ersten Zirkulars, Bennett, ist zurückgekommen zu unsern Leuten mit dem strikten Befehl seiner Sektion (Halifax), sich zu ihnen und zur lawful1 Assoz[iatio]n zu halten. Er wurde erst nach starkem eating of humble pie2 wieder zugelassen. (S. ,,I[nternational] H[erald]" von heute.) 3. In Lodi hält sich die „Plebe" brav, wenn auch nicht offen mit den andern brechend, was sie auch nicht vorderhand könnte. Aber diese selbst treiben's auf die Spitze. Sie berufen einen italienischen] Kongreß auf den 15. März, aber wollen nur die Sektionen zulassen, die die Beschlüsse von Rimini anerkannt haben oder in gestellter Frist anerkennen![263] Das ist Autonomie und freie Föderation. Die Statuten der Internationale] kann man mit Füßen treten, aber die Beschlüsse von Rimini sind sakrosankt. 4. Wir bedauern sehr, daß der G. R., statt einfach das Faktum zu konstatieren, daß die Jurassier ausgetreten sind, indem sie die Haager Beschlüsse verwerfen und einen Sonderbund stiften, sie bloß suspendiert hat.'2''1' Erstens ist es immer möglich, daß eine Konferenz verlangt wird. Zweitens kommt die Sache jetzt in einer ganz andern Form vor den Kon»
greß, ihre Delegierten müssen provisorisch, bis über ihr Mandat abgestimmt ist, zugelassen werden. Drittens muß der G. R. gegen die Belgier und Spanier ebenso verfahren, ditto gegen die Bande Haies, und diese sukzessiven Suspensionen machen einen weit schlechteren Eindruck, als hätte der G. R. noch ein paar Wochen gewartet, bis die Resultate des belgischen und spanischen Kongresses ihm bekannt, und dann in einer einzigen Proklamation, die neben den formellen Gründen einfach entwickelt, daß man nicht zugleich innerhalb und außerhalb der IInternationale] sein, nicht ihr anzugehören vorgeben und gleichzeitig ihre Gesetze für ungültig erklären kann, und die dann purement et simplement1 konstatiert hätte, daß die p.p. und p.p. sich selbst außerhalb der IInternationale] gesetzt haben. 5. Ich hoffe, die betr. Resolution ist nach Sonvillier und Genf von dort aus geschickt, da ich keine Instruktion der Art erhalten. Was Serrjaillier] angeht, so kann er in diesem Augenblick, wo es Verhaftungen regnet und alle Korrespondenz mit Frankreich unterbrochen, nichts nach dort schicken. 6. Euer Bevollmächtigter Larroque hat sich hier seine Vollmacht selbst geholt - als Flüchtling. Er ist von hier nach San Sebastian gegangen, von wo er die Sache wieder in Gang bringen wird. 7. In Portugal geht alles gut, wie die heute gesandte „Emanc[ipacion]" zeigt. Wir haben auch Privatbriefe von dort, die Leute arbeiten enorm an den Trade-Unions. 8. In Lodi sitzt nur noch Bignami. Der Parteiausschuß in Hamburg hat ihnen 20 Taler und Oberwinder von Wien aus 50 Gulden geschickt, was seinen Effekt nicht verfehlt hat. 9. Cunos Manöver, sich als Capestro zu verkleiden, ist bereits enthüllt, in der Brüsseler „Internationale".12651 10. Wenn der G.R. die Sezessionsblätter nicht schon erhält, wird sich irgendein unbekannter Name darauf abonnieren müssen. Wir verschaffen uns hier mit der größten Mühe und auf Umwegen von jedem ein Ex. und auch das nicht immer - vom „Bulletin] jur|assien]" fehlen uns bis jetzt die 3 letzten Nrn., wir können sie also beim besten Willen nicht besorgen. Es sind übrigens bloß „L'Internationale" (Brüssel), le „Bull, de la Fed. jurass." (Sonvillier) und „La Federacion" (Barcelona). 11. Ich habe wegen der stamps12661 mit Le Moussu gesprochen, der sie besorgen will, ähnlich wie das vorige Jahr. Es ist aber doch komisch, daß dies nicht in New York geschehn konnte.
12. Was ist aus Mac Donnel geworden? Er muß längst dort sein. Ich höre und sehe nichts von ihm. Postschluß - Beste Grüße F.Engels L[ondon], 8. Febr. 18731
Nach der Handschrift.
Friedrich Engels
An den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation
122, Regent's Park Road, N. W. London, 15. April 1873
Bürger? Ihren Brief vom 21 .März nebst Wechsel über 8 Pfund Sterling 6 Pence für Lodi habe ich erhalten. Gleichzeitig erhielt ich einen Brief von Bignami mit der Nachricht, daß er sich wieder verborgen hielte, um nicht zur Abbüßung einer Gefängnisstrafe ins Gefängnis geschleppt zu werden, da er die Strafe später, nach Wiederherstellung seiner Gesundheit, absitzen wolle. Das Geld konnte daher kaum in einem günstigeren Augenblicke eintreffen. Ich ließ es in 200 Francs französische Banknoten umwechseln, die ich ihm sofort zusandte. Le Moussu hat es unternommen, die stamps12661 zu besorgen, und ich habe ihn wiederholt daran erinnert, aber soweit ich weiß, ist man nicht sehr vorangekommen. Die „Arbeiter-Zeitung"[2671 erscheint regelmäßig. Die Druckkosten für die Statuten in englischer und französischer Sprache betrugen jeweils etwa 15 Pfd.St., die in Deutsch waren viel billiger, da man sie zuerst im „Volksstaat" druckte und nichts für den Satz verlangt wurde, sondern nur für Papier, Druck und Binden.1531 Das kann jetzt natürlich nicht wiederholt werden. Der Bericht über die Allianz1 wird jetzt aufgesetzt, und Lafargue und ich arbeiten daran täglich, es wird keine Zeit verloren. Lucain behielt die Schriftstücke bis nach Weihnachten in Brüssel, und er hat jetzt noch einige. Die deutschen Statuten sind noch hier, einige hundert, die dem Rat2zur Verfügung stehen. Englische keine. Die französischen sind alle nach Frank
reich geschickt worden, aber nicht angekommen. Vielleicht können wir einige wiederbekommen. Wir versuchen es. Sobald die „Allianz" Gestalt angenommen hat, gehen wir an die Kongreßprotokolle. Die „Emancipacion" von Madrid liegt im Sterben, wenn sie nicht schon tot ist. Wir haben ihnen 15 Pfd.St. gesandt, da aber kaum jemand für die erhaltenen Exemplare gezahlt hat, erscheint es unmöglich, sie aufrechtzuerhalten. Mit Mesa korrespondiere ich wegen Herausgabe eines anderen Blattes, kann aber das Resultat noch nicht angeben. Das „Pensamento Social" in Lissabon, ein ausgezeichnetes Blatt, das in seiner letzten Nummer eine sehr gute Antwort über die Allianzfrage12681 an die Spanische Föderalkommission in Alcoy enthielt, wird sein Erscheinen auch für kurze Zeit einstellen müssen, aber wieder herauskommen. Der „International] Herald" liegt auch in den letzten Zügen, wie Sie sicher gesehen haben. Wir können versuchen, ihn bis zum nächsten englischen Kongreß (Pfingstwoche) am Leben zu erhalten, danach ist es vielleicht möglich, etwas anderes herauszugeben. Der „Herald" ist nicht viel wert, ausgenommen als Publikationsorgan für den B[ritish] F[ederal] C[ouncil]1, aber als solches im Augenblick fast unentbehrlich. Sie werden aus den französischen Blättern ersehen haben, daß sich Walter (Heddeghem) als ein regelrechter Spion herausstellt. Er soll ein bonapartistischer Mouchard gewesen sein. In Toulouse hat sich Swarm (Dentraygues) nicht viel besser verhalten, aber da ich den vollständigen Bericht nicht gelesen habe, kann ich nichts Bestimmtes sagen; auf alle Fälle war er vorher kein Mouchard, scheint aber schwach und wetterwendisch zu sein. Brüderliche Grüße F. Engels
Bisher habe ich kein Geld für den Generalrat erhalten. Auch keine Nachrichten aus Italien, ausgenommen, daß die „Plebe" anscheinend auch einstweilen eingestellt ist. Die Verhaftung der Allianzisten in Bologna und Mirandola wird nicht lange dauern, sie werden bald freigelassen werden; wenn einige von ihnen dann und wann aus Versehen verhaftet werden, so leiden sie doch niemals ernsthaft Schaden.
Nach der Handschrift. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
[Zu den Artikeln im „Neuen Social-Demokrat" (Aus einem Brief an A. Hepner)12691 ]
[„Der Volksstaat" Nr.37 vom 7. Mai 1873] Zu Ihrer weiteren Information über den berüchtigten Artikel des „Neuen" machen wir Sie - zum Teil wiederholt - auf folgendes aufmerksam: a) Auf die Absurdität, daß Bakunin gegen die Konspirationen sei, wo er eine allgemeine Konspiration - die Allianz121 - innerhalb der Internationalen, freilich nicht gegen die Regierung, sondern gegen die Internationale selbst angezettelt hat. b) Daß die Internationale in Frankreich überhaupt nach dem Dufaureschen Gesetz anders „als geheim" existieren könne; daß aber eine geheime Propagandagesellschaft und eine Konspiration zwei verschiedene Dinge sind, c) Daß der Haager Kongreß sich gegen die Blanquisten, die die Internationale zum Vehikel von Konspirationen machen wollten, so energisch aussprach, daß diese sich von der Internationalen zurückzogen und sich öffentlich gegen sie erklärten, weil ihr die „revolutionäre Energie" mangle, d) Daß Heddeghem (Walter), der stille lange Mann im Haag mit roten Haaren - von einer kleinen trauergekleideten, angeblichen „Frau" mit einem Mariamagdalenengesicht begleitet -, der jetzt als alter Polizeiagent entlarvt, erst von Serraillier dem alten Generalrat mit seiner Sektion zur Zulassung vorgeschlagen wurde, nachdem er sich auf den Blanquisten Ranvier, Mitglied des Generalrats, bezogen und von diesem als durchaus zuverlässig anerkannt worden war. e) Daß Heddeghem sowohl wie Dentraygues regelmäßige Mandate ihrer Sektionen hatten, also am Kongreß zugelassen werden mußten, sobald keine Anklage gegen sie erhoben, was keinem Menschen der Minorität einfiel, f) Daß der „Neue" sich gar nicht besser als Polizeiorgan darstellen kann, als wenn er die von Polizisten und Bonapartisten, wie Vogt u. Co., ausgegebene Parole wiederholt, Marx suche als „internationaler] Verschwörerchef" aufzutreten und habe bereits „ein Dutzend Kommunistenprozesse" gehabt, wo gerade das Auftreten des
Haager Kongresses, mit dessen Majorität man Marx identifiziert, gegen die Blanquisten das Gegenteil beweist und die Polizeilüge über den einen Kommunistenprozeß von 1852 längst durch M[arxen]s „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln"1 aufgedeckt sind, g) Daß, wenn jetzt einmal einer vom „Njeuen] S[ocial-] D[emokrat]" zu Gefängnis verdammt wird, man weiß, woran sich zu halten, nachdem der „Neue" selbst auf das Polizeimanöver aufmerksam gemacht, diePolizisten mit verurteilen zu lassen, ihnen aber im Gefängnis ein bequemeres Leben zu bereiten. „Mögen die Arbeiter immer die Augen offen haben!" Übrigens war Dentraygues kein Spion, aber ein verbummeltes»Subjekt, der erst im Cachot2 zum Denunzianten wurde und dann bald ganz der Polizei verfiel. Dagegen war Heddeghem bereits unter Bonaparte Mouchard, ihm verdanken wir allein den Blanquisten. Der „große alte Freiheitskämpfer" Bakunin dagegen hat stets Mouchards in seinen Reihen gehabt - Albert Richard z.B., der seit 1868, seit Stiftung der Allianz, seine rechte Hand für Frankreich war. Und da die Jurassiens behaupten, auch geheime Sektionen in Frankreich zu haben (die Prozesse beweisen das Gegenteil), wo ist da der vom „Neuen" erkünstelte Unterschied? Was nun den Artikel in Nr.4512701 noch angeht, so ist gegen die darin enthaltenen Behauptungen noch einiges zu sagen. Gegen den Haager Kongreß haben sich erklärt: 1. Die sogen, italienische Föderation, die nie zur Internationalen gehört hat, weil sie die Generalstatuten3 nicht anerkennen will, und daher auch nie zu ihr gehören kann, bis sie sich fügt. - Dagegen eine Anzahl wirklicher italienischer Sektionen haben anerkannt und stehen mit dem Generalrat in regelmäßiger Verbindung. 2. Die Jurassische Föderation, 150 Mann, gegenüber 4000-5000 in der französischen Schweiz allein; sie ist dafür suspendiert worden. 3. Die Belgier. 4. Ein Teil der Spanier, während ein anderer den Föderalrat in Valencia eingesetzt hat, der mit dem Generalrat in New York12611 in regelmäßiger Verbindung steht. 5. In England ganze zehn Mann, die nicht eine einzige wirkliche Sektion hinter sich haben, während der Englische Föderalrat, gestützt auf zahlreiche Sektionen, deren mehrere 500 Mann und darüber stark und die von Woche zu Woche sich vermehren, die Anerkennung der Haager Beschlüsse zur Grundbedingung der Zulassung macht. Daß 6. in Frankreich, „soweit dort noch eine Organisation besteht" - diese zum Haag und zum Generalrat stand, ist eben durch die Prozesse bewiesen, die dem Artikel in Nr.49 zum Vorwand
1 Siehe Band 8 unserer Ausgabe - 2 Gefängnis - 3 siehe Band 17 unserer Ausgabe, S. 440-455
dienen. Die „Flüchtlinge der Kommune" .weder als solche noch in ihrer „Mehrzahl", sind nie in den Fall gekommen, sich dagegen „energisch zu wenden, daß etc.", weil die Fraktion nie existierte. Die Blanquisten haben sich, fünf Mann hoch, darunter vier Kommunemitglieder, aus dem Grunde zurückgezogen, weil die Internationale sich nicht zum Werkzeug ihrer Verschwörung hergeben wollte. Sonst ist absolut nichts vorgefallen, was zu dieser Lüge nur den entferntesten Anlaß geben konnte.
Geschrieben Ende April 1873.
21 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Friedrich Engels Die Internationale und der „Neue"'681
[„Der Volksstaat" Nr. 38 vom 10. Mai 1873]
London, 2.Mai 1873 Der „Neue" enthält in Nr.49 einen Lügenartikel über die letzten Prozesse der Internationale in Frankreich, der seinem Verfasser wohl ein ExtraDouceur aus dem Reptilienfonds12711 eingetragen haben wird, so dick sind die Lügen aufgetragen. Für den Prozeß in Toulouse beruft sich der „Neue" auf einen Artikel der Brüsseler „Internationale"; dieser Artikel ist selbst wieder der „Liberte" entlehnt12721 und rührt her von Herrn Jules Guesde, einem französischen Flüchtling, der seit seiner Ankunft in Genf mit den übrigen Gerngroßmännern der dortigen Emigration stark in die bakunistische Lärmtrompete stieß und auf dem Jurakongreß zu Sonvillier (Nov. 1871) das bekannte Zirkular der Jura-Föderation mit unterzeichnet hat, wodurch die geheime Allianz181 des Herrn Bakunin der öffentlichen Internationalen den Krieg erklärte. Welche Rolle Herr Guesde in der französischen Internationalen gespielt hat, werden wir gleich sehen. Er nennt Herrn Dentraygues, der in diesem Prozeß seine Mitangeklagten als Mitglieder der Internationalen denunziert hatte, den Generalbevollmächtigten von Marx und will diesem sowie dem Generalrat und der „autoritären Organisation von oben herab" die Schuld an diesem Verrat und an den erfolgten Verurteilungen beimessen. Hier sind die Tatsachen. Herr Dentraygues, Zeichner auf dem Eisenbahnbüro zu Pfeenas (Departement] Herault), wandte sich am 24.Dez. 1871 an den Generalrat mit der Anzeige, daß ein radikaldemokratisches Komitee, sieben Gewerkschaften vertretend und dessen Präsident er sei, die Aufnahme in die Internationale verlange. Am 4. Januar schrieb der Sekretär für Frankreich
an Calas in Pezenas (jetzt zu 1 Jahr verurteilt), der durch Zeugnis des affiliierten sozialdemokratischen Komitees in Beziers (Herault) - seine Mitglieder sind,ebenfalls verurteilt und waren überdies verschiedenen in London anwesenden Kommunemitgliedern als zuverlässig bekannt - vollkommen beglaubigt war. Am 14. Januar stellte Calas dem Dentraygues das Zeugnis der Zuverlässigkeit aus, sagte, er habe sich mit ihm verständigt, „wir werden einander in die Hände arbeiten". Im März verlegte Dentraygues seinen Wohnsitz nach Toulouse; er war also dort bei seiner Verhaftung volle neun Monate tätig gewesen, und weit entfernt, sich über ihn zu beklagen, hatten die Toulouser Internationalen fortwährend im Einklang mit ihm gelebt und bestätigten dies, indem sie ihn am 18. August in allen vier - zahlreichen Sektionen einstimmig zum Delegierten auf den Haager Kongreß wählten. Die vier Mandate, nur von den Komiteemitgliedern und Gruppenchefs unterzeichnet, tragen zusammen 67 Unterschriften. Wenn also der Generalrat diesen Mann zu seinem Bevollmächtigten für Toulouse und Umgegend ernannte, so drückte er dadurch nur den Wunsch der dortigen Mitglieder selbst aus. Nun zu Herrn Guesde. Am 18. August 1872 erklärte die Sektion Montpellier dem Generalrat, daß Herr Paul Brousse, Korrespondent und Freund des Herrn Guesde, versuche, eine Spaltung in der dortigen Sektion hervorzurufen; er verlange, die Mitglieder sollten die verabredeten Beiträge zu den Reisekosten des Toulouser Delegierten nicht zahlen, überhaupt gar nichts tun, bis der Haager Kongreß entschieden habe. Herr Brousse sei deshalb von der Sektion ausgeschlossen worden; sie verlange, daß der Generalrat ihn von der Internationalen ausschließe. Der Brief war unterzeichnet von Calas und drei andern. Der Generalrat wußte, daß Herr Brousse im Interesse der Sezessionisten der Jura-Föderation dort intrigiere, hielt es aber für überflüssig, dem jungen Mann - er war Student der Medizin - weitere Wichtigkeit zu geben, und ließ ihn laufen. Herr Guesde, damals in Rom, schrieb Anfang Oktober eine Korrespondenz an die „Liberte", worin er das ganz selbstverständliche Verfahren der Sektion Montpellier als „autoritär" anklagt; aber, während er seinen Freund Brousse nur mit dem Anfangsbuchstaben bezeichnet, läßt er den Namen „Calas in Montpellier" vollständig abdrucken. Die französische Polizei ließ sich das nicht zweimal sagen. Ein Brief, um diese Zeit vom Sekretär des Generalrats an Calas abgesandt, wird sofort auf der Post angehalten; in diesem Brief war von Dentraygues viel die Rede; sofort wird Dentraygues verhaftet und bald darauf auch Calas. Wer war nun der Denunziant, Dentraygues oder Guesde?
Wenn Herr Guesde ferner erzählt, daß die Absendung von missi dominici1 des Generalrats, daß das Kommen und Gehen von Delegierten von außerhalb, deren Signalement der Polizei wohlbekannt, das beste Mittel sei, die Internationale in Frankreich zu verraten, so vergißt er: 1. daß die drei Bevollmächtigten des Generalrats in Frankreich keine von außen zugereisten Weltbeglücker, sondern an den Orten, wo sie beglaubigt, ansässige und durch das Vertrauen der Sektionen selbst bezeichnete Leute waren; 2. daß die einzigen internationalen „Delegierten von außerhalb", die in Südfrankreich vor[igen] Herbst und Winter figuriert haben, nicht vom Generalrat gesandt waren, sondern von den Sezessionisten der Jura-Föderation. Diese Herren polterten auch so laut in öffentlichen Cafes in Toulouse usw. kurz vor den Verhaftungen, daß die Aufmerksamkeit der Polizei dadurch auf unsere Assoziation gelenkt wurde; nur daß, wie überall und immer, auch die wirklichen Internationalen gefaßt wurden, während die anarchistischen Großmäuler sich des besonderen Schutzes der hohen Polizei erfreuen. Wenn Herr Dentraygues aus persönlichen Motiven und aus Schwäche einige Enthüllungen gemacht hat, so sind Gründe genug vorhanden, die beweisen, daß er bis zu seiner Verurteilung kein Polizeispion war. Unter keinen Umständen haben die Herren von der Allianz, deren Mitstifter der jetzige bonapartistische Agent Albert Richard von Lyon war, Ursache, auf andere Leute Steine zu werfen, und noch weniger der „Neue", dessen polizistische Vergangenheit und Gegenwart den größten Schandfleck der deutschen Arbeiterbewegung ausmacht. Was den Pariser Prozeß12731 angeht, so steht jetzt fest, daß Heddeghem Polizeispion war. Dieser Mann, von seiner Sektion in Paris zum Sekretär ernannt, berief sich auf das Kommune- und Generalratsmitglied Ranvier, der ihm ein glänzendes Zeugnis der Zuverlässigkeit und Tätigkeit ausstellte; auf dieses hin wurde Heddeghem zugelassen. Wie im ersten Falle, so auch in diesem, hatte also der Generalrat alle ihm zu Gebote stehenden Vorsichtsmaßregeln beobachtet. Neu ist die Behauptung, daß Bakunin auf dem Haag ausgeschlossen worden sei, weil er „das verdenkliche Treiben der geheimen Verschwörungen beseitigen" will. Die Kommission des Haager Kongresses über die Allianz, der die Statuten dieser bakunistischen geheimen Verschwörung nicht gegen die Regierungen, sondern gegen die Internationale - vorgelegt wurden, kam zu einem ganz andern Resultat.
Ebenso neu ist die Behauptung, Marx habe „mehr als ein Dutzend Kommunistenprozesse seiner Anhänger erlebt". Die Geschichte weiß nur von dem einen in Köln 1852 verhandelten Kommunistenprozesse; aber der „Neue" wird nicht dafür bezahlt, daß er die Wahrheit sagt. Jedenfalls werden wir seine Schlußwarnung im Gedächtnis halten: „Das Manöver der Polizeigewalt: dort wo sie einen Tendenzprozeß hervorruft, formell auch ihre geheimen Agenten zu verurteilen, ihnen aber später im Gefängnis ein bequemes Leben zu bereiten." Dieser aus dem „Leben" des Herrn von Schweitzer gegriffene Passus verdient alle Beherzigung. „Mögen also die Arbeiter immer die Augen offen haben", wenn die Herren vom „Neuen" zufällig einmal „formell verurteilt" werden sollten!
Geschrieben am 2. Mai 1873.
Friedrich Engels
An den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation
122, Regent's Park Road, N.W. London, 14. Juni 1873
Bürger! Ich habe noch Ihre beiden Briefe vom 11 .April und 14.Mai zu beantworten.112741 Wie bereits mitgeteilt, habe ich das ganze Geld für Lodi (200 Francs) am 10. April an Bignami geschickt, dessen Empfangsquittung sich in meinem Besitz befindet. Vor etwa 10 Tagen ist die „Plebe" wieder erschienen und brachte Ihre Adresse an die Spanier und auch, an sehr hervorragender Stelle, Ihre Erklärung über den Selbst-Ausschluß der Sezessionisten aus unserer Assoziation.12751 Die fraglichen Dokumente sind an den Spanischen Föderalrat gesandt worden. Mein Exemplar der Statuten-Änderungen, wie sie für den alten General-] R[at] vorbereitet waren, ist verschwunden; mir ist jedoch ein anderes versprochen worden, das, sobald es eingetroffen ist, abgehen wird. Da die „Plebe" wieder am Leben ist, werde ich in meiner ersten Korrespondenz für diese Zeitung über die italienische Emigration und den Gasarbeiter-Streik etc. berichten. Ich konnte das nicht vorher tun, da mein einziger Korrespondent], Bignami, nicht erreichbar war und mir keine andere Adresse gegeben hatte. Le Moussu ist an die Marken erinnert worden. Die 4 Pfd. St. 3 d. sind eingegangen und werden verwandt und abgesandt, sobald eine sichere Adresse in Paris gefunden werden kann. Mit brüderlichem Gruß
Ihr F. Engels
Nach der Handschrift. Aus dem Englischen.
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation
Im Auftrage des Haager Kongresses verfaßter Bericht über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie12761
Geschrieben April bis Juli 1873. Erstmalig veröffentlicht als Broschüre unter dem Titel „L'AIIiance de la D^mocratie Socialiste et l'Association Internationale des Travailleurs", Londres, Hambourg 1873.
Deutsch erschien die Broschüre unter dem Titel „Ein Complot gegen die Internationale Arbeiter-Association. Im Auftrage des Haager Congresses verfaßter Bericht über das Treiben Bakunin's und der Allianz der socialistischen Demokratie." Deutsche Ausgabe von „L'alliance de la d&nocratie socialiste et l'association internationale des travailleurs." Uebersetzt von S. Kokosky. Braunschweig 1874.
Ferner wurde dieser Bericht in der New-Yorker „Arbeiter-Zeitung" veröffentlicht.
Dem vorliegenden Text liegt die Braunschweiger Ausgabe zugrunde. Engels, der die Übersetzung von S. Kokosky durchsah und sie als „herzlich schlecht" bezeichnete, verbesserte sie, soweit es ihm die vom Verlag gestellte Frist erlaubte. Die vorliegende Ausgabe ist mit der französischen Ausgabe verglichen worden, wobei einige Textstellen stillschweigend der präziseren französischen Fassung angepaßt worden sind. Sachliche Abweichungen sind in Fußnoten kenntlich gemacht.
€in Complot
gegen
die Snternotionofe UrBcitcr-Uffociotion.
3m üuftrage des JÖaagec Songreffes oerfaBtec iBeritfit üBer das Ireißen Ualtunin s und der Uffianj der Pociafiftiflen Setnolmiiie.
Deutfcfte ?Iu§gabe Dort „L'alliance de la demoeratie socialiste et 1'aBBociation internationale des travailleura."
Udierfegt t>on 6. Äofoäftj.
39rauttfd?u>ei(j. 3)tutt unS ©ftlag Doit ÜB. Stade jr. 1874.
Titelblatt der Broschüre „Ein Complot gegen die Internationale Arbeiter-Association"

I
Einleitung
Indem die Internationale Arbeiter-Assoziation es unternahm, die zerstreuten Kräfte des gesamten Proletariats in einem Bunde zusammenzufassen und so der lebendige Repräsentant der Interessengemeinschaft, welche die Arbeiter vereinigt, zu werden, mußte sie notwendig den Sozialisten jeder Schattierung den Eintritt offenhalten. Ihre Gründer und die Vertreter der Arbeiterorganisation1 beider Welten, die auf den internationalen Kongressen die Allgemeinen Statuten der Assoziation sanktionierten, vergaßen, daß gerade die Weite ihres Programms selbst den Deklassierten* erlauben würde, sich einzuschleichen und im Schöße der Assoziation geheime Organisationen zu bilden, deren Tätigkeit sich nicht gegen die Bourgeoisie und die bestehenden Regierungen, sondern gegen die Internationale selbst richten würde. Dieses war der Fall mit der Allianz der sozialistischen Demokratie. Auf dem Haager Kongreß beantragte der Generalrat eine Untersuchung über diese geheime Organisation. Der Kongreß beauftragte mit derselben eine Kommission von fünf Mitgliedern, den Bürgern Cuno, Lucain, Splingard, Vichard und Walter (ausgeschieden), welche in der Sitzung vom 7. September ihren Bericht erstattete. Der Kongreß beschloß: 1. Michail Bakunin als Gründer der Allianz und wegen einer persönlichen Tatsache'181' aus der Internationale auszuschließen2;
* Deklassierte, declasses, heißen im Französischen diejenigen aus den besitzenden Klassen hervorgegangenen Leute, die von ihrer Klasse ausgestoßen oder aus ihr ausgetreten sind, ohne darum Proletarier zu werden; z.B. Industrieritter, Pickelhäringe, gewerbsmäßige Spieler, die meisten Literaten und Politiker von Profession usw. Auch das Proletariat hat seine Deklassierten; sie bilden das Lumpenproletariat.
2. James Guillaume als Mitglied der Allianz auszuschließen1; 3. die auf die Allianz bezüglichen Dokumente zu veröffentlichen2. Infolge der Zerstreuung ihrer Mitglieder in verschiedenen Ländern sah sich die erwähnte Untersuchungskommission völlig außerstande, die Dokumente, welche ihrem Berichte zugrunde gelegen, zu veröffentlichen, und hat daher Bürger Vichard, das einzige in London wohnende Kommissionsmitglied, dieselben der Protokollkommission11851 zugestellt, welche sie jetzt unter eigner Verantwortlichkeit in dem nachfolgenden Bericht veröffentlicht. Die auf die Allianz bezüglichen Akten waren so umfangreich, daß die Kommission in ihren Sitzungen während des Kongresses nur Zeit hatte, von den für einen praktischen Schluß wichtigsten Dokumenten Kenntnis zu nehmen; so z. B. sind ihr die meisten russischen Aktenstücke nicht unterbreitet worden. Der seitens der Kommission dem Kongresse erstattete Bericht genügt daher heute nicht mehr, da er nur einen Teil der fraglichen Angelegenheit umfaßt. Um dem Leser nun den Sinn und die Bedeutung dieser Dokumente verständlich zu machen, sind wir genötigt, als Geschichtsschreiber der Allianz aufzutreten. Die Aktenstücke, welche wir veröffentlichen, gehören mehreren Kategorien an. Ein Teil derselben ist bereits in einzelnen Stücken, und zwar meistens in französischer Sprache, veröffentlicht; man muß sie jedoch, um den Geist der Allianz deutlich zu erkennen, mit den anderen zusammenbringen, denn diesen gegenübergestellt erscheinen sie in einem neuen Lichte. Zu diesem Teile gehört das Programm der öffentlichen Allianz. Andere Aktenstücke gehören der Internationalen an, wieder andere dem spanischen Zweige der geheimen Allianz, deren Existenz im Frühjahr 1871 durch Mitglieder der Allianz öffentlich aufgedeckt wurde. Wer die spanische Bewegung dieser Epoche aufmerksam verfolgt hat, wird in ihnen nur genauere Angaben über Tatsachen finden, welche bereits mehr oder weniger der Öffentlichkeit angehören. Die Bedeutung dieser Dokumente beruht nicht darauf, daß sie zum ersten Male veröffentlicht werden, sondern darauf, daß sie zum ersten Male in einer Art zusammengestellt sind, welche die gemeinsame geheime Tätigkeit, von der sie ausfließen, enthüllt; vor allem aber werden sie wichtig, wenn wir sie mit den beiden folgenden Kategorien vergleichen. Die erste derselben besteht aus Dokumenten in russischer Sprache, welche das wahre Programm und die Art der Tätigkeit der Allianz aufdecken. Diese Dokumente waren bisher unter dem Schutze der Sprache, in
welcher sie geschrieben sind, im Westen unbekannt geblieben, und dieser Umstand hatte ihren Verfassern gestattet, ihrer Phantasie und ihrer Redeweise freien Lauf zu lassen. Die getreue Übersetzung, welche wir von ihnen geben, wird dem Leser Gelegenheit geben, den intellektuellen, moralischen, politischen und ökonomischen Wert der Häupter der Allianz zu bemessen. Die letzte Kategorie besteht aus nur einem Stücke: den geheimen Statuten der Allianz; es ist das einzige Dokument von einiger Ausdehnung, welches zum ersten Male in diesem Bericht veröffentlicht wird. Man wird sich vielleicht fragen, ob es Revolutionären erlaubt sei, die Statuten einer geheimen Gesellschaft, einer angeblichen Verschwörung, zu veröffentlichen. Nun, diese geheimen Statuten sind ausdrücklich unter den Dokumenten angegeben, deren Veröffentlichung auf dem Haager Kongreß von der Allianzkommission verlangt wurde, und kein Delegierter, selbst nicht das die Minorität der Kommission bildende Mitglied, hat dagegen gestimmt. Diese Veröffentlichung ist also ausdrücklich verordnet vom Kongreß, dessen Anweisungen wir auszuführen haben; was aber die Sache selbst betrifft, so ist folgendes zu sagen: Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, welche unter der Maske des extremsten Anarchismus ihre Angriffe nicht gegen die bestehenden Regierungen richtet, sondern gegen die Revolutionäre, welche sich nicht ihrer Orthodoxie und ihrer Leitung unterwerfen. Von der Minderheit eines Bourgeois-Kongresses gegründet, schleicht sie sich in die Reihen der internationalen Organisation der Arbeiterklasse ein, versucht zuerst, sich ihrer Leitung zu bemächtigen, und arbeitet auf ihre Desorganisation hin, sobald sie diesen Plan scheitern sieht. In schamlosester Weise sucht sie ihr sektiererisches Programm und ihre beschränkten Ideen dem umfassenden Programm, den großen Anstrebungen unserer Assoziation unterzuschieben; sie organisiert in den öffentlichen Sektionen der Internationalen ihre geheimen Sektiönchen, welche, derselben Parole gehorchend, durch vorher abgekartetes gemeinsames Vorgehen in vielen Fällen zur Herrschaft über jene gelangen; sie greift öffentlich in ihren Blättern alle Elemente an, welche sich weigern, sich ihrer Herrschaft zu fügen; sie provoziert den offenen Krieg - das sind ihre eignen Worte - in unseren Reihen. Um zu ihrem Zweck zu gelangen, weicht sie vor keinem Mittel, vor keiner Unredlichkeit zurück; Lüge, Verleumdung, Einschüchterung, Gewalttat aus feigem Hinterhalt sind ihr in gleicher Weise recht. Endlich, in Rußland, setzt sie sich ganz an die Stelle der Internationalen und begeht unter ihrem Namen gemeine Verbrechen, Gaunereien und einen Mord, für den die Regierungs
und Bourgeois-Presse unsre Assoziation verantwortlich gemacht hat. Und die Internationale soll zu all diesen Tatsachen schweigen, weil die Gesellschaft, welche die Schuld an ihnen trägt, eine geheime ist! Die Internationale hat in ihrer Hand die Statuten dieser Gesellschaft, ihrer Todfeindin, Statuten, in denen sie sich offen als neue Gesellschaft Jesu erklärt und es ausspricht, daß es ihr Recht und ihre Pflicht sei, alle jesuitischen Mittel zu benutzen; diese Statuten machen sofort alle jene Feindseligkeiten verständlich, denen die Internationale von jener Seite ausgesetzt war; und sie sollte sich dieser Statuten nicht bedienen, weil das hieße, eine geheime Gesellschaft denunzieren! Gegen alle diese Intrigen gibt es nur ein einziges Mittel, aber es ist von niederschmetternder Wirkung: die vollständigste Öffentlichkeit. Diese Schleichwege in ihrem Zusammenhang aufdecken, heißt sie unwirksam machen. Ihnen den Schutz unsers Schweigens zu gewähren, das wäre nicht nur eine Naivetät, über welche die Häupter der Allianz erst recht spotten würden, das wäre eine Feigheit. Noch mehr, es wäre ein Akt des Verrats gegen diejenigen spanischen Internationalen, welche, als Mitglieder der geheimen Allianz, keinen Anstand nahmen, deren Existenz und Verfahrungsweise zur Kenntnis zu bringen, sobald diese sich in offene Feindschaft gegen die Internationale setzte. Übrigens befindet sich alles das, was die geheimen Statuten enthalten, und sogar in noch schärfer ausgeprägter Form, in den in russischer Sprache von Bakunin und Netschajew selbst veröffentlichten Dokumenten. Die Statuten bekräftigen nur deren Inhalt. Mögen die Führer der Allianz also über Denunziation schreien. Wir denunzieren sie der Verachtung der Arbeiter und dem Wohlwollen der Regierungen, denen sie so gute Dienste geleistet haben, indem sie die proletarische Bewegung desorganisierten. Die Züricher „Tagwacht" hatte wohl recht, wenn sie in einem Antwortschreiben an Bakunin sagt:
„Wenn Sie kein besoldeter Agent sind, so steht es doch fest, daß ein besoldeter Agent nicht mehr Schaden hätte anrichten können als Sie." 1277J
II
Die geheime Allianz
Die Allianz der sozialistischen Demokratie ist durchaus von BourgeoisHerkunft. Sie ist nicht von der Internationalen ausgegangen; sie ist ein Sprößling der Friedens- und Freiheitsliga1191, einer totgeborenen Gesellschaft von Bourgeois-Republikanern. Die Internationale war schon fest begründet, als Michail Bakunin sich in den Kopf setzte, eine Rolle als Emanzipator des Proletariats zu spielen. Sie konnte ihm nur das allen Mitgliedern gemeinsame Feld der Tätigkeit bieten. Um in ihr etwas zu gelten, hätte er sich zuerst durch beständige und aufopfernde Arbeit die Sporen verdienen müssen; er glaubte bessere Aussichten und einen leichteren Weg auf Seiten der Bourgeois der Liga zu finden. Er ließ sich also im September 1867 zum Mitgliede des permanenten Komitees der Friedensliga wählen und nahm seine Rolle ernst; man kann sogar sagen, daß er und Barni, heute Deputierter in Versailles, die Seele dieses Komitees waren. Sich als Theoretiker der Liga aufspielend, sollte Bakunin unter ihren Auspizien ein Werk: „Der Föderalismus, der Sozialismus und der Antitheologismus"* veröffentlichen. Indessen überzeugte er sich bald, daß die Liga eine unbedeutende Gesellschaft blieb und daß die Liberalen, aus denen sie bestand, in ihren Kongressen nur ein Mittel sahen, eine Vergnügungsreise mit großsprecherischen Reden zu verbinden, während im Gegenteil die Internationale von Tag zu Tag wuchs. Da dachte er daran, die Liga auf die Internationale zu propfen. Um diesen Plan auszuführen, ließ sich Bakunin auf Elpidins Vorschlag im Juli 1868 in die Genfer Zentralsektion1 aufnehmen. Auf der anderen Seite bewirkte er, daß das Komitee der Liga einen Antrag annahm, dem internationalen Kongreß zu
* Diese Bibel der Ismen wurde beim dritten Blatt aus Mangel an Manuskript abgebrochen.t278]
Brüssel1 ein Offensiv- und Defensivbündnis beider Gesellschaften vorzuschlagen; und um die Billigung des Kongresses für dies lebhafte Vorgehen zu erlangen, verfaßte er ein vertrauliches Zirkular'2791 und ließ es durch das Komitee an die „Herren" der Liga versenden. Er gesteht daselbst offen ein, daß die Liga, bisher eine ohnmächtige Posse, nur dadurch Bedeutung gewinnen könne, daß sie der Allianz der Unterdrücker
„die Allianz der Völker, die Allianz der Arbeiter entgegenstelle... wir können nur dann etwas werden, wenn wir die aufrichtigen und ernsten Vertreter der Millionen der Arbeiter werden". Es sollte die providentielle Sendung der heiligen Liga sein, die Arbeiterklasse mit einem selbsternannten Bourgeois-Parlament zu beglücken, dem diese die Sorge um ihre politische Leitung überlassen sollte.
„Um eine heilsame und wirkliche Macht zu werden", heißt es am Schlüsse des Zirkulars, „muß unsere Liga der reine politische Ausdruck der großen ökonomischen und sozialen Interessen und Prinzipien werden, welche heute durch die große Internationale Assoziation der Arbeiter von Europa und Amerika triumphierend entwickelt und verbreitet werden." Der Kongreß zu Brüssel wagte es, den Vorschlag der Liga zu verwerfen. Groß war die Enttäuschung und der Zorn Bakunins. Auf der einen Seite entzog sich die Internationale seiner Protektion. Auf der anderen Seite kanzelte ihn der Präsident der Liga, Professor Gustav Vogt, derb ab.
„Entweder", schrieb er an Bakunin, „warst Du des Erfolgs unserer Einladung nicht sicher, dann hast Du unsere Liga kompromittiert; oder Du wußtest, welche Uberraschung Deine Freunde von der Internationale für uns bereithielten, dann hast Du uns auf eine unwürdige Art getäuscht. Ich frage Dich, was wir unserem Kongreß sagen 11 sonen." Bakunin antwortete ihm in einem Briefe, der jedem, der ihn hören wollte, vorgelesen wurde: „Ich konnte nicht voraussehen", sagte er, „daß der Kongreß der Internationalen uns mit einer ebenso plumpen als anmaßenden Beleidigung antworten würde; wir danken dieses den Intrigen einer gewissen Koterie von Deutschen, welche die Russen verabscheut" (er erklärte seinen Zuhörern ausdrücklich, daß dieses die Marxsche Koterie wäre). „Du fragst mich, was wir tun sollen? Ich nehme die Ehre in Anspruch, auf diesen groben Schimpf im Namen des Komitees auf der Tribüne unseres Kongresses die Antwort zu geben." Statt Wort zu halten, wendete Bakunin seinen Rock. Er legte dem Kongreß der Ligisten zu Bern ein Programm eines Phantasie-Sozialismus vor,
worin er die Gleichmachung der Klassen und Individuen verlangte, um so die Damen der Liga zu übertrumpfen, welche nur die Gleichmachung der Geschlechter verlangen. Von neuem geschlagen, zog er sich mit einer winzigen Minorität vom Kongreß zurück und begab sich nach Genf.* Die von Bakunin geträumte Allianz zwischen Bourgeois und Arbeitern sollte sich nicht auf eine öffentliche Allianz beschränken. Die geheimen Statuten der Allianz der sozialistischen Demokratie (siehe: Beweisstücke Nr. I1) enthalten Anzeichen, daß Bakunin im Schöße der Liga selbst den Grund zu einer geheimen Gesellschaft gelegt, der die Herrschaft über jene zufallen sollte. Nicht nur sind die Namen der leitenden Gruppen identisch mit denen der Liga (permanentes Zentralkomitee, Zentralbüro, Nationalkomitees), sondern es wird auch in den geheimen Statuten erklärt, daß die „Gründungsmitglieder der Allianz zum größten Teil ehemalige Mitglieder des Kongresses zu Bern"2 seien. Um sich als Haupt der Internationalen zur Geltung zu bringen, mußte er als Haupt einer anderen Armee dastehen, deren absolute Ergebenheit gegen seine Person ihm durch eine geheime Organisation gesichert war. Hatte er seine Gesellschaft einmal offen in die Internationale eingepflanzt, dann rechnete er darauf, jene in alle Sektionen zu verzweigen und sich hierdurch deren absolute Leitung zu verschaffen. Zu diesem Zwecke gründete er in Genf die (öffentliche) Allianz der sozialistischen Demokratie. Äußerlich war es nur eine öffentliche Gesellschaft, die freilich, obwohl ganz in der Internationalen aufgegangen, eine besondere internationale Organisation, ein Zentralkomitee, Nationalbüros, und von unserer Assoziation unabhängige Sektionen haben sollte; neben unserem jährlichen Kongreß sollte die Allianz öffentlich den ihrigen abhalten. Aber diese öffentliche Allianz barg in sich eine andere, die ihrerseits durch die noch geheimere Allianz der internationalen Brüder, der Hundert-Garden des Diktators Bakunin, geleitet wurde. Die geheimen Statuten der „Organisation der Allianz der internationalen Brüder" zeigen, daß es in dieser Allianz „drei Grade" gibt: „I. Die internationalen Brüder; II. Die nationalen Brüder; III. Die halbgeheime und halböffentliche Organisation der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie,"3
* Unter den Sezessionisten finden wir die Namen Albert Richard aus Lyon, gegenwärtig bonapartistischer Polizeiagent, Gambuzzi, Advokat zu Neapel (siehe das Kapitel über Italien), Shukowski, später Sekretär der öffentlichen Allianz, und einen gewissen Büttner, Klempner zu Genf, der gegenwärtig zur ultra-reaktionären Partei gehört.
1 Siehe vorl. Band, S.458 - 2 ebenda, S.459 - 3 ebenda, S.455/456
22 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
I. Die internationalen Brüder, deren Zahl sich auf „hundert" beschränkt, bilden das heilige Kollegium. Sie stehen unter einem Zentralkomitee und unter Nationalkomitees, welche als Vollziehungsbüros und als Überwachungskomitees organisiert sind. Diese Komitees selbst sind vor der „Konstituante" oder der Generalversammlung von mindestens zwei Dritteln der internationalen Brüder verantwortlich. Diese Allianz-Brüder
„haben kein anderes Vaterland als die allgemeine Revolution, kein anderes Ausland und keinen anderen Feind als die Reaktion. Sie verwerfen jede Versöhnungs- und Kompromißpolitik und halten jede politische Bewegung für reaktionär, die nicht den Triumph ihrer Prinzipien zum unmittelbaren und direkten Zweck hat."
Da aber dieser Artikel die politische Tätigkeit der „Hundert" auf den jüngsten Tag hinausschiebt, und da diese Unversöhnlichen nicht vorhaben, auf die Vorteile öffentlicher Ämter zu verzichten, so sagt der Artikel 8:
„Kein Bruder wird irgendeinen öffentlichen Dienst anders als mit Zustimmung des Komitees, zu dem er gehört, übernehmen." Wenn wir auf Spanien und Italien zu sprechen kommen, werden wir sehen, wie sehr die Häupter der Allianz sich beeifert haben, diesen Artikel praktisch auszuführen. Die internationalen Brüder
„sind Brüder... jeder von ihnen muß allen anderen heilig sein, mehr als ein Bruder von Geburt; jeder Bruder hat auf die Hülfe und den Beistand aller anderen bis auf die/luslöschung der Möglichkeit zu rechnen." Die Affäre Netschajew wird uns enthüllen, was diese geheimnisvolle Auslöschung der Möglichkeit bedeutet.
„Alle internationalen Brüder kennen einander, Kein politisches Geheimnis darf je unter ihnen existieren. Keiner kann irgendeiner geheimen Gesellschaft angehören ohne positive Zustimmung seines Komitees oder im Notfall, wenn dieses es verlangt, ohne die des Zentralkomitees, und er kann ihr nur unter der Bedingung angehören, daß er ihnen alle Geheimnisse aufdeckt, welche sie direkt oder indirekt interessieren könnten."
Die Pi^tris und Stieber verwenden nur untergeordnete und verlorene Leute als Spione, die Allianz aber, indem sie ihre falschen Brüder in die geheimen Gesellschaften schickt, um deren Geheimnisse zu verraten, überträgt die Rolle des Spions denselben1 Männern, welche nach ihrem Plan die Leitung der „allgemeinen Revolution" übernehmen sollen. - Im übrigen setzt dieser revolutionäre Pickelhäring dem Gemeinen noch die Krone des Possenhaften auf:
„ Internationaler Bruder kann nur werden, wer offen das ganze Programm in allen seinen theoretischen und praktischen Konsequenzen angenommen hat und mit der Intelligenz, Energie, Ehrenhaftigkeit (!) und Zuverlässigkeit die revolutionäre Leidenschaft verbindet - den Teufel im Leibe hat." II. Die nationalen Brüder werden nach demselben Plan von den internationalen Brüdern in jedem Lande als nationale Assoziation organisiert, doch dürfen sie in keinem Falle auch nur die Existenz einer internationalen Organisation ahnen. III. Die geheime Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie, deren Mitglieder sich so ziemlich1 überall rekrutieren, besitzt ein gesetzgebendes Organ in dem permanenten Zentralkomitee, welches, so oft es zusammentritt, sich in die „Geheime Generalversammlung der Allianz" umtauft. Diese Versammlung findet einmal jährlich auf dem Kongreß der Internationalen statt, oder außerordentlich auf Einberufung durch das Zentralbüro oder vielmehr durch die Genfer Zentralsektion. Die Genfer Zentralsektion ist »die permanente Delegation des permanenten Zentralkomitees" und „der vollziehende Rat der Allianz". Sie zerfällt wiederum in zwei Unterabteilungen: Zentralbüro und Überwachungskomitee. Das Zentralbüro, aus 3 bis 7 Mitgliedern bestehend, ist die eigentliche Exekutivgewalt der Allianz:
„Es erhält von der Genfer Zentralsektion seine Winke und hat seinerseits seine geheimen Mitteilungen, um nicht zu sagen seine Befehle, an alle Nationalkomitees zu richten, von denen es wenigstens einmal monatlieh geheime Berichte zu empfangen hat." Dieses Zentralkomitee hat das Mittel entdeckt, zugleich Fisch und Fleisch, geheim und öffentlich zu sein, denn als Teil „der geheimen Zentralsektion ist das Zentralbüro eine geheime Organisation; als öffentliches Direktorium der öffentlichen Allianz ist es eine öffentliche Organisation". Man sieht also, daß Bakunin bereits die ganze geheime und öffentliche Direktion seiner „teuern Allianz" organisiert hatte, bevor diese selbst existierte, und daß die bei irgendeiner Wahl beteiligten Mitglieder nur die Marionetten eines von ihm gelenkten Puppenspiels waren. Übrigens geniert er sich auch nicht, es zu sagen, wie wir gleich sehen werden. Die Genfer Zentralsektion, deren Aufgabe es sein sollte, dem Zentralbüro seine Winke zu geben, ist selbst nur eine Komödie, denn ihre Majoritätsbeschlüsse2 sind für das Büro nur obligatorisch, wenn dieses nicht
1 In der französischen Ausgabe fehlt: so ziemlich — 2 in der französischen Ausgabe: Beschlüsse, wenn sie auch mit einer Majorität angenommen sein mochten (statt: Majoritätsbeschlüsse)
„in der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt, dagegen an die Generalversammlung zu appellieren, die es dann innerhalb drei Wochen einzuberufen hat. Eine so einberufene Generalversammlung bedarf, um beschlußfähig zu sein, der Anwesenheit von zwei Dritteln aller ihrer Mitglieder." Man sieht, das Zentralbüro hatte sich mit allen konstitutionellen Garantien zur Sicherung seiner Unabhängigkeit umgeben. Man könnte die Naivetät haben zu glauben, daß dieses autonome Zentralbüro wenigstens frei gewählt wäre von der Genfer Zentralsektion. Durchaus nicht; das provisorische Zentralbüro ist „der Genfer Gründungsgruppe präsentiert worden als provisorisch gewählt von allen Gründungsmitgliedern der Allianz, die, zum größten Teil ehemalige Mitglieder des Kongresses zu Bern, heimgereist sind" (mit Ausnahme Bakunins), „nachdem sie ihre Vollmacht an den Bürger Bakunin übertragen". Die Gründungsmitglieder der Allianz sind also niemand anders als die paar sezessionistischen Bourgeois der Friedensliga. Also: das permanente Zentralkomitee, welches sich die konstituierende und gesetzgebende Gewalt über die ganze Allianz angemaßt, hatte sich selbst ernannt. Die permanente Exekutiv-Delegation dieses permanenten Zentralkomitees, die Genfer Zentralsektion, hatte sich selbst ernannt, statt von diesem Komitee ernannt zu sein. Das vollziehende Zentralbüro dieser Genfer Zentralsektion, statt von dieser gewählt zu sein, war ihr durch eine Gruppe von Individuen aufgedrängt, welche sämtlich „ihre Vollmachten an den Bürger Bakunin übertragen" hatten. Also der „Bürger B." ist der Angelpunkt der Allianz. Und um seine Funktion als solcher zu behaupten, sagen die geheimen Statuten der Allianz buchstäblich:
„ Ihre sichtbare Regierungsform wird die einer Präsidentschaft in einer FöderativRepublik sein" eine Präsidentschaft, für welche der Präsident schon im voraus existierte, der permanente „Bürger B.". Da die Allianz eine internationale Gesellschaft ist, so besteht in jedem Lande ein Nationalkomitee, das „von allen zu derselben Nation gehörigen Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees" gebildet wird. Zur Konstituierung eines Nationalkomitees sind nur drei Mitglieder erforderlich. Um die Regelmäßigkeit des bürokratischen Instanzenzugs zu sichern, sollen
„die Nationalkomitees als die einzigen Mittelsorgane zwischen dem Zentralbüro und allen Lokalgruppen ihres Landes" dienen. Die Nationalkomitees haben
„für die Organisation der Allianz in ihrem Lande zu sorgen, doch in der Art, daß diese immer durch Mitglieder des permanenten Zentralkomitees beherrscht und auf den Kongressen vertreten werden". Das nennt man in der Allianzsprache: von unten herauf organisieren. Diese Lokalgruppen haben nur das Recht, ihre Programme und Reglements an die Nationalkomitees zu bringen, damit sie
„der Bestätigung des Zentralbüros unterbreitet werden; ohne diese Bestätigung können die Lokalgruppen keinen Teil der Allianz bilden".
War diese despotische und hierarchische geheime Organisation einmal auf die Internationale gepfropft, dann brauchte man, um sie vollständig zu machen, nur noch diese letztere zu desorganisieren. Zu diesem Zwecke genügte es, deren Sektionen zu anarchisieren und zu autonomisieren, und ihre Zentralorgane in einfache Briefkästen, „Korrespondenz- und statistische Büros" umzuwandeln, wie dies wirklich später versucht wurde. Die revolutionäre Vergangenheit des permanenten „Bürgers B." war nicht ruhmreich genug, ihm die Hoffnung zu gestatten, in der geheimen Allianz, und noch weniger in der öffentlichen Allianz, die Permanenz der Diktatur zu verewigen, welche er zu seinen Gunsten mit Beschlag belegt hatte. Er mußte sie also unter demokratisierenden Spiegelfechtereien verbergen. Die geheimen Statuten schreiben demgemäß vor, daß das provisorische Zentralbüro (lies: der permanente Bürger) bis zur ersten öffentlichen Generalversammlung der Allianz zu funktionieren hat, welche dann die Mitglieder des neuen permanenten Zentralbüros ernennt. Aber,
„da es dringend notwendig ist, daß das Zentralbüro stets nur aus Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees bestehe, so wird dieses letztere vermittelst seiner Nationalkomitees dafür sorgen müssen, alle lokalen Gruppen so zu organisieren und zu leiten, daß sie als Delegierte in diese Versammlung nur Mitglieder des permanenten Zentralkomitees senden, oder in deren Ermangelung nur Leute, die vollständig der Leitung ihrer respektiven Nationalkomitees ergeben sind, damit das permanente Zentralkomitee in der ganzen Organisation der Allianz stets die Oberhand habe".
Diese Instruktionen sind nicht von einem bonapartistischen Minister oder Präfekten am Tage vor den Wahlen gegeben, sondern von dem quintessenziierten Anti-Autoritäts-Mann, von dem Erzanarchisten, von dem
Apostel der Organisation von unten herauf, von dem Bayard1 der Autonomie der Sektionen und der2 Föderation der autonomen Gruppen, von Sankt-Michail Bakunin zum Schutze seiner Permanenz. Wir haben eben die zur Verewigung der Diktatur des „Bürgers B." geschaffene Organisation3 geprüft; wir kommen jetzt auf ihr Programm.
„Die Assoziation der internationalen Brüder will die allgemeine, zu gleicher Zeit soziale, philosophische, ökonomische und politische Revolution, damit von der gegenwärtigen Ordnung der Dinge, begründet wie sie ist auf dem Eigentume, der Ausbeutung, der Herrschaft und dem Autoritätsprinzip - dasselbe sei religiös oder metaphysisch und bourgeois-doktrinär, ja selbst jakobinisch-revolutionär zunächst in ganz Europa und dann auf der übrigen Welt kein Stein auf dem andern bleibe. Mit dem Rufe: Frieden den Arbeitern, Freiheit den Unterdrückten und Tod den Herrschern, Ausbeutern und Vormündern jeder Sorte! wollen wir alle Staaten und alle Kirchen nebst allen ihren religiösen, politischen, juristischen, finanziellen, polizeilichen, universitätlichen, ökonomischen und sozialen Einrichtungen und Gesetzen vernichten, damit alle diese Millionen armen Menschenwesen, welche man bisher betrog, knechtete, marterte, ausbeutete, nunmehr von allen ihren offiziellen und offiziösen Lenkern und Wohltätern befreit, Genossenschaften wie Individuen, endlich in vollkommener Freiheit aufatmen."
Das heißt schon revolutionärer Revolutionarismus! Um zu diesem Abrakadabra-Ziel zu gelangen, ist die erste Bedingung nicht etwa die, die bestehenden Staaten und Regierungen mit den bei den gewöhnlichen Revolutionären gebräuchlichen Mitteln zu bekämpfen, sondern im Gegenteil mittelst klingender Doktorphrasen
„die Einrichtung des Staats überhaupt und deren natürliche Konsequenz wie Grundlage, das individuelle Eigentum", anzugreifen. Es handelt sich also nicht darum, den bonapartistischen, preußischen oder russischen Staat umzustürzen, sondern den abstrakten Staat, den Staat als solchen, einen Staat, der nirgends existiert. Doch wenn auch die internationalen Brüder bei ihrem erbitterten Kampf gegen diesen in den Wolken gelegenen Staat es verstehen, den Totschlägern, dem Gefängnis und den Kugeln aus dem Wege zu gehen, welche die wirklichen Staaten für die gewöhnlichen Revolutionäre aufsparen, so haben wir zugleich auch gesehen, daß sie sich das nur eines päpstlichen Dispenses bedürfende Recht reserviert haben, von allen Vorteilen Nutzen zu ziehen, welche ihnen die wirklichen Bourgeois-Staaten bieten. Fanelli, italienischer Deputierter,
1 Ritter ohne Furcht und Tadel - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: freien - 3 in der französischen Ausgabe: bestimmte geheime Organisation (statt: geschaffene Organisation)
Soriano, Beamter der Regierung Amadeo von Savoyen, und vielleicht auch Albert Richard und Gaspard Blanc, bonapartistische Polizeiagenten, zeigen uns, wie kulant der Papst in dieser Hinsicht ist... Auch kümmert sich die Polizei kaum um „die Allianz, oder, um offen das Wort zu gebrauchen, die Verschwörung" des Bürgers B. gegen den abstrakten Staatsbegriff. Der erste Akt der Revolution muß also die Dekretierung der Abschaffung des Staats sein, wie es Bakunin am 28. September in Lyon getan hat, obwohl diese Abschaffung des Staats notwendig ein Autoritätsakt ist. Unter Staat versteht er jede politische, revolutionäre oder reaktionäre Gewalt,
„denn es ist uns wenig daran gelegen, ob dieselbe sich Kirche, Monarchie, konstitutioneller Staat, Bourgeoisie-Republik oder selbst revolutionäre Diktatur nennt. Wir verabscheuen und verwerfen sie alle aus gleichem Grunde, als unfehlbare Quellen der Ausbeutung und des Despotismus." Ja, er erklärt, daß alle Revolutionäre, welche am Tage nach der Revolution „den Aufbau des revolutionären Staates" wollen, noch viel gefährlicher sind als alle bestehenden Regierungen, und daß
„wir, die internationalen Brüder, die natürlichen Feinde dieser Revolutionäre sind", denn es ist die erste Pflicht der internationalen Brüder, die Revolution zu desorganisieren. Die Antwort auf diese Aufschneidereien über die sofortige Abschaffung des Staates und über die Gründung der Anarchie findet man bereits in dem vertraulichen Zirkular des letzten Generalrats: „Les pretendues scissions dans 1'Internationale" (Die angeblichen Spaltungen in der Internationale) vom März 1872, Seite 371: „Die Anarchie, das ist das große Paradepferd ihres Meisters Bakunin, der von allen sozialistischen Systemen nur die Aufschriften aufgenommen hat. Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen, erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu erhalten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen. Die Allianz greift die Sache am umgekehrten Ende an. Sie proklamiert die Anarchie in den Reihen der Proletarier als das unfehlbarste Mittel, die gewaltigen, in den Händen der Ausbeuter konzentrierten gesellschaftlichen und politischen Machtmittel zu brechen. Unter diesem Vorwande verlangt sie von der Internationalen in demselben Augenblick, wo die alte
Welt sie zu zermalmen strebt, daß sie ihre Organisation durch die Anarchie ersetze." Doch verfolgen wir das anarchistische Evangelium bis in seine Konsequenzen; nehmen wir an, der Staat sei durch ein Dekret abgeschafft. Nach Artikel 61 werden die Konsequenzen dieses Akts sein: der Staatsbankerott, das Aufhören der Bezahlung von Privatschulden vermöge der Einmischung des Staates, das Aufhören jeder Steuerzahlung und Abgabenleistung, die Auflösung des Heeres, der Magistratur, der Bürokratie, der Polizei und der Priester2, die Abschaffung der amtlichen Rechtspflege, begleitet von einem Autodafe aller Eigentumstitel, der gesamten juridischen und zivilen Akten-Makulatur, die Konfiskation aller produktiven Kapitalien und Arbeitswerkzeuge zugunsten der Arbeitergenossenschaften, und die Allianz dieser Genossenschaften, welche „die Kommune konstituieren wird". Diese Kommune wird den so Beraubten genau das Notwendige geben, indem sie ihnen freistellt, durch ihre eigene Arbeit mehr zu erwerben. Die Tatsache hat es in Lyon bewiesen, daß die einfache Dekretierung der Abschaffung des Staates lange nicht hinreicht, um alle diese schönen Versprechungen zu erfüllen. Zwei Kompanien Bourgeois-Nationalgarden genügten im Gegenteil, um diesen glänzenden Traum zu vernichten und Bakunin in aller Eile auf den Marsch nach Genf zu bringen, das wundertätige Dekret in der Tasche. Auch konnte er bei seinen Anhängern nicht hinreichende Dummheit voraussetzen, um nicht die Notwendigkeit einzusehen, ihnen irgendeinen Organisationsplan zu geben, der die Ausführung seines Dekrets sicherstellen sollte. Dieser Plan ist folgender:
„Zur Organisation der Kommune: eine Föderation der Barrikaden in Permanenz und die Einsetzung eines Rats der revolutionären Kommune durch Delegation von einem oder zwei Abgeordneten für jede Barrikade, einem für die Straße oder für den Bezirk; die Deputierten sind mit imperativen Mandaten versehen und stets verantwortlich sowie jederzeit widerrufbar" (es sind drollige Dinger, diese Allianzbarrikaden, auf denen man Mandate redigiert, statt sich zu schlagen). „Der so organisierte Kommunalrat kann aus seiner Mitte für jeden Zweig der revolutionären Verwaltung der Kommune besondere Vollziehungsausschüsse wählen." 3
Die so als Kommune konstituierte insurgierte Hauptstadt erklärt dann den anderen Kommunen des Landes, daß sie jedem Anspruch, sie zu regieren, entsage; sie fordert sie auf, sich revolutionär zu reorganisieren und sodann ihre verantwortlichen, widerruf baren und mit imperativen Mandaten
x Siehe vorl. Band, S. 465 - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: (!) - 3 vgl. vorl. Band, S.465
versehenen Delegierten an einen verabredeten Versammlungsort zu senden, um die Föderation der insurgierten Assoziationen, Kommunen und Provinzen zu konstituieren und eine Revolutionsgewalt zu organisieren, stark genug, um über die Reaktion zu triumphieren. Diese Organisation wird sich nicht auf die Kommunen des insurgierten Landes beschränken, auch andere Provinzen oder Länder können an ihr teilnehmen, während
„die Provinzen, Kommunen, Genossenschaften, Individuen, welche die Partei der Reaktion ergreifen, ausgeschlossen bleiben".
Die Abschaffung der Grenzen hält hier also gleichen Schritt mit der nachsichtigsten Duldsamkeit gegenüber den reaktionären Provinzen, die nicht unterlassen werden, den Bürgerkrieg wieder anzufachen. Wir haben also in dieser anarchischen Organisation der TribunenBarrikaden zunächst den Kommunalrat, sodann Vollziehungsausschüsse, die, um irgend etwas vollziehen zu können, doch mit irgendeiner Macht versehen und von der öffentlichen Gewalt unterstützt sein müssen; wir haben ferner ein ganzes Föderal Parlament, dessen Hauptaufgabe es sein wird, diese öffentliche Gewalt zu organisieren. Dieses Parlament, ebenso wie der Kommunalrat, kann1 die Exekutivgewalt auf ein oder mehrere Komitees übertragen, die durch diese Tatsache selbst mit einem Autoritätscharakter versehen sind, den die Bedürfnisse des Kampfes schärfer und schärfer werden hervortreten lassen. Wir haben also alle Elemente des „Autoritätsstaates" aufs schönste wieder hergestellt, und es macht nichts aus, wenn wir diese Maschine „von unten herauf organisierte revolutionäre Kommune" nennen. Der Name ändert nichts an der Sache; die Organisation von unten herauf existiert in jeder Bourgeois-Republik und die imperativen Mandate datieren sogar aus dem Mittelalter. Übrigens erkennt Bakunin dies selbst an, wenn er (Art. 82) seiner Organisation den Namen des „neuen revolutionären Staates" beilegt. Was den praktischen Wert dieses neuen3 Revolutionsplanes anlangt, wo man diskutiert, statt sich zu schlagen, so verlieren wir darüber kein Wort. Jetzt kommen wir aber an das Geheimnis all dieser Zauberbüchsen der Allianz mit doppeltem und dreifachem Boden. Damit das orthodoxe Programm auch befolgt werde und die Anarchie sich stets einer guten Aufführung befleißige,
1 In der französischen Ausgabe: müßte - 2 siehe vorl. Band, S. 466 — 3 in der französischen Ausgabe fehlt: neuen
„ist es notwendig, daß inmitten der Volksanarchie, welche eben das Leben und die ganze Kraft der Revolution bilden wird, die Einheit des Gedankens und des revolutionären Handelns ein Organ finde. Dieses Organ soll die geheime und universelle Assoziation der internationalen Brüder sein." „Diese Assoziation geht von der Überzeugung aus, daß Revolutionen niemals gemacht werden, weder von Individuen, noch von geheimen Gesellschaften: Sie machen sich wie von selbst, durch die Macht der Dinge, durch die Bewegung der Ereignisse und der Tatsachen. Lange bereiten sie sich vor in der Tiefe des instinktiven Bewußtseins der Volksmassen, dann kommen sie zum Ausbruch... Alles, was eine gut organisierte geheime Gesellschaft tun kann, besteht zunächst darin, daß sie die Geburt einer Revolution befördert, indem sie in den Massen die den Masseninstinkten entsprechenden Ideen verbreitet, und daß sie, nicht die Revolutionsarmee - die Armee muß immer das Volk sein" (das Kanonenfutter) „- wohl aber einen revolutionären Generalstab organisiert, der aus ergebenen, energischen, intelligenten Individuen und vor allem aus aufrichtigen und nicht ehrgeizigen oder eitlen Freunden des Volkes besteht, die die Fähigkeit besitzen, als Vermittler zwischen der" (von ihnen monopolisierten) „revolutionären Idee und den Volksinstinkten zu dienen." „Die Zahl dieser Individuen darf also nicht sehr groß sein. Für die internationale Organisation in ganz Europa genügeti hundert fest und ernst verbündete Revolutionäre. Zwei-, dreihundert Revolutionäre werden für die Organisation des größten Landes genügen."1
So zeigt sich uns auf einmal ein anderes Bild. Die Anarchie, das „entfesselte Volksleben", die „bösen Leidenschaften" usw. reichen nicht mehr aus. Um den Erfolg der Revolution zu sichern, bedarf es der Einheit des Gedankens und des Handelns. Die Internationalen suchen diese Einheit zu schaffen durch die Propaganda, die Diskussion und die öffentliche Organisation des Proletariats; Bakunin braucht dazu bloß eine geheime Organisation von hundert Mann, den privilegierten Vertretern der revolutionären Idee; einen disponiblen, selbsternannten und vom permanenten „Bürger B." kommandierten Revolutionsgeneralstab. Einheit des Gedankens und des Handelns heißt weiter nichts als Orthodoxie und blinder Gehorsam. Perinde ac cadaver? Wir befinden uns mitten in der Gesellschaft Jesu. Der Ausspruch, daß die hundert internationalen Brüder „als Vermittler zwischen der revolutionären Idee und den Volksinstinkten dienen" müssen, schafft eine unübersteigbare Kluft zwischen der revolutionären Idee der Allianz und denProletariermassen. Er proklamiert die Unmöglichkeit, diese Hundert-Garden anderwärts anzuwerben als aus den privilegierten Klassen.
1 Siehe vorl. Band, S. 466/467 - 2 Wie eine Leiche. (So wurde von Loyola eins der Prinzipien der Jesuiten formuliert, das den blinden Gehorsam der jüngeren Mitglieder des Ordens gegenüber den älteren vorschrieb.)
III
Die Allianz in der Schweiz
Die Allianz ist wie Falstaff, sie weiß, daß Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist. Und so hindert der „Teufel im Leibe" die internationalen Brüder durchaus nicht, sich demütig vor der bestehenden Staatsmacht zu beugen, während sie zugleich energisch gegen den Staatsbegriff protestieren; ihre Angriffe richten sie jedoch ausschließlich gegen die Internationale. Zuerst wollten sie sie beherrschen; als dies ihnen mißlang, versuchten sie, sie zu desorganisieren. Wir werden jetzt ihre Tätigkeit in den verschiedenen Ländern darlegen. Die internationalen Brüder waren nur ein Generalstab zur Disposition; was ihnen fehlte, war eine Armee. Die Internationale schien ihnen zu diesem Zwecke geschaffen und in die Welt gesetzt. Um das Kommando dieser Armee übernehmen zu können, galt es die öffentliche Allianz in sie einzunisten. Befürchtend, daß diese ihrer Würde vergäbe, wenn sie beim Generalrat ihre Zulassung beantragte, und dadurch dessen Befugnisse anerkannt hätte, wandten sie sich wiederholt aber vergeblich an den Belgischen und den Pariser Föderalrat. Die wiederholten Zurückweisungen zwangen die Allianz, am 15. Dezember 1868 beim Generalrat ihre Aufnahme zu beantragen. Sie sandte ihre Statuten und ihr Programm ein, die offen ihre Absicht aussprachen. (Beweisstücke Nr. 21.) Obwohl sich die Allianz als „vollständig in der Internationale aufgegangen" erklärte, beanspruchte sie doch, in deren Schoß eine zweite internationale Körperschaft zu bilden. Neben dem durch die Kongresse gewählten Generalrat der Internationalen gab es da ein selbsternanntes, in Genf tagendes Zentralkomitee der Allianz; neben den Lokalgruppen der Internationalen bestanden die Lokalgruppen der Allianz, die vermittelst ihrer, außerhalb den Nationalbüros der Internationalen funktionierenden Nationalbüros „beim Zentralbüro der Allianz
ihre Aufnahme in die Internationale Arbeiter-Assoziation zu beantragen haben".1 Das Zentralbüro der Allianz maßte sich also das Recht an, in die Internationale aufzunehmen. Neben den Kongressen der Internationalen sollten die Kongresse der Allianz stattfinden, denn „bei den jährlichen Arbeiterkongressen" beanspruchte „die Delegation der Allianz... ihre öffentlichen Sitzungen in einem besonderen Lokale zu halten". Am 22. Dezember erklärte der Generalrat (in einem in dem Zirkular „Les pretendues scissions dans 1'Internationale", Seite 7, veröffentlichten Briefe2) diese Ansprüche in schlagendem Widerspruch mit den Statuten der Internationalen und wies kurzweg die Aufnahme der Allianz zurück. Einige Monate später wandte sich diese von neuem an den Generalrat und fragte an, ob er ihre Grundsätze anerkenne oder nicht. Im erstem Falle erklärte sie sich bereit, sich in einfache internationale Sektionen aufzulösen. Der Generalrat antwortete hierauf am 9. März 1869 (siehe: „Les Eretendues scissions", Seite 83), daß es über seine Amtsbefugnisse hinausgehe, sich über den wissenschaftlichen Wert des Programms der Allianz auszusprechen, und daß, wenn man statt „Gleichmachung der Klassen" „Abschaffung der Klassen" setzte, der Umwandlung der Sektionen der Allianz in Sektionen der Internationalen kein Hindernis im Wege stehe. Er fügte hinzu: „Wenn die Auflösung der Allianz und der Eintritt der Sektionen in die Internationale endgültig beschlossen wären, so würde es nach unseren Verwaltungsverordnungen notwendig werden, den Generalrat von dem Ort und der Mitgliederzahl jeder neuen Sektion zu unterrichten." Am 22. Juni 1869 zeigte die Genfer Sektion der Allianz dem Generalrat die erfolgte Auflösung der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie an, deren sämtliche Sektionen aufgefordert seien, „sich in internationale Sektionen umzuwandeln". Nach dieser ausdrücklichen Erklärung, und im Irrtum gehalten durch einige Unterschriften des Programms, welche voraussetzen ließen, daß die Sektion vom Romanischen Föderalkomitee anerkannt sei, nahm der Generalrat sie auf. Wir müssen hinzufügen, daß keine der angenommenen Bedingungen jemals erfüllt worden ist. Im Gegenteil: die hinter der öffentlichen Allianz verborgene geheime Organisation trat mit diesem Augenblick erst in volle Tätigkeit. Hinter der Genfer internationalen Sektion stand das Zentralbüro der geheimen Allianz, hinter den internationalen Sektionen zu Neapel, Barcelona, Lyon, im Jura die geheimen Sektionen der Allianz. Gestützt auf diese Freimaurerei, deren Existenz nicht einmal geahnt wurde, weder von der Masse der Internationalen, noch
von ihren Verwaltungszentren, hoffte Bakunin, auf dem Kongreß zu Basel im September 1869 sich der Leitung der Internationalen zu bemächtigen. Auf diesem Kongreß war die geheime Allianz, dank den von ihr angewandten, nicht gerade loyalen Mitteln, durch mindestens zehn Delegierte vertreten, unter ihnen der bekannte Albert Richard und Bakunin selbst. Sie hatte eine Anzahl Blanko-Mandate mitgebracht, von denen man aus Mangel an zuverlässigen Leuten keinen Gebrauch machen konnte, obwohl man sie Baseler Internationalen anbot. Trotzdem reichte diese Anzahl nicht einmal hin, von dem Kongreß die Abschaffung des Erbrechts sanktionieren zu lassen, diese alte Saint-Simonsche Schrulle, welche Bakunin zum praktischen Ausgangspunkte des Sozialismus machen wollte[2801; noch weniger konnte man dem Kongreß die von Bakunin erstrebte Verlegung des Generalrats von London nach Genf aufzwingen. Indessen herrschte in Genf offener Krieg zwischen dem durch die fast einmütige Haltung der Genfer Internationalen unterstützten Romanischen Föderalkomitee und der Allianz. Letztere hatte zu Verbündeten in diesem Kampf den von James Guillaume redigierten „Progres" in Locle und die Genfer „Egalite", die, obwohl offizielles Organ des Romanischen Föderalkomitees, durch ein in der Majorität allianzistisches Komitee redigiert wurde und bei jeder Gelegenheit das Romanische Föderalkomitee angriff. Das große Ziel, die Verlegung des Sitzes des Generalrats nach Genf, nicht aus dem Auge verlierend, eröffnete die Redaktion der „Egalite" einen Feldzug gegen den bestehenden Generalrat und forderte den Pariser „Travail" auf, sie zu unterstützen. Der Generalrat erklärte in seinem Zirkular vom 1 .Januar 1870'281', daß er keine Polemik gegen Journale führe. Inzwischen hatte das Romanische Föderalkomitee bereits die Leute von der Allianz aus der Redaktion der „Egalite" entfernt. Zu dieser Zeit hatte die Sekte noch nicht ihre Antiautoritäts-Maske vorgenommen. Da sie glaubte, sich des Generalrats bemächtigen zu können, war sie zuerst bei der Hand, auf dem Baseler Kongreß die Verwaltungsverordnungen zu beantragen und aufzusetzen, welche dem Generalrate dieselben „Autoritätsbefugnisse" (pouvoirs autoritaires) einräumten, die sie selbst zwei Jahre später so heftig angriff. Nichts zeichnet besser die Vorstellung, die sie damals von der Autoritätsrolle des Generalrats hatte, als der folgende Auszug aus dem von James Guillaume redigierten „Progres" von Locle vom 4. Dezember 1869, gelegentlich des Streits zwischen dem „Social-Demokrat"12821 und dem „Volksstaat":
„Es scheint uns Pflicht des Generalrats unserer Genossenschaft zu sein, einzuschreiten, eine Untersuchung über die Vorgänge in Deutschland zu eröffnen, sich zwischen
Schweitzer und Liebknecht zu erklären und hierdurch der Ungewißheit ein Ende zu machen, in welche uns diese befremdende Lage versetzt." Sollte man es glauben, daß dies derselbe Guillaume ist, der am 12. November 1871 in dem Zirkular von Sonvillier demselben, früher zu wenig Autorität übenden Generalrat den Vorwurf machte, daß er „das Autoritätsprinzip in die Internationale habe einführen wollen"! Die Zeitschriften der Allianz, nicht zufrieden damit, ihr besonderes Programm zu verbreiten, was ihnen niemand übelgenommen hätte, hatten von vornherein alles aufgeboten, eine wohlberechnete Verwirrung zwischen ihrem Programm und dem der Internationalen zu schaffen und aufrechtzuhalten. Dies wiederholte sich überall, wo die Allianz über eine Zeitschrift verfügte oder an derselben mitarbeitete, in Spanien, in der Schweiz, in Italien; aber erst in ihren russischen Veröffentlichungen gelangte das System zu seiner Vollkommenheit. Die Sekte führte ihren großen Schlag auf dem Kongreß der Romanischen Föderation zu La Chaux-de-Fonds (4. April 1870). Es handelte sich darum, die Genfer Sektionen zu zwingen, die Genfer öffentliche Allianz als einen Teil der Föderation anzuerkennen, und das Föderalkomitee und sein Organ nach einem Orte im Jura zu verlegen, wo die geheime Allianz Meister war. Bei Eröffnung des Kongresses verlangten zwei Delegierte der „Sektion der Allianz" ihre Zulassung. Die Genfer Delegierten beantragten, diese Angelegenheit auf den letzten Teil des Kongresses zu verweisen und sofort in die Beratung des Programms zu treten, weil dies weit wichtiger sei. Sie erklärten, daß ihr imperatives Mandat ihnen vorschreibe, sich eher zurückzuziehen, als jene Sektion in ihrer Gruppe zuzulassen, „in Ansehung der Intrigen und Herrschaftsgelüste der Leute von der Allianz; man würde die Spaltung in der romanischen Sektion beschließen, wenn man die Zulassung der Allianz beschlösse". Aber die Allianz wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Die Nähe ihrer kleinen Sektionen im Jura hatte es ihr ermöglicht, sich eine kleine scheinbare Majorität zu verschaffen, da Genf und die großen Zentren der Internationalen nur sehr schwach vertreten waren. Auf Andringen Guillaumes und Schwitzguebels wurde sie mit einer angefochtenen Majorität von einer oder zwei Stimmen zugelassen. Die Genfer Delegierten befragten sofort alle Sektionen telegraphisch und erhielten den Auftrag, sich vom Kongreß zurückzuziehen. Da die Internationalen von La Chaux-deFonds die Genfer unterstützten, mußten die Allianzisten das Kongreßlokal verlassen, das den Sektionen des Ortes gehörte. Obwohl sie nach ihrem
eigenen Organ (siehe die „Solidarite" vom 7. Mai 1870) nur fünfzehn Sektionen repräsentierten, während Genf allein deren dreißig hatte, maßten sie sich den Titel eines romanischen Kongresses an, ernannten ein neues Romanisches Föderalkomitee, in welchem Che Valley und Cognon* glänzten, und erhoben die Guillaumesche „Solidarite" zum Organ der Romanischen Föderation. Was Guillaume anbetrifft, so hatte dieser junge Schulmeister die besondere Aufgabe, die Genfer „Fabrikarbeiter" [301, diese „scheußlichen Bourgeois", zu verschreien, die „Egalite", das Blatt der Romanischen Föderation, zu bekämpfen und absolute Enthaltung auf politischem Gebiete zu predigen. Die hervorstechendsten Artikel über diesen letzten Gegenstand rührten her von Bastelica in Marseille und von den beiden Hauptsäulen der Allianz in Lyon, Albert Richard und Gaspard Blanc. Die augenblickliche und gefälschte Mehrheit des Kongresses zu La Chaux-de-Fonds hatte übrigens mit offener Verletzung der Statuten der Romanischen Föderation gehandelt, die sie zu repräsentieren vorgab, und man muß hierbei nicht vergessen, daß die Häupter der Allianz einen bedeutenden Anteil an der Abfassung dieser Statuten gehabt hatten.[2S3' Laut Art. 53 und 55 mußte jede wichtige Entscheidung des Kongresses, ujn Gesetzeskraft zu erhalten, die Zustimmung von zwei Dritteln der föderierten Sektionen haben. Nun bildeten die Sektionen von Genf und La Chaux-de-Fonds, die sich gegen die Allianz ausgesprochen hatten, allein über zwei Drittel der Gesamtzahl. In zwei großen Generalversammlungen billigten die Genfer Internationalen fast einstimmig, trotz der Opposition Bakunins und seiner Freunde, das Auftreten ihrer Delegierten, die unter allgemeinem Beifall der Allianz vorschlugen, für sich zu bleiben und von ihrem Verlangen, in die Romanische Föderation einzutreten, abzustehen; um diesen Preis wäre die Aussöhnung fertig. Später schlugen einige enttäuschte Mitglieder der Allianz deren Auflösung vor, aber Bakunin und seine Anhänger widersetzten sich dem aus allen Kräften. Die Allianz hielt ihren Anspruch aufrecht, unter allen Umständen der Romanischen Föderation anzugehören, und dieser blieb nichts übrig, als Bakunin und die anderen Hauptführer aus ihrer Mitte auszustoßen. Es gab also nun zwei Romanische Föderalkomitees, eins in Genfundeins in La Chaux-de-Fonds. Die ungeheure Mehrheit der Sektionen blieb dem
* Zwei Monate später bezeichnet das Organ dieses selben Komitees, die „Solidarite" vom 9. Juli, diese beiden Individuen als Diebe. Sie hatten wirklich eine Probe ihres anarchischen Revolutionarismus abgelegt, indem sie die kooperative Genossenschaft der Schneider zu La Chaux-de-Fonds bestahlen.
ersteren treu, während dem anderen nur fünfzehn Sektionen folgten, von denen viele, wie wir später sehen werden, eine nach der anderen eingingen. Kaum war der romanische Kongreß geschlossen, als das neue Komitee zu La Chaux-de-Fonds in einem „F. Robert, Sekretär, und Henri Chevalley, Präsident" (siehe die vorige Anmerkung) unterzeichneten Briefe an die Intervention des Generalrats appellierten. Der Generalrat prüfte die Beweisstücke beider Parteien und beschloß dann am 28. Juni 1870, das Genfer Komitee in seinen bisherigen Funktionen aufrechtzuhalten und das neue Föderalkomitee von La Chaux-de-Fonds aufzufordern, einen lokalen Namen anzunehmen[284!. Gegenüber dieser Entscheidung, welche seinen Wünschen so wenig entsprach, zeterte nun das Komitee zu La Chaux-deFonds über den Autoritarismus des Generalrats, wobei es vergaß, daß es selbst zuerst seine Intervention verlangt hatte. Die Hartnäckigkeit, mit der das Komitee zu La Chaux-de-Fonds sich den Namen: Romanisches Föderalkomitee anmaßte, brachte in der Schweizer Föderation solche Störungen hervor, daß der Generalrat genötigt wurde, jede Beziehung mit demselben abzubrechen. Am 4. September 1870 wurde die Republik in Paris proklamiert. Die Allianz glaubte, die Stunde habe geschlagen, um „die revolutionäre Hydra in der Schweiz zu entfesseln" (Guillaumescher Stil). Die „Solidarite" ließ ein Manifest los, welches die Bildung von schweizerischen Freikorps gegen die Preußen verlangte. Dieses Manifest war jedoch, wenn wir dem Pädagogen Guillaume Glauben schenken wollen, um „in keiner Weise anonym" zu sein, „nicht unterzeichnet". Leider verdampfte die ganze kriegerische Glut der Allianz mit der Beschlagnahme des Blattes und des Manifestes. Aber ich, rief der stürmische Guillaume aus, der „seine Haut zu Markte zu tragen" brannte, „ich blieb auf meinem Posten - in der Druckerei der Zeitung" („Jura-Bulletin", 15. Juni 1872). Die revolutionäre Bewegung zu Lyon war ausgebrochen. Bakunin stürzt hin, seinem Lieutenant Albert Richard und seinen Unteroffizieren Bastelica und Gaspard Blanc zu Hülfe kommend. Am 28. September, dem Tage seiner Ankunft, hatte das Volk sich des Stadthauses bemächtigt. Bakunin nahm Posto darin: der kritische, der lange Jahre hindurch erwartete Moment war endlich da, an welchem Bakunin den revolutionärsten Akt vollziehen konnte, den die Welt jemals gesehen - er dekretierte die Abschaffung des Staates. Aber der Staat, in der Form und Gestalt von zwei Kompanien Bourgeois-Nationalgarden, drang ein durch einen Eingang, den zu besetzen man vergessen hatte, fegte den Saal aus und schickte Bakunin eiligst auf den Weg nach Genf.
In demselben Augenblick, wo der kriegerische Guillaume „auf seinem Posten" die September-Republik verteidigte, flüchtete sein getreuer Achates Robin vor dieser Republik nach London. Obwohl der Generalrat wußte, daß er einer der eingefleischtesten Parteigänger der Allianz und noch mehr, der Verfasser der gegen ihn in der „Egalite" geschleuderten Angriffe war, nahm er ihn dennoch, trotz der Berichte der Sektionen zu Brest über Robins wenig mutige Haltung, wegen der Abwesenheit seiner französischen Mitglieder in seine Mitte auf. Von diesem Augenblick fungierte Robin daselbst ununterbrochen als offiziöser Korrespondent des Komitees zu La Chaux-de-Fonds. Am 14. März 1871 schlug er die Einberufung einer vertraulichen Konferenz der Internationalen zur Erledigung des Schweizer Streites vor. Der Generalrat, voraussehend, daß große Ereignisse sich in Paris vorbereiteten, wies diesen Vorschlag kurzweg ab. Robin wiederholte seine Versuche mehrmals und machte endlich sogar den Vorschlag, der Generalrat solle über die Streitfrage endgültig entscheiden. Am 25. Juli entschied der Generalrat, daß diese Angelegenheit der für den Monat September 1871 einzuberufenden Konferenz mit unterbreitet werden solle. Am 10. August erklärte die Allianz, nicht sehr begierig, ihre Umtriebe von einer Konferenz in Untersuchung gezogen zu sehen, daß sie seit dem 6. desselben Monats aufgelöst sei. Indes, verstärkt durch einige französische Flüchtlinge, erschien sie bald unter anderen Namen wieder; so als Sektion der sozialistischen Atheisten und Sektion der revolutionären sozialistischen Propaganda und Aktion. Gemäß der Resolution V12851 des Kongresses zu Basel und in Übereinstimmung mit dem Romanischen Föderalkomitee weigerte sich der Generalrat, diese Sektionen, bloße neue Intrigenherde, anzuerkennen. Die Londoner Konferenz (September 1871) bestätigte gegenüber den Jura-Dissidenten die Entscheidung des Generalrats vom 28. Juni 1870. Nach Eingang der „Solidarite" gründeten die neuen Anhänger der Allianz die „Revolution Sociale", an der Frau Andre L£o schrieb, dieselbe, die auf dem Kongreß der Friedensliga zu Lausanne erklärt hatte, zu der Zeit, wo Ferre im Gefängnis die Stunde für den Gang nach Satory erwartete, daß
„Raoul Rigault und Ferre die beiden finsteren Gestalten der Kommune wären, welche bis dahin" (bis zur Hinrichtung der Geiseln) „ohne Unterlaß, doch immer vergebens, blutige Maßregeln verlangt hätten".
