KARL MARX FRIEDRICH ENGELS BAND 11

KARL MARX • FRIEDRICH ENGELS
WERKE • BAND 11
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS
WERKE
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DIETZ VERLAG BERLIN
1978
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
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KARLMARX
FRIEDRICH ENGELS
BAND 11
DIETZ VERLAG BERLl N
1978
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Die deutsche Ausgabe der Werke von Marx und Engels fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten zweiten russischen Ausgabe.
Die Texte werden nach den Handschriften bzw. nach den zu Lebzeiten von Marx und Engels erfolgten Veröffentlichungen wiedergegeben.
© Dietz Verlag Berlin 1961
Vorwort
Der elfte Band der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels enthält Artikel und Korrespondenzen aus der Zeit von Ende Januar 1855 bis April 1856.. Der größte Teil dieser Aufsätze erschien in der bürgerlich-demokratischen „Neuen Oder-Zeitung", deren Mitarbeiter Marx Ende Dezember 1854 geworden war. Gleichzeitig sandte Marx weiterhin Artikel an die damals fortschrittliche amerikanische Zeitung „New-York Daily Tribüne". Einzelne seiner Aufsätze erschienen wie in den vorangegangenen Jahren in dem Organ der Chartisten „The People's Paper", das ab Mai 1852 von Ernest Jones redigiert wurde. Unter den Bedingungen der politischen Reaktion und bei dem fast völli* gen Fehlen einer proletarischen und revolutionär-demokratischen Presse hielten es Marx und Engels für notwendig, fortschrittliche bürgerliche Zeitungen auszunutzen, um zu den Massen zu sprechen, die öffentliche Meinung im Interesse des Proletariats zu beeinflussen und die reaktionären Kräfte zu bekämpfen. Die Mitarbeit an der „Neuen Oder-Zeitung" bot Marx die Möglichkeit, eine engere Verbindung mit Deutschland zu unterhalten und dem deutschen Leser wichtige Probleme der Weltpolitik, der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Lage in den kapitalistischen Ländern, vor allem in England und Frankreich, sowie Probleme der proletarischen und der bürgerlich-demokratischen Bewegung darzulegen. Da die Arbeit für die „Neue Oder-Zeitung" und die „New-York Daily Tribüne" Marx viel Zeit kostete und ihn von der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der politischen Ökonomie, der die Begründer des Marxismus erstrangige Bedeutung beimaßen, abzuhalten drohte, bat Marx Engels, einen Teil der Artikel für die „Tribüne" zu schreiben. Zu den von Engels geschriebenen Artikeln gehören hauptsächlich die militärischen Übersichten, die Marx zu einem großen Teil ins Deutsche übersetzte und an die „Neue Oder-' Zeitung" schickte. Marx berücksichtigte die Besonderheiten der Korrespon
denz für Deutschland und gab in einzelnen Fällen den Inhalt der militärischen Artikel von Engels mit eigenen Worten wieder oder nahm an ihnen einige Änderungen und Kürzungen vor und ergänzte sie manchmal auch durch eigene Übersichten über Parlamentsdebatten und internationale Ereignisse. Solche Artikel, die im Grunde das Arbeitsergebnis zweier Verfasser sind, demonstrieren die schöpferische Zusammenarbeit der Begründer des Marxismus. Die publizistische Arbeit von Marx und Engels, die einen sehr wichtigen Bestandteil des revolutionären Wirkens der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus in den 50er Jahren darstellt, war unlösbar mit ihren theoretischen Studien sowie mit der weiteren Ausarbeitung der revolutionären Theorie des Proletariats verbunden. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiete der politischen Ökonomie studierte Marx damals Probleme der Außenpolitik und der Diplomatie der europäischen Staaten. Engels befaßte sich weiterhin mit den Militärwissenschaften, vor al lern mit der Geschichte der Kriegskunst, studierte die Geschichte der slawischen Völker und beschäftigte sich mit der Sprachwissenschaft. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen von Marx und Engels fanden zum Teil ihre Widerspiegelung in ihren Artikeln und Korrespondenzen. Gleichzeitig sammelten die Begründer des Marxismus bei ihrer journalistischen Arbeit neues Tatsachenmaterial, das sie später in ihren wissenschaftlichen Arbeiten verwerteten. So verwendete Marx später im „Kapital" einige Materialien über die Bodenverhältnisse in Irland und Berichte der Fabrikinspektoren, die in Artikeln für die „Neue Oder-Zeitung" angeführt werden. Die revolutionäre Publizistik der Begründer des Marxismus war für die internationale proletarische und demokratische Bewegung der 50er Jahre von großer Bedeutung. Obwohl die revolutionäre Propaganda in der „Neuen Oder-Zeitung" durch die preußische Reaktion erschwert war und es mit den Redakteuren der „New-York Daily Tribüne" in vielen Fragen Differenzen gab, gelang es Marx und Engels dennoch, in ihren Beiträgen die revolutionäre proletarische Linie durchzusetzen. Sie entlarvten die reaktionären Zustände in den europäischen Ländern, zeigten die Geschwüre der kapitalistischen Ordnung und kritisierten mit aller Schärfe die von den herrschenden Klassen zur ideologischen Verteidigung ihrer Ordnung verbreiteten reaktionären Theorien. Marx und Engels begründeten in ihren Artikeln die Taktik des Proletariats in den wichtigsten Fragen der Innen- und Außenpolitik der europäischen Staaten. Sie wandten bei der Untersuchung der Tagesereignisse die Methode des dialektischen und historischen Materialismus an und zeigten an Hand konkreter Beispiele das Wirken der von ihnen
entdeckten Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung; sie führen fort, ihre materialistische Gesellschaftslehre, ihre Theorie des Klassenkampfes zu konkretisieren und weiterzuentwickeln. Von den zahlreichen in dem vorliegenden Band behandelten Problemen schenken Marx und Engels die größte Aufmerksamkeit den internationalen Beziehungen und dem Krimkrieg, der zu jener Zeit in sein Endstadium eingetreten war. Die hier aufgenommenen Arbeiten über diese Themen bilden inhaltlich eine Fortsetzung ihrer in Band 9 und 10 der Werke veröffentlichten Artikel zur orientalischen Frage. Eine große Anzahl von Artikeln bringen Darlegungen über die ökonomische und innenpolitische Lage der europäischen Länder, vor allem Englands, sowie über die englische Arbeiterbewegung. Die Begründer des Marxismus untersuchten alle diese Probleme und beurteilten die historischen Ereignisse als proletarische Revolutionäre, wobei sie vor allem die Perspektive eines neuen Aufschwungs der bürgerlich-demokratischen und der proletarischen Bewegung in Europa berücksichtigten. Bei der Festlegung der taktischen Linie des Proletariats während des Krimkrieges gingen sie, wie W.I.Lenin aufzeigte, von den objektiven Bedingungen der Zeit von 1789-1871 aus, für die bezeichnend war, daß der Kampf zwischen Kapitalismus und Feudalismus noch nicht seinen Abschluß gefunden hatte. In den meisten Ländern Europas blieben auch nach der Revolution von 1848/49 die Hauptaufgaben der bürgerlichen Revolution ungelöst; auf der Tagesordnung stand „die Beseitigung des Absolutismus und des Feudalismus, ihre Untergrabung, die Abwerfung eines national fremden Jochs" (W. I. Lenin, Werke, Band 21, S. 300). Marx und Engels sahen in der konsequenten revolutionären Verwirklichung der bürgerlich-demokratischen Umgestaltungen in Europa die notwendige Voraussetzung für eine siegreiche proletarische Revolution. Ihre damalige Taktik, die durch dieselben grundlegenden Aufgaben bestimmt wurde, vor denen die proletarischen Revolutionäre auch in der Revolution von 1848/49 gestanden hatten, setzte im Grunde - in neuen Formen entsprechend den veränderten historischen Verhältnissen - die revolutionäre Taktik der „Neuen Rheinischen Zeitung" von 1848/49 fort. In den Artikeln „Die Krise in England", „Die Aussichten in Frankreich und England" und in anderen orientierten Marx und Engels die Arbeiterklasse sowie die Vertreter der revolutionären Demokratie darauf, den internationalen Konflikt, den Krimkrieg, zur Entfachung einer gegen die bestehenden konterrevolutionären Regimes gerichteten europäischen Revolution auszunutzen. Sie unterstrichen, daß die Arbeiterklasse daran interessiert sei, den
von den herrschenden Klassen mit volksfeindlichen Zielen begonnenen Krimkrieg zum Anlaß großer revolutionärer Ereignisse werden zu lassen. Marx hoffte, daß diese Ereignisse „die proletarische Klasse in den Stand setzen werden, jene Stellung wieder einzunehmen, die sie durch die Junischlacht 1848 in Frankreich verlor. Und das gilt nicht allein für Frankreich, sondernauch für das ganze Mitteleuropa, einschließlich England" (siehe vorl. Band, S. 128). Große Hoffnungen setzten die Begründer des Marxismus auf die revolutionäre Initiative des französischen Proletariats. In dem Artikel „Das Schicksal des großen Abenteurers" spricht Engels von der Möglichkeit einer „vierten und größten französischen Revolution" und schreibt, daß eine solche Revolution revolutionäre Erschütterungen auf dem ganzen europäischen Kontinent hervorrufen könne. „Deutsche, Ungarn, Polen, Italiener und Kroaten werden die aufgezwungenen Bande, die sie zusammenketten, von sich werfen, und an Stelle der unbestimmten und zufälligen Bündnisse und Antagonismen von heute wird Europa wieder in zwei große Lager mit verschiedenen Bannern und neuen Zielen geteilt sein. Dann wird der Kampf allein zwischen der demokratischen Revolution auf der einen und der monarchistischen Konterrevolution auf der anderen Seite geführt werden" (siehe vorl. Band, S. 127). Wie 1848/49 sahen Marx und Engels in der zaristischen Selbstherrschaft die Hauptsäule der feudalistisch-absolutistischen Reaktion Europas. Sie zeigten in einer Reihe von Artikeln die Leibeigenschaftsverhältnisse im: zaristischen Rußland auf, entlarvten die Eroberungspläne des Zarismus sowie die Tätigkeit der zaristischen Diplomatie und legten die Rolle dar, die der Zarismus als Gendarm zusammen mit anderen konterrevolutionären Kräften Europas bei der Unterdrückung der revolutionären Bewegungen spielte. Marx und Engels traten entschieden gegen die Bestrebungen der herrschenden Klassen der europäischen Mächte auf, den Zarismus als Instrument zur Bekämpfung der Revolution zu erhalten und auszunutzen. In der Zerschlagung des Zarismus und in der Ausschaltung seines reaktionären Einflusses auf Europa sahen Marx und Engels die wichtigste Voraussetzung für eine siegreiche europäische Revolution. In den Artikeln „Deutschland und der Panslawismus" enthüllt Engels den konterrevolutionären Charakter der Versuche der zaristischen Selbstherrschaft, die nationalen Bewegungen der slawischen Völker Mittel- und Südeuropas für ihre Ziele auszunutzen, sowie das Bestreben des Zarismus, den Appell zur Vereinigung der Slawen in ein Mittel seiner Eroberungspolitik zu verwandeln. Engels hebt im Zusammenhang mit seiner Darlegung des reaktionären Wesens der panslawistischen Ideen hervor, daß die monarchistischen
Elemente der nationalen Bewegung einer Reihe von slawischen Völkern 1848/49 mit diesen Ideen objektiv den Kampf der reaktionären Monarchie der Habsburger gegen die Revolution in Deutschland und Ungarn unterstützt hatten. Marx und Engels traten entschieden gegen jegliche nationalistische Ideologie auf, welche Form sie auch immer annehmen mochte. Sie hoben hervor, daß die Ideologie des Pangermanismus, des Panslawismus usw. die nationale Zwietracht zwischen den Völkern schürt und den Interessen einer demokratischen Entwicklung, der nationalen und sozialen Befreiung aller Völker, auch der slawischen, zutiefst widerspricht. Engels unterstützte die Forderung, den Südslawen und den Polen die Unabhängigkeit zu gewähren, dehnte jedoch diese Forderung nicht aus auf die unterdrückten slawischen Völker (die Tschechen, Slowaken u.a.), die auf dem Territorium der damaligen österreichischen Monarchie lebten. In den Artikeln „Deutschland und der Panslawismus" spricht er von diesen Völkern und ihrer Zukunft, wobei er von der schon in seinen Schriften „Der demokratische Panslawismus" (siehe Band 6 unserer Ausgabe, S.270-286) und „Revolution und Konterrevolution in Deutschland" (siehe Band 8 unserer Ausgabe, S. 3-108) aufgestellten irrigen These ausgeht, diese Völker hätten die Fähigkeit zu selbständiger nationaler Existenz verloren und seien dazu verurteilt, von den stärkeren Nachbarn absorbiert zu werden (Ausführlicheres hierüber im Vorwort zu Band 6 und 8). Diese Folgerung erklärt sich hauptsächlich daraus, daß Engels die Zentralisierung, die Bildung großer Staaten und die Absorbierung der kleinen Völker durch große Nationen für die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Entwicklung hielt und nicht in genügendem Maße die andere Tendenz in Betracht zog, nämlich den Kampf der kleinen Völker gegen die nationale Unterdrückung, ihr Streben nach nationaler Unabhängigkeit. Die Erfahrung der Geschichte hat gezeigt, daß die slawischen Völker, die einst zur österreichischen Monarchie gehörten, nicht nur die Fähigkeit zu selbständiger nationaler Entwicklung, zur Bildung eigener Staaten bewiesen haben, sondern zusammen mit den anderen Völkern des sozialistischen Lagers zu Schöpfern einer neuen, der sozialistischen Gesellschaftsordnung geworden sind. Marx und Engels verteidigten die Notwendigkeit eines revolutionären Krieges gegen den Zarismus zur demokratischen Umgestaltung Europas, zur Befreiung der unterdrückten Völker, zur revolutionär-demokratischen Einigung sowohl Deutschlands als auch Italiens und entlarvten deshalb die Politik der herrschenden Klassen Englands und Frankreichs, die einen aggressiven Krieg entfesselt hatten, um die monarchistischen und bürgerlich-oligarchischen Regimes in Europa zu festigen.