Von seiner ersten Nummer an bemühte sich dieses Blatt, sich auf gleiche Stufe mit dem „Figaro", „Gaulois", „Paris-Journal" und anderen
23 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Schmutzblättern zu stellen, deren infame Verleumdungen gegen den Generalrat es neu auflegte. Der Augenblick schien ihm günstig, innerhalb der Internationalen selbst die Flamme des Nationalhasses zu entzünden. Nach ihm war der Generalrat nur ein deutsches Komitee, geleitet von einem bismarckschen Gehirn. Die Konferenz hatte durch ihre drei Resolutionen über den Schweizer Streit, über die politische Haltung der Arbeiterklasse und über die öffentliche Desavouierung Netschajews die Allianz ins Herz getroffen.12861 Der erste Beschluß richtete einen direkten Tadel gegen das pseudo-romanische Komitee zu La Chaux-de-Fonds und billigte das Verfahren des Generalrats. Er riet den Jura-Sektionen, der Romanischen Föderation beizutreten, und für den Fall, daß diese Vereinigung nicht zustande käme, entschied er, daß die Sektionen in den Gebirgsgegenden den Namen der Jura-Föderation annehmen sollten. Er erklärte, daß, falls ihr Komitee seinen Zeitungskrieg vor dem Bourgeois-Publikum fortsetze, diese Zeitungen vom Generalrat desavouiert werden würden. - Der zweite Beschluß über die politische Haltung der Arbeiterklasse machte der Verwirrung ein Ende, welche Bakunin hatte in die Internationale bringen wollen, indem er in deren Programm die Lehre von der vollständigen Enthaltung auf politischem Gebiete einschob.Die dritte Resolution1 bedrohte Bakunin direkt. Weiter unten, wo wir auf Rußland zu sprechen kommen, wird man sehen, wie sehr Bakunin persönlich dabei interessiert war, die Niederträchtigkeiten der Allianz dem westlichen Europa zu verbergen. Die Allianz sah hierin, und mit Recht, eine Kriegserklärung und eröffnete ihren Feldzug sofort. Die Jura-Sektionen, welche das pseudo-romanische Komitee unterstützten, versammelten sich am 12. November 1871 zu einem Kongreß in Sonvillier.2 Sechzehn Delegierte waren dort erschienen, die neun Sektionen zu vertreten vorgaben. Nach dem Bericht des Föderalkomitees hatte die Sektion zu Courtelary, welche durch zwei Delegierte vertreten wurde, „ihre Tätigkeit eingestellt"; die Zentralsektion zu Locle „hatte sich schließlich aufgelöst", aber sich doch für den Augenblick wieder konstituiert, um zwei Delegierte zu dem Kongreß der Sechzehn zu senden; die Sektion der Graveurs und Guillocheurs zu Courtelary (zwei Delegierte) „konstituierte sich als Gewerksgenossenschaft" außerhalb der Internationalen; die Sektion der Propaganda zu La Chaux-de-Fonds (ein Delegierter) „ist in kritischer Lage, die, weit entfernt sich zu verbessern, sich noch zu verschlimmern droht". Die Zentralsektion zu Neuchäte! (zwei
Delegierte, darunter Guillaume) „hat bedeutend zu leiden gehabt, und ohne die Opferwilligkeit einiger Mitglieder war ihr Fall gewiß". Die beiden Zirkel für soziale Studien zu Sonvillier und Saint-Imier (vier Delegierte) im Bezirk von Courtelary haben sich nach dem Bericht infolge der Auflösung der Zentralsektion zu Courtelary gebildet; so lassen sich also die paar Mitglieder dieses Bezirks dreimal durch sechs Delegierte vertreten! Die Sektion zu Moutier (ein Delegierter) scheint nur aus ihrem Komitee zu bestehen. Also von sechzehn Delegierten vertreten vierzehn tote oder im Sterben begriffene Sektionen. Doch um den Zustand der Zerrüttung zu verstehen, welchen die Predigt der Anarchie in dieser Föderation angerichtet hatte, muß man noch ein wenig weiter diesen Bericht lesen. Von zweiundzwanzig Sektionen waren nur neun auf dem Kongreß vertreten; sieben hatten auf keine Mitteilung des Komitees je geantwortet und vier waren vollständig tot erklärt. Dies war die Föderation, welche sich berufen glaubte, die Organisation der Internationalen von Grund aus umzustürzen. Der Kongreß zu Sonvillier begann indes damit, sich vor der Londoner Konferenz, die ihm den Namen der Jura-Föderation beigelegt hatte, zu beugen; um gleichzeitig jedoch eine Probe seines Anarchismus abzulegen, erklärte er die ganze Romanische Föderation für aufgelöst. (Diese gab den Jurassiern ihre Autonomie wieder, indem sie sie aus ihren Sektionen jagte.) Darauf schleuderte der Kongreß sein lärmschlagendes Zirkular1551 in die Welt, dessen Hauptzweck war, gegen die Gesetzmäßigkeit der Konferenz zu protestieren und an einen allgemeinen Kongreß zu appellieren, der in kürzester Frist einberufen werden sollte. Das Zirkular beschuldigt die Internationale, von ihrem Geiste abgewichen zu sein, der nichts weiter sein sollte, „als ein ungeheurer Protest gegen die Autorität". Bis nach1 dem Kongreß zu Brüssel ging alles aufs beste in der besten der Gesellschaften, aber zu Basel verloren die Delegierten den Kopf; sie wurden die Beute eines „blinden Vertrauens" und griffen „den Geist und den Buchstaben der Allgemeinen Statuten" an, in denen die Autonomie jeder Sektion und jeder Sektionen-Gruppe so deutlich ausgesprochen war. Sonach hatte jetzt die Internationale die Autorität auf ihre Fahne geschrieben, und die Jura-Föderation, diese Marionette der Allianz, die Autonomie der Sektionen. Wir haben bereits gesehen, wie die Allianz diese Autonomie zu verwirklichen vorhat. Die Sünden des Kongresses zu Basel wurden noch von denen der Londoner Konferenz übertroffen, deren Beschlüsse
„danach streben, aus der Internationalen, der freien Föderation autonomer Sektionen, eine hierarchische, unter Autoritätsgewalt stehende Organisation disziplinierter Sektionen zu machen, vollständig in der Hand des Generalrats, der ganz nach Belieben ihre Zulassung verweigern oder selbst ihre Tätigkeit suspendieren könne". Die Allianzisten, welche dieses Zirkular abfaßten, vergaßen also, daß ihr geheimes Reglement nur dazu gemacht ist, eine „hierarchische und autoritäre Organisation" zu befestigen, die von der Person des permanenten „Bürgers B." gekrönt wird, und daß man in diesem Reglement Instruktionen gibt, um die Sektionen zu „disziplinieren" und sie vollständig nicht nur „in die Hand", sondern sogar „in die Oberhand" dieses selben „Bürgers" zu bringen. Waren schon die Sünden der Konferenz Todsünden, die Hauptsünde, die Sünde gegen den heiligen Geist, wurde doch vom Generalrat begangen. Es befinden sich in demselben „einige Persönlichkeiten", welche ihr „Mandat" (als Mitglieder des Generalrats) „als eine persönliche Eigenschaft1" betrachten, „und London erschien ihnen als unabsetzbare Hauptstadt unserer Assoziation... Es haben sich Leute verleiten lassen... in der Internationalen ihr spezielles Programm, ihre persönliche Doktrin zur Herrschaft bringen zu wollen... als offizielle Theorie, welche allein Bürgerrecht in der Assoziation habe... So hat sich nach und nach eine Orthodoxie gebildet, deren Sitz London und deren Vertreter die Mitglieder des Generalrats waren." Kurz, sie haben vermittelst der „Zentralisation und Diktatur" die Einheit der Internationalen begründen wollen. - In diesem selben Zirkular strebt die Allianz danach, „in der Internationalen ihr spezielles Programm zur Herrschaft zu bringen", indem sie dies selbe für „einen ungeheuren Protest gegen die Autorität" erklärt und indem sie den Ausspruch tut, daß die Emanzipation der Arbeiter durch die Arbeiter selbst sich machen müsse, „ohne jede leitende Autorität, gleichviel ob diese Autorität von den Arbeitern gewählt sei und deren Zustimmung habe". Wir werden sehen, wie überall, wo die Allianz Einfluß hatte, sie gerade das getan hat, was sie fälschlich dem Generalrat zum Vorwurf macht, daß sie ihr lächerliches Hirngespinst von Theorie als „offizielle Theorie, welche allein Bürgerrecht in der Assoziation hätte", aufzwingen wollte,* - Alles dieses bezieht sich
* Mazzini zum Beispiel machte die ganze Internationale für die grotesken Phantasien des Papstes Bakunin verantwortlich. Der Generalrat sah sich genötigt, öffentlich in den italienischen Blättern zu erklären, daß er „sich stets den wiederholten Versuchen widersetzt habe, welche darauf gerichtet waren, das weite und umfassende Programm
nur auf die öffentliche und sichtbare Tätigkeit der Allianz; was ihre geheime Tätigkeit anlangt, so hat der „Geist und Buchstabe" ihrer geheimen Statuten uns bereits Aufklärung verschafft über den Grad von „Orthodoxie", von „persönlicher Doktrin", von „Zentralisation" und „Diktatur", welche in dieser „freien Föderation autonomer Gruppen" herrschen. Wir begreifen sehr wohl, warum die Allianz die Arbeiterklasse hindern wollte, sich eine gemeinsame Leitung zu schaffen, da die Bakuninsche Vorsehung bereits für dieselbe gesorgt hatte, als sie ihre Allianz als Generalstab der Revolution konstituierte. Weit entfernt davon, der Internationalen eine Orthodoxie aufzuzwingen, hatte der Generalrat der Londoner Konferenz die Abschaffung der Sektennamen bestimmter Sektionen vorgeschlagen, und dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen* Folgendermaßen drückte sich übrigens der Generalrat in seinem vertraulichen Zirkular („Pret. scissions", p. 241) über die Sekten aus: „Die erste Phase in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist durch die Sektenbewegung bezeichnet. Diese ist berechtigt zu einer Zeit, in der das Proletariat sich noch nicht hinreichend entwickelt hat, um als Klasse zu handeln. Vereinzelte Denker unterwerfen die sozialen Gegensätze einer Kritik und geben zugleich eine phantastische Lösung derselben
der Internationalen (das selbst die Zulassung der Anhänger Bakunins als Mitglieder gestattete) durch das beschränkte und sektiererische Programm Bakunins zu ersetzen, dessen Annahme mit einem Schlage die ungeheure Mehrheit der Mitglieder der Internationalen ausschließen würde" J237l - Das Zirkular von Jules Favref58-!, der Bericht des Krautjunker-Deputierten Sacaze über unsere Assoziation, die reaktionären Reden bei der Debatte der spanischen Cortes über die Internationale!288!, kurz alle gegen dieselbe öffentlich gerichteten Angriffe wimmeln von Zitaten ultra-anarchischer Phrasen aus dem Bakuninschen Lager. * Resolution II der Konferenz, Art.2: - „Die lokalen Zweige, Sektionen oder Gruppen und ihre Komitees werden sich in Zukunft einfach und ausschließlich als Zweige, Sektionen, Gruppen und Komitees der Internationalen Arbeiterassoziation unter Zufügung des Namens der betreffenden örtlichkeit bezeichnen und konstituieren." Art.3: - „Es ist also von nun an den Zweigen, Sektionen oder Gruppen verboten, sich mit Sektennamen zu bezeichnen, wie zum Beispiel als positivistischer, mutualistischer, kollektivistischer, kommunistischer Zweig usw., oder separatistische Gruppen unter dem Namen: Sektion der Propaganda usw. zu bilden, die sich spezielle Aufgaben außerhalb des gemeinsamen von allen Gruppen der Internationalen verfolgten Zweckes stellen."!289]
welche die Masse der Arbeiter nur anzunehmen, zu verbreiten und praktisch ins Werk zu setzen braucht. Es liegt schon in der Natur dieser durch die Initiative einzelner gebildeten Sekten, daß sie sich jeder wirklichen Tätigkeit, der Politik, den Strikes, Gewerksgenossenschaften, mit einem Worte jeder Gesamtbewegung gegenüber fremd und abgeschlossen verhalten. Die Masse des Proletariats bleibt stets ihrer Propaganda gegenüber gleichgültig, ja selbst feindlich. Die Arbeiter von Paris und Lyon wollten ebensowenig von den Saint-Simonisten, Fourieristen, Ikariern wissen, wie die englischen Chartisten[aa91 und Trades-Unionisten von den Owenisten. Die Sekten, im Anfange Hebel der Bewegung, werden ein Hindernis, sowie diese sie überholt, sie werden dann reaktionär; Beweis dafür sind die Sekten in Frankreich und England und letzthin die Lassalleaner in Deutschland, welche, nachdem sie jahrelang die Organisation des Proletariats gehemmt, schließlich einfache Polizeiwerkzeuge geworden sind. Kurz, sie stellen die Kindheit der Proletarierbewegung dar, wie die Astrologie und Alchimie die Kindheit der Wissenschaft. Damit die Gründung der Internationalen zur Möglichkeit wurde, mußte das Proletariat diese Entwicklungsstufe überschritten haben.
Gegenüber den phantastischen Sekten-Organisationen ist die Internationale die wirkliche und streitende Organisation der Proletarierklasse in allen Ländern, verbunden unter sich in ihrem Kampfe1 gegen die Kapitalisten, die Grundeigentümer und ihre im Staate organisierte Klassenmacht. Daher kennen die Statuten der Internationalen nur einfache ArbeitergeseWschaften, die sämtlich den gleichen Zweck verfolgen und dasselbe Programm annehmen, das sich darauf beschränkt, nur die großen Hauptzüge des Ganges der Arbeiterbewegung zu zeichnen, und ihre theoretische Ausarbeitung dem durch die Bedürfnisse des praktischen Kampfes und den Liedankenaustausch innerhalb der Sektionen gegebenen Anstoß überläßt, wie denn die Internationale ohne Unterschied jede sozialistische Überzeugung in ihren Organen und auf ihren Kongressen zuläßt." Die Allianz wollte nicht, daß die Internationale eine kämpfende Gesellschaft wäre; das Zirkular von Sonvillier verlangte, daß sie das treue Abbild der zukünftigen Gesellschaft sein sollte;
„wir müssen also dafür sorgen, daß wir diese Organisation unserem Ideale so nahe wie möglich bringen... Die Internationale, als Embryo der zukünftigen menschlichen Gesellschaft, ist verbunden2, schon jetzt die treue Abspiegelung unserer Prinzipien der
1 In der französischen Ausgabe: gemeinsamen Kampfe - 2 in der französischen Ausgabe: verpflichtet
Freiheit und der Föderation zu sein und aus ihrem Schöße jedes nach Autorität, nach Diktatur strebende Prinzip zu verbannen." Wäre es der Jura-Föderation mit ihrem Plane gelungen,die Internationale zu einem treuen Abbilde einer noch nicht existierenden Gesellschaft zu machen und ihr jedes Mittel zu einer kombinierten Tätigkeit zu entziehen, in der versteckten Absicht, sie der „Autorität und Diktatur" der Allianz und ihres permanenten Diktators, des „Bürgers B.", zu unterwerfen, so hätte sie die kühnsten Wünsche der europäischen Polizei übertroffen, die eben nur verlangt, die Internationale in Ruhestand versetzt zu sehen. Um ihren früheren Kollegen von der Friedensliga und der radikalen Bourgeoisie den Beweis zu liefern, daß der Feldzug, den sie eröffneten, sich gegen die Internationale und nicht gegen die Bourgeoisie richte, schickten die Männer der Allianz ihr Zirkular an alle radikalen Blätter. Die Garnbettasche „Republique fran?aise" beeilte sich, ihnen in einem Artikel voller Ermutigungen für die Jurassier und Schmähungen gegen die Londoner Konferenz ihre Anerkennung auszusprechen. Das „Bulletin Jurassien" war so erfreut, diese Stütze in der Bourgeois-Presse zu finden, daß es diesen ganzen Artikel in seiner Nummer 3 abdruckte und so bewies, daß das herzlichste Einvernehmen die ultrarevolutionären Allianzisten und die Versailler Gambettisten vereinigte.'2901 Um der angenehmen Nachricht einer in der Internationalen entstehenden Spaltung mehr Verbreitung unter der Bourgeoisie zu verschaffen, wurde das Zirkular von Sonvillier in den Straßen mehrerer Städte in Frankreich, namentlich in Montpellier, an einem Markttage verkauft. Man weiß, daß der Verkauf von Druckschriften auf der Straße in Frankreich der polizeilichen Erlaubnis bedarf.* Dieses Zirkular wurde ballenweise überallhin versandt, wo die Allianz glaubte, Freunde werben oder gegen den Generalrat Mißvergnügte gewinnen zu können. Der Erfolg war fast Null. Die spanischen Allianzisten sprachen sich gegen die Einberufung des in dem Zirkular verlangten Kongresses aus und wagten sogar, dem Papste Verweise zu erteilen.12921 In Italien erklärte sich ein einziges Individuum, Terzaghi, und auch er nur für einen Augenblick, für den Kongreß. In Belgien, wo es keine bekannten Allianzisten gab, wo aber die ganze internationale Bewegung in dem Sumpf der Bourgeois-Phrasen von politischer Enthaltung, Autonomie, Freiheit, Föderation, Dezentralisation und im Kirchturmsgeist feststak, erhielt das Zirkular eine gewisse wohlwollende Anerkennung (succes d'estime). Obgleich der Belgische Föderalrat der Forderung eines außerordentlichen allgemeinen
* Toulouser Prozeß'2911, siehe „La Reforme" (Toulouse) vom 18.März 1873.
Kongresses seine Zustimmung versagte, die übrigens widersinnig gewesen wäre, da Belgien auf der Konferenz durch sechs Delegierte vertreten war, redigierte er doch einen Generalstatuten-Entwurf, der den Generalrat einfach abschaffte. Als man auf dem belgischen Kongresse diesen Vorschlag beriet, bemerkte der Delegierte von Lodelinsart, daß das Gefühl der Arbeitgeber das beste Kriterium für die Arbeiter sei. Wenn man nur die Freude sehe, welche schon der Gedanke einer Abschaffung des Generalrats bei den Arbeitgebern hervorrufe, dann könne man schon versichern, daß es unmöglich sei,
„einen größeren Fehler zu begehen, als den, diese Abschaffung zu beschließen".
Der Antrag wurde auch abgelehnt. In der Schweiz protestierte die Romanische Föderation energisch[2931, überall anderswo jedoch beantwortete man das Zirkular nur mit dem Schweigen der Verachtung. Der Generalrat antwortete auf das Zirkular von Sonvillier und auf die fortgesetzten Umtriebe der Allianz in dem vertraulichen Zirkular: „Les pretendues scissions dans I'Internationale", datiert vom 5. März 1872. Zum großen Teil ist dieses Zirkular bereits oben im Auszug mitgeteilt. Der Haager Kongreß machte mit jenen Intrigen und Intriganten gebührenden kurzen Prozeß. Gewiß haben diese Leute, die nur vom Lärmschlagen leben, einen unbestreitbaren Erfolg gehabt. Die ganze liberale und Polizeipresse hat offen ihre Partei ergriffen; sie sind in ihren persönlichen Schmähungen gegen den Generalrat und ihren matten Angriffen gegen die Internationale von den Weltverbessern aller Länder unterstützt worden - in England von den Bourgeois-Republikanern, deren Intrigen der Generalrat vereitelte; in Italien von den dogmatischen Freidenkern, die unter der bahne Stefanonis den Vorschlag machten, eine Allgemeine Gesellschaft der Rationalisten1671 mit Rom als obligatorischem Sitz, mit einer „autoritären" und „hierarchischen" Organisation, mit atheistischen Mönchs- und Nonnenklöstern zu gründen, eine Gesellschaft, deren Statuten eine im Kongreßsaal aufzustellende Büste für jeden Bourgeois bestimmen, der zehntausend Franken schenkt; endlich in Deutschland von den bismarckschen Sozialisten, welche außerhalb ihres Polizeiblatts, des „Neuen Social-Demokrat", die weißen Blusen1691 des preußisch-deutschen Kaiserreichs darstellen. Da die „Revolution Sociale" eingegangen, ließ sich die Allianz in der Presse durch das „Bulletin Jurassien" vertreten, welches unter dem Vorwände, die autonomen Sektionen gegen die Autoritätsbestrebungen des Generalrats und die Anmaßungen der Londoner Konferenz zu schützen, an
der Desorganisation der Internationalen arbeitete. Seine Nummer vom 20. März 1872 gestand es offen, daß sie unter der
„Internationalen nicht diese oder jene Organisation verstehe, welche heute einen Teil des Proletariats umfaßt. Die Organisationen sind etwas erst in zweiter Reihe Stehendes und Vorübergehendes... die Internationale ist, um in einer allgemeineren Weise zu sprechen, jenes Gefühl der Solidarität unter den Ausgebeuteten, welches die neue Welt beherrscht." Die auf das reine „Gefühl der Solidarität" reduzierte Internationale wäre noch platonischer als die christliche Liebe. Als Probe von den ehrenhaften Mitteln, deren sich das „Bulletin Jurassien" bedient, geben wir folgende Stelle aus einem Briefe von Tokarzewicz, Chefredakteur des polnischen Blattes „Wolnosc" (Die Freiheit) in Zürich:
„In Nummer 13 des .Bulletin Jurassien' steht ein Programm der polnischen sozialistischen Gesellschaft zu Zürich, welche in drei Tagen ihr Blatt , Wolnosc' herausgeben wird. Wir autorisieren Sie, drei Tage nach Empfang dieses Briefes dem Generalrat der Internationalen die Anzeige zu machen, daß das Programm falsch ist."!294]
Die Nummer dieses „Bulletin" vom 15. Juni enthält die Antworten der Allianzisten (Bakunin, Malon, Claris, Guillaume usw.) auf das vertrauliche Zirkular des Generalrats. Diese Antworten entgegnen auf keine von den Beschuldigungen, welche der Generalrat gegen die Allianz und ihre Führer erhoben hatte. Der Papst, zu Ende mit seinen Gründen, glaubte die Debatte zu schließen, indem er das Zirkular einen „Schmutzhaufen" nannte.
„Übrigens", sagte er, „hatte ich es mir vorbehalten, alle meine Verleumder vor ein Ehrengericht zu laden, welches der nächste Kongreß mir ohne Zweifel nicht verweigern wird. Und wenn mir diese Jury nur alle Garantien für ein unparteiisches und ernstliches Urteil bietet, werde ich ihr nebst allen notwendigen Details alle sowohl politischen wie persönlichen Tatsachen auseinandersetzen können, ohne Furcht vor den Mißlichkeiten und Gefahren einer indiskreten Veröffentlichung."
Natürlich, der Bürger B. trat in den Riß - wie gewöhnlich: er erschien nicht im Haag. Der Kongreß nahte heran und die Allianz wußte, daß vor diesem Kongreß der Bericht über den Netschajewschen Prozeß, mit dessen Abfassung der Bürger Utin von der Konferenz betraut war, veröffentlicht werden sollte. Es war ihr von der höchsten Wichtigkeit, das Erscheinen des Berichts vor dem Kongreß zu verhindern, damit dessen Mitglieder nicht vollständig über diesen Gegenstand unterrichtet würden. Bürger Utin begab sich nach Zürich, um seine Arbeit auszuführen. Kaum dort niedergelassen, wurde er das Opfer eines Mordversuchs, den wir ohne Bedenken auf Rechnung der
Allianz setzen. In Zürich hatte Utin keine anderen Feinde als einige allianzistische Slawen unter der „Oberhand" Bakunins. Übrigens ist die Organisation des Hinterhalts und Meuchelmords ein von jener Gesellschaft anerkanntes und angewandtes Kampfmittel; wir werden andere Beispiele hierfür in Spanien und Rußland sehen. Acht slawisch redende Individuen lauerten Utin an einem einsamen Orte in der Nähe eines Kanals auf; sowie er bei ihnen angekommen war, griffen sie ihn von hinten an, schlugen ihn mit schweren Steinen an den Kopf, versetzten ihm eine gefährliche Wunde am Auge, und, nachdem sie ihn zu Boden geworfen, hätten sie ihn vollends getötet und in den Kanal geworfen, wären nicht vier deutsche Studenten hinzugekommen. Bei ihrem Anblick entflohen die Mörder. Dieses Attentat hat den Bürger Utin nicht abgehalten, seine Arbeit zu vollenden und sie dem Kongreß zu übersenden.
IV
Die Allianz in Spanien
Nach dem zu Bern abgehaltenen Kongreß der Friedensliga im September 1869 begab sich Fanelli, einer der Gründer der Allianz und Mitglied des italienischen Parlaments, nach Madrid. Er hatte Empfehlungen von Bakunin an den Cortes-Deputierten Garrido, welcher ihn mit einzelnen Republikanern, sowohl Bourgeois wie Arbeitern, in Verbindung setzte. Kurze Zeit darauf, im November desselben Jahres, schickte man von Genf aus Mitgliedskarten der Allianz an Morago, Cördova y Lopez (Republikaner, Cortes-Kandidat, Redakteur des Bourgeois-Blatts „Combate"[295)) und Rubau Donadeu (durchgefallener Kandidat für Barcelona und Gründer einer pseudo-sozialistischen Partei). Die Kenntnis von der Sendung dieser Karten brachte Verwirrung in die junge internationale Sektion zu Madrid; ihr Präsident, Jalvo, zog sich zurück, da er nicht einer Assoziation angehören wolle, die in ihrer Mitte eine aus Bourgeois bestehende geheime Gesellschaft dulde und sich von ihr leiten lasse. Bereits auf dem Kongreß zu Basel war die spanische Internationale durch zwei Allianzisten vertreten, Farga Pellicer und Sentinon, von denen der letztere auf der offiziellen Liste als „Delegierter der Allianz" figuriert. Nach dem Kongreß der spanischen Internationalen1 (Juni 1870)11771 setzte sich die Allianz in Palma, Valencia, Malaga und Cädiz fest. Im Jahre 1871 wurden Sektionen zu Sevilla und Cordoba gegründet. Im Anfang des Jahres 1871 schlugen Morago und Vinas, Delegierte der Allianz zu Barcelona, den Mitgliedern des Föderalrats (Francisco Mora, Angel Mora, Anselmo Lorenzo, Borreil usw.) vor, ... eine Sektion der Allianz in Madrid zu gründen; diese jedoch widersetzten sich dem, erklärend, die Allianz sei eine gefährliche Gesellschaft, wenn sie geheim, eine unnütze, wenn sie öffentlich wäre. Zum zweiten Male genügte schon die Erwähnung dieses Namens, den
Keim der Uneinigkeit in den Schoß des Föderalrats zu werfen, so daß Borrell die prophetischen Worte aussprach: „Von heute an ist jedes Vertrauen unter uns tot." Als jedoch die Verfolgungen der Regierung die Mitglieder des Föderalrats zwangen, nach Portugal überzusiedeln, gelang es Morago, sie von dem Nutzen jener geheimen Assoziation zu überzeugen, und auf ihre Initiative wurde die Sektion der Allianz zu Madrid gegründet. In Lissabon wurden einige Portugiesen, Mitglieder der Internationalen, von Morago in die Allianz aufgenommen. Da er jedoch fand, daß diese neuen Mitglieder ihm nicht genügende Garantien boten, gründete er ohne ihr Wissen eine andere Allianzisten-Gruppe, die aus den schlechtesten, den Reihen der Freimaurer entnommenen Bourgeois- und Arbeiterelementen bestand. Diese neue Gruppe, zu der ein der Kutte entlaufener Pfaffe Bonan^a gehörte, wollte die Internationale in Sektionen von je zehn Mitgliedern organisieren, die unter ihrer Leitung den Plänen des Grafen von Peniche dienen sollten und die dieser politische Intrigant in einen Schwindel-Aufstand zu verwickeln verstand, dessen einziger Zweck war, ihm zur Macht zu verhelfen. Angesichts der allianzistischen Intrigen in Portugal und Spanien zogen sich die portugiesischen Internationalen von dieser geheimen Gesellschaft zurück und verlangten auf dem Haager Kongreß ihre Ausstoßung aus der Internationalen als eine Maßregel des Gemeinwohls. Auf der Konferenz der spanischen Internationalen zu Valencia (September 1871) gaben die Delegierten der Allianzisten, wie immer auch Delegierte der Internationalen, ihrer geheimen Gesellschaft eine vollständige Organisation für die Iberische Halbinsel. Die Mehrheit derselben war des Gl— J„ß d, , Ali: Je J T-«. i.: ,-1 : lauucua, ualJ ua&i rugrauiui r-iiiianz. mit uem uci iiiLci natiunalcii iu€ntisch sei, daß jene geheime Organisation überall existiere, daß es fast Pflicht sei, in dieselbe einzutreten, und daß die Allianz danach strebe, die Internationale weiter zu entwickeln und nicht sie zu beherrschen; sie beschloß daher, alle Mitglieder des Föderalrats aufzunehmen1. Kaum erfuhr dies Morago, der bis dahin nicht gewagt hatte, nach Spanien zurückzukehren, so kam er eiligst nach Madrid und erhob gegen Mora die Beschuldigung, „er habe die Allianz der Internationalen unterordnen wollen", was das Gegenteil des Zwecks der Allianz sei. Und um dieser Meinung Autorität zu verleihen, gab er, im folgenden Januar, Mesa einen Brief Bakunins zu lesen, worin dieser einen machiavellistischen Plan zur Herrschaft über die Arbeiterklasse entrollte.
Dieser Plan war folgender: „Die Allianz muß zum Scheine innerhalb der Internationalen, in Wirklichkeit aber in einer gewissen Entfernung von derselben bestehen, um sie besser beobachten und lenken zu können. Aus diesem Grunde müssen die Mitglieder, welche zu dem Rat oder den Komitees der internationalen Sektionen gehören, stets in den Sektionen der Allianz in der Minderheit sein." (Erklärung von Jose Mesa an den Haager Kongreß, datiert I.September 1872J29G1) In einer Versammlung der Allianz erhob Morago gegen Mesa die Beschuldigung, daß er diese geheime Gesellschaft durch die Aufnahme sämtlicher Mitglieder des Föderalrats verraten habe, da dieses ihnen die Mehrheit in der allianzistischen Sektion verschaffe und tatsächlich die Herrschaft der Internationalen über die Allianz begründe. Um diese Herrschaft zu verhindern, bestimmen die geheimen Instruktionen, daß nur ein oder zwei Allianzisten sich in den Rat oder die Komitees der Internationalen einschleichen sollen, um sie dann zu beherrschen unter Leitung und Hülfe der Allianz-Sektion, in welcher im voraus alle Beschlüsse gefaßt wurden, welche man der Internationalen aufdrängen wollte. Von diesem Augenblick an erklärte Morago dem Föderalrat den Krieg und gründete auch hier, wie in Portugal, eine neue allianzistische Sektion, die vor den Verdächtigen geheimgehalten wurde. Die Eingeweihten an verschiedenen Orten Spaniens unterstützten ihn und begannen den Föderalrat zu beschuldigen, daß er seine Pflichten gegen die Allianz vernachlässige, wie es ein Zirkular der Sektion der Allianz zu Valencia (30. Januar 1872) mit der Unterschrift Dämon (allianzistischer Spitzname Montoros) beweist.12971 Als das Zirkular von Sonvillier ankam, hütete sich die spanische Allianz wohl, Partei für den Jura zu ergreifen. Sogar die Mutter-Sektion zu Barcelona behandelt in einem offiziellen Briefe vom 14. November 1871 den Papst Michail, gegen den sie den Verdacht der persönlichen Rivalität zu Karl Marx erhob, in sehr derber und ganz und gar ketzerischer Weise.*
* Dieser von Alerini „im Namen der Barceloneser Gruppe" der Allianz geschriebene Brief, der mit der Anrede: „Mein lieber Bastelica und liebe Freunde" beginnt, wurde abschriftlich an alle Sektionen der spanischen Allianz gesandt. Wir geben hier einige Stellen aus demselben: „Der gegenwärtige Generalrat kann seine Stellung nicht bis über den Kongreß des nächsten Jahres behalten und seine unheilvolle Tätigkeit kann nur eine zeitweilige sein... Ein öffentlicher Bruch würde im Gegenteil unserer Sache einen Schlag versetzen, von dem sie sich schwer erholen dürfte, wenn sie ihn überhaupt aushält. Wir können also in keiner Weise Eure separatistischen Tendenzen ermutigen... Einige unter uns haben sich gefragt, ob nicht, abgesehen von der Prinzipienfrage, in all diesem oder
Der Föderalrat stimmte übrigens diesem Briefe bei, was uns zeigt, wie geringen Einfluß damals die Schweizer Zentralbehörde in Spanien besaß. Doch bald konnte man merken, daß die Gnade in den verstockten Herzen zum Durchbruch kommen sollte. In einer Versammlung der internationalen Föderation zu Madrid (7. Januar 1872), in der man das Zirkular von Sonvillier besprach, verhinderte die neue, von Morago geleitete Gruppe die Verlesung des Gegenzirkulars der Romanischen Föderation und schnitt die Debatte ab. Am 24. Februar schrieb Rafar (allianzistische Maske für Rafael Farga) an die allianzistische Sektion zu Madrid:
„Man muß die reaktionären Einflüsse und die Autoritätsbestrebungen des Generalrats vernichten."
Dennoch konnte die Allianz nur in Palma auf Mallorca von den Internationalen eine offene Zustimmungserklärung zum Jura-Zirkular erlangen. Man sieht, daß die Kirchendisziplin den letzten Widerstand gegen die Unfehlbarkeit des Papstes zu brechen begann. Angesichts dieser ganzen unterirdischen Arbeit begriff der Spanische Föderalrat, daß es dringend notwendig sei, sich der Allianz zu entledigen. Die Verfolgungen der Regierung boten ihm einen Vorwand. Um den Fall vorzusehen, daß die Internationale aufgelöst würde, schlug er vor, geheime Gruppen von „Verteidigern der Internationalen" zu gründen, in welche die Sektionen der Allianz unmerkbar aufgehen sollten. Die Einführung zahlreicher neuer Mitglieder mußte den Charakter dieser Sektionen notwendig modifizieren, die dann definitiv nebst jenen Gruppen an dem Tage verschwinden sollten, wo die Verfolgung aufhörte. Aber die Allianz erriet den verborgenen Zweck dieses Plans und brachte ihn zum Fall, obwohl bei Ermangelung einer Organisation, wie die vorgeschlagene, die Internationale in Spanien in Frage gestellt war, wenn die Regierung ihre Drohungen ausführte. Die Allianz im Gegenteil machte diesen Vorschlag:
neben all diesem Personenfragen mitspielen, zum Beispiel Rivalität zwischen unserem Freunde Michail und Karl Marx, zwischen den Mitgliedern der früheren A. und dem Generalrat... Wir haben mit Schmerz in der .Revolution Sociale' die Angriffe gegen den Generalrat und Karl Marx gelesen... Wenn wir die Meinung unserer Freunde auf der Halbinsel, die von Einfluß in den Lokalräten sind, kennen, werden wir unsere Haltung nach der allgemeinen Entscheidung, der wir uns in jedem Punkte fügen, modifizieren usw." Die frühere A. ist die vom Generalrat im Keime erstickte öffentliche Allianz. Das Exemplar des Briefes, aus dem wir diese Stellen ausgezogen haben, ist von Alerinis Hand geschrieben.
„Wenn man uns außer Gesetz stellt, dürfte es nützlich sein, der Internationalen eine äußere Form zu geben, die von der Regierung geduldet werden könnte, wobei dann die Lokalräte gleichsam der verborgene innere Kern wären, die unter dem Einfluß der Allianz den Sektionen eine durchaus revolutionäre Richtung geben würden." (Zirkular der Sektion der Allianz zu Sevilla, 25.Oktober 1871P98])
Feig in der Tat, mutig in der Phrase - da haben wir die ganze Allianz in Spanien wie anderwärts. Die Resolution der Londoner Konferenz über die politische Haltung der Arbeiterklasse zwang die Allianz, sich in offene Feindschaft zur Internationalen zu setzen, und gab dem Föderalrat Gelegenheit, seine vollständige Harmonie mit der großen Mehrheit der Internationalen zu konstatieren. Sie brachte ihn noch dazu auf den Gedanken, in Spanien eine große Arbeiterpartei zu bilden. Um dies zu erreichen, mußte man zunächst die Arbeiterklasse vollständig von allen Bourgeois-Parteien ablösen, vor allem von der republikanischen Partei, welche aus den Arbeitern die Masse ihrer Wähler und Kämpfer rekrutierte. Der Föderalrat empfahl Enthaltung bei allen, monarchischen wie republikanischen, Deputiertenwahlen; um dem Volke jede Illusion über das pseudo-sozialistische Phrasengedresch der Republikaner zu nehmen, richteten die Redakteure der „Emancipacion", die zugleich Mitglieder des Föderalrats waren, einen Brief an die zum Kongreß versammelten Vertreter der föderalistisch-republikanischen Partei, in welchem sie von diesem praktische Maßregeln verlangten und sie aufforderten, sich über das Programm der Internationalen zu erklären.'2991 Das hieß der republikanischen Partei einen schweren Schlag versetzen; die Allianz bemühte sich, ihn abzuschwächen, denn sie war eng mit den Republikanern verbündet.[300i Sie gründete in Madrid ein Blatt „EI Condenado"f301], das die drei Kardinaltugenden der Allianz: Atheismus, Anarchie, Kollektivismus als Programm aufstellte, aber den Arbeitern vorpredigte, daß sie keine Verkürzung der Arbeitszeit verlangen sollten. Neben dem „Bruder" Morago schrieb an diesem Blatt auch Estevanez, eines der drei Mitglieder des leitenden Komitees der republikanischen Partei, neulich Gouverneur von Madrid und Kriegsminister. Pino in Malaga, Mitglied der Föderalkomission der Pseudo-Internationalen, und Felipe Martin in Madrid, gegenwärtig Geschäftsreisender der Allianz, dienten der republikanischen Partei als Wahlagenten. Und um auch ihren Fanelli in den spanischen Cortes zu haben, beschloß die Allianz, die Kandidatur Moragos aufzustellen. Die Allianz hatte bereits zwei unverzeihliche Beschwerdepunkte gegen den Föderalrat: 1. daß sich dieser in der Jura-Frage neutral verhalten, 2. daß er ihren Bestand angegriffen; nach der Haltung, welche der Föderalrat
gegenüber der republikanischen Partei annahm und welche alle ihre Pläne zu vereiteln drohte, beschloß sie, ihn zu stürzen. Der Brief an den republikanischen Kongreß wurde von diesem als eine Kriegserklärung aufgenommen. „La Igualdad"t302], das einflußreichste Organ der republikanischen1 Partei, griff heftig die Redakteure der „Emancipacion" an und beschuldigte sie, sich an Sagasta verkauft zu haben. Der „Condenado" ermutigte diese Infamie durch sein hartnäckiges Schweigen. Die Allianz tat noch mehr für die republikanische Partei. Wegen dieses Briefes ließ sie die Redakteure der „Emancipacion" von der internationalen Föderation zu Madrid, in der sie vorherrschte, ausstoßen. Trotz der Regierungsverfolgungen hatte der Föderalrat während einer sechsmonatlichen Geschäftsführung2 die Zahl der Lokalföderationen von 13 auf 70 gebracht; an 100 anderen Orten hatte er Lokalföderationen vorbereitet, acht Gewerke hatte er als nationale Gewerksgenossenschaften organisiert; daneben bildete sich unter seiner Anregung die große Assoziation der katalonischen Fabrikarbeiter. Diese von den Mitgliedern des Föderalrats geleisteten Dienste hatten denselben einen so großen moralischen Einfluß verschafft, daß Bakunin das Bedürfnis fühlte, sie durch eine lange väterliche Ermahnung, die er unterm 5. April 1872 an Mora, den Generalsekretär des Föderalrats, sandte (siehe Beweisstücke Nr.33), auf den Weg des Heils zu führen. Der Kongreß zu Saragossa (4.-11 .April 1872) annullierte, trotz der Bemühungen der durch mindestens zwölf Delegierte vertretenen Allianz, die Ausstoßung und wählte zwei von den Ausgestoßenen, trotz ihrer wiederholten Weigerung, eine Kandidatur anzunehmen, in den neuen Föderalrat. Auf dem Kongreß zu Saragossa wurden, wie immer, gleichzeitig die Winkelversammlungen der Allianz abgehalten. Die Mitglieder des Föderalrats beantragten4 die Auflösung der Allianz. Der Antrag wurde, um nicht abgelehnt zu werden, umgangen. Zwei Monate darauf, am 2. Juni, schickten dieselben Männer in ihrer Eigenschaft als Direktoren der spanischen Allianz und im Namen der Madrider Sektion der Allianz ein Zirkular an die anderen Sektionen, in welchem sie ihren Antrag erneuerten und für denselben folgenden Grund angaben:
„Die Allianz ist von dem Wege abgewichen, den sie nach unserer Ansicht hätte verfolgen müssen; sie hat den Gedanken, dem sie ihre Entstehung verdankt, gefälscht,
1 In der französischen Ausgabe fehlt: republikanischen - " in der französischen Ausgabe eingefügt: nach der Konferenz von Valencia - 3 siehe vorl. Band, S. 469-471 - 4 in der französischen Ausgabe eingefügt: dort
und statt ein integrierender Teil unserer großen Assoziation zu sein, ein tätiges Element, welches den verschiedenen Organen der Internationalen einen fördernden Antrieb gäbe, indem es sie in ihrer Entwicklung unterstützte und begünstigte, hat sie sich vielmehr vollständig von der übrigen Assoziation losgelöst und ist dahin gelangt, eine Sonderorganisation zu bilden, die sich über jene stellt und sie zu beherrschen trachtet; hierdurch führt sie in unserer Mitte Mißtrauen, Zwietracht und Spaltung herbei... In Saragossa hat sie, statt Ideen zur Lösung der wichtigen Aufgaben des Kongresses mitzubringen, denselben im Gegenteil nur Fesseln und Hindernisse angelegt."
Schon den Tag darauf ließ die Allianz von neuem die Unterzeichner des Zirkulars vom 2. Juni aus der internationalen Föderation zu Madrid ausstoßen.1 Zum Vorwand nahm sie einen Artikel der „Emancipacion" vom I.Juni, in dem eine Untersuchung verlangt wurde
„über die Quelle des Vermögens der Minister, Generale, Richter, öffentlichen Beamten, Bürgermeister usw... und aller politischen Personen, welche, ohne ein öffentliches Amt zu bekleiden, im Schatten der verschiedenen Regierungen lebten, denen sie ihre Unterstützung in den Cortes gewährten und deren ungerechtes Verfahren sie unter der Maske einer falschen Opposition deckten... deren Vermögens-Konfiskation die erste Maßregel am ersten Tag einer Revolution sein müßte".
Die Allianz, welche hierin einen direkten Angriff gegen ihre Freunde in der republikanischen Partei erblickte, beschuldigte die Redakteure der „Emancipacion", die Sache des Proletariats verraten zu haben, da sie durch das Verlangen der Konfiskation des Vermögens der Staatsdiebe ja das Privateigentum anerkannten. Nichts kennzeichnet besser den reaktionären Geist, der sich unter dem revolutionären Scharlatanismus der Allianz birgt und den sie der Arbeiterklasse einimpfen möchte. Und nichts beweist besser die Perfidie der Allianz, als daß sie dieselben Leute als Verteidiger des Privateigentums ausstößt, die sie gleichzeitig wegen ihrer kommunistischen Ansichten verflucht. Diese neue Ausstoßung wurde unter Verletzung des in Kraft befindlichen Reglements vollzogen; dieses schreibt die Bildung eines Ehrengerichts vor, zu welchem der Angeklagte zwei von sieben Richtern ernennt und von deren Entscheidung er an die Generalversammlung der Sektion appellieren kann. Statt dessen ließ die Allianz, um nicht in ihrer Autonomie gestört zu werden, die Ausstoßung in derselben Sitzung beschließen, in der sie die Anklage erhob. Von 130 Mitgliedern, aus denen die Sektion bestand, hatten
1 Diesem Satz geht in der französischen Ausgabe folgender Satz voraus: Von allen Sektionen der Allianz in Spanien antwortete nur die von Cädiz. indem sie ihre Auflösung mitteilte.
24 Marx/Engels, Werlte, Bd. 18
sich nur 15 Kumpane eingefunden. Die Ausgestoßenen appellierten an den Föderalrat. Dieser Föderalrat war, dank den Umtrieben der Allianz, nach Valencia verlegt worden. - Von den beiden auf dem Kongreß zu Saragossa wiedergewählten Mitgliedern des früheren Föderalrats hatte Mora nicht angenommen und kurz darauf legte Lorenzo sein Amt nieder. Von dem Augenblick war der Föderalrat mit Leib und Seele der Allianz ergeben. Er beantwortete auch die Berufung der Ausgestoßenen mit einer InkompetenzErklärung, obwohl der Art. 7 des Reglements der Spanischen Föderation ihm die Pflicht auferlegte, vorbehaltlich der Berufung an den nächsten Kongreß jede Lokalföderation zu suspendieren, welche die Statuten verletze. Die Ausgestoßenen konstituierten sich dann als „Neue Föderation" und beantragten ihre Anerkennung beim Föderalrat, der sie kraft der Autonomie der Sektionen formell verweigerte. Die Neue Madrider Föderation wandte sich dann an den Generalrat, der sie gemäß Art. II, 7 und IV, 4 des allgemeinen Reglements zuließt303). Der Haager allgemeine Kongreß billigte diesen Akt und ließ einstimmig den Delegierten1 der Neuen Madrider Föderation zu. Die Allianz hatte die ganze Bedeutung dieser ersten rebellischen Bewegung begriffen; sie hatte begriffen, daß, wenn sie nicht im Keime erstickt würde, die bisher so gelehrige spanische Internationale ihren Händen entschlüpfen würde; sie setzte alle anständigen und unanständigen Mittel in Bewegung. Mit der Verleumdung fing sie an. Die Namen der Ausgestoßenen: Angel und Francisco Mora, Jose Mesa, Victor Pages, Iglesias, Säenz, Calleja, Pauly und Lafargue wurden mit der Bezeichnung Verräter in den Zeitungen veröffentlicht und in den Lokalen der Sektionen angeheftet. Mora, der, um seine Pflicht als Generalsekretär zu erfüllen, seine Arbeit verlassen hatte und mehrere Monate hindurch von seinem Bruder unterstützt worden war, weil kein Geld vorhanden war, um sein Gehalt zu bezahlen, wurde beschuldigt, auf Kosten der Internationalen gelebt zu haben. Mesa, der, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein Modejournal redigiert und einmal einen Artikel für ein illustriertes Blatt übersetzt hatte, wurde als an die Bourgeoisie verkauft behandelt. Lafargue wurde mit der Todsünde belastet, durch ein lukullisches Mahl das schwache Fleisch von Martlnez und Montoro, zwei Mitgliedern des neuen allianzistischen Föderalrats, den Versuchungen des heiligen Antonius ausgesetzt zu haben, als ob sie ihr Gewissen in ihrem Wanst trügen. Wir reden hier nur von den
öffentlichen und gedruckten Verleumdungen. Diese Maßregeln trugen indes nicht die ersehnte Frucht; man ging also über zur Einschüchterung. In Valencia wurde Mora in einen Hinterhalt gelockt, wo die Mitglieder des Föderalrats ihn mit dem Knüppel in der Hand erwarteten. Mitglieder der Lokalföderation rissen ihn heraus; sie, die das Verfahren jener Herren kennen, versichern, daß vor eben so schlagenden Argumenten Lorenzo seine Entlassung nahm. Zu Madrid wurde kurz darauf ein ähnlicher Angriff1 gemacht. Die allianzistische Kongregation des Index tat die „Emancipacion" allen Gläubigen gegenüber in den Bann; in Cädiz erklärte man, um eine heilsame Furcht in die Seele der Sünder zu werfen, jeden Verkäufer der „Emancipacion" als Verräter aus der Internationalen stoßen zu wollen. Die allianzistische Anarchie verwirklicht sich in der Praxis als Inquisition. Die Allianz machte sich nun, wie gewöhnlich, an die Arbeit, dahin zu wirken, daß auf dem Haager Kongreß die ganze Vertretung der spanischen Internationalen nur aus ihren Mitgliedern bestehe. Zu diesem Zweck ließ der Föderalrat den Sektionen ein Privatzirkular zugehen, dessen Existenz er sorgfältig vor der Neuen Madrider Föderation verbarg. Er schlug darin vor, den Kongreß durch eine von sämtlichen Internationalen zu wählende Gesamt-Repräsentation zu beschicken, und zur Deckung der Vertretungskosten eine allgemeine Steuer von 25 Cent, pro Kopf zu erheben. Da die Zeit zu kurz war, um unter den lokalen Föderationen eine Verständigung über die Kandidaturen zu erlauben, war es klar, wie auch die Tatsache bewiesen hat, daß die offiziellen Kandidaten der Allianz gewählt und auf Kosten der Internationalen zum Kongreß delegiert werden würden. Dieses Zirkular kam jedoch in die Hände der Neuen Madrider Föderation und wurde an den Generalrat gesandt, der, bekannt mit der Abhängigkeit des Föderalrats von der Allianz, den Augenblick zum Handeln gekommen sah. Er schrieb also an den Spanischen Föderalrat einen Brief, in dem es heißt: „Bürger! Wir haben die Beweise in der Hand, daß im Schöße der Internationalen, und namentlich in Spanien, eine geheime Gesellschaft besteht, die sich Allianz der sozialistischen Demokratie nennt. Diese Gesellschaft, deren Zentralbehörde in der Schweiz ist, hat die besondere Aufgabe, unsere große Assoziation im Sinne ihrer Sonderinteressen zu lenken und sie Zwecken dienstbar zu machen, welche der ungeheuren Mehrheit der Internationalen unbekannt sind. Wir wissen ferner durch die ,Razon' von Sevilla, daß mindestens drei Mitglieder Eures Rats der Allianz angehören ...
War der Charakter und die Organisation dieser Gesellschaft schon damals mit dem Geist und dem Buchstaben unserer Statuten unvereinbar, als sie noch frei und öffentlich auftrat, so bildet ihre geheime Fortexistenz mitten in der Internationalen, trotz des gegebenen Worts, einen wahrhaften Verrat gegen unsere Assoziation. Die Internationale kennt nur eine Art Mitglieder mit gleichen Rechten und Pflichten für alle; die Allianz teilt sie in zwei Klassen, Eingeweihte und Profane, von denen die letzteren dazu bestimmt sind, sich vermittelst einer Organisation lenken zu lassen, deren Existenz sie nicht einmal ahnen. Die Internationale verlangt von allen, die sich ihr anschließen, daß sie Wahrheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit als die Regel ihres Verhaltens anerkennen: Die Allianz aber macht es ihren Eingeweihten zur ersten Pflicht, die profanen Internationalen über die Existenz der geheimen Organisation, über die Motive und selbst über die Zwecke ihrer Worte und Handlungen zu täuschen."1 Der Generalrat verlangte dann von ihnen gewisse Materialien zur Untersuchung über die Allianz, die er dem Haager Kongreß vorlegen wollte, sowie eine Erklärung darüber, wie sie ihre Pflichten gegen die Internationale mit der Gegenwart von mindestens drei notorischen Mitgliedern der Allianz im Föderalrat vereinbarten. Der Föderalrat antwortete in einem ausweichenden Briefe, worin er jedoch die Existenz der Allianz anerkannte. Da die Ränke, von denen wir gesprochen, nicht auszureichen schienen, um den Erfolg der Wahl zu sichern, ging die Allianz in ihren Organen so weit, die offiziellen Kandidaturen von Farga, Alerini, Soriano, Marselau, Mendez, Morago aufzustellen. Das Resultat der Wahlen ergab für Marselau 3568, für Morago 3442, für Mendez 2850, für Soriano 2751 Stimmen. Von den anderen Kandidaten erhielt Lostau 2430 Stimmen aus vier katalonischen Städten, die augenscheinlich noch nicht gut diszipliniert waren; Fuster 1053 Stimmen zu Sans in Katalonien. Keiner der anderen Kandidaten hatte mehr als 250 Stimmen. Um die Wahl Fargas und Alerinis zu sichern, erteilte der Föderalrat der Stadt Barcelona, in welcher die Allianz dominierte, das Privileg, selbst ihre Delegierten zu wählen, die natürlich Farga und Alerini waren. - Dasselbe offizielle Zirkular konstatiert ferner, daß die vier katalonischen Städte, die Lostau und Fuster gewählt, also die offiziellen Kandidaten der Allianz verworfen hatten, 2654 Reales (ca. 550 Mark) für die Delegationskosten aufbrachten, während die anderen spanischen Städte, in denen die Allianz bei der Ungewohntheit der Arbeiter,
ihre Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, ihre Kandidaten hatte durchbringen können, im ganzen nur 2799 Reales (ca. 580 Mark) zahlten. Die Neue Madrider Föderation hatte also recht gehabt, als sie sagte, daß das Geld der Internationalen dazu dienen würde, die Delegierten der Allianz nach dem Haag zu senden. Übrigens zahlte der allianzistische Föderalrat nicht vollständig den vorschriftsmäßigen Beitrag an den Generalrat. Alles dieses befriedigte die Allianz noch nicht. Sie brauchte für ihre Delegierten ein von ihr diktiertes imperatives Mandat und erlangte es auf folgende Weise. In seinem Zirkular vom 7. Juli suchte der Föderalrat um die Autorisation nach, die von den Lokalföderationen gegebenen imperativen Mandate in ein Gesamtmandat zusammenzufassen; er erhielt sie auch. Dieses Manöver, schlimmer als ein bonapartistisches Plebiszit13041, gestattete der Allianz, das Mandat ihrer Delegierten zu redigieren, ein Mandat, das sie dem Kongreß aufzuzwingen sich vermaß, indem sie ihren Delegierten verbot, an der Abstimmung sich zu beteiligen, wenn nicht der vom allgemeinen Reglement der Internationalen vorgeschriebene Modus der Abstimmung sofort geändert würde. Daß dieses nur eine Spiegelfechterei war, beweist der Umstand, daß auf dem Kongreß zu Saint-Imier die spanischen Delegierten, trotz ihres Mandats, sich an der Abstimmung nach Föderationen beteiligten, ein Modus der Abstimmung, wie er so sehr von Castelar gerühmt und von der Friedensliga gehandhabt wird.*
* Sentinon, Doktor der Medizin zu Barcelona, ein persönlicher Freund von Bakunin und einer der Gründer der spanischen Allianz, gab lange vor dem Haager Kongreß den Internationalen den Rat, ihre Beiträge nicht an den Generalrat zu zahlen, da dieser sie zum Ankauf von Gewehren verwendete; er suchte die spanischen Internationalen davon abzuhalten, die Sache der besiegten Kommune für die ihre zu erklären; wegen Preßvergehen ins Gefängnis gesteckt, erließ er ein Manifest, in welchem er die damals verfolgte Internationale zu verleugnen den Mut hatte; aus diesem Grunde von der gesamten Arbeiterklasse in Barcelona verlassen, blieb er dennoch eines der geheimen Häupter der Allianz, denn in einem Briefe vom 14.August 1871, drei Monate nach dem Fall der Kommune, wies Montoro, Mitglied der Allianz, einen allianzistischen Korrespondenten an Sentinon, der ihm, wie er sagte, über seinen Charakter und seine Eigenschaft als Allianzmitglied Auskunft geben würde. Vinas, Student der Medizin, den Sentinon in einem Briefe vom 26. Januar 1872 Liebknecht empfahl als „die Seele der Internationalen zu Barcelona", zog sich, ohne daß die Polizei sich die Mühe gab, ihn ins Gefängnis zu stecken, von der Internationalen während der Zeit ihrer Verfolgung zurück, um nicht die Interessen seiner Familie zu gefährden. Farga-Pellicer, auch eins der Häupter der Allianz, wird in demselben Briefe Sentinons beschuldigt, zur Zeit der Verfolgung das Weite gesucht und die gerichtliche
Verantwortlichkeit für seine Artikel anderen überlassen zu haben. Der Hasenmut der Allianzisten pocht kühn, immer und überall, auf seine antiautoritäre Autonomie. Ihr Protest gegen die Autorität des Bourgeois-Staats ist die Flucht. Soriano, ein anderer Führer, Professor der (unbekannten1) Wissenschaften, zog sich von der Internationalen zurück, als die Verfolgung im ärgsten Zuge war. Auf dem Kongreß zu Saragossa widersetzte er sich mit leider erfolglosem Mute der von Lafargue und anderen Delegierten verlangten öffentlichen Abhaltung des Kongresses, weil er es nicht für klug hielt, den Zorn der Autorität zu provozieren. Zuletzt, unter Amadeo, hat Soriano eine Stelle bei der Regierung angenommen. Morago, Ladenbesitzer und Kneipenbummler, behauptet seine Autonomie als Spieler von Profession mittelst der Arbeit seiner Frau und seiner Lehrlinge. Als der Föderalrat nach Lissabon übersiedelte, verließ er seinen Platz als Mitglied des Rats und machte den Vorschlag, die Papiere der Internationalen in die See zu werfen; als Sagasta die Internationale außer Gesetz erklärte, gab er von neuem seine Stelle als Mitglied des Lokalrats zu Madrid auf und rettete sich vor dem Sturm in den Hafen der Allianz. Fehlt der Allianz auch der Christus, an Petrussen hat sie Überfluß. demente Bove, wurde als Präsident der Assoziation der katalonischen Fabrikarbeiter (las tres clases de vaporP05!) wegen seiner zu autonomen Kassenausgleichungen abgesetzt und ausgestoßen. Dionisio Garcia Fraile - in der Nummer des allianzistischen Blattes „Federacion" vom 28. Juli 1872, in welcher er ein langes Schreiben voll Angriffen gegen die Neue Föderation zu Madrid veröffentlichte, heißt er „unser lieber Kollege" - stand im Dienste der Polizei zu San Sebastian und bestahl die Kasse der Internationalen.
V
Die Allianz in Italien
In Italien bestand die Allianz vor der Internationalen. Papst Michail hatte dort seinen Aufenthalt gehabt und sich zahlreiche Verbindungen unter den jüngeren radikalen Elementen der Bourgeoisie verschafft. Die erste Sektion der italienischen Internationalen, die zu Neapel, stand von ihrer Gründung an unter der Führung dieses Bourgeois- und Allianzistenkreises. Der Advokat Gambuzzi*, einer der Gründer der Allianz, verschaffte seinem „Musterarbeiter" Caporusso die Präsidentschaft. Auf dem Kongreß zu Basel vertrat Bakunin, Arm in Arm mit seinem getreuen Caporusso, die neapolitanischen Internationalen, während der Antonelli der Allianz, Fanelli**,
* „Einer der eifrigsten Parteigänger Caporussos war der Advokat Carlo Gambuzzi, der in ihm das Muster eines Präsidenten einer internationalen Sektion1 gefunden zu haben glaubte. Gambuzzi war es auch, der ihm die Mittel zum Besuch des Kongresses zu Basel verschaffte. Und als die Ausstoßung Caporussos in der Generalversammlung der Sektion beschlossen wurde, widersetzte er sich lebhaft der Veröffentlichung dieser Tatsache im .Bulletin' und überredete auch seine Freunde, nicht auf die Veröffentlichung jener andern schimpflichen Tatsache, der Aneignung von 300 Franken, zu dringen." (Brief Cafieros vom 12. Juli 1871 ,)[3061 **FaneIli ist bereits seit langer Zeit im italienischen Parlament. Gambuzzi, hierüber interpelliert, erklärte, daß es etwas sehr Schönes sei, Deputierter zu sein; man sei der Polizei gegenüber unverletzlich und könne umsonst auf allen italienischen Bahnen fahren. Die Allianz verbietet den Arbeitern jede politische Tätigkeit, denn vom Staate die Feststellung eines Normal-Arbeitstages für Frauen und Kinder verlangen, hieße den Staat anerkennen und sich vor dem bösen Prinzip beugen; aber die Bourgeois-Führer der Allianz haben päpstlichen Dispens, der ihnen gestattet, im Parlament zu sitzen und die ihnen von den Bourgeois-Staaten gebotenen Vorrechte zu genießen. Die atheistische und anarchistische Tätigkeit Fanellis im italienischen Parlament hat sich bisher auf eine schwülstige Lobrede auf den Autoritarier Mazzini, den Mann des „Dio e popolo"2, beschränkt.
Delegierter mehrerer außerhalb der Internationalen stehenden ArbeiterAssoziationen, durch ein Unwohlsein unterwegs aufgehalten wurde. Die Vertrautheit mit dem heiligen Vater berauschte den braven Caporusso. Bei seiner Rückkehr nach Neapel glaubte er, über den anderen Allianzisten zu stehen; er spielte bei seiner Sektion den Herrn. „Die Reise nach Basel wandelte Caporusso von Kopf zu Fuße um... Er kam zurück vom Kongreß mit sonderbaren Ideen und Ansprüchen, ganz und gar mit dem Wesen unserer Assoziation im Widerspruch. Er sprach zuerst andeutungsweise, dann offen in gebieterischem Tone von Vollmachten, die er nicht hatte und nicht haben konnte; er versicherte, daß der Generalrat nur zu ihm Vertrauen habe, und daß er, wenn die Sektion nicht nach seinem Willen ginge, die Vollmacht habe, sie aufzulösen und eine neue zu gründen." (Offizieller Bericht der Sektion zu Neapel an den Generalrat, Juli 1871, abgefaßt und unterzeichnet vom allianzistischen Advokaten Carmelo Palladino.) Die Vollmachten Caporussos mußten vom Zentralkomitee der Allianz ausgehen, denn die Internationale hat nie derartige erteilt. Der gute Caporusso, der in der Internationalen nur eine Quelle persönlichen Vorteils erblickte, ernannte seinen Schwiegersohn, einen Ex-Jesuiten und entlaufenen Priester zum „Professor der Internationalen und zwang die armen Arbeiter, seine Tiraden über die Achtung des Eigentums und andern Blödsinn der Bourgeois-Volkswirtschaft1 herunterzuschlucken" (Brief Cafieros)*, worauf er sich dann von den Kapitalisten kaufen ließ, die durch die Fortschritte der Internationalen in Neapel in Unruhe versetzt wurden. Auf ihr Geheiß zog er die Kürschner Neapels in einen hoffnungslosen Strike. Nebst drei anderen Mitgliedern ins Gefängnis geworfen, behielt er die Summe von 300 Franken ein, welche von der Sektion zur Unterstützung der vier
* Caporusso hatte zwei Jahre später die Unverschämtheit, dieses selbe, in Neapel durchgefallene Individuum dem Generalrat durch folgende Reklame aufdrängen zu wollen: „Bürger-Präsident der Internationalen! Die große Frage vonArbeit undKapital, welche der Arbeiterkongreß von Basel behandelte und die heute die Geister aller Klassen beschäftigt, ist jetzt gelöst. Mein Schwiegersohn, der Mann meiner Tochter, hat sich mit dem Studium des schweren Problems der sozialen Frage beschäftigt, er hat die Entscheidungen jenes Kongresses geprüft und mit Hülfe der Wissenschaft den Faden des schwierigen Knotens gefunden, um die Arbeiterfamilie mit der Bourgeoisie, jede in ihrem Rechte, in vollkommenes Gleichgewicht zu bringen" usw. (unterzeichnet Stefano Caporusso).!207-!
Gefangenen geschickt wurde. Diese Großtaten bewirkten seine Ausstoßung aus der Sektion, die weiter fortexistierte, bis sie durch Gewalt aufgelöst wurde (20. August 1871). Die Allianz, den Angriffen der Polizei entgangen, benutzte diesen Umstand, um sich an die Stelle der Internationalen zu setzen. Carmelo Palladino protestierte bei Einsendung des oben zitierten offiziellen Berichts vom 13. November 1871 gegen die Londoner Konferenz in denselben Ausdrücken und mit denselben Gründen, die man im Zirkular von Sonvillier vom Tage vorher findet. Im November 1871 bildete sich in Mailand eine aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte Sektion.t308) Man fand in ihr Arbeiter, besonders Mechaniker, die von Cuno zugeführt wurden; daneben Studenten, Journalisten der kleinen Presse, Kommis, diese letzteren1 vollständig unter dem Einfluß der Allianz. Cuno war schon wegen seines pangermanischen Ursprungs von ihren Mysterien ausgeschlossen; doch überzeugte er sich, daß nach einer Pilgerfahrt nach Locarno, dem allianzistischen Rom, diese jungen Bourgeois sich als Sektion der geheimen Gesellschaft konstituiert hatten. Kurz darauf (Februar 1872) wurde Cuno von der italienischen Polizei verhaftet und ausgewiesen; dank dieser Hülfe des Himmels fand die Allianz das Feld frei und disziplinierte ganz sachte die Mailändische Sektion der Internationalen. Am 8.Oktober 1871 konstituierte sich in Turin die Arbeiterföderation [62); sie beantragte beim Generalrat ihre Aufnahme in die Internationale. Ihr Sekretär, Carlo Terzaghi, schrieb in jenem Briefe: „Attendiamo i vostri ordini" - wir erwarten Eure Befehle. Wie um zu zeigen, daß in Italien die Internationale von ihrem Ursprung an durch den bürokratischen Instanzenzug der Allianz passieren mußte, meldet er, daß
„der Generalrat durch Vermittlung Bakunins einen Brief der Arbeiter-Assoziation zu Ravenna erhalten werde, worin diese sich als internationale Sektion erkläre".
Am 4. Dezember zeigt Carlo Terzaghi dem Generalrat an, daß die Arbeiterföderation sich gespalten habe, da die Majorität mazzinistisch sei, und daß die Minderheit sich unter dem Namen Emanzipation des Proletariers als Sektion konstituiert habe.1621 Er benutzt die Gelegenheit, um vom Generalrat Geld für sein Journal „II Proletario" zu verlangen. Es war nicht die Aufgabe des Generalrats, für die Bedürfnisse der Presse zu sorgen; doch existierte in London ein Komitee, das sich bemühte, einige Gelder zur Unterstützung der internationalen Blätter zu sammeln. Das Komitee
war im Begriff, eine Unterstützung von 150 Franken zu senden, als das „Gazzettino Rosa" verkündete, die Turiner Sektion habe für den Jura offen Partei ergriffen und habe beschlossen, einen Delegierten zu dem von der Jura-Föderation einzuberufenden allgemeinen Kongreß zu schicken. Zwei Monate später rühmte sich Terzaghi vor Regis, daß er diesen Beschluß habe fassen lassen, nachdem er in Locarno persönlich die Instruktionen Bakunins in Empfang genommen hatte. Bei dieser feindseligen Haltung zur Internationalen schickte das Komitee kein Geld. Obwohl Terzaghi in Turin die rechte Hand der Allianz war, so war doch der wahre päpstliche Legat daselbst ein gewisser Jacobi, angeblich polnischer Arzt. Zur Erklärung seines Hasses gegen den angeblichen Pangermanismus des Generalrats beschuldigte diesen der allianzistische Doktor
„der Nachlässigkeit und Untätigkeit im französisch-preußischen Kriege; man muß ihm den Fall der Kommune zuschreiben, da er es nicht verstanden hat, sich seiner ungeheueren Macht zu bedienen, um die Pariser Bewegung zu unterstützen; seine germanischen Tendenzen fallen in die Augen, wenn man bedenkt, daß vor den Mauern von Paris in der deutschen Armee 40000 Internationale (!) standen und der Generalrat nicht verstanden hat, seinen Einfluß zu brauchen oder ihn nicht hat brauchen wollen, um die Fortsetzung des Krieges zu verhindern" (1! - Bericht von Regis an den Generalrat, 1. März 1872 I308!). Er beschuldigt den Generalrat, ihn mit demPreß-Komitee verwechselnd, „die Theorie der korrumpierenden und korrumpierten Regierungen zu befolgen", als er die 150 Franken dem Allianzisten Terzaghi verweigerte. Um zu beweisen, daß diese Klage der Allianz von Herzen kam, machte es sich Guillaume zur Pflicht, sie auf dem Haager Kongreß zu wiederholen . Während Terzaghi in seinem Blatte vor dem Publikum die große antiautoritäre Trommel der Allianz schlug, schrieb er unter der Hand an den Generalrat, daß er seine Autorität brauchen und die Beiträge der Turiner Arbeiterföderation zurückweisen solle, und verlangte von ihm eine regelrechte Exkommunikation des Journalisten Beghelli, der nicht einmal Mitglied der Internationalen war. Derselbe Terzaghi, „der gute Freund (amicone) des Turiner Polizeipräfekten, der ihn auf ein Gläschen Wermuth traktierte, wenn er ihm begegnete" (offizieller Bericht des Turiner Föderalrats vom 5. April 1872), denunzierte in einer öffentlichen Versammlung die Anwesenheit des Flüchtlings Regis, der vom Generalrat nach Turin gesandt war. Diese Anzeige trieb die Polizei sofort unmittelbar auf Regis* Fersen; es gelang diesem nur mit Hülfe der Sektion, die Grenze zu erreichen.
Terzaghi beschloß in Turin folgendermaßen seine allianzistische Mission. Da schwere Anklagen sich gegen ihn erhoben hatten, so „drohte er die Bücher der Sektion zu verbrennen, wenn man ihn nicht wieder zum Sekretär wählte, wenn man sich seinem Willen, seiner Autorität zu entziehen trachtete, oder wenn man einen Tadel gegen ihn beschlösse. In allen diesen Fällen würde er sich rächen, indem er Polizeiagent (questurino) würde". /Aus dem oben zitierten Bericht des Turiner Föderalrats.) Terzaghi hatte alle Ursache, die Sektion einschüchtern zu wollen. In seiner Eigenschaft als Kassierer und Sekretär hatte er seine allianzistischen Kassendiebstähle gar zu weit getrieben. Trotz eines formellen Verbots von seiten des Rats gewährte er sich eine Schadloshaltung von 90 Franken; er trug in die Bücher unbezahlte und in der Kasse fehlende Summen als bezahlt ein; die von ihm selbst aufgestellte Rechnungsbilanz wies einen Kassenbestand von 56 Franken auf, die nicht aufzufinden waren und die er sich zu ersetzen weigerte, ebenso die 200 Beitragsmarken, welche er vom Generalrat erhalten hatte. Die Generalversammlung schaßte (scacciö) ihn einstimmig (der oben zitierte Bericht). Die Allianz, welche immer die Autonomie der Sektionen respektiert, respektierte auch diese Ausstoßung, indem sie Terzaghi unmittelbar darauf zum Ehrenmitglied der Sektion zu Florenz ernennen ließ und später zum Delegierten dieser selben Sektion für die Konferenz zu Rimini. Wenige Tage später, in einem Brief vom 10. März, erklärt Terzaghi dem Generalrat seine Ausstoßung auf folgende Weise: er habe seine Entlassung als Mitglied und Sekretär dieser Sektion von Kanaillen und Polizeispitzeln (canaglia et mardoccheria) eingereicht, weil dieselbe „aus Agenten der Regierung und Mazzinisten zusammengesetzt sei", und weil man versucht habe, ihm ein Tadelsvotum anzuheften, „wissen Sie, warum? weil ich Krieg dem Kapital predigte!" (Diesen Krieg führte er grade gegen die Kasse der Sektion.) Der Brief hat den Zweck, dem Generalrat zu beweisen, daß er sonderbar getäuscht sei über den Charakter dieses braven Terzaghi, der nichts sehnlicher wünsche, als der untertänige Diener des Generalrats zu sein. Hatte er nicht „stets erklärt, daß man, um Internationaler zu sein, seine Beiträge an den Generalrat zahlen müsse" - im Gegensatz zu den geheimen Befehlen der Allianz?
„Wenn wir dem Jura-Kongreß beigetreten sind, so geschah es nicht, um Ihnen, meine lieben Freunde, den Krieg zu erklären, sondern man folgte einfach dem Strome; unsere Absicht war, in dem Konflikt ein Friedenswort beizutragen. Was die Zentralisation der Sektionen betrifft, so halte ich dieselbe, ohne ihnen jedoch eine gewisse eigene Autonomie entziehen zu wollen, für sehr nützlich." - „Ich hoffe, daß der große Rat die Aufnahme der mazzinistischen Arbeiterföderation verweigern wird; seien Sie
überzeugt, daß niemand es Ihnen für Autoritätssucht auslegen wird; ich übernehme alle Verantwortlichkeit dafür... Ich wünsche1 eine ausführliche Biographie von Karl Marx; in Italien haben wir noch keine authentische und ich möchte die Ehre haben, zuerst eine solche zu liefern." Und was bedeutet diese ganze Schweifwedelei?
„Nicht meinetwegen, sondern um der Sache willen, um meinen zahlreichen Feinden nicht den Platz zu räumen, um ihnen zu zeigen, daß die Internationale feststeht, bitte ich Sie dringend, wenn es noch Zeit ist, mir die Unterstützung von 150 Franken zu bewilligen, die der große Rat beschlossen hat." Sich der Straflosigkeit sicher wähnend, scheint Terzaghi durch neue Streiche in Florenz sich derart unmöglich gemacht zu haben, daß der Fascio Operaio2 selbst sich genötigt sah, ihn zu desavouieren. Hoffen wir, daß das Jura-Komitee verstanden hat, seine Dienste besser zu würdigen. Wenn die Allianz in Terzaghi ihren echten Repräsentanten gefunden hat, so fand sie in der Romagna ihr richtiges Terrain. Sie bildete dort ihre Gruppe angeblich internationaler Sektionen, die als erste Verhaltungsregel hatten, sich nicht an die Allgemeinen Statuten zu kehren und dem Generalrat weder ihre Konstituierung anzuzeigen, noch Beiträge zu zahlen. Es waren wahrhaft autonome Sektionen. Sie nahmen den Namen des Fascio Operaio an und dienten verschiedenen Arbeiter-Assoziationen als Mittelpunkt. Ihr erster, zu Bologna am 17. März 1872 abgehaltener Kongreß antwortete auf die Frage:
„Soll man im allgemeinen Interesse und zur Sicherung der vollständigen Autonomie des Fascio Operaio denselben der Leitung des General-Komitees zu London oder der des Jura unterwerfen oder soll man seine Unabhängigkeit bewahren, indem man zugleich Beziehungen mit beiden Komitees unterhält? mit folgendem Beschluß:
„Der Kongreß erblickt in dem General-Komitee zu London und dem des Jura nichts weiter als einfache Korrespondenz- und statistische Büros und beauftragt das Konsulat des Bezirks von Bologna, sich mit beiden in Verbindung zu setzen und darüber den Sektionen zu berichten." Der Fascio Operaio hatte einen großen Bock geschossen, indem er den Profanen die geheimnisvolle Existenz des geheimen Zentrums der Allianz enthüllte. Das Jura-Komitee sah sich genötigt, öffentlich seine geheime Existenz zu leugnen. - Was den Generalrat anlangt, so hat ihm das Konsulat von Bologna nie ein Lebenszeichen gegeben.
Kaum hatte die Allianz von der Einberufung des Haager Kongresses Kenntnis, so ließ sie ihren Fascio Operaio vorrücken, der im Namen seiner autonomen Autorität oder seiner autoritären Autonomie sich den Titel italienische Föderation beilegte und zum 5. August eine Konferenz nach Rimini einberief. Von den 21 Sektionen, die dort vertreten waren, hatte eine einzige, die zu Neapel, jemals zur Internationalen gehört, während keine der wirklich zur Internationalen gehörigen Sektionen, selbst nicht die zu Mailand, dort einen Vertreter hatte. Diese Konferenz deckte den Feldzugsplan der Allianz in folgender Resolution13101 auf:
„In Erwägung, daß die Londoner Konferenz (September 1871) es versucht hat, durch ihre Resolution IX der ganzen Internationalen Arbeiter-Assoziation eine autoritäre Lehre aufzudrängen, welche die der deutschen kommunistischen Partei ist; in Erwägung, daß der Generalrat der Hebel und Stützpunkt dieses Versuchs ist; in Erwägung, daß die Lehre der autoritären Kommunisten die Verneinung des revolutionären Gefühls des italienischen Proletariats ist; in Erwägung, daß der Generalrat die unwürdigsten Mittel, wie Verleumdung und Betrug, gebraucht hat, einzig zu dem Zwecke, der ganzen internationalen Assoziation die Einheit seiner speziellen autoritär-kommunistischen Doktrin aufzuzwingen; in Erwägung, daß der Generalrat das Maß seiner Unwürdigkeit durch sein vertrauliches Zirkular, datiert London 5. März 1872, voll gemacht hat, in welchem er, sein Werk der Verleumdung und des Betrugs fortsetzend, seine ganze Autoritätssucht enthüllt, namentlich in den beiden folgenden, beachtenswerten Stellen: Es dürfte schwer sein, Befehle auszuführen ohne,moralische' Autorität, in ,Ermangelung jeder anderen frei zugestandenen Autorität. (Vertrauliches Zirkular, Seite 27}) ,Der Generabat beabsichtigt, auf dem nächsten Kongreß eine Untersuchung über jene geheime Organisation und ihre Führer in gewissen Ländern, zum Beispiel in Spanien, zu Verlangen.' (Seite 31?) In Erwägung, daß der reaktionäre Geist des Generalrats das revolutionäre Gefühl der Belgier, Franzosen, Spanier, Slawen, Italiener und eines Teiles der Schweiz empört und den Antrag auf Abschaffung des Generalrats wie auf Reform der Allgemeinen Statuten hervorgerufen hat; in Erwägung, daß der Generalrat nicht ohne Ursache den Kongreß nach dem von allen jenen revolutionären Ländern weit entlegenen Haag berufen hat; in Erwägung alles dessen erklärt die Konferenz feierlich vor allen Arbeitern der Welt, daß die italienische Föderation der Internationalen Arbeiter-Assoziation von diesem Augenblick an jede Solidarität zwischen sich und dem Londoner Generalrat aufhebt, zugleich jedoch ihre ökonomische Solidarität mit allen Arbeitern versichert, und alle Sektionen, welche nicht die autoritären Prinzipien des Generalrats teilen, auffordert, ihre Vertreter zum 2.September 1872 nicht nach dem Haag, sondern nach
Neuchatel (Schweiz) zu senden, um an demselben Tage den antiautoritären allgemeinen Kongreß zu eröffnen.
Rimini, 6.August 1872
Für die Konferenz Carlo Cafiero, Präsident, Andrea Costa, Sekretär.'"
Der Versuch, den Fascio Operaio an die Stelle des Generalrats zu setzen, scheiterte vollständig. Sogar der Spanische Föderalrat, diese einfache Filiale der Allianz, wagte es nicht, die Resolution von Rimini den spanischen Internationalen zur Abstimmung zu unterbreiten. Die Allianz versuchte also ihren Schnitzer wiedergutzumachen, und ging nach dem Haag, berief aber gleichzeitig ihren antiautoritären Kongreß nach Saint-Imier. Italien war durch besondere günstige Umstände das gelobte Land der Allianz geworden. Der Papst Michail deckt dieses Geheimnis in seinem Briefe an Mora (Beweisstücke Nr.31) auf:
„In Italien gibt es, was den anderen Ländern fehlt, eine glühende, energische Jugend ohne jede Stellung, ohne Karriere, ohne Ausweg (tout-ä~fait deplacee, sans carriere, sans issue), die trotz ihrer Bourgeois-Herkunft nicht moralisch und intellektuell erschöpft ist wie die junge Bourgeoisie anderer Länder. Heute stürzt sie sich kopfüber (ä tete perdue) in den revolutionären Sozialismus mit unserem ganzen Programm, dem Programm der Allianz. Mazzini, unser genialer2 und mächtiger Gegner, ist tot, die mazzinistische Partei ist vollständig desorganisiert, und Garibaldi läßt sich mehr und mehr fortreißen von jener seinen Namen führenden Jugend, die jedoch viel weiter als er geht, ja läuft." * Der heilige Vater hat recht. Die Allianz in Italien ist nicht ein „ArbeiterBund" (Fascio Operaio), sondern ein Haufen von Deklassierten3, der Abhub der Bourgeoisie. Alle angeblichen Sektionen der italienischen Internationalen werden geleitet von Advokaten ohne Klienten, von Ärzten ohne
* Garibaldi selbst schreibt hierüber: „Mein lieber Crescio! Herzlichen Dank für den .Avvenire Sociale', den Sie mir zugesandt haben und den ich mit Interesse lesen werde. Sie wollen in Ihrem Blatte die Lüge und die Sklaverei bekämpfen: das ist ein sehr schönes Programm. Aber ich glaube, daß die Bekämpfung des Prinzips der Autorität einer jener Fehler der Internationalen ist, der ihre Fortschritte hindert. Die Pariser Kommune ist gefallen, weil in Paris keine Autorität, sondern nur Anarchie existierte. Spanien und Frankreich leiden an demselben Übel. Ich wünsche dem .Avvenire' gutes Gedeihen und bleibe Ihr G.Garibaldi." t311l
1 Siehe vorl. Band, S. 470/471 - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: (sie) - 3 in der französischen Ausgabe endet hier der Satz
Patienten und ohne Kenntnisse, von Studenten vom Billard, von Handlungsreisenden und sonstigen Kommis und besonders von Journalisten der kleinen Presse von mehr oder minder zweideutigem Ruf. Italien ist das einzige Land, in dem die internationale Presse - oder die sich so nennt - einen figaristischen Charakter trägt. Man braucht nur einen Blick auf die Handschrift der Sekretäre dieser angeblichen Sektionen zu werfen, um sich zu überzeugen, daß sie immer eine kaufmännische ist oder doch den gewohnheitsmäßigen Gebrauch der Feder verrät. Sich so aller offiziellen Stellungen in den Sektionen bemächtigend, zwang die Allianz die italienischen Arbeiter, sobald sie untereinander oder mit einem auswärtigen Rat der Internationalen in Verbindung treten wollten, sich der Hände jener allianzistischen degradierten Bourgeois zu bedienen, die in der Internationalen endlich eine „Karriere" und einen „Ausweg" fanden.
VI
Die Allianz in Frankreich
Die Mitglieder waren dort wenig zahlreich, aber sehr eifrig. In Lyon wurde die Allianz geleitet von Albert Richard und Gaspard Blanc, in Marseille von Bastelica, alle drei tätige Mitarbeiter an den von Guillaume redigierten Blättern. Ihnen ist es zu danken, daß die Allianz es fertigbrachte, die Lyoner Bewegung im September 1870 zu desorganisieren; diese Bewegung hatte für sie keine andere Bedeutung, als daß sie Bakunin Gelegenheit gab, sein ewig denkwürdiges Dekret der Abschaffung des Staates loszulassen. Die Tätigkeit der Allianz nach der Niederlage der Lyoner Insurrektion ist trefflich charakterisiert in folgender Stelle eines Briefs von Bastelica (Marseille, 13. Dezember 1870):
„Unsere tatsächliche Macht ist ungeheuer groß unter den Arbeitern; doch ist unsere Sektion seit den letzten Verfolgungen nicht wieder organisiert worden. Wir wagen es nicht zu tun, aus Furcht, daß in Abwesenheit der Fährer (initiateurs) die Elemente korrumpiert Werden könnten.1" Der Umstand, daß Bastelica zu einem Marschregiment eingezogen war und jeden Augenblick von Marseille entfernt werden konnte, war also für ihn ein genügender Grund, die Reorganisation der Internationalen zu verhindern, so unentbehrlich für ihre Autonomie hielt er die Gegenwart der allianzistischen Führer. - Das augenscheinlichste Resultat, das die Allianz zuwege brachte, war bei den Lyoner und Marseiller Arbeitern die Internationale, die sie wie immer und überall zu repräsentieren vorgab, in Mißachtung zu bringen. Das Ende Richards und Blancs ist bekannt. Im Herbst 1870 erschienen sie in London und suchten unter den französischen Flüchtlingen Bundesgenossen für eine bonapartistische Restauration zu werben. Im Januar 1872
veröffentlichten sie die Broschüre: „L'Empire et la France nouvelle. Appel du peuple et de la jeunesse ä la conscience frangaise, par Albert Richard et Gaspard Blanc, Bruxelles, 1872." (Das Kaisertum und das neue Frankreich. Ein Appell des Volks und der Jugend an das französische Gewissen, von Albert Richard und Gaspard Blanc, Brüssel 1872.) Mit der gewöhnlichen Bescheidenheit der Scharlatane der Allianz preisen sie sich hier an:
„Wir, die wir die große Armee des französischen Proletariats gebildet hatten... wir, die einflußreichsten Führer der Internationalen in Frankreich... wir sind glücklicherweise nicht erschossen worden, und wir sind da, um angesichts jener (der ehrgeizigen Parlamentsredner, der vollwanstigen Republikaner, der angeblichen Demokraten jeder Gattung) die Fahne aufzupflanzen, in deren Schatten wir kämpfen, und um dem erstaunten Europa trotz der Verleumdungen, trotz der Drohungen, trotz der Angriffe jeder Art, die unser warten, jenen Ruf entgegenzuschleudern, der aus der Tiefe unseres Gewissens kommt und bald in dem Herzen aller Franzosen widerhallen wird, den Ruf: ,VIVE L' EMPEREUR!' (Es lebe der Kaiser!)"
Wir enthalten uns der Untersuchung, ob diese beiden „durch den normalen Fortschritt ihrer Anschauungen" kaiserlich gewordenen Allianzisten wirklich einfache „Kanaillen" sind, wie sie ihr ehemaliger Freund Guillaume im Haag nannte, oder ob sie vom allianzistischen Papst den besonderen Auftrag erhalten haben, in die Reihen der bonapartistischen Agenten zu treten. Die Dokumente der russischen Allianz, die nach den geheimen Statuten das Geheimnis der Geheimnisse dieser geheimnisvollen Gesellschaft enthüllen sollen und von denen wir weiter unten Auszüge geben werden, sagen ausdrücklich, daß die internationalen Brüder sich überall Zutritt verschaffen sollen und daß sie selbst den Auftrag erhalten können, in den Polizeidienst zu treten. Übrigens geht die Verehrung jener beiden Brüder für ihren Bauernkaiser nicht weiter als die, welche Bakunin selbst im Jahre 1862 für seinen Bauernzar hatte. In den Städten Frankreichs, wo die Allianzisten nicht hingekommen waren, entwickelte sich die Internationale reißend seit dem Fall der Kommune. Auf dem Haager Kongreß konnte der Sekretär für Frankreich1 berichten, daß sie in über dreißig Departements organisiert war. Die beiden hauptsächlichsten allianzistischen Korrespondenten für Frankreich, Benoit Malon und Jules Guesde (der Name des letzteren steht unter dem Zirkular von Sonvillier), welche die reißende Entwicklung unserer Assoziation kannten, versuchten, sie zugunsten der Allianz zu desorganisieren. Ihre Briefe
1 Auguste Serraillier
25 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
hatten nicht die beabsichtigte Wirkung; man schickte dann Emissäre, unter anderen einen Russen namens Metschnikow, doch auch ihre Anstrengungen führten zu nichts. Diese selben Individuen, welche schamlos den Generalrat beschuldigten, daß er die Arbeiter verhindere,
„sich in jedem Lande frei, aus eigenem Antriebe, gemäß ihrem eigenen Geiste und ihren besonderen Gewohnheiten zu organisieren" (Brief Guesdes vom 22. September 1872) t3133,
sagten den Arbeitern, sowie diese sich frei, aus eigenem Antriebe usw., aber in voller Harmonie mit dem Generalrat organisierten, daß die Deutschen im Generalrat sie unterdrückten und daß es außer ihrer orthodoxen antiautoritären Kirche kein Heil gebe. Die französischen Arbeiter, welche sich nur von den Versaillern unterdrückt fühlten, schickten diese Briefe an den Generalrat mit der Frage, was das alles heißen solle. Diese Tätigkeit der Allianz in Frankreich ist der beste Beweis, daß sie der Internationalen den Krieg erklärt hatte von dem Augenblick an, wo sie die Hoffnung verlor, sie zu beherrschen. Jede Sektion, die sich nicht ihrer Herrschaft unterwarf, wurde von ihr als Feindin betrachtet, ja als noch ärgere Feindin denn die Bourgeoisie. Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns, das ist die offen von ihr in allen ihren russischen Manifesten eingestandene Regel.1 Den Augenblick, wo die französische Arbeiterklasse vor allem irgendeiner Organisation, einerlei welcher, bedurfte, gerade diesen Augenblick wählte die Allianz, um Thiers und der Krautjunker-Versammlung zu Hülfe zu kommen, indem sie der Internationalen den Krieg erklärte. Sehen wir jetzt, wer die Agenten der Allianz waren in ihrem Feldzuge zugunsten der Versailler. In Montpellier hatte Guesde zum Vertrauten einen Studenten der Medizin, namens Paul Brousse*. Dieser machte allianzistische Propaganda im Herault-Departement3, wo Guesde ein Journal: „Les Droits de 1'Homme" 13141 (Die Menschenrechte) herausgegeben hatte. Kurz vor dem Haager Kongreß, als die Internationalen des Südens übereingekommen waren, Beiträge für einen gemeinschaftlichen Kongreßdelegierten zu zahlen, versuchte Brousse die Sektion von Montpellier zu bewegen, ihren Anteil nicht zu zahlen und
* Jetzt mit Alerini Redakteur der „Solidarite revolutionnaire" l313' in Barcelona.2
1 In der französischen Ausgabe folgt: Der Erfolg der allgemeinen Bewegung bedeutet für sie ein Unglück, wenn sich diese Bewegung nicht ihrem Sektenjoch unterwirft. - 2 in der französischen Ausgabe fehlt diese Fußnote -3in der französischen Ausgabe: Dieser versuchte, allianzistische Propaganda im ganzen H^rault-Departement zu machen
nicht eher Partei zu ergreifen, als bis der Kongreß die schwebenden Angelegenheiten entschieden habe. Das Komitee des Südens, Sektion von Montpellier, beschloß, beim Kongreß den Ausschluß Brousses aus der Internationalen zu beantragen, weil er „unredlich gehandelt habe, indem er innerhalb der Sektion eine Spaltung hervorzurufen suchte". Sein Freund Guesde brachte in einer aus Rom an die Brüsseler „Liberte" gesandten Korrespondenz13151 vom Monat Dezember dieses autoritäre Attentat gegen Brousse zur Kenntnis und bezeichnete1 Calas in Montpellier mit vollem Namen als Anstifter, während er Brousse nur mit den Anfangsbuchstaben andeutete. Die durch diese Denunziation geweckte Polizei überwachte Calas und nahm gleich darauf auf der Post einen Brief Serrailliers an Calas in Beschlag, in welchem viel von Dentraygues in Toulouse die Rede war. Am 24. Dezember wurde Dentraygues verhaftet. Die tätigsten Bundesgenossen der Allianz waren in Narbonne Gondres, als Polizeispion bezeichnet, Bacave, der in Narbonne und Perpignan das Gewerbe eines Polizeiagenten betrieb, de Saint-Martin, Advokat und Korrespondent Malons. Herr de Saint-Martin bewarb sich 1866 um eine Stelle im Ministerium des kaiserlichen Hauses und der schönen Künste. Im Jahre 1869 wegen Preßvergehens zu einer Geldbuße von 800 Franken verurteilt, brachten die Republikaner diese Summe für ihn zusammen; doch SaintMartin, statt das Geld zur Erledigung der Geldbuße zu verwenden, verwandte es zu einem kleinen Ausflug nach Paris2, so daß die Arbeiter, um Skandal zu vermeiden, ihre Sammlung wiederholen mußten. Unmittelbar nach den Maitagen 1871 bettelte derselbe Saint-Martin bei der Versailler Regierung um eine Unterpräfektenstelle. Noch ein Agent der Allianz: im November 1871 schrieb Calas an Serraillier:
„Sie können auf die volle Ergebenheit des Bürgers Abel Bousquet für die soziale Sache rechnen, er ist... Präsident des sozialistischen Komitees zu Beziers.'' Zwei Tage darauf, am 13. November, erhielt Serraillier folgende Erklärung: „In der Überzeugung, ... daß man das Vertrauen des Bürgers Calas, unseres gemeinschaftlichen Freundes, mißbraucht hat, so daß dieser dem Herrn Bousquet, Präsidenten des Wahlkomitees zu Beziers, ein Vertrauen schenkte, dessen dieser durchaus unwürdig ist, da besagter Bousquet Sekretär des Zentral-Polizeikommissärs von Beziers ist... so bitten wir den Bürger Serraillier in Übereinstimmung mit dem Bürger
1 In der französischen Ausgabe eingefügt: in allen Briefen - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: auf Kosten der Arbeiter
Calas, der den Irrtum, dessen Opfer er geworden, erkannt hat, den letzten vom Bürger Calas an ihn gerichteten Brief für nicht geschrieben zu betrachten, und ersuchen ihn außerdem, wenn es angeht, den Herrn Bousquet aus der Internationalen streichen zu lassen. Für die Delegation der sozialistischen Demokratie von Beziers und Pezenas" (folgen die Unterschriften). Serraillier benutzte diese Erklärung, um in der Toulouser „Emancipation" (19.Dezember 1871) diesen Herrn Bousquet als Polizeiagenten zu entlarven. - Ein „Narbonne, 24. Juli 1872" datierter Brief besagt, daß der Herr Bousquet
„die Funktionen eines Chefbrigadiers der Polizei und die eines Reisenden im Auftrage der Genfer Dissidenten in seiner Person vereinigt". Ganz natürlich also, daß das „Jura-Bulletin" vom 10.November 1872 seine Verteidigung übernimmt.12031
VII
Die Allianz seit dem Haager Kongreß
Wie man weiß, gaben in der letzten Sitzung des Haager Kongresses die vierzehn Delegierten der Minorität eine gegen die gefaßten Beschlüsse protestierende Erklärung ab. Diese Minorität bestand aus folgenden Delegierten: vier Spaniern, fünf Belgiern, zwei Jurassiern, zwei Holländern, einem Amerikaner. Nachdem sie sich in Brüssel mit den Belgiern über die Grundlagen eines gemeinsamen Vorgehens gegen den neuen Generalrat verständigt hatten, reisten die Jurassier und die Spanier nach Saint-Imier in der Schweiz, um dort den antiautoritären Kongreß[aoo! abzuhalten, den die Allianz durch ihre Anhänger in Rimini hatte einberufen lassen. Diesem Kongreß vorher ging der der Jura-Föderation, welcher die Haager Beschlüsse verwarf und namentlich die, welche Bakunin und Guillaume ausgestoßen hatten; infolgedessen wurde die Föderation vom Generalrat suspendiert. Auf dem antiautoritären Kongreß war die Allianz vollzählig vertreten. Neben den Spaniern und Jurassiern finden wir Italien von sechs Delegierten vertreten, unter ihnen Costa, Cafiero, Fanelli und Bakunin selbst; zwei Delegierte gaben vor, „mehrere Sektionen in Frankreich" und ein Delegierter, zwei Sektionen in Amerika zu vertreten; im ganzen waren dort fünfzehn „Alliierte". Dieser Kongreß bot endlich Bakunin „alle Garantien eines unparteiischen und ernsten Urteils"; auch herrschte auf ihm die größte Einmütigkeit. Diese Leute, von denen mindestens die Hälfte nicht zur Internationalen gehörte, stellten sich als höchsten Gerichtshof hin, berufen, in letzter Instanz über die Handlungen eines allgemeinen Kongresses unserer Assoziation zu entscheiden. Sie erklärten, alle Beschlüsse des Haager Kongresses absolut zu verwerfen und in keiner Weise die Befugnisse des neuen von demselben gewählten Generälrats anzuerkennen. Endlich schlössen sie im Namen ihrer F öderationen und ohne irgendeine Art Mandat hierzu ein
Schutz- und Trutzbündnis - einen „Pakt der Freundschaft, der Solidarität und des gegenseitigen Schutzes" - gegen den Generalrat und alle diejenigen, welche die Haager Beschlüsse anerkennen würden; sie definierten ihren Enthaltungs-Anarchismus in folgender Resolution, die eine direkte Verurteilung der Pariser Kommune ist: „Der Kongreß erklärt: 1. daß die Vernichtung jeder politischen Macht die erste Pflicht des Proletariats ist; 2. daß jede Organisation einer angeblich provisorischen und revolutionären politischen Macht zum Zwecke der Bewerkstelligung jener Vernichtung nur eine neue Täuschung sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich sein muß, wie alle heute existierenden Regierungen." Endlich beschloß man, die anderen autonomistischen Föderationen aufzufordern, sich diesem neuen Pakt anzuschließen, und in sechs Monaten einen zweiten antiautoritären Kongreß abzuhalten. Die Spaltung in der Internationalen war also ausgesprochen. Das JuraKomitee nahm von diesem Augenblick die Geschäftsführung der Dissidenten offen in die Hand. Der Teil der Internationalen, der ihr folgte, war nichts weiter als die neugeborene alte öffentliche Allianz, die so der geheimen Allianz als Maske und Werkzeug diente. Nach Spanien zurückgekehrt, veröffentlichten die vier Haimonskinder der spanischen Allianz ein mit Schmähungen gegen den Haager Kongreß und mit Lobeserhebungen gegen den von Saint-Imier gespicktes Manifest. Der Föderalrat nahm diese Schmähschrift unter seine Fittiche und berief auf Geheiß der Schweizer Zentralbehörde den Landeskongreß nach Cördoba zum 25. Dezember 1872, während dieser erst im April 1873 hätte stattfinden sollen. Die Schweizer Zentralbehörde ihrerseits beeilte sich, vor allen Augen klarzulegen, welche subalterne Stellung ihr gegenüber dieser Föderalrat einnehme: das Jura-Komitee schickte über den Kopf des Spanischen Föderalrats hinweg die Resolutionen von Saint-Imier an alle Lokalföderationen Spaniens. Auf dem Kongreß zu Cordoba fanden sich von 101 Föderationen (die vom Föderalrat angegebene offizielle Zahl) nur 36 vertreten; es war also ein Minderheitskongreß, so reinlich und so zweifelsohne wie kaum ein anderer. Neugebildete Föderationen waren durch zahlreiche Delegierte vertreten; Alcoy hatte ihrer sechs, und doch war diese Föderation nie vorher auf einem Landeskongreß vertreten gewesen; zur Zeit des Haager Kongresses existierte sie noch nicht einmal, denn sie hatte für die spanische Delegation weder eine Stimme noch einen Groschen abgegeben. Bedeutende und tätige Föderationen, wie Gracia (500 Mitglieder), Badalona (500 Mitglieder), Sabadell (125), Sans (1061), glänzten durch ihre Abwesenheit. Auf
der Liste der achtundvierzig Delegierten findet man die Namen von vierzehn notorischen Mitgliedern der Allianz, von denen zehn Föderationen vertreten, bei denen sie nicht Mitglieder und wahrscheinlich auch unbekannt waren. Die Allianz, der von ihr fabrizierten Majorität sicher, ließ ihren Gelüsten jetzt freien Lauf. Die in Valencia ausgearbeiteten und in Saragossa bestätigten Statuten der Landesföderation wurden umgestoßen, die Spanische Föderation enthauptet, indem ihr Föderalrat durch eine bloße Korrespondenz- und statistische Kommission ersetzt wurde, der man nicht einmal die Ablieferung der spanischen Beiträge an den Generalrat auftrug. In einem Wort, man brach mit der Internationalen durch die Verwerfung der Haager Beschlüsse und die Annahme des Pakts von Saint-Imier; man trieb die Anarchie so weit, daß man schon im voraus den nächsten allgemeinen Kongreß verwarf und durch einen neuen antiautoritären Kongreß ersetzte,
„für den Fall, daß jener nicht die Würde und Unabhängigkeit der Internationalen durch Umstoßung der Beschlüsse des Haager Kongresses wiederherstelle". Im Haag wollte die Allianz durch das imperative Mandat der Spanier den Abstimmungsmodus aufzwingen, der ihr für den Augenblick am besten paßte; in Cordoba ging sie so weit, daß sie bereits neun Monate vorher die Beschlüsse vorschrieb, welche der nächste allgemeine Kongreß fassen müsse. Gestehen wir es, weiter konnte man die Autonomie der Sektionen und Föderationen nicht treiben. Der Haager Kongreß, indem er die Allianz und ihre Häupter aus der Internationalen stieß, gab der gegen die Allianz reagierenden Bewegung1 neue Kraft. Die Neue Madrider Föderation wurde in dem Feldzuge, den sie eröffnet hatte, von den Föderationen zu Saragossa, Vitoria, Alcalä de Henares, Gracia, Lerida, Denia, Pont de Vilumara, Toledo, Valencia, der neuen Föderation zu Cädiz usw. unterstützt. Das Zirkular des Föderalrats, der den Kongreß von Cordoba einberief, verlangte von diesem, daß er über die Beschlüsse des allgemeinen Kongresses im Haag zu Gericht sitze. Es war dieses eine offenbare Verletzung nicht nur der Allgemeinen Statuten, sondern auch der spanischen Landes-Statuten'316', die im Art. 13 erklären:
„Der Föderalrat hat die Beschlüsse der Landes- und internationalen Kongresse auszuführen und ausführen zu lassen." Die Neue Madrider Föderation antwortete in einem Zirkular an die anderen Lokalföderationen, in welchem sie erklärte, daß der Föderalrat durch dieses Verfahren sich außerhalb der Internationalen gestellt habe,
und das Verlangen stellte, ihn durch einen neuen provisorischen Föderalrat zu ersetzen, der die Aufgabe habe, streng die Statuten aufrechtzuerhalten und nicht blind den Befehlen der Allianz zu gehorchen. Dieser Vorschlag wurde angenommen; man ernannte einen neuen Föderalrat, der seinen Sitz in Valencia hat. Derselbe erklärt sich in seinem ersten Zirkular (2. Februar 1873) als den „treuen Wächter der auf den internationalen und LandesKongressen ausgearbeiteten und bestätigten Statuten der Internationalen" und protestiert energisch gegen diejenigen, welche die „Anarchie in den Schoß der Internationalen pflanzen wollen, die Anarchie vor der Revolution, die Entwaffnung vor dem Siege! Welche Freude für die Bourgeoisie!"13171 Gleichzeitig mit den Spaniern hielten die Belgier ihren Kongreß ab und verwarfen gleichfalls die Haager Beschlüsse. Der Generalrat antwortete ihnen, wie den sezessionistischen Spaniern, durch den Beschluß vom 26. Januar 18731, welcher erklärt, daß „alle Gesellschaften und Personen, welche sich weigern, die Kongreßbeschlüsse anzuerkennen, oder die Erfüllung der von den Allgemeinen Statuten und Reglements auferlegten Pflichten ausdrücklich versagen, sich selbst außerhalb der Internationalen ArbeiterAssoziation stellen und derselben anzugehören aufhören". Am 30.Mai vervollständigte er diese Erklärung durch folgende Resolution2: „In Anbetracht, daß der am 25. und 26.Dezember 1872 in Brüssel abgehaltene Kongreß der Belgischen Föderation beschlossen hat, die Beschlüsse des fünften allgemeinen Kongresses für null und nichtig zu erklären; in Anbetracht ferner, daß der vom 25. Dezember 1872 bis zum 2. Januar 1873 in Cordoba abgehaltene Kongreß eines Teiles der Spanischen Föderation beschlossen hat, die Beschlüsse des fünften allgemeinen Kongresses nicht anzuerkennen und die Beschlüsse einer antiinternationalen Versammlung anzunehmen; in Anbetracht endlich, daß eine in London am 26. Januar 1873 abgehaltene Versammlung beschlossen hat, die Resolutionen des fünften allgemeinen Kongresses zu verwerfen; erklärt der Generalrat der Internationalen Arbeiter-Assoziation gemäß den Statuten und dem Verwaltungsreglement und in Übereinstimmung mit seinem Beschluß vom 26. Januar 1873: Alle Landes- oder Lokalföderationen, Sektionen und Personen, die an den oben erwähnten Kongressen oder Versammlungen3 teilgenommen
1 Vgl. vorl. Band, S.691/692 - 2 vgl. ebenda, S.693 - 3 in der französischen Ausgabe eingefügt: zu Brüssel, Cördoba und London
haben oder deren Beschlüsse anerkennen, haben sich dadurch selbst außerhalb der Internationalen Arbeiter-Assoziation gestellt und aufgehört, derselben anzugehören." Zu gleicher Zeit erklärte er von neuem, „daß eine italienische Landesföderation nicht existiere, da keine sich diesen Titel beilegende Organisation jemals die geringste von den Statuten und dem Verwaltungsreglement in betreff der Zulassung und Aufnahme vorgeschriebene Bedingung erfüllt habe; es bestehen jedoch in verschiedenen Teilen Italiens Sektionen in ordnungsmäßiger Beziehung zum Generalrat".1 Die Jurassier hielten ihrerseits am 27. und 28. April in Neuchatel einen neuen Kongreß ab. Es waren daselbst neunzehn Delegierte aus zehn Schweizer Sektionen und einer angeblichen elsässischen Sektion erschienen; zwei Sektionen in der Schweiz und eine in Frankreich hatten keine Delegierten geschickt. Die Jura-Föderation gab also vor, in der Schweiz zwölf Sektionen zu zählen. Der Delegierte von Moutier erklärte indessen, daß er nur gekommen sei, um zugunsten einer Versöhnung mit der Internationalen zu reden, und daß sein Mandat ihm verbiete, sich an den Arbeiten des Kongresses zu beteiligen. Moutier hatte sich in der Tat seit dem Kongreß zu Saint-Imier von der Jura-Föderation losgelöst. Es bleiben also elf Sektionen. Der Umstand, daß der Bericht des Komitees sich aufs peinlichste enthält, auch nur die geringste Andeutung über ihre Stärke und innere Lage zu machen, gibt uns das Recht, vorauszusetzen, daß sie nicht mehr Lebensfähigkeit besitzen als zur Zeit des Kongresses zu Sonvillier. Zur Entschädigung stellt der Bericht die auswärtigen Streitkräfte der Jurassier in Schlachtordnung auf, die Alliierten, welche die Allianz seit dem Kongreß im Haag gewonnen hat. Es sind dieses nach diesem Bericht fast alle Föderationen der Internationalen: „Italien" - Wir haben jedoch gesehen, daß es keine italienische Föderation gibt. „Spanien" - Obwohl die Majorität der spanischen Internationalen in das Lager der Sezessionisten übergegangen ist, haben wir doch eben gesehen, daß die Spanische Föderation immer noch existiert und in ordnungsmäßiger Beziehung zum Generalrat steht. „Frankreich, soweit es ernstlich organisiert ist", - das heißt die „Sektion in Frankreich", welche sich beim Kongreß zu Neuchatel entschuldigt hat, daß sie keinen Delegierten geschickt habe. Wir werden uns wohl hüten, den Jurassiern zu entdecken, was in Frankreich bis jetzt noch „ernstlich
organisiert" ist, trotz der letzten Verfolgungen, die zur Genüge gezeigt haben, auf welcher Seite die ernstliche Organisation war, und die1 sorgfältig das Paar Allianzisten schonten, welche Frankreich besitzt. „Ganz Belgien" - läßt sich von der Allianz nasführen, deren Prinzipien es weit entfernt ist zu teilen. „Holland mit Ausnahme einer Sektion" - das heißt, zwei holländische Sektionen sind, nicht dem Pakt von Saint-Imier, sondern der antiseparatistischen Erklärung der Haager Minorität beigetreten. „England mit Ausnahme einiger Dissidenten!" - Die „Dissidenten", d.h. die ungeheure Majorität der englischen Internationalen, haben am 1. und 2. Juni in Manchester ihren Kongreß abgehalten, auf dem sechsundzwanzig Delegierte, welche dreiundzwanzig Sektionen vertraten, erschienen waren13181; während das England der Jurassier weder Sektionen noch Föderalrat, noch gar einen Kongreß hat. „Amerika mit Ausnahme einiger Dissidenten!" - Die Amerikanische Föderation2 besteht in regelmäßiger Wirksamkeit und in voller Harmonie mit dem Generalrat; sie hat ihren Föderalrat und ihre Kongresse. Das Amerika des Jura-Komitees ist nichts anderes als jene Sorte in freier Liebe, in Papiergeld, in Ämtern und Korruption spekulierender Bourgeois, auf dem Haager Kongreß so trefflich repräsentiert von Herrn West, zu dessen Gunsten nicht einmal die Jura-Delegierten zu sprechen oder zu stimmen wagten. „Die Slawen", - das heißt die „slawische Sektion zu Zürich", die wie immer eine ganze Race vorstellen muß. Die Polen, die Russen, die österreichischen und ungarischen Slawen in der Internationalen, alles ausgesprochene Feinde der Sezessionisten, zählen nicht mit. Das sind also die Alliierten der Allianz. Wenn die elf Jura-Sektionen keine reellere Existenz haben als die Majorität dieser Alliierten, hat ihr Komitee wohl alle Ursache gehabt, hinsichtlich ihrer zu schweigen. In dieser allianzistischen Schlachtordnung glänzt die Schweiz durch ihre Abwesenheit, und zwar aus sehr guten Gründen. Einen Monat später, am 1. und 2. Juni, wurde in Ölten ein allgemeiner schweizerischer Arbeiterkongreß zur Organisation des Widerstandes gegen das Kapital und der Strikes abgehalten.13191 Fünf Jurassier predigten daselbst das Evangelium von der absoluten Autonomie der Sektionen; sie ließen den Kongreß über die Hälfte seiner Zeit verlieren. Endlich mußte man wohl zur Abstimmung
1 In der französischen Ausgabe eingefügt: wie immer - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: der Internationale
schreiten; das Resultat war, daß von achtzig Delegierten fünfundsiebzig gegen die fünf Jurassier stimmten, denen nichts übrigblieb, als den Saal zu verlassen. Indessen scheint die Allianz in ihren geheimen Winkelsitzungen sich über ihre wirklichen Hülfsmittel nicht der Täuschung hinzugeben, welche sie beim Publikum hervorrufen möchte. Auf demselben Kongreß zu Neuchatel ließ sie folgende Resolution annehmen:
„In Erwägung, daß nach dem Wortlaut der Allgemeinen Statuten der allgemeine Kongreß der Internationalen aus eigenem Recht alljährlich zusammentritt, ohne daß es dazu einer von einem Generalrat ausgehenden Einberufung bedarf, macht die JuraFöderation allen Föderationen der Internationalen den Vorschlag, am Montag, dem 1. September, in einer Stadt der Schweiz zum allgemeinen Kongreß zusammenzutreten." Und um zu verhüten, daß dieser Kongreß in „die unheilvollen Haager Irrtümer" verfalle, verlangt man, daß die allianzistischen Delegierten und ihre Alliierten bereits am 28. August als antiautoritärer Kongreß zusammentreten. Aus den Debatten über diesen Vorschlag
„geht hervor, daß für uns als allgemeiner Kongreß der Internationalen nur derjenige gelten wird, der direkt von den Föderationen selbst einberufen ist, und nicht der, welchen der angebliche Generalrat zu New York etwa einzuberufen Versuchen möchte". So ist also die Spaltung bis zur äußersten Konsequenz getrieben. Die Internationalen werden zu dem Kongreß gehen, mit dessen Einberufung nach einer von ihm zu wählenden Stadt der Schweiz der Generalrat von dem letzten Kongreß beauftragt ist. Die Allianzisten und ihr von ihnen genasführter Anhang werden zu einem von ihnen selbst kraft ihrer Autonomie einberufenen Kongreß gehen. Wir wünschen ihnen glückliche Reise.
VIII
Die Allianz in Rußland
1. Der Prozeß Netschajew
Die Tätigkeit der Allianz in Rußland ist uns durch den unter dem Namen „Prozeß Netschajew" bekannten politischen Prozeß enthüllt worden, der sich im Juli 1871 vor der Justizkammer in St.Petersburg abspielte. Zum ersten Male fand in Rußland die Verhandlung eines politischen Prozesses öffentlich und vor Geschworenen statt. Alle Angeschuldigten, mehr als achtzig an der Zahl, Männer und Frauen, gehörten bis auf wenige Ausnahmen der studierenden Jugend an. Sie hatten in den Gefängnissen der Petersburger Festung vom November 1870 bis Juli 1871 eine Präventivhaft erlitten, die den Tod zweier von ihnen veranlaßte und mehrere andere zum Wahnsinn brachte. Sie kamen aus dem Gefängnis, um ihre Verurteilung zu den Bergwerken Sibiriens, zur Zwangsarbeit, zu Gefängnis von fünfzehn, zwölf, zehn, sieben und zwei Jahren anzuhören; und diejenigen, welche vom öffentlichen Gerichtshof freigesprochen wurden, wurden „auf dem Verwaltungswege" verbannt. Ihr Verbrechen bestand darin, einer geheimen Gesellschaft angehört zu haben, die sich den Namen der Internationalen Arbeiter-Assoziation angemaßt und in die sie aufgenommen worden von einem Emissär des internationalen revolutionären Komitees, dessen Mandate mit dem angeblichen Siegel der Internationalen gestempelt waren. Derselbe hatte zur Verübung von Gaunereien verleitet und mehrere von ihnen gezwungen, ihn bei der Ausführung eines Mordes zu unterstützen; dieser Mord hatte die Polizei auf die Spuren der geheimen Gesellschaft gebracht; doch hatte, wie gewöhnlich, der Emissär bereits das Weite gesucht. Die Polizei zeigte bei ihren Nachforschungen einen solchen Scharfblick, daß man eine detaillierte Denunziation voraussetzen möchte. In dieser ganzen Affäre spielt der Emissär die zweideutigste Rolle. Dieser Emissär war Netschajew, Inhaber eines Vollmachtszeugnisses in folgender Fassung:
„Der Inhaber dieses Zeugnisses ist bevollmächtigter Vertreter des russischen Zweiges der allgemeinen revolutionären Allianz. - Nummer 2771." Dieses Zeugnis führt 1. in französischer Sprache den Stempel: „Alliance revolutionnaire europeenne. Comite general." (Europäische revolutionäre Allianz. Generalkomitee); 2. das Datum: 12. Mai 1869; 3. die Unterschrift: Michail Bakunin *
Im Jahre 1861 erhoben die Studenten in Erwiderung auf die fiskalischen Maßregeln, welche den Zweck hatten, arme junge Leute von den höheren Bildungsanstalten fernzuhalten, sowie auf die Disziplinarverfügungen, welche die Tendenz hatten, sie der diskretionären Zucht der Polizeiagenten zu unterwerfen, energische und einmütige Proteste, die sich aus ihren Versammlungen auf die Straßen fortpflanzten und zu gewaltigen Kundgebungen heranwuchsen. Die Petersburger Universität wurde damals für einige Zeit geschlossen und die Studenten ins Gefängnis geworfen oder verbannt. Dieses Vorgehen der Regierung trieb die Jugend in geheime Gesellschaften, die natürlich das Schicksal hatten, daß ein großer Teil ihrer Angehörigen ins Gefängnis, ins Exil oder nach Sibirien wanderten. Andere stifteten Kassen zur gegenseitigen Unterstützung, um den armen Studenten die Mittel zur Fortsetzung ihrer Studien zu beschaffen. Die Ernstesten unter ihnen hatten beschlossen, der Regierung keinen Vorwand mehr zur Unterdrükkung dieser Kassen zu geben, die in der Weise organisiert waren, daß ihre Geschäftsführung in kleinen Zirkeln gehandhabt wurde. Diese Zirkel gaben zugleich Gelegenheit, politische und soziale Fragen zu diskutieren. Die sozialistischen Ideen waren bereits derart in die Jugend der höheren russischen Schulen, zur großen Mehrheit Söhne von Bauern und anderen armen Leuten, gedrungen, daß sie bereits an sofortige praktische Anwendung dieser Ideen dachte. Mit jedem Tage verallgemeinerte sich diese Bewegung in den Schulen, deren theoretische Seele Tschernyschewski (jetzt in Sibirien) [321i war, und warf in die russische Gesellschaft eine besitzlose Jugend, die, aus dem niederen Volke hervorgegangen, in den sozialistischen Ideen unterrichtet und von i hnen durchdrungen war. Dies war der Stand der Dinge unter der russischen studierenden Jugend, als Netschajew das Ansehen, in welchem die Internationale stand, und die Begeisterung der Jugend benutzte, um die Studenten zu überreden, daß es nicht mehr an der Zeit sei, sich mit jenen Läppereien zu beschäftigen, während eine ungeheure geheime
* Petersburger (russische) Zeitung E320J, 1871, Nr. 180, 181, 187 etc.
Gesellschaft, mit der Internationalen in enger Verbindung, sich damit beschäftige, die allgemeine Revolution anzufachen, und zum sofortigen Handeln in Rußland bereit sei. Es gelang ihm, einigen jungen Leuten zu imponieren und sie fortzureißen zur Begehung gemeiner Verbrechen, welche der Polizei den Vorwand boten, diese ganze für das offizielle Rußland so gefährliche Bewegung der Schulen niederzuwerfen. Im März 1869 fand sich in Genf ein junger Russe ein, der als angeblicher Delegierter der Petersburger Studenten sich in die engeren Kreise der russischen Flüchtlingsschaft einzuführen suchte. Er stellte sich unter verschiedenen Namen vor. Einige Flüchtlinge wußten bestimmt, daß kein Delegierter von jener Stadt geschickt wäre; andere hielten den angeblichen Delegierten, nachdem sie sich mit ihm unterhalten hatten, für einen Spion. Er gab sich schließlich unter seinem wahren Namen, Netschajew, zu erkennen; er erzählte, daß er aus der Petersburger Festung, in der er als einer der Hauptanstifter der im Januar 1869 in den Hochschulen der Hauptstadt ausgebrochenen Unruhen gefangen gewesen, entflohen sei. Mehrere Emigranten, die eine lange Haft in jener Festung erlitten hatten, kannten aus Erfahrung die Unmöglichkeit jeder Flucht; sie wußten also, daß Netschajew in diesem Punkte log; da andererseits die Zeitungen und Briefe, welche die Namen der verfolgten Studenten enthielten, Netschajew nirgends erwähnten, so hielten sie seine angebliche revolutionäre Tätigkeit für eine Fabel. Bakunin jedoch nahm mit großem Lärm für Netschajew Partei; er verkündete überall, daß er „außerordentlicher Gesandter der großen in Rußland bestehenden und wirkenden geheimen Organisation" sei. Man bat damals Bakunin dringend, diesem Individuum nicht die Namen seiner Bekannten, die er kompromittieren könnte, anzuvertrauen. Er versprach es, und die Dokumente des Prozesses zeigen, wie er sein Wort hielt. In einer Unterredung, die Netschajew bei einem Flüchtlinge nachgesucht hatte, wurde er gezwungen, einzugestehen, daß er von keiner geheimen Organisation delegiert sei, aber, sagte er, er habe Kameraden und Bekannte, die er zu organisieren wünsche; er setzte hinzu, daß man die alten Emigranten benutzen müsse, um vermittelst ihrer Namen die Jugend zu beeinflussen und ihre Presse und ihr Geld in die Hand zu bekommen. Einige Zeit darauf erschienen die von Netschajew und Bakunin an die Studenten gerichteten „Worte".'3221 Netschajew wiederholt darin das Märchen von seiner Flucht und fordert die Jugend auf, sich dem revolutionären Kampfe zu weihen; Bakunin entdeckt in den Organisationen der Hochschulen „den staatszerstörenden Geist, ... der aus der Tiefe des Volks
lebens selbst hervorgeht"*; er wünscht „seinen jungen Brüdern zu ihren revolutionären Bestrebungen Glück,... denn es ist nahe, das Ende dieses infamen Kaisertums aller Reußen!" Sein Anarchismus dient ihm als Vorwand, den Polen den Eselstritt zu versetzen, indem er ihnen vorwirft, daß sie
„nur an der Wiederherstellung ihres historischen Staates" (!!) arbeiten - „sie denken also an eine neue Sklaverei ihres Volkes", und wenn sie Erfolg hätten, „so würden sie ebensowohl unsere Feinde werden, wie sie die Unterdrücker ihres Volkes sein würden. Wir werden sie im Namen der sozialen Revolution und der Freiheit der ganzen Welt bekämpfen."
Man sieht, Bakunin ist mit dem Zar in dem Punkte einverstanden, daß man die Polen um jeden Preis hindern muß, ihre inneren Angelegenheiten nach eignem Ermessen zu ordnen. Die russische offizielle Presse hat bei allen polnischen Aufständen stets die insurgierten Holen beschuldigt, „die Unterdrücker ihres Volkes" zu sein. Rührende Übereinstimmung zwischen den Organen der dritten Sektion** und dem Erzanarchisten vonLocarno! Das russische Volk, fährt Bakunin fort, befindet sich gegenwärtig in einer Lage, ähnlich der, die es unter dem Zar Alexis, dem Vater Peters des Großen, zum Auf stände zwang. Damals war es der kosakische Räuberhauptmann Stenka Rasin, der sich an seine Spitze stellte und ihm den „Weg" zur „Emanzipation" zeigte. Um sich heute zu erheben, wartet das Volk nur auf einen neuen Stenka Rasin; diesmal jedoch
„wird er ersetzt werden durch die Legion junger, aus ihrem Beruf geworfener (declasses) Leute, die jetzt bereits das Volksleben mitleben ... Das Volk fühlt hinter sich seinen Stenka Rasin, nicht den persönlichen, sondern den kollektiven (!) und dadurch unbezwingbaren Helden. Das wird diese ganze herrliche Jugend sein, über der bereits sein Geist schwebt." Um diese Rolle eines Gesamt-Stenka-Rasin gut auszufüllen, hat die Jugend sich vorzubereiten vor allem durch die Unwissenheit:
„So verlaßt denn schleunigst diese der Vernichtung geweihte Welt. Verlaßt ihre Universitäten, ihre Akademien, ihre Schulen, geht in das Volk", und seid „der Geburtshelfer seiner selbsttätigen Emanzipation, schafft die Einheit und Organisation seiner
* Man muß hierbei bemerken, daß diese „Worte" gerade zur Zeit der Verfolgungen und Verurteilungen veröffentlicht wurden, als die Jugend ihr Möglichstes tat, ihre Bewegung unbedeutend erscheinen zu lassen, und die Polizei alles Interesse daran hatte, dieselbe zu übertreiben. ** Die dritte Sektion der kaiserlich russischen Kanzlei ist das Zentralbüro der geheimen politischen Polizei in Rußland.
Bemühungen und aller Kräfte des Volkes. Kümmert euch in diesem Augenblick nicht um die Wissenschaft, in deren Namen man euch binden und entmannen möchte ... Dies ist der Glauben der besten Männer des Westens... Die Arbeiterwelt Europas und Amerikas ladet euch zu einer brüderlichen Allianz ein." In ihren geheimen Statuten sagt die Allianz in der dritten Potenz: „Die Grundsätze dieser Organisation... werden noch eingehender im Programm der russischen sozialistischen Demokratie auseinandergesetzt."1 Wir haben hier einen Anfang der Verwirklichung dieses Versprechens. Außer den gewöhnlichen anarchischen Phrasen und dem chauvinistischen Haß gegen die Polen, den Bakunin nie hat verbergen können, sehen wir hier zuerst, wie er den russischen Räuber als das Urbild des wahren Revolutionärs preist, wie er der russischen Jugend den Kultus der Unwissenheit predigt, unter dem Vor wand, daß die gegenwärtige Wissenschaft nur eine offizielle Wissenschaft sei (man stelle sich gefälligst eine offizielle Mathematik, Physik oder Chemie vor) und daß dieses die Meinung der Besten im Westen sei. Endlich gibt er am Schluß seiner Broschüre zu verstehen, daß die Internationale durch seine Vermittlung jener Jugend, der er selbst die Wissenschaft der Ignorantenbrüder13231 untersagt, ein Bündnis anbiete. Dieses evangelische „Wort" hat bei der Netschajewschen Verschwörung eine große Rolle gespielt. Es wurde jedem Neugeweihten vor seiner Aufnahme geheimnisvoll vorgelesen. Gleichzeitig mit diesem „Wort" (1869) wurden folgende anonyme russische Schriften losgelassen: 1. „Formel der revolutionären Frage"; 2. „Prinzipien der Revolution"; 3. „Veröffentlichungen der Gesellschaft des ,Volksgerichts'" (Narodnaja rasprava) Nr. 1, Sommer 1869, Moskau.13241 Alle diese Schriften waren in Genf gedruckt, wie die Identität der Lettern mit denen der übrigen Genfer russischen Drucksachen beweist - übrigens ist die Tatsache notorisch unter der ganzen russischen Emigration -, was sie jedoch nicht hinderte, auf der ersten Seite den Vermerk zu führen: „Imprime en Russie - Gedruckt in Rußland", um unter den russischen Studenten die Meinung zu erwecken, daß die geheime Gesellschaft in Rußland selbst große Aktionsmittel besitze. Die „Formel der revolutionären Frage" verrät auf den ersten Blick ihre Verfasser. Es sind dieselben Phrasen, dieselben Ausdrücke, deren Bakunin und Netschajew sich in ihren „Worten" bedienen.
„Man muß nicht allein den Staat, sondern auch die Staats- und Kabinetts-Revolutionäre vernichten, Wir wahrlich, wir sind für das Volk."
Vermöge der anarchischen Assimilation setzt sich Bakunin an die Stelle der studierenden Jugend: „Die Regierung selbst zeigt uns den Weg, den wir einschlagen müssen, um unser Ziel, d.h. das Ziel des Volks, zu erreichen. Sie verjagt uns aus den Universitäten, den Akademien, den Schulen. Wir danken ihr, daß sie uns damit auf ein so ruhmreiches, ein so günstiges Schlachtfeld gestellt hat. Jetzt haben wir festen Boden unter den Füßen, jetzt können wir handeln. Und wie sollen wir handeln? Das Volk unterrichten? Das wäre dumm. Das Volk weiß selbst und besser als wir, was ihm not tut" — man vergleiche hiermit die geheimen Statuten, die den Massen die „Volksinstinkte", den Eingeweihten die „revolutionäre Idee" zuschreiben. „Wir müssen das Volk nicht unterrichten, sondern es empören". Bis heute „hat es sich immer nutzlos empört, weil es sich nur teilweise empörte ... wir können ihm eine äußerst wichtige Hülfe bringen, wir können ihm das verschaffen, was ihm bisher stets gefehlt hat, was die Hauptursache all seiner Niederlagen war - die Einheit der allgegenwärtigen Bewegung vermittelst der Zusammenfassung seiner eigenen Kräfte." Man sieht, die Lehre der Allianz, Anarchie von unten und Disziplin von oben, erscheint hier in ihrer ganzen Reinheit. Zuerst finden wir da1 „die Entfesselung dessen, was man heute böse Leidenschaften nennt", dann aber „ist es notwendig, daß inmitten der Volksanarchie, welche eben das Leben und die ganze Kraft der Revolution bilden wird, die Einheit der revolutionären Idee und Handlung ein Organ finde". Dieses Organ soll die russische Sektion der allgemeinen Allianz sein, die Gesellschaft des Volksgerichts. Doch die Jugend genügt Bakunin nicht. Er ruft unter die Fahne seiner Allianz, russische Sektion, alle Räuber. „Das Räubertum ist eine der ehrenhaftesten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volks, der unversöhnliche Feind des Staats und jeder vom Staat gegründeten gesellschaftlichen und bürgerlichen Ordnung, der Kämpfer auf Tod und Leben gegen diese ganze Zivilisation der Beamten, Edelleute, Priester und der Krone... Wer das Räubertum nicht versteht, wird nie von der russischen Volksgeschichte das Geringste verstehen. Wem das Räubertum nicht sympathisch ist, der kann auch nicht mit dem Volksleben sympathisieren und hat kein Herz für die hundertjährigen und unermeßlichen Leiden des Volks; er gehört ins Lager der Feinde, der Parteigänger des Staats ... nur im Räubertum zeigt sich die Lebensfähigkeit, die Leidenschaft und die Kraft des Volks ... Der russische Räuber ist der wahre und einzige Revolutionär — Revolutionär ohne Phrasen, ohne aus den Büchern geschöpfte Rhetorik, ein unermüdlicher, unversöhnlicher und in der Aktion unwiderstehlicher Revolutionär, ein sozialer und Volksrevolutionär, kein politischer undKlassen
1 In der französischen Ausgabe eingefügt: durch den Aufruhr
26 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
revolutionär... Die in den Wäldern, Städten und Dörfern von ganz Rußland zerstreuten und die in den zahllosen Kerkern des Reichs eingesperrten Räuber bilden eine einige und unteilbare, fest verbundene Welt, die Welt der russischen Revolution. In ihr, in ihr allein besteht schon seit langem die wahre revolutionäre Verschwörung. Wer in Rußland eine ernstliche Verschwörung will, wer die Volksrevolution will, der muß in diese Welt gehen... Schlagen wir den Weg ein, den uns die Regierung vorgezeichnet hat, als sie uns aus den Akademien, den Universitäten und den Schulen jagte, Brüder, werfen wir uns allesamt in das Volk, in die Volksbewegung, in die Erneute der Räuber und der Bauern, und, einander treue und feste Freundschaft bewahrend, fassen wir diese zerstreuten Aufstände der Mushiks (Bauern) zu einer einzigen Masse zusammen. Machen wir daraus eine wohlüberlegte, aber unerbittliche Volksrevolution".* Auf dem zweiten Blatte, „Die Prinzipien der Revolution", findet man das in den geheimen Statuten gegebene Gebot entwickelt, so zu handeln, „daß kein Stein auf dem andern bleibt". Man muß alles zerstören, um „den vollständigen Amorphismus" (Gestaltlosigkeit) zu erzeugen, denn wenn „eine einzige alte Form" erhalten bliebe, so würde sie der „Embryo" werden, aus dem alle anderen alten sozialen Formen wiedererständen. Das Blatt beschuldigt die politischen Revolutionäre, welche diesen Amorphismus nicht ernst nehmen, daß sie das Volk täuschen. Es erhebt die Anklage gegen sie, daß sie
„neue Galgen und Schafotte aufgebaut, auf denen sie die dem Kampfgemetzel entronnenen revolutionären Brüder hingerichtet haben ... bisher haben die Völker noch keine wahre Revolution gesehen... die wahre Revolution braucht keine Individuen, die sich an die Spitze der Masse stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der andern ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig." Hier ist also dem russischen Publikum und der russischen Polizei die Existenz der „internationalen Brüder" enthüllt, die man dem Westen so
* Um seine Leser zu täuschen, vermengt Bakunin die Häupter der Volksaufstände im 17. und 18. Jahrhundert mit den heutigen russischen Räubern und Dieben. Was diese letzteren betrifft, so dürfte das Buch Flerowskis „Lage der Arbeiterklasse in Rußland" I326] die romantischsten Seelen über diese armen Teufel enttäuschen, aus denen Bakunin die heilige Schar der russischen Revolution zu bilden vorhat. Das einzige Räubertum - wohl zu verstehen, außerhalb der Regierungssphäre -, das in Rußland noch im Großen betrieben wird, ist der Pferdediebstahl, der zu einem Handelsunternehmen aufgestiegen ist, betrieben von Kapitalisten, deren bloße Werkzeuge und Opfer die „Revolutionäre ohne Phrase" sind.
sorgfältig verbarg. Dann predigt das Blatt den systematischen Mord und erklärt, daß für die Männer des politischen1 revolutionären Werks alle Räsonnements über die Zukunft
„ein Verbrechen sind, weil sie die reine Zerstörung hindern und den Gang der Revolution hemmen. Wir haben nur zu denen Vertrauen, welche durch Taten ihre Ergebenheit für die Revolution offenbaren, ohne Furcht vor Martern und Kerker, und wir verleugnen jedes Wort, dem nicht unmittelbar auch die Tat folgt. Wir brauchen keine zwecklose Propaganda mehr, wir brauchen keine Propaganda, die nicht mit Bestimmtheit die Stunde und den Ort festsetzt, wo sie den Zweck der Revolution verwirklichen wird. Im Gegenteil, sie hindert uns, und wir werden all unsere Kraft gebrauchen, um ihr Halt zu gebieten... Alle Schwätzer, die dieses nicht begreifen wollen, werden wir mit Gewalt zum Schweigen bringen."
Diese Drohungen wandten sich an die Adresse der russischen Flüchtlinge, die sich nicht vor dem Papsttum Bakunins gebeugt hatten und die er Doktrinäre titulierte. „Wir zerreißen jede Verbindung mit den politischen Emigranten, welche nicht in ihr Land zurückkehren wollen, um sich in unsere Reihen zu stellen, und, solange unsere Reihen noch geheim sind, brechen wir mit all denen, die nicht dazu beitragen wollen, daß ihr öffentliches Erseheinen auf der Bühne des russischen Lebens möglich werde. Wir machen nur für diejenigen Flüchtlinge eine Ausnahme, welche sich als Arbeiter der europäischen Revolution bewährt haben. Wir werden keine zweite Mahnung ergehen lassen... Wer Augen und Ohren hat, wird die handelnden Männer sehen und hören, und wenn er sich ihnen nicht anschließt, so sind wir nicht schuld an seinem Untergang, noch wird es unsere Schuld sein, wenn alles, was sich hinter den Kulissen verbirgt, mitsamt diesen Kulissen kalt und unerbittlich zermalmt wird."
Bakunin ist hier vollkommen deutlich. Während er den Flüchtlingen bei Todesstrafe befiehlt, als Agenten seiner geheimen Gesellschaft nach Rußland zurückzukehren, nach dem Vorbild der russischen Polizeispitzel, die ihnen Pässe und Geld anboten, um dorthin konspirieren zu gehen, erteilt er sich selbst einen päpstlichen Dispens, um ruhig in der Schweiz zu bleiben als „Arbeiter der europäischen Revolution" und dort an den Manifesten zu arbeiten, zur Kompromittierung der armen gefangenen Studenten 2.
„Indem wir keine andere Tätigkeit als die der Zerstörung zulassen, erkennen wir an, daß die Form, in der sich diese Tätigkeit äußern muß, eine höchst mannigfaltige sein kann: Gift, Dolch, Strick etc. Die Revolution heiligt alles ohne Unterschied. Also
1 In der französischen Ausgabe: praktischen — 2 in der französischen Ausgabe: unglücklichen Studenten, die die Polizei in ihren Kerkern gefangen hält (statt: armen gefangenen Studenten)
das Feld ist offen!... So mögen also alle jungen und gesunden Köpfe unverweilt aufnehmen die heilige Arbeit der Zerstörung des Bösen, der Reinigung und Klärung der russischen Erde mittelst des Feuers und des Schwertes, indem sie sich brüderlich mit denjenigen vereinigen, welche dasselbe in ganz Europa tun werden."
Fügen wir noch hinzu, daß in dieser erhabenen Proklamation der unvermeidliche Räuber in der melodramatischen Person Karl Moors figuriert und daß die Nummer 2 des „Volksgerichts" beim Zitieren einer Stelle dieses Blattes dasselbe ausdrücklich als „eine Proklamation Bakunins" bezeichnet. Die Nr. I der „Veröffentlichungen der Gesellschaft ,Das Volksgericht"'* beginnt damit, den allgemeinen Aufstand des russischen Volkes als nahe bevorstehend zu verkünden.
„Wir, das heißt jener Teil der Volksjugend, der zu einer gewissen Entwicklung gelangt ist, wir müssen ihr den Weg bahnen, d.h. alle Hindernisse beseitigen, die ihren Gang hemmen können, und ihr günstige Bedingungen vorbereiten. Angesichts des bevorstehenden Aufstandes erachten wir es für notwendig, in einem einzigen unauflöslichen Gebinde alle über ganz Rußland zerstreuten revolutionären Bestrebungen zusammenzufassen. Deshalb haben wir beschlossen, seitens des revolutionären Zentrums Blätter herauszugeben, aus denen jeder von unseren in allen Winkeln Rußlands zerstreuten Glaubensgenossen, jeder, wenn auch uns unbekannte Arbeiter an der heiligen Sache der Revolution stets ersehen wird, was wir wollen und wohin wir gehen."
Dann heißt es:
„Der Gedanke hat für uns nur soweit Wert, als er dem großen Werke der allgemeinen Allzerstörung dient. Ein Revolutionär, der die Revolution aus den Büchern studiert, wird nie etwas taugen... Wir glauben nicht mehr an Worte. Das Wort hat für uns nur Wert, wenn ihm die Tat auf dem Fuße folgt; aber nicht alles ist Tat, was diesen Namen führt. Zum Beispiel ist die bescheidene und zu vorsichtige Organisation geheimer Gesellschaften ohne äußere Kundgebungen in unseren Augen nur ein lächerliches und unerträgliches Kinderspiel. Wir nennen äußere Kundgebungen nur eine Reihe von Handlungen, die positiv irgend etwas, eine Person, eine Sache, ein Verhältnis, das die Volksemanzipation hindert, zerstört ... Ohne unser Leben zu schonen, ohne vor irgendeiner Drohung, irgendeinem Hindernis, irgendeiner Gefahr etc. zurückzuschrecken, müssen wir mit einer Reihe verwegener, ja übermütiger Unternehmungen in das Leben des Volkes einbrechen und ihm den Glauben an seine eigene Macht einflößen, es erwecken, vereinigen und zum Triumph seiner eigenen Sache hinführen."
* Bakunin und Netschajew übersetzen immer: Volksjustiz, doch bedeutet das russische Wort „rasprava" nicht Justiz, sondern Gericht, Strafvollstreckung oder besser noch Rache, Vergeltung.
Plötzlich verwandeln sich die revolutionären Phrasen des „Volksgerichts" in Angriffe gegen die „Volkssache", eine in Genf herausgegebene russische Zeitung, die das Programm und die Organisation der Internationalen verteidigte.'328' Es war begreiflicherweise von der größten Wichtigkeit für die allianzistische Propaganda Bakunins in Rußland, die auf den Namen der Internationalen gemacht wurde, ein Blatt zum Schweigen zu bringen, das diesen Betrug aufdeckte.
„Wenn dieses Journal in derselben Weise fortfährt, werden wir nicht zögern, ihm auszudrücken und kundzugeben, wie unsere Beziehungen zu ihm sein müssen... Wir sind überzeugt, daß alle ernsten Männer jede Theorie und mit noch stärkerem Grunde jeden Doktrinarismus jetzt beiseite setzen werden. Wir können die Veröffentlichung von Schriften, welche, wenn auch ehrlich gemeint, doch unserer Fahne feindlich sind, durch verschiedene praktische Mittel verhindern, die wir in Händen haben." Nach diesen Drohungen gegen seinen gefährlichen Rivalen fährt das „Volksgericht" fort:
„Unter den letzthin auswärts herausgegebenen Schriften empfehlen wir fast ohne Einschränkung den Aufruf Bakunins an die ausgestoßene (declassee) Jugend der Schulen.1" Man sieht, Bakunin verliert nie eine Gelegenheit, sich ein bissei Weihrauch zu streuen. Der zweite Artikel führt den Titel: „Eine Darstellung des Begriffs vom Werke in der Vergangenheit und in der Gegenwart". Im ersten Artikel bedrohten Bakunin und Netschajew das russische internationale Organ im Ausland; hier erbosen sie sich gegen Tschernyschewski, gegen den Mann, der am meisten dazu beigetragen, jene angeblich von ihnen vertretene Jugend der Schulen in die sozialistische Bewegung zu stürzen.
„Wahrlich, der Bauer hat sich nie damit abgegeben, in seiner Phantasie Formen für die zukünftige gesellschaftliche Ordnung zu schaffen; nichtsdestoweniger wird er nach der Beseitigung aller Hindernisse (d.h. nach der allzerstörenden Revolution, die vor allen Dingen zu machen und die daher das Wichtigste für uns ist) sein Leben mit mehr Verstand einzurichten wissen, als enthalten ist in den Theorien und Entwürfen der doktrinären Sozialisten, die sich dem Volke als Lehrer, und was noch schlimmer ist, als Leiter aufdrängen wollen. Vor den Augen des nicht durch die Brille der Zivilisation verdorbenen Volkes liegt das Bestreben dieser zur Unzeit sich meldenden Professoren zu auffällig dar. Sie wollen unter dem Vorwande der Wissenschaft, Kunst etc. für sich und ihresgleichen gute Stellchen vorbereiten. Und wären diese Bestrebungen
1 In der französischen Ausgabe folgt: Bakunin hat recht, wenn er euch rät, die Akademien, die Universitäten, die Schulen zu verlassen und ins Volk zu gehen.
auch uneigennützig und unbewußt, wären sie nur die unvermeidliche Frucht jeder von der modernen Zivilisation durchdrungenen Gesellschaftsordnung, so würde doch das Volk nicht dabei gewinnen. Der ideale Zweck der sozialen Gleichheit war in der von Wassili Us in Astrachan nach der Abreise Stenka Rasins organisierten KosakenGesellschaft unvergleichlich besser verwirklicht als in den Phalansterien Fouriers, den Anstalten Cabets, Louis Blancs und anderer sozialistischer Gelehrten (!), besser als in den Assoziationen Tschernyschewskis."
Folgt eine ganze Seite Ausfälle gegen diesen und seine Gefährten. Das gute Stellchen, welches sich Tschernyschewski vorbereitete, die russische Regierung hat es ihm angewiesen in einem sibirischen Kerker, während Bakunin, in seiner Eigenschaft als Arbeiter der europäischen Revolution dieser Gefahr überhoben, sich auf seine Kundgebungen von außen beschränkte. Und es war gerade in dem Augenblick, wo die Regierung streng verbot, auch nur den Namen Tschernyschewskis in der Presse auszusprechen, daß die Herren Bakunin und Netschajew ihn angriffen. Unsere „amorphen" (gestaltlosen) Revolutionäre fahren fort:
„Wir unternehmen es, dieses faule soziale Gebäude zu zerstören... Wir kommen aus dem Volke, die Haut zerfleischt von den Zähnen der gegenwärtigen Ordnung, geleitet vom Haß gegen alles, was nicht Volk ist, wir haben keinen Begriff von moralischen Pflichten oder irgendwelchen Rücksichten gegen diese Gesellschaft, die wir hassen und von der wir nur Böses erwarten. Wir haben nur einen einzigen unveränderlichen negativen Plan: den der unerbittlichen Zerstörung. Wir verzichten kategorisch auf die Ausarbeitung der zukünftigen Lebensbedingungen; ein solcher Versuch wäre unvereinbar mit unserer Tätigkeit, und deshalb erachten wir jede rein theoretische Kopfarbeit für unnütz... Wir übernehmen ausschließlich die Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Ordnung."
Die beiden „Kundgeber von außen" geben zu verstehen, daß der Mordversuch gegen den Zar im Jahre 1866 zu der „Reihe" allzerstörender Handlungen ihrer geheimen Gesellschaft gehörte:
„Karakosow war es, der am 4. April 1866 unser heiliges Werk begann. Seit dieser Zeit erwacht in der Jugend das Bewußtsein ihrer revolutionären Macht. Es war ein Beispiel, eine Tat! Keine Propaganda kann eine so große Bedeutung haben."
Dann stellen sie eine lange Liste von „Kreaturen" auf, die vom Komitee dem sofortigen Tode geweiht sind. Mehreren soll „die Zunge ausgerissen werden...", aber
„wir rühren den Zar nicht an,,, ihn sparen wir auf für das Gericht des Volkes, der Bauern; dieses Recht gehört dem ganzen Volke... unser Henker, er möge also leben bis zum Augenblick des Volkssturms..."
Niemand wird wagen, in Zweifel zu ziehen, daß diese russischen Flugschriften, die geheimen Statuten und die von Bakunin 1869 in französischer Sprache herausgegebenen Schriften aus derselben Quelle stammen. Im Gegenteil, diese drei Klassen von Schriften ergänzen einander. Sie entsprechen gewissermaßen den drei Weihegraden der famosen allzerstörenden geheimen Gesellschaft. Die französischen Broschüren1 sind geschrieben für die gewöhnlichen Allianzisten, deren Vorurteile man schont. Man spricht zu ihnen nur von der reinen Anarchie, vom Antiautoritarismus, von der freien Föderation autonomer Gruppen und von anderen ebenso abgestandenen Dingen: reiner Galimathias. Die geheimen Statuten sind bestimmt für die internationalen Brüder des Westens; die Anarchie wird dort zur „vollständigen Entfesselung des Volkslebens... der bösen Leidenschaften", aber mitten in dieser Anarchie existiert das geheime leitende Element eben diese Brüder; man gibt ihnen nur einige unbestimmte Andeutungen über die allianzistische, dem heiligen Loyola entnommene Moral; man erwähnt nur die Notwendigkeit, keinen Stein auf dem andern zu lassen, - denn im Westen ist man noch mit philiströsen Vorurteilen genährt und man bedarf einiger Schonung. Man sagt ihnen, daß die Wahrheit, zu blendend für Augen, die des wahren Anarchismus noch ungewohnt, erst vollständig enthüllt werde im Programm der russischen Sektion. Nur zu den geborenen Anarchisten, zum auserwählten Volke, zu seiner Jugend des heiligen Rußlands wagt der Prophet offen zu reden. Da wird die Anarchie zur allgemeinen Allzerstörung, die Revolution zu einer Reihe von erst einzelnen individuellen, dann Massenmorden; die einzige Verhaltungsregel ist die gesteigerte Jesuitenmoral; das Urbild des Revolutionärs ist der Räuber. Da wird der Jugend das Denken und die Wissenschaft verboten als weltliche Beschäftigungen, die sie zum Zweifel an der allzerstörenden Orthodoxie führen könnten. Wer etwa bei ihren theoretischen Ketzereien hartnäckig zu verharren oder den Maßstab der gewöhnlichen Kritik an den allgemeinen Amorphismus anzulegen sich vermäße, wird mit der heiligen Inquisition bedroht. Vor der russischen Jugend braucht der Papst sich keinen Zwang mehr anzulegen, weder im Inhalt, noch in der Form. Da läßt er seiner Sprache den Zügel schießen. Der absolute Mangel an Ideen drückt sich in einem so schwülstigen Galimathias aus, daß es unmöglich ist, denselben in einer westlichen Sprache wiederzugeben, ohne das Groteske abzuschwächen. Diese Sprache selbst ist nicht einmal russisch, sie ist tartarrisch, dafür hat sie ein Russe erklärt. Diese Männchen mit verschrumpften
Gehirnen blähen sich auf mit haarsträubenden Phrasen, um in ihren eigenen Augen als revolutionäre Riesen zu erscheinen. Es ist die alte Geschichte vom Frosch und vom Ochsen. Was für schreckliche Revolutionäre! Sie wollen alles, „absolut alles" vernichten und amorphisieren (vollständig gestaltlos machen), sie stellen Proskriptionslisten auf, deren Opfer ihren Dolchen, ihrem Gift, ihrem Strick, den Kugeln ihrer Revolver geweiht sind. Mehreren sogar werden sie „die Zunge ausreißen", aber sie beugen sich vor der Majestät des Zars. Doch der Zar, die Beamten, der Adel, die Bourgeoisie können ruhig schlafen. Die Allianz bekämpft nicht die konstituierten Staaten, sondern die Revolutionäre, die sich nicht zu Figuranten dieser Tragikomödie erniedrigen wollen. Friede den Palästen, Krieg den Hütten! Tschernyschewski wird verleumdet; die Redakteure der „Volkssache" werden benachrichtigt, daß man sie zum Schweigen bringen werde „durch verschiedene praktische Mittel, die wir in der Hand haben"; die Allianz droht mit Meuchelmord allen Revolutionären, die nicht mit ihr gehen. Das ist der einzige Teil ihres allzerstörenden Programms, dessen Ausführung begonnen hat. Wir kommen jetzt zu ihrer ersten Heldentat auf diesem Gebiet.
Seit April 1869 begannen Bakunin und Netschajew das Terrain für die Revolution in Rußland vorzubereiten. Sie schickten Briefe, Proklamationen und Telegramme von Genf aus nach Petersburg, Kiew und anderen Städten. Sie wußten indes, daß man nach Rußland keine Briefe, Proklamationen und vor allem keine Telegramme schicken kann, ohne daß die dritte Sektion (die geheime Polizei) davon Kenntnis nimmt. Dieses alles konnte keinen anderen Zweck haben, als die Leute zu kompromittieren. Das feige Vorgehen dieser Leute, die in ihrer guten Stadt Genf keinerlei Gefahr liefen, bewirkte zahlreiche Verhaftungen in Rußland. Und dabei waren die Herren benachrichtigt von der Gefahr, die sie hervorriefen. Wir haben den Beweis in Händen, daß folgende Stelle aus einem Briefe aus Rußland Bakunin mitgeteilt wurde:
„Bitte1, lassen Sie Bakunin sagen, daß er, wenn ihm an der Revolution irgend etwas heilig ist, aufhören möge, seine unsinnigen Proklamationen herzusenden, die in mehreren Städten zu Verfolgungen, zu Verhaftungen Anlaß geben und jede ernste Tätigkeit lähmen."
Bakunin antwortete, daran sei nichts und Netschajew sei nach Amerika abgereist. Aber der geheime Kodex Bakunins schreibt, wie man später sehen wird, vor, „die Ehrgeizigen und Liberalen der verschiedenen Schattierungen ... vollständig zu kompromittieren,... so daß ihnen der Rückzug unmöglich wird, und sich dann ihrer zu bedienen". (Revolutionärer Katechismus § 19.1) Hier eine Probe davon. Am 7. April 1869 schrieb Netschajew an Frau Tomilowa, die Gattin eines seitdem infolge ihrer Verhaftung vor Kummer gestorbenen Obersten, „daß es in Genf ungeheuer viel zu tun gebe", und er drang in sie, einen zuverlässigen Mann zu schicken, mit dem er sich verständigen könne. „Die Angelegenheit, über die wir uns ins Einvernehmen setzen müssen, betrifft nicht allein unseren Vermehr, sondern den von ganz Europa. Hier ist die Sache im Kochen. Man bereitet eine Suppe, die ganz Europa nicht imstande sein wird auszuessen. Beeilen Sie sich also." Es folgt dann die Genfer Adresse. Dieser Brief gelangte nicht an seine Adresse; er wurde auf der Post von der geheimen Polizei mit Beschlag belegt und führte die Verhaftung der Frau Tomilowa herbei, der er erst während der Untersuchung vorgelegt wurde. (Bericht über den Prozeß Netschajew, „Petersb. Ztg.", Nr. 187.)* Hier noch ein Beweis dafür, wie klug sich Bakunin bei der Organisation seiner Verschwörung benahm. Ein Student der Akademie zu Kiew, Mawrizki, erhielt Proklamationen aus Genf, die an seinen Namen adressiert waren. Er schickte sie sofort an die Regierung, die sich beeilte, nach Genf einen Vertrauensmann, d.h. einen Polizeispion, zu senden. Bakunin und Netschajew knüpften alsbald vertrauliche Beziehungen mit diesem „Delegierten aus dem Süden Rußlands" an, lieferten ihm Proklamationen sowie Adressen von Personen, die Netschajew in Rußland kennengelernt haben wollte, und gaben ihm einen Brief, der nur ein Vertrauens- und Empfehlungsbrief sein konnte („St. Petersburger Zeitung", Nr. 187). Am 3. September (15. September neuen Stils) 1869 stellte sich Netschajew in Moskau einem jungen Manne, Uspenski, den er vor seiner Abreise ins Ausland kennengelernt, als delegierter Emissär des Genfer allgemeinen revolutionären Komitees vor und zeigte ihm das oben abgedruckte Mandat. Er teilte ihm mit, daß Emissäre dieses europäischen Komitees mit
* Alle die Verschwörung Netschajew betreffenden Tatsachen, die wir zitieren, sind den in der russischen „St. Petersburger Zeitung" veröffentlichten Prozeßberichten entnommen. Wir geben die Nummern des Blattes an, aus denen wir zitieren.
gleichen Mandaten nach Moskau kommen würden, und daß er die Aufgabe habe, „eine geheime Gesellschaft unter derstudierenden Jugendzu organisieren, ... um in Rußland den Volksauf stand hervorzurufen". Auf Empfehlung Uspenskis ging Netschajew, um eine sichere Wohnung zu finden, nach der in einem entlegenen Stadtteil befindlichen landwirtschaftlichen Akademie und setzte sich in Verbindung mit Iwanow, einem der wegen ihres Eifers für die Interessen der Jugend und des Volkes bekanntesten Studenten. Von da ab wurde die landwirtschaftliche Akademie der Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Er führte sich zuerst unter falschem Namen ein, erzählte, daß er viel in Rußland gereist sei, daß überall das Volk zur Erhebung bereit sei, und daß es dies schon lange getan hätte, ohne den ihm von den Revolutionären erteilten Rat, sich zu gedulden bis zur Vollendung ihrer großen und mächtigen Organisation, die alle revolutionären Kräfte Rußlands vereinen soll. Er drängte Iwanow und andere Studenten zum Eintritt in diese geheime Gesellschaft, die ein allmächtiges Komitee habe, in dessen Namen alles geschehe, dessen Sitz und Zusammensetzung jedoch den Mitgliedern unbekannt bleiben müsse. Dies Komitee und diese Organisation bildeten den russischen Zweig der allgemeinen Union, der revolutionären Allianz, der Internationalen Arbeiter-Assoziation! * Netschajew begann mit der Verteilung der oben zitierten „Worte" an die Studenten, um ihnen zu zeigen, daß Bakunin, der berühmte Revolutionär von 1848, der Flüchtling aus Sibirien, eine große Rolle in Europa spiele, daß er der Generalbevollmächtigte der Arbeiter sei, daß er Mandate des Zentralkomitees der universellen Assoziation unterzeichne und daß dieser Heros ihnen rate, ihre Studien aufzugeben usw. Um ihnen einen sprechenden Beweis einer bis zum Tode gehenden Hingebung zu geben, las er ihnen ein Gedicht Ogarjews, eines Freundes Bakunins und Redakteurs des Herzenschen „Kolokol"1181, vor, betitelt: „Der Student" und gewidmet „seinem jungen Freunde Netschajew".13271 Dieser wurde darin als das ideale Vorbild des Studenten dargestellt, als „der unermüdliche Kämpfer von Kindheit an"; Ogarjew beschrieb darin, wie die lebendige Arbeit der Wissen
* Wir müssen hier bemerken, daß in der russischen Sprache die Worte Assoziation, Union, Allianz (obschtschestvo, sojuz, tovarischtschestvo) mehr oder weniger synonym sind und ohne Unterschied gebraucht werden. Ebenso wird das Wort: International meistens mit allgemein (vsemirnyi) übersetzt. In der russischen Presse wird also die „Internationale Assoziation" oft mit Worten übersetzt, die ebensogut auch die „allgemeine oder universelle Allianz" bedeuten könnten. Durch Benutzung dieser Sprachverwirrung gelang es Bakunin und Netschajew, den Namen unserer Assoziation auszubeuten und fast hundert junge Leute ins Unglück zu stürzen.
schaft Netschajew die Qualen seiner Jugendzeit ertragen lehrte, wie seine Hingebung für das Volk stieg, wie er, durch die Rache des Zars und den Schrecken der Bojaren verfolgt, sich dem Nomadenleben (skitanie, Herumstreichen) hingab, wie er auf die Pilgerfahrt ging, um allen Bauern vom Aufgang bis zum Niedergang1 zuzurufen: Sammelt euch, erhebt euch mutig etc.; wie er sein Leben in der Zwangsarbeit im Schnee Sibiriens geendet, und wie er, der kein Heuchler war, sein ganzes Leben hindurch dem Kampfe treu blieb und beim letzten Hauch noch wiederholte: Das ganze Volk muß sein Land und seine Freiheit erobern!_ Diese allianzistische Dichtung wurde im Frühjahr 1869 gedruckt, während Netschajew sich in Genf amüsierte. Sie wurde mit den übrigen Proklamationen paketweise nach Rußland gesandt. Es scheint, daß schon das Abschreiben dieser Dichtung die Eigenschaft hatte, den Neugeweihten Selbstverleugnung einzuflößen, denn Netschajew ließ sie auf Befehl des Komitees von jedem Neuaufgenommenen abschreiben und verteilen (Aussagen mehrerer Angeklagter). Die Musik scheint das einzige zu sein, was dem Amorphismus entgehen soll, dem die allgemeine Allzerstörung alle Künste und Wissenschaften überliefern wird. Netschajew befahl im Namen des Komitees, die Propaganda durch revolutionäre Musik zu unterstützen und mühte sich ab, eine Melodie zu finden, nach der jenes Meisterstück der Poesie von der Jugend gesungen werden könnte („St.Petersb. Ztg.", Nr. 190). Jene mystische Legende über seinen Tod hielt ihn nicht ab, anzudeuten, daß Netschajew wohl noch am Leben sein könnte, oder gar unter dem Siegel des Geheimnisses zu erzählen, daß Netschajew sich im Ural als Arbeiter befinde und dort Arbeitergenossenschaften gegründet habe („St. Petersb. Ztg.", Nr. 202). Er machte diese Enthüllung besonders jenen, die „nichts taugten", d.h. denen, die an Gründung von Arbeitergenossenschaften dachten, um auch ihnen Bewunderung für den fabelhaften Heros einzuflößen. Endlich, sobald die Legende von seiner erdichteten Flucht aus der Petersburger Festung und von seinem poetischen Tode in Sibirien die Geister genügend vorbereitet hatte und er seine Schüler hinreichend eingepaukt glaubte, bewirkte er seine evangelische Auferstehung und erklärte: Er sei es, Netschajew in Person! Aber diesmal war es nicht mehr der Netschajew von ehemals, der von den Studenten in Petersburg verlachte und verachtete, wie Zeugen und Angeklagte bestätigten, sondern der Bevollmächtigte des allgemeinen revolutionären Komitees. Das Wunder dieser
1 In der französischen Ausgabe: Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang (statt: Aufgang bis zum Niedergang)
Umwandlung hatte Bakunin fertiggebracht. Netschajew hatte alle Bedingungen erfüllt, welche die Statuten der von ihm gepredigten Organisation verlangten; er hatte sich „durch Taten ausgezeichnet, welche das Komitee kannte und würdigte"; er hatte in Brüssel einen bedeutenden Strike der Internationalen organisiert und geleitet; das belgische Komitee hatte ihn als Delegierten zur Internationalen in Genf geschickt, woselbst er mit Bakunin zusammentraf, und da er nach seinem eigenen Ausspruch „es nicht liebte, auf seinen Lorbeeren zu ruhen", war er nach Rußland zurückgekehrt, um die „revolutionäre Aktion" zu beginnen. Er versicherte auch, daß mit ihm ein ganzer Generalstab, aus sechzehn russischen Flüchtlingen bestehend, nach Rußland gekommen sei.* Uspenski, Iwanow und vier oder sechs andere junge Leute scheinen die einzigen in Moskau gewesen zu sein, die sich von all diesen Gaukeleien fangen ließen. Vier dieser Aufgenommenen erhielten den Auftrag, neue Anhänger zu werben und Zirkel oder kleine Sektionen zu bilden. Der Organisationsplan findet sich in den Dokumenten des Prozesses; er stimmt fast in jedem Punkte mit dem der geheimen Allianz überein. Das „allgemeine Reglement der Organisation" wurde in voller Gerichtssitzung verlesen und keiner der Haupteingeweihten hat seine Echtheit angefochten; übrigens hat die Nr. 2 des von Bakunin und Netschajew redigierten „Volksgerichts" die Echtheit folgender Stellen zugegeben:
„Die Organisation hat das Vertrauen gegen das Individuum zur Grundlage. Kein Mitglied weiß, welchen Grad es einnimmt, ob es weiter oder näher vom Zentrum entfernt ist. - Der Gehorsam gegen das Komitee muß absolut, ohne irgendwelchen Einwand sein. - Verzichtleistung auf jedes Eigentum zugunsten des Komitees, das darüber verfügen kann. - Jedes Mitglied, das eine bestimmte Anzahl Proselyten für unsere Sache geworben hat, das durch Taten Beweis abgelegt "hat vom Grad seiner Kräfte und Fähigkeiten, kann Kenntnis von diesem Reglement und später mehr oder weniger vollständig von den Statuten der Gesellschaft erhalten. Der Grad der Kräfte und Fähigkeiten unterliegt der Schätzung des Komitees."
Um die Moskauer Affiliierten zu täuschen, sagte ihnen Netschajew, daß in Petersburg die Organisation schon ungeheuer groß sei, während in Wirklichkeit daselbst nicht ein einziger Zirkel oder eine Sektion existierte. Einen Augenblick vergaß er sich einmal und rief vor einem seiner Eingeweihten aus: „InPetersburg sind sie mir untreu geworden wie die Weiber
* Von den russischen Flüchtlingen war niemand nach Rußland zurückgekehrt, und in ganz Europa wären kaum sechzehn russische politische Flüchtlinge aufzutreiben.
und haben mich verraten wie dieSklaven." In Petersburg sagte er umgekehrt, daß die Organisation in Moskau wunderbare Fortschritte mache. Da man in dieser letzteren Stadt ein Komiteemitglied zu sehen verlangte, so lud er einen jungen Petersburger Offizier, der sich für die Studentenbewegung interessierte, ein, mit ihm nach Moskau zu kommen, um sich ihre Zirkel anzusehen. Der junge Mann willigte ein und unterwegs weihte ihn Netschajew zum „außerordentlichen Delegierten des Komitees der Internationalen Assoziation von Genf".
„Sie würden", sagte er zu ihm, „zu unseren Versammlungen nicht zugelassen, weil Sie nicht Mitglied sind, aber hier haben Sie ein Mandat, welches bescheinigt, daß Sie Mitglied der Internationalen Assoziation sind und als solches haben Sie Zutritt."
Das Mandat hatte einen französischen Stempel und lautete: „Der Inhaber dieses Mandats ist bevollmächtigter Vertreter der Internationalen Assoziation." Die anderen Angeklagten bestätigen, daß Netschajew sie glauben machte, daß dieser Unbekannte „der wirkliche Agent des revolutionären Komitees zu Genf" sei (Nr. 225 und 226, „St. Petersb. Ztg."). Dolgow, ein Freund Iwanows, bezeugt, daß „Netschajew, wenn er von der geheimen Gesellschaft sprach, die zu dem Zwecke organisiert sei, das Volk im Falle einer Erhebung zu unterstützen und den Aufstand so zu leiten, daß er gelingen müsse, auch der Internationalen Assoziation erwähnte und angab, daß Bakunin ihnen als Bindeglied mit der Internationalen diene" (Nr. 198). Ripman versicherte, daß Netschajew, „um ihn von seiner Idee über kooperative Assoziationen abzubringen, ihm erzählte, daß in Europa die Internationale Arbeiter-Assoziation existierte, und daß es, um den von dieser verfolgten Zweck zu erreichen, genüge, in seine Gesellschaft einzutreten, von der eine Sektion bereits in Moskau existierte" (Nr. 198). Man sieht ferner aus den Aussagen, daß Netschajew die Internationale für eine geheime Gesellschaft und seine Gesellschaft für einen Zweig derselben gelten ließ. Auch versicherte er seinen Vertrauten, daß ihre Sektion zu Moskau mit Strikes und Genossenschaften in großem Maßstabe, wie die Internationale vorgehen werde. Als der Angeklagte Ripman von ihm das Programm der Gesellschaft verlangte, las ihm Netschajew einige Stellen aus einem französischen Schriftstück über den Zweck der Gesellschaft vor; der Angeklagte verstand, daß dies Schriftstück das Programm der Internationalen sei, und setzte hinzu, „da man in der Presse viel von dieser Gesellschaft gesprochen hätte, habe er in dem Vorschlage Netschajews nichts besonderes Strafbares gesehen". Einer der Hauptangeklagten, Kusnezow, sagte, daß Netschajew das Programm der Internationalen Assozia
tion vorgelesen habe (Nr. 181); sein Bruder sagt aus, daß „er gesehen habe, wie man bei seinem Bruder ein französisches Schriftstück kopierte, welches das Programm der Gesellschaft sein sollte" (Nr. 202). Der Angeklagte Klimin erklärt, man habe ihm „das Programm der Internationalen Assoziation nebst einigen von Bakunin als Postskriptum geschriebenen Zeilen" vorgelesen, „... doch soweit ich mich erinnere, war dieses Programm in sehr allgemeinen Ausdrücken abgefaßt und sagte nichts über die Mittel zum Zwecke, sondern sprach nur von der Gleichheit im allgemeinen" (Nr. 199). Der Angeklagte Gawrischew erklärte, daß das „französische Schriftstück, soweit man den Sinn verstehen konnte, eine Darlegung der Grundsätze der Vertreter des Sozialismus, die ihren Kongreß in Genf gehabt hatten, enthielt". Endlich klärt uns die Auslassung des Angeklagten Swjatski vollständig über dieses geheimnisvolle französische Schriftstück auf; bei der Untersuchung fand man bei ihm ein französisch geschriebenes Blatt mit der Überschrift: „Programm der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie"; er sagte aus: „Man hat in den Zeitungen viel von der internationalen Assoziation gesprochen, und das erregte in mir das Interesse, in ausschließlich theoretischer Absicht ihr Programm kennenzulernen" („St. Petersb. Ztg.", Nr. 230). Diese Aussagen beweisen, daß das geheime Programm der Allianz im Manuskript für das der Internationalen ausgegeben wurde. Die Identität des universellen revolutionären Komitees, als dessen Emissär sich Netschajew erklärte, mit dem Zentralbüro der Allianz (dem Bürger B.) ist durch die Auslassung des Hauptangeklagten Uspenski bewiesen, welcher erklärt, daß er alle Protokolle der Versammlungen des Zirkels gesammelt habe, „um aus denselben einen Bericht für Bakunin in Genf herzustellen". Pryshow, einer der Hauptangeklagten, bekundete, daß Netschajew ihm befohlen habe, nach Genf zu gehen, um Bakunin Bericht zu überbringen. Aus Mangel an Raum erwähnen wir hier nicht alle Lügen, Albernheiten, Schwindeleien und Gewaltstreiche des Agenten Bakunins, die durch den Prozeß aufgedeckt wurden. Wir lassen nur die auffälligsten Züge hervortreten. Alles in dieser Organisation war Geheimnis. Dolgow sagte aus, „daß er gewünscht habe, bevor er in diese Gesellschaft eintrat, ihre Organisation und ihre Mittel kennenzulernen; Netschajew antwortete ihm, das sei ein Geheimnis und er werde es später erfahren" („St. Petersb. Ztg.", Nr. 198).Wenn Mitglieder sich Fragen erlaubten, stopfte Netschajew ihnen den Mund, indem er ihnen sagte, daß nach den Statuten niemand das Recht habe, etwas zu erfahren, er habe sich denn zuvor durch irgendeine Tat aus
gezeichnet (Nr. 199). - „Sobald wir eingewilligt hatten, Mitglieder der Gesellschaft zu werden", erklärt ein Angeklagter, „begann Netschajew uns mit der Macht und Gewalt des Komitees zu terrorisieren, von dem er vorgab, daß es existiere und uns lenke; er sagte, das Komitee habe seine Polizei, und wenn jemand sein Wort nicht halte oder den Befehlen von Individuen entgegenhandle, die höher ständen als unser Zirkel, das Komitee Rache nehmen würde." Der Angeklagte bekennt, „als er die Schwindeleien Netschajews bemerkt, habe er diesem seine Absicht angekündigt, vollständig von dieser Sache zurückzutreten und zur Herstellung seiner Gesundheit nach dem Kaukasus zu gehen. Netschajew erklärte ihm, daß dies ihm nicht gestattet sei, und daß das Komitee ihn mit dem Tode bestrafen könnte, falls er die Gesellschaft zu verlassen wage; er befahl ihm gleichzeitig, in eine Versammlung zu gehen, dort von der geheimen Gesellschaft zu reden, um Anhänger zu werben, und auch das Gedicht über den Tod Netschajews zu verlesen. Da der Angeklagte sich zu gehorchen weigerte, drohte ihm Netschajew: Sie sind nicht hier zum Diskutieren, rief er aus, Sie sind verpflichtet, ohne Einwand den Befehlen des Komitees zu gehorchen." (Nr. 198.) Wäre dieses nur eine vereinzelte Tatsache, so könnte man sie in Zweifel ziehen, aber mehrere Angeklagte, die sich in der Unmöglichkeit befanden, sich gegenseitig zu verständigen, bezeugen genau dasselbe. - Ein anderer erklärt, daß die Mitglieder des Zirkels, als sie bemerkt hatten, wie sie getäuscht wurden, die Gesellschaft zu verlassen wünschten, aber es nicht wagten aus Furcht vor der Rache des Komitees (Nr. 198). Ein Zeuge sagte, indem er von einem seiner angeklagten Freunde sprach: Der Angeklagte Florinski wußte nicht mehr, wie er Netschajew loswerden sollte, der ihn am Arbeiten hinderte; der Zeuge riet ihm, Moskau zu verlassen und sich nach Petersburg zurückzuziehen, aber Florinski gab ihm zur Antwort, daß Netschajew ihn ebensogut in Petersburg wie in Moskau auffinden werde, daß Netschajew den Überzeugungen einer großen Anzahl junger Leute Gewalt antue, und sie terrorisiere; was Florinski am meisten zu fürchten schien, war eine Denunziation von Seiten Netschajews. „Man sagte, und ich hatte es gehört, bekundete Lichutin, daß Netschajew aus dem Auslande in sehr heftigen Ausdrücken abgefaßte Briefe an seine Bekannten schickte, um sie zu kompromittieren und verhaften zu lassen. Diese Handlungsweise war ein Zug in seinem Charakter" (Nr. 186). - Jenischerlow erklärt sogar, daß er Netschajew als einen Agenten der Regierung zu betrachten anfing. In einer kleinen Zirkelsitzung gab ein Mitglied, Klimin, dem Unbekannten, der in seiner Eigenschaft als Emissär der Sitzung beiwohnte und
seine Unzufriedenheit mit dem Verhalten des Zirkels ausdrückte, zur Antwort, „daß auch sie unzufrieden seien; am Anfang habe man den Angeworbenen gesagt, jede Sektion könne mehr oder weniger unabhängig handeln, ohne daß man von ihren Mitgliedern blinden Gehorsam verlange, dann aber schlug man einen ganz anderen Ton an und das Komitee machte sie förmlich zu Sklaven" (Nr. 199). - Netschajew erteilte seine Befehle auf Zetteln mit dem Stempel: „Russische Sektion der universellen revolutionären Allianz. Öffentlicher Stempel", und formulierte sie in folgender Weise: „Das Komitee befiehlt euch...", dieses oder jenes zu tun, hier- oder dorthin zu gehen etc. Ein junger Offizier, der sich enttäuscht sah, will die Gesellschaft verlassen. Netschajew scheint seine Einwilligung zu geben, verlangt aber einen Loskauf. Man muß ihm einen Wechsel auf 6000 Rubel mit der Unterschrift Kolatschewskis verschaffen. Sowohl Kolatschewski wie seine Schwestern hatten im Jahre 1866, nach dem Attentat Karakosows, eine lange Haft zu erleiden gehabt. Zu der Zeit, in welcher diese Geschichte spielt, befand sich eine der Schwestern zum zweiten Male wegen politischer Angelegenheiten im Gefängnis. Die ganze Familie stand unter strengster Polizeiaufsicht, und Kolatschewski konnte in jedem Augenblick einer neuen Verhaftung gewärtig sein. Netschajew benutzte diese Lage; auf sein Geheiß lud der junge Offizier, von dem wir oben sprachen, unter einem falschen Vorwand Kolatschewski zu sich ein, knüpfte mit ihm ein Gespräch an und gab ihm Proklamationen, die derselbe aus Neugier annahm. Kaum ist jedoch Kolatschewski auf der Straße, als ein Offizier an ihn herantritt, und ihm befiehlt, ihm zu folgen; er sei Beamter der dritten Sektion (geheime Polizei) und wisse, daß Kolatschewski aufständische Proklamationen bei sich führe. Nun ist der bloße Besitz solcher Papiere schon mehr als hinreichend, um jemandem mehrjährige Untersuchungshaft zuzuziehen und ihn einer Verurteilung zur Zwangsarbeit auszusetzen, wenn derselbe das Unglück hat, bereits in einer politischen Sache kompromittiert gewesen zu sein. Der angebliche Agent der dritten Sektion fordert Kolatschewski auf, in einen Wagen zu steigen, und dort macht er ihm das Anerbieten, sich durch sofortige Unterzeichnung einer Tratte von 6000 Rubeln loszukaufen. Vor der sicheren Aussicht, sonst nach Sibirien zu wandern, unterzeichnete Kolatschewski. Tags darauf erfuhr ein anderer junger Mann, Negreskul, diese Geschichte; sein Verdacht fiel sogleich auf Netschajew; er suchte den angeblichen Agenten der dritten Sektion auf und verlangte Rechenschaft über seine Gaunerei. Netschajew leugnete alles; die Tratte wurde verborgen gehalten und fand sich erst später bei den Haussuchungen wieder.
Die Entdeckung der Verschwörung und die Flucht Netschajews hatten diesem das Inkasso unmöglich gemacht. - Negreskul kannte Netschajew schon lange. In Genf war er das Opfer einer seiner Gaunereien geworden; dann hatte Bakunin ihn an sich zu ziehen gesucht. Später erpreßte man von ihm hundert Rubel (Nr. 230). Schließlich wurde er durch Netschajew kompromittiert, obwohl er diesen haßte und jeder Niederträchtigkeit fähig hielt. Er wurde verhaftet und starb im Gefängnis. Wie wir sahen, gehörte Iwanow zu den ersten von Netschajew Angeworbenen. Er war einer der beliebtesten und einflußreichsten Studenten der landwirtschaftlichen Akademie zu Moskau. Er widmete sich der Verbesserung der Lage seiner Kollegen und organisierte Unterstützungskassen und Kosthäuser, in denen armen Studierenden die Kost unentgeltlich gewährt wurde und die zugleich den Vorwand zu Zusammenkünften abgaben, in welchen man soziale Fragen diskutierte. Seine ganze freie Zeit widmete er dem Unterricht der in der Umgebung der Akademie wohnenden Bauernkinder. Seine Kollegen gaben ihm das Zeugnis, daß er alles mit Leidenschaft tat, indem er seinen letzten Groschen weggab und sich sehr oft ohne warme Nahrung behalf. Iwanow wurde von dem Blödsinn in den gewaltsamen Proklamationen Netschajews und Bakunins betroffen. Er konnte nicht begreifen, weshalb das Komitee befahl, die „Worte", den „Totengesang" Ogarjews, das „Volksgericht", ja sogar Bakunins „Aufruf an den1 Adel", eine ganz aristokratische Proklamation*, zu verbreiten.
* Wir geben hier einige Stellen aus der im Druck erschienenen Proklamation Bakunins: „Aufruf an den russischen Adel": „Was für Privilegien haben wir dafür empfangen, daß wir während der ganzen Hälfte des 19ten Jahrhunderts die Stütze des oft in seinen Grundfesten erschütterten Thrones gewesen, daß wir 1848, während der über ganz Europa entfesselten Stürme des Volkswahnsinns, durch unsere Großtaten das russische Reich vor den es bedrohenden sozialistischen Utopien bewahrt haben?... Was hat man uns dafür gewährt, daß wir das Reich vor der Zerstückelung retteten, daß wir in Polen die Flammen des Brandes, der ganz Rußland zu verzehren drohte, erstickten, daß wir bis zu diesem Augenblick ohne Schonung unserer Kräfte und mit einem Mute sondergleichen an der Vernichtung der revolutionären Elemente in Rußland arbeiteten? - Ging nicht aus unserem Schöße Michail Murawjow hervor, dieser mutvolle Mann, den Alexander II. selbst trotz seiner Geistesschwäche den Retter des Vaterlandes nannte? Für all diese unschätzbaren Dienste werden wir alles dessen beraubt, was wir besitzen... Unser gegenwärtiger Aufruf ist die Kundgebung einer
1 In der französischen Ausgabe eingefügt: russischen
27 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Er begann die Geduld zu verlieren und fragte, wo das Komitee sei, was es tue, wie es beschaffen sei, dieses Komitee, das Netschajew fortwährend recht gebe und allen anderen Mitgliedern unrecht. Er offenbarte den Wunsch, jemanden von diesem Komitee zu sehen; er hatte hierzu das Recht erlangt, da Netschajew selbst ihn zu einem Grade erhoben, der dem eines Mitgliedes eines Nationalkomitees der geheimen Allianz entsprach. Bei dieser Gelegenheit war es, daß sich Netschajew aus der Verlegenheit zog, indem er die oben erzählte Komödie mit dem Emissär der Genfer Internationalen aufführte. Eines Tages befahl Netschajew, das für die Kasse zur gegenseitigen Unterstützung der Studenten bestimmte Geld an das Komitee auszuliefern. Dagegen protestierte Iwanow und es entspann sich ein Streit. Andere Kameraden bewogen ihn, sich der Entscheidung des Komitees zu unterwerfen; sie seien ja den Statuten beigetreten, welche diese Unterwerfung geboten. Ihrem Drängen gab Iwanow nach und ließ es widerwillig geschehen. Von diesem Augenblick sann Netschajew, wie er sich dieses Mannes entledigen könne, den er wahrscheinlich als doktrinären Revolutionär betrachtete, der aus der Welt geschafft werden müsse. Er knüpfte mit Uspenski theoretische Gespräche an über die Bestrafung, die Vernichtung treuloser Mitglieder, die durch ihre Widersetzlichkeit die ganze ungeheuere geheime Organisation kompromittieren und vernichten könnten. Die Art und Weise, wie Netschajew die geheime Organisation lenkte, war allerdings geeignet, Zweifel an deren ernsthaften Charakter hervorzurufen. Die Sektionen mußten regelmäßig Sitzungen halten, um die akademischen Namensverzeichnisse der Studierenden zu prüfen und diejenigen zu bezeichnen, deren Heranziehung man wünschenswert erachtete, sowie um Mittel zu finden, wie man Geld schaffe. Zu diesen Mitteln gehörten die Subskriptionslisten für „Studenten, welche gelitten haben", d.h. die im Verwaltungswege verbannt waren; der Ertrag dieser Listen ging gradeswegs in die Tasche des Komitees Netschajew. Man mußte sich allerlei Kostüme verschaffen, die an sichermOrte aufbewahrt wurden und später Netschajew bei seiner Flucht zur Verkleidung dienten. Die Hauptbeschäftigung jedoch
großen Mehrheit des russischen Adels, welcher seit langer Zeit schon in organisierter Bereitschaft dasteht... Wir fühlen in unserem Rechte unsere Macht und werfen kühn dem Despoten, dem kleinen deutschen Prinzen Alexander II. Saltykow-Romanow den Handschuh ins Gesicht und fordern ihn zu edlem, ritterlichem Kampfe heraus, der im Jahre 1870 zwischen den Nachkommen Ruriks und der Partei des unabhängigen russischen Adels beginnen soll." „Murawjow, dieser mutvolle Mann", ist niemand anders, als der Henker Polens.
bestand im Abschreiben des „Totengesanges" und der oben zitierten Proklamationen. Die Verschworenen mußten alles in ihren Versammlungen Verhandelte möglichst genau aufschreiben, und Netschajew drohte ihnen mit dem Komitee, das überall seine Spione habe, falls sie etwas zu verbergen wagten. Jeder von ihnen mußte schriftliche Berichte über alles, was er seit der letzten Versammlung getan, in seinen Zirkel mitbringen, und aus all diesen Berichten wurde ein Auszug gemacht,um ihn an Bakunin zu schicken. Diese ganze kindische und inquisitorische Handlungsweise ließ Iwanow sogar an der Existenz des Komitees und an der so sehr gerühmten Macht der Organisation zweifeln; er begann zu merken, daß alles sich auf sinnlose Ausbeutung und riesenhafte Lügen beschränke, und er gestand seinen Vertrauten, daß, wenn die Sache nicht in Gang käme und man sie mit nichts weiter als mit Spielereien beschäftige, er sich von Netschajew trennen und selbst eine ernstliche Organisation gründen würde. Grade damals ergriff Netschajew eine energische Maßregel: Er befahl, seine Proklamationen in den Sälen der Studentenkosthäuser anzuschlagen. Iwanow sah in der Anheftung dieser Proklamationen den Schluß der Kosthäuser, das Verbot der Versammlungen, die Zerstreuung der besten Studenten. Er widersetzte sich dieser Maßregel. (Die Verköstigungsanstalt der Studenten wurde denn auch wirklich geschlossen, und alle in deren Verwaltung gewählte Delegierte wurden verbannt.) Hierüber entspann sich der Streit; Netschajew wiederholte wieder seine stereotype Phrase: „Es ist der Befehl des Komitees!" Iwanow ist in höchster Verzweiflung. Am 20. November 1869 erscheint er bei einem Mitgliede der Sektion1 und erklärt demselben, daß er aus jener Gesellschaft austrete; Pryshow teilt diese Erklärung Uspenski mit, der seinerseits eiligst Netschajew benachrichtigt. Nach einigen Stunden kommen diese drei Personen bei Kusnezow zusammen, bei dem auch Nikolajew wohnt. Dort erklärt Netschajew, daß man Iwanow wegen seiner Widersetzlichkeit gegen die Befehle des Komitees strafen und sich seiner entledigen müsse, um ihn zu hindern, ihnen weiteren Schaden zuzufügen. Kusnezow, der vertraute Freund Iwanows, scheint die Absicht Netschajews nicht zu verstehen; da erklärt dieser, man müsse Iwanow töten. Pryshow ruft hierauf aus, indem er sich an Kusnezow wendet: Netschajew ist verrückt, er will Iwanow töten; man muß ihn daran hindern. Netschajew macht ihrem Bedenken durch seine gewöhnliche Phrase ein Ende: „Wollt ihr euch auch gegen die Befehle des Komitees empören? Wenn man ihn
nicht anders töten kann, so werde ich mit Nikolajew diese Nacht auf sein Zimmer gehen und ihn dort erdrosseln." Dann macht er den Vorschlag, Iwanow nachts in eine Grotte im Park der Akademie zu locken, unter dem Vorwande, eine daselbst seit längerer Zeit verborgen gehaltene Presse auszugraben, und ihn dort zu ermorden. So gab Netschajew selbst in diesem entscheidenden Augenblick der Hingebung Iwanows die Ehre. Er war überzeugt, daß Iwanow trotz seines Austritts ihm bei der Ausgrabung der Presse zur Hülfe kommen werde, daß er nicht fähig sei, ihn zu verraten, denn wenn er dieses beabsichtigte, so hätte er es vor seiner Austrittserklärung oder unmittelbar nach derselben getan. Hätte Iwanow ihn bei der Polizei denunzieren wollen, so hatte er jetzt die Gelegenheit, ihn bei offener Tat abfassen zu lassen. Aber im Gegenteil, Iwanow war glücklich, endlich einen positiven Beweis für die Existenz dieser Organisation zu finden, ein faßbares Zeichen, daß sie irgendwelche Aktionsmittel besitze und wären es auch nur typographische Lettern. Er vergaß alle so oft von Netschajew gegen die Treulosen ausgestoßenen Drohungen; eiligst verließ er einen Freund, bei dem er seinen Tee nahm und von dem ihn Nikolajew auf Befehl Netschajews abholte, und kam der Aufforderung nach. In der Dunkelheit der Nacht nähert sich Iwanow ohne Argwohn der Grotte. Plötzlich ertönt ein Schrei; jemand springt von hinten auf ihn. Ein schrecklicher Kampf beginnt, man hört nur das Heulen Netschajews und das Röcheln seines Opfers, das er mit den Händen würgte; ein Schuß fällt und Iwanow ist tot. Die Kugel aus Netschajews Revolver war ihm durch den Kopf gegangen. „Schnell Stricke, Steine!" ruft Netschajew, indem er in den Taschen des Ermordeten wühlt, um das Geld und die Papiere herauszunehmen. Dann wirft man die Leiche in einen Teich. Die Mörder kehren zu Kusnezow zurück und ergreifen dort Maßregeln, um die Spuren ihres Verbrechens zu verbergen. Sie verbrennen das blutige Hemd Netschajews. Alle Mitschuldigen sind düster und niedergeschlagen. Plötzlich ertönt ein zweiter Revolverschuß und eine Kugel saust Pryshow am Ohre vorbei. Netschajew entschuldigt sich: „Er habe Nikolajew zeigen wollen, wie sein Revolver gehe". Die Zeugen bekundeten einmütig, daß dies ein neues Attentat war. Netschajew wollte Pryshow töten, weil dieser vormittags gegen den Mord Iwanows zu protestieren gewagt. Unmittelbar darauf verläßt Netschajew eiligst Moskau und begibt sich mit Kusnezow nach Petersburg, indem er Uspenski überläßt, in Moskau das Weitere zu besorgen. In Petersburg stellt er sich, als ob er sich noch immer mit seiner Organisation beschäftige; doch zu seiner großen Ver
wunderung findet Kusnezow, daß dort noch weniger Organisation vorhanden ist als in Moskau. Da wagt er endlich Netschajew zu fragen: „Wo ist denn das Komitee? Bist du es etwa?" - Noch leugnet Netschajew und versichert, das Komitee existiere. Er kehrt nach Moskau zurück und gesteht Nikolajew, daß, da Uspenski bereits verhaftet, dies allen übrigen in kurzer Zeit auch bevorstehe, und daß „er nicht wisse, was er tun solle". Da entschließt sich Nikolajew, sein Getreuester, ihn zu fragen, ob denn das wunderbare Komitee in Wirklichkeit existiere oder ob es aus Netschajew allein bestehe. - „Ohne geradeaus diese Frage zu beantworten, sagte er mir, alle Mittel seien erlaubt, um die Leute in solch ein Unternehmen hineinzuziehen, diese Regel werde auch im Auslande gehandhabt. Bakunin befolge sie ebenso wie andere, und wenn solche Männer in dieser Weise handeln, dann sei es natürlich, daß er, Netschajew, ebenso handle"(Nr. 181). Darauf heißt er Nikolajew mit Pryshow nach Tula gehen, um einem von früher her mit Netschajew befreundeten Arbeiter einen Paß abzuschwindeln. Später begibt er sich selbst nach Tula, wo er Frau Alexandrowskaja bittet, ihn nach Genf zu begleiten; es sei dies für ihn durchaus notwendig. Frau Alexandrowskaja war seit den Unruhen von 1861 und 1862 stark kompromittiert; man hatte sie sogar in Haft genommen, bei welcher Gelegenheit ihre Handlungsweise sehr viel zu wünschen übrigließ. In einem Anfall von Offenherzigkeit hatte sie den Richtern ein schriftliches Geständnis abgelegt und dies Geständnis hatte viele Personen kompromittiert. Später wurde sie in einer Provinzialstadt unter Polizeiaufsicht interniert. Da sie keinen Paß zu erhalten fürchtete, verschaffte ihr Netschajew einen, man weiß nicht wie. Man möchte fragen, warum Netschajew die Begleitung einer Frau suchte, deren Gesellschaft allein genügen konnte, seine Verhaftung an der Grenze herbeizuführen. Doch er gelangte unter Deckung der Frau Alexandrowskaja gesund und wohlbehalten nach Genf, und während die von ihm getäuschten armen Teufel in den Kerker geworfen wurden, fabrizierten er und Bakunin die zweite Nummer des „Volksgerichts". Bakunin fühlte sich aufs höchste in seinem Stolze geschmeichelt, als er im „Journal de Geneve" von der Verschwörung Netschajew las, deren Leitung man ihm zuschrieb; er vergaß dabei, daß sein „Volksgericht" in Moskau gedruckt zu sein vorgab, und füllte eine ganze Seite darin mit dem Artikel des „Journal de Gen&ve" in französischer Sprache. Kaum war das Blatt fertig, so erhielt Frau Alexandrowskaja den Auftrag, es nebst andern Proklamationen nach Rußland einzuschmuggeln. An der Grenze erwartete ein Agent der dritten Sektion die Frau Alexandrowskaja, nahm ihr das Paket ab und verhaftete sie. Darauf stellte sie ihm eine Liste mit Namen zu, die nur
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Bakunin allein bekannt sein konnten. - Einer der Angeklagten in der Affäre Netschajew, und zwar einer seiner Vertrautesten, bekannte vor Geriebt, daß „er vorher Bakunin für einen Ehrenmann gehalten habe, und daß er nicht begreifen könne, wie er und andere in so feiger V/eise jene Frau der Verhaftung hätte aussetzen können'". Wenn Bakunin sich auch nicht verbunden hielt, selbst nach Rußland zu gehen, um die große Revolution, deren bevorstehenden Ausbruch er stets voraussagte, in eigener Person zu leiten, so ließ er doch in Europa arbeiten, als hätte er „den Teufel im Leibe". Der „Progres" zu Locle, das schweizerische Organ der Allianz, veröffentlichte lange Auszüge aus dem „Volksgericht". Guillaume strich die großen Erfolge der großen russischen Sozialisten heraus und erklärte, daß sein Enthaltungsprogramm mit dem der großen russischen Sozialisten identisch sei.* Als auf dem Kongreß zu La Chaux-de-Fonds Utin die Infamien Netschajews zu enthüllen versuchte, schnitt ihm Guillaume das Wort ab, indem er sagte, es sei Spionage treiben, wenn man von jenen Männern rede. Bakunin selbst schrieb in der „Marseillaise", als ob er eben zurückgekehrt sei „von einer langen Reise nach fernen Ländern, wo freie Blätter keinen Eingang finden"'3291, damit man glauben sollte, die Dinge nähmen in Rußland eine so revolutionäre Wendung, daß seine Anwesenheit dort notwendig gewesen. Wir kommen jetzt zur Lösung des Knotens in der Tragikomödie der russischen Allianz. Herzen hatte im Jahre 1859 von einem jungen Russen ein Vermächtnis von 25 000 Franken erhalten, um damit in Rußland revolutionäre Propaganda zu machen.13301 Herzen, der diese Summe nie hatte an jemanden ausliefern wollen, ließ sich doch von Bakunin überreden; es gelang diesem, das Geld unter dem Vorwand zu erhalten, daß Netschajew der Vertreter einer weitverzweigten und mächtigen geheimen Organisation sei. Netschajew glaubte sich nun berechtigt, seinen Anteil zu verlangen; doch die beiden internationalen Brüder, die der Mord Iwanows nicht hatte entzweien können, gerieten bei der Geldfrage in Streit. Bakunin weigerte sich, das Geld zu geben. Netschajew verließ Genf und gab im Frühjahr 1870 in London ein russisches Blatt heraus, „Die Kommune" (Obschtschina)13311, worin er'öffentlich von Bakunin den Rest des Kapitals verlangte, das er von
* Im Jahre 1868, also noch nicht zwei Jahre vor dem Kongreß zu La Chaux-deFonds, auf welchem die Allianzisten ihre Doktrin von der politischen Enthaltung sanktionieren ließen, schrieb Bakunin, indem er die politische Enthaltung der französischen Arbeiter tadelte, in der „Democratie" von Chassin: „Die politische Enthaltung ist ein Blödsinn, von Schurken erfunden, um Narren zu täuschen." I32®1
weiland Herzen erhalten habe. Hieraus sehen wir, daß die internationalen Brüder „nie einander angreifen, noch ihre Streitigkeiten vor dem Publikum ausmachen".