In vielen Artikeln zeigen Marx und Engels auf Grund einer sorgfältigen Untersuchung der historischen Tatsachen, der diplomatischen Urkunden, insbesondere der Protokolle der Wiener Konferenz von 1855, der Parlamentsdebatten usw„ die Ursachen des Ausbruchs und den wirklichen Charakter des Krimkrieges. Sie entlarven die heuchlerischen Erklärungen der Staatsmänner und der offiziellen westeuropäischen Presse, die den Krieg Englands und Frankreichs gegen Rußland als einen Krieg hinstellten, der die Unabhängigkeit der Türkei „verteidigen" soll, gegen den „Despotismus" gerichtet sei und für die „Freiheit" und die „Zivilisation" geführt werde. Marx und Engels weisen in ihren Artikeln nach, daß der Krimkrieg vor allem durch das Aufeinanderprallen der wirtschaftlichen und militärischen Interessen der Teilnehmerstaaten ausbrach und sein Charakter durch die eigennützige Politik der herrschenden Klassen dieser Staaten bestimmt wurde. Marx und Engels deckten die Gegensätze zwischen den europäischen Mächten im Nahen Osten auf und zeigten ihren Kampf um die Aufteilung der Besitzungen des Türkischen Reiches, um die Herrschaft auf dem Balkan und über die Dardanellen und ihren Konkurrenzkampf in Mittelasien. In „Palmerston-Physiologie der herrschenden Klassen Großbritanniens" und in anderen Artikeln legt Marx die Politik der Westmächte gegenüber der mit ihnen „verbündeten" Türkei dar. Er deckt die räuberischen Methoden zur kolonialen Versklavung der rückständigen Türkei durch die europäischen Mächte auf, insbesondere wie mit den Mitteln einer Anleihe die Türkei „unter den für ein Land entwürdigendsten Bedingungen unter Kuratel gestellt" wird. Nachdem „die Westmächte sich des auswärtigen Ministeriums zu Konstantinopel und ... auch des Ministeriums des Innern bemächtigt haben" und über ihre Armee verfügen, sagt Marx, „strecken sie jetzt die Hand nach den türkischen Finanzen aus" (siehe vorl. Band, S. 376). In dem Artikel „Eine sonderbare Politik" sowie in einer Reihe anderer Arbeiten zeigt Marx die wirklichen politischen Ziele auf, die die herrschenden Klassen Englands und Frankreichs im Krimkrieg verfolgten. Marx und Engels sahen deutlich, daß das bürgerliche oligarchische England und das bonapartistische Frankreich, die Rußland als Konkurrenten im Nahen und Mittleren Osten beseitigen, Sewastopol erobern, den Kaukasus von Rußland losreißen, die russische Flotte vernichten und so die militärische Macht Rußlands schwächen wollten, durchaus nicht an dem Sturz des Zarismus als konterrevolutionäre Kraft interessiert waren. Die Westmächte waren keineswegs bestrebt, das reaktionäre, auf die Unterdrückung der revolutionären und nationalen Befreiungsbewegungen gerichtete politische System in Europa zu erschüttern, für das schon der Wiener Kongreß von 1815 den Grundstein ge
legt hatte und dessen eine Säule der russische Zarismus war. Im Gegenteil, die Pläne der regierenden Kreise der Westmächte sahen die Festigung dieses Systems vor. Der Krimkrieg, so betonte Marx bei der Bloßstellung der konterrevolutionären Pläne der herrschenden Cliquen Frankreichs und Englands, wurde „nicht mit dem Ziel unternommen, den Wiener Vertrag aufzuheben; er wird vielmehr geführt, ihn durch die zusätzliche Einbeziehung der Türkei in das Protokoll von 1815 zu konsolidieren. Davon erhofft man, daß das konservative Tausendjährige Reich anbrechen und die vereinigte Anstrengung der Regierungen es erlauben wird, sich ausschließlich der »Beruhigung* der europäischen Meinung zu widmen" (siehe vorl. Band, S. 306). In den Artikeln „Aus dem Parlamente - Debatte über Disraelis Antrag", „Napoleons Kriegspläne", „Zur Debatte über Layards Antrag - Der Krieg in der Krim", „Der lokale Krieg - Debatte der Administrativreform Bericht des Roebuck-Komitees" und in anderen führen Marx und Engels den Nachweis, daß die herrschenden Kreise Englands und Frankreichs das Hinüberwachsen des orientalischen Konflikts in einen allgemeinen revolutionären Brand auf dem Kontinent befürchteten, und dieser Umstand beeinflußte in entscheidender Weise die Diplomatie, die militärischen Pläne und die Methoden der Kriegführung. Marx und Engels hoben hervor, daß die herrschenden Kreise der Westmächte chauvinistische Stimmungen in Frankreich und England schürten und zugleich ihre Anstrengungen darauf richteten, den Krieg zu lokalisieren, nicht zuzulassen, daß er zu einem Krieg der europäischen Völker gegen den Zarismus und die anderen konterrevolutionären Kräfte würde. Marx und Engels kritisierten scharf den von der Regierung Frankreichs aufgestellten und von der englischen Regierung unterstützten Plan eines „lokalen Krieges um lokale Ziele". Dabei zeigten sie, wie dieser Plan die Furcht der bonapartistischen Clique und der englischen Oligarchie vor den revolutionären Folgen eines gesamteuropäischen Krieges gegen das zaristische Rußland zum Ausdruck brachte und daß er von konterrevolutionären, dynastischen und ähnlichen Überlegungen der herrschenden Oberschicht Frankreichs und Englands diktiert war. Ohne die Entlarvung der Politik der herrschenden Klassen dieser Länder, ohne den entschiedenen Kampf gegen diese Politik, betonten Marx und Engels, war es unmöglich, zu erreichen, daß sich der Charakter des Krieges grundlegend änderte, daß er sich in einen Krieg für die demokratische Umgestaltung Europas verwandelte. Die Lösung dieser Aufgabe verbanden Marx und Engels vor allem mit der Aktivierung der proletarischen und revolutionär-demokratischen Kräfte. Marx schreibt, daß an Stelle der konterrevolutionären Regierungen
Englands und Frankreichs „andere Mächte auf den Schauplatz treten müssen" (siehe vorl. Band, S, 311). In einer Reihe von Artikeln zeigt Marx die geringe Festigkeit der gegen Rußland kriegführenden westeuropäischen Koalition und die Widersprüche zwischen den Alliierten, die sich im Verlaufe des Krieges ständig bemerkbar machten. In den Arbeiten über die englisch-französische Allianz deckt er die historischen Wurzeln der ökonomischen und politischen Konkurrenz der herrschenden Klassen Englands und Frankreichs auf, die immer wieder neue Konflikte zwischen ihnen erzeugte. Marx sah das Zusammenfallen eines neuen revolutionären Aufschwungs mit der nahenden Wirtschaftskrise, die alle Widersprüche verschärfen und den Klassenkampf verstärken mußte, und richtete deshalb sein besonderes Augenmerk auf das kapitalistische England, wo die Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat damals am weitesten entwickelt waren. In zahlreichen Artikeln behandelt Marx die wirtschaftliche und politische Lage Englands, die Innen- und Außenpolitik der herrschenden Klassen und regierenden politischen Parteien und enthüllt das volksfeindliche Wesen dieser Politik. Er verfolgt die Außenpolitik Englands über mehrere Jahrhunderte und legt in den Artikeln „Traditionelle englische Politik", „LordPalmerston", „Eine neue Enthüllung in England", „Polenmeeting" sowie in der Arbeit „Der Fall von Kars" und in verschiedenen anderen Artikeln dar, daß sich die Politik und die Diplomatie der herrschenden Klassen Englands ständig durch Verräterei, Heuchelei und Einmischung unter allerlei falschen Vorwänden in innere Angelegenheiten anderer Länder auszeichnete, daß England in vielen Konflikten, besonders im Nahen und Mittleren Osten, eine provokatorische Rolle spielte. Marx entlarvt an dem Verhalten Palmerstons, Russells und anderer Staatsmänner gegenüber Polen, Irland, Ungarn und Italien den konterrevolutionären Charakter der englischen Politik und zeigt, wie die herrschenden Klassen Englands die nationalen Befreiungsbewegungen haßten, diesen Haß aber gewöhnlich mit heuchlerischen Phrasen der Sympathie für die gegen den Despotismus kämpfenden Völker tarnten. In den Artikeln „Finanzielles", „Der kommerzielle und finanzielle Zustand", „Die Krise in England" und in anderen erörtert Marx die ökonomische Lage Englands und gibt eine Charakteristik des Zustandes der industriellen Produktion, deslnnen-und Außenhandels, der Marktpreise undderWährungskurse. Er verfolgt an Hand konkreter Beispiele das Wirken der von ihm entdeckten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, untersucht die Entwicklung des Zyklus der kapitalistischen Produktion in jener Periode und stellt fest, daß sich die kapitalistische Wirtschaft diskontinuierlich entwickelt.
Marx gelangt zu dem Schluß, daß die Periode der ökonomischen Prosperität, die nach der Revolution von 1848/49 eingetreten war, in einer Reihe von Industrie- und Handelszweigen Englands, vor allem in der Textilindustrie, von einer Periode des Stillstands abgelöst wurde. Den Ende 1853 und Anfang 1854 zutage getretenen wirtschaftlichen Rückgang stellt Marx auch für das Jahr 1855 fest. Dieser Rückgang äußerte sich, wie er in seinen Arbeiten zeigt, in der Einschränkung der Produktion einer Reihe von Industriewaren, in zunehmender Arbeitslosigkeit, im Übergang vieler Betriebe zur verkürzten Arbeitswoche, im Bankrott großer Handelsfirmen. Marx sagt voraus, daß England in naher Zukunft eine schwierigere Wirtschaftskrise durchzumachen haben würde als die vorher erlebten; die Krise würde sich dadurch verschärfen, daß die englische Wirtschaft vom Weltmarkt abhängig geworden ist. Die Voraussage von Marx bestätigte sich, als 1857 eine neue Wirtschaftskrise aus-* brach, die zum erstenmal in der Geschichte die ganze Welt erfaßte. Bei der Untersuchung der ökonomischen Lage Englands kritisiert Marx in seinen Artikeln scharf den englischen bürgerlichen Liberalismus in Gestalt der „Freihandelsaposter, die die Illusionen verbreiteten, die Wirtschaftskrisen würden mit der Einführung des Prinzips des Freihandels verschwinden. Marx zeigt, wie sich diese Illusionen zerschlagen, und daß die Behauptungen der Anhänger des Freihandels und anderer bürgerlicher Ökonomen, der Kapitalismus könne sich krisenfrei entwickeln, jeglicher Grundlage entbehren. Er kennzeichnet die Freihandels-Bourgeoisie und ihre Ideologen Cobden, Bright und die anderen Vertreter der sogenannten Manchesterschule als die Apologeten des Kapitalismus, als die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse. Marx reißt ihnen die Maske herunter, „Verfechter der Freiheit", „Verteidiger" der Interessen der Volksmassen gegenüber der Aristokratie zu sein. Die Vertreter des Freihandelssystems, schreibt er, sind einerseits gegen die Einmischung des Staates in das Wirtschaftsleben, betteln aber-andererseits um die Intervention des Parlaments und der Regierung jedesmal, wenn die Bewegung der Klasse der Lohnarbeiter die Ausbeuterordnung zu bedrohen beginnt. Marx geißelt sie in seinen Artikeln wegen ihrer Angriffe auf die Einrichtung der Fabrikinspektoren, wegen ihrer Versuche, die Gesetze über die Beschränkung der Arbeitszeit der Frauen und Kinder abzuschaffen. Bei der Entlarvung der Freihandelsmänner mit ihren verlogenen Behauptungen vom „Wohlergehen" der Werktätigen Englands zeichnet Marx an Hand der Berichte der Fabrikinspektoren ein erschütterndes Bild von der Ausbeutung der englischen Arbeitermassen, besonders der Frauen und Halbwüchsigen. Er zeigt die schweren Arbeitsbedingungen in den kapitalistischen Fabriken und stellt den fast völligen Mangel an Arbeitsschutz fest, wodurch
Gesundheit und Leben der Arbeiter ständig bedroht sind. „Das Industriebulletin der Fabrikinspektoren", schreibt Marx, „ist furchtbarer, entsetzlicher als irgendeins der Schlachtbulletins von der Krim. Weiber und Kinder stellen ein regelmäßiges und bedeutendes Kontingent zur Liste der Verwundeten und Getöten" (siehe vorl. Band, S. 378). Die Artikel von Marx verurteilen scharf die Haltung der Führer der Manchesterschule zum Krimkrieg. Sie zeigen den wahren Sinn der Reden von Cobden und Bright zur „Verteidigung des Friedens" und ihrer Losung „Frieden zu jedem Preis". „Die Manchesterschule will in der Tat den Frieden", betont Marx, „um industriell Krieg führen zu können, nach außen und nach innen" (siehe vorl. Band, S. 283). Die pseudofriedfertigen Phrasen der Anhänger des Freihandels tarnen die Eroberungsbestrebungen der englischen Bourgeoisie, ihren Kampf für die Herrschaft auf dem Weltmarkt. Die Artikel „Die letzte britische Regierung", „Das gestürzte Ministerium", „Zur Ministerkrise", „Zwei Krisen", „Die britische Konstitution", „Palmerston und die englische Oligarchie" vermitteln eine allseitige Charakteristik der politischen Ordnung Englands. „Die britische Konstitution", schreibt Marx und legt damit den volksfeindlichen Charakter des Regimes der bürgerlich-aristokratischen Oligarchie dar, „ist in der Tat nur ein verjährtes, überlebtes, veraltetes Kompromiß zwischen der nicht offiziell, aber faktisch in allen entscheidenden Sphären der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Bourgeoisie und der offiziell regierenden Grundaristokratie" (siehe vorl. Band, S. 95). Marx betont, daß eines der Haupthindernisse auf dem Wege der fortschrittlichen Entwicklung des Landes und eine der Säulen des oligarchischen Regimes die Tatsache war, daß die Aristokratie das Monopol der wichtigsten Staatsämter in ihren Händen behielt und dadurch auf die Außen- und Innenpolitik Englands den entscheidenden Einfluß ausüben konnte. Das oligarchische politische System, stellt Marx in vielen seiner Artikel fest, drückte dem politischen Gesamtleben des offiziellen Englands seinen Stempel auf, fand seinen Niederschlag in der Tätigkeit des Parlaments, in der Zusammensetzung und in der Politik der Regierungen, in der Organisation der staatlichen und militärischen Verwaltung, in der Stellung der wichtigsten politischen Parteien. Bei der Charakterisierung der Tätigkeit der englischen Regierungen - des Koalitionskabinetts Aberdeens und des Whig-Kabinetts Palmerstons, das im Februar 1855 jenes ablöste - weist Marx darauf hin, daß sich in ihrer Tätigkeit sämtliche Fehler des oligarchischen Regimes verkörpern und diese Regierungen den Zweck verfolgen, sämtliche fortschrittlichen Umgestaltungen, die das politische Monopol der Oberschicht der englischen herrschenden Klassen bedrohen, mit allen Mitteln zu hemmen.
Die Artikel «Erläuterungen zur Kabinettskrisis", „Die Parteien und Cliquen", „,Moming Post* gegen Preußen - Charakter der Wighs und Tories" und andere ergänzen wesentlich die von Marx in früheren Jahren gegebene klassische Charakteristik der englischen offiziellen Parteien, des traditionellen Zweiparteiensystems, das in der abwechselnden Übergabe der Macht bald an die konservativen Tories, bald an die liberalen Whigs bestand. Marx betont den starren Konservatismus der Tories, die eifrige Verfechter „aller altenglischen Vorurteile mit Bezug auf Kirche und Staat, Protektion und Antikatholizismus" waren (siehe vorl. Band, S. 218). Zugleich entlarvt er den vorgetäuschten Liberalismus der Whigs - dieser aristokratischen Vertreter der Bourgeoisie, die ebenso wie die Tories die Festigung des oligarchischen Regimes erstrebten, dabei aber eine größere Elastizität und Anpassungsfähigkeit an den Tag legten. Die Whigs, schreibt Marx, „haben nie angestanden, Vorurteile abzustreifen, die ihrer Erbpacht der Staatsstellen im Wege standen", sie wechselten „ihre Röcke und ihre Ansichten mit den Zeitumständen" (siehe vorl. Band, S. 218/219). Der Enthüllung der Politik der Whigs dient auch das Pamphlet „Lord John Russell", das sich gegen einen typischen Vertreter dieser, wie Marx sagt, „Partei der Karrieristen" richtete, gegen einen namhaften Staatsmann, der wiederholt führende Regierungsämter bekleidete. In diesem Pamphlet sowie in anderen Artikeln zeigt Marx, daß der Kampf der Tories und der Whigs nichts anderes als eine Zänkerei zwischen den beiden Fraktionen der herrschenden Klasse war, daß die Unterschiede in der Politik beider Parteien in dem Maße immer mehr verschwanden, wie sich die verschiedenen Fraktionen der Ausbeuter zusammenschlössen infolge der Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die heftigen Angriffe auf die Regierung von Seiten der einen oder anderen gerade in der Opposition stehenden Partei dienten lediglich dazu, die konkurrierende Partei von der Macht zu verdrängen. Marx zeigt den Mechanismus des englischen Zweiparteiensystems auf und bemerkt, daß die eine oder die andere Partei, zur Macht gekommen, den politischen Kurs ihrer Vorgängerin fortsetzte. Beide Parteien strengten sich in gleicher Weise an, das Monopol der Staatsmacht in den Händen der bürgerlich-aristokratischen Oberschicht zu erhalten. Marx unterstreicht in seinen Artikeln die tiefen Gegensätze im oligarchischen Regime Englands, den Widerspruch zwischen dem veralteten politischen System und der ökonomischen Entwicklung des Landes, die Entartung der traditionellen parlamentarischen Parteien. „Die alten mit dem Regierungsmonopol betrauten parlamentarischen Parteien", schreibt Marx, „existieren nur noch in der Form von Koterien" (siehe vorl. Band, S. 45\ Die Artikel
von Marx über das politische Regime Englands werfen ein helles Licht auf den Prozeß der Auflösung der alten aristokratischen Parteien und ihrer Verwandlung in eine konservative und eine liberale Partei der englischen Bourgeoisie, ein Prozeß, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England vor sich ging und den wachsenden Einfluß der Kapitalistenklasse, die Festigung ihrer Positionen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens widerspiegelte. In seinen Artikeln über England schenkt Marx der englischen Arbeiterklasse besonders große Aufmerksamkeit. In den Artikeln „Ein Meeting", „Zur Geschichte der Agitationen", „Die Aufregung außerhalb des Parlaments", „Zur Reformbewegung", „Die Administrativreform-Assoziation - Die Charte", „Kirchliche Agitation - Eine Demonstration im Hyde Park", „Konflikte zwischen Polizei und Volk - Uber die Ereignisse auf der Krim" und in vielen anderen erörtert Marx die damals wichtigsten Probleme der englischen Arbeiterbewegung. Er stellt in seinen Artikeln eine gewisse Belebung der politischen Aktivität des englischen Proletariats fest. Wenn er von dem gleichzeitig stärker werdenden Bestreben der Vertreter der bürgerlichen Opposition, einschließlich der oppositionellen Handels- und Finanzkreise der City, spricht, die englische Arbeiterklasse ihrem Einfluß zu unterwerfen, unterstreicht Marx stets die Bedeutung des Widerstandes, mit dem die Chartisten solchen Versuchen begegneten. In Artikeln von Marx werden die auf Massenkundgebungen gehaltenen Reden von Ernest Jones und der anderen Führer der Chartisten wiedergegeben, die das gemäßigte und inkonsequente Auftreten der bürgerlichen Opposition gegen die Oligarchie, ihre Furcht vor der Arbeiterbewegung, ihre Bereitschaft zu Kompromissen mit der Aristokratie hervorhoben und die Versuche der Führer der Bourgeoisie, die Arbeiterbewegung für ihre egoistischen Interessen auszunutzen, bloßstellten. Im Gegensatz zu der gemäßigten bürgerlichen Forderung nach einer Administrativreform, wonach den Vertretern der Bourgeoisie der Zugang zu den Staatsposten erweitert werden sollte, forderten die Chartisten eine umfassende demokratische Wahlreform auf der Grundlage der sechs Punkte der VolksCharte.Marx rechnet den Chartisten ihre Bemühungen hoch an, die Arbeiterklasse von dem Einfluß der Bourgeoisie zu befreien, ihre selbständigen Positionen zu verteidigen und ihre führende Rolle im Kampf für die Demokratisierung der politischen Ordnung Englands zu sichern. Von großem Interesse ist der inhaltsreiche Artikel von Marx „Die Administrativreform-Assoziation - Die Charte". Marx zeigt darin die historische Bedeutung des politischen Programms der Chartisten, in dessen Mittelpunkt die Forderung des allgemeinen Wahlrechts stand. Marx hebt hervor, daß die Verwirklichung dieses Programms in dem England der 50er Jahre der Arbeiter
klasse den Weg zur Besitzergreifung der Staatsmacht und zu ihrer Ausnutzung für sozialistische Umgestaltungen hätte eröffnen können. „Es ist die Charte der Volksklassen", schreibt Marx, „und bedeutet Aneignung der politischen Macht als Mittel zur Verwirklichung ihrer sozialen Bedürfnisse" (siehe vorl. Band, S. 269). Dieser Artikel zeugt davon, daß Marx und Engels stets forderten, konkret und historisch an die Aufstellung politischer Losungen heranzugehen, auch an die Losung des allgemeinen Wahlrechts, deren Inhalt und Bedeutung, wie sie lehrten, sich in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen ändert. Wenn in Frankreich und überhaupt auf dem Kontinent der Inhalt der Losung des allgemeinen Wahlrechts nicht über den Rahmen der bürgerlich-demokratischen Forderungen hinausging, so nahm unter den englischen Bedingungen diese Forderung neben anderen Punkten des Chartistenprogramms einen anderen Charakter an. Marx und Engels, die in der gewaltsamen Revolution das einzig mögliche Mittel zur Errichtung der Diktatur des Proletariats in den Ländern des Kontinents sahen, machten unter den damaligen Verhältnissen für England eine Ausnahme. Sie berücksichtigten solche Besonderheiten Englands im Gegensatz zu Frankreich und den anderen Ländern des.Kontinents, wie das Fehlen eines entfalteten militärischbürokratischen Staatsapparats, sowie den Umstand, daß das Proletariat die Mehrheit der englischen Bevölkerung ausmachte. Infolgedessen sahen Marx und Engels für die englische Arbeiterklasse die Möglichkeit, auf friedlichem Wege die politische Macht zu erobern durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, durch eine radikale Umgestaltung des parlamentarischen Systems und durch eine vollständige Demokratisierung der gesamten politischen Ordnung in England. Von dieser Perspektive ausgehend bewerteten Marx und Engels die chartistische Losung des allgemeinen Wahlrechts, wobei sie jedoch die Möglichkeit anderer, nicht friedlicher Wege des Kampfes des englischen Proletariats um die Macht in Betracht zogen. Die Hauptbedingung für den Sieg des englischen Proletariats sahen Marx und Engels in der Hebung seines politischen Bewußtseins, in der Bildung einer proletarischen Massenpartei. Aber die Hoffnungen von Marx und Engels, daß' der Kampf für die Wiederbelebung der Chartistenbewegung zur Lösung dieser Aufgabe führen würde, gingen nicht in Erfüllung. Der Versuch der Chartisten, in den 50er Jahren eine Massenbewegung für die Charte ins Leben zu rufen, mißglückte. Die Chartistenbewegung selbst trat bald endgültig vom Schauplatz. Die Ursache dafür war die Verstärkung der opportunistischen Tendenzen unter den englischen Arbeitern infolge der Monopolstellung Englands auf dem Weltmarkt und der Bestechung der Oberschicht des englischen Proletariats - der