Der erste Artikel der zweiten Nummer des „Volksgerichts" enthält wieder einen Totengesang in poetischer Prosa auf den ewig toten und ewig lebenden Netschajew. Diesmal war der Held erdrosselt worden von Gendarmen, die ihn nach Sibirien schleppten. Er war in Tambow verhaftet worden, als Arbeiter verkleidet, während er im Wirtshause saß. Diese Verhaftung hatte in Regierungskreisen außerordentliche Bewegung hervorgerufen. Man sprach nur vom „verkleideten Netschajew... von Denunziationen... von geheimen Gesellschaften... von Bakunisten... von Revolution". Beim Tode Netschajews schickte der Gouverneur von Perm ein Telegramm nach Petersburg; dieses Telegramm wird wörtlich zitiert. Ein anderes, ebenso wörtlich zitiertes Telegramm wird an die dritte Sektion geschickt, und das „Volksgericht" weiß ganz genau, daß „der Polizeichef nach Empfang dieses Telegramms von seinem Stuhl aufsprang und den ganzen Abend ein hämisches Lächeln aufsetzte". So starb, zum zweiten Male, Netschajew. Der Mord Iwanows wird zugegeben, aber man nennt ihn
„eine Tat der Rache seitens der Gesellschaft, verübt an einem Mitgliede wegen Abweichung von seiner Pflicht. Die strenge Logik der wahren Arbeiter am Werke darf nicht zurückschrecken vor einer Tat, die zum Erfolge des Werkes führt, und noch weniger vor Taten, welche das Werk retten und ihr Verderben abwenden."
Der „Erfolg des Werks" in den Augen Bakunins war die Verhaftung von achtzig jungen Leuten. Der zweite Artikel ist betitelt: „Ja, wer nicht für uns ist, der ist wider uns", und enthält eine Verherrlichung des politischen Mordes. Das Schicksal Iwanows, der nicht genannt wird, wird allen Revolutionären angedroht, die nicht der Allianz anhängen:
„Der entscheidende Augenblick ist gekommen... die kriegerischen Operationen zwischen beiden Lagern haben begonnen... es ist nicht mehr möglich, neutral zu bleiben; hierbei in der Mitte stehen wollen, hieße sich zwischen zwei feindliche Heere stellen, im Augenblick, wo diese das Feuer eröffnen; es hieße, sich umsonst dem Tode aussetzen, unter den Kartätschen der einen oder der anderen fallen, ohne Möglichkeit der Verteidigung. Es hieße, entweder die Knutenhiebe und Martern der dritten Sektion auf sich nehmen oder unter den Kugeln unserer Revolver fallen."
Folgt dann eine anscheinend ironische Danksagung an die russische Regierung wegen „ihrer Mitwirkung an der Entwicklung und dem
beschleunigten Fortgange unseres Werks, das sich mit geflügeltem Schritt seiner so sehr ersehnten Vollendung nähert". Allerdings. Im Augenblick, wo unsere beiden Helden der Regierung dankten wegen ihrer Beschleunigung der „so sehr ersehnten Vollendung", waren sämtliche Mitglieder ihrer vorgeblichen geheimen Gesellschaft verhaftet. - Daran schließt sich öin neuer Aufruf. Ihre „Arme sind zur Aufnahme aller frischen und ehrenhaften Kräfte geöffnet", aber diese werden zugleich unterrichtet, daß, einmal von dieser Umarmung umschlungen, sie sich allen Anforderungen der geheimen Gesellschaft unterwerfen müssen, „daß jede Absage, jeder Rücktritt von der Gesellschaft, der wissentlich aus Mangel an Glauben an die Wahrheit und Gerechtigkeit gewisser Prinzipien geschieht, auch zur Ausstreichung aus der Liste der Lebenden führt". Sodann machen unsere beiden Helden sich lustig über die Verhafteten, es seien das nur kleine Liberale, die wirklichen Mitglieder der Organisation werden durch die geheime Gesellschaft geschützt, welche ihre Verhaftung nicht zulassen würde. Der dritte Artikel führt die Überschrift: „Hauptgrundlagen der sozialen Ordnung der Zukunft". Dieser Artikel beweist, daß, wenn gewöhnliche Sterbliche für jedes Nachdenken über die soziale Organisation der Zukunft wie für ein Verbrechen bestraft werden, dies nur geschieht, weil die Häupter bereits alles ins reine gebracht haben.
„Das Ende der gegenwärtigen1 Ordnung und die Erneuerung des Lebens mit Hülfe der neuen Prinzipien kann nur erzielt werden durch die Konzentrierung aller Mittel der sozialen Existenz in den Händen unseres Komitees und durch die Proklamierung der Verpflichtung zur physischen Arbeit für alle. Das Komitee verkündet unmittelbar nach dem Umsturz der gegenwärtigen Einrichtungen, daß alles Eigentum Gemeingut ist; es befiehlt die Gründung von Arbeitergesellschaften (Arteis) und veröffentlicht gleichzeitig von Sachverständigen angefertigte statistische Tabellen, welche die an einem gegebenen Orte notwendigsten Industriezweige angeben, sowie diejenigen, welche daselbst auf Hindernisse stoßen könnten. Während einer bestimmten Frist, ausgefüllt durch die revolutionäre Umwandlung und die dieselbe unvermeidlich begleitenden Störungen, muß jedes Individuum in irgendein selbstgewähltes Artel eintreten... Alle diejenigen, welche ohne genügenden Grund in ihrer Vereinzelung beharren und sich keiner Arbeitergruppe anschließen, haben kein Recht der Zulassung zu den gemeinsamen Kosthäusern, Schlafstellen oder zu irgendwelchen anderen Gebäuden, welche zur Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse der Arbeiterbrüder, oder zur Aufbewahrung der für die verschiedenen Zweige der neubegründeten Arbeitergesellschaft dienenden Produkte, Materialien, Lebensmittel oder Werkzeuge bestimmt sind; mit einem Wort, wer ohne genügenden Grund
keinem Artel beigetreten ist, bleibt ohne Existenzmittel. Alle Wege und Mittel des Verkehrs bleiben für ihn verschlossen; es gibt für ihn keinen anderen Ausweg als Arbeit oder Tod." Jedes Artel wählt seinen Taxator (otzienschtschik), der den Gang der Arbeit regelt, über die Produktion und Konsumtion sowie über die Produktivität jedes Arbeiters Buch führt und zwischen dem Artel und dem gemeinschaftlichen Kontor des Orts vermittelt. Das Kontor besteht aus Mitgliedern, die von den Arteis des Ortes gewählt werden; es bewirkt den Austausch zwischen den Arteis, führt die Verwaltung aller gesellschaftlichen Anstalten (Schlafräume, Kosthäuser, Schulen, Hospitäler) und leitet alle öffentlichen Arbeiten: „Alle gemeinschaftlichen Arbeiten stehen unter der Verwaltung des Kontors, während alle individuellen Arbeiten, für welche es besonderer Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit bedarf, von den Arteis gesondert ausgeführt werden." Dann kommt ein langes Reglement über Erziehung, Arbeitsstunden, Säugung der Kinder, Erteilung von Arbeitserlaß an Erfinder usw.
„Mit der vollständig öffentlichen und der allgemeinen Kenntnis unterliegenden Tätigkeit jedes einzelnen verschwindet spurlos und für immer jeder Ehrgeiz, wie man ihn jetzt versteht, und jede Lüge... Es wird dann ein jeder bestrebt sein, soviel wie möglich für die Gemeinschaft zu produzieren und sowenig wie möglich zu konsumieren, und der ganze Stolz, der ganze Ehrgeiz des Arbeiters wird in dem Bewußtsein seiner sozialen Nützlichkeit bestehen." Ein prachtvolles Probestück von Kasernenkommunismus! Dahaben wir alles, gemeinsame Schlafräume und Kosthäuser, Taxatoren und Kontors zur Bevormundung der Erziehung, der Produktion, der Konsumtion, mit einem Worte jeder sozialen Tätigkeit, und hoch über dem allem die Oberleitung unseres namenlosen und unbekannten Komitees. Reiner „Antiautoritarismus" vom reinsten Wasser! Um diesem blödsinnigen Organisationsplan den Anschein einer theoretischen Grundlage zu geben, wird der Überschrift des Artikels selbst folgende Anmerkung angehängt:
„Wer die vollständige theoretische Entwicklung unserer Hauptgrundsätze kennenlernen will, findet sie in der von uns herausgegebenen Schrift: ,Manifest der kommunistischen Partei." Es findet sich wirklich die russische Übersetzung des (deutschen) Manifestes der kommunistischen Partei vom Jahre 1847 (Preis ein Franken) in jeder Nummer des „Kolokol" vom Jahre 187013321 neben dem Aufruf Bakunins „An die Offiziere der russischen Armee" und den beiden Nummern
des „Volksgerichts" angekündigt. Derselbe Bakunin, der dieses Manifest mißbraucht, um seinen tatarischen Phantasien in Rußland Ansehen zu verschaffen, ließ dasselbe durch die westeuropäische Allianz als eine äußerst ketzerische Schrift verschreien, welche die unheilvollen Lehren des deutschen autoritären Kommunismus predige (siehe die Resolution der Konferenz von Rimini, die Rede Guillaumes im Haag, das „Jura-Bulletin" Nummer 10 und 11, die „Federacion" zu Barcelona etc.). Jetzt, da jedermann die Rolle kennt, zu welcher „unser Komitee" bestimmt ist, wird man leicht jenen Konkurrenzneid gegen den Staat und gegen jede Zentralisation der Arbeiterkräfte begreifen. In der Tat, solange die Arbeiterklasse ihre eigenen Vertretungsorgane hat, werden die unter dem Inkognito „unseres Komitees" revolutionierenden Herren Bakunin und Netschajew es nicht dahin bringen, die Inhaber und Verwalter des gesellschaftlichen Reichtums zu werden und die Früchte jenes erhabenen Ehrgeizes zu ernten, den sie - anderen einzuflößen brennen: viel zu arbeiten, um wenig zu verzehren!
2» Der Revolutionskatechismus
Netschajew hob mit größter Sorgfalt ein in Chiffern geschriebenes Büchelchen auf, benannt: „Der Revolutionskatechismus"13331; er behauptete, daß der Besitz dieses Buches das charakteristische Kennzeichen1 jedes Emissärs oder Agenten der Internationalen Assoziation sei. Aus allen Aussagen sowie aus den von den Verteidigern gelieferten klaren Beweisen geht hervor, daß dieser Katechismus von Bakunin geschrieben; auch hat dieser seine Vaterschaft nie zu leugnen gewagt. Übrigens zeigen Form und Inhalt des Werkes deutlich, daß es derselben Quelle entspringt wie die geheimen Statuten, die „Worte", die Proklamationen und das „Volksgericht", von denen wir bereits gesprochen haben. Der Katechismus ergänzt sie nur. Diese allzerstörenden Anarchisten, die alles amorphisieren wollen,2 führen die Anarchie in der Moral ein, indem sie die Unsittlichkeit der Bourgeoisie aufs äußerste übertreiben. Wir haben bereits an einigen Proben jene allianzistische Moral würdigen können, deren Dogmen, ganz und gar christlichen Ursprungs, zuerst von den Escobar[334] des 17. Jahrhunderts im einzelnen
1 In der französischen Ausgabe: Privileg — 2 in der französischen Ausgabe lautet der folgende Satzteil: um die Anarchie in der Moral einzuführen, treiben die Unsittlichkeit der Bourgeoisie bis aufs äußerste
ausgearbeitet wurden. Nur übertreibt die Allianz deren Ausdrucksweise ins Lächerliche, und setzt an die Stelle der heiligen, katholischen, apostolischen und römischen Kirche ihr „heiliges Werk" der erzanarchistischen und allzerstörenden Revolution. Der Revolutionskatechismus ist der offizielle Kodex dieser Moral, die hier systematisch und unverhüllt dargestellt wird. Wir veröffentlichen ihn vollständig, wie er vor dem Gerichtshofe in der Sitzung vom 8. Juli 1871 verlesen wurde.
„Pflichten des Revolutionärs gegen sich selbst
§ 1. Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch. Er hat keine persönlichen Interessen, Angelegenheiten, Gefühle oder Neigungen, kein Eigentum, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm wird verschlungen von einem einzigen ausschließlichen Interesse, einem einzigen Gedanken, einer einzigen Leidenschaft - der Revolution. § 2. In der Tiefe seines Wesens, nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat, hat er vollständig gebrochen mit der bürgerlichen Ordnung und mit der gesamten zivilisierten Welt, mit den in dieser Welt landläufig anerkannten Gesetzen, Herkommen, Moral und Gebräuchen. Er ist ihr unversöhnlicher Gegner, und wenn er in dieser Welt fortlebt, so geschieht es nur, um sie desto sicherer zu vernichten. § 3. Ein Revolutionär verachtet jeden Doktrinarismus und verzichtet auf die Wissenschaft der heutigen Welt, die er den zukünftigen Generationen überläßt. Er kennt nur eine Wissenschaft: die Zerstörung. Hierzu und nur hierzu studiert er Mechanik, Physik, Chemie und vielleicht auch Medizin. Zu demselben Zweck studiert er Tag und Nacht die lebendige Wissenschaft - die Menschen, Charaktere, Verhältnisse, sowie alle Bedingungen der gegenwärtigen sozialen Ordnung auf allen möglichen Gebieten. Der Zweck ist derselbe, die schnellste und sicherste Zerstörung dieser unflätigen (poganyi) Weltordnung. § 4. Er verachtet die öffentliche Meinung. Er verachtet und haßt die gegenwärtige gesellschaftliche Moral in allen ihren Antrieben und allen ihren Kundgebungen. Für ihn ist alles sittlich, was den Triumph der Revolution begünstigt, alles unsittlich und verbrecherisch, was ihn hemmt. § 5. Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch (der sich nicht mehr selbst angehört)1, er hat keine Schonung für den Staat überhaupt und für die ganze zivilisierte Klasse der Gesellschaft und er darf ebensowenig Schonung für sich erwarten. Zwischen ihm und der Gesellschaft herrscht Krieg auf Tod und Leben, offener oder geheimer Kampf, aber stets ununterbrochen und unversöhnlich. Er muß sich daran gewöhnen, jede Marter zu ertragen. § 6. Streng gegen sich selbst, muß er es auch gegen andere sein. Alle Gefühle der Neigung, die verweichlichenden Empfindungen der Verwandtschaft, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit, müssen in ihm erstickt werden durch die einzige, kalte Leiden
schaft des revolutionären Werks. Für ihn existiert nur ein Genuß, ein Trost, ein Lohn, eine Befriedigung: der Erfolg der Revolution. Tag und Nacht darf er nur einen Gedanken, nur einen Zweck haben - die unerbittliche Zerstörung. Während er diesen Zweck kaltblütig und unaufhörlich verfolgt, muß er selbst zu sterben bereit sein und ebenso bereit, mit eigenen Händen jeden zu töten, der ihn an der Erreichung dieses Ziels hindert. § 7. Die Natur des wahren Revolutionärs schließt jede Romantik, jede Empfindsamkeit, jeden Enthusiasmus und jede Hinreißung aus; sie schließt sogar persönlichen Haß oder Rache aus. Die revolutionäre Leidenschaft, bei ihm zu einer alltäglichen und beständigen Gewohnheit geworden, muß mit kalter Berechnung gepaart sein. Immer und überall muß er nicht seinen persönlichen Trieben, sondern nur dem gehorchen, was ihm das allgemeine Interesse der Revolution vorschreibt.
Pflichten des Revolutionärs gegen seine Revolutionsgenossen
§ 8. Der Revolutionär kann Freundschaft und Zuneigung nur zu dem hegen, der durch Taten bewiesen hat, daß er gleichfalls Agent der Revolution ist. Der Grad der Freundschaft, Ergebenheit und sonstiger Verbindlichkeiten gegen einen solchen Gefährten bemessen sich nur nach dessen Nützlichkeit in dem praktischen Werke der allzerstörenden (vserasruschitelnoi) Revolution. § 9. Es ist überflüssig, von der Solidarität unter den Revolutionären zu reden, auf ihr beruht die ganze Macht des revolutionären Werks. Die Revolutionsgenossen, welche auf gleicher Höhe revolutionären Verständnisses und revolutionärer Leidenschaft sich befinden, müssen soviel wie möglich über alle wichtigen Angelegenheiten gemeinschaftlich beraten und ihre Beschlüsse einstimmig fassen. Bei Ausführung einer so beschlossenen Sache muß jeder möglichst nur auf sich selbst rechnen. Wo es sich um Ausführung einer Reihe zerstörender Handlungen handelt, muß jeder auf eigene Hand tätig sein und Hülfe und Rat von seinen Gefährten nur beanspruchen, wo es für den Erfolg unumgänglich ist. § 10. Jeder Revolutionsgenosse muß mehrere Revolutionäre zweiter oder dritter Ordnung, d.h. solche, die noch nicht vollständig eingeweiht sind, in seiner Hand haben. Er muß dieselben als einen, seiner Verfügung anvertrauten Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals betrachten. Er muß ökonomisch mit seinem Kapitalanteil wirtschaften und möglichst großen Nutzen aus demselben herausschlagen. Er hat sich selbst auch nur als ein Kapital zu betrachten, das für den Triumph des Revolutionswerks verwendet wird, als ein Kapital jedoch, über das er nicht allein und ohne Zustimmung sämtlicher vollständig eingeweihter Genossen verfügen kann. §11. Wenn sich ein Kamerad in Gefahr befindet, so darf der Revolutionär bei der Frage, ob er ihn retten soll oder nicht, kein persönliches Gefühl zu Rate ziehen, sondern einzig und allein das Interesse der Sache der Revolution. Demnach muß er auf der einen Seite den Nutzen, welchen sein Kamerad gewährt, auf der anderen den Aufwand an Revolutionskräften, den seine Befreiung erfordert, gegeneinander abwägen und handeln, je nachdem sich die Waage zur einen oder andern Seite neigt.
Pflichten des Revolutionärs gegen die Gesellschaft
§ 12. Ein neues Mitglied kann, nachdem es seine Proben nicht in Worten, sondern in Taten abgelegt hat, nur mit Einstimmigkeit in die Assoziation aufgenommen werden. § 13. Ein Revolutionär tritt in die Welt des Staates, in die Welt der Klassen, in die sich zivilisiert nennende Welt und lebt in derselben einzig aus dem Grunde, weil er an ihre nahe und vollständige Vernichtung glaubt. Er ist kein Revolutionär, wenn er noch an irgend etwas in dieser Welt hängt. Er darf nicht zurückbeben, wo es sich darum handelt, irgendein jener alten Welt angehöriges Band zu zerreißen, irgendeine Einrichtung oder irgendeinen Menschen zu vernichten. Er muß alles und alle gleichmäßig hassen. Um so schlimmer für ihn, wenn er in jener Welt Bande der Verwandtschaft, Freundschaft oder Liebe hat; er ist kein Revolutionär, wenn diese Bande seinen Arm aufhalten können. § 14. Um der unerbittlichen Zerstörung willen kann der Revolutionär, und muß er sogar oft, mitten in der Gesellschaft leben und dabei den Schein bewahren, er sei ein ganz anderer als er wirklich ist. Ein Revolutionär muß sich überall Eingang verschaffen, in der höheren Gesellschaft wie beim Mittelstand, im Kaufmannsladen, in der Kirche, im aristokratischen Palast, in der bürokratischen, militärischen und literarischen Welt, in der dritten Sektion (geheime Polizei) und selbst im kaiserlichen Palast. § 15. Jene ganze unflätige Gesellschaft teilt sich in mehrere Kategorien. Die erste besteht aus denen, die unverzüglich dem Tode geweiht sind. Die Genossen mögen Listen dieser Verurteilten aufstellen, nach dem Grade ihrer verhältnismäßigen Bösartigkeit und mit Rücksicht auf den Erfolg des Revolutionswerkes geordnet, und zwar so, daß die ersten Nummern vor den übrigen abgefertigt werden. § 16. Bei der Aufstellung dieser Listen, bei der Feststellung der Kategorien darf nicht die individuelle Verderbtheit eines Menschen entscheiden oder gar der Haß, den er den Mitgliedern der Organisation oder dem Volke einflößt. Können doch selbst diese Verderbtheit und dieser Haß gewissermaßen nützlich sein, indem sie zum Volksaufstand reizen. Man darf nur den Maßstab des Nutzens berücksichtigen, der aus dem Tode einer bestimmten Person für das Revolutionswerk hervorgehen kann. An erster Stelle müssen die vernichtet werden, die für die revolutionäre Organisation am verderblichsten sind und deren gewaltsamer und plötzlicher Tod am geeignetsten ist, die Regierung zu erschrecken und ihre Macht zu erschüttern, indem er sie der energischsten und intelligentesten Agenten beraubt. § 17. Die zweite Kategorie besteht aus denen, welchen man provisorisch (!) das Leben läßt, damit sie durch eine Reihe empörender Taten das Volk zum unvermeidlichen Aufstand treiben. § 18. Zur dritten Kategorie gehört eine große Anzahl hochstehender Bestien1, die weder durch Geist noch durch Energie sich auszeichnen, die aber vermittelst ihrer
Stellung Reichtum, hohe Verbindungen, Einfluß und Macht besitzen. Man muß sie auf alle mögliche Art ausbeuten, man muß sie umgarnen und verwirren, und, indem man sich zum Herrn ihrer schmutzigen Geheimnisse macht, sie zu unsern Sklaven machen. Auf diese Weise werden ihre Macht, ihre Verbindungen, ihr Einfluß und ihr Reichtum zu einem unerschöpflichen Schatze und zu einer kostbaren Hülfe bei mannigfaltigen Unternehmungen. § 19. Die vierte Kategorie besteht aus allerlei ehrgeizigen Beamten und aus den Liberalen der verschiedenen Schattierungen. Mit diesen kann man nach ihrem eigenen Programm konspirieren, indem man tut, als ob man ihnen blindlings folge. Man muß sie in unsere Hand bringen, sich ihrer Geheimnisse bemächtigen, sie vollständig kompromittieren, so daß ihnen der Rückzug unmöglich wird, und sich ihrer zur Herbeiführung von Unruhen im Staate bedienen. § 20. Die fünfte Kategorie bilden die Doktrinäre, Verschwörer, Revolutionäre, alle diejenigen, welche in Versammlungen oder auf dem Papier Geschwätz machen. Man muß sie unaufhörlich zu praktischen und gefahrvollen Kundgebungen treiben und fortreißen, deren Erfolg sein wird, daß der größte Teil von ihnen verschwindet, während einige darunter sich zu echten Revolutionären entwickeln. § 21. Die sechste Kategorie ist von großer Bedeutung; es sind die Frauen, die in drei Klassen einzuteilen sind. Zur ersten gehören die oberflächlichen Frauen, ohne Geist und Herz, deren man sich in derselben Weise bedienen muß, wie der Männer der dritten und vierten Kategorie. Zur zweiten Klasse gehören die leidenschaftlichen, hingebenden und befähigten Frauen, die jedoch nicht zu uns gehören, weil sie noch nicht zum praktischen und phrasenlosen revolutionären Verständnis emporgedrungen sind; man muß sie benutzen wie die Männer der fünften Kategorie. Endlich kommen die Frauen, die ganz und gar zu uns gehören, das heißt, die vollständig eingeweiht sind und unser gesamtes Programm angenommen haben. Sie müssen wir als den kostbarsten unserer Schätze betrachten, ohne dessen Beistand wir nichts auszurichten vermögen.
Pflichten der Assoziation gegen das Volk
§ 22. Die Assoziation hat keinen anderen Zweck als die vollständige Emanzipation und das Glück des Volkes, d.h. der hart arbeitenden Menschheit (tschernorabotschii ljud). Aber von der Überzeugung ausgehend, daß diese Emanzipation und dieses Glück nur vermittelst einer alles zerstörenden Volksrevolution erreicht werden können, wird die Assoziation alle ihre Mittel und Kräfte anwenden, um die Übel und Leiden zu erhöhen und zu vermehren, die endlich die Geduld des Volkes zerreißen und seinen Massenaufstand anfachen werden. § 23. Unter Volksrevolution versteht unsere Gesellschaft nicht eine nach dem klassischen Muster des Westens geregelte Bewegung, die stets vor dem Eigentum und der überlieferten gesellschaftlichen Ordnung der sogenannten Zivilisation und Moralität haltmacht und sich bisher darauf beschränkt hat, den Wegfall einer politischen Form auszusprechen, um sie durch eine andere zu ersetzen, und einen sogenannten revolutionären Staat zu schaffen. Die einzige Revolution, die dem Volke zum Heile gereichen
kann, ist die, die jeden Staatsbegriff durch und durch vernichtet und alle Überlieferungen, Ordnungen und Klassen des Staats in Rußland umstürzt. § 24. Bei diesem Ziel hat die Gesellschaft nicht die Absicht, dem Volke irgendeine von oben kommende Organisation aufzudrängen. Die zukünftige Organisation wird ohne Zweifel aus der Bewegung und dem Leben des Volks hervorgehen, aber das ist die Sache künftiger Generationen. Unsere Arbeit ist die schreckliche, totale, unerbittliche und allgemeine Zerstörung. § 25. Deshalb müssen wir, indem wir uns dem Volke nähern, uns vor allem mit den Elementen des Volkslebens verbinden, welche seit Gründung des moskowitischen Staats unaufhörlich, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten gegen alles protestiert haben, was direkt oder indirekt mit dem Staat verbunden ist, gegen den Adel, die Bürokratie, die Priester, die große Handelswelt und die Kleinhändler, gegen alle Ausbeuter des Volks. Wir müssen uns mit der abenteuernden Welt der Räuber verbinden, die die einzig wahren Revolutionäre Rußlands sind. § 26. Diese Welt zu einer einzigen allzerstörenden und unbesiegbaren Macht zusammenzufassen, darin besteht unsere ganze Organisation, unsere ganze Verschwörung und unser ganzes Unternehmen."
Solch ein Meisterwerk kritisiert man nicht. Man verdürbe sich den Spaß an seiner Fratzenhaftigkeit. Man nähme auch diesen amorphischen All-Zerstörer viel zu ernst, der Rudolph von Gerolstein, Monie-Christo, Karl Moor und Robert Macaire glücklich in eine Person verschmolzen hat. Wir beschränken uns darauf, durch einige Nachweise die Identität des Geistes und selbst der Ausdrücke des Katechismus, ihre krampfhafte Übertreibung abgerechnet, mit denen der geheimen Statuten und der sonstigen russischen Produktionen der Allianz festzustellen. Die drei Grade der Einweihung in den geheimen Statuten der Allianz werden im § 10 des Katechismus wiedergegeben, wo von „Revolutionären zweiter und dritter Ordnung... die noch nicht vollständig eingeweiht sind", die Rede ist. - Die im Art. 6 ihres Reglements definierten Pflichten der internationalen Brüder sind dieselben, wie die in den §§ 1 und 13 des Katechismus anbefohlenen. - Die Bedingungen, unter denen die Brüder Regierungsämter annehmen können, laut Art.8 des Reglements, werden noch „eingehender auseinandergesetzt" im § 14 des Katechismus, der ihnen sogar die Möglichkeit klarmacht, auf Befehl bei der Polizei eintreten zu müssen. Die den Brüdern im Reglement, Art. 9, erteilte Vorschrift, einander zu Rate zu ziehen, wird im § 9 des Katechismus wiederholt. - Die Art.2, 3 und 6 des Programmes der internationalen Brüder legen der Revolution genau denselben Charakter bei, wie die §§22 und 23 des Katechismus. - Die Jakobiner im Art.4 des Programmes figurieren im §20 des Katechismus als eine Unterabteilung der „Männer der fünften Kategorie"; hier wie dort
sind sie dem Tode geweiht. - Die Vorstellungen der Art.5 und 6 des Programmes über den Gang einer wahrhaft anarchischen Revolution fallen zusammen mit denen des § 24 des Katechismus, Die Verdammung der Wissenschaft im § 3 des Katechismus findet sich wieder in allen schon erwähnten russischen Druckschriften. Die Verherrlichung des Räubers als des wahren revolutionären Vorbildes, in den „Worten" nur erst in schwachen Anfängen angedeutet, wird in allen anderen Schriften voll und ganz bekannt und gepredigt. Für die „fünfte Kategorie" in § 20 des Katechismus hat die „Formel der revolutionären Frage" die Bezeichnung der „Staats- und Kabinettsrevolutionäre". Auch da, wie im § 25 und 26, wird erklärt, daß es erste Pflicht des Revolutionärs sei, sich aufs Räubertum zu legen. Aber erst in den „Prinzipien der Revolution" und im „Volksgericht" beginnt man, die in den §§ 6, 8 und 26 des Katechismus befohlene Allzerstörung und den systematischen Mord, wie in den §§ 13, 15, 16 und 17 zu predigen.
3. Der Aufruf Bakunins an die Offiziere der russischen Armee
Indes schien Bakunin daran gelegen, daß kein Zweifel bleibe an seiner Mitschuld an der angeblichen Verschwörung Netschajews. Er veröffentlichte eine „Genf, Januar 1870" datierte und „Michail Bakunin" unterzeichnete Proklamation: „An die Offiziere der russischen Armee". Diese Proklamation, „Preis ein Frank", findet sich als Werk Bakunins in allen Nummern des „Kolokol" von 1870 angekündigt. Wir geben hier einige Auszüge. Sie kündigt zunächst an, wie es auch Netschajew in Rußland tat, daß „die Stunde des letzten Kampfes zwischen den Romanow-Holstein-Gottorp und dem russischen Volke, der Kampf zwischen dem tatarisch-deutschen Joche und der weiten slawischen Freiheit herannaht. Der Frühling ist an unserer Schwelle und in den ersten Tagen des Frühlings wird der Kampf beginnen... die revolutionäre Gewalt ist bereit und bei der tiefen und allgemeinen Unzufriedenheit der Massen, welche in diesem Augenblick in Rußland herrscht, ist sie ihres Triumphs sicher." Eine Organisation ist vorhanden, um die bevorstehende Revolution zu leiten, denn „eine geheime Organisation ist wie der Generalstab einer Armee, und diese Armee ist das ganze Volk". „ In meinem .Aufruf an die jungen russischen Brüder' sagte ich, daß der Stenka Rasin, der sich während der so sichtbar nahen Vernichtung des russischen Reiches an die Spitze der Volksmassen steilen wird, nicht mehr der individuelle Held, sondern ein Gesamt-Stenka-Rasin sein wird. Wer kein Tor ist, wird leicht begriffen haben, daß
ich von einer1 vorhandenen und bereits in diesem Augenblick tätigen Organisation sprach, die in ihrer Disziplin, in der leidenschaftlichen Hingebung und Selbstverleugnung ihrer Mitglieder und in dem blinden Gehorsam gegen ein einziges allwissendes, doch von niemandem gekanntes Komitee seine Stärke findet. Die Mitglieder dieses Komitees haben vollständig auf ihre eigene Persönlichkeit Verzicht geleistet; dies gibt ihnen das Recht, von allen Mitgliedern der Organisation eine gleiche absolute Entsagung zu verlangen. Sie haben in solchem Grade auf alles verzichtet, was sonst den Gegenstand der Begierde eitler, ehrgeiziger und machtgieriger Leute bildet, daß sie ein für allemal auf den individuellen Besitz der Gewalt, auf jede öffentliche oder offizielle Macht, ja im allgemeinen selbst auf das Bekanntwerden ihres Namen in der Gesellschaft verzichten und sich einer ewigen Verborgenheit hingeben, und, während sie anderen den offenkundigen Ruhm und Glanz des Werks überlassen, für sich nur, doch immer als Gesamtheit, das Wesen des Werkes aufheben1. Wie die Jesuiten, aber nicht zum Zwecke der Knechtung, sondern der Emanzipation des Volkes, hat jeder von ihnen selbst auf den eigenen Willen verzichtet. In dem Komitee wie in der ganzen Organisation ist es nicht das Individuum, welches denkt, will und handelt, sondern die Gesamtheit. Ein solcher Verzicht auf eigenes Leben, Denken und Wollen wird vielen unmöglich, ja selbst empörend scheinen. Es ist in der Tat schwer, ihn durchzusetzen, aber es ist unumgänglich notwendig. Besonders den Neulingen wil d es schwer erscheinen, die kaum in die Organisation eingetreten sind, den Leuten, die noch nicht die Gewohnheit geschwätziger und eitler Prahlerei abgelegt haben, Leuten, die nach Ehre, nach persönlicher Würde und nach Macht streben, und von allen denen, die sich von den jämmerlichen Phantomen einer erdichteten Humanität lenken lassen, Phantomen, hinter denen in der russischen Gesellschaft eine allgemeine Servilität gegenüber der gemeinsten und verworfensten Wirklichkeit sich zeigt. Dieser Verzicht wird denen peinlich erscheinen, die in dem großen Werke nur die Befriedigung ihrer Eigenliebe, nur eine Gelegenheit zum Phrasendrechseln suchen und die nicht das Werk um des Werkes willen lieben, sondern wegen der theatralischen Aufspreizung ihrer eigenen Person. Jedes neue Mitglied tritt aus freien Stücken in unsere Organisation ein und weiß im voraus, daß es, einmal eingetreten, nicht mehr sich, sondern ganz ihr angehört. Der Eintritt in die Organisation ist frei, der Austritt aber unmöglich, denn jedes austretende Mitglied würde die Existenz der Organisation selbst unzweifelhaft gefährden, und diese darf nicht von dem Leichtsinn und der Laune, oder der größeren oder geringeren Zuverlässigkeit, Ehrenhaftigkeit und Macht eines oder mehrerer Individuen abhängen... Wer ihr daher angehören will, muß im voraus wissen, daß er sich ihr vollständig hingibt, mit allem, was er an Kräften, Mitteln und Wissen besitzt, ja mit seinem ganzen Leben und das unwiderruflich... Es ist dies klar und deutlich in ihrem Programm auseinandergesetzt; dasselbe ist veröffentlicht und ist bindend für alle Mitglieder des Komitees wie für alle, die nicht zum Komitee gehören... Ist ein Mitglied wirklich
1 In der französischen Ausgabe: behüten
28 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
von der" (revolutionären) „Leidenschaft durchdrungen, so wird ihm alles leicht erscheinen, was die Organisation von ihm verlangt. Es ist eine bekannte Sache, daß es für die Leidenschaft keine Schwierigkeiten gibt; sie kennt keine Unmöglichkeit; je größer die Hindernisse sind, desto stärker wird auch der Wille, die Kraft und das Geschick des Leidenschaftlichen angespannt. Die kleinen persönlichen Leidenschaften finden bei dem von der' (revolutionären) „Leidenschaft Besessenen nicht einmal Raum, er brauchte jene nicht einmal zu opfern, weil sie bei ihm nicht mehr vorhanden sind. Ein zuverlässiges Mitglied der Assoziation hat bereits jedes Gefühl der Neugier in sich erstickt und verfolgt diesen Fehler unbarmherzig bei allen andern. Obgleich er sich jeden Vertrauens würdig weiß und gerade Weil er desselben würdig ist, d. h., weil er ein zuverlässiger Mann ist, strebt er nicht danach, ja wünscht nicht einmal mehr zu wissen, als für ihn zur möglichst guten Ausführung der ihm anvertrauten Aufgabe notwendig ist. Er spricht über die Geschäfte nur mit den ihm bezeichneten Personen und sagt nur das, was ihm in den erhaltenen Befehlen vorgeschrieben ist; überhaupt richtet er sich streng und unbedingt nach den von oben ihm zugehenden Befehlen und Verfügungen, ohne zu fragen oder auch nur sich zu erkundigen, in welchem Grade der Organisation er sich befinde; er wird natürlich den Wunsch hegen, daß ihm so viel Geschäfte wie möglich übertragen werden, jedoch nichtsdestoweniger mit Geduld den Augenblick abwarten, wo man ihm eins anvertraut. Eine so starre und absolute Disziplin mag einem Neuling wunderbar vorkommen und ihn selbst erstaunen; ein zuverlässiges Mitglied, einen wirklich starken und verständigen Mann wird sie weder überraschen noch verletzen, sie wird ihm im Gegenteil Freude machen und ihm eine Bürgschaft für seine Sicherheit sein, vorausgesetzt, daß er unter dem Einflüsse jener alles absorbierenden Leidenschaft des Volkssieges steht, von der ich oben gesprochen. Ein ernsthaftes Mitglied wird begreifen, daß solche Disziplin das notwendige Unterpfand für die verhältnismäßige Unpersönlichkeit jedes Mitgliedes ist, die wiederum die conditio sine qua non des gemeinschaftlichen Triumphes ist; es wird begreifen, daß diese Disziplin allein imstande ist, eine wirkliche Organisation zu bilden und eine vereinigte Revolutionsmacht zu schaffen, die, gestützt auf die elementare Macht des Volkes, imstande sein wird, die furchtbare Gewalt der Staatsorganisation zu besiegen. Man wird vielleicht fragen: wie kann man sich der diktatorischen Leitung eines uns unbekannten Komitees unterwerfen? Aber das Komitee ist euch bekannt, und zwar zunächst durch das Programm, welches es veröffentlicht hat, das mit solcher Klarheit und Bestimmtheit abgefaßt ist und das jedem in die Organisation eintretenden Mitgliede noch mehr im einzelnen auseinandergesetzt wird. Das Komitee empfiehlt sich euch aber zweitens durch das blinde Vertrauen, welches ihm Personen, euch bekannte, von euch geachtete, schenken, dasselbe Vertrauen, das euch dieser Organisation den Vorzug geben läßt vor jeder anderen. Das Komitee gibt sich den tätigen Mitgliedern der Organisation noch weiter zu erkennen durch seine unermüdliche, entschlossene Tätigkeit, die sich überallhin erstreckt und stets dem Programm und dem Zwecke der Organisation entspricht. Und jedermann unterwirft sich gern seiner Autorität, indem er durch die Praxis selbst mehr und mehr einesteils von seiner wahrhaft staunen
erregenden Voraussicht überzeugt wird, von seiner Wachsamkeit, von seiner mit Vorsicht gepaarten Energie und von seinem Geschick, die zutreffenden Maßregeln dem Zwecke anzupassen, und andernteils von der Notwendigkeit und heilsamen Wirkung einer solchen Disziplin. Man könnte an mich die Frage stellen: wenn der Personenbestand des Komitees ein undurchdringliches Geheimnis für alle Welt bleibt, wie hast du dich denn über dasselbe unterrichten und dich von seinem wirklichen Werte überzeugen können? Ich antworte freimütig auf diese Frage. Ich kenne kein einziges von den Mitgliedern dieses Komitees, nicht einmal ihre Zahl oder ihren Sitz. Ich weiß nur eins, daß es sich nicht im Auslande befindet, sondern in Rußland, wie es sein muß, denn ein russisches revolutionäres Komitee, das im Auslande seinen Sitz hat, ist ein Unsinn, den nur das Gehirn sinnloser und dummehrgeiziger Phrasenschmiede aushecken kann, die zur Emigration gehören und ihren lächerlich eitlen und boshaft intriganten Müßiggang unter dem volltönenden Namen der .Volkssache' * verbergen. Nach der Adelsverschwörung der Dekabristen" (1825) „wurde der erste ernste Versuch einer Organisation von Ischutin und Genossen gemacht. Die gegenwärtige Organisation ist die erste Organisation der revolutionären Kräfte von ganz Rußland, die wirklich gelungen ist. Sie hat alle Vorbereitungen, alle Erfahrungen benutzt; keine Reaktion wird sie zur Auflösung zwingen; sie wird alle Regierungen überleben und ihre Tätigkeit erst dann enden, wenn ihr Programm zum Alltagsleben der Russen und der gesamten Welt geworden ist. Vor nahe einem Jahr hielt es das Komitee für nützlich, mich von seiner Existenz zu benachrichtigen, und schickte mir sein Programm nebst einer Darlegung des allgemeinen Plans für die revolutionäre Tätigkeit in Rußland. Da ich mit beiden vollständig übereinstimmte und mich überzeugt hatte, daß das Unternehmen ebensogut wie die Männer, welche die Initiative ergriffen haben, einen durchaus ernstlichen Charakter hat, so tat ich, was nach meiner Meinung jeder ehrenhafte Flüchtling tun mußte: ich habe mich der Autorität des Komitees als des einzigen Vertreters und Leiters der Revolution in Rußland bedingungslos unterworfen. Wenn ich mich heute an euch wende, so gehorche ich damit nur den Befehlen des Komitees. Mehr kann ich euch nicht sagen. Ich will nur noch ein Wort in dieser Sache hinzufügen. Der Plan der Organisation ist mir genügend bekannt, um mir die Überzeugung zu gewähren, daß keine Macht mehr imstande ist, sie zu vernichten. Selbst wenn die Volkspartei eine neue Niederlage im nächsten Kampfe erleiden sollte - was niemand unter uns befürchtet, wir glauben sämtlich an den nahe bevorstehenden Triumph des Volks -, ja, wenn selbst unsere Hoffnung getäuscht würde, so würde dennoch unter den schrecklichsten Unterdrückungsmaßregeln, inmitten der wildesten Reaktion die Organisation wohlbehalten und ungeschädigt bleiben...
* Der Leser wird sich erinnern, daß dies der Titel eines internationalen russischen Blattes war, das in Genf von einigen jungen Russen herausgegeben wurdet326!, die genau wußten, woran in betreff des angeblichen Komitees und der Organisation Bakunins sich zu halten.
Die Grundlage des Programms ist die breiteste, die humanste: vollständige Freiheit und vollständige Gleichheit aller Menschen, gegründet auf gemeinsamem Eigentum und gemeinsamer Arbeit, die gleich obligatorisch für alle ist, mit Ausnahme natürlich derjenigen, welche es vorziehen, ohne Arbeit zu verhungern. Dies ist auch das gegenwärtige Programm der Arbeiterwelt aller Länder, und dieses Programm entspricht den hundertjährigen Forderungen und Instinkten unseres Volks... Als die Mitglieder unserer Organisation dies Programm den Leuten aus niederem Volke vorlegten, waren sie ganz erstaunt zu sehen, wie schnell und überall diese es begreifen und mit welcher glühenden Begeisterung sie es annehmen. Also das Programm ist fertig, es ist unveränderlich. Wer für dieses Programm ist, wird mit uns gehen. Wer wider uns ist, der ist der Freund der Gegner des Volks, der Gensdarm des Zaren, der Henker des Zaren, unser Feind... Ich habe euch gesagt, daß unsere Organisation so fest gegründet ist, und ich füge jetzt hinzu, daß sie so tief im Volke Wurzel geschlagen hat, daß, selbst wenn wir eine Niederlage erleiden, die Reaktion ohnmächtig ist, sie zu zerstören... Die servile Presse, den Befehlen der dritten Sektion gehorsam, gibt sich Mühe, dem Publikum einzureden, daß es der Regierung gelungen, die Verschwörung an ihrer Wurzel selbst zu fassen. Man hat durchaus nichts gefaßt. Das Komitee und die Organisation sind unangetastet und werden es stets bleiben; die Regierung wird sich bald davon überzeugen, denn der Ausbruch des Volksaufstands steht nahe bevor. Er ist so nahe gerückt, daß jeder sich jetzt entscheiden muß, ob er unser Freund, der Freund des Volkes, oder unser Feind und der des Volkes sein will. Allen Freunden, welchen Platz oder welche Stellung sie auch einnehmen mögen, stehen unsere Reihen offen. Aber wie soll man uns finden, werdet ihr fragen. Die Organisation, welche euch von allen Seiten umgibt, die unter euch zahlreiche Anhänger zählt, wird von selbst denjenigen herausfinden, der sie sucht mit dem aufrichtigen Wunsche und dem festen Willen, der Sache des Volks zu dienen. Wer nicht für uns ist, der ist wider uns. Wählt!" In dieser mit seinem Namen unterzeichneten Broschüre stellt sich Bakunin, als ob er den Ort und die Zusammensetzung des Komitees, in dessen Namen er spricht und in dessen Namen Netschajew in Rußland gehandelt hat, nicht kenne. Und doch ist die einzige Vollmacht, welche Netschajew hatte, um im Namen dieses Komitees zu handeln, unterzeichnet: Michail Bakunin, und der einzige Mann, der Berichte über die Sektionen erhielt, war wieder Michail Bakunin. Wenn also Michail Bakunin dem Komitee unbedingten Gehorsam gelobt, nun so schwört er, niemand anders gehorchen zu wollen als eben Michail Bakunin. Wir halten es für unnütz, die vollständige Identität der Tendenzen und selbst der Ausdrücke dieser von Bakunin unterzeichneten Schrift mit den anderen anonymen russischen Dokumenten noch weiter nachzuweisen. Wir wollen nur die Art und Weise hervorheben, in welcher Bakunin hier die Moral des Katechismus in Anwendung bringt. Zuerst predigt er diese
Moral den russischen Offizieren; er erklärt ihnen, daß er und die anderen Eingeweihten sowohl eine Pflicht vollbracht, wie eine Lücke ausgefüllt haben, indem sie sich als die Jesuiten der Revolution konstituierten, und daß sie gegenüber dem Komitee nicht mehr persönlichen Willen haben, als der bekannte „Leichnam" der Gesellschaft Jesu. Und damit sie nicht durch die Ermordung Iwanows abgeschreckt werden, sucht er ihnen die Notwendigkeit begreiflich zu machen, jedes Mitglied zu ermorden, das aus der geheimen Gesellschaft austreten will. Dann wendet er diese selbe Moral seinen Lesern gegenüber an, indem er ihnen unverschämt vorlügt. Er wußte, daß die Regierung nicht bloß alle Eingeweihten in Rußland verhaftet hatte, sondern sogar noch eine zehnfach größere Anzahl von Netschajew kompromittierter Personen von der bekannten „fünften Kategorie" des Katechismus; er wußte, daß in Rußland auch nicht der Schatten einer Organisation bestand, daß das Komitee ebensowenig daselbst existierte, wie es jemals außer in der Person Netschajews, der sich damals bei ihm in Genf befand, daselbst existiert hatte; er wußte auch, daß diese Broschüre nicht einen einzigen Anhänger in Rußland gewinnen würde, daß sie der Regierung nur einen Vorwand zu neuen Verfolgungen bieten könnte; dennoch proklamiert er, daß die Regierung durchaus nichts abgefaßt hat, daß das Komitee noch immer seinen Sitz in Rußland hat und daselbst eine unermüdliche, entschlossene, sich nach allen Seiten hin erstreckende Tätigkeit, wahrhaft bewundernswürdige Voraussicht, Wachsamkeit, eine mit Vorsicht gepaarte Energie und eine staunenerregende Geschicklichkeit (die Aussagen im Prozeß zeigen es) entwickelt, daß seine geheime Organisation, die einzige ernste, welche in Rußland seit 1825 existiert, unangetastet dasteht, daß sie in das niedere Volk gedrungen, welches mit glühender Begeisterung ihr Programm annimmt, daß sie bereits die Offiziere von allen Seiten umgibt, daß die Revolution bereits vor der Türe steht, daß sie in einigen Monaten, im Frühjahr 1870 ausbrechen wird. Die Eitelkeit, seiner Person eine „theatralische Aufspreizung" vor seinen säubern internationalen Brüdern und vor seinem Spiegel zu geben, ist es allem, die Bakunin bewegt, wenn er seine lügnerischen Großprahlereien an die Russen richtet unter dem Vorgeben, „auf das eigene Leben, Denken und Wollen verzichtet" zu haben und erhaben zu sein über die „geschwätzige und eitle Prahlerei" der „Leute, die nach Ehre, nach persönlicher Würde und nach Recht streben".
Dieser selbe Mann, der 1870 den Russen blinden, unbedingten Gehorsam predigt gegenüber Befehlen, die von oben herab von einem unbekannten namenlosen Komitee kommen, der erklärt, daß die jesuitische Disziplin die notwendige Bedingung des Sieges, daß sie allein fähig sei, die furchtbare
Zentralisation des Staats, und zwar nicht bloß des russischen, sondern jedes Staates zu besiegen; der einen Kommunismus verkündigt, der autoritärer ist als der primitivste Kommunismus - dieser selbe Mann zettelt im Jahre 1871 im Schöße der Internationalen eine separatistische und desorganisierende Bewegung an, unter dem Vorwande, den Autoritarismus und die Zentralisation der deutschen Kommunisten zu bekämpfen, die Autonomie der Sektionen, die freie Föderation autonomer Gruppen zu bilden und aus der Internationalen das zu machen, was sie sein sollte: das Bild der zukünftigen Gesellschaft. Wenn die künftige Gesellschaft nach dem Muster der Allianz, russischer Sektion, eingerichtet würde, dann würde sie das Paraguay der Ehrwürdigen Jesuiten-Patres188511 weit überbieten.
IX
Schluß
Während die Internationale der Arbeiterklasse der verschiedenen Länder die vollste Freiheit in ihren Bewegungen und Bestrebungen ließ, brachte sie es gleichzeitig fertig, die Gesamtarbeiterklasse zu einem Bunde zu vereinigen und zum ersten Male den herrschenden Klassen und ihren Regierungen die kosmopolitische Macht des Proletariats fühlbar zu machen. Die herrschenden Klassen und die Regierungen haben diese Tatsache anerkannt dadurch, daß sie ihre Angriffe auf das exekutive Organ unserer Gesamtorganisation, den Generalrat, konzentrierten. Diese Angriffe wurden mehr und mehr verschärft seit dem Falle der Kommune. Und gerade diesen Augenblick wählten die Allianzisten, um ihrerseits dem Generalrat offenen Krieg zu erklären! Ihnen zufolge war sein Einfluß, diese mächtige Waffe in den Händen der Internationalen, nur eine gegen die Internationale gerichtete Waffe. Dieser Einfluß war die Frucht1 eines Kampfes, der nicht gegen die Feinde des Proletariats, sondern gegen die Internationale selbst geführt worden war. Sie behaupteten, die herrschsüchtigen Bestrebungen des Generalrats hätten den Sieg über die Autonomie der Sektionen und Nationalföderationen davongetragen. Es blieb demnach nichts weiter übrig, als die Internationale zu enthaupten, um die Autonomie zu retten. In der Tat, die Männer der Allianz wußten, daß, wenn sie nicht diesen entscheidenden Augenblick ergriffen, es um die von den hundert internationalen Brüdern geträumte geheime Leitung der Arbeiterbewegung geschehen war. Ihre Angriffe fanden ein beifälliges Echo in der Polizeipresse aller Länder. Ihre hochtönenden Phrasen von Autonomie und freier Föderation, überhaupt ihr Kriegsgeschrei gegen den Generalrat waren nichts weiter als ein Kunstgriff zur Maskierung ihres wahren Zwecks: die Internationale zu
desorganisieren und sie eben dadurch der geheimen, hierarchischen und autokratischen Regierung der Allianz zu unterwerfen. Autonomie der Sektionen, freie Föderation autonomer Gruppen, Anti» autoritarismus, Anarchie - das sind Phrasen, welche gar wohl anstehen einer „Gesellschaft von .Deklassierten' ohne Beruf und ohne Ausweg" (sans carriere, sans issue), einer Gesellschaft, die im Schöße der Internationalen konspiriert, um diese einer geheimgehaltenen Diktatur zu unterwerfen und ihr das Programm des Herrn Bakunin aufzudrängen! Wenn man von diesem Programm die melodramatischen Füttern ablöst, so kommt es auf folgendes heraus: 1. Alle Scheußlichkeiten, in denen sich nun einmal, wie durch Schicksalsschluß, das Leben der Deklassierten der höheren gesellschaftlichen Schichten bewegt, werden als ebenso viele ultrarevolutionäre Tugenden gepriesen. 2. Man stellt die Notwendigkeit als Grundsatz auf, eine kleine, gut ausgesuchte Minderzahl von Arbeitern zu verlocken; diesen schmeichelt man, indem man sie durch geheimnisvolle Einweihung von den Massen trennt, sie an dem betrügerischen Intrigenspiel der Geheimregierung teilnehmen läßt und ihnen vorpredigt, daß sie die alte Gesellschaft durch und durch umstürzen, wenn sie ihren „bösen Leidenschaften" freien Lauf lassen. 3. Die Hauptmittel der Propaganda bestehen darin, daß man die Jugend durch erdichtete Schilderungen - Lügen über die Ausdehnung und Macht der geheimen Gesellschaft,Prophezeiungen vom nahe bevorstehenden Ausbruch der von ihr vorbereiteten Revolution etc. - verleitet und den Regierungen gegenüber die vorgeschrittensten Männer der besitzenden Klassen kompromittiert, um sie pekuniär auszubeuten. 4. An die Stelle des ökonomischen und politischen Kampfes der Arbeiter um ihre Emanzipation treten die allzerstörenden Taten des Zuchthausgesindels, als der höchsten Verkörperung der Revolution. Mit einem Worte, man muß das bei den „Revolutionen nach dem klassischen Muster des Westens" von den Arbeitern selbst niedergehaltene Lumpentum loslassen und so aus eigenem Antrieb den Reaktionären eine wohldisziplinierte Bande von Agents provocateur zur Verfügung stellen. Es ist schwer zu entscheiden, welches von beiden in den theoretischen Phantasien und praktischen Anläufen der Allianz mehr vorherrscht, das Groteske oder das Infame. Nichtsdestoweniger ist es ihr gelungen, im Schöße der Internationalen einen heimlichen Kampf hervorzurufen, der zwei Jahre lang die Tätigkeit unserer Assoziation gehemmt und schließlich zum Abfall eines Teils der Sektionen und Föderationen geführt hat. Die
vom Haager Kongreß gegen die Allianz gefaßten Beschlüsse waren daher reine Handlungen der Pflicht, er konnte nicht die Internationale, diese große Schöpfung des Proletariats, in den Fallstricken des Auswurfs der Ausbeuterklassen sich verfangen lassen. Was diejenigen anlangt, die dem Generalrat die Befugnisse abnehmen wollen, ohne welche die Internationale nur eine zerstreute, zusammenhanglose und, um die Sprache der Allianz zu reden, „amorphe" Masse wäre, so können wir in ihnen nur Verräter oder Gimpel sehen.
London, den 21. Juli 1873
Die Kommission: E.Dupont, F.Engels, Leo Frankel, A. Le Moussu, Karl Marx, Aug. Serraillier
X
Anhang zur Allianz in Rußland
1. Die Hegira1 Bakunins
Im Jahre 1857 wurde Bakunin nach Sibirien geschickt, nicht zur Zwangsarbeit, wie er in seinen Berichten glauben machen will, sondern nur in die einfache Verbannung. Gouverneur von Sibirien war zu jener Zeit der Graf Murawjow-Amurski, ein Verwandter des Henkers von Polen und Vetter Bakunins. Dank dieser Verwandtschaft, dank auch seinen der Regierung erwiesenen Diensten, erfreute sich Bakunin einer ausnahmsweisen und begünstigten Stellung. Um diese Zeit befand sich in Sibirien Petraschewski, der Organisator und Hauptführer des Komplotts von I849.[3361 Bakunin setzte sich zu ihm in offene Feindschaft und versuchte, ihm auf jede Weise zu schaden, was für den Vetter des sibirischen Vize-Kaisers eine leichte Sache war. Diese Verfolgung Petraschewskis gab Bakunin neue Ansprüche auf Vergünstigungen seitens der Regierung. Eine dunkle Geschichte, die in Sibirien und Rußland viel von sich reden machte, brachte den Kampf der beiden Verbannten zum Abschluß. Das Verhalten eines hohen Beamten, der den Liberalen spielte, hatte zu mancherlei Bemerkungen Anlaß gegeben, in ihrem Gefolge brach in der Umgebung des Vize-Kaisers ein Gewitter los, das zu einem tödlichen Duell führte. Nun trug diese ganze Affäre so sehr den Charakter persönlicher Intrigen und betrügerischer Ränke an sich, daß die ganze Bevölkerung in Aufregung geriet und die höchsten Beamten beschuldigte, das Opfer des Duells, einen jungen Freund Petraschewskis, ermordet zu haben. Die Bewegung nahm solche Verhältnisse2 an, daß die Regierung einen Volksaufstand fürchtete. Da übernahm Bakunin die Verteidigung der hohen Beamten, namentlich auch Murawjows. Er benutzte seinen Einfluß,
um Petraschewski nach einer entlegeneren Gegend verbannen zu lassen, und verteidigte dessen Verfolger in einer langen von ihm verfaßten, aber nur „als Zeuge" unterzeichneten und an Herzen gesandten Korrespondenz. Herzen ließ bei der Veröffentlichung im „Kolokol" alle Angriffe gegen Petraschewski fort; aber in Petersburg hatte man unterwegs eine Abschrift von dem Artikel genommen, die nun im Manuskript zirkulierte und den Originaltext bekanntmachte. Die sibirischen Kaufleute, im allgemeinen liberaler als die des eigentlichen Rußlands, wollten in ihrem Lande eine Universität gründen, um nicht mehr nötig zu haben, ihre Kinder nach den entlegenen Hochschulen jenseits des Ural1 zu schicken, und um einen eigenen geistigen Mittelpunkt für Sibirien zu schaffen. Hierzu bedurften sie der kaiserlichen Genehmigung. Murawjow widersetzte sich auf Anraten und Zureden Bakunins diesem Projekte. Der Haß Bakunins gegen die Wissenschaft ist von altem Datum. Diese Tatsache ist in Sibirien allgemein bekannt. Bakunin wurde hierüber bei mehreren Gelegenheiten von Russen zur Rede gestellt, und da er nicht leugnen konnte, so erklärte er stets sein Verhalten damit, daß er, mit den Vorbereitungen zu seiner Flucht beschäftigt, habe suchen müssen, die Gunst seines Vetters, des Gouverneurs, zu verdienen. Nicht allein für sich brauchte und mißbrauchte Bakunin die Begünstigungen der Regierung; er ließ sie dieselben auch für ein geringes Trinkgeld auf Kapitalisten, Unternehmer und Generalpächter regnen. Die bei den Opfern Netschajews mit Beschlag belegten und von der Regierung 1869 und 1870 veröffentlichten Proklamationen Bakunins enthielten Proskriptionslisten, in die auch der bekannte Katkow, Chefredakteur der „Moskauer Zeitung"13371, eingetragen war. Dieser rächte sich, indem er in seinem Blatte folgende Enthüllung veröffentlichte: Katkow besitzt Briefe von Bakunin, datiert aus London nach seiner Rückkehr von Sibirien, in denen Bakunin an Katkow, seinen alten Freund, die Bitte richtet, ihm einige tausend Rubel vorzuschießen. Bakunin bekennt, daß er bei seinem Aufenthalt in Sibirien von einem Branntwein-Generalpächter einen Jahresgehalt bezog, den derselbe ihm zahlte, um sich durch seine Vermittlung die Gunst des Gouverneurs zu sichern. Dieser unredliche Lohn (den er seit seiner Flucht nicht mehr bezog) lastete ihm auf dem Gewissen, und er wünschte dem Generalpächter das diesem abgezapfte Geld zurückzuschicken. Zur Ausführung dieses guten Werks erbat er den Vorschuß von seinem Freunde Katkow. Katkow schlug ab.
In der Zeit, wo Bakunin diese Bitte an seinen alten Freund Katkow richtete, hatte dieser sich bereits lange seine Sporen im Dienste der dritten Sektion verdient, und sein Blatt zu Denunziationen hergegeben gegen die russischen Revolutionäre, besonders Tschernyschewski, sowie gegen die polnische Revolution. Also im Jahre 1862 erbat Bakunin Geld von einem Menschen, von dem er wußte, daß er Denunziant und literarischer Buschklepper im Solde der russischen Regierung war. Bakunin hat nie gewagt, diese so schwere Beschuldigung Lügen zu strafen. Versehen mit Geld - wir wissen, durch welche Mittel es erworben - und im Genuß der hohen Protektion des Gouverneurs, konnte Bakunin seine Flucht auf die einfachste Weise ausführen. Nicht nur gab man ihm einen Paß zum Herumreisen in Sibirien auf seinen Namen, sondern obendrein die offizielle Mission, das Land bis zur äußersten östlichen Grenze zu besichtigen. Einmal im Hafen von Nikolajewsk angelangt, kam er ohne Schwierigkeit nach Japan, von wo er sich ruhig nach Amerika einschiffen und Ende 1861 in London anlangen konnte. So vollzog sich die wunderbare Hegira dieses neuen Mohammed.
2. Das panslawistische Manifest Bakunins
Am 3.März 1861 hatte Alexander II. unter dem Beifallsgejubel des gesamten liberalen Europas die Aufhebung der Leibeigenschaft proklamiert. Die Bemühungen Tschernyschewskis und der revolutionären Partei, die Aufrechterhaltung des Gemeindebesitzes an Grund und Boden durchzusetzen, hatten zwar Erfolg gehabt, aber in so wenig befriedigender Weise, daß Tschernyschewski bereits vor der Proklamierung der Aufhebung der Leibeigenschaft traurig eingestand:
„Hätte ich gewußt, daß die von mir aufgeworfene Frage eine solche Lösung erhalten würde, so wäre mir eine Niederlage lieber gewesen als solch ein Sieg. Ich hätte es vorgezogen, daß man gehandelt hätte, wie es die erste Absicht war, ohne irgendwie auf unsere Forderungen Rücksicht zu nehmen." In der Tat war der Emanzipationsakt nur ein Taschenspielerstreich. Das Land wurde zum großen Teil seinen wirklichen Besitzern genommen und das System des Rückkaufs des Bodens durch die Bauern proklamiert. Aus diesem Akt zaristischer Täuschung schöpften Tschernyschewski und seine Partei ein neues unwiderlegliches Argument gegen die kaiserlichen Reformen. Der sich zur Fahne Herzens schlagende Liberalismus brüllte aus Leibeskräften: „Du hast gesiegt, Galiläer!" Galiläer bedeutete in ihrem
Munde Alexander II. - Diese liberale Partei, deren Hauptorgan Herzens „Kolokol" war, wußte seit diesem Augenblick nichts als das Lob des Zaren, des Befreiers, zu singen, und um die öffentliche Aufmerksamkeit von den Klagen und Einsprüchen abzulenken, die jener volksfeindliche Akt hervorrief, ersuchte sie den Zaren, sein Emanzipationswerk fortzusetzen und einen Kreuzzug zu beginnen zur Befreiung der unterdrückten slawischen Völker, zur Verwirklichung des Panslawismus. Im Sommer 1861 entlarvte Tschernyschewski in der Revue „Der Zeitgenosse" (Sovremennik) 13381 die Umtriebe der Panslawisten und sagte den slawischen Völkern die Wahrheit über den Stand der Dinge in Rußland sowie über die interessierte Reaktionswut1 ihrer falschen Freunde, der Panslawisten. Da glaubte Bakunin, eben von Sibirien zurückgekehrt, den Augenblick gekommen, um sich vorzuschieben. Er schrieb den ersten Teil eines langen Manifestes, veröffentlicht als Beiblatt zum „Kolokol" vom 15. Februar 1862 unter dem Titel: „An die russischen, polnischen und sämtliche slawischen Freunde." Der zweite Teil ist niemals erschienen. Das Manifest führt sich ein mit folgender Erklärung: „Ich habe mir den Mut des allerobernden Gedankens bewahrt, und in meinem Herzen, meinem Willen und meiner Leidenschaft bin ich den Freunden, der großen gemeinsamen Sache, mir selbst treu geblieben... Ich erscheine jetzt vor euch, meine alten erprobten Freunde, und vor euch jungen Freunde, die ihr in demselben Gedanken, in demselben Willen lebt wie wir, und ich bitte euch: nehmt mich von neuem in eure Mitte auf; möge es mir vergönnt sein, unter euch und zusammen mit euch den ganzen Rest meines Lebens zu weihen dem Kampfe für die russische Freiheit, für die polnische Freiheit, für die Freiheit und Unabhängigkeit aller Slawen." Wenn Bakunin diese demütige Bitte an seine alten und jungen Freunde richtet, so tut er es, weil es „ein schlimmes Ding ist, seine Tätigkeit in fremdem Lande auszuüben. Ich habe dies nur zu sehr erprobt in den Revolutionsjahren; weder in Frankreich, noch in Deutschland habe ich Wurzel schlagen können. Und so widme ich auch ferner der fortschrittlichen Bewegung der gesamten Welt meine glühende Sympathie; um jedoch den Rest meines Lebens nicht zu vergeuden, muß ich von jetzt an meine direkte Tätigkeit auf Rußland, Polen und die Slawen beschränken. Diese drei heute2 getrennten Welten sind unzertrennbar in meiner Liebe und meinem Glauben." Im Jahre 1862, also vor elf Jahren, im Alter von 51 Jahren bekannte der große Anarchist Bakunin den Staatskultus und den panslawistischen Patriotismus.
1 In der französischen Ausgabe: über den interessierten Obskurantismus — 2 in der französischen Ausgabe fehlt: heute
„Bis zur Gegenwart hat das großrussische Volk, man kann sagen ausschließlich, von dem nach außen gerichteten Leben des Staates gelebt. Wie drückend auch immer seine Lage nach innen sein mochte, wie sehr diese es auch zur äußersten Verarmung und Sklaverei führte, trotzdem blieb es erfüllt von Liebe für die Einheit, Größe und Macht Rußlands und für diese Prinzipien war es zu allen Opfern bereit. So entwickelte sich im großrussischen Volke das Staatsbewußtsein und ein Patriotismus, nicht der Phrase, sondern der Tat. Daher erhielt sich unter allen slawischen Nationalitäten allein das großrussische Volk unversehrt, es allein erhielt sich aufrecht in Europa und ließ dieses seine Macht fühlen... Glaubt nicht, daß es den berechtigten Einfluß und die politische Macht verlieren werde, die es nur durch Kämpfe errungen hat, Kämpfe, geführt durch drei Jahrhunderte und mit der Selbstverleugnung des Märtyrers, nur um den unversehrten Bestand seines Staates zu retten... Verweisen wir die Tataren nach Asien und die Deutschen nach Deutschland, und seien wir ein freies, ein rein russisches Volk..."
Zur besseren Beglaubigung dieser panslawistischen Propaganda, die im Kreuzzuge gegen die Tataren und Deutschen gipfelt, verweist Bakunin seine Leser auf den Kaiser Nikolaus:
„Man sagt, daß selbst der Kaiser Nikolaus kurz vor seinem Tode, als er sich anschickte, Österreich den Krieg zu erklären, alle österreichischen und türkischen Slawen, die Ungarn und die Italiener zum allgemeinen Aufstande aufrief1. Er selbst hatte den orientalischen Krieg gegen sich heraufbeschworen und, um sich zu verteidigen, hätte er sich fast aus einem despotischen Kaiser in einen revolutionären verwandeln mögen. Man sagt, daß seine Proklamationen an die Slawen, darunter ein Aufruf an die Polen, bereits unterzeichnet waren. Trotz all seines Hasses gegen Polen begriff er, daß ohne dasselbe der slawische Aufstand unmöglich war... er bezwang seine Abneigung bis zu dem Grade, daß er2 bereit war, die unabhängige Existenz Polens anzuerkennen, aber... nur jenseits der Weichsel." Derselbe Mann also, der seit 1868 in Internationalismus macht, predigte noch 1862 den Racenkrieg im Interesse der russischen Regierung. Der Panslawismus ist eine Erfindung des Petersburger Kabinetts und hat keinen andern Zweck als den, die europäischen Grenzen Rußlands nach Westen und Süden vorzuschieben. Da man aber nicht wagt, den österreichischen, preußischen und türkischen Slawen ihren Beruf anzukündigen, im großen russischen Reich aufzugehen, stellt man ihnen Rußland als die Macht dar, welche sie vom fremden Joche befreien und in einer großen freien Föderation vereinigen wird. Der Panslawismus ist demnach verschiedener Schattierungen fähig, vom Panslawismus des Kaisers Nikolaus bis zu dem Bakunins; aber alle laufen sie auf dieselbe Tendenz hinaus und stehen
1 Im „Kolokol": aufrufen wollte - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: sagt man
im Grunde in inniger Harmonie, wie die eben angeführte Stelle beweist. Das Manifest, das uns jetzt beschäftigen wird, läßt hierüber keinen Zweifel mehr,
3. Bakunin und der Zar
Wir haben gesehen, daß in Rußland, bei Gelegenheit der Aufhebung der Leibeigenschaft der Krieg zwischen der liberalen und der revolutionären Partei ausgebrochen war. Um Tschernyschewski, den Führer der revolutionären Partei, reihte sich eine ganze Phalanx Publizisten, eine zahlreiche Gruppe Offiziere und die Jugend der Hochschulen. Die liberale Partei war vertreten durch Herzen, einige Panslawisten und eine große Anzahl friedlicher Reformatoren und Bewunderer Alexanders II. Die Regierung gewährte der liberalen Partei ihre Unterstützung. Im März 1861 hatte die Jugend der russischen Universitäten sich energisch für die Befreiung Polens ausgesprochen; im Herbst 1861 hatte sie versucht, dem Staatsstreiche Widerstand zu leisten, der mittelst disziplinarischer und fiskalischer Maßregelungen den armen Studierenden (über zwei Drittel der Gesamtzahl) die Möglichkeit rauben sollte, am höheren Unterricht teilzunehmen. Die Regierung behandelte ihre Proteste als Erneute; in Petersburg, Moskau, Kasan werden Hunderte junge Leute ins Gefängnis geworfen, von den Universitäten vertrieben oder nach dreimonatlicher Haft ausgestoßen. Und aus Furcht, daß diese jungen Leute die Mißstimmung der Bauern verschärfen könnten, verbot eine Entscheidung des Staatsrats den Ex-Studenten jeden Zutritt zu öffentlichen Ämtern auf dem Lande. Die Verfolgungen hörten hiermit nicht auf. Man verbannt Professoren wie Pawlow; man schließt die von den aus den Universitäten ausgeschlossenen Studenten organisierten öffentlichen Vorlesungen; man beginnt unter den nichtigsten Vorwänden neue Verfolgungen; die kaum genehmigte „Kasse der studierenden Jugend" wird plötzlich aufgehoben; Zeitungen werden suspendiert. Alles dies versetzt die radikale Partei in die höchste Entrüstung und Aufregung und zwingt sie, zur heimlichen Presse ihre Zuflucht zu nehmen. Es erschien das Manifest dieser Partei unter dem Titel „Das junge Rußland" mit einem Motto aus Robert Owens Schriften.[339] Dieses Manifest gab eine klare und deutliche Darstellung der inneren Lage des Landes, des Zustandes der verschiedenen Parteien und der Presse, und schloß daraus, indem es den Kommunismus proklamierte, auf die Notwendigkeit einer sozialen Revolution. Es forderte alle tüchtigen Leute auf, sich um die radikale Fahne zu scharen.
Kaum halte dies Manifest die heimliche Presse verlassen, als durch ein verhängnisvolles Zusammentreffen (insofern die Polizei nicht ihre Hand dabei im Spiele hatte) zahlreiche Feuersbrünste in Petersburg ausbrachen. Die Regierung und die reaktionäre Presse ergriffen mit Freuden diese Gelegenheit, die Jugend und die gesamte radikale Partei der Brandstiftung zu beschuldigen. Von neuem füllen sich die Gefängnisse, neue Opfer drängen sich auf den Wegen zur Verbannung. Tschernyschewski wird verhaftet und auf die Petersburger Festung gebracht; von da schickt man ihn nach zwei langen martervollen Jahren zur Zwangsarbeit nach Sibirien. Schon vor dieser Katastrophe griffen Herzen und Gromeka, welch letzterer später als Gouverneur einer polnischen Provinz bei der Unterwerfung Polens mitwirkte, der eine in London, der andere in Rußland, die radikale Partei aufs wütendste an und gaben zu verstehen, daß Tschernyschewski vielleicht noch schließlich mit einem Orden begnadigt werde. Tschernyschewski forderte Herzen in einem ganz besonders gemäßigten Artikel auf, über die Folgen der neuen Rolle nachzudenken, worin der „Kolokol" sich in offene Feindschaft mit der russischen revolutionären Partei setze.13101 Herzen erklärte pomphaft, er sei bereit, in Gegenwart von allem dem, was er die internationale Demokratie nannte, Mazzinis, Victor Hugos, LedruRollins, Louis Blancs u.a., den famosen Toast auf den großen Zar und Emanzipator auszubringen, und, fügte er hinzu, was auch die revolutionären Daniels in Petersburg sagen mögen, ihnen und ihren Schreiern zum Trotz, „ich weiß, daß dieser Toast ein günstiges Echo im Winterpalast" (Residenz des Zaren) „finden wird".1 Bakunin übertraf Herzen. Gerade als die revolutionäre Partei in voller Auflösung, als Tschernyschewski im Gefängnis war, veröffentlichte Bakunin, damals schon einundfünfzig Jahre alt, seine berüchtigte Broschüre für den Bauernzar: „Romanow, Pugatschow oder Pestel? Die Sache des Volks." Von Michail Bakunin. 1862.
„Manche fragen sich noch, ob es in Rußland eine Revolution geben wird. Aber diese Revolution vollzieht sich schrittweise, sie herrscht überall vor, in allen Verhältnissen wie in allen Gemütern. Sie betätigt sich durch die'Hand der Regierung noch erfolgreicher als in den Bemühungen ihrer eigenen Anhänger. Sie läßt sich nicht beschwichtigen noch aufhalten, bis sie die russische Welt wiedergeboren, bis sie neue slawische Welten geschaffen haben wird. Die Dynastie arbeitet selbst an ihrem Sturz. Sie sucht ihr Heil darin, nicht das erwachte Volksleben zu beschützen, sondern darin, ihm Halt zu gebieten. Würde dieses
1 In der französischen Ausgabe folgt: Mit den revolutionären Daniels sind Tschernyschewski und seine Freunde gemeint.
Volksleben verstanden, es hätte das kaiserliche Haus zu einer bis auf den heutigen Tag unbekannten Höhe der Macht und des Ruhmes erheben können... Es ist zu beklagen. Selten hatte das Schicksal dem zarischen Hause eine so großartige, so segensreiche Rolle zugewiesen. Alexander II. konnte leicht der Abgott des Volkes werden, der erste Zar der Bauern*, mächtig nicht durch die Furcht, sondern durch die Liebe, dieFreiheit, das Glück seines Volkes. Indem er sich auf das Volk stützte, hätte er der Herr und Erlöser der gesamten slawischen Welt werden können... Hierzu freilich mußte er ein russisches Herz haben, weit und stark in Hochsinn und in der Wahrheit. Die ganze lebende russische und slawische Gegenwart kam ihm mit offenen Armen entgegen, bereit, seiner historischen Größe als Fußgestell zu dienen."
Weiter verlangt Bakunin die Abschaffung des Staates Peter des Großen, des deutschen Staates, und die Gründung des „neuen Rußlands". Alexander II. ist zu diesem Werk berufen.
„Sein Anfang war herrlich; er verkündete die Freiheit des Volkes, die Freiheit und ein neues Leben nach tausendjähriger Sklaverei; es hatte den Anschein, als wollte er das Rußland der Bauern" (zemskuju Russiju) „organisieren, weil im Staate Peters ein freies Volk unmöglich ist. Am 19.Februar 1861 war Alexander II. trotz aller Fehler, aller absurden Widersprüche des Ukases über die Bauern-Emanzipation, der größte, geliebteste, mächtigste Zar, den Rußland je gehabt." - Jedoch „widerspricht die Freiheit allen Instinkten Alexanders II.", weil er ein „Deutscher" ist, und „ein Deutscher wird nie Verständnis oder Liebe für das Rußland der Bauern haben... er hat nur daran gedacht, das Staatsgebäude Peters zu befestigen... damit hat er ein verhängnisvolles und unmögliches Werk unternommen und arbeitet an seinem eigenen Untergang und dem seines Hauses; er steht auf dem Punkt, Rußland in eine blutige Revolution zu stürzen."
Alle Widersprüche des Emanzipations-Ukas, alle Bauernmetzeleien, die Erneuten der Studenten, die ganze Schreckensherrschaft mit einem Worte, lassen sich nach Bakunin
„vollständig erklären aus dem Mangel an russischem Geiste beim Zaren, an einem Herzen, das für das Volk schlägt, aus seinem törichten Streben, koste es was es wolle, den Staat Peters zu erhalten... und doch ist er es, er allein, der in Rußland, ohne einen Tropfen Bluts zu vergießen, die bedeutendste und wohltätigste Revolution durchführen könnte. Er kann es noch jetzt; wenn wir am friedlichen Ausgange verzweifeln, so geschieht es nicht, weil es zu spät ist, sondern weil wir schließlich allen Glauben aufgegeben haben, daß Alexander II. die Fähigkeit besitzt, einzusehen, auf welche Weise allein er sich und Rußland retten kann. Die Bewegung des nach tausendjährigem
* Der Titel des Bauernzaren (Zemsky Tzar), mit dem Alexander II. beschenkt wird, ist eine Erfindung Bakunins und des „Kolokol".
29 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Schlafe erwachten Volkes aufzuhalten, ist unmöglich. Aber stellte sich der Zar kühn und entschlossen an die Spitze der Bewegung, dann hätte seine Macht für das Wohl und den Ruhm Rußlands keine Grenzen." Hierzu brauchte er nur den Bauern Land zu geben und Freiheit und Selbstverwaltung zu gewähren.
„Es ist nicht zu fürchten, daß die Selbstverwaltung der einzelnen Landesteile den Zusammenhang der Provinzen miteinander löse, daß die Einheit Rußlands erschüttert werde; die Selbständigkeit der Provinzen wird nur eine administrative, für die inneren Angelegenheiten gesetzgebende, juridische sein, aber keine politische. Und in keinem Lande, mit Ausnahme Frankreichs vielleicht, ist das Volk in solchem Grade wie in Rußland durchdrungen vom Bewußtsein der Einheit, Harmonie und Unteilbarkeit des Staates und der nationalen Größe." Zu jener Zeit verlangte man in Rußland die Einberufung einer Nationalversammlung1. Die einen verlangten sie, um finanzielle Schwierigkeiten zu lösen, die anderen, um der Monarchie ein Ende zu machen. Bakunin forderte sie, als Ausdruck der Einheit Rußlands, zur Befestigung der Macht und Größe des Zaren.
„Die Einheit Rußlands, die bisher nur in der Person des Zaren ihren Ausdruck gefunden, bedarf einer anderen Vertretung durch eine Nationalversammlung... Es handelt sich nicht darum, zu wissen, ob eine Revolution kommen wird, sondern ob sie friedlich oder blutig sein wird. Sie wird friedlich und wohltätig sein, sobald der Zar, an der Spitze der Volksbewegung, mit der Nationalversammlung entschlossen und auf breiter Grundlage die Umwandlung Rußlands im Sinne der Freiheit vornehmen will; will aber der Zar rückwärtsschreiten oder bei halben Maßregeln stehenbleiben, wird die Revolution schrecklich sein. Sie wird dann beim Aufstande des gesamten Volkes den Charakter eines unerbittlichen Blutbades annehmen... Noch kann Alexander II. Rußland vor vollständigem Untergang und vor Blutvergießen schützen." Für Bakunin war also 1862 die Revolution der vollständige Untergang Rußlands, und er beschwor den Zaren, Rußland davor zu behüten. Vielen russischen Revolutionären galt die Einberufung einer Nationalversammlung als eine Niederlage des kaiserlichen Hauses; Bakunin jedoch schneidet kurzweg ihre Hoffnungen ab und verkündet ihnen, daß
„die Nationalversammlung gegen sie und für den Zaren sein wird. Und wenn die Versammlung dem Zaren feindlich wäre? - Das ist nicht möglich, ist es ja das Volk, welches seine Delegierten schicken wird, das Volk, dessen Vertrauen zum Zaren bis jetzt keine Grenzen kennt und das alles an ihm mit Ehrfurcht betrachtet. Woher sollte also die
1 Im russischen Text gebraucht Bakunin hier und an anderen Stellen den Terminus: BCeHapORUMH SeMCKHii coßop
Feindseligkeit kommen?... Es ist kein Zweifel, daß, wenn der Zar jetzt" (Februar 1862) „die Nationalversammlung einberiefe, er sich zum ersten Male von Männern umringt fände, die ihm aufrichtig ergeben sind. Dauert die Anarchie1 noch einige Jahre, so kann die Stimmung des Volkes sich ändern. In unserer Zeit lebt man schnell. Aber gegenwärtig ist das Volk für den Zaren und gegen den Adel, gegen die Beamten und gegen alles, was deutsche Tracht" (d.h. europäische Tracht) „trägt. Im Lager des offiziellen Rußlands ist alles Feind des Volkes, alles mit Ausnahme desZaren. Wer sollte es also versuchen, zum Volke gegen den Zaren zu reden? Und wenn es selbst jemand versuchen wollte, würde das Volk ihm glauben? War er nicht der Zar, welcher die Bauern gegen den Willen der Adeligen, gegen den allgemeinen Wunsch der Beamten emanzipiert hat? In seinen Abgeordneten wird das russische Volk zum ersten Male Angesicht zu Angesicht seinem Zaren gegenüberstehen. Das ist ein entscheidender, im höchsten Grade kritischer Moment. Werden sie aneinander Gefallen finden? Von dieser Begegnung wird die ganze Zukunft des Zaren und Rußlands abhängen. Das Vertrauen und die Ergebenheit der Abgeordneten für den Zaren werden keine Grenzen kennen. Stützt er sich auf sie, kommt er ihnen mit Liebe und Vertrauen entgegen, so wird er seinen Thron zu einer noch nie erreichten Höhe und Festigkeit erheben. Aber was wird geschehen, wenn die Delegierten in ihm statt eines emanzipatorischen Zaren, eines volkstümlichen2 Zaren, einen Petersburger Kaiser in preußischer Uniform, einen engherzigen Deutschen vorfinden? Was wird geschehen, wenn ihnen der Zar statt der erwarteten Freiheit nichts oder fast nichts gibt?... Dann, wehe dem Cäsarismus3! Es wird dann geschehen sein mindestens um das Petersburger, deutsche, Holstein-Gottorpsche Kaisertum. Wenn in diesem verhängnisvollen Augenblick, da die Frage um Leben und Tod, Frieden oder Blut, für ganz Rußland sich entscheiden soll, wenn da vor der Nationalversammlung der volkstümliche Zar erschiene, der gute und redliche Zar, voll Liebe für Rußland, bereit, dem Volke eine Organisation nach seinem Willen zu geben, was könnte der nicht mit einem solchen Volke machen! Wer würde wagen, sich gegen ihn zu erheben? Frieden und Vertrauen wären wie durch ein Wunder hergestellt, das Geld wäre gefunden und alles ordnete sich einfach, natürlich, ohne jemanden zu schädigen, zu allgemeiner Befriedigung. Unter Leitung eines solchenZaren würde die National Versammlung ein neues Rußland schaffen.Kein böswilliges Unternehmen, keine feindliche Macht wäre imstande, gegen die vereinigte Macht des Zaren und des Volkes anzukämpfen... Kann man hoffen, daß diese Vereinigung zustande kommt? Wir sagen geradezu nein."
Trotz alledem gibt Bakunin nicbt die Hoffnung auf, den Zar hinzureißen, und um ihn zu bestimmen, droht er ihm mit der revolutionären Jugend, die, wenn er sich nicht beeilt, ihr Werk vollenden und den Weg zum Volke finden wird.
1 Bei Bakunin: 6e3ypHHHi;a - 2 bei Bakunin: 3eMCK0r0 - 3 in der französischen Ausgabe: Zarismus
„Und warum ist diese Jugend nicht für Sie, sondern gegen Sie? Es ist dies ein großes Unglück für Sie... sie" (die revolutionäre Jugend) „bedarf vor allem der Freiheit und der Wahrheit. Aber warum hat sie den Zaren aufgegeben, warum hat sie sich gegen den erklärt, der zuerst dem Volke Freiheit gegeben hat? Sollte sie sich durch das abstrakte revolutionäre Ideal und durch jenes klangvolle Wort der Republik haben hinreißen lassen? Das ist zum Teil möglich, ist aber doch nur ein in zweiter Reihe stehender und nicht tiefgehender Grund. Die Mehrheit unserer vorgeschrittenen Jugend weiß sehr wohl, daß die Abstraktionen des Westens, sowohl die konservativen als die bürgerlichen, liberalen oder demokratischen, auf die russische Bewegung nicht anwendbar sind... das russische Volk bewegt sich nicht nach abstrakten Prinzipien... das Ideal des Westens ist ihm fremd und alle Versuche des konservativen, liberalen oder selbst revolutionären Doktrinarismus, ihm seine Tendenzen aufzudrängen, werden vergeblich sein... es hat sein Ideal für sich... es wird neue Prinzipien in die Geschichte hineintragen, es wird eine andere Zivilisation schaffen, eine neue Religion, ein neues Recht, ein neues Leben. Gegenüber dieser großen, ernsten und selbst schrecklichen Erscheinung, dem Volk, wagt man keine Torheiten zu begehen. Die Jugend wird die lächerliche und hochmütige1 Rolle eines täuschenden Schulmeisters fallenlassen... Was können wir das Volk lehren? Wenn man die mathematischen und Naturwissenschaften beiseite läßt, wird das letzte Wort unserer Wissenschaft die Verneinung der angeblich unumstößlichen Wahrheiten der westlichen Doktrin sein, die vollständige Negation des Westens." Dann nimmt Bakunin die Gründer des „Jungen Rußlands" vor; er beschuldigt sie, daß sie Doktrinäre seien, daß sie sich zu Herren des Volkes aufwerfen wollen, daß sie die Sache kompromittiert haben, daß sie Kinder seien, die nichts begreifen und die ihre Ideen aus einigen Büchern des Westens geschöpft haben. - Die Regierung, die damals diese selbe Jugend als Brandstifter einkerkerte, schleuderte dieselben Vorwürfe gegen sie. Und um seinen Zar zu beruhigen, verkündet Bakunin, daß
„das Volk nicht für jene revolutionäre Partei ist... die ungeheure Mehrheit unserer Jugend gehört der Volkspartei an, der Partei, welche zum einzigen und alleinigen Zweck den Triumph der Volkssache hat; diese Partei hat keine Vorurteile, weder für noch gegen den Zar, und wenn nicht der Zar, der das große Werk begonnen, das Volk verraten hätte, man hätte ihn nie aufgegeben. Und auch jetzt ist es noch nicht zu spät für ihn, auch jetzt noch würde diese Jugend ihm mit Freuden folgen, vorausgesetzt, daß er an der Spitze seines Volkes schritte. Siewürde sich durch keines der revolutionären Vorurteile des Westens behindern lassen. Es ist Zeit, daß die Deutschen nach Deutschland abziehen. Wenn der Zar begriffen hätte, daß er von nun an nicht mehr das Haupt einer Zwangs-Zentralisation, sondern das einer freien Föderation freier Völker sein müßte, gestützt auf eine feste und neugekräftigte Macht, im Bündnis mit Polen und der Ukraine, daß er alle sosehr verabscheuten deutschen Bündnisse lösen und kühn das panslawistische Banner erheben müßte - er würde der Heiland der slawischen Welt.
Ja, in der Tat, der Krieg gegen die Deutschen ist für die Slawen ein gutes und unerläßliches Werk; es ist jedenfalls besser, als die Polen zum Vergnügen der Deutschen zu ersticken. Eine Notwendigkeit und heilige Pflicht für das befreite russische Volk wird es sein, sich zur Befreiung der Slawen vom türkischen und deutschen Joche zu erheben." In derselben Broschüre verpflichtet Bakunin die revolutionäre Partei, sich unter das Banner der Volkssache zu scharen. Wir geben hier einige Glaubensartikel des Programms dieser für den Zaren zugeschnittenen Volkssache: „Art. 1 -1 Wir" (Bakunin & Co.) „wollen die Selbstregierung des Volks in der Gemeinde, der Provinz, dem einzelnen Lande und endlich dem Gesamtstaate, ob mit oder ohne Zar, daran liegt uns wenig; das wird sich machen, je nachdem das Volk entscheidet. - Art.2.2 ...Wir sind bereit, und die Pflicht gebietet es uns, Litauen, Polen und der Ukraine zur Hülfe zu kommen, um jede Vergewaltigung zu verhindern und diese Länder gegen ihre äußeren Feinde zu beschützen, besonders gegen die Deutschen. - Art.4.3 Vereinigt mit Polen, Litauen und der Ukraine wollen wir unseren Arm allen unseren slawischen Brüdern leihen, die gegenwärtig unter dem Joche des Königreichs Preußen, des österreichischen und türkischen Reichs seufzen, und wir verpflichten uns, das Schwert nicht in die Scheide zu stecken, so lange noch ein einziger Slawe Sklave der Deutschen, Türken oder wessen sonst sein wird."
Der Artikel 6 schreibt eine Allianz mit Italien, Ungarn, Rumänien und Griechenland vor; es waren gerade diese Allianzen, welche die russische Regierung damals suchte.
„Art.7. Wir werden mit allen übrigen slawischen Stämmen nach der Verwirklichung des teuern Traums der Slawen streben, nach der Gründung der großen und freien panslawischen Föderation, damit es nur eine einzige und unteilbare panslawische Macht gebe. Das ist das große Programm der slawischen Sache, das ist das letzte unabänderliche Wort der russischen Volkssache. Wir haben unser ganzes Leben dieser Sache geweiht. Und nun: wohin gehen wir, und mit wem werden wir gehen? Wir haben gesagt, wohin wir gehen wollen; wir haben auch gesagt, mit wem wir gehen wollen, mit niemandem anders als mit dem Volke. Bleibt nur noch zu wissen, wem wir folgen werden. Werden wir Romanow, Pugatschow oder einem neuen Pestel, wenn sich ein solcher findet, folgen?*
* Romanow ist der Familienname des Zaren; Pugatschow war das Haupt des großen Kosaken-Aufstandes unter Katharina II.; Pestel war das Haupt der Verschwörung gegen Nikolaus I. im Jahre 1825, er wurde gehängt.