JI Marx/Engels, Werke, Bd. 11
„Arbeiteraristokratie" - mit Hilfe der ungeheuren Extraprofite, die der Bourgeoisie aus den Kolonien zuflössen. Eine größere Anzahl von Artikeln beleuchtet die Innen- und Außenpolitik Frankreichs zur Zeit des Krimkrieges. In den Arbeiten „Das Schicksal des großen Abenteurers", „Napoleons Kriegspläne", „Der lokale Krieg - Debatte der Administrativreform - Bericht des Roebuck-Komitees usw." sowie in dem Artikel „Napoleons letzter Schwindel" und in anderen enthüllen Marx und Engels die wahren Kriegsziele des bonapartistischen Frankreichs. Engels betont, daß dieses bonapartistische Frankreich einer der Hauptinitiatoren war, die den Krimkrieg entfesselten; er enthüllt die Pläne Napoleons III. und hebt hervor, daß Kriegsabenteuer nicht von der bonapartistischen Politik zu trennen seien, daß Eroberungen und Aggressionen zu den Prinzipien gehören, auf denen die politische Herrschaft der bonapartistischen Clique und selbst die Erhaltung der Dynastie Bonapartes an der Macht beruhen. „Für Louis Bonaparte", schreibt Engels, „ist die Unmöglichkeit, Sewastopol zu nehmen, der Verlust Frankreichs" (siehe vorl. Band, S. 149). Marx und Engels entlarven das bonapartistische Regime als ein Regime der Militärund Polizeidiktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie und geben in ihren Artikeln eine geißelnde Charakteristik der Spitzen des bonapartistischen Frankreichs: des Kaisers Napoleon III., eines unverfrorenen Usurpators und Abenteurers, und seiner nächsten Spießgesellen - des Marschalls SaintArnaud,derGeneraleEspinasse,Forey, Canrobert und der anderen korrupten und habgierigen Karrieristen, die sich auf den Schlachtfeldern durch Stümperhaftigkeit und bei der Unterdrückung der revolutionären Bewegung durch bestialische Grausamkeit auszeichneten. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten Marx und Engels die innenpolitische Lage in Frankreich. In den Artikeln „Die Berichte der Generale Simpson,Pelissier und Niel - Mitteilungen aus Frankreich", „Die französische Bank - Verstärkungen nach der Krim - Die neuen Feldmarschalle", „Der anglo-amerikanische Konflikt - Vorgänge in Frankreich" berichten sie von einer Verschärfung der politischen Lage im Lande unter dem Einfluß der zunehmenden Teuerung und anderer ökonomischer Schwierigkeiten und des großen Ausmaßes des Spekulationsfiebers usw. Die Anzeichen der Unzufriedenheit der Volksmassen, Erscheinungen revolutionärer Stimmungen in der Arbeiterklasse, unter den Studenten, einem gewissen Teil der Bourgeoisie und sogar in der Armee, die bis dahin eine Stütze des bonapartistischen Regimes war - all das zeugte von der fehlenden Festigkeit des Zweiten Kaiserreichs, war ein Beweis dafür, daß, wie Marx schreibt, „die Epoche des Bonapartismus ihren Höhepunkt überschritten hat" (siehe vorl. Band, S. 593). ,
Ein glänzendes Pamphlet gegen den Bonapartismus ist der Artikel „Das Frankreich Bonapartes des Kleinen", den Marx in „The People's Paper" veröffentlichte. Dieser Artikel ist ein hervorragendes Musterbeispiel der kämpferischen revolutionären Publizistik von Marx. Darin wird das volksfeindliche Wesen des Zweiten Kaiserreichs treffend und anschaulich bloßgestellt. Marx zeigte den Lesern der englischen Arbeiterzeitung den großen Gegensatz zwischen dem offiziellen bonapartistischen Frankreich, das die nationalen Reichtümer des Landes räuberisch verpraßte, und dem Frankreich der Volksmassen, denen die Herrschaft der bonapartistischen Clique nur Not und Elend, Verfolgungen durch die Polizei und blutige Repressalien gebracht hatte. Im Schöße dieses Frankreichs des Volkes, so betont Marx, reife die revolutionäre Gärung gegen das Regime Louis Bonapartes, zeigen sich Symptome, die den „Untergang des Kaiserreichs des Wechselwuchers" verkünden (siehe vorl. Band, S. 599). In den Artikeln dieser Periode wird von Marx und Engels die Darstellung der Haltung Österreichs im Krimkrieg fortgesetzt. Marx und Engels, die die Maßnahmen der österreichischen Regierung im Verlaufe des Krieges, den um die Frage der Stellung Österreichs entbrannten Kampf zwischen der englisch-französischen und der russischen Diplomatie verfolgten und auch die Lage im Innern der österreichischen Monarchie untersuchten, enthüllten die Ursachen der schwankenden Politik der Habsburger-Monarchie zur Zeit der orientalischen Krise. Als ein Staat, der aus vielen Nationen zusammengesetzt war und der auf der Unterdrückung der ihm angehörigen Völker und auf der Schürung der nationalen Zwietracht zwischen ihnen basierte, barg die reaktionäre Österreichische Monarchie, wie Marx und Engels bemerken, viel Zündstoff in sich. Die österreichische herrschende Clique fürchtete die Revolution und brauchte deshalb den Zarismus als Stütze für den Fall eines neuen Ausbruchs revolutionärer Unruhen. Österreich verfolgte aber zugleich Eroberungsziele auf dem Balkan, erhob Anspruch auf die türkischen Besitzungen in Europa, war also an einer Schwächung Rußlands interessiert; es konzentrierte deshalb starke Armee-Einheiten an der Donau, schloß einen Vertrag mit den Westmächten, verhandelte mit ihnen über eine Finanzhilfe. Zerrissen von widersprüchlichen Tendenzen, bezog Österreich gegenüber Rußland eine feindliche Stellung, wagte es jedoch bis zum Ende des Krieges nicht, offen gegen Rußland aufzutreten. Eine wichtige Rolle bei diesen Schwankungen der österreichischen Regierung, so bemerken Marx und Engels, spielte ihre Befürchtung, daß sich im Falle einer Kriegserklärung an Rußland unter den von der Habsburger-Monarchie unterdrückten slawischen Völkern eine Befreiungsbewegung entfalten könnte.
In Verbindung mit der Untersuchung der Stellung Österreichs behandelt Marx auch die Politik Preußens. Er ist der Ansicht, daß die von den preußischen herrschenden Kreisen verkündete Neutralität ebenfalls diktiert war von der Furcht vor revolutionären Folgen einer Verlagerung der Kriegshandlungen gegen das zaristische Rußland nach Mitteleuropa. Der Eintritt Preußens in den Krieg hätte den Anstoß zur Entfaltung des Kampfes für die nationale Vereinigung Deutschlands auf revolutionär-demokratischem Wege geben können, was die preußische und die österreichische Monarchie in ihrer Existenz selbst bedroht hätte. In dem Artikel „Preußen im Jahre 1856" vermerkt Marx bei der Charakterisierung der ökonomischen und politischen Lage des Landes das schnelle Anwachsen der Industrie und des Handels und die damit verbundene unerhörte Bereicherung der besitzenden Klassen Preußens - der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. In bezug auf letztere betont Marx noch einmal den von ihm und Engels schon 1848/49 ausgesprochenen Gedanken von der Unfähigkeit der deutschen Bourgeoisie, im Kampf für die Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution die führende Rolle zu übernehmen. Marx stellt das reaktionäre Wesen der politischen Ordnung der preußischen Monarchie bloß, deren Wesenszug Allmacht der Bürokratie, Mangel an jeglichen demokratischen Freiheiten, Rechtlosigkeit der Mehrzahl der Bevölkerung war. Marx beschreibt die schwere Lage der preußischen Bauernschaft, die „nach wie vor sowohl in administrativer wie auch in rechtlicher Beziehung unter dem direkten Joch des Adels" steht (siehe vorl. Band, S. 640). Einen beträchtlichen Platz im Band nehmen die Artikel ein, in denen Engels den Verlauf der Kriegshandlungen auf der Krim und im Kaukasus, das Kräfteverhältnis der kriegführenden Parteien sowie die einzelnen Kampfhandlungen untersucht. Diese militärischen Übersichten sind von großem Interesse für die Wissenschaft der Kriegsgeschichte. Sie erlauben, die wichtigsten Etappen des Krimkrieges zu verfolgen, enthalten wertvolle Schlußfolgerungen und Leitsätze zur Geschichte der Kriegskunst, zu Fragen der militärischen Strategie und Taktik, verallgemeinern die Er~ fahrungen der damaligen Kriege auf der Grundlage des historischen Materialismus. In einer Reihe von Artikeln kritisiert Engels die englisch-französische Truppenführung, ihre Strategie und die operative Leitung der Kriegshandlungen durch die Vertreter der Westmächte. Engels verweist auf die Fehlschlüsse und Fehlschläge der Truppenführung der Alliierten, auf das Fehlen umfassender strategischer Pläne und von Initiative, auf die von ihnen an den Tag gelegte Mittelmäßigkeit und auf die Folgen der Routine und schreibt, daß
die Methoden der englischen und französischen Kriegführung, die sich durch viele Fehler auszeichnen, völlig den egoistischen, volksfeindlichen Zielen entsprachen , die die herrschenden Cliquen dieser Länder im Kriege verfolgten. In den Artikeln „Der Kampf auf der Krim", „Das Untersuchungskomitee und seine Arbeit", „Die britische Armee", „Züchtigung der Soldaten" und in anderen zeigen Marx und Engels den Konservatismus des englischen Militärsystems und in der Organisation der englischen Armee, das niedrige Niveau der theoretischen und militärischen Ausbildung der englischen Offiziere, die Talentlosigkeit der Heeresleitung und der Leiter der Intendantur, die es trotz relativ günstiger Bedingungen nicht fertigbrachten, die englische Armee zu bewaffnen und auszurüsten. Eine Charakteristik der konterrevolutionären Zustände, die von den bonapartistischen Kreisen in der französischen Armee hergestellt worden waren, sowie der Mittelmäßigkeit einer Reihe von Militärs des Zweiten Kaiserreichs ist in den obenerwähnten Artikeln von Marx und Engels zur Entlarvung des Bonapartismus enthalten. Die überwiegende Mehrzahl der militärischen Übersichten von Engels behandelt die Belagerung und die Verteidigung Sewastopols. Die heldenhafte elfmonatige Epopöe der Verteidigung dieser Stadt durch russische Truppen, die die Blicke der ganzen Welt auf sich zog, stand natürlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Marx und Engels. Engels faßte die Belagerung und die Verteidigung Sewastopols als eine neue Etappe des Krimfeldzugs auf und untersuchte eingehend die von den englischen und französischen Truppen angewandten Methoden der Belagerung und der Verteidigung von Sewastopol durch die Russen. In bezug auf die Erfahrungen der Sewastopoler Kampagne machte Engels wichtige Verallgemeinerungen über die Bedeutung der Festungen im damaligen Krieg sowie über das Zusammenwirken von Feldtruppen und Festungen. In den Artikeln „Die Affäre vom 23.März", „Eine Schlacht bei Sewastopol" und in anderen analysiert Engels die Belagerungsmethoden der Alliierten. Er schreibt: „Es ist unmöglich, seit der Belagerung vonTroja, in den Annalen des Kriegs eine Belagerung aufzuweisen, so zusammenhanglos, ideenlos und ruhmlos wie die Belagerung von Sewastopol" (siehe vorl. Band, S. 192). Im Bau von Befestigungsanlagen, betont Engels, waren die Russen den Engländern und Franzosen bei weitem überlegen. Engels schätzt die Organisation der Verteidigung von Sewastopol sowie die militärtechnische Kunst der Verteidiger hoch ein und hebt den Heldenmut und die Tapferkeit der Verteidiger der russischen Festung hervor. In den Artikeln „Der Verlauf des Krieges", „Aus Sewastopol" und in anderen stellt Engels den Alliierten das hohe Können der Militäringenieure der Sewastopoler Garnison, darunter
des Chefs des Ingenieurwesens Todtieben, als Beispiel hin sowie ihre Fähigkeit, sich in der jeweiligen Lage genau und rasch zu orientieren, kundig die Feuerlinie anzuordnen und die Verteidigungsarbeiten zu organisieren. Die Errichtung neuer Befestigungen während der Verteidigung war, wie Engels schreibt, „ein Unternehmen sondergleichen, das kühnste und geschickteste, das je eine belagerte Garnison unternommen hat" (siehe vorl. Band, S. 171). Engels hebt die von den Russen angewandte Anordnung der Batterien hervor, die die beste Ausnutzung der Vorteile des Geländes erlaubte. Er weist darauf hin, daß ein wichtiges Mittel im allgemeinen System der Verteidigung der Russen ihre erfolgreichen Ausfälle waren, bei denen sie „mit großer Meisterschaft, verbunden mit ihrer üblichen Zähigkeit", handelten (siehe vorl. Band, S. 152/153). Zusammenfassend gelangt Engels zu dem Schluß, daß „die ganze Führung dieser Verteidigung klassisch war" (siehe vorl. BandS. 172). Diese Urteile zeigen, daß Engels das Heldentum und die Kriegskunst der Verteidiger von Sewastopol gebührend einschätzte, daß er es verstand, bei der Kennzeichnung der Kriegsereignisse ein objektives Kriterium zu finden, auch wenn er nur über eine einseitige und oft ziemlich tendenziöse Information über den Verlauf der Kriegsereignisse verfügte, denn die englischen und französischen Meldungen konnte er damals oft nicht überprüfen. Später verweist Engels nach gründlicherer und allseitiger Untersuchung wiederholt auf die Erfahrungen der heldenhaften Verteidigung Sewastopols als ein hervorragendes Beispiel aktiverVerteidigung, als Vorbild militärischer Meisterschaft und des Heldenmuts der Verteidiger (siehe zum Beispiel Engels' Artikel über den nationalen Befreiungsaufstand 1857-1859 in Indien und seine Kriegsaufsätze aus den Jahren 1870/71). Die von Engels damals durchgeführte Untersuchung der Entwicklung des Militärwesens fand ihren Niederschlag in seiner verallgemeinernden Arbeit „Die Armeen Europas". In ihr sowie in den militärischen Ubersichten zeigt sich Engels als großer Militärfachmann, als guter Kenner der Kriegsgeschichte und des Zustandes der damaligen Streitkräfte. Diese Arbeit enthält eine ausführliche Charakteristik der Armeen der europäischen Staaten, zeigt die Besonderheiten jeder Armee in bezug auf Organisation, Mannschaftsergänzung, Ausbildungssystem und Kampfeigenschaften der Soldaten und Offiziere. Engels zeigt in ihr die Bedeutung der nationalen Besonderheiten und Traditionen in der Entwicklung jeder Armee und hebt zugleich hervor,daß der allgemeine Fortschritt der Kriegstechnik und die im Militärwesen eingeführten Vervollkommnungen jede Armee veranlassen, die Erfahrungen aller übrigen zu berücksichtigen und auszunutzen. Engels kritisiert die für die
kriegsgeschichtliche Literatur der herrschenden Klassen charakteristischen idealistischen und nationalistischen Tendenzen, insbesondere die verbreitete „Theorie" von der Unbesiegbarkeit der einen oder anderen Armee in allen Zeiten. Durch die ganze Schrift von Engels zieht sich die wichtige These des historischen Materialismus, daß der Zustand und die Kampffähigkeit der einen oder anderen Armee vor allem durch das Niveau der ökonomischen Entwicklung, durch die soziale und politische Ordnung des betreffenden Landes bestimmt wird - eine These, die später ausführlich im „Anti-Dühring" entwickelt wird. Engels schreibt vor allem in bezug auf die preußische Armee, daß das fortschrittliche Prinzip der Ergänzung und Ausbildung der Truppen durch eine kurze Dienstzeit der gesamten wehrfähigen Bevölkerung infolge der reaktionären politischen Ordnung in Preußen nicht konsequent verwirklicht und dadurch entstellt wurde, weil „die Regierung eine einsatzbereite und verläßliche Armee haben wollte, die notfalls gegen Unruhen im Innern eingesetzt werden konnte" (siehe vorl. Band, S. 441). Engels bemerkt, daß die nationale Unterdrückung und die Entfachung der nationalen Zwietracht, die für das politische System der Habsburger-Monarchie bezeichnend waren, auch ihren Niederschlag in der österreichischen Armee fanden, was sich auf ihre Kampffähigkeit negativ auswirkte. Die rückständige feudalistische Ordnung der Türkei, die Willkür und die Mißbräuche der Paschas verhinderten, wie Engels in dem Abschnitt „Die türkische Armee" zeigt, die Durchführung der notwendigen Militärreformen. Den Einfluß feudalistischer Überreste stellt Engels auch in den Armeen vieler europäischer Staaten fest. Sowohl in dieser Arbeit wie auch in dem Artikel „Die russische Armee" kennzeichnet Engels, bei der Beschreibung des Zustandes der damaligen russischen Armee, die technische Rückständigkeit, die veralteten Methoden der Ergänzung und Ausbildung der Truppen, den verbreiteten „Kasernenhofdrill", die häufigen Veruntreuungen usw. als das Ergebnis der ökonomischen Zurückgebliebenheit des zaristischen Rußlands, der herrschenden feudalen Leibeigenschaftsverhältnisse sowie des reaktionären politischen Regimes. Zugleich hebt Engels die hohen Kampfeigenschaften der russischen Soldaten hervor; er sagt: „Es hat sich immer als leichter erwiesen, die russischen Soldaten niederzuschießen, als sie zurückzutreiben" (siehe vorl. Band S. 453). Man muß jedoch in Betracht ziehen, daß Engels bei der Charakterisierung der Rückständigkeit der Armee des Rußlands der Leibeigenschaft in einzelnen Punkten etwas übertrieben hat. So widersprechen den historischen Tatsachen die Behauptungen, daß die russischen Soldaten angeblich stets passiv
gewesen seien, die Ausländer in der russischen Armee eine besondere Rolle gespielt hätten, die fähigen Leute in ihren Reihen eine Ausnahme darstellten und daß bei gleichen Bedingungen die Russen angeblich immer von ihren westeuropäischen Gegnern besiegt wurden. Quelle dieser ungenauen Behauptungen, die Engels in seinen späteren Schriften („Po und Rhein" u.a.) bis zu einem gewissen Grade richtigstellt, war die tendenziöse Behandlung der militärischen Vergangenheit Rußlands durch die westeuropäischen Militärhistoriker, aus deren Schriften Engels in Ermangelung anderer Quellen das Tatsachenmaterial schöpfen mußte. Einen bestimmten Einfluß auf Engels* Ansichten über die russische Armee hatte die politische Tendenz seiner Artikel, die sich gegen den Zarismus als die damalige Hauptstütze der europäischen Reaktion richteten. Eine Reihe von Artikeln - „Der englisch-französische Krieg gegen Rußland", „Der europäische Krieg" u.a. geschrieben von Marx und Engels zu einer Zeit, als der Ausgang des Krieges im Grunde schon feststand, enthalten einige Resultate des Krimkrieges, „Der englisch-französische Krieg gegen Rußland wird unstreitig stets in der Kriegsgeschichte als ,der unbegreifliche Krieg* figurieren. Großrederei, verbunden mit winzigster Aktion, enorme Vorbereitungen und bedeutungslose Resultate... mehr als Mittelmäßigkeit in den Generalen gepaart mit mehr als Tapferkeit in den Truppen... ein großes Ensemble von Widersprüchen und Inkonsequenzen. Und dies zeichnet die Russen beinahe ebensosehr wie ihre Feinde" (siehe vorl. Band, S. 493). Marx und Engels gelangen zu dem Schluß, daß der Krimkrieg die Hoffnungen auf seine Verwandlung in einen Krieg für demokratische und revolutionäre Prinzipien nicht erfüllt und nicht zu radikalen Umgestaltungen in Europa und zum Sturz der reaktionären Regimes in den europäischen Ländern geführt hat. Er hat auch nicht die Widersprüche zwischen den europäischen Staaten in der orientalischen und anderen Fragen gelöst. In der Arbeit „Der Fall von Kars" bewertet Marx die Pariser Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsteilnehmern als imaginäre Verhandlungen und bezeichnet den Pariser Friedensvertrag als einen ephemerischen Vertrag. Damit unterstreicht Marx, daß der nach dem Krimkrieg abgeschlossene Pariser Frieden nicht nur nicht die Lösung der strittigen Fragen bedeutete, sondern von vornherein neue, noch größere Konflikte zwischen den europäischen Mächten in sich barg. Die Begründer des Marxismus stellen fest, daß der Krimkrieg die soziale und politische Ordnung Europas zwar nicht grundlegend verändert, wohl aber die innere Entwicklung einer Reihe von Ländern und auch die Entwicklung Rußlands beeinflußt hat. So sagt Marx 1871, auf die Einschätzung des
Krimkrieges zurückkommend, in dem ersten Entwurf seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich": „Obwohl Rußland mit der Verteidigung von Sewastopol seine Ehre gerettet und mit seinen diplomatischen Triumphen in Paris die Ausländer geblendet hat, befreite seine Regierung nach der Niederlage auf der Krim, die im Lande die Fäulnis seines sozialen und administrativen Systems bloßlegte, die Leibeigenen und bildete sein ganzes Verwaltungsund Gerichtssystem um" (Marx-Engels-Archiv, Band III, (VIII), [Moskau] 1934, S.280 [englisch]). Der von Marx festgestellte Zusammenhang zwischen ^Rußlands Niederlage im Krimkrieg und den Reformen, die die zaristische Regierung von oben, von der Höhe des Thrones, wie Marx sagte, durchführen mußte, um einer Revolution von unten zu begegnen, wurde später von W. I. Lenin gründlich und allseitig dargelegt; Lenin schrieb: „Der Krimkrieg hatte die Morschheit und Ohnmacht des Rußlands der Leibeigenschaft gezeigt" (Werke, Band 17, S.95, russ.). 1855 erschien eine ganze Reihe von Artikeln von Marx und Engels gleichzeitig in der „Neuen Oder-Zeitung" und in der „New-York Daily Tribüne"; bei der Aufnahme dieser Artikel in den vorliegenden Band wurden jene Varianten vorgezogen, die sich durch eine größere Vollständigkeit auszeichnen und in denen weniger Eingriffe durch die Zeitungsredaktionen festzustellen sind. In diesen Fällen wird in Anmerkungen auf die nicht aufgenommenen Varianten hingewiesen. Einzelne abweichende Lesarten zwischen den Varianten werden in Fußnoten wiedergegeben. In einigen Fällen sind in dem vorliegenden Band beide Varianten der betreffenden Artikel, soweit sie von selbständigem Interesse sind, aufgenommen worden. Wie Marx und Engels in ihren Briefen wiederholt feststellten, ging die Redaktion der „New-York Daily Tribüne" nach eigenem Gutdünken mit dem Wortlaut der Artikel um. Bei einer Reihe von Korrespondenzen, besonders bei den von Engels geschriebenen militärischen Übersichten, wollte die Redaktion den Eindruck erwecken, daß diese in New York geschrieben seien, und nahm dementsprechendeÄnderungen am Text vor; auf solche Eingriffe der Redaktion der „New-York Daily Tribüne" wird bei den entsprechenden Stellen der Artikel in den Anmerkungen hingewiesen. Beim Studium des in den Artikeln angeführten konkreten historischen Materials ist zu beachten, daß Marx und Engels bei einer beträchtlichen Zahl von Artikeln, die den Tagesereignissen gewidmet waren, als Quelle hauptsächlich Informationen aus der bürgerlichen Presse, aus der „Times", dem „Moniteur universel", dem „Economist" und anderen Zeitungen und Zeitschriften benutzen konnten. In der Regel nahmen sie von hier die Angaben über den Verlauf der Kriegshandlungen, über die zahlenmäßige Stärke der
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kriegführenden Parteien, über den Zustand der Finanzen, des Handels usw. In einzelnen Fallen weichen diese Angaben von den Feststellungen späterer Untersuchungen ab, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU
Im zweiten Teil des obigen Vorwortes wurden ohne besondere Kennzeichnung alle jene Hinweise weggelassen, die sich auf frühere Veröffentlichungen der Artikel von Marx und Engels in russischer Sprache beziehen. Von den im vorliegenden Band enthaltenen 36 Artikeln aus der „NewYork Daily Tribüne", „The Putnam's Monthly" und „The People's Paper" sowie von den 95 Artikeln aus der „Neuen Oder-Zeitung" werden 59 zum ersten Mal in deutscher Sprache gebracht bzw. als Nachdruck wieder veröffentlicht. Der Text des vorliegenden Bandes wurde nach Originalen oder Photokopien überprüft. Bei jeder Arbeit ist die herangezogene Quelle vermerkt. Bei der Übersetzung der in Englisch vorliegenden Artikel wurden die in der „Neuen Oder-Zeitung" veröffentlichten Varianten herangezogen, wobei in allen Fällen bei völliger inhaltlicher Übereinstimmung beider Texte oder Textstellen stets der Wortlaut der von Marx vorgenommenen Übersetzung für die „Neue Oder-Zeitung" übernommen wurde. In anderen Fällen wurden vorhandene Übersetzungen überprüft oder neu angefertigt. Die Titel der Artikel, entsprechen den Titeln, unter denen sie veröffentlicht worden waren. Titel, die von der Redaktion erweitert wurden, sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Die von Marx und Engels angeführten Zitate wurden ebenfalls überprüft, soweit die Originale zur Verfügung standen. Längere Zitate werden zur leichteren Übersicht in kleinerem Druck gebracht. Fremdsprachige Zitate und fremdsprachige Wörter, die in den Artikeln der „Neuen Oder-ZeitungM vorkommen, sind in Fußnoten übersetzt. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind, soweit vertretbar, modernisiert. Der Lautstand der Wörter in den deutschsprachigen Texten wurde nicht verändert. Alle in eckigen Klammern stehenden Wörter und Wortteile stammen von der Redaktion; offensichtliche Druck- oder Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Fußnoten von Marx und Engels sind durch Sternchen gekennzeichnet, Fußnoten der Redaktion durch eine durchgehende Linie vom Text abgetrennt und durch Ziffern kenntlich gemacht. Zur Erläuterung ist der Band mit Anmerkungen versehen, auf die im Text durch hochgestellte Zahlen in eckigen Klammern hingewiesen wird; außerdem sind ein Literaturverzeichnis, Daten über das Leben und die Tätigkeit von Marx und Engels, ein Personenverzeichnis, ein Verzeichnis der literarischen und mythologischen Namen, eine Liste der geographischen Namen sowie eine Erklärung der Fremdwörter beigefügt.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED

KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS
Januar 1855-April 1856

State Dt)a3ettung. CmiiMAMiiM 3»9i«H'«»'i»;t Onrtjht. Srrtlda, 3» w .0« t».i» - qmtflflbiott. Ovart.i 6.nm^T;;nutl *•«- fi-y^»ou a? 45.