Sagen wir die Wahrheit. Wir würden es vorziehen, Romanow zu folgen, wenn Romanow sich aus einem Petersburger Kaiser in einen Bauernzar umwandeln könnte und wollte. Wir würden uns gern unter seine Fahne stellen, weil das russische Volk sie noch anerkennt, und weil seine Macht bereits geschaffen und zum Handeln bereit ist und weil sie unbesiegbar würde, sobald er ihr die Volkstaufe gäbe. Wir würden ihm auch deshalb folgen, weil er allein die große friedliche Revolution durchführen kann, ohne einen Tropfen russischen oder slawischen Bluts zu vergießen. Blutige Revolutionen, dank der menschlichen Torheit, werden oft notwendig; nichtsdestoweniger sind sie ein großes Übel und ein großes Unglück, nicht nur wegen ihrer Schlachtopfer, sondern auch hinsichtlich der Reinheit und Fülle des Zweckes, wozu sie sich vollziehen. Wir haben dies während der Französischen Revolution gesehen. So ist unsere Haltung gegenüber Romanow klar. Wir sind nicht seine Feinde, wir sind ebensowenig seine Freunde. Wir sind die Freunde der russischen Volkssache, der slawischen Sache. Steht der Zar an der Spitze dieser Sache, so folgen wir ihm; stellt er sich gegen sie, so sind wir seine Feinde. Daher handelt es sich einfach darum: Will Romanow der russische Zar, der Zar der Bauern sein, oder will er lieber der Petersburger, der Holstein-Gottorpsche Kaiser sein? Will er Rußland, will er den Slawen oder den Deutschen seine Dienste widmen? Diese Frage wird sich bald entscheiden, und dann werden wir wissen, was wir zu tun haben." Leider hielt es der Zar nicht für angemessen, die Nationalversammlung einzuberufen, für welche Bakunin in dieser Broschüre bereits seine Kandidatur aufstellte. Er hatte also dieses sein Wahlmanifest und seine Kniebeugungen vor Romanow weggeworfen. Schmählich in seinem unschuldsvollen Vertrauen getäuscht, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich kopfüber in die pan-destruktive Anarchie zu stürzen. Nach diesem Machwerk des Meisters, der vor seinem Bauernzar auf dem Bauche kriecht, war es seinen Freunden und Schülern Albert Richard und Gaspard Blanc wohl gestattet, aus vollem Halse zu schreien: ns lebe Napoleon III., der Bauernkaiser!
XI
Belegstücke
1. Geheime Statuten der Allianz
Das in unseren Händen befindliche Exemplar dieser Statuten ist teilweise von der Hand Bakunins geschrieben. Er gab Abschriften nicht nur an seine Eingeweihten, sondern auch an viele andere, die er durch die Enthüllung seines prachtvollen Programms zu verführen hoffte. Die Eitelkeit des Schriftstellers trug über die finstre Zurückhaltung des Mystifikators den Sieg davon.
ORGANISATION DER ALLIANZ DER INTERNATIONALEN BRÜDER
Drei Grade: I. Internationale Brüder. II. Die nationalen Brüder. III. Die halb geheime, halb öffentliche Organisation der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie.
I. Reglement der internationalen Brüder
1. Die internationalen Brüder haben kein anderes Vaterland als die allgemeine Revolution, kein anderes Ausland und keinen anderen Feind als die Reaktion. 2. Sie verwerfen jede Versöhnungs- und Kompromiß-Politik und halten jede politische Bewegung für reaktionär, die nicht den Triumph ihrer Prinzipien zum unmittelbaren und direkten Zweck hat. 3. Sie sind Brüder - nie greifen sie einander an, noch machen sie ihre Streitigkeiten vor der Öffentlichkeit oder den Gerichten aus. Ehren-Jury, gewählt von beiden Parteien aus der Zahl der Brüder - das ist ihre einzige Gerichtsbarkeit.
4. Jeder von ihnen muß allen anderen heilig sein, heiliger als ein natürlicher Bruder. Jeder Bruder hat auf die Hülfe und den Beistand aller anderen bis auf die Auslöschung der Möglichkeit zu rechnen. 5. Internationaler Bruder kann nur werden, wer offen das ganze Programm in allen seinen theoretischen und praktischen Konsequenzen angenommen hat und außer der gehörigen Intelligenz, Energie, Ehrenhaftigkeit und Zuverlässigkeit auch noch die revolutionäre Leidenschaft besitzt - den Teufel im Leibe hat. Wir legen weder Pflichten noch Opfer auf. Denn wer jene Leidenschaft besitzt, wird vieles vollbringen, ohne sich nur einzubilden, daß er Opfer bringt. 6. Es darf für einen Bruder keine ernsteren und heiligeren Angelegenheiten, Interessen und Pflichten geben als den Dienst der Revolution und unserer ihrem Dienste bestimmten geheimen Assoziation. 7. Ein Bruder hat stets das Recht, die Dienste zu verweigern, welche das Zentralkomitee oder sein Nationalkomitee von ihm fordert — doch werden viele aufeinanderfolgende Weigerungen geeignet sein, ihn als trag oder böswillig betrachten zu lassen; er kann durch sein Nationalkomitee suspendiert und auf Vorstellung des letzteren durch das Zentralkomitee bis zur definitiven Entscheidung der Konstituante in Ruhestand versetzt werden. 8. Kein Bruder darf ein öffentliches Amt annehmen ohne Zustimmung des Komitees, dem er angehört. - Er darf sich an keiner öffentlichen Handlung oder Kundgebung beteiligen, die der von seinem Komitee gezogenen Richtschnur feindlich oder selbst nur fremd ist, oder bei der er letzteres nicht zu Rate gezogen hat. Sooft zwei oder mehrere Brüder beisammen sind, haben sie sich über alle wichtigen öffentlichen Angelegenheiten zu beraten. 9. Alle internationalen Brüder kennen einander. Kein politisches Geheimnis darf je unter ihnen existieren. Niemand kann irgendeiner geheimen Gesellschaft angehören ohne positive Zustimmung seines Komitees oder im Notfall, wenn dieses es verlangt, ohne die des Zentralkomitees; und er kann ihr nur unter der Bedingung angehören, daß er diesen Komitees alle Geheimnisse aufdeckt, welche sie direkt oder indirekt interessieren könnten. 10. Die Organisation der internationalen Brüder teilt sich ein in: A. Das Generalkomitee oder die Konstituante. B. Das Zentralkomitee. C. Die Nationalkomitees.
A. Das Generalkomitee
Dies ist die Vereinigung von allen oder mindestens zwei Dritteln der internationalen Brüder, die ordnungsmäßig zu bestimmter Zeit oder als außerordentliche Versammlung von1 dem Zentralkomitee einberufen ist. Das Generalkomitee bildet die höchste konstituierende und vollziehende Gewalt unserer ganzen Organisation, und kann deren Programm, deren Reglements und organische Statuten modifizieren.
1 In der französischen Ausgabe lautet der folgende Satzteil: der Majorität des Zentralkomitees einberufen ist
B. Das Zentralkomitee
Dasselbe besteht aus a) dem Zentralbüro und b) dem Zentral- Überwachtmgskomitee. Mitglieder dieses letzteren sind alle internationalen Brüder, die nicht zum Büro gehören und sich in solcher Nähe befinden, daß sie innerhalb zweier Tage zusammenberufen werden können, sowie natürlich alle durchreisenden Brüder. Für ihre gegenseitigen Beziehungen gilt das Reglement der Allianz der sozialistischen Demokratie (siehe Art.2-4).
C. Die Nationalkomitees
Jedes Nationalkomitee besteht aus allen internationalen Brüdern (einerlei welcher Nationalität), die sich am Zentrum der National-Organisation oder in dessen Nähe aufhalten. Jedes Nationalkomitee zerfällt gleichfalls in zwei Unterabteilungen, in a) das National-Exekutivbüro und b) das National- Überwachungskomitee. Dieses letztere umfaßt alle anwesenden internationalen Brüder, die nicht zum Büro gehören. Es gelten dieselben Verhältnisse wie in der Allianz der sozialistischen Demokratie. 11. Zur Schaffung eines neuen Bruders bedarf es der Einstimmigkeit aller (wenigstens in der Zahl von dreien) anwesenden Mitglieder des Nationalkomitees und der Bestätigung des Zentralkomitees mit Zweidrittel-Majorität. Das Zentralkomitee kann neue Mitglieder mit Einstimmigkeit aller seiner Mitglieder aufnehmen. 12. Jedes Nationalkomitee versammelt sich mindestens einmal wöchentlich, um die organisatorische, agitatorische und administrative Arbeit seines Büros zu kontrollieren und anzuspornen. - Das Nationalkomitee ist der natürliche Richter über die Haltung seiner Mitglieder in allem, was ihre revolutionäre Würdigkeit sowie ihre Beziehungen zur Gesellschaft betrifft. Seine Entscheidungen müssen dem Zentralkomitee zur Bestätigung vorgelegt werden. Es schreibt der Tätigkeit wie allen öffentlichen Kundgebungen aller seiner Mitglieder die Richtung vor. Es hat, sei es durch Vermittlung seines Büros oder durch einen von ihm hierzu zu ernennenden Bruder, eine regelmäßige Korrespondenz mit dem Zentralbüro zu führen, dem es mindestens einmal alle vierzehn Tage schreiben muß. 13. Das Nationalkomitee wird die geheime Assoziation der nationalen Brüder seines Landes organisieren.
II. Die nationalen Brüder
14. Die nationalen Brüder müssen in jedem Lande in der Art organisiert werden, daß sie sich niemals der Leitung der allgemeinen Organisation der internationalen Brüder und namentlich der des Generalkomitees und des Zentralkomitees entziehen können. IhreProgrammeund Reglements können definitiv nur in Kraft gesetzt werden, nachdem sie die Sanktion des Zentralkomitees erhalten haben. 15. Jedes Nationalkomitee kann, wenn es dies für nützlich befindet, zwei Kategorien aufstellen: a) solche nationale Brüder, die in jedem einzelnen Lande einander kennen, und b) solche, die sich nur in kleinen Gruppen kennen. - In keinem Falle
dürfen die nationalen Brüder die Existenz einer internationalen Organisation auch nur ahnen. 16. Provinzial-Zentren, ganz oder teilweise aus internationalen Brüdern oder aus nationalen Brüdern der ersten Kategorie bestehend, sollen an allen Hauptpunkten eines Landes gegründet werden; sie haben die Aufgabe, die geheime Organisation und die Propaganda der Prinzipien, so tief und soweit sie nur können, wachsen zu lassen, indem sie sich nicht mit der Tätigkeit in den Städten begnügen, sondern auch den Versuch machen, sie in den Dörfern und unter den Bauern auszudehnen. 17. Die Nationalkomitees werden suchen, aufs schnellste die finanziellen Mittel zu schaffen, welche notwendig sind nicht nur für den Erfolg ihrer eigenen Organisation, sondern auch für die allgemeinen Bedürfnisse der ganzen Assoziation. Sie werden also einen Teil - die Hälfte? - an das Zentralbüro schicken. 18. Die Nationalbüros müssen außerordentlich tätig sein und bedenken, daß die Prinzipien, Programme und Reglements nur soweit etwas wert sind, als die Personen, welche dieselben in Ausübung bringen sollen, den Teufel im Leibe haben,
GEHEIME ORGANISATION DER INTERNATIONALEN ALLIANZ DER SOZIALISTISCHEN DEMOKRATIE
1. Das permanente Zentralkomitee der Allianz besteht aus allen Mitgliedern der permanenten Nationalkomitees und denen der Genfer Zentralsektion. In ihrer Vereinigung bilden alle diese Mitglieder die geheime Generalversammlung der Allianz, welche die höchste und zugleich die konstituierende Macht der Allianz ist und mindestens einmal jährlich auf dem Arbeiterkongreß als Delegierte der verschiedenen nationalen Gruppen der Allianz zusammentritt; die außerdem zu jeder Zeit sowohl vom Zentralbüro als auch durch die Genfer Zentralsektion einberufen werden kann. 2. Die Genf er Zentralsektion ist die permanente Delegation des permanentenZentralkomitees. Sie besteht aus allen Mitgliedern des Zentralbüros und des Überwachungskomitees, die notwendigerweise stets Mitglieder des permanentenZentralkomitees sind. Die Zentralsektion ist der höchste vollziehende Rat der Allianz innerhalb der Grenzen der einzig durch die Generalversammlung festzustellenden oder abzuändernden Verfassung und Richtschnur. Die Zentralsektion entscheidet mit einfacher Stimmenmehrheit in allen Exekutiv-Angelegenheiten (bei denen es sich nicht um die Verfassung oder die allgemeine Politik handelt), und ihre so gefaßten Beschlüsse sind obligatorisch für das Zentralbüro, falls dieses nicht in der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt, dagegen an die Generalversammlung zu appellieren, die es dann innerhalb drei Wochen einzuberufen hat. - Eine so einberufene Generalversammlung bedarf, um ordnungsgemäß zu sein, der Anwesenheit von zwei Dritteln aller ihrer Mitglieder. 3. Das Zentralbüro - die Exekutivgewalt - wird von 3 bis 5 oder selbst 7 Mitgliedern gebildet, welche immer gleichzeitig Mitglieder des permanenten Zentralkomitees sein
müssen. Als eines der beiden Bestandteile der geheimen Zentralsektion ist das Zentralbüro eine geheime Organisation. Als solche erhält es von der Zentralsektion seine Inspirationen und hat seinerseits seine Mitteilungen, um nicht zu sagen seine geheimen Befehle, an alle Nationalkomitees zu richten, von denen es wenigstens einmal monatlich geheime Berichte empfangen soll. Als vollziehendes Direktorium der öffentlichen Allianz ist das Zentralbüro aber zugleich eine öffentliche Organisation. Als solche hat es je nach den Ländern und Umständen mehr oder weniger vertrauliche oder öffentliche Beziehungen zu allen Nationalbüros, von denen es gleichfalls monatliche Berichte zu empfangen hat. Seine äußerliche Regierungsform wird die einer Präsidentschaft in einer Föderativ-Republik sein. Das Zentralbüro, als sowohl geheime wie öffentliche Exekutivgewalt der Allianz, wird die geheime und öffentliche Propaganda der Gesellschaft ins Werk setzen und ihre Entwickelung in allen Ländern durch alle möglichen Mittel fördern. Es hat die Verwaltung über den Teil der Finanzen, welche ihm nach Artikel b) des öffentlichen Reglements aus allen Ländern für die allgemeinen Bedürfnisse gesandt werden. Es wird eine Zeitschrift und Broschüren herausgeben, und Reise-Agenten aussenden, um Allianzgruppen in den Ländern zu gründen, wo solche noch nicht existieren. Bei allen Maßregeln, die das Zentralbüro zum Wohle der Allianz zu ergreifen hat, hat es sich jedoch den Entscheidungen der Mehrheit der geheimen Zentralsektion zu unterwerfen, zu der übrigens alle Mitglieder des Büros selbst gehören. Als zugleich öffentliche und geheime Organisation und als ganz aus Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees zusammengesetzt, wird das Zentralbüro immer ein direkter Ausfluß dieses Komitees sein. Das provisorische Zentralbüro soll diesmal der Genfer Gründungsgruppe präsentiert werden als provisorisch gewählt von allen Gründungsmitgliedern der Allianz, die, zum größten Teil ehemalige Mitglieder des Kongresses zuBern,heimgereist sind,nachdem sie ihre Vollmacht an BürgerB ^übertragen .Dieses Büro wird in Tätigkeit bleiben bis zur ersten öffentlichen Generalversammlung, welche nach Artikel 7 des öffentlichen Reglements auf dem nächsten Arbeiterkongreß als Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation zusammentritt. Es versteht sich, daß die Mitglieder des neuen Zentralbüros von dieser Versammlung gewählt werden. Aber da es dringend notwendig ist, daß das Zentralbüro stets nur aus Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees bestehe, so wird dieses letztere vermittelst seiner Nationalkomitees dafür sorgen müssen, alle lokalen Gruppen so zu organisieren und zu leiten, daß sie als Delegierte in diese Versammlung nur Mitglieder des permanenten Zentralkomitees senden, oder, in Ermangelung solcher, nur Leute, die vollständig der Leitung ihrer respektiven Nationalkomitees ergeben sind - damit das permanente Zentralkomitee in der ganzen Organisation der Allianz stets die Oberhand habe.
4. Das Überwachungskomitee übt die Kontrolle über alle Handlungen des Zentralbüros. - Es besteht aus allen Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees, die am Orte2 in der Nähe des Sitzes des Zentralbüros wohnen, sowie aus allen zeitweilig anwesenden oder durchreisenden Mitgliedern, mit Ausnahme derer, die das Büro bilden. Auf Antrag von zwei Mitgliedern des Uberwachungskomitees müssen alle Mitglieder
desselben innerhalb drei Tagen mit den Mitgliedern des Zentralbüros zusammentreten, um die Versammlung der Zentralsektion des höchsten vollziehenden Rats zu konstituieren, deren Rechte im Artikel 2 festgestellt sind. 5. Die Nationalkomitees werden von allen zu derselbenNation gehörigen Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees gebildet. - Sowie es drei Mitglieder des permanenten Zentralkomitees aus derselben Nation gibt, werden dieselben vom Büro und nötigenfalls von der Zentralsektion aufgefordert, sich als Nationalkomitee ihres Landes zu konstituieren. Jedes Nationalkomitee kann ein neues Mitglied des Zentralkomitees aus seinem Lande ernennen, aber nur unter Einstimmigkeit aller seiner Mitglieder. Sowie ein neues Mitglied von einem Nationalkomitee ernannt ist, hat dieses hiervon unmittelbar das Zentralbüro in Kenntnis zu setzen, welches dieses neue Mitglied in die Liste aufnimmt und eben hierdurch auf dasselbe alle Rechte eines Mitgliedes des permanenten Zentralkomitees überträgt. - Die Genfer Zentralsektion ist gleichfalls ermächtigt, unter Einstimmigkeit aller ihrer Mitglieder, neue Mitglieder zu ernennen. Jedes Nationalkomitee hat die besondere Aufgabe, in seinem Lande sowohl die öffentliche wie die geheime nationale Gruppe zu gründen und zu organisieren. Das Nationalkomitee ist deren höchste Leitungs- und Verwaltungsbehörde1, vermittelst seines Nationalbüros, für dessen Gründung es in der Art zu sorgen hat, daß es ganz und gar aus Mitgliedern des permanenten Zentralkomitees besteht. Die Nationalkomitees werden ihren respektiven Büros gegenüber dieselben Beziehungen, Rechte und Befugnisse haben, wie die Zentralsektion gegenüber dem Zentralbüro. - Die Nationalkomitees, welche durch die Vereinigung ihrer bezüglichen Büros und Überwachungskomitees gebildet werden, haben kein anderes Oberhaupt als das Zentralbüro anzuerkennen; sie dienen als die einzigen Mittelorgane zwischen diesem letzteren und allen Lokalgruppen ihres Landes sowohl in betreff der Propaganda und der Verwaltung, wie auch der Erhebung und Verwendung der Steuern. Die Nationalkomitees haben vermittelst ihrer respektiven Büros für die Organisation der Allianz in ihren Ländern zu sorgen, doch in der Art, daß diese immer durch Mitglieder des permanenten Zentralkomitees beherrscht und auf den Kongressen vertreten werde. In dem Maße als die Nationalbüros ihre lokalen Gruppen organisieren, haben sie auch dafür zu sorgen, daß das Reglement und Programm dieser letzteren der Bestätigung des Zentralbüros unterbreitet werde - ohne diese Bestätigung können die Lokalgruppen keinen Teil der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie bilden.
PROGRAMM DER SOZIALISTISCHEN INTERNATIONALEN ALLIANZ
1. Die Internationale Allianz ist zu dem Zwecke gegründet, auf Grundlage der in unserem Programm ausgesprochenen Prinzipien der allgemeinen Revolution zu dienen, sie zu organisieren und zu beschleunigen.
2. Gemäß diesen Grundsätzen kann das Ziel der Revolution nur sein: a) die Vernichtung aller religiösen, monarchischen, aristokratischen und bürgerlichen Mächte und Gewalten in Europa. Die Konsequenz hiervon ist der Umsturz aller gegenwärtig bestehenden Staaten nebst allen ihren politischen, rechtlichen, bürokratischen und finanziellen Einrichtungen, b) Der Aufbau einer neuen Gesellschaft auf der einzigen Grundlage der freien genossenschaftlichen Arbeit, die zum Ausgangspunkt nimmt das Kollektiveigentum, die Gleichheit und Gerechtigkeit. 3. Die Revolution, wie wir sie auffassen, oder vielmehr, wie die Macht der Tatsachen sie heute mit Notwendigkeit hervorruft, trägt einen wesentlich internationalen oder universellen Charakter. Angesichts der drohenden Koalition aller privilegierten Interessen und aller reaktionären Mächte in Europa, welche über alle die furchtbaren Mittel gebieten, die ihnen eine klug organisierte Organisation verleiht, angesichts der tiefen Kluft, welche1 überall zwischen der Bourgeoisie und den Arbeitern herrscht, könnte keine nationale Revolution auf Erfolg rechnen, wenn sie sich nicht zugleich auf die anderen Nationen erstreckt, und sie könnte nie die Grenze2 überschreiten und diesen Charakter der Allgemeinheit annehmen, wenn sie nicht in sich selbst alle Elemente dieser Allgemeinheit trägt, das heißt, wenn sie nicht eine geradezu sozialistische, staatzerstörende und vermittelst der Gleichheit und Gerechtigkeit freiheitschafrende ist; denn nichts von nun an kann noch die große, die einzig wahre Macht unseres Jahrhunderts - die Arbeiter - vereinigen, elektrisieren, zur Erhebung bringen, es sei denn allein die vollständige Emanzipation der Arbeit au f den Trümmern aller zum Schutze des Erbeigentums und des Kapitals bestehenden Einrichtungen. 4. Da die nächste Revolution nur eine allgemeine sein kann, so muß die Allianz, oder um das Wort geradeheraus zu sagen, die Verschwörung, welche dieselbe vorbereiten, organisieren und beschleunigen soll, es auch sein. 5. Die Allianz wird einen doppelten Zweck verfolgen: a) Sie wird sich bemühen, in den Volksmassen aller Länder die wahren Ideen über Politik, über Sozialökonomie und über alle philosophischen Fragen zu verbreiten. Sie wird tatkräftige Propaganda machen sowohl durch Zeitschriften, Broschüren und Bücher wie auch durch Gründung öffentlicher Assoziationen, b) Sie wird an sich zu ziehen suchen alle intelligenten, tatkräftigen und zuverlässigen Männer, die guten Willen und treue Ergebenheit für unsere Ideen haben, um so über ganz Europa und, soweit es sich tun läßt, auch über Amerika ein unsichtbares Netz von aufopferungsfähigen und durch diese ihre Allianz selbst mächtigen Revolutionären zu bilden.
1 In der französischen Ausgabe eingefügt: heute - 2 in der französischen Ausgabe eingefügt: eines Landes
PROGRAMM UND ZWECK DER REVOLUTIONÄREN ORGANISATION DER INTERNATIONALEN BRÜDER
1. Die Grundsätze dieser Organisation sind dieselben wie die des Programms der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie. In Beziehung auf die Frauenfrage, auf die religiöse und juristische Stellung der Familie und auf den Staat sind sie noch eingehender auseinandergesetzt im Programm der russischen sozialistischen Demokratie. Das Zentralbüro behält sich übrigens vor, bald eine vollständigere theoretische und praktische Entwicklung der Grundsätze zu liefern. 2. Die Assoziation der internationalen Brüder will zugleich die soziale, philosophische, ökonomische und politische allgemeine Revolution, damit von der gegenwärtigen Ordnung der Dinge, begründet auf dem Eigentum, der Ausbeutung, der Herrschaft und dem Autoritätsprinzip, dasselbe sei religiös oder metaphysisch und bourgeoisdoktrinär, ja selbst jakobinisch-revolutionär - zunächst in ganz Europa und dann auf der übrigen Welt kein Stein auf dem anderen bleibe. Mit dem Rufe: Friede den Arbeitern, Freiheit den Unterdrückten und Tod den Herrschern, Ausbeutern und Vormündern jeder Sorte! wollen wir alle Staaten und alle Kirchen nebst allen ihren religiösen, politischen, juristischen, finanziellen, polizeilichen, universitätlichen, ökonomischen und sozialen Einrichtungen und Gesetzen vernichten, damit alle diese Millionen armer Menschenwesen, die man bisher betrog, knechtete, marterte, ausbeutete, nunmehr von allen ihren offiziellen und offiziösen Lenkern und Wohltätern befreit, Genossenschaften wie Individuen, endlich in vollkommener Freiheit aufatmen. 3. In der Überzeugung, daß das individuelle und soziale Übel viel weniger in den einzelnen Individuen als in der Organisation der Dinge und den sozialen Verhältnissen wurzelt, werden wir menschlich sein sowohl aus dem Gefühl der Gerechtigkeit wie aus Nützlichkeitsberechnung und werden wir ohne Erbarmen Verhältnisse und Dinge vernichten, um ohne Gefahr für die Revolution die Menschen schonen zu können. Wir leugnen den freien Willen und das angebliche Strafrecht der Gesellschaft. Die Gerechtigkeit selbst, im menschlichsten, im weitesten Sinne genommen, ist nur eine negative, eine Ubergangs-Idee; sie stell tdie soziale Frage, aber sie löst sie nicht, sie zeigt uns nur den einzigen möglichen Weg der Menschheits-Emanzipation, das heißt, der Humanisierung der Gesellschaft durch die Freiheit innerhalb der Gleichheit; die positive Lösung kann nur durch die mehr und mehr vernunftgemäße Organisation der Gesellschaft erreicht werden. Diese so sehr ersehnte Lösung, unser aller Ideal, ist die Freiheit, Sittlichkeit, Bildung und Wohlfahrt eines jeden vermittelst der Solidarität aller, - es ist die menschliche Brüderlichkeit. Jedes menschliche Individuum ist das unfreiwillige Produkt der natürlichen und sozialen Lage, innerhalb deren es geboren ist, sich entwickelte und deren Einfluß es beständig weiter zu dulden hat. Die drei großen Ursachen jeder menschlichen
Immoralität sind: die politische wie ökonomische und soziale Ungleichheit, die Unwissenheit als deren natürliches Resultat und als notwendige Konsequenz die Sklaverei. Da die Organisation der Gesellschaft immer und überall die einzige Ursache der von den Menschen begangenen Verbrechen ist, so ist es eine offenbare Heuchelei oder Widersinnigkeit seitens der Gesellschaft, die Verbrecher zu bestrafen, indem jede Strafe die Schuld des zu Bestrafenden voraussetzt, die Verbrecher aber niemals die Schuldigen sind. Die Theorie von Schuld und Strafe geht aus der Theologie hervor, das heißt aus der Ehe des Widersinnes mit der religiösen Heuchelei. Das einzige Recht, welches man der Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Übergangszustande zugestehen könnte, ist das natürliche Recht, die von ihr selbst geschaffenen Verbrecher im Interesse ihrer eigenen Verteidigung zu ermorden, nicht aber das Recht, sie zu richten und zu verurteilen. Dieses Recht ist nicht einmal ein solches in strikter Wortbedeutung, sondern vielmehr ein natürliches, bedauerliches aber unvermeidliches, tatsächliches Verhältnis, zugleich ein Zeichen und Produkt der Ohnmacht und Dummheit der gegenwärtigen Gesellschaft; je mehr die Gesellschaft es verstehen wird, die Übung dieses Rechtes zu vermeiden, um so näher wird sie ihrer wirklichen Emanzipation rücken. Alle Revolutionäre, die Unterdrückten, die leidenden Opfer der gegenwärtigen Organisation der Gesellschaft, deren Herzen natürlich von Rache und Haß erfüllt sind, müssen wohl im Auge behalten, daß die Könige, die Unterdrücker, die Ausbeuter jeder Gattung ebenso schuldig sind, als die aus der Volksmasse hervorgegangenen Verbrecher: auch jene sind Übeltäter, aber auch nicht Schuldige, da sie ebenfalls, wie die gewöhnlichen Verbrecher, die unfreiwilligen Produkte der gegenwärtigen Organisation der Gesellschaft sind. Man wird sich nicht wundern dürfen, wenn das Volk im ersten Augenblick seiner Erhebung ihrer viele tötet - das wird ein vielleicht unvermeidliches, aber auch ebenso vorübergehendes Unglück sein wie die Verheerungen eines Un~ gewitters. Aber diese natürliche Tatsache wird weder moralisch noch selbst nützlich sein. In dieser Hinsicht ist die Geschichte äußerst lehrreich: - die schreckliche Guillotine von 1793, die man gewiß nicht der Langsamkeit und Milde beschuldigen kann, ist nicht dazu gekommen, die Adelsklasse in Frankreich zu vernichten. Die Aristokratie wurde dort, wenn nicht vollständig zerstört, so doch tief erschüttert, aber nicht durch die Guillotine, sondern durch die Konfiskation und den Verkauf ihrer Güter. Und im allgemeinen kann man sagen, daß politische Metzeleien niemals Parteien getötet haben; jene haben sich überall1 ohnmächtig gegen die privilegierten Klassen gezeigt, da die Macht viel weniger in den Menschen ihren Grund hat, als in den Zuständen, welche für die Privilegierten durch die Organisation der Dinge, d. h. durch die Einrichtung des Staates und seine natürliche Konsequenz wie Grundlage, das individuelle Eigentum, geschaffen sind. Um eine radikale Revolution zu machen, muß man also den Angriff gegen die zugrunde liegenden Verhältnisse und Dinge richten, man muß das Eigentum und den
Staat vernichten, dann hat man nicht mehr nötig, Menschen zu vernichten und sich selbst zu der unfehlbaren und unvermeidlichen Reaktion zu verurteilen, welche in jeder Gesellschaft stets1 als die Folge des Menschenmordes eingetreten ist und stets als solche eintreten wird. Aber um das Recht zu haben, ohne Gefahr für die Revolution menschlich gegen Menschen zu sein, muß man unerbittlich gegen die Zustände und Dinge sein; man muß vollständig vernichten, überall und vor allem das Eigentum und sein unvermeidliches Korollar: den Staat. Das ist das ganze Geheimnis der Revolution. Man darf sich nicht wundern, wenn die Jakobiner und Blanquisten, die mehr aus Notwendigkeit als aus Uberzeugung Sozialisten geworden sind und für die der Sozialismus ein Revolutionsmittel, nicht aber der Revolutionszweck ist, da sie die Diktatur wollen, d.h. die Zentralisation des Staates, und da der Staat sie in unvermeidlicher logischer Notwendigkeit zur Wiederherstellung des Eigentums führen muß - es ist also sehr natürlich, sagen wir, wenn sie, die keine radikale Revolution gegen die Dinge selbst durchführen wollen, von einer blutigen Revolution gegen die Menschen träumen. Diese blutige Revolution aber, gegründet auf dem Aufbau eines mächtig zentralisierten revolutionären Staates, hätte, wie wir später noch mehr beweisen werden, die Militärdiktatur mit einem neuen Herrn zur unvermeidlichen Folge. Der Triumph der Jakobiner und Blanquisten also wäre der Tod der Revolution. 4. Wir sind die natürlichen Feinde dieser Revolutionäre - der Zukunftsdiktatoren, Gesetzgeber und Vormünder der Revolution - die, bevor noch die gegenwärtigen monarchischen, aristokratischen und Bourgeois-Staaten zerstört sind, bereits an die Schöpfung neuer revolutionärer Staaten denken, Staaten, ebenso zentralisierend und noch despotischer als die heute existierenden Staaten sind -, die so sehr an die durch irgendeine Autorität von oben geschaffene Ordnung gewöhnt sind und einen so großen Abscheu vor alledem haben, was ihnen als Unordnung erscheint und was doch nichts weiter ist, als der freie und natürliche Ausdruck des Volkslebens, daß sie, bevor noch eine gute und gesunde Unordnung durch die Revolution hervorgebracht ist, bereits daran denken, ihr ein Ende zu machen und den Maulkorb anzulegen durch irgendeine Autorität, die von der Revolution nur den Namen trägt, in Wirklichkeit aber nur eine neue Reaktion ist, da sie in der Tat von neuem die Volksmassen durch Dekrete regieren läßt und sie so wieder zum Gehorsam, zum Stillstand, zum Tode, das heißt zur Sklaverei und zur Ausbeutung durch eine neue quasi-revolutionäre Aristokratie verdammt. 5. Wir fassen die Revolution auf in dem Sinne der Entfesselung alles dessen, was man heute die bösen Leidenschaften nennt, und der Vernichtung desjenigen, was in derselben Sprache „öffentliche Ordnung" heißt. Wir fürchten die Anarchie nicht, wir rufen sie herbei, überzeugt, daß aus dieser Anarchie, das heißt, aus der vollständigen Geltendmachung des entfesselten Volkslebens, die Freiheit, die Gleichheit, die Gerechtigkeit, die neue Ordnung und selbst
1 In der französischen Ausgabe lautet der folgende Satzteil: zu Menschenmassakern geführt hat und stets führen wird
die Macht der Revolution der Reaktion gegenüber hervorgehen muß. Dies neueLeben die Volksrevolution - wird unzweifelhaft es auch nicht unterlassen, sich zu organisieren, aber es wird sich seine revolutionäre Organisation von unten nach oben und von der Peripherie zum Zentrum schaffen - dem Prinzip der Freiheit gemäß, nicht aber von oben nach unten oder vom Zentrum zur Peripherie hin nach Art der Autorität, wie auch immer diese beschaffen - denn es ist uns wenig daran gelegen, ob diese sich Kirche, Monarchie, konstitutioneller Staat, Bourgeois-Republik oder selbst revolutionäre Diktatur nennt. Wir verabscheuen und verwerfen sie alle aus gleichem Grunde - als unfehlbare Quellen der Ausbeutung und des Despotismus. 6. Die Revolution, wie wir sie verstehen, muß vom ersten Tage an radikal und vollständig den Staat und alle Staatseinrichtungen vernichten. Die natürlichen und notwendigen Konsequenzen dieser Vernichtung werden sein: a) der Staatsbankerott; b) dasAufhören der Bezahlung vonPrivatschulden durch Einmischung des Staates, indem jedem Schuldner überlassen bleibt, seine Schulden zu bezahlen, wenn ihm dies so beliebt; c) das Aufhören jeder Steuerzahlung und der Erhebung irgendwelcher direkter oder indirekter Abgaben; d) die Auflösung des Heeres, der Magistratur, der Bürokratie, der Polizei und der Priester; e) die Abschaffung der amtlichen Rechtspflege, die Aufhebung alles dessen, was juridisch Recht heißt odermit der Ausübung diesesRechtes in Verbindung steht. Demgemäß Abschaffung und Autodafe (Verbrennung) aller Eigentumstitel, Erbschafts-, Kauf-, Schenkungs-, Prozeßakten - mit einem Worte, des gesamten juridischen und bürgerlichen Papierkrams. Überall und in allen Dingen die revolutionäre Tatsache an Stelle des durch den Staat geschaffenen und garantierten Rechtes; f) die Konfiskation aller produktiven Kapitalien und Arbeitswerkzeuge zugunsten der Arbeitergenossenschaften, die jene kollektiv produzieren lassen müssen; g) die Konfiskation alles Eigentums der Kirche und des Staates, sowie des im Privatbesitz befindlichen Edelmetalls zugunsten der Föderativallianz aller Arbeitergenossenschaften - einer Allianz, welche die Kommune bilden wird. An Stelle der konfiszierten Güter wird die Kommune allen so beraubten Individuen genau das Notwendige geben, und können sie dann später durch ihre eigene Arbeit mehr erwerben, wenn sie es vermögen und wenn sie es wollen. - h) Für die Organisation der Kommune eine Föderation der Barrikaden in Permanenz und die Funktion eines Rates der revolutionären Kommune durch Delegation von einem oder zwei Abgeordneten für jede Barrikade, einem per Straße oder per Bezirk; die Deputierten sind mit imperativen Mandaten versehen und stets verantwortlich sowie jederzeit abberufbar. Der so organisierte Kommunalrat kann aus seiner Mitte Exekutivkomitees wählen, und für sie die einzelnen Gebiete der revolutionären Verwaltung der Kommune abzweigen. i) Erklärung der insurgierten und als Kommune organisierten Hauptstadt, daß, nachdem sie den Autoritäts- und Bevormundungsstaat zerstört (wozu sie berechtigt war, da sie in derselben Sklaverei unter demselben gestanden wie alle anderen örtlichkeiten), sie nunmehr ihrem Rechte entsage oder vielmehr jeder Anmaßung, die Provinzen zu regieren und zu beherrschen, k) Aufruf an alle Provinzen, Kommunen und Genossenschaften, sämtlich sofort dem von der Hauptstadt gegebenen Beispiele zu folgen und sich zuerst revolutionär zu reorganisieren und sodann an einen zu verabredenden 30 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Versammlungsort ihre gleichfalls mit imperativen Mandaten versehenen verantwortlichen und abberuf baren Abgeordneten zu delegieren, um die Föderation der im Namen derselben Prinzipien insurgierten Assoziationen, Kommunen und Provinzen zu konstituieren und eine Revolutionsmacht zu organisieren, stark genug, um über die Reaktion zu triumphieren. Sendung, nicht von offiziellen Revolutions-Kommissarien mit irgendwelchen Schärpen, sondern von Revolutions-Agitatoren in alle Provinzen und Gemeinden - besonders zu den Bauern, die nicht durch Prinzipien oder durch Verfügungen irgendwelcher Diktatur revolutioniert werden können, sondern einzig und allein durch die Tatsache der Revolution selbst, das heißt, durch die notwendigen Konsequenzen des vollständigen Aufhörens des offiziellen juridischen Staatslebens in allen Gemeinden. Abschaffung des nationalen Staates sogar in dem Sinne, daß jedes fremde Land, Provinz, Gemeinde, Genossenschaft, ja selbst jedes vereinzelte Individuum, das sich im Namen derselben Prinzipien erhoben hat, in die revolutionäre Föderation ohne Rücksicht auf die gegenwärtigen Staatsgrenzen aufgenommen wird, wenn sie auch zu verschiedenen politischen oder nationalen Systemen gehören, und daß die eigenen Provinzen, Kommunen, Genossenschaften, wie Individuen, welche die Partei der Reaktion ergreifen, ausgeschlossen bleiben. So wird also die Tatsache der Ausströmung und der Organisation der Revolution selbst bei dem gegenseitigen Schutze der insurgierten Länder es bewirken, daß die Universalität der auf Abschaffung der Grenzen und auf der Zertrümmerung des Staates begründeten Revolution triumphiert. 7. Es kann keine politische oder nationale Revolution mehr triumphieren, es sei denn, daß die politische Revolution sich in eine soziale verwandelt, und die vernunftgemäße, eben durch ihren Charakter radikal sozialistische und staatszerstörende Revolution zur allgemeinen Revolution wird. 8. Da die Revolution überall aus dem Volke selbst hervorgehen und die Oberleitung immer bei dem als freie Föderation ackerbauender und industrieller Genossenschaften organisierten Volke bleiben muß, so wird der neue revolutionäre Staat, der sich auf dem Wege der revolutionären Delegation von unten nach oben organisiert und alle im Namen derselben Prinzipien organisierten1 Länder ohne Rücksicht auf die alten Grenzen und die Verschiedenheit der Nationalität umfaßt, die Verwaltung des öffentlichen Dienstes und nicht die Regierung der Völker zum Gegenstande haben. Er wird das neue Vaterland, die Allianz der allgemeinen Revolution gegen die Allianz aller Reaktionären konstituieren. 9. Diese Organisation schließt jeden Gedanken einer Diktatur oder irgendeiner bevormundend leitenden Gewalt aus. Aber zur Gründung dieser revolutionären Allianz und zum Triumphe der Revolution über die Reaktion ist es notwendig, daß inmitten der Volksanarchie, welche eben das Leben und die ganze Kraft der Revolution bilden wird, die Einheit des Gedankens und des revolutionären Handelns ein Organ finde. Dieses Organ soll die geheime und universelle Assoziation der internationalen Brüder sein.
10. Diese Assoziation geht von der Überzeugung aus, daß Revolutionen niemals von Individuen, auch nicht einmal von geheimen Gesellschaften gemacht werden. Sie machen sich wie von selbst, die Macht der Dinge, der Strom der Ereignisse und der Tatsachen schaffen sie. Lange bereiten sie sich vor in der Tiefe des instinktiven Bewußtseins der Volksmassen - dann kommen sie zum Ausbruch, anscheinend oft nur durch unbedeutende Ursachen hervorgerufen. Alles was eine gut organisierte geheime Gesellschaft tun kann, besteht zunächst darin, daß sie die Geburt einer Revolution unterstützt, indem sie in den Massen die den Masseninstinkten entsprechenden Ideen verbreitet, und daß sie, nicht die Revolutionsarmee - die Armee muß immer das Volk sein - wohl aber eine Art revolutionären Generalstabs organisiert, der aus ergebenen, energischen, intelligenten Individuen und vor allem aus aufrichtigen und nicht ehrgeizigen oder eitlen Freunden des Volkes besteht, die die Fähigkeit besitzen, als Vermittler zwischen der revolutionären Idee und den Volksinstinkten zu dienen. 11. Die Zahl dieser Individuen darf also nicht sehr groß sein. Für die internationale Organisation von ganz Europa genügen hundert fest und ernst verbündete Revolutionäre. Zwei-, dreihundert Revolutionäre werden für die Organisation des größten Landes genügen.
2. Programm und Reglement der öffentlichen Allianz
Indem die sozialistische Minorität der Friedens- und Freiheitsliga (!) sich von dieser Liga trennte infolge des Majoritätsvotums auf dem Kongreß zu Bern, welches Votum sich ausdrücklich gegen das Grundprinzip aller Arbeitergenossenschaften, das Prinzip der ökonomischen und sozialen Gleichheit der Klassen und Individuen, aussprach, ist diese Minorität hierdurch von selbst den von den Arbeiterkongressen zu Genf, Lausanne und Brüssel ausgesprochenen Prinzipien beigetreten. Mehrere verschiedenen Nationen angehörige Mitglieder der erwähnten Minorität haben uns den Vorschlag gemacht, eine neue Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie zu organisieren, die, zwar vollständig in der großen Internationalen Arbeiter-Assoziation aufgegangen, sich doch die besondere Mission stelle, die politischen und philosophischen Fragen auf der Grundlage dieses großen Prinzips der allgemeinen und sittlichen1 Gleichheit aller Menschenwesen auf Erden zu studieren. Unsererseits von dem Nutzen eines solchen Unternehmens überzeugt, das den aufrichtigen sozialistischen Demokraten Europas und Amerikas das Mittel gewähren wird, sich zu verständigen und ihre Ideen zu befestigen außerhalb jeder Pression jenes falschen Sozialismus, welchen die Bourgeois-Demokratie heute zur Förderung ihrer Zwecke zur Schau trägt, haben wir, in Übereinstimmung mit den gedachten Freunden, geglaubt, die Initiative für diese neue Organisation ergreifen zu müssen.
Demgemäß haben wir uns als Zentralsektion der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie organisiert und veröffentlichen heute das Programm und Reglement derselben.
PROGRAMM DER INTERNATIONALEN ALLIANZ DER SOZIALISTISCHEN DEMOKRATIE
1. Die Allianz erklärt sich als atheistisch; sie will die Abschaffung aller Religionskulte und die Ersetzung des Glaubens durch die Wissenschaft sowie der göttlichen Gerechtigkeit durch die menschliche. 2. Sie will vor allem die politische, ökonomische und soziale Gleichmachung der Klassen und der Individuen beider Geschlechter, indem sie mit der Abschaffung des Erbrechts den Anfang macht, damit in Zukunft der Genuß gleich sei der produktiven Arbeit1 eines jeden und, dem vom letzten Arbeiterkongreß zu Brüssel gefaßten Beschlüsse gemäß, der Grund und Boden, die Arbeitswerkzeuge sowie alles andere Kapital, als Kollektiveigentum der gesamten Gesellschaft, nur2 dem Nutzen der Arbeiter, d.h. der ackerbauenden und industriellen Assoziationen dienen. 3. Sie will für alle Kinder beiderlei Geschlechter von ihrer Geburt an die Gleichheit der Mittel zu ihrer Entwickelung, d.h. ihres Unterhaltes, ihrer Erziehung und ihres Unterrichtes auf allen Stufen der Wissenschaft, der Industrie und der Künste; sie hegt die Überzeugung, daß diese zunächst nur ökonomische und soziale Gleichheit die Folge haben wird, eine immer größere natürliche Gleichheit der Individuen zu schaffen, indem sie alle künstlichen Ungleichheiten, historische Produkte einer ebenso falschen als unbilligen sozialen Organisation, verschwinden macht. 4. Als Feindin jedes Despotismus und keine andere politische Form als die republikanische anerkennend sowie jedes reaktionäre Bündnis absolut verwerfend, weist sie jede politische Tätigkeit von sich, die nicht den Triumph der Sache der Arbeiter gegen das Kapital zum unmittelbaren und direkten Zweck hat. 5. Sie bekennt, daß alle gegenwärtig existierenden politischen Autoritätsstaaten, sich mehr und mehr zu einfachen Funktionen der Verwaltung des öffentlichen Dienstes in ihren betreffenden Ländern umwandelnd, in der universellen Einigung freier, ackerbauender wie industrieller Genossenschaften verschwinden müssen. 6. Da die soziale Frage nur auf der Grundlage der internationalen oder allgemeinen Solidarität der Arbeiter aller Länder ihre schließliche und wirkliche Lösung finden kann, verwirft die Allianz jede auf dem sogenannten Patriotismus und der Rivalität der Nationen begründete Politik. 7. Sie will die universelle Genossenschaft aller lokalen Genossenschaften vermittelst der Freiheit.
1 In der französischen Ausgabe: Produktion (statt: produktiven Arbeit) - 2 in der französischen Ausgabe lautet der folgende Satzteil: durch die Arbeiter, d.h. die ackerbauenden und industriellen Assoziationen nutzbar gemacht werden können
REGLEMENT
1. Die Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie konstituiert sich als ein Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation, deren sämtliche allgemeine Statuten sie annimmt. 2. Die Gründungsmitglieder (membres fondateurs)1 organisieren provisorisch ein Zentralbüro in Genf. 3. Die Gründungsmitglieder ein und desselben Landes konstituieren das Nationalbüro dieses Landes. 4. Die Nationalbüros haben die Aufgabe, an allen Orten Lokalgruppen der Allianz der sozialistischen Demokratie zu gründen, die sodann vermittelst ihrer bezüglichen Nationalbüros beim Zentralbüro der Allianz ihre Aufnahme in die Internationale Arbeiter-Assoziation zu beantragen haben. 5. Alle Lokalgruppen bilden ihre Büros in der bei den Lokalsektionen der Internationalen Arbeiter-Assoziation üblichen Weise. 6. Alle Mitglieder der Allianz verpflichten sich zur Zahlung eines monatlichen Beitrages von zehn Centimes. Die Hälfte des Beitrages hält jede nationale Gruppe für ihre eigenen Bedürfnisse zurück, die andere Hälfte fließt in die Kasse des Zentralbüros für die allgemeinen Zwecke. In den Ländern, in welchen man diesen Beitrag für zu hoch erachtet, können ihn die Nationalbüros in Übereinstimmung mit dem Zentralbüro ermäßigen. 7. Bei dem jährlichen Arbeiterkongreß wird die Delegation der Allianz der sozialistischen Demokratie, als Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation, ihre öffentlichen Sitzungen in einem besonderen Lokale halten.
3. Brief Bakunins an Francisco Mora in Madrid (Der Brief ist französisch geschrieben)
Locarno, den 5.April 1872
Lieber Alliierter und Genosse! Da unsere Freunde zu Barcelona mich aufgefordert haben, an Sie zu schreiben, tue ich es mit um so größerem Vergnügen, als auch ich und meine Freunde, unsere Alliierten von der Jura-Föderation, den Verleumdungen des Londoner Generalrats ausgesetzt sind, in Spanien so gut wie anderwärts. Es ist wahrlich etwas sehr Betrübendes, daß in dieser schrecklichen Krisis, in der sich für viele Jahrzehnte das Schicksal des Proletariats von ganz Europa entscheidet, und in der alle Freunde des Proletariats, der Menschheit und der Gerechtigkeit sich brüderlich vereinigen müßten, um dem gemeinsamen Feinde, der im Staat organisierten Gesellschaft
der Privilegierten, die Spitze zu bieten - es ist sehr betrübend, sage ich, daß Leute, die übrigens in der Vergangenheit der Internationalen große Dienste geleistet haben, heute, durch eine böse autoritätssüchtige Leidenschaft getrieben, sich sogar zur Lüge erniedrigen und Zwietracht säen, statt überall jene freie Einigung zu schaffen, aus der allein die Macht hervorgehen kann. Um Ihnen eine richtige Idee unserer Bestrebungen zu geben, brauche ich Ihnen nur eins zu sagen. Unser Programm ist das Ihre, dasselbe, welches Sie im vergangenen Jahre auf Ihrem Kongreß proklamiert haben, und wenn Sie demselben treu geblieben sind, gehören Sie zu uns, aus demselben Grunde, wie wir zu Ihnen gehören. Wir verabscheuen das Prinzip der Diktatur, des Regierungssystems (gouvernementalisme) und der Autorität, wie Sie es verabscheuen; wir haben die Uberzeugung, daß jede politische Gewalt zu einer unfehlbaren Quelle der Entsittlichung für die Regierenden und der Knechtschaft für die Regierten wird. - Staat bedeutet Herrschaft, und die menschliche Natur ist so geartet, daß jede Herrschaft zur Ausbeutung führt. Als Feinde des Staates unter allen Umständen, des Staates in allen seinen Kundgebungen, wollen wir einen solchen ebensowenig in der Internationalen dulden. Wir betrachten die Londoner Konferenz und die von ihr angenommenen Resolutionen als eine Intrige des Ehrgeizes und als einen Staatsstreich, und deshalb haben wir protestiert und werden bis ans Ende protestieren. Ich berühre nicht die persönlichen Angelegenheiten, leider werden sie nur zu sehr den nächsten Kongreß beschäftigen, wenn dieser Kongreß stattfindet, woran ich meinerseits zweifle, denn wenn die Dinge in derselben Weise fortgehen wie bisher, wird es bald auf dem Festlande Europas keinen Ort geben, wo sich die Delegierten des Proletariats versammeln können, um frei zu beraten. Und jetzt sind alle Augen auf Spanien und auf den Ausgang Eures Kongresses gerichtet. Was wird das Resultat desselben sein? Dieser Brief wird Ihnen, Wenn er Ihnen zukommt, erst nach dem Kongresse zukommen. Wird er Sie in voller Revolution oder in voller Reaktion finden? Alle unsere Freunde in Italien, in Frankreich, in der Schweiz erwarten in grausamer Spannung Nachrichten aus Ihrem Lande. Sie wissen ohne Zweifel, daß in Italien m der letzten Zeit die Internationale und unsere teure Allianz eine sehr bedeutende Entwicklung erreicht haben. Das Volk, sowohl auf dem Lande wie in den Städten, befindet sich in einer vollständig revolutionären, d.h. in einer ökonomisch verzweifelten Lage, und die Massen beginnen, sich in sehr ernster Weise zu organisieren, ihre Interessen beginnen Ideen zu werden. Was bisher Italien gefehlt hat, das waren nicht die Instinkte, sondern gerade die Organisation und die Idee. Beide bilden sich jetzt derart, daß Italien nächst Spanien, mit Spanien in dieser Stunde vielleicht das revolutionärste Land ist. In Italien existiert, was den anderen Ländern fehlt: eine glühende, energische Jugend ohne jede Stellung, ohne Karriere, ohne Ausweg (tout ä fait deplacee, sans carriere, sans issue), die trotz ihrer Bourgeois-Herkunft nicht moralisch und intellektuell erschöpft ist, wie die BourgeoisJugend anderer Länder. Heute stürzt sie sich kopfüber (ä tete perdue) in den revolutionären Sozialismus mit unserem ganzen Programm, dem Programm der Allianz. Mazzini, unser genialer und mächtiger Gegner, ist tot, die mazzinistische Partei ist vollständig desorganisiert, und Garibaldi läßt sich mehr und mehr fortreißen von jener
seinen Namen führenden Jugend, die jedoch viel weiter geht, oder vielmehr läuft, als er. Ich habe den Freunden in Barcelona eine italienische Adresse gesandt; ich werde ihnen bald noch andere schicken. Es ist gut, es ist notwendig, daß die Alliierten Spaniens mit denen Italiens in direkte Verbindung treten. Erhalten Sie die italienischen sozialistischen Blätter? Ich empfehle Ihnen besonders: die „Eguaglianza" in Girgenti, Sizilien, die „Campana" in Neapel - den „Fascio Operaio" in Bologna - „II Gazzettino Rosa", aber vor allen „II Martello" in Mailand, der leider mit Beschlag belegt und dessen Redakteure sich sämtlich im Gefängnis befinden. In der Schweiz empfehle ich Ihnen zwei Alliierte: James Guillaume (Schweiz, Neuchatel, 5, Rue de la Place d'Armes) und Adhemar Schwitzguebel, Graveur (Mitglied und korrespondierender Sekretär der Jura-Föderation), Schweiz, Berner Jura, Sonvillier, Herrn Adhemar Schwitzguebel, Graveur. (Folgt die Adresse Bakunins.)
Allianz und Brüderlichkeit M. Bakunin
Ich bitte, grüßen Sie meinerseits den Bruder Morago, und bitten Sie ihn, mir sein Blatt zu schicken. Bekommen Sie das „Bulletin" der Jura-Föderation? Ich bitte Sie, diesen Brief zu verbrennen, da er Namen enthält.
Der Haager Kongreß hat Bakunin nicht bloß als Gründer der Allianz, sondern auch wegen einer persönlichen Tatsache aus der Internationalen ausgestoßen. Das authentische Dokument, das diese Tatsache belegt, ist noch in unseren Händen, doch gebieten uns politische Gründe, vorläufig von seiner Veröffentlichung Abstand zu nehmen.
Friedrich Engels
Aus der Internationalen
[„Der Volksstaat" Nr. 53 vom 2. Juli 1873] Der „Volksstaat" hat seit längerer Zeit über den Stand der Dinge in der Internationalen Arbeiter-Assoziation weiter nichts gebracht als die offiziellen Veröffentlichungen des Generalrats in New York12611. Er hat es eben gemacht wie alle andern internationalen Blätter und wie die große Masse der Mitglieder der Assoziation selbst. Während die von der bakunistischen geheimen Allianz121 geleiteten Organe der Haager Minorität Himmel und Erde in Bewegung setzten, um sich als Vertreter der wirklichen Majorität der Internationalen hinzustellen, die Majorität des Kongresses, den alten Generalrat und besonders Marx in allen Tonarten zu verlästern und zu verleumden und die verkannten Genies aller Nationen um sich zu versammeln, begnügten sich die Angegriffenen damit, ein für allemal den Tatbestand über den Haager Kongreß11541 festzustellen und nur den allergrößten und infamsten Verleumdungen die Tatsachen selbst entgegenzuhalten. Im übrigen verließ man sich auf den gesunden Sinn der Arbeiter und die Aktion des Generalrats, der sich ja auch seinem Posten vollständig gewachsen gezeigt hat. Das Nachfolgende wird beweisen, daß diese ohne weitere Ubereinkunft überall von selbst eingehaltene Handlungsweise ihre Früchte getragen hat. In England hatten einige englische Mitglieder des letzten Generalrats, denen Marx im Haag - auf Grund aktenmäßiger Beweise und eigenen Eingeständnisses, und ohne daß sie ein Wort der Erwiderung gewagt hätten die Anklage der Korruption ins Gesicht geschleudert hatte1, vorigen Dezember eine Spaltung im Britischen Föderalrat hervorgerufen2. Sie traten aus und beriefen einen Separatkongreß, der aus ganzen e//Mann bestand, von
denen man nicht einmal zu sagen wagte, ob und welche Sektionen sie verträten. Die elf Mann erklärten sich mit Entrüstung gegen die Haager Beschlüsse und rangierten sich unter das Banner der Sezessionisten; unter ihnen voran zwei Ausländer, Eccarius und Jung. Von da an bestanden zwei Föderalräte, aber mit dem Unterschied, daß der eine, der internationale, fast alle Sektionen hinter sich hatte, während der andre, der sezessionistische, niemand vertrat als seine eignen Mitglieder. Der letztere spielte diese Komödie mehrere Monate lang, ist aber schließlich entschlafen. Mit den englischen Arbeitern, die eine fünfzigjährige Bewegung geschult hat, kann man eben solche Possen nicht aufführen. Dagegen hat am 1. und 2. Juni in Manchester der Kongreß der britischen Internationalen stattgefunden und entschieden Epoche gemacht in der englischen Arbeiterbewegung.13181 Es waren 26 Delegierte gegenwärtig, welche neben einigen kleineren Orten die Hauptmittelpunkte der englischen Industrie vertraten. Der Bericht des Föderalrats unterschied sich von allen früheren derartigen Dokumenten dadurch, daß er - in diesem Lande der angestammten Gesetzlichkeit - für die Arbeiterklasse das Recht in Anspruch nahm, ihre Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Der Kongreß billigte den Bericht und beschloß: Die rote Fahne ist die Fahne der britischen Internationalen; die Arbeiterklasse beansprucht Rückgabe nicht nur alles Grundeigentums, sondern auch aller Arbeitsmittel überhaupt an das arbeitende Volk; als vorläufige Maßregel wird der achtstündige Normalarbeitstag verlangt; die spanischen Arbeiter werden wegen Errichtung der Republik und Erwählung von zehn Arbeitern in die Cortes beglückwünscht; die englische Regierung wird aufgefordert, die noch gefangenen irischen Fenier11661 sofort zu entlassen. - Wer die Geschichte der englischen Arbeiterbewegung kennt, wird zugeben, daß noch nie ein englischer Arbeiterkongreß so weitgehende Forderungen gestellt hat. Und jedenfalls ist mit diesem Kongreß und mit dem kläglichen Ende des separatistischen, selbsterfundenen Föderalrats die Stellung der englischen Internationalen entschieden. In der Schweiz geht es den Sonderbündlern nicht besser. Man weiß, daß die Jura-Föderation von jeher die Seele aller Sonderbündlerei in der Internationalen war. Schon auf dem Haager Kongreß erklärten ihre Delegierten, sie verträten die wahre Majorität der Internationalen und würden das auf dem nächsten Kongreß beweisen. Aber kommt Zeit kommt Rat, auch für Leute, die das Maul voll nehmen. Am 27. und 28.April hielt die JuraFöderation ihren Kongreß in Neuchatel. Aus den Verhandlungen geht hervor, daß die Föderation elf Schweizer Sektionen zählt, von denen neun
vertreten waren. Wie es mit diesen elf Sektionen steht, wie stark sie sind usw., darüber sagt der Bericht des Ausschusses kein Wort; dagegen erklärt er, daß sozusagen die ganze Internationale sich ihrer Sonderbündelei angeschlossen habe. Danach wird also diese enorme Majorität auf dem nächsten allgemeinen Kongreß erscheinen und die Haager Beschlüsse umwerfen? Nein, das gerade nicht. Im Gegenteil, derselbe Ausschuß schlägt vor - was natürlich von diesen „autonomen" Delegierten sofort angenommen wird: Damit der neue Kongreß nicht wieder in die gefährlichen Irrwege des Haager Kongresses gerate, sollen die sonderbündlerischen Föderationen einen eignen Kongreß in irgendeiner Schweizer Stadt abhalten und keinen Kongreß anerkennen, den etwa der New-Yorker Generalrat berufen möchte. Der Haager Kongreß hat den Generalrat ausdrücklich beauftragt, die Schweizer Stadt zu bestimmen, in der der nächste Kongreß stattfinden soll.1 Der Beschluß der Jura-Föderation bedeutet also weiter nichts als einen neuen, hinter großtönenden Phrasen versteckten Rückzug. In der Tat, es war Zeit für diese Herren, sich den Rücken zu decken. Am l. und 2. Juni - fatale Tage für die Sonderbündler - war der schweizerische Arbeiterkongreß zu Ölten.13191 Auf 80 Delegierte waren ganze fünf Jurassier da. Es wurde vorgeschlagen, einen zentralisierten Schweizer Arbeiterbund zu stiften. Die fünf Jurassier dagegen schlugen ein künstlich verklausuliertes Föderativsystem vor, das die ganze Organisation wirkungslos gemacht haben würde. Da sie in einer hoffnungslosen Minorität waren, legten sie sich, wie im Haag, darauf, den andern die Zeit zu vertrödeln. Den ganzen Sonntag verlor der Kongreß mit der Debatte über diese sogenannte „Prinzipienfrage". Endlich fand sich die Majorität, ganz wie im Haag, genötigt, diesen langstieligen Rednern den Mund zu stopfen, um nur zur Arbeit zu kommen. Am Montag wurde einfach beschlossen, einen zentralisierten Bund zu stiften, worauf die fünf Prediger, nach Vorlesung einer nichtssagenden Erklärung, den Saal verließen und sich nach Hause begaben. Und diese Leute, in ihrem eigenen Lande so vollständig Null, beteuern seit Jahren ihren Beruf, die Internationale zu reorganisieren! Aber Unglück kommt nie allein. In Italien, wo die Anarchisten der Sonderbündelei augenblicklich das große Wort führen, hatte einer der ihrigen, Crescio von Piacenza, sein neues Blatt: ,,L'Avvenire Sociale" (Die soziale Zukunft) an Garibaldi geschickt, den diese Herren fortwährend als einen der ihrigen in Anspruch nehmen. Das Blatt war voll von Zorngeschrei
gegen das, was sie „das Autoritätsprinzip" nennen, das nach ihrer Ansicht die Wurzel alles Übels ist. Darauf antwortete Garibaldi:
„Lieber Crescio! Herzlichen Dank etc. Ihr wollt in Eurer Zeitung der Lüge und Sklaverei den Krieg machen, das ist ein ganz schönes Programm. Aber ich glaube, das Autoritätsprinzip zu bekämpfen, ist einer der Fehler der Internationalen, welcher ihre Fortschritte hindert. Die Pariser Kommune ist gefallen, weil in Paris keine Autorität, sondern nur noch Anarchie war." l311l Der alte Freiheitskämpfer, der in dem einen Jahr 1860 mehr ausgerichtet als alle Anarchisten je in ihrem Leben versuchen werden, weiß den Wert der Disziplin um so mehr zu schätzen, als er seine Streitkräfte stets selbst disziplinieren mußte und dies nicht tat wie die offiziellen Soldaten, durch Drillen, stetige Drohung des Erschießens, sondern vor dem Feind. Leider sind wir noch nicht am Ende mit der Aufzählung der Mißfälle, die den Sonderbündlern zugestoßen sind. Es fehlte ihnen nur noch eins, und auch dies ist ihnen passiert. Der „Neue"[6S1, dessen Polizeinase schon seit längerer Zeit an diesen Urstörern der Internationalen einen gewissen süßen Geruch entdeckt hatte, tritt jetzt ganz auf ihre Seite. In seiner Nr.68 findet er, daß der von den - aus der Internationalen tatsächlich ausgetretenen - Belgiern entworfene Statutenentwurf ganz seinen Ansichten entspricht und stellt seinen Anschluß an die Sonderbündler in Aussicht. Damit sind alle unsre Wünsche erfüllt. Wenn Hasselmann und Hasenclever auf dem Sonderbundeskongreß erscheinen, so erhält dieser Sonderbund seinen wahren Charakter. Rechts Bakunin, links Hasenclever und in der Mitte die unglücklichen Belgier, die man an der Nase ihrer proudhonistischen Phrasen herumführt!
Geschrieben am 19./20. Juni 1873.
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Friedrich Engels
Die Bakunisten an der Arbeit Denkschrift über den Aufstand in Spanien im Sommer 1873 13411
I
Der soeben veröffentlichte Haager Kommissionsbericht über die geheime Allianz Michail Bakunins*'342' hat der Arbeiterwelt das geheime Treiben, die Schurkereien und das hohle Phrasengeklingel dargelegt, vermittelst dessen die proletarische Bewegung dem aufgeblähten Ehrgeiz und den selbstischen Zwecken einiger verkannten Genies dienstbar gemacht werden sollte. Inzwischen haben diese Gerngroßmänner uns in Spanien Gelegenheit gegeben, auch ihre praktische Revolutionstätigkeit kennenzulernen. Sehn wir, wie sie ihre ultrarevolutionären Phrasen von Anarchie und Selbstherrlichkeit, von Abschaffung aller Autorität, besonders der staatlichen, von sofortiger und vollständiger Emanzipation der Arbeiter verwirklichen. Wir sind dazu jetzt endlich imstande, da uns außer den Zeitungsberichten über die Ereignisse in Spanien jetzt auch der von der Neuen Madrider Föderation der Internationalen an den Genfer Kongreß eingesandte Bericht vorliegt. Es ist bekannt, daß in Spanien bei der Spaltung der Internationalen die Mitglieder der geheimen Allianz die Oberhand behielten; weitaus die größere Mehrzahl der spanischen Arbeiter hing ihnen an. Als nun im Februar 1873 die Republik proklamiert wurde, kamen die spanischen Allianzisten in eine sehr schwierige Lage. Spanien ist ein in der Industrie so sehr zurückgebliebenes Land, daß dort von einer sofortigen vollständigen Emanzipation der
* „L'Alliance de la Democratie Socialiste", London 1873. Deutsch: „Ein Komplott gegen die Internationale"1 (Buchhandlung des „Vorwärts").
Arbeiterklasse noch gar nicht die Rede sein kann. Ehe es dahin kommt, muß Spanien noch verschiedne Vorstufen der Entwicklung durchmachen und eine ganze Reihe von Hindernissen aus dem Wege räumen. Den Verlauf dieser Vorstufen in die kürzestmögliche Zeitdauer zusammenzudrängen, diese Hindernisse rasch zu beseitigen - dazu bot die Republik die Gelegenheit. Diese Gelegenheit konnte aber nur benutzt werden durch tätiges po/ttisches Eingreifen der spanischen Arbeiterklasse. Dies fühlte die Masse der Arbeiter; sie drang überall darauf, daß man sich an den Ereignissen beteilige, daß man die Gelegenheit zum Handeln benutze, statt, wie bisher, den besitzenden Klassen das Feld für ihre Aktion und ihre Intrigen frei zu lassen. Die Regierung schrieb die Wahlen aus zu den konstituierenden Cortes; welche Stellung sollte die Internationale nehmen? Die Häupter der Bakunisten waren in der größten Verlegenheit. Eine fortgesetzte politische Untätigkeit erschien von Tag zu Tag lächerlicher und unmöglicher; die Arbeiter wollten „Taten sehn". Andrerseits hatten die Allianzisten seit Jahren gepredigt, daß man an keiner Revolution sich beteiligen dürfe, die nicht die sofortige volle Emanzipation der Arbeiterklasse zum Ziel habe, daß die Vornahme irgendwelcher politischen Handlung die Anerkennung des Staats, dieses Prinzips des Bösen, in sich schließe und daß daher namentlich die Teilnahme an irgendwelcher Wahl ein todeswürdiges Verbrechen sei. Wie sie sich aus dieser Klemme zogen, lehrt der angeführte Madrider Bericht:
„Dieselben Leute, welche den Haager Beschluß über die politische Haltung der Arbeiterklasse verwarfen und die Statuten der Assoziation mit Füßen traten und damit den Zwiespalt, den Kampf und die Unordnung in die spanische Internationale einführten; dieselben Leute, die die Schamlosigkeit hatten, uns in den Augen der Arbeiter als ehrgeizige Stellenjäger darzustellen, welche unter dem Vorwand, die Arbeiterklasse zur Herrschaft zu bringen, sich selbst die Herrschaft erobern wollten; dieselben Leute, die sich autonome, anarchistische Revolutionäre usw. nennen, haben sich bei dieser Gelegenheit mit Eifer darauf geworfen, in Politik zu machen, aber in der allerschlimmsten, in der Bourgeoispolitik. Sie haben nicht dafür gearbeitet, der Arbeiterklasse die politische Macht zu verschaffen-diese Idee verabscheuen sie im Gegenteil -, sondern einem Bruchteil der Bourgeoisie ans Ruder zu verhelfen, der aus Abenteurern, Ehrgeizigen und Stellenjägern besteht, und sich intransigente (unversöhnliche) Republikaner nennt. Schon am Vorabend der allgemeinen Wahlen für die Konstituante verlangten die Arbeiter von Barcelona, Alcoy und andren Orten zu wissen, welche Politik die Arbeiter zu befolgen hätten, sowohl im parlamentarischen Kampfe wie in jedem andren. Es wurden deswegen zwei große Versammlungen abgehalten, die eine in Barcelona, die andre in Alcoy; auf beiden stemmten sich die Allianzisten mit allen Kräften
dagegen, daß man die von der Internationale" (derihrigennotabene1) „zubeobachtende politische Haltung feststelle. Man beschloß also, daß die Internationale als Assoziation durchaus keine politische Tätigkeit auszuüben habe, daß aber die Internationalen, jeder für sich, handeln möchten, wiesie wollten, und sich jeder ihnen gutdünkenden Partei anschließen könnten, kraft ihrer famosen Selbstherrlichkeit! Und was war die Folge der Anwendung einer so abgeschmackten Lehre? Daß die große Masse der Internationalen, mit Einschluß der Anarchisten, sich an den Wahlen beteiligte, ohne Programm, ohne Fahne, ohne eigne Kandidaten, und so dazu* beitrugen, daß fast ausschließlich Bourgeoisrepublikaner gewählt wurden. Nur zwei oder drei Arbeiter kamen in die Kammer, Leute, die absolut nichts repräsentieren, die nicht ein einziges Mal die Stimme erhoben haben zur Verteidigung der Interessen unsrer Klasse und die ganz gemütlich für alle von der Majorität vorgelegten reaktionären Vorschläge stimmen." Das kommt von der bakunistischen „Enthaltung von der Politik". In ruhigen Zeiten, wo das Proletariat von vornherein weiß, daß es doch höchstens einige wenige Vertreter ins Parlament bringt und daß ihm die Erlangung einer parlamentarischen Majorität gänzlich abgeschnitten ist, mag es hie und da gelingen, die Arbeiter glauben zu machen, es sei eine große revolutionäre Handlung, bei den Wahlen zu Hause zu bleiben und überhaupt statt des Staats, in dem man lebt und der uns bedrückt, den Staat als solchen anzugreifen, den Staat im allgemeinen, der nirgends existiert und der sich also auch nicht wehren kann. Es ist das namentlich eine prächtige Art, revolutionär zu tun, für Leute, denen das Herz leicht in die Hosen fällt; und wie sehr die Führer der spanischen Allianzisten zu dieser Sorte gehören, weist die anfangs angeführte Schrift über die Allianz im einzelnen nach. Sobald aber die Ereignisse selbst das Proletariat in den Vordergrund drängen, wird die Enthaltung eine handgreifliche Abgeschmacktheit, das tätige Eingreifen der Arbeiterklasse eine unabweisbare Notwendigkeit. Und dies war in Spanien der Fall. Die Abdankung Amadeos hatte die radikalen Monarchisten'3431 von der Macht und von der Möglichkeit verdrängt, so bald wieder zur Macht zu kommen; die Alfonsisten13441 waren vorderhand noch unmöglicher; die Karlisten13451 zogen, wie fast immer, den Bürgerkrieg dem Wahlkampf vor. Alle diese Parteien enthielten sich nach spanischer Sitte; es nahmen an den Wahlen teil nur die in zwei Flügel gespaltenen bundesstaatlichen Republikaner und die Masse der Arbeiter. Bei dem gewaltigen Zauber, den der Name der Internationale damals noch auf die spanischen Arbeiter ausübte, bei der damals wenigstens praktisch noch bestehenden vortrefflichen Organisation ihres spanischen Zweigs war es sicher,
daß in den katalonischen Fabrikdistrikten, in Valencia, in den andalusischen Städten usw. jede von der Internationale aufgestellte und getragene Kandidatur glänzend durchging und daß sicher eine Minorität in die Cortes kam, stark genug, um zwischen den beiden Flügeln der Republikaner bei jeder Abstimmung den Ausschlag zu geben. Die Arbeiter fühlten dies, sie fühlten, daß jetzt die Zeit gekommen sei, ihre damals noch mächtige Organisation in Bewegung zu setzen. Aber die Herren Führer aus der bakunistischen Schule hatten so lange das Evangelium von der unbedingten Enthaltung gepredigt, daß sie nicht plötzlich umkehren konnten; und so erfanden sie jenen jammervollen Ausweg, die Internationale als Ganzes sich enthalten, aber ihre Mitglieder als einzelne nach Belieben stimmen zu lassen. Die Folge dieser politischen Bankerotterklärung war, daß die Arbeiter, wie immer im gleichen Fall, für die am radikalsten tuenden Leute stimmten für die Intransigenten, und dadurch mehr oder minder für die spätem Schritte ihrer Gewählten sich mitverantwortlich hielten und in sie mitverwickelt wurden.
II
Die Allianzisten konnten unmöglich in der lächerlichen Lage verharren, in die sie sich durch ihre schlaue Wahlpolitik versetzt hatten; sonst war es zu Ende mit ihrer bisherigen Herrschaft über die spanische Internationale. Sie mußten wenigstens zum Schein handeln. Was sie retten sollte, war der allgemeine Strike. Der allgemeine Strike ist im bakunistischen Programm der Hebel, der zur Einleitung der sozialen Revolution angesetzt wird. Eines schönen Morgens legen alle Arbeiter aller Gewerke eines Landes oder gar der ganzen Welt die Arbeit nieder und zwingen dadurch in längstens vier Wochen die besitzenden Klassen, entweder zu Kreuz zu kriechen oder auf die Arbeiter loszuschlagen, so daß diese dann das Recht haben, sich zu verteidigen und bei dieser Gelegenheit die ganze alte Gesellschaft über den Haufen zu werfen. Der Vorschlag ist weit entfernt davon, neu zu sein; französische und nach ihnen belgische Sozialisten haben seit 1848 dies Paradepferd stark geritten, das aber ursprünglich englischer Race ist. Während der auf die Krise von 1837 folgenden raschen und heftigen Entwicklung des Chartismus12291 unter den englischen Arbeitern war schon 1839 der „heilige Monat" gepredigt worden, die Arbeitseinstellung auf nationalem Maßstab (siehe Engels, „Lage der arbeitenden Klasse", zweite Auflage, Seite 234t3461), und hatte solchen Anklang gefunden, daß die Fabrikarbeiter von Nordengland
im Juli 1842 die Sache auszuführen versuchten. - Auch auf dem Genfer Allianzistenkongreß13471 vom I.September 1873 spielte der allgemeine Strike eine große Rolle, nur wurde allseitig zugegeben, daß dazu eine vollständige Organisation der Arbeiterklasse und eine gefüllte Kasse nötig sei. Und darin liegt eben der Haken. Einerseits werden die Regierungen, besonders wenn man sie durch politische Enthaltung ermutigt, weder die Organisation noch die Kasse der Arbeiter je so weit kommen lassen; und andrerseits werden die politischen Ereignisse und die Übergriffe der herrschenden Klassen die Befreiung der Arbeiter zuwege bringen, lange bevor das Proletariat dazu kommt, sich diese ideale Organisation und diesen kolossalen Reservefonds anzuschaffen. Hätte es sie aber, so brauchte es nicht den Umweg des allgemeinen Strikes, um zum Ziele zu gelangen. Für jeden, der das geheime Getriebe der Allianz einigermaßen kennt, kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Vorschlag zur Anwendung dieses probaten Mittels vom Schweizer Zentrum ausging. Genug, die spanischen Führer fanden hier einen Ausweg, um etwas zu tun, ohne direkt „politisch" zu v/erden, und gingen mit Freuden darauf ein. Die Wunder Wirkungen des allgemeinen Strikes wurden überall gepredigt, man bereitete sich darauf vor, in Barcelona und in Alcoy damit den Anfang zu machen. Inzwischen näherten sich die politischen Verhältnisse mehr und mehr einer Krisis. Die alten Großsprecher der bundesstaatlichen Republikaner, Castelar und Konsorten, erschraken vor der Bewegung, die ihnen über den Kopf wuchs; sie mußten die Gewalt an Pi y Margall abtreten, der einen Kompromiß mit den Intransigenten versuchte. Pi war unter den offiziellen Republikanern der einzige Sozialist, der einzige, der die Notwendigkeit einsah, die Republik auf die Arbeiter zu stützen. Er legte auch alsbald ein Programm sofort ausführbarer Maßregeln sozialer Natur vor, die nicht nur den Arbeitern unmittelbar vorteilhaft sein, sondern auch in ihren Folgen zu weitern Schritten treiben und so die soziale Revolution wenigstens in Gang bringen mußten. Aber die bakunistischen Internationalen, die selbst die revolutionärste Maßregel zurückzuweisen verpflichtet sind, sobald sie vom „Staat" ausgeht, unterstützten lieber die tollsten Schwindler unter den Intransigenten als einen Minister. Pis Verhandlungen mit den Intransigenten zogen sich in die Länge; die Intransigenten wurden ungeduldig; die hitzigsten unter ihnen fingen an, in Andalusien den kantonalen Aufstand ins Werk zu setzen. Jetzt mußten die Führer der Allianz ebenfalls losschlagen, wenn sie nicht im Schlepptau der intransigenten Bourgeois bleiben wollten. Der allgemeine Strike wurde also befohlen. In Barcelona wurde jetzt unter anderm ein Maueranschlag erlassen:
„Arbeiter! Wir machen einen allgemeinen Strike, um den tiefen Abscheu zu zeigen, den wir empfinden, wenn wir sehn, wie die Regierung das Heer zur Bekämpfung unserer arbeitenden Brüder' verwendet, dabei aber den Krieg gegen die Karlisten vernachlässigt" usw.
Die Arbeiter von Barcelona, der größten Fabrikstadt Spaniens, deren Geschichte mehr Barrikadenschlachten aufzuweisen hat als irgendeine andere Stadt der Welt, wurden also aufgefordert, der bewaffneten Regierungsgewalt nicht ebenfalls mit den in ihren Händen befindlichen Waffen entgegenzutreten, sondern - mit einer allgemeinen Arbeitseinstellung, mit einer Maßregel, die nur die einzelnen Bourgeois direkt berührt, nicht aber ihren Gesamtvertreter, die Staatsmacht! Die Barceloneser Arbeiter hatten in der tatlosen Friedenszeit den gewaltsamen Phrasen zahmer Leute wie Alerini, Farga Pellicer und Vinas zuhören können; als es zum Handeln kam, als Alerini, Farga Pellicer und Vinas erst ihr famoses Wahlprogramm erließen, dann fortwährend abwiegelten und endlich, statt zu den Waffen zu rufen, den allgemeinen Strike erklärten, wurden sie den Arbeitern geradezu verächtlich. Der schwächste Intransigent zeigte immer noch mehr Energie als der stärkste Allianzist. Die Allianz und die von ihr genasführte Internationale verlor allen Einfluß, und als der allgemeine Strike von diesen Herren proklamiert wurde unter dem Vorwand, damit die Regierung lahmzulegen, lachten die Arbeiter sie einfach aus. Aber das wenigstens hatte die Tätigkeit der falschen Internationale noch fertiggebracht, Barcelona von der Teilnahme am kantonalen Aufstand abzuhalten; und Barcelona war die einzige Stadt, deren Beitritt zur Bewegung dem überall stark in ihr vertretenen Arbeiterelement einen festen Rückhalt und damit die Aussicht geben konnte, sich schließlich der ganzen Bewegung zu bemächtigen. Und ferner war mit dem Beitritt von Barcelona der Sieg so gut wie entschieden. Aber Barcelona rührte keinen Finger; die Barceloneser Arbeiter, über die Intransigenten im klaren, von den Allianzisten geprellt, blieben untätig und sicherten dadurch den endlichen Sieg der Madrider Regierung. Was alles die Allianzisten Alerini und Brousse (Näheres über sie enthält der Bericht über die Allianz1) nicht abhielt, in ihrem Blatt, der „Solidarite revolutionnaire", zu erklären:
„Die revolutionäre Bewegung verbreitet sich wie ein Lauffeuer über die ganze Halbinsel... in Barcelona ist noch nichts geschehn, aber auf dem öffentlichen Platze ist die Revolution in Permanenzl"
1 Siehe vorl. Band, S. 327-471
31 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Es war aber die Revolution der Allianzisten, die im Halten von Pauken besteht und ebendeshalb „permanent" nicht vom „Platze" kommt. In Alcoy war gleichzeitig der allgemeine Strike auf die Tagesordnung gesetzt. Alcoy ist eine Fabrikstadt neueren Datums, von jetzt vielleicht 30 000 Einwohnern, in der die Internationale, in bakunistischer Form, erst seit einem Jahre Eingang und sehr rasche Verbreitung gefunden hat. Der Sozialismus war diesen bisher der Bewegung ganz fremden Arbeitern in jeder Form willkommen, ganz wie sich dies in Deutschland hie und da in zurückgebliebnen Orten wiederholt, wo der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein1681 plötzlich einen großen augenblicklichen Anhang bekommt. Alcoy war daher zum Sitz der bakunistischen Föderalkommission für Spanien erkoren, und grade diese Föderalkommission werden wir hier an der Arbeit sehn. Am 7. Juli beschließt eine Arbeiterversammlung den allgemeinen Strike und sendet am folgenden Tag eine Deputation zum Alkalden (Bürgermeister) mit der Aufforderung, die Fabrikanten binnen 24 Stunden zusammenzuberufen und ihnen die Forderungen der Arbeiter vorzulegen. Der Alkalde Albors, ein Bourgeoisrepublikaner, hält die Arbeiter hin, bestellt Truppen in Alicante und rät den Fabrikanten, nicht nachzugeben, sondern sich in ihren Häusern zu verbarrikadieren. Er selbst werde an seinem Posten sein. Nachdem er eine Zusammenkunft mit den Fabrikanten gehabt - wir folgen hier dem offiziellen Bericht der allianzistischen Föderalkommission, datiert 14. Juli 187313481 - erläßt er, der anfangs den Arbeitern Neutralität versprochen, eine Proklamation, worin er „die Arbeiter beleidigt und verleumdet, Partei für die Fabrikanten nimmt und so das Recht und die Freiheit der Strikenden vernichtet und sie zum Kampf herausfordert". Wie die frommen Wünsche eines Bürgermeisters das Recht und die Freiheit der Strikenden vernichten können, bleibt jedenfalls unklar. Genug, die von der Allianz geleiteten Arbeiter ließen dem Stadtrat durch eine Kommission erklären, wenn er die versprochene Neutralität im Strike nicht aufrechtzuhalten gesonnen sei, so solle er, um einen Konflikt zu vermeiden, lieber abdanken. Die Kommission wurde abgewiesen, und als sie das Rathaus verließ, feuerten Polizisten auf das Volk, das friedlich und unbewaffnet auf dem Platze stand. Dies der Beginn des Kampfs nach dem allianzistischen Bericht. Das Volk bewaffnete sich, der Kampf begann, der „zwanzig Stunden" gedauert haben soll. Auf der einen Seite die Arbeiter, die die „Solidarite revolutionnaire" auf 5000 angibt, auf der andern Seite 32 Gensdarmen im Rathaus und einige Bewaffnete in vier oder fünf Häusern am Markt, welche Häuser auf gut preußisch vom Volke niedergebrannt
wurden. Endlich ging den Gensdarmen die Munition aus, sie mußten kapitulieren.
„Man würde weniger Unfälle zu beklagen haben", sagt der allianzistische Kommissionsbericht, „wenn nicht der Alkalde Albors das Volk getäuscht hätte, indem er sich zu ergeben vorgab und dann feigerweise diejenigen ermorden ließ, die, gestützt auf sein Wort, ins Rathaus eindrangen; und dieser selbe Alkalde wäre nicht von der mit Recht entrüsteten Bevölkerung getötet worden, wenn er nicht auf die ihn Verhaftenden in nächster Nähe seinen Revolver abgefeuert hätte." Und was waren die Opfer dieses Kampfes?
„Wenn wir die Anzahl der Toten und Verwundeten" (auf Seiten des Volks) „nicht genau berechnen können, so können wir doch sagen, daß ihrer nicht unter - zehn sind. Auf Seiten der Herausforderer zählt man nicht weniger als fünfzehn Tote und Verwundete." Dies war dieerste Straßenschlacht der Allianz. Während zwanzig Stunden schlug man sich, 5000 Mann stark1, gegen 32 Gensdarmen und einige bewaffnete Bourgeois, besiegte sie, nachdem sie ihre Munition verschossen, und verlor im ganzen zehn Mann. Wohl mag die Allianz ihren Eingeweihten den Spruch Falstaffs einpauken, daß „Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist"[349]. Es versteht sich, daß alle die Schreckensnachrichten der Bourgeoisblätter von zwecklos niedergebrannten Fabriken, massenweise erschossenen Gensdarmen, von mit Petroleum übergossenen und angezündeten Menschen reine Erfindungen sind. Die siegreichen Arbeiter, selbst wenn die Allianzisten sie führen, deren Motto ist: „Es muß Allens verrungeniert werden", gehn immer viel zu großmütig mit ihren besiegten Gegnern um, und diese dichten ihnen daher alle die Schandtaten an, die sie im Falle des Sieges zu begehn nie unterlassen. Also der Sieg war errungen.
„In Alcoy", jubelt die „Solidarite revolutionnaire", „sind unsere Freunde, 5000 an der Zahl, Herren der Situation geworden." Und was machten die „Herren" aus ihrer „Situation"? Hier läßt uns der allianzistische Bericht und das allianzistische Journal vollständig im Stich; wir sind auf die gewöhnlichen Zeitungsberichte angewiesen. Aus diesen erfahren wir, daß in Alcoy nunmehr ein „Wohlfahrtsausschuß" errichtet wurde, d.h. eine revolutionäre Regierung. Nun hatten zwar die Allianzisten auf ihrem Kongreß zu Saint-Imier in der Schweiz,
1 Im „Volksstaat" fehlt: 5000 Mann stark
am 15. Sept. 1872[ 200), beschlossen, „daß jede Organisation einer politischen, sogenannten provisorischen oder revolutionären Gewalt nur eine neue Prellerei sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich sein würde wie alle jetzt bestehenden Regierungen". Auch hatten die Mitglieder der zu Alcoy sitzenden spanischen Föderalkommission ihr Bestes getan, daß der Kongreß der spanischen Internationale diesen Beschluß zum seinigen machte. Trotz alledem finden wir, daß Severino Albarracin, Mitglied dieser Kommission, und nach einigen Berichten auch Francisco Tomas, ihr Sekretär, Mitglieder dieser provisorischen und revolutionären Regierungsgewalt, des Wohlfahrtsausschusses von Alcoy, waren! Und was tat dieser Wohlfahrtsausschuß? Welches waren seine Maßregeln, um „die sofortige volle Emanzipation der Arbeiter" durchzusetzen? Er verbot allen Männern, die Stadt zu verlassen, während dies den Frauen erlaubt blieb, falls sie - Pässe hätten! Die Gegner der Autorität führen die Pässe wieder ein! Im übrigen absolute Rat-, Tat- und Hülflosigkeit. Inzwischen rückte General Velarde mit Truppen von Alicante an. Die Regierung hatte alle Ursache, die Lokalaufstände der Provinzen in aller Stille beizulegen. Und die „Herren der Situation" von Alcoy hatten alle Ursache, sich aus einer Situation zu ziehn, aus der sie nichts zu machen wußten. Der Deputierte Cervera, der den Vermittler machte, hatte also leichtes Spiel. Der Wohlfahrtsausschuß dankte ab, die Truppen rückten am 12. Juli ohne Widerstand ein, und die einzige Gegenversprechung, die dem Wohlfahrtsausschuß gemacht wurde, war - allgemeine Amnestie. Die allianzistischen „Herren der Situation" waren wieder einmal glücklich aus der Klemme. Und damit endete das Abenteuer von Alcoy. In Sanlücar de Barrameda bei Cadiz, erzählt uns der allianzistische Bericht, „schließt der Alkalde das Lokal der Internationale und fordert durch seine Drohungen und durch seine unaufhörlichen Angriffe gegen die persönlichen Rechte der Bürger den Zorn der Arbeiter heraus. Eine Kommission reklamiert vom Minister die Anerkennung des Rechts und die Wiedereröffnung des willkürlich geschlossenen Lokals. Herr Pi bewilligt dies im Prinzip... verweigert es aber in der Wirklichkeit; die Arbeiter finden, daß die Regierung ihre Assoziation planmäßig in die Acht erklären will; sie setzen die Lokalbehörden ab und ernennen andere an ihrer Stelle, die das Lokal der Assoziation wieder öffnen." „In Sanlücar... beherrscht das Volk die Situation!" triumphiert die „Solidarite revolutionnaire". Die Allianzisten, die auch hier, ganz gegen ihre anarchischen Grundsätze, eine revolutionäre Regierung gebildet, wußten
mit ihrer Herrschaft nichts anzufangen. Sie verloren die Zeit mit leeren Debatten und papiernen Beschlüssen, und als General Pavia Sevilla und Cädiz genommen hatte, schickte er einige Kompanien der Brigade Soria, am 5. August, nach Sanlücar und fand - keinen Widerstand. Dies sind die Heldentaten der Allianz, da, wo sie ohne jede Konkurrenz auftrat.