Karl Marx
Die Eröffnung des Parlaments111
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 45 vom 27. Januar 1855] London, 24 Januar. Die Sitzung des Parlaments wurde gestern wieder eröffnet.I2] Im Hause der Lords zeigte Graf EHenborough an, daß er Donnerstag, den 1. Februar, eine amtliche Nachweisung beantragen werde über die Zahl der nach der Krim versandten Truppen - Infanteristen, Kavalleristen und Matrosen wie auch über die Zahl der Getöteten, Verwundeten, Erkrankten und überhaupt Dienstunfähigen. Der Herzog von Richmond interpellierte den Minister für den Krieg, warum die Kämpfer von Balaklawa131 bei der Verteilung von Ehrenmedaillen übergangen wurden. Nicht nur die Kämpfer von Balaklawa sollen Ehrenmedaillen erhalten, sondern auch sämtliche im Schwarzen Meer befindlichen Matrosen, die nicht gekämpft haben. So übertrumpfte der Herzog von Newcastle, Minister für den Krieg, den Herzog von Richmond. Der Herzog von Richmond nebst dem Grafen EHenborough und Hardwicke machten dagegen den längst von Adam Smith entdeckten Satz geltend, daß der Wert von Phantasiewaren, also auch von Ehrenmedaillen, in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Masse steht. Nach dieser wichtigen Debatte, die ungefähr eine halbe Stunde währte, vertagten sich die Lords. Im Hause der Gemeinen war der Zudrang groß. Indes wurden die Erwartungen getäuscht. Disraeli war nicht zugegen, und Sir Benjamin Hall sprach. Die Sitzung, die vor 4 Uhr begonnen, war vor 6 schon geschlossen. Man hat den römischen Senat bewundert wegen der vornehmen Ruhe, womit er die Nachricht von der Niederlage bei Kannä141 empfing. Die Patres conscripti1 von Rom sind nun überboten durch die Commoners2 von England. Es war unmöglich, diese Physiognomie in der Krim zu sehen und an den Untergang der englischen Armeen zu glauben. Der Gesundheitszustand der
1 Ehrenname und Anrede der altrömischen Senatoren - 2 Mitglieder des Unterhauses
Krimarmee scheint Sir Benjamin Hall bewogen zu haben, zwei Bills zur besseren Regulierung der Gesundheitspolizei in England einzubringen. Sir Benjamin Hall ist einer der sog. Radikalen von der Art [wie] Sir William Molesworth, Osborne und Komp. Der Radikalismus dieser Herren besteht darin, daß sie ministerielle Posten verlangen, obgleich sie weder zur Oligarchie gehören noch plebejisches Talent besitzen. Aber ihr bloßes Sitzen im Ministerium ist eine radikale Tatsache. So sagen ihre Freunde. Als daher die Cholera im Sommer 1854 bösartig in England wütete und das „Gesundheitskollegium44, bis dahin unter der Kontrolle Palmerstons, des Ministers des Innern, sich ebenso unfähig bewies wie das ärztliche Departement im Lager vor Sewastopol, hielt die Koalition den Zeitpunkt für geeignet, einen neuen ministeriellen Posten zu schaffen, einen selbständigen Präsidenten des Gesundheitskollegiums, und sich durch Zuziehung des „radikalen4* Sir Benjamin Hall zu verstärken. Sir Benjamin Hall ward also Gesundheitsminister. Die Cholera verschwand zwar nicht aus London, sobald seine Ernennung in der „Gazette44161 erschien, aber ein gewisser Taylor verschwand aus dem „Punch"161, wo er die Koalition und den Kaiser von Rußland geneckt hatte. Sir Benjamin Hall ernannte ihn nämlich zum Sekretär des Gesundheitskollegiums mit einem Gehalt von 1000 Pfd. St. Sir Benjamin Hall als ein Radikaler liebt Radikalkuren. Über das Verdienst seiner Bills zu sprechen bleibt Zeit genug, wenn sie eingebracht werden. Gestern bezweckten sie nur, ihm Gelegenheit zu seinem ministeriellen Entree in das Unterhaus zu geben. Auf Layards Anfrage:
„ob das Ministerium einen Einwand zu erheben habe gegen die Vorlegung der Korrespondenz, die mit den fremden Mächten über den Vertrag vom 2. Dezember 1854^7' gewechselt, und namentlich etwaiger Dokumente, die der russischen Regierung von englisch-französischer Seite in bezug auf die Auslegung der vier Punkte, nicht zum Unterhandeln, sondern zur Annahme vorgelegt worden seien?",
antwortete Lord John Russell, er wisse nicht, ob es ihm möglich sein werde, irgendeines der fraglichen Dokumente vorzulegen. Solches sei nicht parlamentarisch. Mit Bezug auf die Geschichte der vier Punkte [81 könne er indes seinem ehrenwerten Freunde folgendes ganz im allgemeinen mitteilen: Ende November habe Rußland durch [Alexander Michailowitsch] Gortschakow die Annahme der sog. vier Punkte angezeigt; darauf der Vertrag vom 2. Dezember; dann am 28. Dezember zu Wien Zusammenkunft Gortschakows mit den Gesandten von England, Frankreich und Österreich. Der französische Gesandte habe im Namen der Alliierten ein Aktenstück verlesen, worin sie die vier Punkte auslegen - eine Auslegung, die als Grundlage der Verhand
lungen zu betrachten sei. Im dritten Punkte war vorgeschlagen, der Übermacht Rußlands im Schwarzen Meere ein Ende zu machen. Gortschakow nahm die Interpretation nicht an, erklärte aber, sich um Instruktion an seine Regierung wenden zu wollen. Zehn Tage später erklärte er dem Grafen Buol, daß er diese Instruktionen erhalten. Am 7. oder 8. Januar fand eine andere Zusammenkunft im Büro des österreichischen Ministers des Auswärtigen statt. Gortschakow verlas ein Memorandum, das die Ansichten seiner Regierung enthalte. Graf Buol, Lord Westmoreland und Baron von Bourqueney erklärten sich nicht ermächtigt, das Memorandum entgegenzunehmen. Basis der Unterhandlungen müsse sein die Annahme der Interpretation der vier Punkte. Gortschakow steckte dann sein Memorandum ein und nahm die Interpretation als Grundlage der Unterhandlungen an. Rußland, fügt Russell hinzu, hat trotz der Annahme dieser „Grundlage" das Recht, „jeden Punkt" derselben zu bestreiten, sobald sie artikuliert ist. (Punktuiert war sie schon.) Die englische Regierung erklärte sich bereit, sich in Unterhandlungen auf der obenerwähnten Grundlage einzulassen. „Bisher aber hat sie ihrem Gesandten noch keine Vollmacht zum Unterhandeln gegeben." Der letzte Satz ist das einzig Neue, das Russell den „Commoners" verraten hat. Der wichtigste Inzidenzpunkt der Sitzung ist Roebucks Anzeige, daß er „nächsten Donnerstag die Ernennung eines Spezialkomitees beantragen werde, um die numerische Stärke und Lage der Armee vor Sewastopol zu ermitteln und die Verfahrungsweise der Regierungsdepartements, deren Pflicht es war, die Bedürfnisse der Armee zu befriedigen". Die „Times"191 „fleht" Roebuck an, „laut zu schreien und nichts zu schonen". Das Flehen der „Times" und die Vergangenheit des Herrn Roebuck sind beide nicht geeignet, den Verdacht ganz zu beseitigen, daß Roebuck schreien wird oder vielmehr krächzen, um andere am Sprechen zu hindern. Thersites, soviel wie wir wissen, wurde nie von Ulysses benutzt, wohl aber Roebuck von den Whigs, die in ihrer Art so pfiffig sind wie Ulysses.
Karl Marx
Erläuterungen zur Kabinettskrisis
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 47 vom 29. Januar 1855] London, 26. Januar. Als ein Gesandter des Sultans Melikschah nach Alamut kam und Hasan ibn Sabbah aufforderte, sich zu ergeben, deutete der „Alte von den Bergen" statt aller Antwort auf einen seiner Fidawis[101, dem er befahl, sich selbst zu morden. Sofort tauchte der Jüngling seinen Dolch in seine Brust und stürzte auf das Estrich, ein lebloser Körper. So hatte der „alte Mann"1 der Koalition seinen Lord John Russell aufgefordert, sich für ihn im Hause der Gemeinen zu töten. Russell, alter parlamentarischer Menschenfreund, der das Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst" stets dahin auslegte, daß jeder sich selbst der Nächste ist, hat vorgezogen, „den alten Mann" zu töten. Wir täuschten uns nicht in Roebuck. Seine Motion war mit Russell verabredet, um aus dem Schiffbruch den „bessern Teil" - die Whigs - zu retten. In der TatI Diese Motion ist nicht gegen das Ministerium, sie ist gegen die „Departements" gerichtet, die direkt mit der Kriegführung beauftragt sind, d. h. gegen die Peeliten[11K Zudem war es klar, daß«r deshalb das Parlament nicht umsonst mit der Erklärung eröffnete, daß die Basis der Unterhandlungen keine Basis sei, insofern Rußland sich vorbehalte, jeden der vier Punkte zu bestreiten - und daß die Unterhandlungen ebensowenig Unterhandlungen [seien], insofern das englische Kabinett noch niemand zum Unterhandeln bevollmächtigt habe. Kaum hatte Roebuck daher seine Motion ge-y stellt - [am] Dienstag so schreibt Russell denselben Abend dem „alten Mann", diese Motion bezwecke ein Tadelsvotum gegen das'Kriegsdepartement (die Peeliten), er müsse deshalb seine Resignation einreichen. Aberdeen fährt zur Königin nach Windsor Castle und rät ihr, die Demission anzu
1 Aberdeen
nehmen, was geschieht. Der Mut des „Alten" ist erklärlich, wenn man erfährt, daß Palmerston nicht seine Resignation eingereicht. In der Donnerstagsitzung erfährt das Unterhaus diese wichtigen Vorfälle. Es vertagt seine Sitzung und Roebuck seine Motion bis heute abend. Nun stürzt das ganze Unterhaus ins Oberhaus, wo Aufklärung von Aberdeen erwartet wird, aber Aberdeen ist so gewandt, abwesend zu sein - angeblich wieder in Windsor -, und der Duke of Newcastle erzählt dieselbe Mär im Oberhause, die Palmerston im Unterhause erzählt hat. Indes finden die Whigs des Unterhauses mit Entsetzen im Oberhause, daß ihr Plan durchschaut und ihr Rückzug abgeschnitten ist. Die Tories, keineswegs begierig, die Whigs auf Kosten der Peeliten wieder in ihr altes Privilegium der „himmelbürtigen Pächter des großbritischen Reichs" zu installieren, haben Lord Lyndhurst bewogen, eine Motion zu stellen, die im Gegensatze zu Roebucks Motion nicht einzelne Departements des Ministeriums, sondern das ganze Ministerium nicht nur - k la Roebuck - zensiert, sondern förmlich in Anklage* zustand versetzt. Lord Lyndhursts Motion lautet wörtlich:
„Ich werde Freitag, den 2.Februar, beantragen, daß nach der Meinung dieses Hauses die Krimexpedition von den Ministern Ihrer Majestät mit sehr unzureichenden Mitteln und ohne die gebührende Vorsicht oder hinreichende Untersuchung über den Charakter und den Umfang des vom Feinde zu erwartenden Widerstandes unternommen wurde, und daß die Vernachlässigung und Mißverwaltung der Regierung in Leitung des Unternehmens zu dem unseligsten Resultat geführt hat."