III
Unmittelbar nach dem Straßenkampf von Alcoy erhoben sich die Intransigenten in Andalusien. Noch war Pi y Margall am Ruder und in steter Verhandlung mit den Chefs dieser Partei, um aus ihnen ein Ministerium zu bilden; warum also losschlagen, ehe die Verhandlungen gescheitert? Der Grund dieser Übereilung ist nie ganz klargeworden; soviel aber ist sicher, daß den Herren Intransigenten es vor allen Dingen um schnellstmögliche praktische Durchführung der bundesstaatlichen Republik zu tun war, damit sie in den Besitz der Macht und der vielen neu zu schaffenden Regierungsposten in den einzelnen Kantonen kämen. Die Cortes in Madrid zögerten zu lange mit der Zerschlagung Spaniens; man mußte also selbst Hand anlegen und überall souveräne Kantone ausrufen. Die bisherige Haltung der (bakunistischen) Internationale, die in die intransigentistischen Händel seit den Wahlen tief verwickelt war, ließ auf deren Mitwirkung rechnen; hatten sie doch eben von Alcoy gewaltsamen Besitz genommen und waren also im offenen Kampf mit der Regierung! Dazu kam, daß die Bakunisten seit Jahren gepredigt hatten, jede revolutionäre Aktion von oben nach unten sei verderblich, alles müsse von unten nach oben organisiert und durchgesetzt werden. Und jetzt bot sich die Gelegenheit, das berühmte Prinzip der Selbstherrlichkeit, wenigstens für die einzelnen Städte, von unten nach oben durchzusetzen! Es war nicht anders möglich: Die bakunistischen Arbeiter gingen auf den Leim und holten den Intransigenten die Kastanien aus dem Feuer, um nachher von diesen ihren Bundesgenossen, wie immer, mit Fußtritten und Flintenkugeln abgelohnt zu werden. Was war nun die Stellung der bakunistischen Internationalen in dieser ganzen Bewegung? Sie hatten ihr den Charakter der föderalistischen Zersplitterung geben helfen, sie hatten ihr Ideal der Anarchie, soweit es möglich war, verwirklicht. Dieselben Bakunisten, die in Cordoba wenige Monate vorher die Errichtung revolutionärer Regierungen für Verrat und Prellerei der Arbeiter erklärt hatten, sie saßen jetzt in allen revolutionären städtischen Regierungen Andalusiens - aber überall in der Minderzahl, so daß die
Intransigenten tun konnten, was sie wollten. Während diese letztern die politische und militärische Leitung behielten, wurden die Arbeiter mit pomphaften Redensarten abgefertigt oder mit angeblichen sozialen Reformbeschlüssen von der rohesten und sinnlosesten Art, die zudem nur eine papierne Existenz hatten. Sobald die bakunistischen Führer wirkliche Zugeständnisse verlangten, wurden sie schnöde abgewiesen. Den englischen Zeitungskorrespondenten gegenüber hatten die intransigenten Leiter der Bewegung nichts Wichtigeres zu tun, als jeden Zusammenhang mit diesen sogenannten Internationalen und jede Verantwortlichkeit für sie abzulehnen und zu erklären, daß sie deren Chefs sowie alle anwesenden Pariser Kommuneflüchtlinge unter schärfster Polizeiaufsicht hielten. Endlich, wie wir sehn werden, in Sevilla, schössen die Intransigenten, während des Kampfes gegen die Regierungstruppen, auch auf ihre bakunistischen Bundesgenossen.1 So kam es, daß in wenigen Tagen ganz Andalusien in den Händen der bewaffneten Intransigenten war. Sevilla, Malaga, Granada, Cädiz usw. fielen ihnen fast ohne Widerstand in die Hände. Jede Stadt erklärte sich für einen souveränen Kanton und setzte einen revolutionären Regierungsausschuß (Junta) ein. Murcia, Cartagena, Valencia folgten. In Salamanca wurde ein ähnlicher Versuch, doch mehr friedlicher Natur, gemacht. Es waren also die meisten großen Städte Spaniens im Besitz der Insurgenten, mit Ausnahme der Hauptstadt Madrid, einer reinen Luxusstadt, die fast nie entscheidend eingreift, und Barcelonas. Hätte Barcelona losgeschlagen, so war der Enderfolg fast gewiß und daneben dem Arbeiterelement in der Bewegung ein mächtiger Rückhalt gesichert. Aber wir haben gesehn, daß die Intransigenten in Barcelona ziemlich ohnmächtig waren, während die zu jener Zeit dort noch sehr mächtigen bakunistischen Internationalen den allgemeinen Strike zum Vorwand nahmen, um abzuwiegeln. Barcelona war also diesmal nicht auf seinem Posten. Trotzdem hatte der, wenn auch hirnlos eingeleitete, Aufstand immer noch große Aussicht auf Erfolg, wäre er nur mit einigem Verstand geleitet worden, selbst nur nach der Weise der spanischen Militärrevolten, wo die Garnison einer Stadt sich erhebt, zur nächsten zieht, die schon vorher bearbeitete Garnison dieser Stadt mit sich fortreißt und lawinenartig anschwellend gegen die Hauptstadt vordringt, bis ein glückliches Gefecht oder der Übertritt der gegen sie gesandten Truppen den Sieg entscheidet. Diese Methode war diesmal ganz besonders anwendbar. Die Insurgenten waren
1 Im „Volksstaat" stehen die folgenden drei Absätze am Schluß von Abschnitt III
überall seit längerer Zeit in Freiwilligenbataillone organisiert, deren Disziplin zwar erbärmlicb war, aber sieber niebt erbärmlicber als die der Reste der alten, größtenteils auseinandergegangnen spanischen Armee. Die einzig zuverlässigen Truppen der Regierung waren die Gensdarmen (guardias civiles), und diese waren über das ganze Land zerstreut. Es kam vor allem darauf an, die Zusammenziehung der Gensdarmen zu verhindern, und dies konnte nur geschehn, indem man angriffsweise verfuhr und sich aufs offne Feld wagte; viel Gefahr war nicht dabei, da die Regierung den Freiwilligen nur ebenso undisziplinierte Truppen entgegenstellen konnte, wie sie selbst waren. Und wollte man siegen, so gab's kein andres Mittel. Aber nein. Die Bundesstaatlichkeit der Intransigenten und ihres bakunistischen Schwanzes bestand grade darin, daß jede Stadt auf eigne Faust handelte, nicht das Zusammenwirken mit den andern Städten, sondern die Trennung von ihnen für die Hauptsache erklärte und damit jede Möglichkeit eines allgemeinen Angriffs abschnitt. Was im deutschen Bauernkrieg und in den deutschen Aufständen vom Mai 1849 ein unvermeidliches Übel war - die Zersplitterung und Vereinzelung der revolutionären Kräfte, die denselben Regierungstruppen erlaubte, einen Aufstand nach dem andern niederzuschlagen'3501, - das wurde hier als Prinzip der höchsten revolutionären Weisheit proklamiert. Diese Genugtuung hat Bakunin erlebt. Er hatte schon im September 1870 („Lettres ä un Francis") erklärt, das einzige Mittel, durch einen Revolutionskampf die Preußen aus Frankreich zu werfen, bestehe darin, alle zentralisierte Leitung abzuschaffen und es jeder Stadt, jedem Dorf, jeder Gemeinde zu überlassen, den Krieg auf eigne Faust zu führen. Wenn man so dem einheitlich geführten preußischen Heere die Entfesselung der revolutionären Leidenschaften entgegensetze, so sei der Sieg gewiß. Dem endlich wieder einmal sich selbst überlassenen Gesamtverstande des französischen Volkes gegenüber müsse der Einzelverstand Moltkes natürlich verschwinden. Die Franzosen wollten dies damals nicht einsehn; aber in Spanien hat Bakunin einen glänzenden Triumph gefeiert, wie wir gesehn haben und noch weiter sehn werden. Inzwischen hatte diese ohne jeden Vorwand aus der Pistole geschossene Erhebung es Pi y Margall unmöglich gemacht, weiter mit den Intransigenten zu verhandeln. Er mußte abtreten; an seiner Stelle kamen die reinen Republikaner von der Sorte Castelars ans Ruder, Bourgeois ohne Verhüllung, deren erstes Ziel war, der früher von ihnen benutzten, aber jetzt für sie hinderlichen Arbeiterbewegung den Garaus zu machen. Eine Division wurde unter General Pavia gegen Andalusien, eine zweite unter Campos
gegen Valencia und Cartagena zusammengezogen. Den Kern bildeten die aus ganz Spanien versammelten Gensdarmen, lauter alte Soldaten, deren Disziplin noch unerschüttert war. Wie bei den Angriffen der Versailler Armee gegen Paris sollten die Gensdarmen auch hier den demoralisierten Linientruppen festen Halt geben und überall die Spitzen der Angriffskolonnen bilden, eine Aufgabe, die sie in beiden Fällen nach Kräften erfüllten. Außer ihnen erhielten die Divisionen noch einige zusammengeschmolzene Linienregimenter, so daß jede von ihnen ungefähr 3000 Mann zählte. Dies war alles, was die Regierung gegen die Insurgenten aufzustellen vermochte. General Pavfa setzte sich gegen den 20. Juli in Bewegung. Am 24. wurde Cördoba von einer Abteilung Gensdarmen und Linie unter Ripoll besetzt. Am 29. griff Pavi'a das verbarrikadierte Sevilla an, das am 30. oder 31. - die Telegramme lassen diese Daten oft ungewiß - in seine Hände fiel. Er ließ eine fliegende Kolonne zur Unterwerfung der Umgegend zurück und zog gegen Cädiz, dessen Verteidiger nur den Zugang zur Stadt, und auch diesen nur schwach, verteidigten, dann aber sich ohne Widerstand am 4. August entwaffnen ließen. In den folgenden Tagen entwaffnete er, ebenfalls ohne Widerstand, Sanlücar de Barrameda, San Roque, Tarifa, Algeciras und eine Menge andrer kleiner Städte, deren jede sich als souveräner Kanton konstituiert hatte. Gleichzeitig sandte er Kolonnen gegen Malaga, das am 3., und Granada, das am 8. August ohne Widerstand kapitulierte, so daß am 10.August, nach noch nicht 14 Tagen, und fast ohne Kampf, ganz Andalusien unterworfen war. Am 26. Juli eröffnete Martinez Campos den Angriff gegen Valencia. Hier war der Aufstand von den Arbeitern ausgegangen. Bei der Spaltung der spanischen Internationale hatten in Valencia die wirklichen Internationalen die Mehrzahl für sich; und der neue Spanische Föderalrat wurde nach dieser Stadt verlegt. Bald nach Proklamierung der Republik, als revolutionäre Kämpfe in Aussicht standen, boten die bakunistischen Valencianer Arbeiter, der unter ultrarevolutionären Phrasen sich verhüllenden Abwiegelei der Barceloneser Führer mißtrauend, den wirklichen Internationalen an, in allen lokalen Bewegungen mit ihnen zusammenzugehen. Als die kantonale Bewegung ausbrach, schlugen beide, die Intransigenten benutzend, sofort los und vertrieben die Truppen. Wie die Junta von Valencia zusammengesetzt war, ist nicht bekannt geworden; aus den Berichten der englischen Zeitungskorrespondenten geht jedoch hervor, daß in ihr wie in den Valencianer Freiwilligen die Arbeiter entschieden vorherrschten. Dieselben Korrespondenten sprachen von den Valencianer Insurgenten mit einem Respekt, den
sie weit entfernt sind, den andern vorherrschend intransigenten Aufständischen zu widmen; sie rühmten ihre Mannszucht, die in der Stadt herrschende Ordnung und prophezeiten einen langen Widerstand und harten Kampf. Sie täuschten sich nicht. Valencia, eine offene Stadt, hielt aus gegen die Angriffe der Division Campos vom 26. Juli bis zum 8. August, also länger als ganz Andalusien zusammengenommen. In der Provinz Murcia war die gleichnamige Hauptstadt ohne Widerstand besetzt worden; nach dem Fall Valencias zog Campos gegen Cartagena, eine der stärksten Festungen Spaniens, nach der Landseite von einem zusammenhängenden Wall und vorgeschobenen Forts auf den beherrschenden Höhen geschützt. Die 3000 Mann Regierungstruppen, ohne alles Belagerungsgeschütz, waren mit ihren leichten Feldkanonen gegen die schwere Artillerie der Forts natürlich ohnmächtig und mußten sich auf eine Einschließung der Landseite beschränken; diese aber bedeutete wenig, solange die Cartagineser mit ihrer im Hafen erbeuteten Kriegsflotte die See beherrschten. Die Insurgenten, nur mit sich selbst beschäftigt, während in Valencia und Andalusien gekämpft wurde, dachten erst an die Außenwelt nach Unterdrückung der übrigen Aufstände, als ihnen selbst Geld und Lebensmittel ausgingen. Dann erst wurde ein Versuch gemacht, gegen Madrid vorzurücken, das mindestens 60 deutsche Meilen entfernt liegt, mehr als doppelt so weit als z.B. Valencia und Granada! Die Expedition nahm unfern Cartagena ein klägliches Ende; die Einschließung schob allen weitern Ausfällen zu Lande einen Riegel vor; man warf sich also auf Ausfälle mit der Flotte. Und welche Ausfälle! Von einer neuen Insurgierung der eben erst unterworfnen Seestädte durch die Cartagineser Kriegsschiffe konnte keine Rede sein. Die Flotte des souveränen Kantons Cartagena beschränkte sich also darauf, die übrigen - nach der cartaginesischen Theorie ebenfalls souveränen — Seestädte von Valencia bis Malaga mit dem Bombardement zu bedrohen und nötigenfalls wirklich zu bombardieren, falls sie nicht die verlangten Lebensmittel und eine Kriegskontribution in harten Talern an Bord brachten. Solange diese Städte als souveräne Kantone gegen die Regierung in Waffen standen, galt in Cartagena das Prinzip: Jeder für sich. Sobald sie besiegt waren, sollte das Prinzip gelten: Alle für Cartagena! So verstanden die Intransigenten von Cartagena und ihre bakunistischen Helfershelfer die Bundesstaatlichkeit der souveränen Kantone. Um die Reihen der Freiheitskämpfer zu verstärken, ließ die Regierung von Cartagena die ungefähr 1800 Baugefangenen los, die im Bagno der Stadt eingekerkert waren - die schlimmsten Räuber und Mörder Spaniens. Daß diese revolutionäre Maßregel ihr von den Bakunisten eingeflüstert war,
ist nach den Enthüllungen des Berichts über die Allianz1 keinem Zweifel mehr unterworfen. Es ist dort nachgewiesen, wie Bakunin für die „Entfesselung aller schlechten Leidenschaften" schwärmt und den russischen Räuber für das Vorbild aller wahren Revolutionäre erklärt. Was dem Russen recht, ist dem Spanier billig. Wenn also die Cartagineser Regierung die „schlechten Leidenschaften" der eingespundeten 1800 Gurgelschneider entfesselte und damit die Demoralisation unter ihren Truppen auf die Spitze trieb, so handelte sie ganz im Geist Bakunins. Und wenn die spanische Regierung, statt ihre eignen Festungswerke in Grund zu schießen, die Unterwerfung Cartagenas von der inneren Zerrüttung der Verteidiger erwartete, so folgte sie einer ganz richtigen Politik.
IV
Hören wir nun über diese ganze Bewegung den Bericht der Neuen Madrider Föderation:
„In Valencia sollte am zweiten Sonntag des August ein Kongreß stattfinden, um unter anderm auch die Stellung zu bestimmen, welche die spanische internationale Föderation einzunehmen habe gegenüber den wichtigen politischen Ereignissen, welche in Spanien seit dem 11. Februar, dem Tag der Proklamation der Republik, eingetreten waren. Aber der unsinnige" (descabellada, wörtlich: zerzauste) „Kantonalaufstand, der so jämmerlich gescheitert ist und an dem die Internationalen fast aller insurgierten Provinzen sich eifrig beteiligten, hat nicht nur die Tätigkeit des Föderalrats lahmgelegt, indem er die Mehrzahl seiner Mitglieder zerstreute, sondern auch die lokalen Föderationen fast gänzlich desorganisiert und ihren Mitgliedern, was das schlimmste ist, allen den Haß und alle die Verfolgungen zugezogen, die jede schmählich eingeleitete und gescheiterte Volkserhebung im Gefolge hat... Als der kantonale Aufstand losbrach, als die Juntas, d.h. Regierungen der Kantone, sich konstituierten, da beeilten sich jene Leute" (die Bakunisten), „die so heftig gegen die politische Gewalt geschrien, die uns des Autoritarismus angeklagt, sie beeilten sich, in jene Regierungen einzutreten. In bedeutenden Städten wie Sevilla, Cädiz, Sanlücar de Barrameda, Granada und Valencia saßen viele von den Internationalen, die sich Anti-Autoritarier nennen, auf den kantonalen Juntas, ohne andres Programm als das der Selbstherrlichkeit der Provinz oder des Kantons. Dies ist amtlich festgestellt durch die von jenen Juntas veröffentlichten Proklamationen und andere Dokumente, unter denen die Namen wohlbekannter Internationalen von dieser Sorte figurieren.
Ein so schreiender Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis, zwischen der Propaganda und der Tat würde wenig zu bedeuten haben, wenn daraus irgendein Vorteil für unsre Assoziation hätte erwachsen können oder irgendein Fortschritt der Organisation unsrer Kräfte, irgendeine Annäherung an die Erreichung unsres Hauptzwecks, die Emanzipation der Arbeiterklasse. Grade das Gegenteil ist geschehn, wie dem nicht anders sein konnte. Es fehlte die Grundbedingung, das tätige Zusammenwirken des spanischen Proletariats, das so leicht zu erzielen war, sobald man im Namen der Internationale handelte. Es fehlte die Übereinstimmung unter den lokalen Föderationen; die Bewegung blieb der individuellen oder lokalen Initiative überlassen, ohne irgendwelche Leitung (außer derjenigen, die ihr die geheimnisvolle Allianz etwa aufdrängen konnte, und diese Allianz beherrscht zu unsrer Schande noch immer die spanische Internationale), ohne irgendwelches Programm außer dem unsrer natürlichen Feinde, der bürgerlichen Republikaner. Und so unterlag die kantonale Bewegung in der schimpflichsten Weise, fast ohne Widerstand; aber in ihrem Untergang riß sie mit sich das Prestige und die Organisation der Internationale in Spanien. Es geschieht kein Exzeß, kein Verbrechen, keine Gewalttätigkeit, die die Republikaner nicht heute den Internationalen in die Schuhe schieben; es ist sogar, wie uns versichert wird, in Sevilla vorgekommen, daß während des Kampfes die Intransigenten auf ihre Verbündeten, die" (bakunistischen) „Internationalen geschossen haben. Die Reaktion, unsre Torheiten geschickt benutzend, hetzt die Republikaner zur Verfolgung gegen uns und verleumdet uns bei der großen gleichgültigen Masse; was sie zur Zeit Sagastas nicht fertigbringen konnte, das scheint sie erreichen zu sollen: den Namen Internationale bei der großen Masse der spanischen Arbeiter in Verruf zu bringen. In Barcelona haben sich eine Menge Arbeitersektionen von den Internationalen getrennt, laut protestierend gegen die Leute von der Zeitschrift ,La Federacion'" (Hauptorgan der Bakunisten) „und ihre unerklärliche Haltung. In Jerez, Puerto de Santa Maria und andern Orten haben die Föderationen beschlossen, sich aufzulösen. In Loja (Provinz Granada) sind die wenigen dort wohnenden Internationalen von der Bevölkerung vertrieben worden. In Madrid, wo man noch der größten Freiheit genießt, gibt die alte" (bakunistische) „Föderation nicht das mindeste Lebenszeichen, während die unsrige gezwungen ist, sich untätig und schweigend zu verhalten, wenn sie sich nicht mit fremder Schuld beladen sehn will. In den Städten des Nordens verhindert der täglich erbitterter geführte Karlistenkrieg jede Tätigkeit unsrerseits. Endlich in Valencia, wo die Regierung nach fünfzehntägigem Kampfe Sieger blieb, müssen die Internationalen, die nicht flüchtig geworden, sich verbergen, und der Föderalrat ist vollständig aufgelöst."
Soweit der Madrider Bericht. Man sieht, daß er mit obiger Geschichtserzählung vollständig übereinstimmt. Was ist nun das Resultat unsrer ganzen Untersuchung? 1. Die Bakunisten waren gezwungen, sobald sie einer ernsthaften revolutionären Lage gegenüberstanden, ihr ganzes bisheriges Programm über
Bord zu werfen. Zuerst opferten sie die Lehre von der Pflicht der politischen und besonders der Wahlenthaltung. Dann folgte die Anarchie, die Abschaffung des Staats; statt den Staat abzuschaffen, versuchten sie vielmehr eine Anzahl neuer, kleiner Staaten herzustellen. Dann ließen sie den Grundsatz fallen, daß die Arbeiter sich an keiner Revolution beteiligen dürften, die nicht die sofortige vollständige Emanzipation des Proletariats zum Zweck habe, und beteiligten sich an einer eingestandenermaßen rein bürgerlichen Bewegung. Endlich schlugen sie ihrem kaum erst proklamierten Glaubenssatz ins Gesicht: daß die Errichtung einer revolutionären Regierung nur eine neue Prellerei und ein neuer Verrat an der Arbeiterklasse seimdem sie ganz gemütlich in den Regierungsausschüssen der einzelnen Städte figurierten, und zwar fast überall als ohnmächtige, von den Bourgeois überstimmte und politisch exploitierte Minderzahl. 2. Diese Verleugnung der bisher gepredigten Grundsätze geschah aber in der feigsten, verlogensten Weise und unter dem Druck des bösen Gewissens, so daß weder die Bakunisten selbst noch die von ihnen geleiteten Massen mit irgendeinem Programm in die Bewegung eintraten oder überhaupt wußten, was sie wollten. Was war die natürliche Folge? Daß die Bakunisten entweder jede Bewegung verhinderten, wie in Barcelona; oder daß sie in vereinzelte, planlose und blödsinnige Aufstände hineingetrieben wurden, wie in Alcoy und Sanlücar de Barrameda; oder aber, daß die Leitung des Aufstands den intransigenten Bourgeois zufiel, wie in den allermeisten Aufständen. Das ultrarevolutionäre Geschrei der Bakunisten verwirklichte sich also, sobald es zur Tat kam, entweder in Abwiegelei oder in von vornherein aussichtslosen Aufständen oder in dem Anschluß an eine bürgerliche Partei, die die Arbeiter schmählichst politisch ausbeutete und sie obendrein mit Fußtritten behandelte. 3. Von den sogenannten1 Prinzipien der Anarchie, der freien Föderation unabhängiger Gruppen usw. bleibt nichts übrig als eine maß- und sinnlose Zersplitterung der revolutionären Kampfmittel, die der Regierung erlaubte, mit einer Handvoll Truppen eine Stadt nach der andern fast ohne Widerstand zu unterwerfen. 4. Das Ende vom Lied war nicht nur, daß die gut organisierte und zahlreiche spanische Internationale - die falsche wie die wahre - in den Sturz der Intransigenten mitverwickelt wurde und heute faktisch aufgelöst ist, sondern auch, daß ihr die Unzahl erdichteter Exzesse aufgebürdet wird, ohne die der Philister aller Länder sich nun einmal einen Arbeiteraufstand
nicht denken kann, und daß dadurch die internationale Reorganisation des spanischen Proletariats vielleicht auf Jahre hinaus unmöglich gemacht ist. 5. In einem Wort, die Bakunisten in Spanien haben uns ein unübertreffliches Muster davon geliefert, wie man eine Revolution nicht machen muß.
Geschrieben im September und Oktober 1873.
Nach: „Internationales aus dem ,Volksstaat' (1871-75)", Berlin 1894.
Friedrich Engels
Die englischen Wahlen
[„Der Volksstaat" Nr. 26 vom 4. März 1874] London, 22. Februar 1874 Die englischen Parlamentswahlen sind nun auch vorüber. Der geniale Gladstone, der mit einer Majorität von 66 nicht regieren konnte, löste das Parlament plötzlich auf, ließ die Wahlen innerhalb 8 bis 14 Tagen vornehmen, und das Resultat war - eine Majorität von über 50 gegen ihn.1351' Das zweite unter der Reformbill von 1867, das erste mit geheimer Abstimmung'3531 gewählte Parlament ergibt eine starke konservative Majorität. Und zwar sind es vorzugsweise die großen Industriestädte und Fabrikbezirke, wo die Arbeiter jetzt unbedingt die Majorität haben, die Konservative ins Parlament schicken. Wie geht dies zu? Zunächst ist dies Resultat verdankt dem von Gladstone versuchten Wahlstaatsstreich. Die Wahlausschreiben folgten so rasch auf die Auflösung, daß manche Städte kaum fünf, die meisten kaum acht, die irischen, schottischen und die Landwahlkreise höchstens vierzehn Tage zur Besinnung behielten. Gladstone wollte die Wähler übertölpeln, aber Staatsstreiche ziehen nun einmal in England nicht, und Übertölpelungen schlagen hier aus gegen den, der sie versucht. Die Folge war, daß die ganze zahlreiche Masse der Indifferenten und Schwankenden gegen Gladstone stimmte. Dann aber hatte Gladstone in einer Weise regiert, die den angestammten Gewohnheiten John Bulls direkt ins Gesicht schlug. John Bull ist nun einmal beschränkt genug, in seiner Regierung nicht seinen Herrn und Meister zu sehen, sondern seinen Diener, und noch dazu den einzigen Diener, den er ohne alle Kündigung sofort entlassen kann. Wenn nun auch die jedesmal herrschende Partei ihrem Ministerium erlaubt, und das aus sehr prakti
sehen Gründen, bei Steuerermäßigungen und sonstigen Finanzmaßregeln manchmal eine große theatralische Überraschung aufzuführen, so gestattet sie dergleichen bei richtigen Maßregeln der Gesetzgebung doch nur ausnahmsweise. Aber Gladstone hatte diese gesetzgeberischen Theatercoups zur Regel gemacht. Seine meisten großen Maßregeln kamen seiner eignen Partei ebenso überraschend wie den Gegnern; die Liberalen erhielten diese Maßregeln förmlich aufoktroyiert, denn wenn sie nicht dafür stimmten, brachten sie sofort die Gegenpartei ans Ruder. Und wenn der Inhalt vieler dieser Maßregeln, z.B. die irische Kirchenbill und die irische Landbill[363i, bei aller Jämmerlichkeit für viele alte, liberalkonservative Whigs schon ein Greuel war, so für die ganze Partei die Art, wie sie ihr aufgezwungen wurden. Damit aber hatte Gladstone noch nicht genug. Die Abschaffung des Stellenkaufs in der Armee setzte er durch, indem er ohne alle Not, statt ans Parlament, an die Macht der Krone appellierte[3641 und dadurch seine eigne Partei beleidigte. Dazu hatte er sich mit einer Anzahl vordringlicher Mittelmäßigkeiten umgeben, die alle kein anderes Talent besaßen als das, sich ohne Not verhaßt zu machen. So namentlich Bruce, der Minister des Innern, und Ayrton, der eigentliche Chef der Londoner Lokalverwaltung. Der erste zeichnete sich aus durch Grobheit und Arroganz gegenüber Arbeiterdeputationen, der zweite regierte London-wie z.B. bei dem Versuch der Unterdrückung des Rechts der Volksversammlung in den Parks - in vollständig preußischer Weise, und da dies hier nun einmal nicht durchgeht, wie denn auch die Irländer sofort trotz der Parkverordnung unter der Nase des Herrn Ayrton eine große Massenversammlung im Hyde Park abhielten1, so war die Folge davon eine Reihe kleiner Niederlagen der Regierung und ihre wachsende Unpopularität. Endlich aber hat die geheime Abstimmung eine ganze Menge von sonst politisch gleichgültigen - Arbeitern in den Stand gesetzt, ungestraft gegen ihre Ausbeuter und gegen die Partei zu stimmen, in der sie mit Recht die der großen Industriebarone sehn - die Liberale Partei. Dies bleibt richtig selbst da, wo die großen Industriebarone der Mehrzahl nach der Mode gefolgt und zu den Konservativen übergegangen sind. Die Liberale Partei vertritt in England überhaupt nichts, wenn sie nicht die große Industrie gegenüber dem großen Grundbesitz und der hohen Finanz vertritt. Das vorige Parlament schon stand seiner Gesamtintelligenz nach unter der Mittelmäßigkeit. Es bestand wesentlich aus Landjunkern und Söhnen von Großgrundbesitzern einerseits, Bankiers, Eisenbahndirektoren, Bier
brauern, Fabrikanten und sonstigen reichen Emporkömmlingen andrer« seits; dazwischen einige Staatsmänner, Juristen, Professoren. Von diesen letzteren „Vertretern der Intelligenz" sind eine ziemliche Anzahl diesmal durchgefallen, so daß das neue Parlament noch ausschließlicher als das vorige eine Vertretung des Großgrundbesitzes und des Geldsacks ist. Dagegen zeichnet es sich vom vorigen durch zwei neue Elemente aus: durch zwei Arbeiter1 und ungefähr fünfzig irische Home-Rulers. Was die Arbeiter angeht, so ist zuerst festzustellen, daß es, seit dem Untergang der Chartistenpartei[3BBI in den fünfziger Jahren, in England keine besondere politische Arbeiterpartei mehr gibt. Es ist dies erklärlich in einem Lande, wo die Arbeiterklasse mehr als anderswo an den Vorteilen der ungeheuren Ausdehnung der großen Industrie teilgenommen hat, wie dies in dem den Weltmarkt beherrschenden England nicht anders sein konnte; und obendrein in einem Lande, wo die herrschenden Klassen es sich zur Aufgabe machen, neben andern Konzessionen einen Punkt des Chartistenprogramms, der Volks-Chartel3ü6), nach dem andern durchzuführen. Von den sechs Punkten der Charte bestehen zwei zu Recht: die geheime Abstimmung und die Abschaffung des Wählbarkeitszensus; der dritte, das allgemeine Stimmrecht, ist wenigstens annähernd eingeführt; ganz unausgeführt sind die drei letzten: jährliche Neuwahlen, Diäten und der wichtigste: gleiche Wahlbezirke nach der Bevölkerung. - Die Arbeiter, soweit sie sich an der allgemeinen Politik in besonderen Organisationen beteiligt, sind neuerdings fast nur als äußerster linker Flügel der „großen liberalen Partei" aufgetreten und in dieser Rolle, ganz fachgemäß, von der großen liberalen Partei bei jeder Wahl geprellt worden. Da kam plötzlich die Reformbill und änderte mit einem Schlage die politische Stellung der Arbeiter. In allen großen Städten bilden sie jetzt die Mehrzahl der Wähler, und Regierung wie Parlamentskandidaten sind in England gewohnt, den Wählern den Hof zu machen. Von da an wurden die Vorsitzenden und Sekretäre der Trade-Unions und politischen Arbeitervereine, sowie sonstige bekannte Arbeiterredner, denen man Einfluß auf ihre Klasse zutrauen durfte, auf einmal wichtige Leute; sie erhielten Besuche von Parlamentsmitgliedern, von Lords und anderm vornehmen Gesindel, man erkundigte sich plötzlich teilnehmend nach den Wünschen und Bedürfnissen der Arbeiterklasse, man diskutierte mit diesen „Arbeiterführern" Fragen, über die man bisher vornehm gelächelt oder deren bloße Anregung man schon verdammt hatte, man zahlte auch Beiträge zu Sammlungen für Arbeiterzwecke. Den
1 Alexander Macd onald und Thomas Burt
„Arbeiterführern" kam dabei ganz natürlich der Gedanke, sich selbst ins Parlament wählen zu lassen; ihre vornehmen Freunde gingen im allgemeinen mit Freuden darauf ein, natürlich nur, um in jedem einzelnen Falle die Wahl eines Arbeiters nach Möglichkeit zu vereiteln. Und so kam die Sache nicht weiter. Daß die „Arbeiterführer" gern ins Parlament gekommen wären, nimmt ihnen niemand übel. Der nächste Weg dazu wäre gewesen, sofort zur Neubildung einer starken Arbeiterpartei mit bestimmtem Programm zu schreiten - die Volks-Charte bot ihnen das beste politische Programm, das sie wünschen konnten. Aber der Name der Chartisten - eben weil diese eine ausgesprochen proletarische Partei gewesen - stand bei den Bourgeois in üblem Geruch, und statt an die glorreiche Tradition der Chartisten anzuknüpfen, zogen die „Arbeiterführer" es vor, mit ihren vornehmen Freunden zu verhandeln und „respektabel", das heißt in England bürgerlich aufzutreten. Hatte das alte Stimmrecht die Arbeiter bis zu gewissem Grad gezwungen, als Schwanz der radikalen Bourgeoisie zu figurieren, so war es unverantwortlich, sie diese Rolle fortspielen zu lassen, seitdem die Reformbill mindestens sechzig Arbeiterkandidaten die Türen des Parlaments öffnete. Und dies war der Wendepunkt. Die „Arbeiterführer", um ins Parlament zu kommen, wandten sich in erster Linie an die Stimmen und das Geld der Bourgeoisie, und erst in zweiter an die Stimmen der Arbeiter selbst. Damit aber hörten sie auf, Arbeiterkandidaten zu sein, und verwandelten sich in Bourgeoiskandidaten. Sie appellierten nicht an eine neu zu bildende Arbeiterpartei, sondern an die bürgerliche „große liberale Partei". Unter sich bildeten sie eine gegenseitige Wahlassekuranzgesellschaft, die Labour Representation League [3B7), die ihre, sehr geringen, Geldmittel meist aus bürgerlichen Quellen bezog. Damit nicht genug. Die radikalen Bourgeois sind verständig genug einzusehen, daß die Wahl von Arbeitern ins Parlament immer unvermeidlicher wird; es liegt also in ihrem Interesse, die voraussichtlichen Arbeiterkandidaten unter ihrer Leitung zu behalten und eben dadurch den Zeitpunkt ihrer wirklichen Wahl möglichst weit hinauszuschieben. Und dafür haben sie ihren Herrn Samuel Morley, einen Londoner Millionär, dem es nicht darauf ankommt, es sich ein paar Tausend Pfund kosten zu lassen, um einerseits den kommandierenden General dieses falschen Arbeitergeneralstabs zu spielen und andrerseits durch ihren Mund sich bei den Massen als Arbeiterfreund ausposaunen zu lassen, zum Dank dafür, daß er die Arbeiter prellt. Als nun vor ungefähr einem Jahr eine Auflösung des Parlaments immer wahrscheinlicher wurde, versammelte
32 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Morley seine Getreuen um sich in der London Tavern; sie erschienen alle, die Potter, Howell, Odger, Haies, Mottershead, Cremer, Eccarius und wie sie alle heißen; eine Gesellschaft von Leuten, deren jeder bei der vorhergehenden Parlamentswahl im Sold der Bourgeoisie der „großen liberalen Partei" Agitatordienste geleistet oder sich ihr doch wenigstens dazu angeboten. Diese Gesellschaft setzte unter Morleys Vorsitz ein „Arbeiterprogramm" auf, das jeder Bourgeois unterschreiben konnte und das die Grundlage einer gewaltigen Bewegung bilden sollte, um die Arbeiter politisch noch enger an die Bourgeoisie zu ketten und - wie die Herren sich einbildeten - die „Gründer" ins Parlament zu bringen. Daneben tanzten vor der lüsternen Einbildung dieser Gründer noch die zahlreichen Morleyschen Fünfpfundnoten, die bei der Agitation notwendig für sie abfallen würden. Aber die ganze Bewegung fiel ins Wasser, noch ehe sie ernstlich begonnen. Herr Morley schloß den Geldschrank zu, und die Gründer verschollen wieder. Plötzlich löst vor vier Wochen Gladstone das Parlament auf. Die unvermeidlichen Arbeiterführer atmen auf: entweder lassen sie sich wählen oder sie werden wieder wohlbezahlte Reiseprediger der „großen liberalen Partei". Aber nein: der Wahltermin ist so nah, daß sie um beide Chancen geprellt sind. Zwar treten einige als Kandidaten auf; aber da in England jeder Kandidat, ehe er zur Abstimmung kommen kann, zweihundert Pfund (1240 Tlr.)als Beitrag zu den Wahlkosten deponieren muß und die Arbeiter fast nirgends zu diesem Zweck organisiert waren, so konnten nur solche von ihnen ernstlich kandidieren, die diesen Betrag von Seiten der Bourgeoisie gestellt erhielten, also mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung der Bourgeoisie auftraten. Damit aber hatte die Bourgeoisie auch ihre Schuldigkeit getan und ließ sie dann bei der Wahl selbst sämtlich mit Glanz durchfallen. Nur zwei Arbeiter gingen durch, beides Bergarbeiter in Kohlenzechen. Dies Gewerk ist in drei großen Trade-Unions sehr stark organisiert,verfügt über bedeutende Mittel, besitzt in einigen Bezirken die unbestrittene Majorität unter den Wählern und hat seit der Reformakte planmäßig auf direkte Vertretung im Parlament hingearbeitet. Die Sekretäre der drei Trade-Unions wurden aufgestellt; der eine, Halliday, hatte in Wales keinen Erfolg, die beiden andern gingen durch: Macdonald in Stafford und Burt in Morpeth. Burt ist außer seinem Bezirk wenig bekannt; Macdonald aber hat bei den Verhandlungen über das letzte Bergwerksgesetz13581, die er als Vertreter seines Gewerks überwachte, seine Auftraggeber verraten, indem er einen Zusatzartikel billigte, der so sehr im Interesse der Kapitalisten war, daß selbst die Regierung nicht gewagt hatte, ihn in den Entwurf zu setzen.
Jedenfalls aber ist das Eis gebrochen, und in dem fashionabelsten Debattierklub von Europa, unter den Leuten, die sich für die ersten Gentlemen von Europa erklären, sitzen zwei Arbeiter. Neben ihnen sitzen mindestens fünfzig irische Home-Rulers. Als der fenische Aufstand von 18671 niedergeschlagen und die militärischen Führer der Fenier11661 (irischen Republikaner) nach und nach entweder eingefangen oder nach Amerika vertrieben wurden, verloren die Reste der fenischen Verschwörung bald alle Bedeutung. Eine gewaltsame Erhebung war auf lange Jahre - wenigstens bis dahin, wo England wieder in ernstliche auswärtige Schwierigkeiten verwickelt wurde - ohne alle Aussichten. Blieb also nur eine gesetzmäßige Bewegung, und diese wurde unternommen unter der Fahne der Home-Ruler, der „Herrschaft im eignen Hause". Die bestimmte Forderung war, daß das Reichsparlament in London die Gesetzgebung über alle rein irischen Fragen an ein besonderes irisches Parlament in Dublin abtreten solle; was unter rein irischen Fragen zu verstehen sei, darüber schwieg man vorderhand weislich. Diese Bewegung, anfangs von der englischen Presse verspottet, hat solche Macht erlangt, daß irische Parlamentsmitglieder der verschiedensten Parteifärbung, Konservative wie Liberale, Protestanten wie Katholiken - der Führer der Bewegung, Butt, ist selbst ein Protestant -, sogar ein geborener Engländer, der für Galway sitzt, sich ihr haben anschließen müssen. Seit den Zeiten O'Connells, dessen Repeal-Bewegung13591 ungefähr gleichzeitig mit der chartistischen infolge der Ereignisse von 1848 in der allgemeinen Reaktion unterging - er selbst war schon 1847 gestorben -, tritt hiermit zum ersten Mal wieder eine geschlossene irische Partei ins Parlament, und zwar unter Umständen, die ihr den O'Connellschen fortwährenden Kompromiß mit den Liberalen und den Einzelverkauf ihrer Mitglieder an eine liberale Regierung, wie er seitdem Mode geworden, schwerlich erlauben. Die beiden bewegenden Kräfte in der englischen politischen Entwicklung sind also hiermit ins Parlament getreten: einerseits die Arbeiter, andrerseits die Irländer als kompakte nationale Partei. Und wenn sie auch in diesem Parlament schwerlich eine große Rolle spielen werden - die Arbeiter sicher nicht -, so ist doch mit den Wahlen von 1874 die englische politische Entwicklung unbedingt in eine neue Phase eingetreten.
Friedrich Engels
Das Reichs-Militärgesetzf360]
I
[„Der Volksstaat" Nr. 28 vom 8. März 1874] Es ist wahrhaft komisch, wie sich die Nationalhberalen und Fortschrittsmänner [361! im Reichstag anstellen gegenüber dem § 1 des Militärgesetzes :
„Die Friedenspräsenzstärke des Heeres an Unteroffizieren und Mannschaften beträgt bis zum Erlaß einer anderweitigen gesetzlichen Bestimmung 401 659 Mann." l3C2J Dieser Paragraph, so schreien sie, ist unannehmbar, er vernichtet das Budgetrecht des Reichstags, er verwandelt die Bewilligung des Militäretats in eine bloße Posse! Ganz richtig, meine Herren! Und eben Weil dem so ist, weil der Artikel unannehmbar ist, werden Sie ihn in der Hauptsache annehmen. Warum auch soviel Federlesens machen, weil man Ihnen zumutet, den Kniefall noch einmal zu machen, den Sie schon sooft mit soviel Grazie ausgeführt? Die Grundsuppe des ganzen Jammers ist die preußische Armee-Reorganisation. Sie brachte den famosen Konflikt.'3631 Während der ganzen Konfliktszeit führte die liberale Opposition Manteuffels Prinzip aus: „Der Starke weicht mutig zurück." '361J Nach dem dänischen Krieg1240 ] steigerte sich der Mut im Zurückweichen bedeutend. Als aber 1866 Bismarck siegreich von Sadowa'2411 zurückkam und für sein bisheriges kommentwidriges Geldausgeben gar noch Indemnität beantragte, da kannte das Zurückweichen keine Grenzen mehr. Der Militäretat wurde sofort bewilligt, und was in Preußen einmal bewilligt ist, das ist nach der preußischen Verfassung für immer bewilligt, denn „die bestehenden" (einmal bewilligten) „Steuern werden forterhoben"! 13651
Kam der Norddeutsche Reichstag, der die Bundesverfassung beriet.13661 Man sprach viel von Budgetrecht, man erklärte die Regierungsvorlage für unannehmbar wegen mangelhafter Finanzkontrolle, man wand sich hin, man wand sich her, und schließlich biß man in den sauren Apfel und übertrug die preußischen Verfassungsbestimmungen über den Militäretat in allen wesentlichen Punkten auf den Norddeutschen Bund. Damit brachte man die Friedenspräsenz der Armee schon von 200 000 auf 300 000 Mann. Nun kam der glorreiche Krieg von 1870 und damit das „Deutsche Reich". Abermals ein konstituierender (!) Reichstag und eine neue Reichsverfassung.13671 Abermals hochgemute Reden, zahllose Vorbehalte von wegen des Budgetrechts. Und was beschlossen die Herren? Reichsverfassung § 60: „Die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres wird bis zum 31. Dezember 187! auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 normiert und wird pro rata derselben von den einzelnen Bundesstaaten gestellt. Für die spätere Zeit wird die Friedenspräsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt." Ein Prozent der Bevölkerung von 1867 gibt 401 000 Mann. Dieser Präsenzstand ist später durch Reichstagsbeschluß bis zum 31. Dezember 1874 verlängert worden. § 62: „Zur Bestreitung des Aufwandes für das gesamte deutsche Heer und die zu demselben gehörigen Einrichtungen sind bis zum 31. Dezember 1871 dem Kaiser jährlich sovielmal 225 TIr., als die Kopfzahl der Friedensstärke des Heeres nach Art. 60 beträgt, zur Verfügung zu stellen. Nach dem 31. Dezember 1871 müssen diese Beträge von den einzelnen Staaten des Bundes zur Reichskasse fortgezahlt Werden. Zur Berechnung derselben wird die im Art. 60 interimistisch festgestellte Friedenspräsenzstärke solange festgehalten, bis sie durch ein Reichsgesetz abgeändert ist." Das war der dritte Kniefall unsrer Nationalen vor dem unantastbaren Militäretat. Und wenn jetzt Bismarck kommt und verlangt, das angenehme Provisorium solle in ein noch angenehmeres Definitivum verwandelt werden, da schreien die Herren über Verletzung des dreimal hintereinander von ihnen selbst geopferten Budgetrechts! Meine Herren Nationalen! Machen Sie „praktische Politik"! Tragen Sie „den Zeitverhältnissen Rechnung"! Werfen Sie die „unerreichbaren Ideale" über Bord und wirtschaften Sie tapfer fort „auf dem Boden des Gegebenen"! Sie haben nicht nur A gesagt, Sie haben schon B und C gesagt, sagen Sie auch unverzagt D! Hier hilft kein Zippeln und Zappeln, hier müssen Sie nun einmal wieder den famosen „Kompromiß" machen, bei dem die Regierung ihren ganzen Willen erhält und Sie froh sein können, wenn es ohne Fußtritte abgeht. Überlassen Sie das Budgetrecht den im
Materialismus versumpften Engländern, den verkommenen Franzosen, den zurückgebliebenen Österreichern und Italienern, halten Sie sich nicht an „fremde Vorbilder", tun Sie „ein echt deutsches Werk"! Wenn Sie aber platterdings ein Budgetrecht haben wollen, dann gibt's nur ein Mittel: Wählen Sie das nächste Mal nur Sozialdemokraten!
II
[„Der Volksstaat" Nr. 29 vom 11.März 1874] Daß die Nationalen dumm sind - trotz aller Gescheitheits-Laskerchens -, das wissen wir längst und das wissen sie selber. Daß sie aber so dumm sind, wie Moltke sie dafür hält, das hätten wir doch nicht geglaubt. Der große Schweiger hat im Reichstage eine ganze Stunde gesprochen und ist doch der große Schweiger geblieben: Er hat nämlich seinen Zuhörern so ziemlich alles verschwiegen, was er selbst glaubt. Nur in zwei Dingen hat er seine Ansicht rund ausgesprochen: erstens darin, daß der fatale § 1 absolut notwendig sei, und zweitens in dem famosen Satz:
„Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen errungen, das müssen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen wird. Wir haben seit unseren glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen." l368l Habemus confitentem reum.1 Hier haben wir den Schuldigen zum Geständnis gebracht. Als Preußen, nach Sedant369!, mit seinen Annexionsforderungen herausrückte, hieß es: Die neue Grenze ist einzig durch die strategische Notwendigkeit bedingt, wir nehmen nur das, was wir absolut brauchen, um uns zu decken; innerhalb dieser neuen Grenze und nach Vollendung unserer Befestigungen können wir dann jedem Angriffe ruhig entgegensehen. - Und so ist es, rein strategisch gesprochen, in der Tat. Die befestigte Rheinlinie mit ihren drei großen Kernplätzen Köln, Koblenz, Mainz hatte nur zwei Fehler: Erstens wurde sie umgangen durch Straßburg, und zweitens fehlte ihr eine vorgeschobene Linie fester Punkte, die der ganzen Stellung Tiefe gab. Die Annexion von Elsaß-Lothringen half beiden Fehlern ab. Straßburg und Metz bilden jetzt die erste Linie, Köln, Koblenz, Mainz die zweite; alles Festungen erster Ordnung, mit weit vorgeschobenen Forts und fähig, der modernen gezogenen Artillerie
1 Da haben wir den sich schuldig Bekennenden. (Cicero, „Oratio pro Q.Ligario".)
Widerstand zu leisten; dabei liegen sie in solchen Entfernungen voneinander, wie sie den kolossalen Heeren der Gegenwart zu freier Bewegung am dienlichsten sind, und in einem der Verteidigung äußerst günstigen Terrain. Solange die Neutralität Belgiens respektiert wird, kann ein französischer Angriff leicht auf den schmalen Strich Landes zwischen Metz und den Vogesen beschränkt werden; man kann sich, wenn man will, gleich anfangs hinter den Rhein ziehen und die Franzosen zwingen, sich vor der ersten Hauptschlacht durch Truppensendungen gegen Metz, Straßburg, Koblenz und Mainz zu schwächen. Es ist eine Stellung, der in ganz Europa an Stärke keine zweite gleichkommt; das venetianische Festungsviereck13701 war ein Kinderspielzeug, verglichen mit dieser fast uneinnehmbaren Position. Und gerade die Eroberung dieser fast uneinnehmbaren Stellung zwingt Deutschland, nach Moltke, das Errungene ein halbes Jahrhundert lang mit den Waffen zu verteidigen! Die stärkste Stellung verteidigt nicht sich selbst, sie will verteidigt sein; zum Verteidigen gehören Soldaten; je stärker also die Stellungen, desto mehr Soldaten sind nötig, und so weiter im ewigen lasterhaften Zirkel. Dazu kommt noch, daß der wiedergewonnene „verlorene Bruderstamm" in Elsaß-Lothringen von der Mama Germania nun einmal platterdings nichts wissen will und daß die Franzosen unter allen Umständen gezwungen sind, bei der nächsten Gelegenheit die Befreiung der Elsässer und Lothringer aus der germanischen Umarmung zu versuchen. Die starke Stellung wird also dadurch aufgewogen, daß Deutschland die Franzosen gezwungen hat, jedem, der es angreifen will, zur Seite zu stehen. Mit anderen Worten, die starke Stellung enthält in sich den Keim einer europäischen Koalition gegen das Deutsche Reich. Und an dieser Tatsache ändern alle Dreikaiser- und Zweikaiservisiten und Toaste absolut nichts, wie das niemand besser weiß als Moltke und Bismarck; und wie Moltke das auch in diskreter Weise zum Ausdruck bringt in dem melancholischen Satz:
„Wir haben seit unseren glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen!"
Soweit die Moltkesche Wahrheit. Kommen wir jetzt auf die Moltkesche Dichtung. Wir gehen nicht ein auf das sentimentale Geseufze, womit der große Stratege sein Leidwesen darüber zu erkennen gibt, daß das Militär leider nun einmal zum Besten des Volks solche kolossale Summen verzehren muß, und wo er sich gewissermaßen als preußischer Cincinnatus hinstellt, der
nichts sehnlicher wünscht, als vom Generalfeldmarschall zum Kappesbauer befördert zu werden. Noch weniger auf die schon dagewesene Theorie, daß von wegen der schlechten Erziehung der Nation durch den Schulmeister jeder Deutsche drei Jahre lang auf die hohe Schule geschickt werden müsse, wo der Unteroffizier Professor ist. Wir sprechen hier nicht zu Nationalen, wie dies der arme Moltke zu tun nötig hatte. Wir gehen gleich über zu den riesenhaften militärischen Bären, die er - unter allgemeiner Heiterkeit des großen Generalstabes - seinen erstaunten Zuhörern aufband. Es handelt sich wieder darum, die großen deutschen Rüstungen durch die angeblich noch größeren der Französen zu rechtfertigen. Und da enthüllt Moltke dem Reichstage, daß die französische Regierung schon heute berechtigt ist, für die aktive Armee 1 200 000 und für die Territorialarmee über 1 Million Männer zu den Waffen zu berufen. Um diese „auch nur teilweise" einstellen zu können, hätten die Franzosen ihre Cadres vermehrt. Sie hätten jetzt 152 Infanterieregimenter (gegen 116 vor dem Kriege), 9 neue Jägerbataillone, 14 neue Kavallerieregimenter, 323 Batterien statt früher 164. Und „diese Augmentationen sind noch nicht geschlossen". Die Friedenspräsenzstärke beträgt 40 000 Mann mehr als 1871, sie ist auf 471 170 Mann festgestellt. Statt der 8 Armeekorps, mit denen die Franzosen uns zu Anfang des Krieges entgegentraten, stellt Frankreich künftig 18 und ein neunzehntes für Algier; die Nationalversammlung zwingt der Regierung geradezu Gelder für Rüstungen auf, die Kommunen schenken Exerzierplätze und Offizierskasinos, bauen aus eigenen Mitteln Kasernen, beweisen einen fast gewaltsamen Patriotismus, wie er in Deutschland nur zu wünschen wäre - kurz alles bereitet sich vor auf den großen Revanchekrieg. Wenn nun die französische Regierung alles das getan hätte, was ihr Moltke zugute hält, so hätte sie nichts weiter getan als ihre Schuldigkeit. Nach solchen Niederlagen wie die von 1870 ist es die erste Pflicht der Regierung, die Wehrkraft der Nation soweit zu entwickeln, daß man gegen die Wiederholung solcher Unfälle geschützt ist. Den Preußen war 1806 ganz dasselbe passiert; ihre ganze altfränkische Armee wurde kostenfrei und kriegsgefangen nach Frankreich befördert. Nach dem Kriege bot die preußische Regierung alles auf, um das ganze Volk wehrhaft zu machen; die Leute wurden nur 6 Monate lang eingeübt, und trotz Moltkes Abscheu vor den Milizen haben wir Blüchers Zeugnis, daß diese „Landwehr-Patteljohns", wie er sich ausdrückte, nach den ersten Gefechten ebenso gut waren wie die Linienbataillone. Handelte die französische Regierung ebenso, setzte sie alle Kraft daran, in fünf bis sechs Jahren eine Wehrhaftmachung
der ganzen Nation durchzuführen - sie tat nur ihre Schuldigkeit. Aber im Gegenteil. Mit Ausnahme der Neubildungen von Bataillonen, Schwadronen und Batterien, die bis jetzt nur die Höhe der deutschen Linien-Organisation erreichen, besteht alles andre nur auf dem Papier, und Frankreich ist militärisch schwächer denn je. „Man hat", sagt Moltke, „in Frankreich alle unsere militärischen Einrichtungen getreulich kopiert... Man hat vor allem die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und dabei eine zwanzigjährige Verpflichtung zugrunde gelegt, während wir nur eine zwölfjährige haben." Und wenn dem in Wirklichkeit so wäre, worauf reduziert sich der Unterschied der 20 und der 12 Jahre? Wo ist der Deutsche, der nach 12 Jahren seiner Landwehrverpflichtung wirklich entlassen wäre? Heißt es nicht überall: Die 12 Jahre gelten erst dann, wenn wir Leute genug haben, bis dahin müßt ihr 14,15, 16 Jahre in der Landwehr13711 bleiben ? Und wofür haben wir denn den verschollenen Landsturm'3721 wieder ausgegraben, als um jeden Deutschen, der einmal zweierlei Tuch getragen, bis an sein seliges Ende dienstpflichtig zu erhalten? Aber nun hat es mit der allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich noch eine ganz besondere Bewandtnis. In Frankreich fehlen eben die preußischen halbfeudalen Ostprovinzen, die die eigentliche Grundlage des preußischen Staats und des neuen Deutschen Reichs bilden; Provinzen, aus denen man Rekruten zieht, die unbedingt gehorchen und auch nachher, als Landwehrleute, nicht viel klüger werden. Schon die Ausdehnung der allgemeinen Dienstpflicht auf die Westprovinzen zeigte 1849, daß eines sich nicht schickt für alle[3731; ihre jetzt erfolgte Ausdehnung auf ganz Deutschland wird längstens nach Verlauf von Moltkes beliebten zwölf Jahren wenn das Krämchen überhaupt so lange vorhält - die waffengeübten Leute schaffen, die die Moltkes und Bismarcks außer Brot setzen. - Also in Frankreich existiert nicht einmal die Grundlage, auf der die allgemeine Dienstpflicht der Reaktion gehorsame Soldaten schaffen kann. In Frankreich war der preußische Unteroffizier schon vor der großen Revolution ein überwundener Standpunkt. Der Kriegsminister Saint-Germain führte 1776 die preußischen Stockprügel ein; die geprügelten Soldaten erschossen sich, und die Stockprügel mußten noch im selben Jahre abgeschafft werden. Man führe die allgemeine Dienstpflicht wirklich in Frankreich ein, man bilde die Masse der Bevölkerung in der Waffe aus, und wo blieben da Thiers und Mac-Mahon? Aber Thiers und Mac-Mahon - wenn auch wahrhaftig keine Genies - sind auch nicht solche Schuljungen, wie Moltke sie darstellt. Auf dem Papier haben sie die allgemeine Dienstpflicht hergestellt,
allerdings; in Wirklichkeit haben sie mit der größten Hartnäckigkeit auf der fünfjährigen Dienstzeit unter der Fahne bestanden.13741 Nun weiß jeder, daß schon mit der preußischen dreijährigen Dienstzeit die allgemeine Wehrpflicht vollständig unvereinbar ist: entweder erhält man dabei für Deutschland eine Friedenspräsenz von mindestens 600 000 Mann, oder man muß Leute sich freilosen lassen, wie dies geschieht. Welche Friedenspräsenz würde nun eine fünfjährige Dienstzeit bei allgemeiner Wehrpflicht in Frankreich ergeben? Beinahe eine Million; aber selbst Moltke bringt es nicht fertig, den Franzosen die Hälfte anzudichten. An demselben Tage, wo Moltke seinen Zuhörern so erstaunlich imponierte, veröffentlichte die „Kölnische Zeitung"13751 eine „militärische Mitteilung" über die französische Armee. Diese militärischen Mitteilungen kommen der „Köln. Ztg." aus sehr guter offiziöser Quelle zu, und wird der betreffende militärische „Sauhirt" für den so ausgezeichnet zur Unzeit geschossenen Bock einen ganz besondern Denkzettel erhalten haben. Der Mann sagt nämlich wirklich die Wahrheit. Er erklärt, die neuesten offiziellen französischen Zahlenangaben bewiesen,
„daß Frankreich die sich in seinem neuen Wehrgesetz gestellte militärische Aufgabe auch bei der äußersten Kraftanstrengung schwerlich zu erfüllen imstande sein dürfte". Nach ihm ist „der diesjährige Stand der Armee zu 442 014 Mann normiert worden". Davon gehen zunächst ab die republikanische Garde-Gensdarmerie mit 27 500 Mann; „tatsächlich stellt sich die eigentliche Heeresstärke indes nach den für die einzelnen Waffengattungen aufgeführten Etatsziffern nur auf 389 965 Mann". Hiervon sind abzuziehen
„die geworbenen Truppen (das Fremdenregiment, die eingeborenen algierischen Truppenteile), die Verwaltungstruppenkörper und die Cadres an Unteroffizieren und Kapitulanten, welche insgesamt nach den früheren authentischen französischen Angaben zu 120000 Mann normiert wurden. Den wirklichen Effektivbestand derselben jedoch nur zu 80 000 Mann angenommen, verbleibt in bezug auf die Rekrutierung nur noch ein tatsächlicher Armeebestand von 309 000 Mann, welcher sich aus fünf Jahrgängen des ersten und einem des zweiten (Reserve-) Kontingents zusammenstellt. Der eine Jahrgang dieses zweiten Kontingents umfaßt 30 000 Mann, und würde sich danach der Dienstjahrgang des ersten Kontingents wie die Jahres-Rekruten-Einstellung für dasselbe zu je 55800 Mann berechnen. Dazu treten dann die 30 000 Mann des zweiten Kontingents, so daß die höchstgegriffene Jahr estehrutierung der französischen Armee sich doch immer nur auf 99 714 Mann bemessen würde." Also: die Franzosen stellen jährlich etwa 60 000 Mann zu fünfjähriger Dienstzeit ein, macht in 20 Jahren 1 200 000 Mann, und wenn wir die Abgänge, wie sie sich bei der preußischen Landwehr tatsächlich herausgestellt,
abrechnen, höchstens 800 000 Mann. Ferner 30 000 Mann zu einjähriger Dienstzeit - was nach Moltke untaugliche Milizen sind macht in 20 Jahren 600 000 Mann, nach Abzug der Abgänge höchstens 400 000 Mann. Wenn also die Franzosen den von Moltke so gerühmten Patriotismus zwanzig Jahre lang ungestört getrieben haben werden, so werden sie dann endlich den Deutschen, statt der Moltkeschen 2 200 000 Mann, höchstens 800000 geübte Soldaten und 400000 Milizen entgegenstellen können, während Moltke schon jetzt reichlich anderthalb Millionen vollständig geübter deutscher Soldaten mobil machen kann. Danach bemesse man die Heiterkeit, die Moltkes - im Reichstag angestaunte - Rede im großen Generalstab zuwege gebracht hat. Man muß es Moltke lassen: Solange er mit einfältigen Gegnern zu tun hatte wie Benedek und Louis-Napoleon, solange hat er sich einer durchaus ehrlichen Kriegführung befleißigt. Er hat die von Napoleon l. entdeckten strategischen Regeln pünktlich, peinlich und gewissenhaft befolgt. Kein Feind konnte ihm vorwerfen, daß er sich je der Überraschung, des Hinterhalts oder sonst einer vulgären Kriegslist bedient habe. Man konnte demgemäß daran Zweifel aufwerfen, ob Moltke wirklich ein Genie sei. Dieser Zweifel ist gefallen, seit Moltke ebenbürtige Gegner zu bekämpfen hat die Genies im Reichstage. Ihnen gegenüber hat er bewiesen, daß er seine Gegner auch übertölpeln kann, wenn es sein muß. Kein Zweifel mehr: Moltke ist ein Genie. Was indes Moltke von den französischen Rüstungen wohl wirklich halten mag? Auch dafür haben wir einige Anzeichen. - Moltke und Bismarck verhehlten sich nicht, daß, grade wie die Siege von 1866 in der französischen offiziellen Welt den Ruf nach Revanche für Sadowa mit Notwendigkeit hervorgerufen, so die Erfolge von 1870 mit ebenderselben Notwendigkeit dem offiziellen Rußland „Revanche für Sedan" aufzwingen würden. Preußen, bisher der gehorsame Knecht Rußlands, hatte sich plötzlich als erste Militärmacht Europas entpuppt; eine so gewaltige Verschiebung der europäischen Lage zuungunsten Rußlands kam einer Niederlage der russischen Politik gleich; der Ruf nach Revanche erscholl laut genug in Rußland. Man fand in Berlin, daß unter diesen Umständen es besser sei, die Sache so bald und so rasch wie möglich abzumachen und den Russen keine Zeit zu Rüstungen zu lassen. Was damals preußischerseits geschah, um den Krieg gegen Rußland vorzubereiten, darüber vielleicht ein anderes Mal; genug, man war im Sommer 1872 so ziemlich fertig, namentlich mit dem Feldzugsplan, der diesmal keinen „Stoß ins Herz" beabsichtigte. Da kam Kaiser Alexander von Rußland ungeladen zur Kaiservisite nach Berlin und
legte „an maßgebender Stelle" gewisse Aktenstücke vor, die das Plänchen zunichte machten. Die zunächst gegen die Türkei gerichtete erneuerte Heilige Allianz verdrängte für den Augenblick den schließlich doch unvermeidlichen russischen Krieg, In diesem Plänchen war natürlich auch der Fall vorgesehen, daß Frankreich sich mit Rußland gegen Preußen verbünden sollte. In diesem Fall wollte man gegen Frankreich in der Defensive bleiben. Und wieviel Mann hielt man damals für hinreichend, alle Angriffe Frankreichs abzuschlagen? Eine Armee von zweihundertfünfzigtausend Mann!
Geschrieben Ende Februar/Anfang März 1874.
Friedrich Engels
Der schweigende Stabsschreier Moltke und sein jüngster Leipziger Korrespondent13761
[„Der Volksstaat" Nr. 35 vom 25. März 1874] London, 13. März [1874] Der Mordspatriotismus irgendeines Leipziger Mastbürgers scheint unangenehm angekitzelt worden zu sein durch die Tatsache, daß die Franzosen vor Metz13771 kein Geschütz verloren, den Deutschen dagegen solche abgenommen haben wollen. In seinem Kanonenfieber bittet er den bekannten Halbgott Moltke um Aufklärung, der ihm im „Leipziger Tageblatt"[378) eines seiner schnurrigen Orakelchen aufhängt, wonach zwar einige französische Generale im Bazaineschen Prozeß1-3791 Ungenaues über die gegenseitige Kanonenwegnahme zutage gefördert hätten, jedoch zugegeben werden muß, daß, während die Deutschen am 16. August den Franzosen nur eine Kanone abnehmen konnten, diese am 18. zwei deutsche Geschütze fortschleppten. Hiermit war genug gesagt. Aber der Schweiger Moltke muß noch eine Vorlesung halten, sonst geht's nicht. Also erzählt er den Andachtslümmeln, daß gemäß der „heutigen Taktik" die Artillerie in den vordersten Reihen kämpfen muß; daher hätten die Deutschen die zwei Kanonen verloren. Man kann aus seinen Worten lesen, daß, hätten die Franzosen dieser seiner „heutigen Taktik" Genüge geleistet, so hätten sie wahrscheinlich viel mehr Kanonen verloren und seinen Lobspruch geerntet, denn er sagt, daß die Östreicher, deren Artillerie der Infanterie in der avanciertesten Gefechtslinie beisprang, 160 Kanonen auf „die ehrenvollste Weise" loswurden. Die östreichische Artillerie, wie er selbst orakelt, manövrierte auf solche Art, weil das östreichische Infanteriegewehr dem preußischen nachstand. Da nun aber der französische Chassepot dem preußischen Zündnadelgewehr überlegen war, so gab es wohl für die deutsche Artillerie einen Grund, aus der Not ein Gebot zu machen, grade wie die östreichische bei Königgrätzt2411 getan hatte, aber für die französische konnte es nicht
angewiesen erscheinen, sich zuiec^/os von derinRohrkonstruktionunclBewegIichkeit überlegenen gegnerischen Artillerie zusammenschießen zu lassen. Für Moltke muß es allerdings sehr unbequem sein, daß in den drei Tagen des 14., 16., 18. Aug. 1870 40000 Deutsche getötet und verwundet wurden, trotzdem man die französische Artillerie in für ihn so dunkler Weise führte, daß er noch heute sagt,
„ob unter diesen Umständen die Tatsache, kein oder nur ein Geschütz verloren zu haben, ein besonderer Beweis für die Tüchtigkeit der französischen Artillerie oder für deren Ausdauer im Kampfe ist, mag dahingestellt bleiben".
Nun glaube man aber ja nicht, wozu man durch den Moltkeschen Schweigebrief veranlaßt sein könnte, daß die französische Artillerie sich etwa nicht gehörig, und sogar oft gegen die deutsche Artillerie in jenen Tagen geschlagen habe. Es „entspricht nicht ganz dem Tatsächlichen", um höflichst in Moltkeschen Worten zu sprechen, wenn man behauptet, wie er ganz dreist tut, daß die französische Artillerie „meistenteils ein bald beseitigter Gegner war". Wer Genaueres hierüber wissen will, der lese „Die deutsche Artillerie in den Schlachten bei Metz. Von Hoffbauer, Hauptmann und Batteriechef im Ostpreußischen Feldartillerieregiment Nr. 1. Lehrer an der vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule", Berlin 1872, Mittler und Sohn. Also ein offiziöses Buch! Moltke weiß, daß, wer so dumme Fragen stellt, wie unser Leipziger, solche Bücher nicht liest oder nicht versteht, und glaubt, daß alle, welche sie mit Verständnis lesen, „das Maul halten müssen". Das Diktum Moltkes über die „neue" Verwendung der Artillerie ist nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben. Nicht nur der Artilleristenund Pferde-, sondern auch der Munitionsverbrauch ist dabei ein so enormer, daß in kürzester Zeit weder die Menschen, noch die Pferde, noch die Geschosse zu ersetzen sind. Auch schießt infolge der Moltkeschen „neuen Taktik" die deutsche Artillerie, aus Eifer für die Wissenschaft, viel öfter als wünschenswert, ihre eigenen Landsleute tot. Dies ist am 14., 16., 18. August 1870 geschehen. Ja, die „neue Taktik" hat eine so wissenschaftlich verknotete Artillerieschießwut erzeugt, daß Gegenbefehle, Bitten um Einstellen des Feuers gegen deutsche Truppen als verräterischer Blödsinn erscheinen mußten. (Siehe Hoffbauer.) Übrigens war das Verfahren der deutschen Artillerie in jenen Tagen, wie selbst Hauptmann Hoffbauer, Ritter des Eisernen Kreuzes erster Klasse und unbedingter Anbeter seiner Vorgesetzten, sagt, ein „improvisiertes". Moltke nennt es schnell eine Erfüllung der
„Anforderungen der heutigen Taktik", welche „verlangt, daß die Artillerie es nicht scheuen darf" (Moltkesches Deutsch), „sich in die vordersten Linien der kämpfenden Truppen einzureihen oder behufs Abwehr eines feindlichen Angriffs bis zum letzten Momente auszuharren und die andern Waffengattungen zu beschützen". Diese Anforderungen sind aber schon lange vor Moltke an die Artillerie gestellt worden. Fest steht gar nichts über der Artillerie „heutige Taktik". Vor 1815 ist nichts von Belang darüber geschrieben worden, und seit 1815 hat die preußische Artillerie viel gefaulenzt und ihre Offiziere sich untereinander hin und her gezankt. Seit 1866 glaubten die Preußen, sie hätten die Kanonenweisheit gepachtet, weil sie nämlich zufällig eine bessere Kanone als einige Nachbarn besaßen. Sie haben im französischen Kriege mit ihrer Artillerie nur nach einer Taktik herumgetastet, die sich, wie dem simpelsten Menschen einleuchten wird, mit jeder fühlbaren Verbesserung des Geschützes ändern muß. Es ist nur Humanität, wenn man es unternimmt, die ebenso einfältigen als greisenhaft-anspruchsvollen Orakelsprüche des Moltke und seiner Trabanten, wie sie sich in Büchern, Zeitungen, Reden und Briefen ans Licht wagen, ins Lächerliche zu ziehen und zuschanden zu machen.
Friedrich Engels [Ergänzung der Vorbemerkung von 1870 zu „Der deutsche Bauernkrieg"[3801]
Die vorstehenden Zeilen1 wurden vor mehr als vier Jahren niedergeschrieben. Sie behalten ihre Geltung auch heute noch. Was nach Sadowa und der Teilung Deutschlands richtig war, bestätigt sich auch nach Sedan und der Errichtung des heiligen deutschen Reichs preußischer Nation. So wenig vermögen „welterschütternde" Haupt- und Staatsaktionen der sogenannten großen Politik an der Richtung der geschichtlichen Bewegung zu ändern. Was dagegen diese Haupt- und Staatsaktionen vermögen, das ist, die Geschwindigkeit dieser Bewegung beschleunigen. Und in dieser Beziehung haben die Urheber obiger „welterschütternden Ereignisse" unfreiwillige Erfolge gehabt, die ihnen selbst sicher höchst unerwünscht sind, die sie aber wohl oder übel in den Kauf nehmen müssen. Schon der Krieg von 1866 erschütterte das alte Preußen in seinen Grundfesten. Es hatte bereits Mühe gekostet, nach 1848 das rebellische industrielle - bürgerliche wie proletarische - Element der Westprovinzen wieder unter die alte Zucht zu bringen; indes, es war gelungen, und das Interesse der Junker aus den Ostprovinzen war, nächst dem der Armee, wieder das herrschende im Staat. 1866 wurde fast ganz Nordwestdeutschland preußisch. Abgesehen von dem unheilbaren moralischen Schaden, den die preußische Krone von Gottes Gnaden nahm, indem sie drei andere Kronen von Gottes Gnaden verschluckte[381!, verlegte sich jetzt derSchwerpunkt der Monarchie bedeutend nach Westen. Die fünf Millionen Rheinländer und Westfalen wurden verstärkt, zunächst durch die 4 Millionen direkt und sodann durch die 6 Millionen indirekt, durch den Norddeutschen Bund, annektierter Deutschen.[243) Und 1870 kamen dazu noch die 8 Millionen Südwestdeutschen[3821, so daß nun im „neuen Reich" den 141/2 Millionen Altpreußen (aus den sechs ostelbischen Provinzen, darunter
1 Vorbemerkung zu „Der deutsche Bauernkrieg" (Ausgabe 1870), siehe Band 16 unserer Ausgabe, S. 393-400
obendrein 2 Millionen Polen) an 25 Millionen gegenüberstanden, die dem altpreußischen Junkerfeudalismus längst entwachsen waren. So verschoben gerade die Siege der preußischen Armee die ganze Grundlage des preußischen Staatsgebäudes; die Junkerherrschaft wurde mehr und mehr selbst der Regierung unerträglich. Aber gleichzeitig hatte die reißend schnelle industrielle Entwicklung den Kampf zwischen Junkern und Bourgeois verdrängt durch den Kampf zwischen Bourgeois und Arbeitern, so daß auch im Innern die gesellschaftlichen Grundlagen des alten Staats eine vollständige Umwälzung erfuhren. Die seit 1840 langsam verwesende Monarchie hatte zur Grundbedingung gehabt den Kampf zwischen Adel und Bourgeoisie, worin sie das Gleichgewicht erhielt; von dem Augenblick, wo es darauf ankam, nicht mehr den Adel gegen das Andrängen der Bourgeoisie, sondern alle besitzenden Klassen gegen das Andrängen der Arbeiterklasse zu schützen, mußte die alte absolute Monarchie völlig übergehen in die eigens zu diesem Zweck herausgearbeitete Staatsform: die bonapartistische Monarchie. Ich habe diesen Übergang Preußens zum Bonapartismus bereits an einem andern Ort auseinandergesetzt („Wohnungsfrage", 2. Heft, S. 26ff.1). Was ich dort nicht zu betonen hatte, was aber hier sehr wesentlich, ist, daß dieser Übergang der größte Fortschritt war, den Preußen seit 1848 gemacht, so sehr war Preußen hinter der modernen Entwicklung zurückgeblieben. Es war eben noch immer ein halbfeudaler Staat, und der Bonapartismus ist jedenfalls eine moderne Staatsform, die die Beseitigung des Feudalismus zur Voraussetzung hat. Preußen muß sich also entschließen, mit seinen zahlreichen feudalen Resten aufzuräumen, das Junkertum als solches zu opfern. Natürlich geschieht dies in der mildesten Form und nach der beliebten Melodie: Immer langsam voran!13831 So z.B. in der vielberühmten Kreisordnung.12321 Sie hebt die feudalen Privilegien des einzelnen Junkers auf seinem Gut auf, aber nur, um sie als Vorrechte der Gesamtheit der großen Grundbesitzer für den ganzen Kreis wiederherzustellen. Die Sache bleibt, nur wird sie aus dem feudalen in den bürgerlichen Dialekt übersetzt. Man verwandelt den altpreußischen Junker zwangsweise in etwas wie einen englischen Squire, und er brauchte sich gar nicht so sehr dagegen zu sträuben, denn der eine ist so dumm wie der andere.
Somit hat also Preußen das sonderbare Schicksal, seine bürgerliche Revolution, die es 1808-1813 begonnen und 1848 ein Stück weitergeführt, Ende dieses Jahrhunderts in der angenehmen Form des Bonapartismus zu vollenden. Und wenn alles gut geht und die Welt fein ruhig bleibt und wir
1 Siehe vorl. Band, S. 258-260
33 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
alle alt genug werden, so können wir es vielleicht im Jahr 1900 erleben, daß die Regierung in Preußen wirklich alle feudalen Einrichtungen abgeschafft hat, daß Preußen endlich auf dem Punkt ankommt, wo Frankreich 1792 stand. Abschaffung des Feudalismus, positiv ausgedrückt, heißt Herstellung bürgerlicher Zustände. In demselben Maß, wie die Adelsprivilegien fallen, verbürgert sich die Gesetzgebung. Und hier stoßen wir auf den Kernpunkt des Verhältnisses der deutschen Bourgeoisie zur Regierung. Wir sahen, daß die Regierung genötigt ist, diese langsamen und kleinlichen Reformen einzuführen. Aber der Bourgeoisie gegenüber stellt sie jede dieser kleinen Konzessionen dar als ein den Bourgeois gebrachtes Opfer, ein der Krone mit Mühe und Not abgerungenes Zugeständnis, wofür sie, die Bourgeois, nun auch wieder der Regierung etwas zugestehen müßten. Und die Bourgeois, obwohl ziemlich klar über den Sachverhalt, gehn auf diese Täuschung ein. Daraus ist denn jener stillschweigende Vertrag entstanden, der die stumme Grundlage aller Reichstags- und Kammerdebatten in Berlin bildet: Einerseits reformiert die Regierung die Gesetze im Schneckengalopp im Interesse der Bourgeoisie, beseitigt die feudalen und aus der Kleinstaaterei entstandenen Hindernisse der Industrie, schafft Münz-, Maß- und Gewichtseinheit, Gewerbefreiheit usw., stellt dem Kapital durch die Freizügigkeit die Arbeitskraft Deutschlands zur unbeschränkten Verfügung, begünstigt Handel und Schwindel; andrerseits überläßt die Bourgeoisie der Regierung alle wirkliche politische Macht, votiert Steuern, Anleihen und Soldaten und hilft alle neuen Reformgesetze so abfassen, daß die alte Polizeigewalt über mißliebige Individuen in voller Kraft bleibt. Die Bourgeoisie erkauft ihre allmähliche gesellschaftliche Emanzipation mit dem sofortigen Verzicht auf eigene politische Macht. Natürlich ist der Hauptbeweggrund, der der Bourgeoisie einen solchen Vertrag annehmbar macht, nicht Furcht vor der Regierung, sondern Furcht vor dem Proletariat. So jämmerlich indes unsere Bourgeoisie auch auf politischem Gebiet auftritt, so ist nicht zu leugnen, daß sie in industrieller und kommerzieller Beziehung endlich einmal ihre Schuldigkeit tut. Der Aufschwung der Industrie und des Handels, auf den in der Einleitung zur zweiten Ausgabe hingewiesen wurde1, hat seitdem sich mit noch weit größerer Energie entwickelt. Was in dieser Beziehung im rheinisch-westfälischen Industriebezirk seit 1869 geschehen, ist für Deutschland geradezu unerhört und erinnert an den Aufschwung in den englischen Fabrikdistrikten im Anfang dieses Jahrhunderts. Und in Sachsen und Oberschlesien, in Berlin,
Hannover und den Seestädten wird es ebenso sein, Wir haben endlich einen Welthandel, eine wirklich große Industrie, eine wirklich moderne Bourgeoisie; wir haben dafür aber auch einen wirklichen Krach13841 gehabt und haben ebenfalls ein wirkliches, gewaltiges Proletariat bekommen. Für denzukünftigenGeschichtsschreiberwird in derGeschichte Deutschlands von 1869 bis 1874 der Schlachtendonner von Spichern, Mars-la-Tour und Sedan13851, und was daranhängt, weit weniger Bedeutung haben als die anspruchslose, ruhig, aber stetig fortschreitende Entwicklung des deutschen Proletariats. Gleich 1870 trat eine schwere Prüfung an die deutschen Arbeiter heran: die bonapartistische Kriegsprovokation und ihre natürliche Wirkung: der allgemeine nationale Enthusiasmus in Deutschland. Die deutschen sozialistischen Arbeiter ließen sich keinen Augenblick irremachen. Nicht eine Regung von nationalem Chauvinismus trat bei ihnen hervor. Mitten im tollsten Siegestaumel blieben sie kalt, verlangten „einen billigen Frieden mit der Französischen Republik und keine Annexionen"[386), und selbst der Belagerungszustand konntesie nicht zum Schweigen bringen. Kein Schlachtenruhm, kein Gerede von deutscher „Reichsherrlichkeit" zog bei ihnen; ihr einziges Ziel blieb die Befreiung des gesamten europäischen Proletariats. Man darf wohl sagen: einer so schweren, so glänzend bestandenen Probe sind die Arbeiter keines andern Landes bisher unterworfen worden. Auf den Belagerungszustand des Krieges folgten die Hochverrats-, Majestäts- und Beamtenbeleidigungsprozesse, die stets sich steigernden Polizeischikanen des Friedens. Der „Volksstaat" hatte in der Regel drei bis vier Redakteure gleichzeitig im Gefängnis, die andern Blätter im Verhältnis. Jeder einigermaßen bekannte Parteiredner mußte mindestens einmal im Jahr vor Gericht, wo er fast regelmäßig verurteilt wurde. Ausweisungen, Konfiskationen, Auflösungen von Versammlungen folgten hintereinander hageldicht. Alles umsonst. An die Stelle jedes Verhafteten oder Ausgewiesenen trat alsbald ein anderer; für jede aufgelöste Versammlung berief man zwei neue und ermüdete die Polizeiwillkür an einem Ort nach dem andern durch Ausdauer und genaues Einhalten der Gesetze. Alle Verfolgungen bewirkten das Gegenteil des beabsichtigten Zweckes; weit entfernt, die Arbeiterpartei zu brechen oder auch nur zu beugen, führten sie ihr nur stets neue Rekruten zu und befestigten die Organisation. In ihrem Kampf mit den Behörden wie mit den einzelnen Bourgeois zeigten sich die Arbeiter überall als die intellektuell und moralisch Überlegenen und bewiesen namentlich in ihren Konflikten mit den sogenannten „Arbeitgebern", daß sie, die Arbeiter, jetzt die Gebildeten und die Kapitalisten die Knoten sind. Und dabei führen sie den Kampf vorwiegend mit einem Humor, der der beste
Beweis ist, wie sehr s ie ihrer Sache sicher und ihrer Überlegenheit sich bewußt sind. Ein so geführter Kampf, auf geschichtlich vorbereitetem Boden, muß große Resultate liefern. Die Erfolge der Januarwahlen13871 stehen bisher einzig da in der Geschichte der modernen Arbeiterbewegung, und das Erstaunen, das sie in ganz Europa hervorriefen, war vollständig gerechtfertigt. Die deutschen Arbeiter haben vor denen des übrigen Europas zwei wesentliche Vorteile voraus. Erstens, daß sie dem theoretischsten Volk Europas angehören und daß sie sich den theoretischen Sinn bewahrt haben, der den sogenannten „Gebildeten" Deutschlands so gänzlich abhanden gekommen ist. Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus - der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat - nie zustande gekommen. Ohne theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist. Und welch ein unermeßlicher Vorzug dies ist, zeigt sich einerseits an der Gleichgültigkeit gegen alle Theorie, die eine der Hauptursachen ist, weshalb die englische Arbeiterbewegung, trotz aller ausgezeichneten Organisation der einzelnen Gewerke, so langsam vom Flecke kommt, und andererseits an dem Unfug und der Verwirrung, die der Proudhonismus in seiner ursprünglichen Gestalt bei Franzosen und Belgiern, in seiner durch Bakunin weiter karikierten Form bei Spaniern und Italienern angerichtet hat. Der zweite Vorteil ist der, daß die Deutschen in der Arbeiterbewegung der Zeit nach ziemlich zuletzt gekommen sind. Wie der deutsche theoretische Sozialismus nie vergessen wird, daß er auf den Schultern Saint-Simons, Fouriers und Owens steht, dreier Männer, die bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten gehören und zahllose Dinge genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich nachweisen - so darf die deutsche praktische Arbeiterbewegung nie vergessen, daß sie auf den Schultern der englischen und französischen Bewegung sich entwickelt hat, ihre teuer erkauften Erfahrungen sich einfach zunutze machen, ihre damals meist unvermeidlichen Fehler jetzt vermeiden konnte. Ohne den Vorgang der englischen Trade-Unions und der französischen politischen Arbeiterkämpfe, ohne den riesenhaften Anstoß, den namentlich die Pariser Kommune gegeben, wo wären wir jetzt? Man muß den deutschen Arbeitern nachsagen, daß sie die Vorteile ihrer Lage mit seltnem Verständnis ausgebeutet haben. Zum erstenmal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seinen drei Seiten hin nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) - im Einklang und Zusammenhang
und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung. Einerseits durch diese ihre vorteilhafte Stellung, andererseits durch die insularen Eigentümlichkeiten der englischen und die gewaltsame Niederhaltung der französischen Bewegung sind die deutschen Arbeiter für den Augenblick in die Vorhut des proletarischen Kampfes gestellt worden. Wie lange die Ereignisse ihnen diesen Ehrenposten lassen werden, läßt sich nicht vorhersagen. Aber solange sie ihn einnehmen, werden sie ihn hoffentlich so ausfüllen, wie es sich gebührt. Dazu gehören verdoppelte Anstrengungen auf jedem Gebiet des Kampfes und der Agitation. Es wird namentlich die Pflicht der Führer sein, sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, sich mehr und mehr von dem Einfluß überkommener, der alten Weltanschauung angehöriger Phrasen zu befreien und stets im Auge zu behalten, daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will. Es wird darauf ankommen, die so gewonnene, immer mehr geklärte Einsicht unter den Arbeitermassen mit gesteigertem Eifer zu verbreiten, die Organisation der Partei wie der Gewerksgenossenschaften immer fester zusammenzuschließen. Wenn auch die im Januar abgegebenen sozialistischen Stimmen schon eine hübsche Armee repräsentieren, so machen sie doch bei weitem noch nicht die Majorität der deutschen Arbeiterklasse aus; und so ermutigend auch die Erfolge der Propaganda unter der ländlichen Bevölkerung sind, so bleibt doch gerade hier noch unendlich viel zu tun. Es gilt also nicht zu ermatten im Kampf, es gilt dem Feinde eine Stadt, einen Wahlkreis nach dem andern zu entreißen; vor allem aber gilt es, sich den echt internationalen Sinn zu wahren, der keinen patriotischen Chauvinismus aufkommen läßt und der jeden neuen Schritt in der proletarischen Bewegung mit Freuden begrüßt, einerlei von welcher Nation er ausgeht. Wenn die deutschen Arbeiter so vorangehen, so werden sie nicht gerade an der Spitze der Bewegung marschieren - es ist gar nicht im Interesse dieser Bewegung, daß die Arbeiter irgendeiner einzelnen Nation an ihrer Spitze marschieren -, aber doch einen ehrenvollen Platz in der Schlachtlinie einnehmen; und sie werden gerüstet dastehen, wenn entweder unerwartet schwere Prüfungen oder gewaltige Ereignisse von ihnen erhöhten Mut, erhöhte Entschlossenheit und Tatkraft erheischen. Friedrich Engels London, den I.Juli 1874
Nach: „Der deutsche Bauernkrieg", Dritter Abdruck, Leipzig 1875.

FRIEDRICH ENGELS Flüchtlingsliteratur[388]
Geschrieben Mai 1874 bis April 1875. Der vorliegende Abdruck (Artikel I-V) fußt auf der Veröffentlichung im „Volksstaat". Die Artikel I, II und V wurden mit dem Text der Wiederveröffentlichung in der Broschüre „Internationales aus dem ,Volksstaat' (1871-75)", Berlin 1894, verglichen. Auf wesentliche Abweichungen gegenüber der Erstveröffentlichung im „Volksstaat" wird in Fußnoten bzw. Anmerkungen verwiesen. Der Artikel V erschien 1875 in Leipzig als Broschüre unter dem Titel „Soziales aus Rußland".
I
Eine polnische Proklamation13891
[„Der Volksstaat" Nr. 69 vom 17. Juni 1874] Als der Kaiser von Rußland in London ankam, war dort bereits die ganze Polizei in Bewegung. Es hieß, die Polen wollten ihn erschießen, der neue Berezowski sei bereits gefunden und besser bewaffnet als damals in Paris. Man umstellte die Häuser bekannter Polen mit Polizisten in Zivil, ja, man ließ sich von Paris den Polizeikommissar kommen, der dort unter dem Kaiserreich die Polen speziell überwacht hatte. Die Polizeimaßregeln auf der Route des Zars von seiner Wohnung bis in die City waren förmlich nach strategischen Grundsätzen angeordnet - und alle diese Mühe umsonst! Kein Berezowski zeigte sich, kein Pistolenschuß fiel, und der nicht minder als seine Tochter zitternde Zar kam mit dem Schrecken davon. Ganz umsonst war die Mühe indes doch nicht, denn der Kaiser ließ jedem für ihn tätigen Polizeisuperintendenten fünf und jedem Inspektor zwei Pfund Sterl. (je 33 und 14 Tlr.1) als Trinkgeld zahlen. Die Polen dachten inzwischen an ganz andere Dinge als den Mord des edlen Alexander. Die Gesellschaft „Das polnische Volk" erließ eine „Adresse der polnischen Flüchtlinge an das englische Volk"!390i, unterzeichnet: General W.Wröblewski, Präsident, J.Krynski, Sekretär. Diese Adresse wurde in London während der Anwesenheit des Zaren massenhaft verbreitet. Mit Ausnahme von „Reynolds Newspaper"13911 verweigerte ihr die Londoner Presse einstimmig die Aufnahme: man dürfe den „Gast Englands" nicht beleidigen! Die Adresse fängt damit an, die Engländer darauf hinzuweisen, daß der Zar ihnen nicht eine Ehre, sondern eine Beleidigung antut, wenn er sie in demselben Augenblick besucht, wo er in Zentralasien alles vorbereitet, um die englische Herrschaft in Indien zu stürzen; und daß, wenn England, statt
1 (1894): je 100 und 40 Mark (statt: je 33 und 14 Tlr.)
den Lockungen des Zaren zu lauschen, dieses angeblichen Vaters der Völker, die er unterdrückt, gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen weniger gleichgültig wäre, England sowohl wie das übrige Westeuropa seine kolossalen Rüstungen ruhig einstellen könnte. Und dies ist ganz richtig. Der Hintergrund des ganzen europäischen Militarismus ist der russische Militarismus. Im Krieg 1859 auf seiten Frankreichs, 1866 und 1870 auf Seiten Preußens als Reserve stehend, hat die russische Armee es der jedesmaligen ersten Militärmacht möglich gemacht, ihren Gegner vereinzelt niederzuschlagen. Preußen als erste europäische Militärmacht ist direkt ein Geschöpf Rußlands, wenn auch seitdem seinem Schutzpatron unangenehm über den Kopf gewachsen. Die Adresse fährt fort: „Kraft seiner geographischen Lage und seiner Bereitschaft, jeden Augenblick für die Sache der Menschheit einzustehen, war Polen stets und wird stets sein der erste Vorkämpfer des Rechts, der Zivilisation und der gesellschaftlichen Entwicklung in ganz Nordosteuropa. Dies hat Polen unumstößlich bewiesen durch seine Jahrhunderte des Widerstands gegen die Einfälle der Ostbarbaren auf der einen Seite und gegen die damals fast den ganzen Westen unterdrückende Inquisition auf der andern. Wie kam es, daß die Völker Westeuropas sich gerade in der entscheidendsten Epoche der neueren Zeit ungestört der Entwicklung ihrer sozialen Lebenskräfte hingeben konnten? Weil und nur weil an den Ostmarken Europas der polnische Soldat auf Posten stand, stets wachsam, stets schußfertig, stets bereit, seine Gesundheit, seine Habe, sein Leben in die Schanze zu schlagen. Dem Schutze der polnischen Waffen verdankt Europa die Möglichkeit, daß sein im sechzehnten Jahrhundert neu erwachendes Leben in Kunst und Wissenschaft sich fortentwickeln, Handel, Industrie und Reichtum ihre jetzige staunenswerte Höhe erreichen konnten. Was zum Beispiel wäre aus der dem Westen durch zweihundertjährige Arbeit erworbenen Verlassenschaft an Zivilisation geworden, hätte nicht Polen, obgleich selbst im Rücken durch mongolische Horden bedroht, dem Zentrum Europas Hülfe gegen die Türken gebracht und durch den glänzenden Sieg unter den Mauern Wiens die Macht der Osmanen gebrochen?" Die Adresse entwickelt weiter, wie es auch heute noch wesentlich der Widerstand Polens ist, der Rußland verhindert, seine Kräfte gegen den Westen zu wenden, und der es sogar fertiggebracht hat, die gefährlichsten Alliierten Rußlands, seine panslawistischen Agenten, zu entwaffnen. Der berühmteste russische Historiker, Pogodin, sagt in einer auf Befehl und Kosten der russischen Regierung gedruckten Schrift, Polen, bisher der Pfahl im Fleisch Rußlands, müsse dessen rechte Hand werden, indem man es als kleines, schwaches Königreich unter einem russischen Prinzen wiederherstelle - damit fange man am besten die türkischen und österreichischen Slawen:
„Wir werden dies in einem Manifest ankündigen, England und Frankreich v/erden sich die Lippen beißen, und für Ostreich ist es der Todesstoß... Alle Polen, selbst die unversöhnlichsten, werden in unsere Arme stürzen; die östreichischen und preußischen Polen werden sich ihren Brüdern wieder anschließen. Alle slawischen Stämme sind jetzt von Ostreich unterdrückt, Tschechen, Kroaten, Ungarn (!), bis zu den türkischen Slawen herab, werden den Augenblick ersehnen, wo sie ebenso frei aufatmen können, wie dann die Polen. Wir werden ein Geschlecht von hundert Millionen sein unter einem Zepter, und dann, ihr Völker Europas, kommt und versucht eure Stärke an uns!" Leider fehlte an diesem schönen Plan nur die Hauptsache: die Einwilligung Polens. Aber „auf alle diese Verlockungen - die Welt weiß es - antwortete Polen: Ich will und muß leben, soll ich überhaupt leben, nicht als Werkzeug der Welteroberungspläne eines fremden Zaren, sondern als freies Volk unter den freien Völkern Europas." Die Adresse führt dann weiter aus, wie Polen diesen seinen unerschütterlichen Entschluß bestätigt hat. Im kritischen Augenblick seiner Existenz, bei Ausbruch der Französischen Revolution, war Polen bereits durch die erste Teilung verstümmelt und unter vier Staaten verteilt. Dennoch hatte es den Mut, durch die Verfassung vom 3. Mai 1791 das Banner der Französischen Revolution an der Weichsel aufzupflanzen - eine Tat, wodurch es sich weit über alle seine Nachbarn stellte. Die alte polnische Wirtschaft war damit vernichtet; einige Jahrzehnte ruhiger, von außen ungestörter Entwicklung, und Polen wurde das fortgeschrittenste und mächtigste Land östlich des Rheins. Aber den Teilungsmächten konnte es nicht passen, daß Polen wieder aufkomme, und noch weniger, daß es aufkomme durch Einbürgerung der Revolution im Nordosten Europas. Sein Schicksal war besiegelt: Die Russen setzten in Polen durch, was Preußen, Östreicher und Reichstruppen vergebens in Frankreich versuchten.