Man kann sich nicht darüber täuschen, Lyndhursts Motion ist ebenso gegen die Whigs gerichtet wie Roebucks Motion gegen die Aberdeeniten. Nebenbei bemerkt: Lord John Russell hat dem Unterhause durch Hayter anzeigen lassen, daß er bei nächster Gelegenheit, also heute abend, die Gründe seiner Resignation auseinandersetzen würde. «Wer nichts erwartet, wird nicht getäuscht werden."t121
Karl Marx
Parlamentarisches
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 49 vom 30. Januar 1855] London, 27. Januar. Ton und Physiognomie der gestrigen Unterhaussitzung zeigten genau den Grad an, worauf das englische Parlament herabgesunken ist. Bei Beginn der Sitzung, ungefähr 4 Uhr nachmittags, war das Haus gedrängt voll, weil eine Szene erwartet wurde, ein Skandal: Lord Russells Aufklärung über seine Resignation. Sobald die persönliche Debatte beendet war und die fachliche Debatte begann - über Roebucks Motion eilten die entrüsteten Patrioten zum Essen; das Haus ward dünn, und einige Stimmen riefen: „abstimmen, abstimmen!" Eine bedenkliche Pause trat ein, bis sich der Kriegsminister1 Sidney Herbert erhob und einen langen, wohlgesetzten Vortrag an leere Bänke richtete. Dann schlenderten gesättigte Parlamentsmitglieder nach und nach zu ihren Sitzen zurück. Als Layard seine Rede begann, ungefähr um V2IO Uhr, waren an 150 Mitglieder zugegen. Als er sie schloß, ungefähr eine Stunde vor Aufbruch des Hauses, war es wieder gefüllt. Der Rest der Sitzung aber ähnelte durchaus einer parlamentarischen Siesta. Lord John Russell, dessen sämtliche Verdienste auf ein einziges reduziert werden können, Routine in der parlamentarischen Taktik, hielt seine Rede nicht, wie bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich, von dem Tisch des Sprechers aus, sondern von der 3. Bank hinter den Ministersitzen, wo die mißvergnügten Whigs thronen. Er sprach in leiser, heiserer Stimme, breit gedehnt, die englische Pronunziation, wie stets, mißhandelnd, mit den Regeln der S>ntax oft in bedenklichem Kampfe. (Notabene: Man muß die Reden, wie sie in den Zeitungen figurieren, beileibe nicht verwechseln mit den Reden,
1 d.h. hier der Secretary at War (Staatssekretär für das Kriegswesen); siehe Band 10 unserer Ausgabe» S. 599
wie sie gesprochen werden.) Wenn gewöhnliche Rhetoren schlechten Inhalt durch guten Vortrag ersetzen, suchte Russell schlechten Inhalt durch schlechteren Vortrag zu entschuldigen. Die Art, wie er sprach, war gleichsam eine Abbitte für Jas, was er sagte. Und in der Tat, es bedurfte der Abbitte! Vergangenen Montag habe er noch nicht an Resignation gedacht, aber Dienstag, sobald Roebuck seine Motion angezeigt, habe er sie unvermeidlich gefunden. Dies erinnert an den Lakaien, der nichts gegen das Lügen hatte, aber sein Gewissen verletzt fand, sobald die Lüge entdeckt wurde. Von welchem Gesichtspunkt aus sollte er den Antrag auf parlamentarische Untersuchung bekämpfen, wie es seine Pflicht als ministerieller Leiter des Hauses mit sich bringe I Weil das Übel nicht groß genug sei, eine Untersuchung zu erheischen! Niemand könne die melancholische Lage der Armee vor Sewastopol leugnen. Sie sei nicht nur qualvoll, sondern entsetzlich und herzzerreißend. Oder hätte er dem Parlamente gegenüber behaupten sollen, daß sein Untersuchungskomitee unnütz, weil bessere Mittel zur Abwehr des Übels am Werke? Diese Frage war schlüpfrig, da Russell nicht nur als Mitglied des Ministeriums, sondern speziell als Präsident des Privy Council1 direkt verantwortlich für die Ergreifung solcher Mittel war. Er gesteht, daß er in die Ernennung des Herzogs von Newcastle zum „obersten" Kriegsminister eingewilligt. Er kann nicht leugnen, daß die Vorsichtsmaßregeln zur Proviant'ierung, Kleidung und ärztlichen Pflege der Armee mindestens August und September zu treffen waren. Was tat er während dieser kritischen Epoche nach seinem eignen Geständnisse? Er reiste im Lande herum, hielt kleine Reden vor „Literary Institutions"2 und gab die Korrespondenz von Charles James Fox herausE13J. Während er in England reiste, reiste Aberdeen in Schottland, und es fand von August an kein Kabinettsrat statt bis zum 17. Oktober. In diesem Kabinettsrat schlug Lord John, seinem eignen Bericht gemäß, nichts vor, wert dem Parlament mitgeteilt zu werden. Lord John nimmt sich dann wieder einen vollen Monat Bedenkzeit und richtet dann, am 27. November, einen Brief an Aberdeen, worin er ihm vorschlägt, die Stelle des Ministers für den Krieg zu vereinen mit der des Secretary at War und beide dem Lord Palmerston zu übertragen, in andern Worten: den Herzog von Newcastle abzusetzen. Aberdeen schlägt dies ab. Russell schreibt ihm am 28.November wieder in demselben Sinne. Aberdeen antwortet ihm sehr fichtig am 30. November, sein ganzer Antrag laufe darauf hinaus, einen Mann durch einen andern Mann, Newcastle durch Palmerston, zu ersetzen. Als aber das
1 Geheimen Rates -a „Literarischen Instituten"
Kolonialministerium vom Kriegsministerium getrennt worden, habe Russell das letztere gern dem Newcastle gestattet, um einen seiner Whigs, Sir George Grey, in das Kolonialministerium zu bringen. Aberdeen fragte dann Russell persönlich, ob er seinen Antrag vor den Kabinettsrat zu bringen wünsche? Russell verzichtete darauf, wie er sagt, vum das Ministerium nicht aufzubrechen". Also erst das Ministerium, dann die Armee in der Krim. Maßregeln zur Abhilfe des Übels, gesteht Russell, seien keine getroffen worden. Alle Reform in der Kriegsverwaltung beschränke sich darauf, daß das Kommissariat unter den Minister für den Krieg gestellt worden. Nichtsdestoweniger, obgleich &eme Maßregeln zur Abhilfe getroffen werden, bleibt Russell ruhig im Ministerium, macht auch keine weiteren Vorschläge vom 30.November 1854 bis zum20.Januar 1855. An diesem Tage - vergangnen Sonnabend - teilt Aberdeen dann Russell gewisse Vorschläge zu Reformen in der Kriegsverwaltung mit, die letzterer ungenügend findet und dagegen schriftlich Gegenvorschläge einreicht. Erst 3 Tage später findet er es für nötig, seine Entlassung einzureichen* weil Roebuck seine Motion anzeigt und Russell nicht geneigt ist, die Verantwortlichkeit mit einem Kabinett zu teilen, womit er Amt und Handlungen geteilt hat. Er habe gehört-erklärt Russell Aberdeen sei nie entschlossen,Palmerston zum Diktator im Kriegsministerium zu ernennen. Wenn dies der Fall, gratuliere er - Curtius - sich, nicht umsonst von dem festen Boden des Ministeriums in die hohle Gruft der Opposition gesprungen zu sein. Nachdem unser Lord John so weit auf der abschüssigen Bahn heruntergerollt, vernichtet er den letzten ostensiblen Vorwand seiner Resignation, indem er erklärt: I. daß die Aussichten des Kriegs keineswegs derart seien, Anlaß zu der herrschenden Trostlosigkeit zu geben; 2. daß Aberdeen ein großer Minister, Clarendon ein großer Diplomat und Gladstone ein großer Finanzier sei; 3. daß die Whig-Partei nicht aus Stellenjägern, sondern aus patriotischen Schwärmern bestehe, und schließlich, daß er, Russell, sich des Stimmens enthalten werde über Röebucks Motion, obgleich er angeblich aus dem Ministerium ausgetreten, weil ein Patriot nichts gegen Roebucks Motion vorbringen kann. Russells Rede wurde noch kälter aufgenommen, als sie vorgetragen war. Palmerston erhebt sich im Namen des Ministeriums. Seine Situation war drollig. Curtius Russell resigniert, weil Aberdeen den Palmerston nicht zum Kriegsdiktator ernennen will. Brutus Palmerston greift Russell an, weil er Aberdeen im Augenblick der Gefahr im Stich läßt. Palmerston gefiel sich in dieser drolligen Situation. Sie diente ihm, wie er zu tun pflegt in kritischen Momenten, den Ernst der Situation in eine Farce wegzuschmunzeln. Als er Russell vorhielt, daß er nicht schon Dezember seinen heroischen Entschluß
gefaßt, lachte Disraeli - der wenigstens seine Freude am Untergang der venetianischen Konstitution nicht verbirgt - laut auf, und Gladstone, der aus dem Ernst eine Spezialität macht, rtiurmelte offenbar alle puseyistischen*141 Gebets formein, um nicht auszuplatzen. Palmerston erklärte, daß die Annahme der Roebuckschen Motion den Sturz des Ministeriums bedeute. Werde sie verworfen, so würde das Kabinett zu Rate gehen über seine eigene Umformung (inkl. Palmerstons Diktatur). Großer Zauberer, dieser Palmerston! Mit einem Fuß im Grabe, weiß er England glauben zu machen, daß er ein homo novus1 ist und seine Karriere erst beginnt! Zwanzig Jahre Kriegsminister2 und als solcher nur bekannt durch die systematische Verteidigung der Prügelstrafe und des Stellenverkaufs in der Armee darf er sich für den Mann ausgeben, dessen bloßer Name die Fehler des Systems auslöscht! Von allen englischen Ministern der einzige, der im Parlamente wiederholt, besonders ernsthaft 1848, als russischer Agent denunziert worden, kann er sich für den Mann ausgeben, der allein imstande, England in den Krieg mit Rußland zu führen. Großer Mann, der Palmerston! Auf die bis Montagabend vertagte Debatte über Roebucks Motion das nächste Mal. So geschickt ist letztere gestellt, daß die Gegner des Ministeriums erklärten, für sie zu stimmen, obgleich sie abgeschmackt, und die Anhänger des Ministeriums, für sie zu sprechen, obgleich sie gegen sie stimmen würden. Die Sitzung des Oberhauses ohne besonderes Interesse. Aberdeen fügte nichts zu Russells Erklärung hinzu, als seine Überraschung: Russell habe das ganze Kabinett überrascht.
1 neuer Mann - 2 hier der Secretary at War (Staatssekretär für da3 Kriegswesen)
'tibiim yn.'XiV^.W» 4.916 NEW-YORK, SATURDAY. FEBRUARY 17, 1855. PRlgfi TWO CENTS.