„Kosciuszko kämpfte gleichzeitig für die Unabhängigkeit Polens und für das Prinzip der Gleichheit. Und es ist weltbekannt, daß von dem Augenblick des Untergangs seiner nationalen Selbständigkeit an, und trotz dieses Untergangs, Polen, kraft seiner Vaterlandsliebe wie kraft seiner Solidarität mit allen für die Sache der Menschheit streitenden Völkern, der vorderste Vorkämpfer des - wo auch immer — verletzten Rechts war, auf jedem Schlachtfeld mitstreitend, wo Tyrannei bekämpft wurde. Ungebrochen durch seine eigenen Mißgeschicke, unbeirrt durch die Blindheit und den bösen Willen der europäischen Regierungen, hat Polen die ihm durch es selbst, durch die Geschichte und durch die Rücksicht auf die Zukunft auferlegten Pflichten keinen Augenblick vernachlässigt." Gleichzeitig aber hat es auch die Prinzipien entwickelt, nach denen diese Zukunft, die neue polnische Republik, organisiert werden soll; sie sind niedergelegt in den Manifesten von 1836, 1845 und 1863.[3921
„Das erste dieser Manifeste proklamiert neben dem unerschütterlichen nationalen Recht Polens zugleich die Gleichberechtigung der Bauern. Das von 1845, auf polnischem Boden, in der damals noch freien Stadt Krakau verkündigt und durch Abgeordnete allerTeilePolens bestätigt, spricht nicht nur diese Gleichberechtigung aus, sondern auch den Satz, daß die Bauern Eigentümer des Bodens werden sollen, den sie seit Jahrhunderten bebauen. - In dem moskowitischen Raubanteile1 haben die Grundbesitzer, auf obige Manifeste als Grundlagen des polnischen nationalen Rechts gestützt, lange vor der kaiserlichen sogenannten Emanzipations-Proklamation beschlossen, diese auf ihrem Gewissen lastende innere Angelegenheit freiwillig und durch Ubereinkunft mit den Bauern auszugleichen (1859-1863). Die polnische Landfrage war im Prinzip gelöst durch die Verfassung vom 3. Mai 1791; wenn dennoch der polnische Bauer unterdrückt blieb, so war dies lediglich die Schuld des Despotismus und Machiavellismus des Zaren, der seine Herrschaft auf die Verfeindung von Grundbesitzern und Bauern stützte. Und dieser Beschluß wurde gefaßt lange vor der kaiserlichen Proklamation vom 18. Februar 1861; und diese von ganz Europa beklatschte, angeblich die Gleichberechtigung der Bauern herstellende Proklamation war nur der Deckmantel für einen der immer wiederkehrenden Versuche des Zaren, sich fremdes Gut anzueignen. Das polnische Landvolk ist unterdrückt nach wie vor, aber - der Zar ist Eigentümer des Bodens geworden! Und zur Strafe für den blutigen Protest, den Polen 1863 gegen die heimtückische Barbarei seiner Bedrücker erhob, hat es eine Reihe brutaler Mißhandlungen zu erdulden gehabt, vor der selbst die Tyrannei vergangener Jahrhunderte schaudern müßte." „Und doch war weder das grausame Joch des Zaren, obwohl es jetzt ein volles Jahrhundert auf ihm lastet, noch die Gleichgültigkeit Europas imstande, Polen zu töten. Wir haben gelebt und wir werden leben, kraft unseres eigenen Willens, unserer eigenen Stärke und unserer eigenen sozialen und politischen Entwicklung, die uns hoch über unsere Bedrücker stellt; denn deren Existenz hat zur ersten und letzten Grundlage die brutale Gewalt, das Gefängnis und den Galgen, und ihre wesentlichen Aktionshebel nach außen sind unterirdische Machinationen, verräterische Überfälle und schließlich gewaltsame Eroberung."
Verlassen wir jetzt die durch obige Auszüge hinreichend gekennzeichnete Adresse, um daran einige Bemerkungen über die Wichtigkeit der polnischen Frage für die deutschen Arbeiter zu knüpfen. Sosehr Rußland sich auch seit Peter dem Großen entwickelt hatte, sosehr sein Einfluß in Europa gewachsen war (wozu Friedrich II. von Preußen, obwohl genau wissend, woran er war, keinen geringen Teil beitrug), so blieb es doch wesentlich eine ebenso außereuropäische Macht wie z.B. die Türkei, bis zu dem Augenblick, wo es sich Polens bemächtigte. 1772
1 In der „Address of the polish refugees..." heißt dieser Satzanfang: In dem Teil Polens, der von Rußland wie von einem Einbrecher annektiert worden ist
war die erste Teilung Polens; 1779 schon verlangte1 Rußland im Teschener Frieden das verbriefte Recht der Einmischung in die deutschen Angelegenheiten.13931 Das hätte den deutschen Fürsten eine Lehre sein sollen; trotzdem gingen Friedrich Wilhelm II., er, der einzige Hohenzoller, der je der russischen Politik ernsten Widerstand entgegengesetzt, und Franz II. auf die völlige Vernichtung Polens ein. Nach den napoleonischen Kriegen nahm Rußland noch dazu den Löwenanteil der früheren preußisch- und östreichisch-polnischen Provinzen und trat nun unverhüllt als Schiedsrichter Europas auf, eine Rolle, die es bis 1853 ununterbrochen fortsetzte. Preußen war ordentlich stolz darauf, vor Rußland kriechen zu dürfen; Ostreich folgte widerwillig, aber im entscheidenden Moment stets nachgebend aus Furcht vor der Revolution, gegen die der Zar doch immer der letzte Rückhalt blieb. So wurde Rußland der Hort der europäischen Reaktion, ohne sich dabei das Vergnügen zu versagen, in Ostreich und der Türkei fernere Eroberungen durch panslawistische Aufhetzereien vorzubereiten. Während der Revolutionsjahre war die Niederschlagung der Ungarn durch Rußland eine ebenso entscheidende Tatsache für Ost- und Mitteleuropa, wie es die Pariser Junischlacht für den Westen gewesen war; und als Kaiser Nikolaus bald darauf in Warschau über den König von Preußen und den Kaiser von Ostreich zu Gericht saß, da war mit der Herrschaft Rußlands auch die Herrschaft der Reaktion über Europa besiegelt. Der Krimkrieg befreite den Westen und Ostreich von der Insolenz des Zaren; Preußen und die deutschen Kleinstaaten krochen um so williger vor ihm; aber schon 1859 züchtigte er die Östreicher für ihren Ungehorsam, indem er dafür sorgte, daß seine deutschen Vasallen nicht Partei für sie nahmen, und 1866 vollendete Preußen die Züchtigung Ostreichs. Wir sahen schon oben, daß die russische Armee den Vorwand und Rückhalt des gesamten europäischen Militarismus bildet. Nur weil Nikolaus 1853 im Vertrauen auf seine - freilich großenteils nur auf dem Papier existierende - Million Soldaten den Westen herausgefordert, erhielt Louis-Napoleon durch den Krimkrieg den Vorwand, die damals ziemlich geschwächte französische Armee zur stärksten Europas zu machen. Nur dadurch, daß 1870 die russische Armee Ostreich verhinderte, für Frankreich Partei zu ergreifen, konnte Preußen Frankreich besiegen und die preußisch-deutsche Militärmonarchie vollenden. Bei allen diesen Hauptund Staatsaktionen sehen wir im Hintergrund die russische Armee. Und wenn auch - sofern nicht die innere Entwicklung Rußlands bald in revolutionären Fluß gerät - der Sieg Deutschlands über Frankreich ebenso
sicher einen Krieg zwischen Rußland und Deutschland erzeugen wird, wie der Sieg Preußens über Ostreich bei Sadowat241] den Deutsch-Französischen Krieg nach sich zog* - so wird doch gegen eine Bewegung im Innern den Preußen stets die russische Armee zu Diensten stehen. Noch heute ist das offizielle Rußland der Hort und Schirm der gesamten europäischen Reaktion, seine Armee die Reserve aller übrigen Armeen, die die Niederhaltung der Arbeiterklasse in Europa besorgen. Nun sind es aber grade die deutschen Arbeiter, die dem Anprall dieser großen Reservearmee der Unterdrückung zuerst ausgesetzt sind, und zwar sowohl im sog. Deutschen Reich wie in Ostreich. Solange hinter der östreichischen und deutschen Bourgeoisie und Regierung die Russen stehen, ist der ganzen deutschen Arbeiterbewegung die Spitze abgebrochen. Wir vor allen haben also das Interesse, uns die russische Reaktion und die russische Armee vom Halse zu schaffen. Und bei dieser Arbeit haben wir nur einen zuverlässigen, aber auch unter allen Umständen zuverlässigen Bundesgenossen: das polnische Volk• Polen ist noch weit mehr als Frankreich durch seine geschichtliche Entwicklung und seine gegenwärtige Lage vor die Wahl gestellt: entweder revolutionär zu sein oder unterzugehen. Und damit fällt all das alberne Gerede von dem wesentlich aristokratischen Charakter der polnischen Bewegung. Es gibt in der polnischen Emigration Leute genug, die aristokratische Gelüste haben; sowie aber Polen selbst in die Bewegung eintritt, wird diese durch und durch revolutionär, wie wir 1846 und 1863 gesehen haben. Diese Bewegungen waren nicht nur national, sie waren gleichzeitig direkt auf Befreiung der Bauern und Übertragung des Grundeigentums an diese gerichtet. 1871 trat die große Masse der polnischen Emigration in Frankreich in die Dienste der Kommune; war das die Tat von Aristokraten? Bewies das nicht, daß diese Polen vollständig auf der Höhe der modernen Bewegung standen? Seit Bismarck den Kulturkampf in Posen1 eingeführt hat und unter dem Vorwand, dem Papst dadurch einen Streich zu spielen, auf polnische Schulbücher fahndet, die polnische Sprache unterdrückt13951 und alles aufbietet, um diePolen in die Arme Rußlands zu treiben, was geschieht? Die polnische Aristokratie schließt sich mehr und mehr an Rußland an, um
* Dies ist bereits ausgesprochen im „Zweiten Manifest des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation über den Deutsch-Französischen Krieg" (datiert 9. Sept. 1870)[3M1.
1 (1894): Polen
unter seiner Herrschaft wenigstens Polen wieder zusammenzubringen; die revolutionären Massen antworten, indem sie der deutschen Arbeiterpartei ihre Allianz anbieten und in den Reihen der Internationale kämpfen. Daß Polen nicht totzumachen ist, hat es 1863 bewiesen und beweist es noch jeden Tag. Sein Anspruch auf selbständige Existenz in der europäischen Völkerfamilie ist unabweisbar. Seine Wiederherstellung aber ist eine Notwendigkeit namentlich für zwei Völker: für die Deutschen und für die Russen selbst. Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren. Die Macht, deren es zur Unterdrückung der andern bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst. Solange russische Soldaten in Polen stehen, kann das russische Volk sich weder politisch noch sozial befreien. Bei dem jetzigen Stand der russischen Entwicklung aber ist es unzweifelhaft, daß an dem Tage, wo Rußland Polen verliert, in Rußland selbst die Bewegung mächtig genug wird, die bestehende Ordnung der Dinge zu stürzen. Unabhängigkeit Polens und Revolution in Rußland bedingen sich gegenseitig. Und Unabhängigkeit Polens und Revolution in Rußland - die bei der grenzenlosen gesellschaftlichen, politischen und finanziellen Zerrüttung und der das ganze offizielle Rußland durchdringenden Korruption weit näher ist, als die Oberfläche anzeigt - bedeuten für die deutschen Arbeiter: Beschränkung der Bourgeoisie, der Regierungen, kurz der Reaktion in Deutschland auf ihre eigenen Kräfte - Kräfte, mit denen wir dann mit der Zeit schon fertig werden.
II
Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge13961
[„Der Volksstaat" Nr. 73 vom 26. Juni 1874] Nach jeder gescheiterten Revolution oder Kontrerevolution entwickelt sich unter den ins Ausland entkommenen Flüchtlingen eine fieberhafte Tätigkeit. Die verschiedenen Parteischattierungen gruppieren sich, klagen sich gegenseitig an, den Karren in den Dreck gefahren zu haben, beschuldigen einander des Verrats und aller möglichen sonstigen Todsünden. Dabei bleibt man mit der Heimat in reger Verbindung, organisiert, konspiriert, druckt Flugblätter und Zeitungen, schwört darauf, daß es in vierundzwanzig Stunden wieder losgeht, daß der Sieg gewiß ist, und verteilt im Hinblick hierauf schon die Regierungsämter. Natürlich folgt Enttäuschung auf Enttäuschung, und da man diese nicht den unvermeidlichen historischen Verhältnissen, die man nicht verstehen will, sondern zufälligen Fehlern einzelner zuschreibt, so häufen sich die gegenseitigen Anklagen, und das Ganze endigt in einem allgemeinen Krakeel. Das ist die Geschichte aller Flüchtlingschaften von den royalistischen Emigrierten von 1792 bis auf den heutigen Tag; und wer unter den Flüchtlingen Verstand und Einsicht hat, der zieht sich von dem unfruchtbaren Gezänk zurück, sobald es mit Anstand geschehen kann, und treibt etwas Besseres. Die französische Emigration nach der Kommune ist diesem unvermeidlichen Schicksal ebenfalls nicht entgangen. Durch die europäische Verleumdungskampagne, die alle gleichmäßig angriff, und in London speziell durch den gemeinsamen Mittelpunkt, den sie im Generalrat der Internationalen fand, eine Zeitlang genötigt, ihre inneren Zwistigkeiten wenigstens vor der Welt zu unterdrücken, war sie in den letzten zwei Jahren nicht mehr imstande, den immer rascher fortschreitenden Zersetzungsprozeß zu verheimlichen. Der offene Streit brach allenthalben los. In der Schweiz schloß
sich ein Teil an die Bakunisten an, wesentlich beeinflußt von Malon, der selbst einer der Stifter der geheimen Allianz121 war. Dann zogen sich in London die sogenannten Blanquisten von den Internationalen zurück und bildeten eine Gruppe für sich unter dem Titel: Die revolutionäre Kommune. Daneben erstanden später eine Menge anderer Gruppen, die aber in fortwährender Umbildung und Umschmelzung begriffen bleiben und auch in Manifesten nichts Erkleckliches geleistet haben, während die Blanquisten soeben in einer Proklamation an die „Communeux" ihr Programm zur Kenntnis aller Welt bringen13971. Diese Blanquisten heißen so nicht etwa als eine von Blanqui gestiftete Gruppe - nur ein paar der 33 Unterzeichner dieses Programms haben wohl je mit Blanqui gesprochen —, sondern weil sie in seinem Geiste und nach seiner Tradition tätig sein wollen. Blanqui ist wesentlich politischer Revolutionär, Sozialist nur dem Gefühl nach, mit den Leiden des Volks sympathisierend, aber er hat weder eine sozialistische Theorie noch bestimmte praktische Vorschläge sozialer Abhülfe. In seiner politischen Tätigkeit war er wesentlich „Mann der Tat", des Glaubens, daß eine kleine wohlorganisierte Minderzahl, die im richtigen Moment einen revolutionären Handstreich versucht, durch ein paar erste Erfolge die Volksmasse mit sich fortreißen und so eine siegreiche Revolution machen kann. Diesen Kern konnte er unter Louis-Philippe natürlich nur als geheime Gesellschaft organisieren, und da passierte denn, was gewöhnlich bei Verschwörungen passiert: Die Leute, überdrüssig des ewigen Hinhaltens mit leeren Versprechungen, es werde nun bald losgehen, verloren zuletzt ganz die Geduld, wurden rebellisch, und so blieb nur die Wahl: entweder die Verschwörung zerfallen zu lassen oder ohne allen äußeren Anlaß loszuschlagen. Man schlug los (12. Mai 1839) und wurde im Nu erdrückt. Übrigens war diese Blanquische Verschwörung die einzige, in der die Polizei nie Fuß fassen konnte; der Schlag kam ihr wie aus heiterm Himmel. - Daraus, daß Blanqui jede Revolution als den Handstreich einer kleinen revolutionären Minderzahl auffaßt, folgt von selbst die Notwendigkeit der Diktatur nach dem Gelingen: der Diktatur, wohlverstanden, nicht der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen Zahl derer, die den Handstreich gemacht haben und die selbst schon im voraus wieder unter der Diktatur eines oder einiger wenigen organisiert sind. Man sieht, Blanqui ist ein Revolutionär der vorigen Generation. Diese Vorstellungen vom Gang revolutionärer Ereignisse sind wenigstens für die deutsche Arbeiterpartei längst veraltet und werden auch in Frankreich nur bei den weniger reifen oder bei den ungeduldigeren Arbeitern noch Anklang
34 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
finden können. Auch werden wir finden, daß sie im vorliegenden Programm gewissen Beschränkungen unterworfen werden. Aber auch bei unsern Londoner Blanquisten geht als Grundsatz durch: daß Revolutionen überhaupt nicht sich selbst machen, sondern gemacht werden; daß sie gemacht werden von einer verhältnismäßig geringen Minderzahl und nach einem vorher entworfenen Plan; und endlich, daß es jederzeit „bald losgeht". Mit solchen Grundsätzen ist man natürlich sämtlichen Selbsttäuschungen des Flüchtlingtums unrettbar preisgegeben und muß man sich aus einer Torheit in die andre stürzen. Man will vor allem Blanqui, „Mann der Tat", spielen. Aber mit dem guten Willen ist hier wenig ausgerichtet; den revolutionären Instinkt, die rasche Entschlossenheit Blanquis hat nun einmal nicht jeder, und Hamlet mag noch so viel von Energie reden, er bleibt immer Hamlet. Und wenn nun gar unsere dreiunddreißig Männer der Tat auf dem Gebiet dessen, was sie Tat nennen, absolut nichts zu tun vorfinden, so kommen unsere dreiunddreißig Brutusse in einen mehr komischen als tragischen Widerspruch mit sich selbst, einen Widerspruch, dessen Tragik keineswegs erhöht wird durch das finstere Ansehen, mit dem sie sich umgeben, als wären sie lauter „Möros, den Dolch im Gewände", was ihnen beiläufig gar nicht einfällt. Was können sie tun? Sie präparieren das nächste „Losgehen", indem sie Proskriptionslisten für die Zukunft aufstellen, damit die Reihe der Leute, die an der Kommune teilgenommen, gereinigt (epure) werde, weshalb sie auch bei den andern Flüchtlingen die Reinen (les purs) heißen. Ob sie sich selbst diesen Titel beilegen, ist mir nicht bekannt, er würde auch verschiedenen unter ihnen ziemlich schief sitzen. Ihre Sitzungen sind geschlossen und ihre Beschlüsse sollen geheimgehalten werden, was aber durchaus nicht verhindert, daß am nächsten Morgen das ganze französische Vierte] davon widerhallt. Und wie es solchen ernsten Männern der Tat, wo nichts zu tun ist, immer geht: Sie haben sich in einen erst persönlichen, dann literarischen Streit eingelassen mit einem würdigen Gegner, einem der anrüchigsten Leute der kleinen Pariser Presse, einem gewissen Vermersch, der unter der Kommune den „Pere Duchene", eine Jammerkarikatur des Hebertschen Blatts13981 von 1793, herausgab. Dieser Edle antwortet auf ihre sittliche Entrüstung, indem er sie in einem Pamphlet sämtlich für „Spitzbuben oder Mitschuldige von Spitzbuben" erklärt und mit einer seltnen Fülle von Abtrittsschimpfwörtern überschüttet:
Jedes Wort Ist ein Nachttopf, und kein leerer.!388! Und mit einem solchen Gegner finden es unsere dreiunddreißig Brutusse für nötig, sich vor dem Publikum herumzubalgen!
Wenn etwas sicher ist, so ist es doch wohl dies, daß das Pariser Proletariat nach dem erschöpfenden Krieg, nach der Aushungerung von Paris und namentlich nach dem furchtbaren Aderlaß der Maitage 1871 eine geraume Zeit der Ruhe nötig hat, um wieder Kräfte anzusammeln, und daß jeder verfrühte Versuch einer Erhebung nur eine neue, vielleicht noch furchtbarere Niederlage zur Folge haben kann. Unsere Blanquisten sind andrer Ansicht. Der Zerfall der monarchischen Majorität in Versailles verkündet ihnen
„den Fall von Versailles, die Revanche der Kommune. Denn wir kommen zu einem jener großen geschichtlichen Augenblicke, zu einer jener großen Krisen, wo das Volk, während es in seinem Elend unterzugehen und dem Tode zu verfallen scheint, mit neuer Kraft seinen revolutionären Vormarsch wieder antritt." Es geht also wieder los, und zwar alsbald. Diese Hoffnung auf sofortige „Revanche der Kommune" ist nicht bloße Flüchtlingsillusion, sie ist notwendiger Glaubensartikel bei Leuten, die sich mit Gewalt in den Kopf setzen, „Männer der Tat" zu spielen zu einer Zeit, wo es in ihrem Sinn, dem Sinn des revolutionären Losschlagens, absolut nichts zu tun gibt. Einerlei. Da es losgeht, scheint ihnen „der Moment gekommen, daß alles in der Flüchtlingschaft, was noch Leben in sich hat, sich erkläre". Und somit erklären uns die 33, daß sie sind 1. Atheisten, 2. Kommunisten, 3. Revolutionäre. Unsere Blanquisten haben mit den Bakunisten das gemein, daß sie die am allerweitesten gehende, extremste Richtung vertreten wollen. Weswegen sie auch, beiläufig gesagt, obwohl in den Zielen jenen entgegengesetzt, dennoch in den Mitteln oft mit ihnen zusammengehen. Es handelt sich also darum, in Beziehung auf den Atheismus radikaler zu sein als alle andern. Atheist zu sein,ist heutzutage glücklicherweise keine Kunst mehr. Der Atheismus ist so ziemlich selbstverständlich bei den europäischen Arbeiterparteien, obwohl er in gewissen Ländern oft genug beschaffen sein mag wie der jenes spanischen Bakunisten, der sich dahin erklärte: an Gott zu glauben, das sei gegen allen Sozialismus, aber an die Jungfrau Maria, das sei ganz was andres, an die müsse ein ordentlicher Sozialist natürlich glauben. Von den deutschen sozialdemokratischen Arbeitern1 kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz
1 (1894) heißt dieser Satzanfang: Von der großen Mehrzahl der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter
zum Gottesglauben stehen: Sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten. Dies wird in Frankreich auch wohl der Fall sein. Aber wenn nicht, so wäre doch nichts einfacher, als dafür zu sorgen, daß die prachtvolle französische materialistische Literatur des vorigen Jahrhunderts massenhaft unter den Arbeitern verbreitet würde, jene Literatur, in der der französische Geist nach Form und Inhalt bisher sein Höchstes geleistet hat und die - den damaligen Stand der Wissenschaft berücksichtigt - dem Inhalt nach auch heute noch unendlich hochsteht und der Form nach nie wieder erreicht worden ist. Aber das kann unsern Blanquisten nicht passen. Um zu beweisen, daß sie die Allerradikalsten sind, wird Gott, wie 1793, durch Dekret abgeschafft:
„Die Kommune möge auf ewig die Menschheit befreien von diesem Gespenst des vergangenen Elends" (Gott), „von dieser Ursache" (der nichtexistierende Gott eine Ursache!) „ihres gegenwärtigen Elends. - In der Kommune ist kein Platz für den Pfaffen; jede religiöse Kundgebung, jede religiöse Organisation muß verboten werden." Und diese Forderung, die Leute par ordre du mufti1 in Atheisten zu verwandeln, ist unterzeichnet von zwei Mitgliedern der Kommune, die doch wahrlich Gelegenheit genug hatten, zu erfahren, daß erstens man ungeheuer viel auf dem Papier befehlen kann, ohne daß es darum ausgeführt zu werden braucht, und zweitens, daß Verfolgungen das beste Mittel sind, mißliebige Uberzeugungen zu befördern! Soviel ist sicher: Der einzige Dienst, den man Gott heutzutage noch tun kann, ist der, den Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel zu erklären und die Bismarckschen Kirchenkulturkampfgesetze durch ein Verbot der Religion überhaupt zu übertrumpfen. Der zweite Punkt des Programms ist der Kommunismus. Hier finden wir uns schon viel heimischer, denn das Schiff, auf dem wir hier segeln, heißt: „Manifest der Kommunistischen Partei"2, veröffentlicht im Februar 1848. Bereits im Herbst 1872 hatten die aus der Internationalen austretenden fünf Blanquisten sich zu einem sozialistischen Programm bekannt, das in allen wesentlichen Punkten das des jetzigen deutschen Kommunismus war, und ihren Austritt nur damit begründet, daß die Internationale sich weigerte, nach Art dieser Fünf Revolution zu spielen.14001 Jetzt adoptiert der Rat der Dreiunddreißig dies Programm mit seiner ganzen materialistischen Geschichtsanschauung, wenn auch die Übertragung desselben ins blan« quistische Französisch gar manches zu wünschen läßt, soweit nicht das
1 auf Befehl des Mufti (Anweisung von oben) - 2 siehe Band 4 unserer Ausgabe
„Manifest" ziemlich wörtlich beibehalten wurde, wie dies z.B. in folgendem Satz geschah:
„Als letzter Ausdruck aller Formen der Knechtschaft hat die Bourgeoisie die Ausbeutung der Arbeit der mystischen Schleier beraubt, die sie früher verhüllten: Regierungen, Religionen, Familie, Gesetze, Institutionen der Vergangenheit wie der Gegenwart stellten sich endlich dar, in dieser auf den einfachen Gegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern zurückgeführten Gesellschaft, als die Werkzeuge der Unterdrükkung, mit deren Hülfe die Bourgeoisie ihre Herrschaft aufrecht - und das Proletariat darniederhält."
Hiermit vergleiche man das „Kommunistische Manifest", Abschnitt I: „Die Bourgeoisie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verbrämten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Sie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Sie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es in ein reines Geldverhältnis verwandelt"1 usw. Sowie wir aber von der Theorie in die Praxis hinabsteigen, zeigt sich die Absonderlichkeit der Dreiunddreißig:
„Wir sind Kommunisten, weil wir bei unserm Ziel ankommen wollen, ohne uns an Zwischenstationen aufzuhalten, an Kompromissen, die nur den Sieg vertagen und die Sklaverei verlängern."
Die deutschen Kommunisten sind Kommunisten, weil sie durch alle Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen, sondern von der geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden, das Endziel klar hindurchsehn2: die Abschaffung der Klassen, die Errichtung einer Gesellschaft, worin kein Privateigentum an der Erde und an den Produktionsmitteln mehr existiert. Die Dreiunddreißig sind Kommunisten, weil sie sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben, die Zwischenstationen und Kompromisse zu überspringen, sei die Sache abgemacht, und wenn es, wie ja feststeht, dieser Tage „losgeht" und sie nur ans Ruder kommen, so sei übermorgen „der Kommunismus eingeführt". Wenn das nicht sofort möglich, sind sie also auch keine Kommunisten. Kindliche Naivetät, die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen! Endlich aber sind unsere Dreiunddreißig „Revolutionäre". In diesem
1 Vgl. Band 4 unserer Ausgabe, S.465 - 2 (1894) eingefügt: und verfolgen
Fach ist nun, was die dick aufgeschwollenen Worte angeht, bekanntlich von den Bakunisten schon das Menschenmögliche geleistet; trotzdem aber haben unsere Blanquisten die Pflicht, sie noch zu übertreffen. Und wie? Bekanntlich hat das ganze sozialistische Proletariat, von Lissabon und New York bis Pest und Belgrad die Verantwortlichkeit für die Handlungen der Pariser Kommune sofort en bloc übernommen. Das genügt unseren Blanquisten nicht:
„Was uns angeht, so beanspruchen wir unsern Teil von Verantwortlichkeit für jene Hinrichtungen, die" (unter der Kommune) „die Feinde des Volks getroffen haben" (folgt die Aufzählung der Erschossenen), „wir beanspruchen unsern Teil der Verantwortlichkeit an jenen Brandstiftungen, die die Werkzeuge der monarchischen oder bürgerlichen Unterdrückung zerstörten oder die Kämpfenden beschützten."
In jeder Revolution geschehen unvermeidlich eine Menge Dummheiten, gerade wie zu jeder andern Zeit, und wenn man sich endlich wieder Ruhe genug gesammelt hat, um kritikfähig zu sein, so kommt man notwendig zum Schluß: Wir haben viel getan, was wir besser unterlassen hätten, und wir haben viel unterlassen, was wir besser getan hätten, und deswegen ging die Sache schief. Welcher Mangel an Kritik liegt aber darin, die Kommune geradezu heilig zu sprechen, sie für unfehlbar zu erklären, zu behaupten, jedem Haus, das abgebrannt, jedem Geisel, der erschossen, sei genau und bis auf das Pünktchen überm i sein Recht widerfahren? Heißt das nicht behaupten, während der Maiwoche sind vom Volk gerade die Leute erschossen worden, und nicht mehr, die zu erschießen nötig war, gerade die Gebäude verbrannt, und nicht mehr, die verbrannt werden mußten? Heißt das nicht dasselbe wie von der ersten französischen Revolution sagen: Jedem einzelnen Geköpften ist recht geschehen, zuerst denen, die Robespierre köpfen ließ, und dann dem Robespierre selbst? Zu solchen Kindereien führt es, wenn im Grund ganz gutmütige Leute dem Drang, haarsträubend zu erscheinen, freien Lauf lassen. Genug. Bei allen Flüchtlingstorheiten und bei allen ins Komische umschlagenden Versuchen, den Knaben Karl (oder Eduard?1) fürchterlich werden zu lassen, ist in diesem Programm ein wesentlicher Fortschritt nicht zu verkennen. Es ist das erste Manifest, worin französische Arbeiter sich zum jetzigen deutschen Kommunismus bekennen. Und noch dazu Arbeiter von derjenigen Richtung, die die Franzosen für das auserwählte Volk der Revolution, Paris für das revolutionäre Jerusalem hält. Sie dahin gebracht zu
1 Anspielung auf Edouard Vaillant; (1894) fehlt: (oder Eduard?)
haben, ist das unbestrittene Verdienst Vaillants, der mitunterzeichnet hat und der bekanntlich die deutsche Sprache und die deutsche sozialistische Literatur gründlich kennt. Die deutschen sozialistischen Arbeiter aber, die 1870 bewiesen haben, daß sie vollständig frei sind von jedem nationalen Chauvinismus, werden es immerhin als ein gutes Zeichen ansehen dürfen, wenn französische Arbeiter richtige theoretische Grundsätze annehmen, obgleich sie aus Deutschland kommen.
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[„Der Volksstaat" Nr. 117 vom 6. Oktober 1874] In London erscheint eine Revue in russischer Sprache und in zwanglosen Bänden unter dem Titel: „Vpered!" (Vorwärts).114021 Sie wird redigiert von einem persönlich höchst achtbaren russischen Gelehrten1, den zu nennen uns die in der russischen Flüchtlingsliteratur herrschende strenge Etikette verbietet. Selbst diejenigen Russen nämlich, die sich für förmliche revolutionäre Menschenfresser ausgeben, die es für einen Verrat an der Revolution erklären, irgend etwas zu respektieren, sie respektieren in ihrer Polemik den Schein der Anonymität mit einer Gewissenhaftigkeit, die nur in der englischen Bourgeoisiepresse ihresgleichen findet, sie respektieren ihn selbst da , wo er, wie hier, komisch wird, weil die ganze russische Emigration und die russische Regierung genau wissen, wie der Mann heißt. Es kann uns nicht einfallen, ein so gut gehaltenes Geheimnis ohne allen Grund auszuplaudern; da aber das Kind doch einen Namen haben muß, so wird der Redakteur des „Vorwärts" es uns hoffentlich verzeihen, wenn wir ihn in diesem Artikel, der Kürze halber, mit dem beliebten russischen Namen Peter bezeichnen. Freund Peter ist seiner Philosophie nach ein Eklektiker, der sich aus allen verschiedenen Systemen und Theorien das Beste aussucht: Prüfet alles und das Beste behaltet! Er weiß, daß alles seine gute und seine schlechte Seite hat und daß es darauf ankommt, die gute Seite von allem sich anzueignen, ohne sich die schlechte ebenfalls aufzuladen. Da nun jede Sache, jede Person, jede Theorie diese beiden Seiten hat, eine gute und eine schlechte, so ist jede Sache, jede Person, jede Theorie in dieser Beziehung die eine ungefähr so gut und so schlecht wie die andere, und es wäre also,
1P. L. Lawrow
von diesem Standpunkt aus, Torheit, sich für oder gegen die eine oder die andere zu ereifern. Von diesem Gesichtspunkt aus müssen die Kämpfe und Streitigkeiten der Revolutionäre und Sozialisten unter sich als reine Abgeschmacktheiten erscheinen, die zu weiter nichts dienen als zur Freude ihrer Gegner. Und nichts begreiflicher, als daß ein Mann, der diese Ansicht hat, den Versuch macht, alle diese sich gegenseitig Bekämpfenden unter einen Hut zu bringen, und ernstlich in sie dringt, der Reaktion nicht länger dies skandalöse Schauspiel zu geben, sondern ausschließlich den gemeinsamen Gegner anzugreifen. Um so natürlicher, wenn man eben erst aus Rußland kommt, wo die Arbeiterbewegung bekanntlich so riesig entwickelt ist. Das „Vorwärts" ist denn auch voll von Ermahnungen zur Eintracht aller Sozialisten oder wenigstens zur Vermeidung aller öffentlichen Zwietracht. Als die Versuche der Bakunisten, die Internationale unter falschen Vorspiegelungen, durch Betrug und Lüge ihrer Herrschaft zu unterwerfen, die bekannte Spaltung in der Assoziation hervorriefen, da war es wieder das „Vorwärts", das zur Einigkeit mahnte. Diese Einigkeit war natürlich nur dadurch zu erhalten, daß man den Bakunisten sofort zu Willen war und ihrer geheimen Verschwörung die Internationale, an Händen und Füßen gebunden, überlieferte. Man war nicht gewissenlos genug, dies zu tun, man nahm den Handschuh auf; der Haager Kongreß entschied, warf die Bakunisten heraus und beschloß die Veröffentlichung der diese Ausstoßung rechtfertigenden Aktenstücke. Groß war das Wehklagen auf der Redaktion des „Vorwärts" darüber, daß der lieben „Einigkeit" nicht die ganze Arbeiterbewegung zum Opfer gebracht war. Aber noch größer war das Entsetzen, als die kompromittierliehen bakunistischen Aktenstücke wirklich im Kommissionsbericht (siehe: „Ein Komplott gegen die Internationale" \ deutsche Ausgabe, Braunschweig, Bracke) erschienen. Hören wir das „Vorwärts" selbst:
„Diese Druckschrift... trägt an sich den Charakter galliger Polemik gegen Personen, die in den vordersten Reihen der Föderalisten stehn... ihr Inhalt ist angefüllt worden mit Privattatsachen, welche nicht anders als durch Hörensagen gesammelt werden und deren Glaubwürdigkeit folglich für die Verfasser nicht unbestreitbar sein konnte." Und um den Leuten, die den Beschluß des Haager Kongresses ausführten, zu beweisen, welch kolossales Verbrechen sie begangen, weist das „Vorwärts" hin auf ein Feuilleton der „Neuen Freien Presse"14031 von einem gewissen Karl Thaler, das,
„aus dem Bourgeoislager hervorgegangen, besondere Aufmerksamkeit verdient, weil es am klarsten beweist, welche Bedeutung für die gemeinsamen Feinde des Arbeiterstandes, für die Bourgeoisie und die Regierungen haben können die sich gegenseitig anklagenden Pamphlete der Kämpfer um die Herrschaft in den Reihen der Arbeiter". Bemerken wir zuvörderst, daß hier die Bakunisten einfach als „Föderalisten" im Gegensatz zu den angeblichen Zentralisten angeführt werden, als ob der Verfasser an diesen nicht existierenden, von den Bakunisten erfundenen Gegensatz glaube. Daß dies aber in Wirklichkeit nicht der Fall, wird sich zeigen. Bemerken wir zweitens, daß er aus einem auf Bestellung geschriebenen Feuilleton eines so verkauften Bourgeoisblatts, wie die Wiener „Neue Freie Presse", den Schluß zieht, die wirklichen Revolutionäre dürften die bloß vorgeblichen Revolutionäre nicht ans Tageslicht ziehen, weil diese gegenseitigen Anklagen den Bourgeois und den Regierungen Spaß machen. Ich glaube, die „Neue Fr. Presse" und all dies Preßgelichter könnte zehntausend Feuilletons schreiben, ohne daß dies auf die Haltung der deutschen Arbeiterpartei den allergeringsten Einfluß hätte. Jeder Kampf schließt Augenblicke ein, wo man dem Gegner eine gewisse Genugtuung nicht verwehren kann, will man sich anders nicht selbst positiven Schaden antun. Bei uns ist man glücklicherweise so weit, daß man dem Gegner dies Privatvergnügen gönnt, wenn man damit wirkliche Erfolge erkauft. Die Hauptanklage ist aber die, daß der Bericht voll von Privattatsachen sei, deren Glaubwürdigkeit für die Verfasser nicht unbestreitbar sein durfte, weil sie nur durch Hörensagen gesammelt werden konnten. Woher Freund Peter weiß, daß eine Gesellschaft, wie die Internationale, die ihre regelmäßigen Organe in der ganzen zivilisierten Welt besitzt, dergleichen Tatsachen nur durch Hörensagen sammeln kann, wird nicht gesagt. Seine Behauptung ist jedenfalls höchst leichtfertig. Die fraglichen Tatsachen sind beglaubigt durch authentische Beweisstücke, und die Betreffenden haben sich wohl gehütet, sie zu bestreiten. Aber Freund Peter ist der Ansicht, daß Privattatsachen wie Privatbriefe heilig seien und nicht in politischen Debatten veröffentlicht werden dürfen. Wenn man dies so unbedingt gelten lassen will, so verbietet man damit jede Geschichtsschreibung. Das Verhältnis Ludwigs XV. zur Du Barry oder Pompadour war eine Privatsache, aber ohne sie ist die ganze Vorgeschichte der Französischen Revolution unverständlich. Oder, um näher an die Gegenwart zu treten: Wenn irgendeine unschuldige Isabella an einen Mann verheiratet wird, der nach der Behauptung von Sachkennern (Assessor Ulrichs z.B.) die Weiber nicht ausstehn kann und sich deshalb ausschließlich in Männer verliebt - wenn sie in ihrer Vernachlässigung die Männer
nimmt, wo sie sie findet, so ist das reine Privatsache. Wenn aber besagte unschuldige Isabella Königin von Spanien ist und einer der jungen Männer, die sie sich hält, ein junger Offizier namens Serrano; wenn dieser Serrano, zum Lohn für seine unter vier Augen verrichteten Heldentaten, zum Feldmarschall und Minitserpräsidenten avanciert, dann durch einen andern verdrängt und gestürzt wird, darauf sein untreues Schätzchen mit Hülfe anderer Schicksalsgenossen aus dem Lande jagt, nach allerhand Abenteuern endlich selbst Diktator von Spanien und ein so großer Mann wird, daß Bismarck alles aufbietet, damit die Großmächte ihn doch anerkennen - so wird die Privatgeschichte zwischen Isabella und Serrano ein Stück spanischer Geschichte, und wer über moderne spanische Geschichte schreiben und dies Stückchen seinen Lesern wissentlich verschweigen wollte, der würde eben Geschichte fälschen. Und wenn man die Geschichte einer Bande beschreibt, wie die Allianz, in der sich neben den Betrogenen eine solche Menge Betrüger, Abenteurer, Spitzbuben, Polizeispione, Schwindler und Feiglinge finden, soll man diese Geschichte fälschen, indem man die einzelnen Schuftereien dieser Herren als „Privattatsachen" wissentlich verheimlicht? Freund Peter mag sich darob entsetzen, aber er kann sich darauf verlassen, daß wir mit diesen „Privattatsachen" noch lange nicht fertig sind. Das Material häuft sich immer mehr. Wenn aber das „Vorwärts" den Bericht als ein wesentlich aus Privattatsachen zusammengesetztes Machwerk schildert, so begeht es eine Handlung, die schwer zu bezeichnen ist. Der Mann, der so etwas schreiben konnte, hatte entweder die fragliche Schrift gar nicht gelesen; oder er war zu beschränkt oder zu voreingenommen, sie zu verstehn; oder aber er schrieb etwas, von dem er wissen mußte, daß es nicht richtig war. Niemand kann das „Komplott gegen die Internationale" lesen, ohne sich zu überzeugen, daß die darin eingestreuten Privattatsachen das Allerunwesentlichste sind, Illustrationen zur näheren Bezeichnung der darin vorkommenden Charaktere, und daß sie alle gestrichen werden können, ohne daß der Hauptzweck der Schrift darunter leidet. Die Organisation einer geheimen Gesellschaft, mit dem einzigen Zweck, die europäische Arbeiterbewegung der verborgenen Diktatur einiger Abenteurer zu unterwerfen, die zu diesem Zweck, besonders durch Netschajew in Rußland, begangenen Infamien darum dreht sich das Buch, und zu behaupten, es drehe sich bloß um Privatsachen, ist, gelinde gesagt, unverantwortlich. Allerdings mag es manchem Russen fatal gewesen sein, so plötzlich die schmutzige Seite - und sie ist allerdings sehr schmutzig - der russischen Bewegung dem Westen Europas schonungslos aufgedeckt zu sehn. Aber
wer ist schuld daran? Wer anders, als diejenigen Russen selbst, die diese Schmutzseite vertreten, die, nicht damit zufrieden, ihre eigenen Landsleute zu betrügen, den Versuch wagten, die ganze europäische Arbeiterbewegung ihren persönlichen Zwecken dienstbar zu machen? Hätten Bakunin und Konsorten ihre Heldentaten auf Rußland beschränkt, schwerlich hätte jemand in Westeuropa es der Mühe wert gefunden, sie speziell aufs Korn zu nehmen. Die Russen selbst hätten das besorgt. Aber sobald jene Herren, die von den Bedingungen und dem Entwicklungsgang der westeuropäischen Arbeiterbewegung nicht die Anfangsgründe verstehen, bei uns Diktator spielen wollen, da hört der Spaß auf: man brennt ihnen einfach auf den Pelz. Übrigens kann die russische Bewegung dergleichen Enthüllungen ruhig vertragen. Ein Land, das zwei Schriftsteller von der Größe Dobroljubows und Tschernyschewskis, zwei sozialistische Lessings, hervorgebracht hat, geht darum nicht zugrunde, weil es auf einmal einen Humbug wie Bakunin erzeugt und einige unreife Studentchen, die sich mit großen Worten froschartig aufblähen und schließlich sich untereinander auffressen. Und auch unter den jüngeren Russen kennen wir Leute von ausgezeichneter theoretischer wie praktischer Begabung und hoher Energie, Leute, die vor den Franzosen und Engländern, vermöge ihrer Sprachkenntnisse, die intime Bekanntschaft mit der Bewegung der verschiedenen Länder, vor den Deutschen die weltmännische Gewandtheit voraushaben. Diejenigen Russen, welche die Arbeiterbewegung verstehen und mitmachen, können es nur als einen ihnen geleisteten Dienst ansehn, daß man sie von der Mitverantwortlichkeit für die bakunistischen Schurkereien befreit hat. Was alles jedoch das „Vorwärts" nicht hindert, seinen Bericht mit den Worten zu schließen:
„Wir wissen nicht, was die Verfasser dieser Broschüre von den dadurch erzielten Resultaten halten. Die Mehrzahl unserer Leser würde wahrscheinlich das drückende Gefühl teilen, womit wir sie gelesen und womit wir in Erfüllung unserer Pflicht als Chronisten diese traurigen Erscheinungen in unsern Blättern verzeichnen."
Mit diesem drückenden Gefühl Freund Peters schließt der erste Abschnitt unserer Erzählung. Der zweite beginnt mit folgendem Satz aus demselben Band des „Vorwärts":
„Wir erfreuen unsre Leser noch mit einer andern Nachricht ähnlicher Art. Mit uns, in unsern Reihen befindet sich auch der bekannte Schriftsteller Peter Nikititsch Tkatschow; nach vierjähriger Haft ist es ihm gelungen, aus dem Orte, wo er interniert und zur Untätigkeit verdammt war, zu entkommen und unsere Reihen zu verstärken."
Wer der bekannte Schriftsteller Tkatschow ist, das lernen wir aus einer russischen Broschüre: „Die Aufgaben der revolutionären Propaganda in
Rußland"[404], die er selbst im April 1874 veröffentlicht hat und die ihn als einen grünen Gymnasiasten von seltner Unreife, sozusagen als das Karlchen Mißnick der russischen revolutionären Jugend kennzeichnet. Er erzählt uns, von vielen Seiten sei er aufgefordert worden, sich am „Vorwärts" zu beteiligen; er habe gewußt, daß der Redakteur ein Reaktionär sei; trotzdem habe er es für seine Pflicht gehalten, das „Vorwärts" unter seine Fittiche zu nehmen, das, wohlgemerkt, ihn gar nicht verlangte. Kaum angekommen, findet er zu seinem Erstaunen, daß der Redakteur, Freund Peter, sich die endgültige Entscheidung über Aufnahme oder Verwerfung der Artikel anmaßt. Ein so undemokratisches Verfahren entrüstet ihn natürlich; er setzt ein ausführliches Schriftstück auf, worin er für sich und alle andern Mitarbeiter (die dies, wohlgemerkt, gar nicht verlangten) „im Namen der Gerechtigkeit, auf Grund rein theoretischer Erwägungen... Gleichheit der Rechte und Verpflichtungen" (mit dem Hauptredakteur) „beansprucht in Beziehung auf alles, was die literarische und ökonomische Seite des Unternehmens betrifft".
[„Der Volksstaat" Nr.l 18 vom 8. Oktober 1874] Hier zeigt sich gleich die Unreife, die in der russischen Flüchtlingsbewegung zwar nicht vorherrscht, aber doch mehr oder weniger geduldet wird. Ein russischer Gelehrter, der in seinem Lande einen bedeutenden Ruf hat, wird flüchtig und verschafft sich die Mittel, um im Auslande eine politische Zeitschrift zu gründen. Kaum ist er so weit, so kommt, unaufgefordert, ein beliebiger, mehr oder weniger begeisterter Jüngling und bietet seine Mitarbeiterschaft an, unter der mehr als kindlichen Bedingung, in allen literarischen und Geldfragen gleich entscheidende Stimme mit dem Stifter der Zeitschrift zu haben. In Deutschland hätte man ihn bloß ausgelacht. Aber die Russen sind nicht so grob. Freund Peter gibt sich alle Mühe, ihn ebenfalls „im Namen der Gerechtigkeit und auf Grund rein theoretischer Erwägungen" von seinem Unrecht zu überzeugen, natürlich vergebens. Der beleidigte Tkatschow zieht sich wie Achilles in sein Zelt zurück und feuert daraus seine Broschüre ab gegen Freund Peter, den er als „Philisterphilosophen" bezeichnet. Mit einem erdrückenden Haufen ewig wiederholter bakunistischer Phrasen über das Wesen der wahren Revolution klagt er Freund Peter des Verbrechens an, das Volk für die Revolution vorbereiten, es zum „klaren Verständnis und Bewußtsein seiner Bedürfnisse" bringen zu wollen. Wer das aber wolle, sei kein Revolutionär, sondern ein Mann des friedlichen
Fortschritts, d.h. ein Reaktionär, ein Freund der „unblutigen Revolutionen nach deutschem Geschmack". Der wahre Revolutionär „weiß, daß das Volk immer bereit ist zur Revolution"; wer das nicht glaubt, der glaubt nicht ans Volk, und der Glaube ans Volk „macht unsere Stärke aus". Wem das nicht einleuchtet, für den zitiert der Verfasser einen Ausspruch Netschajews, dieses „typischen Vertreters unserer modernen Jugend". Freund Peter sagt, wir sollen warten, bis das Volk zur Revolution bereit ist - „aber wir können und wir wollen nicht warten", der wahre Revolutionär unterscheidet sich dadurch vom Philisterphilosophen, daß er sich „das Recht zuschreibt, jederzeit das Volk zur Revolution aufzurufen". Und so weiter. Bei uns, im europäischen Westen, würde man alle diese Kindereien einfach mit der Antwort niederschlagen: Wenn euer Volk jederzeit zur Revolution bereit ist, wenn ihr euch das Recht zuschreibt, es jederzeit zur Revolution aufzurufen, und wenn ihr denn platterdings nicht warten könnt, warum ennuyiert ihr uns dann noch mit eurem Geschwätz, warum, zum Donnerwetter, schlagt ihr denn nicht los? Aber so einfach macht sich die Sache bei unsern Russen nicht. Freund Peter findet, daß die kindischen, langweiligen, widerspruchsvollen, ewig sich im Kreise drehenden Betrachtungen Herrn Tkatschows auf die russische Jugend die verführerische Anziehungskraft eines Venusbergs ausüben könnten, und erläßt als der getreue Eckart dieser Jugend eine warnende Mahnschrift von sechzig enggedruckten Seiten dagegen14051. Hier legt er seine eigenen Ansichten vom Wesen der Revolution dar, untersucht alles Ernstes, ob das Volk für die Revolution bereit ist oder nicht, ob und unter welchen Bedingungen die Revolutionäre das Recht haben, es zur Revolution aufzurufen oder nicht, und dergleichen Spitzfindigkeiten mehr, die in dieser Allgemeinheit ungefähr ebensoviel Wert besitzen wie die Untersuchungen der Scholastiker über die Jungfrau Maria. „Die Revolution" wird dabei selbst zu einer Art Jungfrau Maria, die Theorie ein Glaube, die Tätigkeit in der Bewegung ein Kultus, und die ganze Verhandlung geht nicht auf platter Erde vor sich, sondern in einem Wolkenhimmel allgemeiner Redensarten. Dabei gerät aber Freund Peter in einen tragischen Widerspruch mit sich selbst. Er, der Prediger der Einigkeit, der Gegner aller Polemik, aller „sich gegenseitig anklagenden Pamphlete" innerhalb der revolutionären Partei, kann natürlich seine Eckartspflicht nicht erfüllen, ohne ebenfalls in Polemik einzutreten, kann nicht auf die Anklagen seines Gegners antworten, ohne diesen ebenfalls anzuklagen. Mit welchem „drückenden Gefühl" diese „traurige Erscheinung" sich vollzieht, wird uns Freund Peter selbst sagen.
Seine Schrift beginnt wie folgt: „Aus zweien Übeln muß man das kleinere wählen. Ich weiß sehr wohl, daß jene ganze Flüchtlingsliteratur von gegenseitig anklagenden Broschüren, von Polemik darüber, wer wirklicher Freund des Volkes ist und wer nicht, wer aufrichtig und wer nicht, und wer namentlich ein wirklicher Vertreter der russischen Jugend, der wahren revolutionären Partei ist - daß jene ganze Literatur über den persönlichen Kehricht der russischen Emigration sowohl den Lesern widerwärtig wie für den revolutionären Kampf bedeutungslos ist und nur für unsere Feinde erfreulich sein kann - ich weiß das und dennoch finde ich, daß es für mich notwendig ist, diese Zeilen zu schreiben, notwendig, mit eigener Hand die Menge dieser jammervollen Schriften um ein Stück zu vermehren, den Lesern zur Langweile, den Feinden zur Ergötzung - notwendig, weil man aus zweien Übeln das kleinere wählen muß."
Vortrefflich. Aber wie kommt es, daß Freund Peter, der im „Vorwärts" soviel wahrhaft christliche Duldsamkeit entwickelt und von uns verlangt für die von uns enthüllten Schwindler - Schwindler, die er, wie sich zeigen wird, ebenso genau kennt wie wir -, daß er für die Verfasser des Berichts nicht einmal das bißchen Duldsamkeit übrig hatte, um sich zu fragen, ob nicht auch sie - aus zweien Übeln das kleinere wählen mußten ? Daß ihm das Feuer erst auf seinen eigenhändigen Nägeln brennen muß, ehe er zur Einsicht kommt, es könne auch noch größere Übel geben als ein bißchen scharfe Polemik gegen Leute, die unter dem Deckmantel angeblich revolutionärer Tätigkeit die ganze europäische Arbeiterbewegung zu verfälschen und zu vernichten strebten? Seien wir indessen nachsichtig mit Freund Peter, das Schicksal hat ihn hart genug mitgenommen. Kaum hat er mit vollem Schuldbewußtsein das tun müssen, was er uns vorwirft, so treibt ihn die Nemesis weiter und zwingt ihn, Herrn Karl Thaler neues Material für etwaige Feuilletons in der „Neuen Fr. Presse" zu liefern.
„Oder", fragt er den stets bereiten Losschläger Tkatschow, „hat eure Agitation ihre Arbeit schon vollbracht? Ist eure Organisation vielleicht fertig? Fertig? Wirklich fertig? Und haben wir da nicht jenes famose geheime comite .typischer' Revolutionäre, das comite, das aus zwei Mann besteht und Dekrete herumschickt? Man hat unserer Jugend so viel vorgelogen, sie so oft geprellt, ihr Vertrauen so schmählich gemißbraucht, daß sie nicht mit einem Male an die Fertigkeit der revolutionären Organisation glauben wird."
Daß die „zwei Mann" Bakunin und Netschajew heißen, braucht natürlich für den russischen Leser nicht hinzugefügt zu werden. Ferner: „Aber es gibt Leute, die da vorgeben, sie seien Freunde des Volkes, Anhänger der sozialen Revolution, und die gleichzeitig in ihre Tätigkeit hineinbringen jene Lügen
haftigkeit und Unaufrichtigkeit, die ich oben als ein Aufrülpsen der alten Gesellschaft bezeichnet habe.. w Diese Leute benutzten die Erbitterung der Anhänger der neuen Gesellschaftsordnung gegen die Ungerechtigkeit der alten Gesellschaft und stellten das Prinzip auf: im Kampf ist jedes Mittel brauchbar. Zu diesen brauchbaren Mitteln rechneten sie den Betrug gegen ihre Mitarbeiter, den Betrug gegen das Volk, dem sie doch zu dienen vorgaben. Sie waren bereit, alle und jeden zu belügen, um nur eine hinreichend starke Partei zu organisieren, als ob eine starke Sozialrevolutionäre Partei hergestellt werden könnte ohne aufrichtige Solidarität ihrer Mitglieder! Sie waren bei der Hand, im Volke anzufachen die alten Leidenschaften des Räubertums und des Genusses ohne Arbeit... Sie waren bei der Hand, ihre Freunde und Genossen auszubeuten, um sie zu Werkzeugen ihrer Pläne zu machen; sie waren bei der Hand, in Worten die vollständigste Unabhängigkeit und Autonomie der Personen und Sektionen zu verteidigen, während sie gleichzeitig die entschiedenste geheime Diktatur organisierten und ihre Anhänger zum schafsmäßigsten, gedankenlosesten Gehorsam abrichteten, als ob die soziale Revolution gemacht werden könne von einer Vereinigung von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von einer Gruppe von Leuten, deren Handlungen bei jedem Schritte allem ins Gesicht schlagen, was ihre Worte predigen!" Es ist unglaublich, aber es ist wahr; Diese Zeilen, die einem Auszug aus dem „Komplott gegen die Internationale" so ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, sind geschrieben von demselben Manne, der wenige Monate vorher jene Schrift, wegen ihrer mit obigen Zeilen genau stimmenden Angriffe gegen dieselben Leute, als ein Verbrechen an der gemeinsamen Sache dargestellt hatte. Nun, wir können zufrieden sein. Und wenn wir jetzt zurückblicken auf Herrn Tkatschow mit seinen großen Ansprüchen und absolut nichtigen Leistungen und auf das kleine Malheur, das unserm Freund Peter bei dieser Gelegenheit passiert ist, so wäre an uns die Reihe, zu sagen: „Wir wissen nicht, was die Verfasser von den erzielten Resultaten halten. Die Mehrzahl unserer Leser wird wahrscheinlich das .anheiternde' Gefühl teilen, womit wir sie gelesen und womit wir in Erfüllung unserer Pflicht als Chronisten diese ,eigentümlichen' Erscheinungen in unsern Blättern verzeichnen." Doch Spaß beiseite. Eine Menge befremdlicher Erscheinungen in der bisherigen russischen Bewegung erklärt sich daraus, daß lange Zeit jede russische Schrift dem Westen ein Buch mit sieben Siegeln war und daß es daher den Bakunin und Konsorten leicht wurde, ihr unter den Russen längst bekanntes Treiben dem Westen zu verbergen. Mit Eifer verbreiteten sie die Behauptung, selbst die Schmutzseiten der russischen Bewegung müßten im Interesse der Bewegung selbst - dem Westen verheimlicht werden; wer Russisches, soweit es unangenehmer Natur war, dem übrigen Europa mit
teile, der sei ein Verräter. Das hat jetzt aufgehört. Die Kenntnis der russischen Sprache - einer Sprache, die sowohl um ihrer selbst willen, als einer der kraftvollsten und reichsten lebenden Sprachen, wie wegen der durch sie aufgeschlossenen Literatur das Studium reichlich lohnt - ist wenigstens unter den deutschen Sozialdemokraten keine so große Seltenheit mehr. Die Russen werden sich in das unvermeidliche internationale Schicksal fügen müssen, daß ihre Bewegung fortan unter den Augen und der Kontrolle des übrigen Europas vor sich geht. Niemand hat die frühere Abgeschlossenheit so schwer zu büßen gehabt wie sie selbst. Ohne diese Abgeschlossenheit hätten sie nie jahrelang so schmählich beschwindelt werden können, wie dies von Bakunin und Konsorten geschah. Wer von der Kritik des Westens, von der internationalen Wechselwirkung der verschiedenen westeuropäischen Bewegungen auf die russische und umgekehrt, von der endlich sich vollziehenden Verschmelzung der russischen Bewegung mit der gesamteuropäischen, am meisten Nutzen ziehen wird, das sind die Russen selbst.
35 Marx/Engeis, Werke, Bd. 18
IY [406]
[„Der Volksstaat" Nr. 36 vom 28. März 1875] Den Lesern des „Volksstaat" ist ein Unglück passiert. Einige unter ihnen erinnern sich vielleicht noch, daß ich in meinem letzten Artikel über „Flüchtlingsliteratur" (Nr. 117 und 118)1 von einigen Stellen aus der russischen Zeitschrift „Vorwärts " sowie von einer Broschüre ihres Redakteurs14051 handelte. Dabei kam ganz nebenbei ein Herr Peter Tkatschow zur Erwähnung, der gegen besagten Redakteur ein Schriftiein14041 erlassen hatte, und mit dem ich mich nur ebensoweit beschäftigte als unumgänglich nötig. Ich bezeichnete ihn nach Form und Inhalt seines unsterblichen Werks „als einen grünen Gymnasiasten von seltner Unreife, sozusagen als das Karlchen Mißnick der russischen revolutionären Jugend"2, und bedauerte den Redakteur des „Vorwärts", daß er sich mit einem solchen Gegner herumschlagen für nötig halte. Wie bald sollte ich erfahren, daß der Knabe Karl anfängt, auch mir fürchterlich zu werden und auch mich in Polemik mit ihm verwickelt. Er erläßt eine Schrift: „Offener Brief an Herrn Friedrich Engels" von Peter Tkatschow, Zürich, Typographie der „Tagwacht", 1874. Daß mir darin allerhand Sächelchen angehängt werden, von denen Herr Tkatschow wissen muß, daß ich sie nie behauptet, würde mir gleichgültig sein; daß er aber den deutschen Arbeitern eine ganz falsche Darstellung der Lage der Dinge in Rußland gibt, um dadurch die Tätigkeit der Bakunisten in Beziehung auf Rußland zu rechtfertigen, das macht eine Erwiderung nötig. Herr Tkatschow führt sich in seinem „Offenen Brief" durchweg als Vertreter der russischen revolutionären Jugend auf. Ich hätte, behauptet er, den „russischen Revolutionären... Ratschläge erteilt, ...sie ermahnt, mit
mir (!) in ein Bündnis zu treten"; gleichzeitig hätte ich sie, „die Vertreter der russischen revolutionären Partei im Auslande", ihre Bestrebungen und ihre Literatur in den „ungünstigsten Farben vor der deutschen Arbeiterwelt geschildert"; er sagt: „Sie geben uns Russen gegenüber Ihrer tiefsten Verachtung Ausdruck, weil wir so ,dumm' und .unreif' seien" etc. „...,grüne Gymnasiasten' (wie Sie uns zu nennen geruhen)" - und schließlich folgt der unvermeidliche Trumpf: „Indem Sie über uns spotteten, haben Sie unserm gemeinschaftlichen Feinde, dem russischen Staat, einen guten Dienst geleistet." Gegen ihn, Herrn Tkatschow selbst, habe ich mich „in allen möglichen Schimpfereien geübt". Nun weiß niemand besser als Peter Nikititsch Tkatschow, daß analledem kein wahres Wort ist. Erstens habe ich in dem betreffenden Artikel für die Aussprüche des Herrn Tkatschow niemanden verantwortlich gemacht als Herrn Tkatschow. Es ist mir nie eingefallen, ihn als den Repräsentanten der russischen Revolutionäre anzusehen. Wenn er sich selbst dazu ernennt und den grünen Gymnasiasten und andere Annehmlichkeiten von seinen auf ihre Schultern schiebt, so muß ich entschieden dagegen protestieren. Unter der russischen revolutionären Jugend gibt es natürlich, wie überall, Leute sehr verschiedenen moralischen und intellektuellen Kalibers. Aber sicher steht sie im Durchschnitt, selbst nach voller Anrechnung des Zeitunterschieds und der wesentlich verschiedenen Umgebung, immer noch weit höher als unsre deutsche studierende Jugend je gestanden, selbst in ihrer besten Zeit, im Anfang der dreißiger Jahre. Niemand als er selbst gibt Herrn Tkatschow das Recht, im Namen der Gesamtheit dieser jungen Leute zu sprechen. Ja, obwohl er sich diesmal als richtiger Bakunist entpuppt, so bezweifle ich doch bis auf weiteres, ob er das Recht hat, sich als Vertreter jener paar russischen Bakunisten zu gebaren, die ich bezeichnete als „einige unreife Studentchen, die sich mit großen Worten froschartig aufblähen und schließlich sich untereinander auffressen"1. Aber selbst wenn das der Fall sein sollte, so wäre das nur eine neue Auflage der alten Geschichte von den drei Schneidern in Tooley Street in London, die eine Proklamation erließen: „Wir, das Volk von England, erklären" etc.* Vor allem ist also festzustellen, daß die „russischen Revolutionäre" wie bisher
* Was gilt die Wette, daß Herr Tkatschow sagen wird, durch obige Anekdote hätte ich einen Verrat am Proletariat begangen, indem ich die Schneider als solche in „lächerlichem Licht erscheinen lasse".
so auch jetzt außer Frage bleiben und daß wir statt Tkatschows „Wir" überall „Ich" zu setzen haben. Ich soll ihm „Ratschläge" erteilt haben! Mir ist davon kein Sterbenswörtchen bekannt. Schläge, Peter Nikititsch, mögen einige bei der Gelegenheit abgefallen sein, aber Ratschläge? Bitte um gütigen Nachweis. Ich soll ihn oder seinesgleichen ermahnt haben, in ein Bündnis mit mir zu treten, und zwar am Schlüsse meines letzten Artikels. Ich zahle Herrn Tkatschow zehn Mark Bismarcksche Reichsmünze, wenn er das beweist. Ich soll behauptet haben, er sei „dumm", und setzt das Wort in Anführungszeichen. Obwohl ich nun nicht leugnen will, daß er das Licht seines Talents - soweit überhaupt die Rede davon sein kann - in beiden Schriftwerken unter einen erklecklichen Scheffel gestellt hat, so kann sich doch jeder überzeugen, daß in meinem Artikel das Wort „dumm" auch nicht ein einziges Mal vorkommt. Aber wo es nicht anders geht, da helfen sich die Herren Bakunisten mit falschen Zitaten. Ferner soll ich über ihn „gespottet" und ihn „in lächerlichem Licht" dargestellt haben. Daß ich seine Broschüre ernsthaft nehme, dazu wird mich Herr Tkatschow allerdings nie zwingen können. Wir Deutschen stehen stark im Geruch der Langweiligkeit und haben ihn sicher auch oft genug redlich verdient. Aber das legt uns doch nicht die Verpflichtung auf, unter allen Umständen ebenso langweilig und feierlich zu sein wie die Bakunisten. Die deutsche Arbeiterbewegung hat durch den Tirailleurkampf mit Polizei, Staatsanwälten und Gefängniswärtern einen eigentümlich humoristischen Charakter angenommen; warum soll ich den verleugnen? Herr Tkatschow hat volle Erlaubnis, mich so arg zu verspotten und in lächerlichem Lichte erscheinen zu lassen, wie er dies fertigbringt, ohne mir Unwahrheiten anzudichten.
[„Der Volksstaat" Nr. 37 vom 2. April 1875] Und nun die unvergleichliche Anklage: Indem ich Herrn Tkatschow in dem ihm und seinen Werken entsprechenden Lichte erscheinen lasse, habe ich damit „unserm gemeinschaftlichen Feind, dem russischen Staat, einen guten Dienst geleistet"! Ebenso heißt es an einer andern Stelle: Indem ich ihn so schildere, wie ich ihn geschildert, verletze ich „die Grundprinzipien des Programms der Internationalen Arbeiter-Assoziation"! Hier haben wir den richtigen Bakunisten. Die Herren, als wahre Revolutionäre, erlauben sich uns gegenüber alles, besonders im Dunkeln; behandelt man sie aber nicht mit der höchsten Ehrerbietung, zieht man ihr Treiben ans Licht,
kritisiert man sie und ihr Phrasengeklingel, so dient man dem Kaiser von Rußland und verletzt die Grundprinzipien der Internationalen. Die Sache verhält sich gerade umgekehrt. Wer der russischen Regierung einen Dienst geleistet, ist niemand anders als Herr Tkatschow. Hätte die russische Polizei einigen Witz, so würde sie die Broschüre dieses Herrn massenhaft in Rußland verbreiten. Einerseits könnte sie kaum ein besseres Mittel finden, die russischen Revolutionäre, als deren Vertreter der Verfasser sich hinstellt, bei allen Leuten von Verstand in Mißkredit zu bringen. Andrerseits ließen sich möglicherweise immer einige brave aber unerfahrene junge Leute dadurch zu Unbesonnenheiten verführen und lieferten sich damit selbst ins Garn. Aber, sagt Herr Tkatschow, ich habe mich ihm gegenüber „in allen möglichen Schimpfereien geübt". Nun ist ein gewisses Schimpfen, die sogenannte Invektive, eine der wirksamsten rhetorischen Formen, die von allen großen Rednern, wenn erforderlich, angewandt wird und worin der kraftvollste englische politische Schriftsteller, William Cobbett, eine Meisterschaft besaß, die noch jetzt bewundert wird und zum unerreichten Muster dient. Auch Herr Tkatschow „schimpft" in seiner Broschüre ganz gehörig. Hätte ich also geschimpft, so wäre das an sich noch lange kein Unrecht von mir. Aber da ich Herrn Tkatschow gegenüber gar nicht rhetorisch wurde, da ich ihn gar nicht ernsthaft nahm, so kann ich auch gar nicht gegen ihn geschimpft haben. Sehen wir zu, was ich von ihm gesagt. Ich habe ihn „einen grünen Gymnasiasten von seltener Unreife" genannt. Unreife kann sich beziehen auf Charakter, Verstand und Kenntnisse. Was die Unreife des Charakters angeht, so hatte ich Herrn Tkatschows eigener Erzählung folgendes nacherzählt: „Ein russischer Gelehrter, der in seinem Lande einen bedeutenden Ruf hat, wird flüchtig und verschafft sich die Mittel, um im Ausland eine politische Zeitschrift zu gründen. Kaum ist er so weit, so kommt, unaufgefordert, ein beliebiger, mehr oder weniger begeisterter Jüngling und bietet seine Mitarbeiterschaft an, unter der mehr als kindlichen Bedingung, in allen literarischen und Geldfragen gleich entscheidende Stimme mit dem Stifter der Zeitschrift zu haben. In Deutschland hätte man ihn bloß ausgelacht."1 Einen weiteren Beweis für Unreife des Charakters brauche ich hiernach wohl nicht beizubringen. Die Unreife des Verstandes wird hinreichend bewiesen durch die unten folgenden weiteren Zitate aus der Broschüre des Herrn Tkatschow. Was die Kenntnisse angeht, so dreht sich der Streit zwischen dem „Vorwärts" und Herrn Tkatschow großenteils um folgendes: Der Redakteur des „Vorwärts" ver
langt, die russische revolutionäre Jugend solle etwas lernen, sich mit ernsthaften und gründlichen Kenntnissen bereichern, kritische Denkkraft nach regelmäßigen Methoden sich erwerben, im Schweiß ihres Angesichts an ihrer Selbstentwicklung und Selbstdurchbildung arbeiten. Solche Ratschläge weist Tkatschow mit Abscheu zurück:
„ Ich muß immer wieder das Gefühl tiefer Entrüstung aussprechen, das sie von jeher in mir hervorgerufen... Belehrt euch! Bildet euch aus! O Gott, und das kann ein lebendiger Mensch lebendigen Menschen sagen! Warten! Studieren und durchbilden! Aber haben wir denn das Recht zu warten" (mit der Revolution nämlich)?. „Haben wir das Recht, Zeit an Ausbildung zu verschwenden?" (p.14.) „Kenntnisse sind wohl eine notwendige Vorbedingung des friedlichen Fortschritts, aber durchaus nicht notwendig für die Revolution" (p. 17).[404]
Wenn also Herr Tkatschow schon bei der bloßen Aufforderung zum Studieren eine tiefe Entrüstung entwickelt, wenn er alle Kenntnisse für überflüssig für einen Revolutionär erklärt, wenn er dazu in seiner ganzen Schrift durchaus nicht die geringste Spur von Kenntnissen verrät, so stellt er selbst damit sich das Zeugnis der Unreife aus, und ich habe das bloß konstatiert. Jemand, der aber dieses Zeugnis sich selbst ausstellt, kann nach unsern Begriffen höchstens auf der Bildungsstufe eines Gymnasiasten stehn. Indem ich ihn dieser höchstmöglichen Stufe zuwies, habe ich also, statt zu schimpfen, ihm vielleicht noch zu viel Ehre angetan. Ferner habe ich gesagt, die Betrachtungen des Herrn Tkatschow seien kindisch (Belege hierfür die Zitate in diesem Artikel), langweilig (das wird der Verfasser selbst wohl nicht ableugnen), widerspruchsvoll (wie der Redakteur des „Vorwärts" ihm nachgewiesen) und ewig sich im Kreise drehend (was ebenfalls richtig ist). Dann spreche ich von seinen großen Ansprüchen (die ich ihm selbst nacherzählt) und absolut nichtigen Leistungen (die der gegenwärtige Artikel mehr als genügend nachweist). Wo sind nun die Schimpfereien? Daß ich ihn mit Karlchen Mißnick, dem beliebtesten Gymnasiasten von Deutschland und einem der populärsten deutschen Schriftsteller verglichen, das ist doch sicher nicht geschimpft. Doch halt! Habe ich ihm nicht nachgesagt, er hätte sich wie Achilles in sein Zelt zurückgezogen und daraus seine Broschüre gegen das „Vorwärts" abgefeuert? Da wird wohl der Hase im Pfeffer liegen. Bei einem Manne, den das bloße Wort Studieren schon in Harnisch bringt, der sich Heines:
Und seine ganze Ignoranz Hat er sich selbst erworben,
kühnlich zum Motto nehmen kann, bei dem kann man wohl annehmen, daß
ihm der Name Achilles hier zum ersten Mal vorkommt. Und da ich den Achilles in Zusammenhang bringe mit „Zelt" und „abfeuern", so mag Herr Tkatschow sich vorstellen, dieser Achilles sei ein russischer Unteroffizier oder türkischer Baschibozuk und es sei also kommentwidrig, ihn einen Achilles zu schimpfen. Ich kann aber Herrn Tkatschow versichern, daß der Achilles, von dem ich spreche, der größte Held der griechischen Sage war, und daß jener Rückzug in sein Zelt den Stoff geliefert hat zum großartigsten Heldengedicht aller Zeiten, der Ilias, was ihm sogar Herr Bakunin bestätigen wird. Sollte diese meine Vermutung richtig sein, so käme ich allerdings in den Fall erklären zu müssen, daß Herr Tkatschow kein Gymnasiast ist. Ferner sagt Herr Tkatschow:
„Trotz alledem erlaubte ich mir aber, die Uberzeugung auszusprechen, daß die soziale Revolution leicht ins Leben zu rufen sei. .Wenn es so leicht ist, sie ins Leben zu rufen', bemerken Sie, .warum tun Sie es nicht, anstatt von ihr zu sprechen?' Ihnen kommt es als ein lächerliches, kindisches Betragen vor... Ich und meine Gesinnungsgenossen sind überzeugt, daß dieAusführbarkeit der sozialen Revolution in Rußland keine Schwierigkeiten bietet, daß es jeden Augenblick möglich sei, das russische Volk zu einem allgemeinen revolutionären Protest ( !) zu bestimmen. Zwar verpflichtet uns diese Uberzeugung zu einer gewissen praktischen Tätigkeit, aber sie spricht nicht im mindesten gegen die Nützlichkeit und Notwendigkeit der literarischen Propaganda. Es genügt nicht, daß wir davon überzeugt sind, wir wollen, daß auch andere diese Überzeugung mit uns teilen. Je mehr Gesinnungsgenossen wir haben, desto stärker werden wir uns fühlen, desto leichter wird es uns sein, die Aufgabe praktisch zu lösen." I407!
Das geht denn doch über das Bohnenlied. Das klingt so nett, so verständig, so gesittet, so einleuchtend. Das klingt ganz als ob Herr Tkatschow seine Broschüre'404' nur geschrieben, um den Nutzen der literarischen Propaganda zu beweisen, und ich ungeduldiger Gelbschnabel ihm geantwortet: Zum Teufel mit der literarischen Propaganda, jetzt heißt's losschlagen! Und wie steht's nun damit in der Wirklichkeit? Herr Tkatschow fängt seine Broschüre gleich damit an, der JournalPropaganda (und das ist doch wohl die wirksamste literarische Propaganda) ein Mißtrauensvotum zu geben, indem er sagt, man dürfe „nicht zu viel revolutionäre Kräfte auf sie verwenden", denn „bei unzweckmäßigem Gebrauch richte sie ungleich mehr Schaden an, als sie bei zweckmäßigem Gebrauch Nutzen stifte". So sehr schwärmt unser Tkatschow für die literarische Propaganda im allgemeinen. Im besonderen nun, wenn man solche Propaganda machen, Gesinnungsgenossen werben will, so hilft kein bloßes Deklamieren, sondern man muß sich auf Gründe einlassen, die Sache also
theoretisch, d.h. in letzter Instanz wissenschaftlich behandeln. Über diesen Punkt sagt Herr Tkatschow dem Redakteur des „Vorwärts":
„Ihr philosophischer Kampf, jene rein theatralische, wissenschaftliche Propaganda, der sich Ihr Journal ergeben, ... ist vom Gesichtspunkt der Interessen der revolutionären Partei nicht nur nutzlos, sie ist sogar schädlich. Man sieht, je mehr wir Herrn Tkatschows Ansichten über literarische Propaganda untersuchen, je mehr reiten wir uns fest, je weniger erfahren wir, was er will. Was will er denn eigentlich? Hören wir weiter:
„Begreifen Sie etwa nicht, daß der Revolutionär sich jederzeit das Recht zuschreibt und zuschreiben muß, das Volk zum Aufstand aufzurufen; daß er sich von Philisterphilosophen unterscheidet, indem er, ohne abzuwarten, bis der Verlauf der historischen Ereignisse den Augenblick anzeigt - selbst diesen Augenblick wählt, daß er das Volk immer bereit zur Revolution weiß (p. 10) ... Wer nicht an die Möglichkeit der Revolution in der Gegenwart glaubt, der glaubt nicht ans Volk, der glaubt nicht an die Bereitschaft des Volks für die Revolution (p. 11) ... Das ist es, weshalb wir nicht warten können, weshalb wir behaupten, daß in Rußland die Revolution dringend nötig ist, und nötig namentlich in gegenwärtiger Zeit; wir gestatten kein Zögern und kein Zaudern. Jetzt oder sehr spät, vielleicht nie (p. 16)!... Jedes der Willkür preisgegebene, von Ausbeutern abgerackerte Volk... jedes solche Volk (und in dieser Lage befinden sich alle Völker) ist kraft der eignen Bedingungen seiner sozialen Umstände - revolutionär; es kann immer, es will immer die Revolution machen; es ist immer bereit zur Revolution (p.17)... Aber wir können und wir wollen nicht warten (p.34)... Jetzt ist keine Zeit zu langwierigen Anstalten und ewigen Vorbereitungen - packe ein jeder seine Habseligkeiten zusammen und mache sich eilig auf den Weg. Die Frage, was es gilt, darf uns nicht mehr beschäftigen. Die ist längst abgemacht. Es gilt Revolution machen. Wie? Wie ein jeder kann und versteht." (p.39.)
Dies schien mir deutlich genug. Ich bat also Karlchen Mißnick: Wenn es denn nun einmal platterdings nicht anders angeht, wenn das Volk bereit ist zur Revolution und du ebenfalls, wenn du denn durchaus nicht länger warten willst und kannst und nicht das Recht hast zu warten, wenn du dir das Recht zuschreibst, den Augenblick zum Losschlagen zu wählen, und wenn es endlich heißt: Jetzt oder nie! - nun, teuerstes Karlchen, so tu, was du nicht lassen kannst, mache die Revolution noch heute und schlag den russischen Staat in tausend Trümmer, sonst richtest du am Ende noch ein größeres Unglück an! Und was tut Karlchen Mißnick? Schlägt er los? Vernichtet er den russischen Staat? Befreit er das russische Volk, „dieses unglückliche Volk, von Blut strömend, mit der Dornenkrone, angenagelt ans Kreuz der Sklaverei", wegen dessen Leiden er nicht länger warten kann?
Er denkt nicht daran. Karlchen Mißnick, mit Tränen der verletzten Unschuld im Gesicht, tritt vor die deutschen Arbeiter und sagt: Seht, was mir der verworfene Engels da andichtet: ich hätte vom sofortigen Losschlagen gesprochen; es handelt sich aber gar nicht davon, sondern davon, literarische Propaganda zu machen, und dieser Engels, der selbst weiter nichts macht als literarische Propaganda, entblödet sich nicht, sich den Anschein zu geben, als begriffe er „nicht den Nutzen der literarischen Propaganda". Warten! Literarische Propaganda machen! Aber haben wir denn das Recht zu warten, haben wir das Recht, Zeit an literarische Propaganda zu verschwenden? Kostet doch jede Minute, jede Stunde, um die die Revolution sich verzögert, dem Volke tausend Opfer (p. 14)! Jetzt ist keine Zeit zu literarischer Propaganda, die Revolution muß jetzt gemacht werden oder vielleicht nie - wir gestatten kein Zögern und kein Zaudern. Und da sollen wir literarische Propaganda machen! 0 Gott, und das kann ein lebendiger Mensch lebendigen Menschen sagen, und dieser Mensch heißt Peter Tkatschow! Hatte ich unrecht, wenn ich jene, jetzt so schnöde verleugneten, losschlägerischen Rodomontaden als „kindisch" bezeichnete? So kindisch sind sie, daß man glauben sollte, der Verfasser habe in dieser Beziehung hier das Mögliche geleistet. Und doch hat er sich selbst noch übertroffen. Der Redakteur des „Vorwärts" teilt eine Stelle einer von Herrn Tkatschow verfaßten Proklamation an die russischen Bauern mit. Herr Tkatschow beschreibt darin den Zustand nach vollendeter sozialer Revolution wie folgt:
„Und dann würde das Bäuerlein bei Sang und Klang ein lustiges Leben anfangen... nicht kupferner Groschen, nein goldener Dukaten voll wäre seine Tasche. Allerhand Vieh würde er haben und Geflügel im Hof, so viel er nur wollte. Auf dem Tisch hätte er allerhand Fleisch, dazu Feiertagskuchen, dazu süße Weine und es würde nicht abgedeckt vom Morgen bis zum Abend. Und er äße und er tränke, soviel in den Bauch hineingeht, aber arbeiten würde er nur soviel wie ihm beliebt. Und niemand wäre da, der ihn zu zwingen wagte: geh, iß! - geh, leg dich auf den Ofen!" I408! Und der Mensch, der diese Proklamation zu verüben imstande war, beschwert sich noch, wenn ich mich darauf beschränke, ihn einen grünen Gymnasiasten von seltner Unreife zu nennen! Ferner sagt Herr Tkatschow: „Warum werfen Sie uns Konspirationen vor? Sollten wir der konspirativen, geheimen, unterirdischen Tätigkeit entsagen, so müßten wir jeder revolutionären Tätigkeit überhaupt entsagen. Sie züchtigen uns aber auch dafür, daß wir auch hier, im europäischen Westen... von unsern konspiratorischen Gewohnheiten nicht lassen wollen und dadurch die große internationale Arbeiterbewegung.,, stören." £4071
Erstens ist es falsch, daß den russischen Revolutionären kein andres Mittel bleibt als die reine Verschwörung. Hat Herr Tkatschow doch soeben erst die Wichtigkeit der literarischen Propaganda, vom Ausland nach Rußland hinein, hervorgehoben! Auch im Inland kann der Weg der mündlichen Propaganda selbst unter dem Volk, besonders in den Städten, nie ganz verschlossen werden, was auch Herr Tkatschow darüber zu sagen in seinem Interesse finden mag. Der beste Beweis dafür ist, daß bei den jüngsten Massenverhaftungen in Rußland nicht die Gebildeten oder Studenten, sondern die Arbeiter in der Mehrzahl waren. Zweitens unternehme ich, in den Mond zu fliegen, noch ehe Tkatschow Rußland befreit, sobald dieser letztere mir nachweist, daß ich irgendwo und zu irgendeiner Zeit in meiner politischen Karriere mich dahin erklärt habe, daß Verschwörungen überhaupt und unter allen Umständen zu verwerfen seien. Ich unternehme, ihm ein Andenken aus dem Mond zurückzubringen, sobald er mir nachweist, daß in meinem Artikel von andern Komplotten die Rede ist, als von dem gegen die Internationale, von der Allianz. Ja, wenn die russischen Herren Bakunisten nur wirklich und ernstlich gegen die russische Regierung konspirierten! Wenn sie, statt auf Lug und Trug gegen die Mitverschworenen gegründeter Schwindelverschwörungen wie die Netschajews, dieses nach Tkatschow „typischen Vertreters unsrer gegenwärtigen Jugend"'404', statt Komplotte gegen die europäische Arbeiterbewegung wie die glücklicherweise enthüllte und damit vernichtete Allianz, wenn sie, die „Täter" (dejateli), wie sie sich prahlend nennen, endlich einmal eine Tat fertigbrächten, die den Beweis lieferte, daß sie wirklich eine Organisation besitzen und daß sie sich mit etwas anderm beschäftigen als mit dem Versuch, ein Dutzend zu bilden! Statt dessen schreien sie in alle Welt hinaus: Wir konspirieren, wir konspirieren! grade wie die Verschwörer in der Oper, die vierstimmig im Chore brüllen: Stille, stille! Kein Geräusch gemacht! Und das ganze Geflunker von weitverzweigten Verschwörungen dient nur als Deckmantel, hinter dem sich weiter nichts verbirgt als revolutionäres Nichtstun gegenüber den Regierungen und ehrgeizige Klüngeleien innerhalb der revolutionären Partei. Und grade, daß wir in dem „Komplott gegen die Internationale" diesen ganzen Schwindel schonungslos enthüllt1, das ist es, worüber diese Herren so entrüstet sind. Das war „taktlos". Wenn wir Herrn Bakunin enthüllten, so suchten wir „einen der größten und aufopferndsten Vertreter der revolutionären Epoche, in der wir leben, zu beflecken", und zwar mit
„Schmutz"'4071. Der Schmutz, der bei der Gelegenheit an den Tag kam, war bis aufs letzte Lot Herrn Bakunins eignes Fabrikat, und noch lange nicht sein schlimmstes. Die betreffende Schrift hat ihn noch viel zu reinlich dargestellt. Wir haben den § 18 des „Revolutionären Katechismus"13331 nur zitiert, den Paragraphen, welcher vorschreibt, wie man sich gegenüber der russischen Aristokratie und Bourgeoisie zu verhalten, wie man sich „ihrer schmutzigen Geheimnisse zu bemächtigen und sie dadurch zu unsern Sklaven zu machen hat, so daß ihre Reichtümer etc. ein unerschöpflicher Schatz und eine kostbare Stütze in allerlei Unternehmungen werden"1. Wir haben bisher noch nicht erzählt, wie dieser Paragraph in die Praxis übersetzt worden ist. Darüber aber wäre ein langes und breites zu erzählen, was seinerzeit denn auch erzählt werden wird. Es stellt sich also heraus, daß sämtliche Vorwürfe, die mir Herr Tkatschow gemacht hat, mit jener Tugendmiene der verletzten Unschuld, die allen Bakunisten so wohl ansteht, daß sie alle auf Behauptungen beruhen, von denen er nicht nur wußte, daß sie falsch waren, sondern die er selbst erfunden, erstunken und erlogen hatte. Womit wir vom persönlichen Teil seines „Offenen Briefs" Abschied nehmen.
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Soziales aus Rußland™1
[„Der Volksstaat" Nr. 43 vom 16. April 1875] Zur Sache erzählt Herr Tkatschow den deutschen Arbeitern, daß ich in Beziehung auf Rußland nicht einmal „wenige Kenntnisse" l4101, sondern vielmehr gar nichts besitze als „Unwissenheit", und fühlt sich deshalb gedrungen, ihnen den wahren Sachverhalt und namentlich die Gründe auseinanderzusetzen, weshalb eine soziale Revolution gerade jetzt in Rußland mit spielender Leichtigkeit zu machen sei, viel leichter als in Westeuropa. „Bei uns gibt es kein städtisches Proletariat, das ist allerdings wahr; allein dafür haben wir auch keine Bourgeoisie... unsere Arbeiter werden bloß mit der politischen Macht zu kämpfen haben - die Macht des Kapitals ist bei uns noch im Keime. Und Sie, mein Herr, werden wohl wissen, daß der Kampf mit der ersteren viel leichter als mit der letzteren ist." Die vom modernen Sozialismus erstrebte Umwälzung ist, kurz ausgedrückt, der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie und die Neuorganisation der Gesellschaft durch Vernichtung aller Klassenunterschiede. Dazu gehört nicht nur ein Proletariat, das diese Umwälzung durchführt, sondern auch eine Bourgeoisie, in deren Händen sich die gesellschaftlichen Produktionskräfte soweit entwickelt haben, daß sie die endgültige Vernichtung der Klassenunterschiede gestatten. Auch bei Wilden und Halbwilden bestehn häufig keine Klassenunterschiede, und jedes Volk hat einen solchen Zustand durchgemacht. Ihn wiederherzustellen, kann uns schon deswegen nicht einfallen, weil aus ihm, mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die Klassenunterschiede notwendig hervorgehn. Erst auf einem gewissen, für unsere Zeitverhältnisse sogar sehr hohen Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Produktivkräfte wird es möglich, die Produktion so hoch zu steigern, daß die Abschaffung der Klassenunterschiede ein wirklicher Fortschritt, daß sie von Dauer sein kann, ohne einen Stillstand oder
gar Rückgang in der gesellschaftlichen Produktionsweise herbeizuführen. Diesen Entwicklungsgrad haben die Produktivkräfte aber erst erhalten in den Händen der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie ist demnach auch nach dieser Seite hin eine ebenso notwendige Vorbedingung der sozialistischen Revolution wie das Proletariat selbst. Ein Mann also, der sagen kann, daß diese Revolution in einem Lande leichter durchzuführen sei, weil dasselbe zwar kein Proletariat, aber auch keine Bourgeoisie besitze, beweist damit nur, daß er vom Sozialismus noch das Abc zu lernen hat. Die russischen Arbeiter - und diese Arbeiter sind, wie Herr Tkatschow selbst sagt, „Landarbeiter, und als solche keine Proletarier, sondern Eigentümer" - haben es also leichter, weil sie nicht mit der Macht des Kapitals, sondern „bloß mit der politischen Macht zu kämpfen haben", mit dem russischen Staat. Und dieser Staat
„scheint nur aus der Ferne als eine Macht... Er hat keine Wurzel im ökonomischen Leben des Volks; er verkörpert nicht in sich die Interessen irgendwelches Standes... Bei Ihnen ist der Staat keine scheinbare Macht. Er stützt sich mit beiden Füßen auf das Kapital; er verkörpert in sich (!!) gewisse ökonomische Interessen... Bei uns verhält sich diese Angelegenheit gerade umgekehrt - unsere Gesellschaftsform hat ihre Existenz dem Staate zu verdanken, dem sozusagen in der Luft hängenden Staate, der mit der bestehenden sozialen Ordnung nichts Gemeinschaftliches hat, der seine Wurzel im Vergangenen, aber nicht im Gegenwärtigen hat."
Halten wir uns nicht auf bei der konfusen Vorstellung, als brauchten die ökonomischen Interessen den Staat, den sie selbst schaffen, um einen Körper zu erhalten, oder bei der kühnen Behauptung, die russische Gesellschaftsform (zu der doch auch das Gemeinde-Eigentum der Bauern gehört) habe ihre Existenz dem Staat zu verdanken, oder bei dem Widerspruch, daß dieser selbe Staat mit der bestehenden sozialen Ordnung, die doch sein eigenstes Geschöpf sein soll, „nichts Gemeinschaftliches hat". Besehen wir uns lieber gleich diesen „in der Luft hängenden Staat", der die Interessen auch nicht eines einzigen Standes vertritt. Im europäischen Rußland besitzen die Bauern 105 Millionen Deßjatinen, die Adligen (wie ich die großen Grundbesitzer hier kurzweg nenne) 100 Millionen Deßjatinen Land, wovon ungefähr die Hälfte auf 15 000 Adlige kommen, die sonach durchschnittlich jeder 33001 Deßjatinen besitzen. Das Bauernland ist also nur um eine Kleinigkeit größer als das Adelsland. Die Adligen, wie man sieht, haben nicht das mindeste Interesse am Bestehen des russischen Staats, der sie im Besitz des halben Landes schützt.
Weiter. Die Bauern zahlen von ihrer Hälfte jährlich 195 Millionen Rubel Grundsteuer, die Adligen - 13 Millionen! Die Ländereien der Adligen sind im Durchschnitt doppelt so fruchtbar als die der Bauern, weil bei der Auseinandersetzung wegen Ablösung der Fronden der Staat den Bauern nicht nur das meiste, sondern auch das beste Land ab- und dem Adel zusprach, und zwar mußten die Bauern für dies schlechteste Land dem Adel den Preis des besten zahlen.* Und der russische Adel hat kein Interesse am Bestehen des russischen Staats! Die Bauern - der Masse nach - sind durch die Ablösung in eine höchst elende, vollständig unhaltbare Lage gekommen. Nicht nur hat man ihnen den größten und besten Teil ihres Landes genommen, so daß in allen fruchtbaren Gegenden des Reichs das Bauernland - für russische Ackerbauverhältnisse - viel zu klein ist, als daß sie davon leben könnten. Nicht nur wurde ihnen dafür ein übertriebener Preis angerechnet, den ihnen der Staat vorschoß und den sie jetzt dem Staat verzinsen und allmählich abtragen müssen. Nicht nur ist fast die ganze Last der Grundsteuer auf sie gewälzt, während der Adel fast ganz frei ausgeht - so daß die Grundsteuer allein den ganzen Grundrentenwert des Bauernlandes und darüber auffrißt, und alle weiteren Zahlungen, die der Bauer zu machen hat und von denen wir gleich sprechen werden, direkte Abzüge von dem Teil seines Einkommens sind, der den Arbeitslohn repräsentiert. Nein. Zur Grundsteuer, zur Verzinsung und Abtragungsrate des Staatsvorschusses kommen noch dieProvinzial- und Kreissteuern seit der neu eingeführten Lokalverwaltung. Die wesentlichste Folge dieser „Reform" war eine neue Steuerbelastung für die Bauern. Der Staat behielt im ganzen seine Einnahmen, wälzte aber einen großen Teil der Ausgaben auf die Provinzen und Kreise, die dafür neue Steuern ausschrieben; und in Rußland ist es Regel, daß die höheren Stände fast steuerfrei sind und der Bauer fast alles zahlt. Eine solche Lage ist wie geschaffen für den Wucherer, und bei dem fast beispiellosen Talent der Russen zum Handel auf niederer Stufe, zur Ausbeutung günstiger Geschäftslagen undzu der davon untrennbaren Prellerei sagte doch schon Peter I., ein Russe werde fertig mit drei Juden -, bleibt der Wucherer nirgends aus. Wenn die Zeit herannaht, wo die Steuern fällig werden, so kommt der Wucherer, der Kulak - häufig ein reicher Bauer derselben Gemeinde-, und bietet sein bares Geld an. Der Bauer muß das Geld unter allen Umständen haben und muß die Bedingungen des Wucherers
* Eine Ausnahme fand nur statt in Polen, wo die Regierung den ihr feindlichen Adel ruinieren, die Bauern aber gewinnen wollte. [(1894) fehlt diese Fußnote]
ohne Murren annehmen. Damit gerät er nur noch tiefer in die Klemme, braucht mehr und mehr bares Geld. Zur Erntezeit kommt der Kornhändler; das Geldbedürfnis zwingt den Bauern, einen Teil des Korns loszuschlagen, das er und seine Familie zum Leben bedürfen. Der Kornhändler verbreitet falsche, die Preise drückende Gerüchte, zahlt einen niederen Preis, und auch diesen oft zum Teil in allerhand hochberechneten Waren; denn auch das Trucksystem ist in Rußland hoch entwickelt. Die große Kornausfuhr Rußlands beruht, wie man sieht, ganz direkt auf dem Hunger der Bauernbevölkerung. - Eine andere Art der Bauernausbeutung ist diese: Ein Spekulant pachtet von der Regierung Domänenland auf längere Jahre, bebaut es selbst, solange es ohne Dünger guten Ertrag liefert; dann teilt er es in Parzellen und verpachtet das ausgesogene Land zu hoher Rente an benachbarte Bauern, die mit ihrem Landanteil nicht auskommen. Wie oben das englische Trucksystem, so haben wir hier genau die irischen Middlemen1. Kurz, es gibt kein Land, wo, bei aller Waldursprünglichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistische Parasitismus so entwickelt ist, so das ganze Land, die ganze Volksmasse mit seinen Netzen überspannt und umspinnt, wie gerade in Rußland. Und alle diese Bauernaussauger hätten kein Interesse am Bestehen des russischen Staats, dessen Gesetze und Gerichtshöfe ihre sauberen und profitlichen Praktiken beschützen? Die große Bourgeoisie von Petersburg, Moskau, Odessa, die in den letzten zehn Jahren, namentlich durch die Eisenbahnen, sich unerhört rasch entwickelt und in den letzten Schwindeljahren lustig „mitgekracht" hat, die Korn-, Hanf-, Flachs- und Talgexporteure, deren ganzes Geschäft auf dem Elend der Bauern sich aufbaut, die ganze russische große Industrie, die nur durch den Schutzzoll besteht, den der Staat ihr bewilligt, alle diese bedeutenden und rasch wachsenden Elemente der Bevölkerung hätten kein Interesse an der Existenz des russischen Staats? Gar nicht zu reden von dem zahllosen Heer von Beamten, das Rußland überflutet und ausstiehlt und hier einen wirklichen Stand bildet. Und wenn nun Herr Tkatschow uns versichert, der russische Staat habe „keine Wurzel im ökonomischen Leben des Volks, er verkörpert nicht in sich die Interessen irgendwelchen Standes", er hänge „in der Luft", so will es uns bedünken, als sei es nicht der russische Staat, der in der Luft hängt, sondern vielmehr Herr Tkatschow.
1 Mittelsmänner (Großpächter, die in kleinen Parzellen weiterverpachten)
[„Der Volksstaat" Nr. 44 vom 18. April 1875] Daß die Lage der russischen Bauern seit der Emanzipation von der Leibeigenschaft eine unerträgliche und auf die Dauer unhaltbare geworden, daß schon aus diesem Grunde eine Revolution in Rußland im Anzüge ist, das ist klar. Die Frage ist nur, was kann, was wird das Resultat dieser Revolution sein? Herr Tkatschow sagt, sie wird eine soziale sein. Das ist reine Tautologie. Jede wirkliche Revolution ist eine soziale, indem sie eine neue Klasse zur Herrschaft bringt und dieser gestattet, die Gesellschaft nach ihrem Bilde umzugestalten. Aber er will sagen, sie werde eine sozialistische sein, sie werde die vom westeuropäischen Sozialismus erstrebte Gesellschaftsform in Rußland einführen, noch ehe wir im Westen dazu gelangen - und das bei Gesellschaf tszuständen, wo Proletariat wie Bourgeoisie nur erst sporadisch und auf niederer Entwicklungsstufe vorkommen. Und dies soll möglich sein, weil die Russen sozusagen das auserwählte Volk des Sozialismus sind und die Artel und das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden besitzen. Die Artel, die Herr Tkatschow nur nebenbei erwähnt, die wir aber hier mitnehmen, weil sie schon seit Herzens Zeit bei manchen Russen eine geheimnisvolle Rolle spielt, die Artel ist eine in Rußland weitverbreitete Art von Assoziation, die einfachste Form freier Kooperation, wie sie in der Jagd bei Jägervölkern vorkommt. Wort und Sache sind nicht slawischen, sondern tartarischen Ursprungs. Beide finden sich bei Kirgisen, Jakuten etc. einerseits, wie bei Lappen, Samojeden und anderen finnischen Völkern andererseits.* Daher entwickelt sich in Rußland die Artel ursprünglich im Norden und Osten, in der Berührung mit Finnen und Tartaren, nicht im Südwesten. Das harte Klima macht industrielle Tätigkeit verschiedener Art nötig, wobei dann der Mangel an städtischer Entwicklung und an Kapital durch jene Form der Kooperation möglichst ersetzt wird. - Eins der bezeichnendsten Merkmale der Artel, die solidarische Haftbarkeit der Mitglieder füreinander, Dritten gegenüber, beruht ursprünglich auf blutsverwandtschaftlichem Band, wie die Gewere bei den alten Deutschen, die Blutrache usw. - Übrigens wird in Rußland das Wort Artel für jede Art nicht nur gemeinschaftlicher Tätigkeit, sondern auch gemeinschaftlicher Einrichtungen gebraucht. Auch die Börse ist ein Artel.1 - Bei den Arbeiter
* Uber Artel u.a. zu vergleichen: „Sbornik materialov ob Arteljach v Rossiji" (Sammlung von Materialien über die Arteis in Rußland), St.Petersburg 1873, 1. Lieferung.
Arteis wird immer ein Vorsteher (starosta, Ältester) gewählt, der die Verrichtungen des Schatzmeisters, Buchführers etc., soweit nötig, Geschäftsführers besorgt, und ein besonderes Gehalt empfängt. Solche Arteis finden statt: 1.für vorübergehende Unternehmungen, nach deren Beendigung sie sich auflösen; 2. für die Mitglieder eines und desselben Geschäfts, z.B. Lastträger usw.; 3. für eigentlich industrielle, fortlaufende Unternehmungen. Sie werden durch einen von allen Mitgliedern unterschriebenen Kontrakt errichtet. Können nun diese Mitglieder nicht das nötige Kapital zusammenschießen, was sehr häufig vorkommt, z.B. bei Käsereien und Fischereien (für Netze, Boote etc.), so verfällt die Artel dem Wucherer, der das Fehlende zu hohen Zinsen vorschießt und von nun an den größten Teil des Arbeitsertrags einsteckt. Noch scheußlicher ausgebeutet aber werden diejenigen Arteis, die sich im ganzen an einen Unternehmer als Lohnarbeits-Personal verdingen. Sie dirigieren ihre industrielle Tätigkeit selbst und ersparen dadurch dem Kapitalisten die Aufsichtskosten. Dieser vermietet den Mitgliedern Hütten zur Wohnung und schießt ihnen Lebensmittel vor, wobei sich dann wieder das scheußlichste Trucksystem entwickelt. So bei den Holzfällern und Teerbrennern im Gouvernement Archangel, bei vielen Geschäften in Sibirien usw. (vgl. Flerowski, „Polozenie rabocago klassa v Rossiji". Die Lage der arbeitenden Klasse in Rußland, Petersburg 1869)[3251. Hier also dient die Artel dazu, dem Kapitalisten die Ausbeutung der Lohnarbeiter wesentlich zu erleichtern. Andererseits aber gibt es auch Arteis, die selbst wieder Lohnarbeiter beschäftigen, welche nicht Mitglieder der Assoziation sind. Man sieht, die Artel ist eine naturwüchsig entstandene und daher noch sehr unentwickelte Kooperativ-Gesellschaft und als solche keineswegs ausschließlich russisch oder gar slawisch. Solche Gesellschaften bilden sich überall, wo das Bedürfnis dazu besteht. So in der Schweiz bei Melkereien, in England bei Fischern, wo sie sogar sehr verschiedenartig sind. Die schlesischen Erdarbeiter (Deutsche, keine Polen), die in den vierziger Jahren so manche deutsche Eisenbahn gebaut, waren in vollständige Arteis organisiert. Das Vorwiegen dieser Form in Rußland beweist allerdings das Vorhandensein eines starken Assoziationstriebes im russischen Volk, beweist aber noch lange nicht dessen Befähigung, mit Hilfe dieses Triebes ohne weiteres aus der Artel in die sozialistische Gesellschaftsordnung überzuspringen. Dazu gehört vor allen Dingen, daß die Artel selbst entwicklungs
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fähig werde, ihre naturwüchsige Gestalt, in der sie, wie wir gesehen, weniger den Arbeitern als dem Kapital dient, abstreife, und sich mindestens auf den Standpunkt der westeuropäischen Kooperativ-Gesellschaften erhebe. Wenn wir aber Herrn Tkatschow einmal Glauben schenken dürfen (was nach allem Vorhergegangenen allerdings mehr als gewagt), so ist dies keineswegs der Fall. Im Gegenteil versichert er uns mit einem für seinen Standpunkt höchst bezeichnenden Stolz: „Was die nach Rußland seit kurzer Zeit künstlich verpflanzten Kooperativ- und Kredit-Assoziationen nach deutschem (!) Muster anbetrifft, so sind diese von der Mehrheit unserer Arbeiter mit völliger Gleichgültigkeit aufgenommen worden und haben fast überall Fiasko gemacht." Die moderne Kooperativ-Gesellschaft hat wenigstens bewiesen, daß sie große Industrie auf eigene Rechnung mit Vorteil betreiben kann (Spinnerei und Weberei in Lancashire). Die Artel ist, bis jetzt, nicht nur unfähig dazu, sie geht an der großen Industrie sogar notwendig zugrunde, wenn sie sich nicht weiterentwickelt.
[„Der Volksstaat" Nr. 45 vom 21. April 1875] Das Gemeinde-Eigentum der russischen Bauern wurde um das Jahr 1845 von dem preußischen Regierungsrat Haxthausen entdeckt und als etwas ganz Wunderbares in die Welt hinausposaunt, obwohl Haxthausen in seiner westfälischen Heimat noch Überreste genug davon finden konnte und als Regierungsbeamter sogar verpflichtet war, sie genau zu kennen. Von Haxthausen erst lernte Herzen, selbst russischer Grundbesitzer, daß seine Bauern den Grund und Boden gemeinsam besaßen, und nahm davon Gelegenheit, die russischen Bauern als die wahren Träger des Sozialismus, als geborene Kommunisten darzustellen gegenüber den Arbeitern des alternden, verfaulten europäischen Westens, die sich den Sozialismus erst künstlich anquälen müßten. Von Herzen kam diese Kenntnis zu Bakunin und von Bakunin zu Herrn Tkatschow. Hören wir diesen:
„Unser Volk... ist in seiner großen Mehrheit.., von den Prinzipien des Gemeinguts durchdrungen; es ist, wenn man sich so ausdrücken darf, instinktiv, traditionell Kommunist. Die Idee des Kollektiv-Eigentums ist so tief verwachsen mit der ganzen Weltanschauung" (wir werden gleich sehen, wie weit die Welt des russischen Bauern reicht) „des russischen Volks, daß jetzt, wo die Regierung zu begreifen anfängt, daß diese Idee mit den Prinzipien einer .wohlgeordneten* Gesellschaft nicht vereinbar ist, und im Namen dieser Prinzipien die Idee des individuellen Eigentums in das Volksbewußtsein und Volksleben einprägen will, sie dies nur mit Hülfe der Bajonette und der Knute erreichen kann. Daraus erhellt, daß unser Volk, ungeachtet seiner
Unwissenheit, viel näher zum Sozialismus steht als die Völker des westlichen Europas, obwohl diese gebildeter sind." In der Wirklichkeit ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden eine Einrichtung, die wir auf einer niedrigen Entwicklungsstufe bei allen indogermanischen Völkern von Indien bis Irland finden, und sogar bei den unter indischem Einfluß sich entwickelnden Malaien, z.B. auf Java. Noch 1608 diente im neueroberten Norden von Irland das zu Recht bestehende Gemeinde-Eigentum1 des Bodens den Engländern zum Vorwand, das Land für herrenlos zu erklären und als solches zum Besten der Krone zu konfiszieren. In Indien besteht bis heute eine ganze Reihe von Formen des Gemeinde-Eigentums2. In Deutschland war es allgemein; die hier und da noch vorkommenden Gemeindeländereien sind ein Überrest davon, auch finden sich, namentlich im Gebirge, oft noch deutliche Spuren, zeitweilige Teilungen des Gemeindelandes etc. Die genaueren Nachweise und Einzelheiten in Beziehung auf das altdeutsche Gemeinde-Eigentum1 kann man in den verschiedenen Schriften Maurers nachlesen, die für diesen Punkt klassisch sind. In Westeuropa, einschließlich Polens und Kleinrußlands, wurde dies Gemeinde-Eigentum1 auf einer gewissen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung eine Fessel, ein Hemmschuh der ländlichen Produktion und wurde mehr und mehr beseitigt. In Großrußland dagegen (d.h. dem eigentlichen Rußland) hat es sich bis heute erhalten und liefert damit zunächst den Beweis, daß die ländliche Produktion und die ihr entsprechenden ländlichen Gesellschaftszustände sich hier noch auf einer sehr unentwickelten Stufe befinden, was auch wirklich der Fall ist. Der russische Bauer lebt und webt nur in seiner Gemeinde; die ganze übrige Welt existiert nur insoweit für ihn, als sie sich in diese seine Gemeinde einmischt. So sehr ist dies der Fall, daß im Russischen dasselbe Wort „mir" einerseits „die Welt" bedeutet, andrerseits aber „Bauerngemeinde". „Ves' mir" - „die ganze Welt" bedeutet für den Bauern die Versammlung der Gemeindemitglieder. Wenn also Herr Tkatschow von der „W^e/ianschauung" der russischen Bauern spricht, so hat er das russische „mir" offenbar falsch übersetzt. Eine solche vollständige Isolierung der einzelnen Gemeinden voneinander, die im ganzen Lande zwar gleiche, aber das grade Gegenteil von gemeinsamen Interessen schafft, ist die naturwüchsige Grundlage für den orientalischen Despotismus; und von Indien bis Rußland hat diese Gesellschaftsform, wo sie vorherrschte, ihn stets produziert, stets in ihm ihre Ergänzung gefunden. Nicht bloß der russische Staat im allgemeinen, sondern sogar seine spezifische Form, der
Zarendespotismus, statt in der Luft zu hängen, ist notwendiges und logisches Produkt der russischen Gesellschaftszustände, mit denen sie nach Herrn Tkatschow „nichts Gemeinschaftliches hat"! - Die Fortentwicklung Rußlands in Z>ürger/zcAer Richtung würde das Gemeinde-Eigentum auch hier nach und nach vernichten, ohne daß die russische Regierung mit „Bajonetten und Knute" einzuschreiten braucht. Und dies um so mehr, als das Gemeindeland in Rußland nicht von den Bauern gemeinsam bebaut und erst das Produkt geteilt wird, wie dies in einigen Gegenden von Indien noch der Fall ist; im Gegenteil, das Land wird von Zeit zu Zeit unter die einzelnen Familienhäupter verteilt, und jeder bebaut seinen Anteil für sich. Es ist daher eine sehr große Verschiedenheit des Wohlstandes unter den Gemeindemitgliedern möglich, und sie besteht auch in Wirklichkeit. Fast überall gibt es darunter einige reiche Bauern - hie und da Millionäre -, die die Wucherer spielen und die Masse der Bauern aussaugen. Niemand weiß dies besser als Herr Tkatschow. Während er den deutschen Arbeitern aufbindet, den russischen Bauern, diesen instinktiven, traditionellen Kommunisten, könne die „Idee des Kollektiv-Eigentums" nur mit Knute und Bajonett ausgetrieben werden, erzählt er in seiner russischen Broschüre p. 15:
„In der Mitte der Bauern arbeitet sich eine Klasse von Wucherern (kulakov), von Aufkäufern und Anpächtern bäuerlicher und adliger Ländereien heraus - eine Bauernaristokratie." £404) Es sind das dieselben Sorten Blutsauger, die wir oben näher geschildert. Was dem Gemeinde-Eigentum den schwersten Stoß versetzt, war wieder die Ablösung der Fronden. Dem Adligen wurde der größte und beste Teil des Bodens zugeteilt; für die Bauern blieb kaum genug, oft nicht genug zum Leben. Dabei wurden die Wälder den Adligen zugesprochen; das Brenn-, Werk- und Bauholz, das der Bauer sich früher dort frei holen durfte, muß er jetzt kaufen. So hat der Bauer jetzt nichts mehr als sein Haus und das nackte Land, ohne die Mittel, es zu bebauen, und im Durchschnitt nicht Land genug, um ihn und seine Familie von einer Ernte zur andern zu erhalten. Unter solchen Verhältnissen und unter dem Druck von Steuern und Wucher ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es wird eine Fessel. Die Bauern entlaufen ihm häufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde Arbeiter zu ernähren, und lassen ihr Land daheim.*
* Uber die Lage der Bauern vergleiche man u a. den offiziellen Bericht der Regierungskommission über ländliche Produktion (1873), ferner Skaldin, „W Zacholusti i w Stolice" (Im entferntesten Provinzwinkel und in der Hauptstadt), Petersburg 1870 ; letztere Schrift von einem Liberalkonservativen.
Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Rußland hat seine Blütezeit längst passiert und geht allem Anscheine nach seiner Auflösung entgegen. Dennoch ist unleugbar die Möglichkeit vorhanden, diese Gesellschaftsform in eine höhere überzuführen, falls sie sich so lange erhält, bis die Umstände dazu reif sind, und falls sie sich in der Weise entwicklungsfähig zeigt, daß die Bauern das Land nicht mehr getrennt, sondern gemeinsam bebauen*; sie in diese höhere Form überzuführen, ohne daß die russischen Bauern die Zwischenstufe des bürgerlichen Parzellen-Eigentums durchzumachen hätten. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn in Westeuropa noch vor dem gänzlichen Zerfall des Gemeinde-Eigentums eine proletarische Revolution siegreich durchgeführt wird und dem russischen Bauer die Vorbedingungen zu dieser Überführung liefert, namentlich auch die materiellen, deren er bedarf, um nur die damit notwendig verbundene Umwälzung in seinem ganzen Ackerbausystem durchzusetzen. Es ist also reines Geflunker, wenn Herr Tkatschow sagt, die russischen Bauern, obwohl „Eigentümer", stehen „näher zum Sozialismus" als die eigentumslosen Arbeiter Westeuropas. Ganz im Gegenteil. Wenn etwas noch das russische Gemeinde-Eigentum retten und ihm die Gelegenheit geben kann, sich in eine neue, wirklich lebensfähige Form umzuwandeln, so ist es eine proletarische Revolution in Westeuropa. Ebenso leicht wie mit der ökonomischen Revolution, macht es sich Herr Tkatschow mit der politischen. Das russische Volk, erzählt er, „protestiert unaufhörlich" gegen die Sklaverei, bald in Form „religiöser Sekten... Verweigerung der Steuern... Räuberbanden" (die deutschen Arbeiter werden sich gratulieren, daß hiernach Schinderhannes der Vater der deutschen Sozialdemokratie ist) Brandstiftungen... Aufständen... und darum kann man das russische Volk einen instinktiven Revolutionär nennen". Und somit ist Tkatschow überzeugt, „es sei nur nötig, das angehäufte Gefühl der Erbitterung und der Unzufriedenheit, das... immer in der Brust unseres Volks kocht, in mehreren Ortschaften gleichzeitig wachzurufen". Dann werde „die Vereinigung der revolutionären Kräfte schon von selbst zustande kommen, und der Kampf... günstig für die Sache des Volks werden müssen. Die praktische Notwendigkeit, der Instinkt der Selbst
* In Polen, besonders im Gouvernement Grodno, wo der Adel durch den Aufstand von 1863 großenteils ruiniert ist, kaufen oder pachten die Bauern jetzt häufig adlige Güter und bebauen sie ungeteilt und für gemeinsame Rechnung. Und diese Bauern haben seit Jahrhunderten kein Gemeinde-Eigentum mehr und sind keine Großrussen, sondern Polen, Litauer und Weißrussen.
erhaltung" erzielt dann ganz von selbst „ein festes und unzerreißbares Bündnis unter den protestierenden Gemeinden". Leichter und angenehmer kann man sich eine Revolution gar nicht vorstellen. Man schlägt an drei, vier Orten gleichzeitig los, und der „instinktive Revolutionär", die „praktische Notwendigkeit", der „Instinkt der Selbsterhaltung" tun alles andere „schon von selbst". Warum bei dieser spielenden Leichtigkeit die Revolution nicht längst gemacht, das Volk befreit und Rußland in das sozialistische Musterland verwandelt ist, das ist rein nicht zu begreifen. In der Tat steht es ganz anders. Das russische Volk, dieser instinktive Revolutionär, hat zwar zahllose vereinzelte Bauernaufstände gegen den Adel und gegen einzelne Beamte gemacht, aber nie gegen den Zar, es sei denn, daß sich ein falscher Zar an seine Spitze stellte und den Thron reklamierte. Der letzte große Bauernaufstand unter Katharina II. wurde nur dadurch möglich, daß Jemeljan Pugatschow sich für deren Gemahl Peter III. ausgab, der von seiner Frau nicht ermordet, sondern entthront und eingesteckt, nun aber entkommen sei. Der Zar im Gegenteil ist des russischen Bauern irdischer Gott: Bog vysok, Car daljok, Gott ist hoch und der Zar ist fern, ist sein Notschrei. Daß die Masse der Bauernbevölkerung, namentlich seit der Ablösung der Fronden, in eine Lage versetzt worden, die ihr den Kampf auch gegen die Regierung und den Zaren mehr und mehr aufzwingt, daran ist kein Zweifel; aber das Märchen vom „instinktiven Revolutionär" mag Herr Tkatschow woanders unterzubringen suchen. Und dann, selbst wenn die Masse der russischen Bauern noch so instinktiv-revolutionär wäre, selbst wenn wir uns vorstellen, man könne Revolutionen auf Bestellung machen, wie man ein geblümtes Stück Kattun oder einen Teekessel macht - selbst dann frage ich, ist es einem Menschen von mehr als zwölf Jahren gestattet, sich den Gang einer Revolution in so überkindlicher Weise vorzustellen, wie dies hier geschieht? Und nun bedenke man noch, daß dies geschrieben wurde, nachdem die erste nach diesem bakunistischen Modell angefertigte Revolution - die von 1873 in Spanien so brillant gescheitert war. Auch dort wurde an mehreren Orten zugleich losgeschlagen. Auch dort rechnete man darauf, daß die praktische Notwendigkeit, der Instinkt der Selbsterhaltung, schon von selbst ein festes und unzerreißbares Bündnis unter den protestierenden Gemeinden zustande bringen werde. Und was geschah? Jede Gemeinde, jede Stadt verteidigte nur sich selbst, von gegenseitiger Unterstützung war keine Rede, und mit nur 3000 Mann warf Pavia in 14 Tagen eine Stadt nach der andern nieder
und machte der ganzen anarchischen Herrlichkeit eine Ende (vgl. meine „Bakunisten an der Arbeit"1, wo dies im einzelnen geschildert). Kein Zweifel, Rußland steht am Vorabend einer Revolution. Die Finanzen sind zerrüttet bis aufs äußerste. Die Steuerschraube versagt den Dienst, die Zinsen der alten Staatsschulden werden bezahlt mit neuen Anleihen, und jede neue Anleihe stößt auf größere Schwierigkeiten; kann man sich doch das Geld nur noch verschaffen unter dem Vorwand des Eisenbahnbaues! Die Verwaltung von jeher durch und durch korrumpiert; die Beamten mehr von Diebstahl, Bestechung und Erpressung lebend als vom Gehalt. Die ganze ländliche Produktion - die bei weitem wesentlichste für Rußland - vollständig in Unordnung gebracht durch die Ablösung von 1861; der große Grundbesitz ohne hinreichende Arbeitskräfte, die Bauern ohne hinreichendes Land, von Steuern erdrückt, von Wucherern ausgesogen; die Ackerbauproduktion2 von Jahr zu Jahr abnehmend. Das Ganze mühsam und äußerlich zusammengehalten durch einen orientalischen Despotismus, von dessen Willkürlichkeit wir im Westen uns gar keine Vorstellung zu machen vermögen; einen Despotismus, der nicht nur von Tag zu Tag in schreienderen Widerspruch tritt mit den Anschauungen der aufgeklärten Klassen und namentlich denen der rasch wachsenden hauptstädtischen Bourgeoisie, sondern der auch unter seinem jetzigen Träger irre geworden ist an sich selbst, der heute dem Liberalismus Konzessionen macht, um sie morgen erschrocken wieder zurückzunehmen, und der sich damit selbst mehr und mehr um allen Kredit bringt. Dabei unter den in der Hauptstadt konzentrierten aufgeklärteren Schichten der Nation eine zunehmende Erkenntnis, daß diese Lage unhaltbar, daß eine Umwälzung bevorstehend ist, und die Illusion, diese Umwälzung in ein ruhiges konstitutionelles Bett leiten zu können. Hier sind alle Bedingungen einer Revolution vereinigt, einer Revolution, die von den höheren Klassen der Hauptstadt, vielleicht gar von der Regierung selbst eingeleitet, durch die Bauern weiter und über die erste konstitutionelle Phase rasch hinausgetrieben werden muß; einer Revolution, die für ganz Europa schon deswegen von der höchsten Wichtigkeit sein wird, weil sie die letzte, bisher intakte Reserve der gesamteuropäischen Reaktion mit einem Schlage vernichtet. Diese Revolution ist im sichern Anzug. Nur zwei Ereignisse könnten sie länger hinausschieben: ein glücklicher Krieg gegen die Türkei oder Österreich, wozu Geld und sichere Allianzen gehören, oder aber - ein vorzeitiger Aufstandsversuch, der die besitzenden Klassen der Regierung wieder in die Arme jagt. r, p ,
Karl Marx
Nachwort [zu „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln"14111]
Die „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln"1, deren Wiederveröffentlichung der „Volksstaat" für zeitgemäß hielt, erschienen ursprünglich zu Boston (Massachusetts) und zu Basel. Letztere Auflage ward größtenteils an der deutschen Grenze konfisziert. Die Schrift sah das Licht wenige Wochen nach Schluß des Prozesses. Damals galt es vor allem, keine Zeit zu verlieren, und war daher mancher Irrtum im einzelnen unvermeidlich. So z.B. in der Namensangabe der Kölner Geschworenen. So soll nicht M.Heß,sondern ein gewisser Levy der Verfasser des roten Katechismus sein.'4121 So versichert W.Hirsch in seiner „Rechtfertigungsschrift" [4131, Chervals Flucht aus demPariser Gefängnis sei zwischen Greif, der f ranzösischenPolizei und Cherval selbst abgekartet worden, um letzteren während der Gerichtsverhandlungen als Mouchard zu London verwenden zu können. Es ist dies wahrscheinlich, weil eine in Preußen begangene Wechselfälschung und die daraus entspringende Gefahr der Auslieferung den Crämer (dies der wirkliche Name Chervals) kirren mußten. Meine Darstellung des Vorganges beruht auf „Selbstgeständnissen" Chervals an einen meiner Freunde. Hirschs Angabe wirft ein noch grelleres Licht auf Stiebers Meineid, die Ränke der preußischen Gesandtschaft zu London und zu Paris, die schamlosen Eingriffe Hinckeldeys. Als der „Volksstaat" das Pamphlet in seinen Spalten abzudrucken begann, schwankte ich einen Augenblick, ob es nicht passend sei, Abschnitt VI (Fraktion Willich-Schapper)2 wegzulassen. Bei näherem Erwägen jedoch erschien jede Verstümmelung des Textes als Fälschung eines historischen Dokuments. Der gewaltsame Niederschlag einer Revolution läßt in den Köpfen ihrer Mitspieler, namentlich der vom heimischen Schauplatz ins Exil geschleu
derten, eine Erschütterung zurück, welche selbst tüchtige Persönlichkeiten für kürzere oder längere Zeit sozusagen unzurechnungsfähig macht. Sie können sich nicht in den Gang der Geschichte finden, sie wollen nicht einsehen, daß sich die Form der Bewegung verändert hat. Daher Konspirations- und Revolutionsspielerei, gleich kompromittierlich für sie selbst und die Sache, in deren Dienst sie stehen; daher auch die Fehlgriffe Schappers und Willichs. Willich hat im nordamerikanischen Bürgerkriege gezeigt, daß er mehr als ein Phantast ist, und Schapper, lebenslang Vorkämpfer der Arbeiterbewegung, erkannte und bekannte, bald nach Ende des Kölner Prozesses, seine augenblickliche Verirrung. Viele Jahre später, auf seinem Sterbebett, einen Tag vor seinem Tode, sprach er mir noch mit beißender Ironie von jener Zeit der „Flüchtlingstölpelei". - Andererseits erklären die Umstände, in denen die „Enthüllungen" verfaßt wurden, die Bitterkeit des Angriffs auf die unfreiwilligen Helfershelfer des gemeinsamen Feindes. In Augenblicken der Krise wird Kopflosigkeit zum Verbrechen an der Partei, das öffentliche Sühne herausfordert. „Die ganze Existenz der politischen Polizei hängt Von der Entscheidung dieses Prozesses ab!" In diesen Worten, die Hinckeldey während der Kölner Gerichtsverhandlungen an die Gesandtschaft zu London schrieb (siehe meine Schrift „Herr Vogt", pag.271), verriet er das Geheimnis des Kommunistenprozesses. „Die ganze Existenz der politischen Polizei", das ist nicht nur die Existenz und Tätigkeit des mit diesem Fache unmittelbar betrauten Personals. Es ist die Unterordnung der ganzen Regierungsmaschinerie mit Einschluß der Gerichte (siehe das preußische Disziplinargesetz für die richterlichen Beamten vom 7. Mai 1851tUA1) und der Presse (siehe Reptilienfonds12711) unter jenes Institut, wie das gesamte Staatswesen in Venedig der Staatsinquisition unterworfen war. Die politische Polizei, während des Revolutionssturms in Preußen lahmgelegt, bedurfte einer Umgestaltung, für welche das zweite französische Kaiserreich mustergültig war und blieb. Nach dem Untergange der Revolution von 1848 existierte die deutsche Arbeiterbewegung nur noch unter der Form theoretischer, zudem in enge Kreise gebannter Propaganda, über deren praktische Gefahrlosigkeit die preußische Regierung sich keinen Augenblick täuschte. Ihr galt die Kommunistenhetze nur als Einleitung zum Reaktionskreuzzug gegen die liberale Bourgeoisie, und die Bourgeoisie selbst stählte die Hauptwaffe dieser Reaktion, die politische Polizei, durch die Verurteilung der Arbeitervertreter
und die Freisprechung von Hinckeldey-Stieber. So verdiente Stieber seine Rittersporen vor den Assisen zu Köln. Damals war Stieber der Name eines untergeordneten Polizei-Individuums, auf wilder Jagd nach Gehalts- und Amtserhöhung; jetzt bedeutet Stieber die unbeschränkte Herrschaft der politischen Polizei im neuen heiligen preußisch-deutschen Reiche. Er hat sich so gewissermaßen in eine moralische Person verwandelt, moralisch in dem bildlichen Sinne, wie z. B. der Reichstag ein moralisches Wesen ist. Und diesmal schlägt die politische Polizei nicht auf den Arbeiter, um den Bourgeois zu treffen. Umgekehrt. Grade in seiner Eigenschaft als Diktator der deutsch-liberalen Bourgeoisie wähnt Bismarcksich starkgenug,die Arbeiterpartei aus der Welt stiebern zu können. An dem Wachstum der Größe Stieber kann das deutsche Proletariat daher den Fortschritt der Bewegung messen, die es selbst seit dem Kölner Kommunistenprozeß zurückgelegt hat. Die Unfehlbarkeit des Papstes ist eine Kinderei verglichen mit der Unfehlbarkeit der politischen Polizei. Nachdem sie in Preußen während ganzer Dezennien jugendliche Brauseköpfe ins Loch gesteckt, von wegen Schwärmerei für deutsche Einheit, deutsches Reich, deutsches Kaisertum, kerkert sie heuerig sogar alte Glatzköpfe ein, die für jene Gottesgaben zu schwärmen verweigern. Heute müht sie sich ebenso vergeblich ab, die Reichsfeinde auszuroden, wie damals die Reichsfreunde. Welch schlagender Beweis, daß sie nicht dazu berufen ist, Geschichte zu machen, wäre es auch nur die Geschichte des Zanks um des Kaisers Bart! Der Kommunistenprozeß zu Köln selbst brandmarkt die Ohnmacht der Staatsmacht in ihrem Kampf gegen die gesellschaftliche Entwicklung. Der kgl. preußische Staatsanwalt begründete die Schuld der Angeklagten schließlich damit, daß sie die staatsgefährlichen Prinzipien des „Kommunistischen Manifestes" heimlich verbreiteten. Und werden trotzdem dieselben Prinzipien zwanzig Jahre später nicht in Deutschland auf offener Straße verkündet? Erschallen sie nicht selbst von der Tribüne des Reichtstags? Haben sie in der Gestalt des Programms der Internationalen Arbeiterassoziation nicht die Reise um die Welt gemacht, allen Regierungssteckbriefen zum Trotz? Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht, bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht. Die „Enthüllungen" sagen am Schluß: „Jena!... das ist das letzte Wort für eine Regierung, die solcher Mittel zum Bestehen, und für eine Gesellschaft, die solch einer Regierung zum Schutze bedarf. Das ist das letzte Wort des Kommunistenprozesses - Jena!"1 Eine gelungene Vorhersage
dies, kichert der erste beste Treitschke mit stolzem Hinweis auf Preußens jüngste Waffentat und das Mausergewehr. Mir genügt zu erinnern, daß es nicht nur ein inneres Düppel gibt, sondern auch ein inneres Jenaia5K
London, den 8. Januar 1875
Karl Marx
Nach: „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln , Neuer Abdruck, Leipzig 1875.
Karl Marx/Friedrich Engels Für Polen14161
[„Der Volksstaat" Nr. 34 vom 24. März 1875]
Auch in diesem Jahr fand zu London eine Gedenkfeier des polnischen Aufstands vom 22. Januar 1863 statt. An dem Fest beteiligten sich unsere deutschen Parteigenossen sehr zahlreich; mehrere derselben hielten Ansprachen, u.a. Engels und Marx. „Man sprach hier", sagte Engels, „über die Gründe, durch welche die Revolutionäre aller Länder bestimmt werden, mit der Sache Polens zu sympathisieren und für sie einzutreten. Nur eins hat man zu erwähnen vergessen, und zwar dies: daß die politische Lage, in welche Polen gebracht worden ist, eine durch und durch revolutionäre ist, daß sie Polen keine andere Wahl läßt, als revolutionär zu sein oder unterzugehen. Das zeigte sich schon nach der ersten Teilung, welche hervorgerufen wurde durch die Anstrengungen des polnischen Adels, eine Konstitution und Privilegien zu erhalten, welche ihr Existenzrecht verloren hatten und das Land und die allgemeine Ordnung schädigten, anstatt die Ruhe zu erhalten und den Fortschritt zu sichern. Schon nach der ersten Teilung erkannte ein Teil des Adels den Fehler und kam zu der Überzeugung, daß Polen nur durch Revolution wiederhergestellt werden kann; - und 10 Jahre später sahen wir Polen für die Freiheit in Amerika kämpfen. Die Französische Revolution von 1789 fand sofort ihren Widerhall in Polen. Die Konstitution von 1791 mit den Menschenrechten wurde zur Fahne der Revolution an den Ufern der Weichsel und machte aus Polen die Vorhut des revolutionären Frankreich, und das in dem Augenblick, wo die drei Mächte, welche schon einmal Polen beraubt hatten, sich vereinigten, um nach Paris zu marschieren und die Revolution zu ersticken. Konnten sie es dulden, daß im Zentrum der Koalition die Revolution sich festnistete? Unmöglich. Wieder warfen sie sich auf Polen, diesmal in der Absicht, es vollständig der nationalen
Existenz zu berauben. Die Entfaltung der revolutionären Fahne war eine der Hauptgründe für die Unterjochung Polens. Das Land, welches zerstückelt und aus der Liste der Völker gestrichen worden ist, weil es revolutionär war, kann nirgends anders sein Heil suchen als in der Revolution. Und deshalb finden wir in allen revolutionären Kämpfen Polen. Polen begriff das 1863 und veröffentlichte während des Aufstandes, dessen Jahrestag wir heute begehen, das radikalste revolutionäre Programm, das je im Osten Europas aufgestellt worden ist. Es wäre lächerlich, wollte man, weil eine polnische aristokratische Partei besteht, die polnischen Revolutionäre für Aristokraten halten, die ein aristokratisches Polen von 1772 wiederaufbauen wollten. Das Polen von 1772 ist auf ewig verloren. Keine Macht wird imstande sein, es aus dem Grab zu heben. Das neue Polen, welches die Revolution auf die Füße stellen wird, ist in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht von dem Polen des Jahres 1772 ebenso grundverschieden, wie die neue Gesellschaft, der wir entgegeneilen, grundverschieden ist von der heutigen Gesellschaft. Noch ein Wort. Keiner kann ungestraft ein Volk knechten. Die drei Mächte, die Polen ermordeten, sind schwer bestraft. Blicken wir auf mein eigenes Vaterland: Preußen-Deutschland. Unter der Firma der nationalen Vereinigung brachten wir Polen, Dänen und Franzosen an uns - und haben ein dreifaches Venedigl417]; haben überall Feinde, beladen uns mit Schulden, Steuern, um unzählige Massen Soldaten zu erhalten, welche zugleich zur Unterdrückung der deutschen Arbeiter dienen müssen. Österreich, sogar das offizielle, weiß sehr gut, wie schwer ihm das Stückchen Polen ist. Zur Zeit des Krimkrieges war Österreich bereit, gegen Rußland zu gehen, unter der Bedingung, daß Russisch-Polen besetzt und frei gemacht würde. Das war jedoch nicht im Plan des Louis-Napoleon, und noch weniger im Plan des Palmerston. Und was Rußland anbetrifft, so sehen wir: Im Jahre 1861 brach die erste bedeutende Bewegung unter den Studenten aus, die um so gefährlicher war, als sich das Volk überall infolge der Befreiung der leibeignen Bauern in großer Aufregung befand; und was tat die russische Regierung, die sehr gut die Gefahr sah? - Sie rief in Polen den Aufstand von 1863 hervor; denn es ist erwiesen, daß dieser Aufstand ihr Werk ist. Die Bewegung unter den Studenten, die tiefe Aufregung im Volke verschwand sofort und machte Platz dem russischen Chauvinismus, welcher sich über Polen ergoß, als es die Erhaltung der russischen Herrschaft in Polen galt. So ging die erste bedeutende Bewegung in Rußland infolge der unheilvollen Bekämpfung Polens zugrunde. Wahrhaftig, die Wiederherstellung Polens liegt im Interesse des revolutionären Rußland, und mit Freuden
vernehme ich heule abend, daß diese Meinung übereinstimmt mit den Überzeugungen der russischen Revolutionäre" (die sich auf dem Meeting in diesem Sinn ausgesprochen hatten14181). Marx sagte ungefähr: Die Arbeiterpartei von Europa nimmt das entschiedenste Interesse an der Emanzipation Polens, und das ursprüngliche Programm der Internationalen Arbeiterassoziation spricht die Wiederherstellung Polens als eins der Ziele der Arbeiterpolitik aus1. Welches sind die Gründe dieser speziellen Teilnahme der Arbeiterpartei an dem Schicksale Polens? Zunächst natürlich die Sympathie für ein unterjochtes Volk, das durch ununterbrochenen heldenmütigen Kampf gegen seine Unterdrücker sein historisches Recht auf nationale Selbständigkeit und Selbstbestimmung bewiesen hat. Es ist durchaus kein Widerspruch, daß die internationale Arbeiterpartei die Herstellung der polnischen Nation erstrebt. Im Gegenteil: nur nachdem Polen seine Unabhängigkeit wiedererobert hat, nachdem es als selbständiges Volk wieder über sich selbst verfügen kann, nur dann kann seine innere Entwicklung wieder beginnen und kann es an der sozialen Umgestaltung Europas selbständig mitwirken. Solange ein lebensfähiges Volk von einem auswärtigen Eroberer gefesselt ist, wendet es alle seine Kraft, alle seine Anstrengungen, alle seine Energie notwendig gegen den äußeren Feind; solange bleibt also sein inneres Leben paralysiert, solange bleibt es unfähig, für die soziale Emanzipation zu arbeiten. Irland, Rußland unter der mongolischen Herrschaft etc. bieten schlagende Beweise für diesen Satz. Ein anderer Grund der Sympathie der Arbeiterpartei für die Auferstehung Polens ist seine besondere geographische, militärische und historische Lage. Die Teilung Polens ist der Kitt, der die drei großen Militärdespotien: Rußland, Preußen und Österreich zusammenbindet. Nur die Wiederaufrichtung Polens kann dieses Band zerreißen und damit das größte Hindernis der sozialen Emanzipation der europäischen Völker aus dem Wege räumen. Der Hauptgrund der Sympathie der Arbeiterklasse für Polen ist jedoch der: Polen ist nicht nur der einzige slawische Volksstamm, es ist das einzige europäische Volk, welches als kosmopolitischer Soldat der Revolution gekämpft hat und kämpft. Polen hat sein Blut vergossen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg; seine Legionen haben unter der Fahne der ersten Französischen Republik gekämpft; durch seine Revolution von 1830
verhinderte es die Invasion Frankreichs, die damals zwischen den Teilern Polens beschlossen war; 1846 zu Krakau pflanzte es zuerst in Europa die Fahne der sozialen Revolution auf; 1848 nimmt es einen hervorragenden Anteil an den Revolutionskämpfen in Ungarn, Deutschland und Italien; endlich 1871 liefert es der Pariser Kommune die besten Generale und die heroischsten Soldaten. In den kurzen Augenblicken, wo die Volksmassen in Europa sich frei bewegen konnten, haben sie sich dessen erinnert, was sie Polen schulden. Nach der siegreichen Märzrevolution zu Berlin 1848 war es die erste Tat des Volkes, die polnischen Gefangenen, Mieroslawski und dessen Leidensgefährten, in Freiheit zu setzen und die Wiederherstellung Polens zu proklamieren; zu Paris im Mai 1848 marschierte Blanqui an der Spitze der Arbeiter gegen die reaktionäre Nationalversammlung, um ihr eine bewaffnete Intervention für Polen aufzuzwingen; endlich 1871, als die Pariser Arbeiter sich als Regierung konstituiert hatten, ehrten sie Polen, indem sie seinen Söhnen die militärische Führung ihrer Streitkräfte anvertrauten. Auch in diesem Augenblicke läßt sich die deutsche Arbeiterpartei nicht im geringsten beirren durch das reaktionäre Auftreten der polnischen Deputierten auf dem deutschen Reichstage; sie weiß, daß diese Herren nicht für Polen, sondern für ihre Privatinteressen handeln; sie weiß, daß der polnische Bauer, Arbeiter, kurz, jeder nicht durch Standesinteresse verblendete Pole begreifen muß, daß Polen in Europa nur einen Alliierten hat und haben kann - die Arbeiterparteit419). - Es lebe Polen!
Friedrich Engels Offiziöses Kriegsgeheul14201
[„Der Volksstaat" Nr. 46 vom 23. April 1875] Die Preßreptilien des Deutschen Reichs haben wieder einmal Befehl erhalten, in die Kriegstrompete zu tuten. Das gottlose verkommene Frankreich will das gottesfürchtige und unter der Herrschaft des Börsenschwindels, der Gründungen und des Krachs13841 so herrlich emporblühende Deutschland nun einmal um keinen Preis in Ruhe lassen. Frankreich rüstet auf kolossalstem Maßstab, und die Hochdruckgeschwindigkeit, mit der diese Rüstungen betrieben werden, ist der beste Beweis, daß es beabsichtigt, womöglich schon im nächsten Jahr über das unschuldige friedfertige Bismarcksche Reich herzufallen, das bekanntlich nie das kleinste Wässerchen getrübt hat, das in einem fort abrüstet und von dem nur die reichsfeindliche Presse die Verleumdung verbreitet, es habe soeben erst durch ein Landsturmgesetz zwei Millionen Bürger in Reservesoldaten verwandelt14211. Die Preßreptile haben einen schweren Stand. Während sie im Dienst des Auswärtigen Amtes das Reich als ein Lamm von unerhörter Sanftmut darstellen müssen, findet es das Kriegsministerium in seinem Interesse, dem deutschen Bourgeois verständlich zu machen, daß für sein schweres Steuergeld auch etwas geschieht, daß die beschlossenen Rüstungen auch wirklich ausgeführt, die Festungen gebaut, die Cadres und Mobilmachungspläne für die vielen „Beurlaubten" fertiggemacht werden, daß die Schlagfertigkeit des Heeres sich mit jedem Tage erhöht. Und da die in dieser Beziehung gemachten Mitteilungen authentisch sind und obendrein von sachverständigen Leuten herrühren, so sind wir vollkommen imstande, das Kriegsgeheul der Preßunken zu beurteilen. Das neue französische Cadresgesetz14221 gibt den Vorwand ab zu dem ganzen Lärm. Vergleichen wir also die dadurch in Frankreich - vorerst
noch auf dem Papier - geschaffenen Einrichtungen mit den in Deutschland wirklich bestehenden, und halten wir uns dabei, der Kürze wegen, vorzüglich an die entscheidende Waffe, die Infanterie. Im ganzen stellt sich heraus, daß das neue französische Gesetz eine bedeutend verschlechterte Ausgabe des preußischen ist. Die französische Linieninfanterie soll bestehn aus 144Linien-,4Zuavenund 3 Turkos-Regimentern a 4 Bataillonen, 30 Jägerbataillonen, 4 Fremden- und 5 Strafbataillonen, im ganzen 643 Bataillonen, wogegen die deutsche Linienarmee allerdings nur mit 468 Bataillonen figuriert. Diese Überlegenheit der französischen Linie ist jedoch purer Schein. Erstens hat das französische Bataillon, wie das preußische, zwar vier Kompanien, aber jede Kompanie nur vier Offiziere statt fünf, und von diesen vieren ist einer ein Reserveoffizier, welche Spezies bis jetzt in Frankreich noch gar nicht existiert. In Frankreich kam bisher auf 35-40 Mann ein Offizier, und bei dem veralteten und umständlichen französischen Exerzierreglement ist das auch nötig, während man in Preußen mit einem Offizier auf 50 Mann ganz gut fertig wurde. Es ist dies aber auch das Maximum, und war man daher auch in dem Ausschuß der Nationalversammlung, der dies Gesetz beriet, darüber einig, daß man höchstens 200 Mann in die Kompanie werde einstellen können. Die französische Kompanie ist also gegen die preußische numerisch um 25 Prozent schwächer, und da der Reserveoffizier vorderhand nicht existiert und auch auf lange Jahre hinaus nicht existieren wird, ihr auch in organisatorischer Beziehung bei weitem nicht gewachsen. Da aber jetzt die Kompanie - durch die Hinterlader - die taktische Einheit im Gefecht geworden ist und das Gefecht der Kompaniekolonnen und der auf sie gestützte Tirailleurkampf starke Kompanien erfordert, so hat die Nationalversammlung hier der französischen Armee den größten Schaden angetan, den sie ihr antun konnte.
Die französische Linie zählt demnach auf dem Kriegsfuß 606 Linienbataillone a 800 Mann 484 800 Mann, Zuaven, Turkos, Fremdenlegion, Strafbataillone... 46 000 Mann, zusammen ... 530 800 Mann,
wovon aber mindestens 40 000 Mann für Algier abgehn, die erst verwendbar werden, sobald neue Formationen imstande sind, sie abzulösen. Es bleiben also zur Eröffnung des Kriegs 490 800 Mann Infanterie. Die 468 Bataillone der deutschen Infanterie zählen jedes 1050 Mann auf dem Kriegsfuß, zusammen nach offizieller Angabe 490 480 Mann, fast genausoviel wie die französische Linie.
37 Marx/Engels, Werke, Bd. 18
Bis hierher also Gleichheit der Zahl, bessere und stärkere Organisation auf Seite Deutschlands. Jetzt aber kommt der Unterschied. Auf Seite Frankreichs machen obige 643 schwache Bataillone die gesamte Infanterie aus, für welche überhaupt eine kriegsmäßige Organisation besteht. Allerdings sollen die 318 Depotkompanien der Linie und der Jäger im ganzen 249 480 überzählige Reservisten enthalten (eingeschlossen 50 resp. 40 Offiziere und Unteroffiziere per Kompanie), aber hiervon existieren bisher bloß die Leute, und zwar größtenteils ganz unexerziert, und die Exerzierten mit meist nur sechsmonatlicher Dienstzeit. Von den Offizieren und Unteroffizieren ist höchstens ein Viertel vorhanden.Bisdiese318Depotkompanien sich in 318 mobile Bataillone verwandeln, kann der ganze Feldzug entschieden sein, und was davon ins Feuer kommt, wird an Qualität die Mobilgarden von 1870 nicht übertreffen. Dann bleibt noch die Territorialarmee, die die Leute vom 30. bis zum 40. Jahr umfaßt und die in 144 Regimentern zu 3 Bataillonen, also 432 Bataillonen, organisiert werden soll. Alles dies besteht nur auf dem Papier. Um eine solche Einrichtung wirklich durchzuführen, braucht man an 10 000 Offiziere und 20 000 Unteroffiziere, von denen bis jetzt fast buchstäblich kein einziger vorhanden ist. Und woher sollen diese Offiziere kommen? Es hat fast zwei Generationen gedauert, bis in Preußen die einjährigen Freiwilligen brauchbare Reserveund Landwehroffiziere lieferten; noch in den vierziger Jahren wurden sie in fast allen Regimentern als ein Schaden angesehen und demgemäß behandelt. Und in Frankreich, wo eine solche Institution gegen alle Traditionen der revolutionären Gleichheit verstößt, wo die Einjährigen von den Offizieren verachtet und von den Soldaten gehaßt werden, ist mit ihnen erst recht nichts anzufangen. Eine andere Quelle für Reserveoffiziere existiert aber nicht. Was die Unteroffiziere und Leute angeht, so prahlten bekanntlich die Sieger von Sadowa12411 1866, daß das lange Bestehen des Landwehrsystems in Preußen ihnen einen Vorsprung von zwanzig Jahren vor jedem andern Land gebe, welches dasselbe System annehme; erst wenn die ältesten Jahrgänge aus gedienten Leuten beständen, trete Gleichheit mit Preußen ein. Das scheint man jetzt vergessen zu haben, wie auch, daß in Frankreich nur die Hälfte des Jahreskontingents wirklich dient, die andere Hälfte nach sechsmonatlichem Dienst (was bei den heutigen pedantischen Reglements gänzlich ungenügend) entlassen wird, Reserve und Landwehr in Frankreich also großenteils, im Vergleich mit der preußischen, aus Rekruten besteht. Und da tut man, als ob man sich vor der jetzigen französischen Territorialarmee fürchte, die aus demselben ungeübten Kanonenfutter be
steht, das 1870 und 1871 an der Loire und bei Le Mans vor halb so starken aber disziplinierten deutschen Abteilungen sich nicht halten konnte!t423i Damit noch nicht genug. In Preußen hat man, nach bittern Erfahrungen, das Mobilmachen endlich gelernt. In elf Tagen ist die ganze Armee schlagfertig, die Infanterie schon weit früher. Dazu gehört aber, daß alles auf die einfachste Weise eingerichtet und daß namentlich jeder einzelne Beurlaubte schon im voraus dem Truppenteil zugewiesen ist, in den er eintreten soll. Die Grundlage hierzu ist, daß jedes Regiment seinen ständigen Rekrutierungsbezirk hat, aus dem sich auch das entsprechende Landwehrregiment in erster Linie ergänzt. Das neue französische Gesetz dagegen weist die Rekruten und Reservisten demjenigen Regiment zu, das sich bei der Mobilmachung grade im Bezirk befindet. Es geschah dies einer seit Napoleon eingebürgerten Tradition zuliebe, nach der die einzelnen Regimenter abwechselnd in allen Teilen Frankreichs garnisonieren und sich möglichst aus ganz Frankreich rekrutieren sollen. Mußte man das letztere fallenlassen, so beharrte man um so entschiedener auf dem ersteren und machte damit jenen beständigen organischen Zusammenhang zwischen Regimentskommando und Landwehr-Bezirkskommando unmöglich, der in Preußen die Raschheit der Mobilmachung sicherstellt. Wenn diese sinnlose Änderung, die bei den Spezialwaffen noch viel mehr Störungen anrichten muß als bei der Infanterie, bei dieser letzteren die Mobilmachung auch nur um drei Tage verlängern sollte, so sind das, einem aktiven Gegner gegenüber, die drei wichtigsten Tage des ganzen Feldzugs. Was bedeuten also alle die gewaltigen französischen Rüstungen? Eine der deutschen an Zahl gleiche, aber schlechter organisierte Linieninfanterie, die obendrein, um sich auf Kriegsfuß zu setzen, eine Anzahl Leute von nur sechsmonatlicher Dienstzeit einziehen muß; eine erste Reserve, worin nur sechs Monate gediente Leute vorherrschen und für die höchstens ein Viertel der Offiziere und Unteroffiziere vorhanden ist; eine zweite Reserve von vorwiegend ungedienten Leuten ohne alle und jede Offiziere, und für beide Reserven selbstredend totaler Mangel an festen Cadres. Dabei die sichere Aussicht, daß die fehlenden Offiziere mit den jetzigen Einrichtungen nie zu beschaffen sein werden, so daß beide Reserven im Kriegsfall keiner höheren Leistungen fähig sein werden als die im Herbst und Winter 1870 in der Eile gebildeten Bataillone. Und nun sehen wir uns einmal das lammfromme Deutsche Reich an, das angeblich keine Zähne hat und noch weniger solche zeigt. Eine Linieninfanterie von 468 Bataillonen mit, auf Kriegsfuß, 490 480 Mann haben wir bereits nachgewiesen. Dazu kommen aber noch folgende Neubildungen:
Man hat seit Anfang 1872 in jedes Bataillon 36 Rekruten mehr eingestellt, macht rund 17 000 Mann jährlich. Ferner hat man nach zweijähriger Dienstzeit ein volles Viertel der Leute entlassen, dafür aber ebenfalls eine gleiche Anzahl neuer Rekruten eingestellt, macht rund 28 000 Mann. Es werden also jährlich im ganzen 45 000 Mann mehr eingestellt und ausgebildet als vorher; macht bis Ende 1875, in drei Jahren, 135 000 Mann, wozu noch 12 000 einjährige Freiwillige (ä 4000 per Jahr) kommen; zusammen 147 000 Mann oder gerade genug, um für jedes der 148 Regimenter ein viertes Bataillon zu bilden. Die überzähligen Ersatzkompanien zu diesem Zweck sind bei allen Linienregimentern bereits seit derselben Zeit „organisatorisch vorbereitet", d.h. die Linien- und Reserveoffiziere und Unteroffiziere, die in diese Bataillone eintreten sollen, sind bereits festgestellt. Die vierten Bataillone können also längstens zwei bis drei Tage nach den ersten dreien sich auf den Marsch begeben und die Armee um 148 Bataillone ä 1050 Mann = 155 400 Mann verstärken. Diese Zahlen aber drücken noch bei weitem nicht den Machtzuwachs aus, den die Feldarmee damit erhält. Wer 1866 die preußischen vierten Bataillone gesehen hat, der weiß, daß sie, vorwiegend aus kräftigen, körperlich gesetzten Leuten von 24-27 Jahren bestehend, die Kerntruppe der Armee ausmachen. Neben der Bildung der vierten Bataillone geht die Organisation der Ersatzbataillone - 148 an der Zahl, von den Ersatzkompanien der Jäger gar nicht zu sprechen - ihren Gang voran. Sie setzen sich zusammen aus den überzähligen gedienten Reservisten und den ungedienten Leuten der Ersatzreserve14241. Ihre Stärke wurde 1871 auf 188 690 Mann offiziell angegeben. Dies ist aber so zu verstehn, daß die bereits in Friedenszeiten festgestellten Cadres an Offizieren und Unteroffizieren imstande sind, eine solche Anzahl von Leuten einzuexerzieren, denn die Ersatzreserve allein, in deren erste Klasse jetzt jährlich zirka 45 000 Mann eingestellt werden, liefert auf sieben Jahrgänge weit mehr als obige Anzahl. Die Ersatzbataillone sind nämlich die Behälter, aus denen die im Felde stehenden, durch Kämpfe und mehr noch durch Strapazen geschwächten Bataillone die nötigen Verstärkungen an mehr oder weniger ausgebildeten Leuten erhalten und die sich dann selbst immer wieder aus der Ersatzreserve ergänzen. Gleichzeitig mit Linie und Ersatztruppen wird die Landwehr mobil gemacht. Die ebenfalls im Frieden schon festgestellten Cadres der Landwehr umfassen 287 Bataillone (die auf 301 gebracht werden sollen). In den beiden letzten Kriegen wurden die Landwehrbataillone nur auf 800 Mann gebracht; nehmen wir nur diese geringe Sollstärke an, so stellt das Deutsche Reich an Landwehrinfanterie 229 600 Mann organisierter Truppen, wobei
aber noch eine jährlich wachsende Zahl Überzähliger zur späteren Verfügung bleibt. Damit nicht genug, ist denn auch noch der Landsturm wieder ins Leben gerufen worden. Nach offiziösen Nachrichten war Ende 1874 die Kriegsstärke der deutschen Infanterie bereits vermehrt worden um 234 Bataillone Landsturm (a 800 Mann = 187 200 Mann), die Jägerkompanien ungerechnet; was doch nur heißen kann, daß die Cadres für diese Bataillone wenigstens notdürftig festgestellt sind. Damit ist aber der Landsturm noch lange nicht erschöpft, denn nach der triumphierenden Äußerung Voigts-Rhetz's im Reichstage umfaßt er „fünf Prozent der Bevölkerung, zwei Millionen Mann"'425!. Wie stellt sich nun die Rechnung? Frankreich hat an Linieninfanterie, einschließlich der in Algier dienenden Truppen, 530800 Mann, und das ist seine gesamte organisierte Infanterie. Rechnen wir aber auch noch die ganze erste Reserve hinzu, soweit sie irgendwelche Scheinorganisation besitzt - 254 600 Mann (288 Depotkompanien a 800 Mann, 30 Jägerdepots a 540 Mann und 8000 überzählige Sträflinge), so gibt das im ganzen nur 785 400 Mann zu Fuß. Das Deutsche Reich tritt auf, elf Tage nach dem Mobilmachungsbefehl, mit einer Linieninfanterie von 490 480 Mann, zwei bis drei Tage später mit 148 weiteren Bataillonen 155 400 „ nach weiteren vierzehn Tagen mit 287 Landwehrbataillonen ä 800 Mann 229 600 „ und nach noch vierzehn Tagen mit 234 Landsturmbataillonen a 800 Mann 187 200 „
zusammen mit einer Infanterie von ... 1 062 680 Mann, die bereits in Friedenszeiten fix und fertig organisiert und im voraus mit allem Nötigen versehen ist und die 148 Ersatzbataillone von der Stärke (s.oben) von 188 690 Mann zur Ergänzung der durch den Feldzug verursachten Lücken hinter sich hat. Im ganzen eine organisierte InfanterieMasse von 1 251 370 Mann. Glaubt man etwa, wir übertreiben? Keineswegs. Wir bleiben noch hinter der Wahrheit zurück, indem wir verschiedene kleine Faktoren vernachlässigen, die aber bei der Zusammenzählung eine ganz respektable Summe ergeben. Hier der Beweis. Die „Kölnische Z[ei]t[un]g" vom 27. Dez. 1874 enthält eine aus dem Kriegsministerium stammende „militärische Mitteilung", aus der wir
folgendes ersehen: Ende 1873 betrug der Kriegsfuß der deutschen Armee
also noch fast 100 000 Mann mehr als unser Anschlag. Derselbe Artikel berechnet den gesamten Kriegsfuß aller Waffen auf 1 723 148 Mann, worunter 39 948 Offiziere; und die Franzosen haben dagegen höchstens 950 000 Mann im voraus organisierter Truppen, worunter 785 000 Mann Infanterie! Was die Qualität der Truppen angeht, so ist - gleiche durchschnittliche kriegerische Anlagen bei beiden Nationen angenommen - die der französischen Armee seit dem Krieg sicher nicht gehoben worden. Die Regierung hat alles getan, um die Truppen zu demoralisieren, namentlich durch deren Verlegung in Barackenlager, wo der Soldat im Winter weder exerzieren noch sonst etwas treiben konnte und sozusagen ausschließlich aufs Absinthtrinken angewiesen war. Es fehlt an Unteroffizieren, die Kompanien sind schwach, die Kavallerieregimenter haben lange nicht Pferde genug. Die „Norddeutsche] Allg[emeine] Z[ei]t[un]g" hob dies selbst noch am 14. Januar hervor; damals predigte sie noch Frieden! Aber die neue Armeegesetzgebung stellt dem französischen Kriegsminister zur Verfügung: an Linie 704 714 Mann, Reserve 510 294 Mann, Territorialarmee 582 523 und Reserve derselben 625 633 Mann, zusammen 2 423 164 Mann, die im Notfall auf 2 600 000 Mann gebracht werden können! Allerdings, obwohl General Lewal nach genauer Untersuchung der betreffenden Dokumente erklärt, diese Summe auf 2 377 000 Mann herabsetzen zu müssen. Und auch diese sind noch genug, um dem besten Kriegsminister den Kopf toll zu machen. Was in aller Welt soll er mit dieser Masse zu fast zwei Dritteln ungeübter Menschen anfangen? Wo die Offiziere und Unteroffiziere herbekommen, ohne die er sie nicht einüben, geschweige organisieren kann? In Deutschland sieht es ganz anders aus. Die Stärke des Kriegsfußes wird schon in den Motiven des Reichsmilitärgesetzes angenommen gleich 1 500 000 Mann. Dazu kommen aber infolge dieses Gesetzes selbst die fünf Jahrgänge der Ersatzreserve, deren Dienstpflicht vom 27. bis zum vollendeten 31. Jahre ausgedehnt wurde - 45 000 Mann jedes Jahr - also zirka 200 000 Mann. Mindestens 200 000 Mann Überzählige über den Kriegs
1 361 400 M[ann], wovon Infanterie ... Dazu kamen 1874 die vierten Bataillone und 234 Bataillone Landsturm
994 900 Mann. 155 400 „ 187 200 „ total Infanterie 1 337 500Mann,
fuß hinaus waren schon vorher auf den Registern geführt. Und dazu kommt der Landsturm mit vollen zwei Millionen Mann; so daß der deutsche Kriegsminister 3 900 000, wo nicht vier Millionen Mann zu seiner Disposition hat, wobei die Armee, wie der angeführte Offiziöse sagt,
„auch bei einem Aufgebot bis 1 800 000 Mann und darüber, mit Ausnahme der in die Ersatzarmee eingestellten Rekruten, durchgehend aus gedienten und vollkommen militärisch vorgeübten Soldaten bestehen wird, was in Frankreich bis zur Territorialreserve aufwärts erst binnen zwanzig Jahren bewirkt werden möchte". Man sieht, nicht Frankreich, sondern das Deutsche Reich preußischer Nation ist der wahre Repräsentant des Militarismus. Vier Millionen Soldaten, zehn Prozent der Bevölkerung! Nur zu. Uns kann es ganz recht sein, daß das System bis auf die äußerste Spitze getrieben wird. Nicht von außen durch einen andern siegreichen Militärstaat, nur von innen, durch seine eignen notwendigen Konsequenzen, kann dies System endgültig gebrochen werden. Und je mehr es übertrieben wird, desto eher muß es zusammenbrechen. Vier Millionen Soldaten! Auch die Sozialdemokratie wird es Bismarck Dank wissen, wenn er die Zahl auf fünf oder sechs Millionen erhöht und dann baldmöglichst auch noch die Mädchen einstellt. F. E.
Friedrich Engels
[Vorbemerkung zu der Broschüre „Soziales aus Rußland"14091]
Die folgenden Zeilen1 wurden geschrieben bei Gelegenheit einer Polemik, in die ich mit einem Herrn Peter Nikititsch Tkatschow verwickelt wurde. In einem Artikel über die in London erscheinende russische Zeitschrift „Vorwärts"tä021 („Volksstaat" 1874, Nr. 117 und 118)a hatte ich Veranlassung, den Namen dieses Herrn ganz nebenbei, aber in einer Weise zu erwähnen, die mir seine werte Feindschaft zuzog. Herr Tkatschow erließ unverweilt einen „Offenen Brief an Herrn Friedrich Engels", Zürich 1874, worin er mir allerhand wunderliche Dinge nachsagt und dann, meiner krassen Unwissenheit gegenüber, seine eigne Meinung vom Stand der Dinge und von den Aussichten einer sozialen Revolution in Rußland zum besten gibt. Form wie Inhalt des Machwerks trugen den gewöhnlichen bakunistischen Stempel. Da es in deutscher Sprache erschienen war, hielt ich es der Mühe wert, im „Volksstaat" zu antworten (s. „Flüchtlingsliteratur", Nr. IV und V, „Volksstaat" 1875, Nr. 36 und folgende3). Der erste Teil meiner Antwort schilderte vorwiegend die bakunistische Art des literarischen Kampfs, die einfach darin besteht, dem Gegner eine tüchtige Tracht direkter Lügen anzuhänger,. Durch Abdruck im „Volksstaat" war diesem vorherrschend persönlichen Teil hinlänglich Genüge geschehn. Ich unterdrücke ihn daher hier und lasse bei dem von der Verlagshandlung gewünschten Sonderabdruck nur den zweiten Teil bestehn, der sich hauptsächlich mit den gesellschaftlichen Zuständen Rußlands beschäftigt, wie sie sich seit 1861, seit der sogenannten Bauern-Emanzipation gestaltet haben. Die Entwicklung der Dinge in Rußland ist von der höchsten Wichtigkeit für die deutsche Arbeiterklasse. Das bestehende Russische Reich bildet
1 Siehe vorl. Band, S. 556-567 - 2 siehe vorl. Band, S. 536-545 - 3 siehe vorl. Band, S, 546-567
den letzten großen Rückhalt aller westeuropäischen Reaktion. Das hat sich 1848 und 1849 schlagend gezeigt. Weil Deutschland 1848 versäumte, Polen zu insurgieren und den russischen Zar mit Krieg zu überziehen (wie dies die „Neue Rheinische Zeitung" von Anfang an verlangt hatte), konnte derselbe Zar1 1849 die bis an die Tore Wiens vorgedrungne ungarische Revolution niederschlagen, 1850 über Osterreich, Preußen und die deutschen Kleinstaaten in Warschau zu Gericht sitzen und den alten Bundestag wiederherstellen. Und noch vor wenig Tagen - Anfang Mai 1875 - hat der russische Zar2 ganz wie vor fünfundzwanzig Jahren die Huldigung seiner Vasallen in Berlin entgegengenommen und bewiesen, daß er auch heute noch der Schiedsrichter von Europa ist. Keine Revolution in Westeuropa kann endgültig siegen, solange der jetzige russische Staat neben ihr besteht. Deutschland aber ist sein nächster Nachbar, auf Deutschland fällt also der erste Anprall der russischen Reaktionsarmeen. Der Sturz des russischen Zarenstaats, die Ablösung des Russischen Reichs ist also eine der ersten Bedingungen für den endgültigen Sieg des deutschen Proletariats.
Dieser Sturz braucht aber keineswegs von außen herbeigeführt zu werden, obwohl ein auswärtiger Krieg ihn sehr beschleunigen könnte. Im Innern des Russischen Reichs selbst gibt es Elemente, die kräftig an seinem Ruin arbeiten. Das erste sind die Polen. Sie sind durch hundertjährige Unterdrückung in eine Lage versetzt, wo sie entweder revolutionär sein, jede wirklich revolutionäre Erhebung des Westens als ersten Schritt zur Befreiung Polens unterstützen oder aber untergehen müssen. Und gerade jetzt sind sie in einer Lage, wo sie ihre westeuropäischen Bundesgenossen nur im Lager des Proletariats suchen können. Seit hundert Jahren werden sie fortwährend von allen bürgerlichen Parteien des Westens verraten. In Deutschland zählt die Bourgeoisie überhaupt erst seit 1848, und seitdem war sie stets polenfeindlich. In Frankreich verriet Napoleon Polen 1812 und verlor infolge dieses Verrats Feldzug, Krone und Reich; seinem Beispiel folgte 1830 und 1846 das Bürgerkönigtum, 1848 die bürgerliche Republik, im Krimkrieg und 1863 das zweite Kaisertum. Eins verriet Polen so schnöde wie das andere. Und heute noch kriechen die radikalen bürgerlichen Republikaner Frankreichs vor dem Zaren, um für einen erneuerten Verrat an Polen eine Revanche-Allianz gegen Preußen zu erschachern, ganz wie die deutschen Reichsbourgeois denselben Zar vergöttern als den Schirmherrn des europäischen Friedens, d.h. des deutsch-preußischen Annexionsbestandes.
Nirgends als bei den revolutionären Arbeitern finden die Polen aufrichtige und rückhaltlose Stütze, weil beide gleiches Interesse am Sturz des gemeinsamen Feindes haben und weil die Befreiung Polens gleichbedeutend ist mit diesem Sturz. Aber die Tätigkeit der Polen ist eine örtlich begrenzte. Sie beschränkt sich auf Polen, Litauen und Kleinrußland; der eigentliche Kern des Russischen Reichs, Großrußland, bleibt ihrer Wirksamkeit so gut wie verschlossen. Die vierzig Millionen Großrussen sind ein viel zu großes Volk und haben eine viel zu eigentümliche Entwicklung gehabt, als daß ihnen eine Bewegung von außen aufgezwungen werden könnte. Dies ist aber auch gar nicht nötig. Allerdings hat die Masse des russischen Volks, die Bauern, seit Jahrhunderten in einer Art geschichtsloser Versumpfung von Geschlecht zu Geschlecht dumpf dahingelebt; und die einzige Abwechslung, die diesen öden Zustand etwa unterbrach, bestand in einzelnen fruchtlosen Aufständen und in neuen Bedrückungen durch Adel und Regierung. Dieser Geschichtslosigkeit hat die russische Regierung selbst ein Ende gemacht (1861) durch die nicht länger mehr aufschiebbare Abschaffung der Leibeigenschaft und die Ablösung der Frondienste - eine Maßregel, die in einer so überpfiffigen Weise angelegt wurde, daß sie die Mehrzahl sowohl der Bauern wie der Adligen dem sichern Ruin entgegenführt. Die Zustände selbst also, in die der russische Bauer jetzt versetzt ist, treiben ihn in die Bewegung hinein, eine Bewegung, die allerdings erst im allerersten Entstehen sich befindet, die aber durch die täglich sich verschlimmernde ökonomische Lage der Bauernmasse unaufhaltsam weitergetrieben wird. Die grollende Unzufriedenheit der Bauern ist schon jetzt eine Tatsache, mit der sowohl die Regierung wie alle unzufriedenen und Oppositionsparteien rechnen müssen. Es folgt hieraus, daß, wenn im folgenden von Rußland die Rede ist, darunter nicht das ganze Russische Reich, sondern ausschließlich Großrußland zu verstehen ist, d.h. das Gebiet, dessen westlichste Gouvernements Pskow und Smolensk und dessen südlichste Kursk und Woronesh sind.
Geschrieben im Mai 1875. Nach: „Soziales aus Rußland", Leipzig 1875.
KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS
Aus dem handschriftlichen Nachlaß

Friedrich Engels
[Varia über Deutschland14261]
/. Einleitung 1500-1789
1. Deutschland mehr und mehr zersplittertunddasZentrum geschwächt Ende 15. Jahrhunderts, wo Frankreich und England schon mehr oder weniger zentralisiert und die Nation sich bildet. Dies in Deutschland unmöglich, weil 1. der Feudalismus später entwickelt als bei den durch die Eroberung gegangenen Ländern; 2. Deutschland französische und slawische Bestandteile hatte und Italien als ihm gehörig und Rom als Zentrum ansah - also kein nationaler Komplex; 3. weil, und dies ist Hauptsache, die einzelnen Provinzen und Provinzgruppen noch vollständig isoliert voneinander, kein Verkehr etc. (s. Bauernkrieg). Die Hansa, rheinischer Städtebund und schwäbischer Städtebund vertraten natürliche, aber getrennte Gruppen. Ad I, I. Spanien, Frankreich, England Ende 15. Jahrhunderts in konstituierte] Nation[al-] Staaten zusammengewachsen. Diese Konsolidierung epochemachend fürs 15. Jahrhundert. (Spanien - Vereinigung] der katalonischen und kastilischen Nationalitäten], Portugal, das iberische] Holland, hatte sich durch seine Schiffahrt die Berechtigung zu besondrer Existenz erworben, Frankreich - durch die Dynastie-Hausmacht, die allmählich die Nation absorbierte. England - {England erst soweit, nachdem es seine quichotischen Eroberungspläne in Frankreich - den deutschen Römerzügen ähnlich - hatte aufgeben müssen, an denen es verblutet wäre wie Deutschland an den seinigen^ durch die Rosenkriege, die den hohen Adel vernichtet.) Deutschland wäre trotz der ökonomischen Zusammenhangslosigkeit doch zentralisiert, und früher schon (z.B.unter den Ottonen), wenn nicht 1. die römische Kaiserwürde mit dem Weltherrschaftsanspruch die Konstituierung eines Nationalstaats ausgeschlossen und die Kräfte in den italienischen Eroberungszügen verschleudert (Nachwirkung in Ostreich
bis 1866!) wobei die deutschen Interessen stets verraten, und 2. das1... Wahlkaisertum, das nie ein Aufgehn der Nation in die kaiserliche Hausmacht zuließ, sondern stets - und besonders im entscheidenden ^.Jahrhundert - die Dynastien wechselte, sobald ihre Hausmacht den Fürsten zu groß wurde. - Auch in Frankreich und Spanien bestand ökonomische Zersplitterung, d[ur]ch die Gewalt überwunden. Der „Kulturkampf" zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter zersplitterte Deutschland und Italien (wo der Papst Hindernis der nationalen Einheit und zugleich oft scheinbar ihr Vertreter, aber doch so, daß z.B. Dante im fremden Kaiser den Retter Italiens sah), und 1500 hatte der Papst als Mittelfürst sich schon quer durch Italien gelegt und die Einheit materiell unmöglich gemacht. 2. Dennoch wäre Deutschland durch die naturgemäße Entwicklung des Handels und durch Germanisierung der Slawen und durch Verlust der französischen Provinzen und Italiens zusammengewachsen, weil der Weg des Welthandels durch Deutschland ging, wenn nicht jetzt 2 entscheidende Ereignisse einträten: a) Das deutsche Bürgertum machte seine Revolution - die zeitgemäß in religiöser Form erschien -, die Reformation. Aber wie lausig! Ohne Reichsritterschaft und Bauern nicht durchzuführen; aber alle 3 Stände verhindert durch widersprechende Interessen: Ritter oft Räuber der Städte (s. Mangold von Eberstein) und Bedrücker der Bauern, und Städte ebenso Bauernschinder (Ulmer Rat und Bauern!); Reichsritter zuerst erheben sich, werden von Bürgern im Stich gelassen, gehn unter; Bauern erheben sich, werden von Bürgern direkt bekämpft. Gleichzeitig die bürgerlichreligiöse Revolution so kastriert, daß sie den Fürsten zusagen kann und diese die Leitung in die Hand bekommen. - Spezifisch theologisch-theoretischer Charakter der deutschen Revolution des 16. Jahrhundert. Vorherrschendes Interesse für die Dinge, die nicht von dieser Welt. Die Abstraktion von der miserablen Wirklichkeit - Basis der späteren theoretischen Überlegenheit der Deutschen von Leibniz bis Hegel. b) Der Welthandelsweg wird Deutschland entzogen und Deutschland in einen isolierten Winkel gedrängt, dadurch die Macht der Bürger gebrochen, d[er] Reformation dito. c) Resultat, daß2... cuius regio, eius religio3, und daß tatsächlich Deutschland in einen überwiegend protestantischen Norden, überwiegend
1 Hier folgt in der Handschrift ein nicht zu entzifferndes Wort - 2 hier folgt in der Handschrift ein nicht zu entzifferndes Wort - 3 wessen das Land, dessen die Religion
katholischen, aber stark gemischten Südwesten und ausschließlich katholischen Südosten zerfällt. Hierin schon die Mängel der Entwicklung 1740 bis 1870 (Preußen, Spaltung von Nord und Süd, endlich Kleindeutschland und Ostreich). Gegensatz gegen Frankreich. Unterdrückung der Hugenotten (s. „Varia" p. 21). 3. Deutschland, einmal industriell zur Passivität und zum Rückschlag verurteilt, mußte den Einflüssen der politischen Konjunkturen mehr ausgesetzt sein als industriell aktive und fortschrittliche] Länder. (Dies allgemein zu entwickeln.) Die Spaltung in 2 Parteien brachte den Bürgerkrieg auf die Tagesordnung; Aufzählung der Kriege bis 1648 - der Bürgerkrieg. Die französische Benutzung der Gelegenheit und Bündnis mit und Bezahlung der protestantischen Fürsten und deutschen Mietstruppen. Kulminiert im Dreißigjährigen Krieg. Dreißigjähriger Krieg - Irländer in Deutschland, Deutsche in Irland 1693 und 1806. Schilderung der Verwüstung. Resultat: ökonomisch, sozial, politisch - Verluste an Frankreich; Festsetzung von Schweden und Dänemark in Deutschland; Einmischungsrecht der Garantiemächte; totaler Zusammenbruch der Zentralmacht; das Recht auf Empörung gegen den Kaiser, Bürgerkrieg und Landesverrat den deutschen Fürsten von Europa garantiert. 4. 1648-1789. a) Politischer Zustand. Die deutschen Fürsten beuten den Westfälischen Frieden aus, indem sie sich um die Wette ans Ausland verkaufen, und dies Frankreich und die Fürsten - beutet die Schwäche Deutschlands aus, sich allmählich alle französischen Besitzungen] Deutschlands anzueignen und Elsaß zu arrondieren. Historisches Recht Frankreichs und Geschrei der Teutonen über „Raub". Unveränderlichkeit der Sprachgrenze (s. Menke) seit ca. anno 1000, ausgenommen die linksvogesischen Distrikte. Dies das Allgemeine. Im besondern: Aufkommen einer Konkurrenzmacht gegen Ostreich und das Kaisertum im Norden .'Preußen. Anfang der Realisierung] der Scheidung in N[ord] und S[üd]. Kritik der preußischen Geschichte. Friedrich] II. - Rußlands Aufkommen und Friedrichs] II. Unterwerfung unter die russische Politik - durch Preußen die Bürgerkriege jetzt Konkurrenzkriege zwischen Ostreich undPreußen. b) Ökonomisches. Bei alledem langsame Erholung von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges und Wiederemporkriechen des Bürgertums. Nur durch den Besitz infamer Tugenden dies Wiederaufkommen unter solchem Zustand möglich. Bei alledem der ökonomische Fortschritt nur durch poli
tische Intervention ermöglicht - durch die Infamie der Fürsten und die ihnen vom Ausland gezahlten Gelder. Dies beweist, wie tief Deutschland ökonomisch erniedrigt. Diese Zeit die Quelle des patriarchalischen Regimes. Nach 1648 der Staat wirklich zu sozialen Funktionen berufen und durch Finanznot gezwungen; wo er sie nicht ausübte, Stagnation (d[ie] westfälischen] Bist[ümer]). Welcher Zustand der Erniedrigung! Und wie lausig die Staatshilfe! Dem Weltmarkte gegenüber rein leidend; nur als Neutrale in großen Weltkriegen was zu verdienen (amerikanischer und Revolutionskrieg bis 1801). Dagegen gegfenüber] d[en] Raubstaaten ohnmächtig. (Dank der Französischen Revolution dieser europäische Schandzustand beseitigt.) c) Literatur und Sprache total verkommen; die Theologie knöcherne Dogmatik; in andren Wissenschaften Deutschland verkommen, aber doch Lichtblicke; J[akob] Böhme (wieder Vorzeichen der kommenden Philosophen), Kepler, Leibniz -wiedrum Abstraktion vom Bestehenden, Wirklichen. Bach. d) Zustand Deutschlands 1789. a) Ackerbau-Bauernverhältnisse. Leibeigenschaft, Prügel, Abgaben, b) Industrie - reine Hungerleiderei, wesentlich Handarbeit, aber in England schon der Anfang der großen Industrie und die deutsche, schon ehe sie voll entwickelt, dem Tod geweiht, c) Handel passiv, d) Soziale Stellung des Bürgers gegenüber Adel und Regierung, e) Politisches Hindernis der Entwicklung: Zersplitterung. Schilderung nach Menke. Zölle, Verhinderung der Flußschiffahrt. Free trade1 an den inneren Grenzen erzwungen durch die Zerstückelung, Zölle meist städtische Konsumabgaben. Diese Fürsten, hülflos zum Gut[en], selbst wenn aufgeklärt - wie die Beschützer Schu'barts und Karl August -, gingen auch alle mit Vergnügen lieber in den Rheinbund, als einen Krieg ausfechten. Die Invasion 1806 die Probe, wo es ihnen an den Kragen ging. Und dabei jeder dieser 1000 Fürsten absolut, rohe, ungebildete Lumpen, von denen Zusammenwirken nie zu erwarten, Launen stets in Masse (Schlözer). Soldatenhandel im amerikanischen Krieg. - Doch ihre größte Schandtat war ihre bloße Existenz. Und daneben an der Ostgrenze im Norden Preußen, im Süden Ostreichgierig die Hand nach den Gebieten ausstreckend - die beiden einzigen, die noch hätten retten können, wenn nur einer von beiden dagewesen, deren notwendige Konkurrenz aber so jeden Ausweg unmöglich machte. Die reine Sackgasse, nur von außen konnte Hülfe kommen - die Französische Revo
lution brachte sie. Nur 2 Lebenszeichen: die Kriegstüchtigkeit, die Literatur und Philosophie und die gewissenhafte objektive wissenschaftliche Untersuchung, während in Frankreich schon ab 18. Jahrhundert vorherrschend] Parteischr[iften], wenn auch I.Ranges-in Deutschland dies alles Flucht aus der Wirklichkeit in ideale Regionen. „Der Mensch" und Entwicklung der Sprache; 1700 Barbarei, 1750 Lessfing] und Kant, bald Goethe, Schfiller], Wiel[and], H[er]d[e]r; H[än]d[e]l, Gluck, Mozart.
1789-1815 1. Die deutschen Enklavfen] in Elsaß-Lothringen etc. - schon halb unter französischer Hoheit - schlössen sich der Französischen Revolution an; daher Vorwand zum Krieg. Preußen und Ostreich jetzt plötzlich einig. Valmy. Niederlage der Lineartaktik durch Massenartillerie. Fleurus und Jemmapes. Niederlage der östreichischen Kordontaktik? Eroberung des linken Rheinufers. Jubel der Bauern und freisinnigen] Städte selbst nicht durch einzelne Erpressungen, nicht durch die Blutsteuern Nap[o]l[eons] zu verbannen. Amienser Frieden und R[ei]chsdep[utations]h[au]ptschl[uß] Auflösung des Reichs. Rheinbund. Wegfegung von Kleinstaaten durch Nap[oleon], leider lange nicht genug. Er stets Revolutionär gegenüber den Fürsten. Wäre weitergegangen, wenn nicht die Kleinfürsten sich so platt vor ihm erniedrigt. 1806 Fehler Nap[oleon]s, nicht Preußen ganz zu vernichten. Ökonomisches über Deutschland unter der Kontinentalsperre. Das unter der größten Erniedrigung von außen koinzidiert mit der Glanzperiode der Literatur und Philosophie und der Kulmination der Musik in Beelhov[en].
[Aus dem zweiten Manuskript]
Varia über Deutschland 1789-1873
...PreußischeArmee: hungrig von jeher. Höpfner 1788- 1806. .. ^verfall unter Friedrich] W[ilhelm] III. Unterschleife (1. und 9.G[arde-]Art[illerie] Komp. Mäntel 1842). Altes Geschirr im Zeughaus. Ffriedrich] Wilhelm] III. auch friedlich wegen der Notwendigkeit, bei jedem Krieg die SfäWe berufen zu müssen. I.Wendepunkt 1848-WalderseeundZündnadelgewehr. 2. Wendepunkt-die Mobilmachung 18522; und endlich der italie
1 In der Handschrift ist der Anfang des Wortes nicht zu entziffern - ^wahrscheinlich ein Schreibfehler; denn gemeint ist offenbar die sog. „große Mobilisierung" der preußischen Armee 1850
38 Marx/Engels, Werte, Bd. 18
nische Krieg, Armee-Reorganisation, Wegwerfen des Schlendrians. Seit 1864 große Selbstkritik und rein sachliches Verfahren. Trotzdem totales Verkennen des Charakters der preußischen Armee-Organisation. Tragikomischer] Konflikt: der Staat muß politische Kriege führen für entfernte Interessen, die nie nationale Begeisterung erregen, und hat dazu eine Armee nötig, die nur zur nationalen Verteidigung und der daraus unmittelbar folgenden Offensive taugt (1814 und 1870). In diesem Konflikt geht der preußische Staat und die preußische Armee kaputt - wahrscheinlich in einem Krieg mit Rußland, der 4 Jahre dauern kann und wo nichts zu holen als Krankheiten und zerschoßne Knochen... Deutsche kaufmännische Kolonien im Ausland schon vor 1789, aber erst bedeutend seit 1814 und erst seit 1848 wirklicher Hebel des Hereinziehens von Deutschland in den Welthandel, dann aber enorm wirksam. Allmählicher Anwuchs. Charakter der Kaufmannskolonien bis 1848 - meist ungebildet und sich ihrer Nation schämend. (M[an]ch[este]r-[Kolonie] Englisch in 10 deutschen Dialekten.) Mangelnder Schutz. (Weerths mexikanische Geschichte und seine Erfahrungen von den deutschen Diplomaten in Südamerika überhaupt.) Deutsch Welthandelssprache durch die Kolonien und die Juden in Osteuropa (Details über diese) und durch Hamburgerposten in Skandinavien. Daß im Handel außer des romanischen Europa und allenfalls der Levante Deutsch weiter reicht als Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, kurz als alle Sprachen außer Englisch. Jetzt rasches Vordringen der deutschen Kolonien - vgl. die Angst der Engländer in London selbst... Während der Hugenottenkriege der Respekt vor dem die Nation vertretenden Königtum schon so groß, daß nur dem König fremde Allianzen und Hülfstruppen rechtlich und durch öffentliche Meinung gestattet. Die anderen stets Rebellen und Verräter. Dies nie deutlicher als beim Tod H[einrichs] III., wo H[einrich] IV. bloß durch Gewicht des königlichen Namens in Stand gesetzt wird, den schließlichen Sieg zu erringen. Die schließliche Unterdrückung des Protestantismus in Frankreich kein Pech für Frankreich - teste1 Bayle, Voltaire und Diderot. Desgleichen wäre diese Erdrückung in Deutschland nicht ein Unglück für Deutschland gewesen, wohl aber für die Welt. Sie hätte Deutschland die katholische Entwicklungs/orm der romanischen Länder aufgezwungen, und da die englische Entwicklungsform auch halb katholisch und mittelalterlich war (Universitäten etc. Colleges2, public schools3, alles protestantische Klöster), wäre die
1 bezeugt durch - 2 höhere Bildungsanstalten - 3 (gewisse ältere) höhere Schulen
ganz protestantisch deutsche Bildungsform (Erziehung zu Hause oder in Privathäusern, freiwohnende und kollegwählende Studenten) weggefallen und die europäische geistige Entwicklung unendlich einförmig geworden. Frankreich und England haben die Vorurteile in der Sache, Deutschland hat die der Form, dieSchablone gesprengt. Daher auch teilweise die Formlosigkeit alles Deutschen, bis jetzt noch mit großen Nachteilen verknüpft, wie die Kleinstaaterei, aber für die Entwicklungsfähigkeit der Nation ein enormer Gewinn und erst in der Zukunft volle Früchte tragend, wenn dies selbst einseitiges Stadium überwunden. Dann: der deutsche Protestantismus die einzige moderne Form des Christentums, die der Kritik Wert. Der Katholizismus schon im 18. Jahrhundert unter der Kritik. Gegenstand der Polemik (welche Esel also die Altkatholiken!); der englische [Protestantismus] in x Sekten zerfahren, ohne theologische Entwicklung, oder eine, deren jede Stufe sich als Sekte fixierte. Der deutsche allein hat eine Theologie und damit einen Gegenstand der Kritik der historischen, philologischen und philosophischen. Diese von Deutschlandgeliefert, ohne den deutschen Protestantismus unmöglich und doch absolut nötig. Eine Religion wie das Christentum wird nicht mit Spott und Invektive allein vernichtet, sie will auch wissenschaftlich überwunden sein, d.h. geschichtlich erklärt, und das bringt auch die Naturwissenschaft nicht fertig. Holland und Belgien - getrennt von Deutschland durch die Moore zwischen Rhein und Nordsee, durch die Ardennen und Venn im Süden - spielen gegen Deutschland die Rolle Phöniziens gegen Palästina, und auch derselbe Jammer wie in den alten Propheten in Deutschland gang und gäbe. Flandern von der Teilung von Verdun bis nach 1500 Teil von Frankreich - daher das Festsetzen der französischen Sprache, vermehrt durch den flämischen Handel im Mittelalter, wo die Kaufleute sicher kein Flämisch mit den italienischen etc. Kaufleuten sprachen. Und jetzt verlangen die Teutomanen die Herstellung der flämischen Sprache, die selbst die Holländer nicht für voll anerkennen; die flämische Bewegung der Pfaffen! It is time1, daß die Flamander endlich eine Sprache haben statt 2, und das kann nur Französisch sein. Nach der Entdeckung Amerikas der Ackerbau, Industrie und Handel Deutschlands ein ewiges geduldiges Experimentieren - Ackerbau s. die vielen mißlungnen Versuche bei Langethal; Industrie überall und immer Sachen, die, kaum eingerichtet, wieder vom Weltmarkt verdrängt - größtes
Beispiel Leinen, im kleinen z.B. die Wuppertaler Industrie 1820-1860; Handel dito. Dies erst jetzt auf normalen Fuß gesetzt. Noch 1848 Hauptausfuhrartikel von Deutschland - Menschen. 1. die gewöhnliche Emigration; 2. die Prostitution: In Ostpreußen förmliche Etablissements höheren und niederen Rangs, worin Mädchen zu Huren jeder Gattung und fit for anything1 - vom Matrosenbordell bis zur jebildeten Kavaliermaitresse - ausgebildet und unter allerlei falschen Vorwänden ins Ausland geschickt wurden, wo die meisten erst ihr Schicksal erfuhren. Viele der gut Untergebrachten fanden sich darin und schrieben wohl gar der Maquerelle2 zärtliche Dankbriefe, worin ihre Hurenstellung stets verschwiegen, wo sie als Gouvernanten, Gesellschaftsdamen resp. als brillant verheiratet figurierten. Bergenroth war der Ansicht, daß dies alles nicht möglich war, ohne daß die Behörden - for a consideration?3 - ein Auge zudrückten, auch sei es bei gerichtlichen Untersuchungen stets sehr schwer gewesen, Faßbares in die Hand zu bekommen. Von Petersburg und Stockholm bis Antwerpen wurde die ganze Ost- und Nordseeküste mit Ostpreußinnen versorgt; 3. die Landgänger aus dem hessischen und nassauischen Vogelsberg, die in England als broomgirls4 auf den Messen herumzogen, ältere auch mit Drehorgeln, besonders aber als hurdy-gurdies5 nach Amerika verschifft und dort die allertiefste Schicht der Prostitution lieferten; 4. die jungen Kaufleute der Hanse und rheinischen Fabrikstädte, später auch Sachsens und Berlins, und 5. damals schon anfangend, später stark entwickelt, die Chemiker (Liebigsche Schule in Gießen), neben den Huren Hauptexport des Großherzogtums Hessen; Hollandgänger aus Westfalen - jetzt häufig die holländischen Arbeiter in den westfälischen Industriebezirken.
Geschrieben Ende 1873/Anfang 1874. Nach der Handschrift.
1 passend für alles - 2 Kupplerin - 3 für eine Gegenleistung? - 4 junge Mädchen, die nach England kamen und mit Gesang Besen zum Verkauf anboten - 5 junge Mädchen, die in New York als Tanzmädchen in öffentlichen Lokalen auftraten

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