Friedrich Engels
Der europäische Krieg[16]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 43! 6 vom 17. Februar 1855, Leitartikel] Während der Zeitpunkt für den Beginn der neuen Konferenz in Wien1171 näherrückt, verlieren sich die Chancen auf irgendwelche Konzessionen seitens Rußlands in einer nebelhaften und höchst ungewissen Ferne. Der glänzende Erfolg dieses großartigen diplomatischen coup, des Zaren prompte Annahme der vorgeschlagenen Verhandlungsbasis, bringt ihn, zumindest für den Augenblick, in eine dominierende Position und macht es sicher, daß, unter welchen Vorwänden er auch den Friedensvorschlägen zustimmen mag, die einzige reale Basis," auf der er jetzt den Streit beizulegen einwilligen wird, im wesentlichen die des Status quo ist. Mit der Annahme der vier Punkte hat er Österreich in eine zweideutige Stellung zurückgeworfen, während er Preußen an seinem Gängelband hält und Zeit gewinnt, um seine ganzen Reserven und neue Truppenformationen an die Grenze zu werfen, bevor die Feindseligkeiten beginnen können. Die bloße Tatsache, daß man sich auf Unterhandlungen geeinigt hat, setzt zugleich soviel russische Soldaten der Observationsarmee an der österreichischen Grenze frei, als in zwei Monaten oder zehn Wochen ersetzt werden können - das sind mindestens 60000-80000 Mann. Da die gesamte ehemalige Donauarmee aufgehört hat, als solche zu existieren, das 4. Korps sich seit Ende Oktober in der Krim befindet, das 3. Korps dort in den letzten Tagen des Dezember anlangte und der Rest des 5. Korps nebst Kavp'lerie und Reserven jetzt auf dem Wege dorthin begriffen ist, müssen diese Truppen am Bug und am Dnestr durch frische Truppen ersetzt werden, die von der Westarmee in Polen, Wolhynien und Podolien zu nehmen sind. Folglich, wenn dqr Krieg nach dem Zentrum des Kontinents verlegt wird, sind für Rußland zwei oder drei Monate Zeit von größter Wichtigkeit. Denn im gegenwärtigen Augenblick sind die auf der langen Linie von Kaiisch nach
Ismail zerstreuten Kräfte ohne Verstärkungen nicht länger fähig, der wachsenden Zahl der ihnen gegenüberstehenden österreichischen Truppen zu widerstehen. Diese Zeit hat Rußland nun gewonnen, und wir gehen dazu über, den gegenwärtigen Stand seiner militärischen Vorbereitungen darzulegen. Wir haben bei früheren Gelegenheiten die russische militärische Organisation kurz aufgezeichnet1181. Die große aktive Armee, die bestimmt ist, gegen den Süden und Westen Europas zu agieren, bestand ursprünglich aus sechs Armeekorps mit je 48 Bataillonen, zwei Korps auserlesener Truppen, jedes 36 Bataillone stark, nebst einer verhältnismäßig starken Anzahl von Kavallerie, regelmäßiger und unregelmäßiger, und Artillerie. Wie wir schon meldeten, rief die Regierung nicht nur die Reserven ein, um das vierte, fünfte und sechste Bataillon der auserlesenen Truppen und das fünfte und sechste der anderen sechs Armeekorps zu formieren, sondern durch neue Aushebungen war sogar das siebente und achte Bataillon bei jedem Regiment formiert worden, so daß die Anzahl der Bataillone für die sechs Linienkorps verdoppelt und für die auserlesenen Truppen (Garden und Grenadiere) mehr als verdoppelt wurde. Diese Streitkräfte können jetzt annäherungsweise veranschlagt werden wie folgt: Garden und Grenadiere die ersten vier Bataillone pro Regiment 96 Bataillone zu 900 Mann 86400 Garden und Grenadiere die letzten vier Bataillone pro Regiment 96 Bataillone zu 700 Mann..; 67200 1. und 2. Korps (noch nicht engagiert) die ersten oder aktiven vier Bataillone pro Regiment . 96 Bataillone zu 900 Mann 86400 1. und 2. Korps - die letzten vier Bataillone pro Regiment . 96 Bataillone zu 700 Mann ... 67200 3., 4., 5., 6. Korps - die aktiven Bataillone . 192 Bataillone zu 500 Mann ... 96000 3., 4., 5., 6. Korps - die letzten vier Bataillone pro Regiment . 192 Bataillone zu 700 Mann .... .... 134400 Krtmc vnn rinnlflnn 16 RatAillnnc zu 900-Mann .... 144m Gesamtzahl ; . 784 552000 Hinzukommen: Kavallerie, reguläre , .... 80000 Kavallerie, irreguläre , .... 46000 Artillerie .... 80000 Gesamtzahl .... 758000
Ein Teil dieser Schätzungen mag hoch erscheinen, in Wirklichkeit sind sie es aber nicht. Die riesige, seit Kriegsbeginn vorgenommene Rekrutierung sollte, ungeachtet der erlittenen Verluste, die alle auf die 96 aktiven Bataillone des 3., 4., 5. und 6. Korps fielen, die Reihen der Armee in einem noch größeren Maße anschwellen lassen, jedoch haben wir reichlich die Rekruten in Abzug gebracht, die sterben, bevor sie ihre Regimenter erreichen. Außerdem ist unsere Schätzung hinsichtlich der Kavallerie sehr niedrig. Von den obengenannten Truppen sind 8000 Mann (eine Division des 5. Korps) im Kaukasus und müssen daher abgezogen werden; denn hier lassen wir die außerhalb Europas beschäftigten Streitkräfte unbeachtet. Die verbleibenden 750000 Mann sind ungefähr wie folgt verteilt: An den Ufern des Baltischen Meeres die Baltische Armee unter General Sievers, bestehend aus dem Finnischen Korps und den Reserven der Garden, Grenadiere und des 6. Korps, zusammen mit Kavallerie und Artillerie ungefähr 135000Mann; einen Teil von ihnen kann man jedoch als noch ungedrillte Rekruten und kaum organisierte Bataillone betrachten. In Polen und an der Grenze von Galizien, von Kaiisch bis Kamenez, die Garden, Grenadiere, das 1. Korps, eine Division des 6. Korps und einige Reserven der Grenadiere und des I.Korps nebst Kavallerie und Artillerie, ungefähr 235000 Mann. Diese Armee ist der beste Teil der russischen Truppen; er enthält die auserlesenen Truppen und die besten der Reserven. In Bessarabien und zwischen dem Dnestr und Bug befinden sich zwei Divisionen des 2. Korps und ein Teil seiner Reserven, ungefähr 60000 Mann. Diese bildeten einen Teil der Armee des Westens, aber nachdem die Donauarmee nach der Krim gesandt wurde, wurden sie, um deren Stelle einzunehmen, detachiert. Sie stehen nun den Österreichischen Truppen in den Fürstentümern gegenüber unter dem Kommando des Generals Panjutin. Für die Verteidigung der Krim sind unter dem Kommando von Menschikow bestimmt: das 3. und 4. Korps, eine Division des 5. Korps, zwei Divisionen des 6. Korps und einige Reserven, die bereits dort sind, außerdem je eine Division des 2. und 5. Korps auf dem Marsch; das Ganze bildet zusammen mit Kavallerie und Artillerie eine Streitmacht, die man schwerlich auf weniger als 170000 Mann schätzen kann. Der Rest der Reserven und der neuen Formationen, besonders des 1., 2., 3., 4. und 5. Korps wird jetzt zu einer großen Reservearmee durch General Tscheodajew organisiert. Sie sind konzentriert im Innern Rußlands und müssen ungefähr 150000 Mann zählen. Wie viele davon nach Polen oder dem Süden marschieren, kann man natürlich nicht sagen. Somit hat der Kaiser Nikolaus, der im vergangenen Sommer weniger als 500000 Mann an der westlichen Grenze seines Reiches, von Finnland bis
zur Krim, zahlte, jetzt 600000 Mann dort aufgestellt, außer einer Reserve, die im Innern des Landes in einer Stärke von 150000 Mann formiert wird. Trotzdem ist er gegenüber Österreich jetzt schwächer als damals. Im August oder September standen in Polen und Podolien 270000 Russen und am Pruth und Dnestr die ungefähr 80000 Mann zählende Donauarmee; die letztere wurde dort auch mehr um der Österreicher wegen gehalten, denn für irgendetwas anderes. Das sind insgesamt 350000, die gegen Österreich operiert haben könnten. Jetzt sind dort, wie wir gesehen haben, nur 295000 Mann entlang der österreichischen Vorpostenlinie konzentriert, während Österreich ihnen nun 320000 Mann direkt entgegenzustellen hat und zu ihrer Unterstützung 70000-80000 Mann in Böhmen und Mähren. Diese augenblickliche zahlenmäßige Unterlegenheit auf der russischen Seite sowie die große Unsicherheit, daß in dieser Jahreszeit rechtzeitig neue Formationen aus dem Inneren des Landes ankommen werden, und in einem Land, wo die ganze Verwaltung korrupt ist, sind durchaus hinreichende Gründe für die russische Regierung, zu versuchen, soviel Zeit wie möglich zu gewinnen. Solch eine zahlenmäßige Unterlegenheit macht die Russen für Offensivoperationen kampfunfähig, und in einem offenen Land wie Polen, ohne große Flußlinien zwischen den beiden Armeen, ist dies gleichbedeutend mit der Notwendigkeit, beim ersten Gefecht sich auf eine haltbare Position zurückzuziehen. In diesem besonderen Falle bedeutet es, die russische Armee in zwei Teile zu spalten, wovon der eine auf Warschau, der andere auf Kiew retirieren müßte; zwischen diesen beiden Hälften würden die unzugänglichen Moräste des Polesje liegen, die vom Bug (nicht dem südlichen Bug, sondern einem Nebenfluß der Weichsel) bis zum Dnepr reichen. Tatsächlich wäre es ein größeres Glück, als die Russen gewöhnlich in solchen Fällen haben, wenn eine große Anzahl der Gefahr entgeht, in diese Sümpfe getrieben zu werden. Somit müßte, sogar ohne eine Schlacht, der größere Teil Südpolens, Wolhyniens, Podoliens, Bessarabiens, die Gegend von Warschau bis Kiew und Cherson evakuiert werden. Andererseits könnte eine überlegene russische Armee ebenso leicht, ohne eine entscheidende Schlacht zu riskieren, die Österreicher aus Galizien und der Moldau vertreiben und die Pässe nach Ungarn erobern; die Konsequenzen eines solchen Ergebnisses kann man sich leicht vorstellen. In der Tat, in solch einem Krieg wie dem zwischen Österreich und Rußland ist für jede Partei die erste erfolgreiche Offensivbewegung von den größten Bedeutung, und jede wird das Äußerste tun, um sich als erste auf dem Gebiet der anderen festzusetzen.
Wir haben oft gesagt, daß dieser Krieg nicht das militärische Interesse haben würde, das eigentlich europäischen Kriegen beigemessen wird, bis
Österreich sich gegen Rußland erklärt. Selbst die Kämpfe auf der Krim sind nichts anderes als ein großer Krieg im kleinen Maßstabe. Die gewaltigen Märsche der Russen, die Leiden der Alliierten haben die kriegführenden Armeen so weitgehend reduziert, daß keine wirklich große Schlacht ausgetragen worden ist. Was sind das für Kämpfe, wo auf jeder Seite nur 15000 bis 20000 Mann ins Gefecht gebracht werden? Welche strategischen Operationen von wirklich wissenschaftlichem Interesse können innerhalb des kleinen Raumes von Chersones bis Bachtschissarai stattfinden? Und selbst da, was auch immer sich ereignen mag, reichen die Truppen niemals aus, um die ganze Linie zu besetzen. Das Interesse besteht mehr darin, was nicht getan wird, als was getan wird. Im übrigen wird an Stelle von Geschichte eine Anekdote aufgeführt. Es wird jedoch eine andere Sache sein, wenn die beiden großen sich jetzt an der galizischen Grenze gegenüberstehenden Heere in Aktion treten. Welche Absichten und Fähigkeiten die Kommandeure haben mögen, allein die Große der Armeen und die Beschaffenheit des Bodens lassen keinen Scheinkrieg und keine Unentschlossenheit zu. Schnelle Konzentrationen, Eilmärsche, Kriegslisten und Umgehungsmanöver der größten Art, Wechseln der Operationsbasen und -linien - in der Tat, Manövrieren und Kämpfen im großen Maßstab und gemäß wirklich militärischen Prinzipien werden hier zu einer Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit. Dann wird derjenige Kommandeur, der sich von politischen Erwägungen beeinflussen läßt oder mit mangelnder Entschlossenheit handelt, seine Armee verlieren. In solch einem Ausmaße und solch einem Lande nimmt der Krieg sofort eine ernste und sachliche Wendung. Das würde, wenn er ausbricht, einen Russischösterreichischen Krieg zu einem der interessantesten Ereignisse seit 1815 machen. Was die Aussicht auf den Frieden anbelangt, so ist das keinesfalls so klar, als es vor wenigen Wochen schien. Wenn die Alliierten bereit sind, dem Kampfe im wesentlichen unter den Bedingungen des Status quo ein Ende zu setzen, könnte es zum Frieden kommen, doch wie wenig Hoffnung darauf besteht, brauchen wir unseren Lesern nicht zu erklären. Gewiß können wir nicht erwarten, daß Rußland - da die Hälfte Deutschlands zumindest moralisch zu seinen Gunsten handelt, und nachdem es die riesigen Armeen, deren Stärke wir oben dargelegt haben, aufgestellt hat - irgendwelchen Bedingungen zustimmt, die Frankreich und England wahrscheinlich vorschlagen öder gutheißen werden. Der fast ununterbrochenen Reihe von vorteilhaften Friedensverträgen, von Peter dem Großen bis zum Frieden von Adrianopel[191, wird jetzt kaum ein Vertrag folgen, der die Beherrschung des Schwarzen
Meeres preisgibt, noch bevor Sewastopol genommen und erst ein Drittel der russischen Streitkräfte engagiert worden ist. Wenn aber der Friede nicht vor dem Fall Sewastopols geschlossen werden kann oder bevor die Expedition der Alliierten voll entfaltet ist, wird er weniger wahrscheinlich sein, nachdem der Krimfeldzug entschieden ist. Fallt Sewastopol, wird die Ehre Rußlands werden die Alliierten geschlagen und ins Meer getrieben, wird deren Ehre es nicht erlauben, ein Übereinkommen abzuschließen, bis nicht entscheidendere Ergebnisse erzielt worden sind. Wären die Vorbereitungen für die Konferenz von einem Waffenstillstand begleitet gewesen, wie wir andeuteten, als wir erfuhren, daß der Zar die vier Punkte akzeptiert hat, hätte Grund bestanden, weiterhin Hoffnungen auf Frieden zu hegen; jedoch unter den gegenwärtigen Umständen müssen wir einräumen, daß ein großer europäischer Krieg viel wahrscheinlicher ist.
Geschrieben um den 29.Januac 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Aus dem Parlamente - Vom Kriegsschauplatz
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 53 vom 1. Februar 1855] London, 29. Januar. Unsere Beurteilung des englischen Parlaments findet sich heute bestätigt in der englischen Presse.
„Das Parlament von England", sagt der „Morning Advertiser" t20J, „hat sich wieder versammelt und trennte sich in der ersten Nacht unter Gelächter, das widerwärtiger als der Spaß eines Idioten am Sarge seines Vaters."
Auch die „Times" kann nicht umhin, zu bemerken:
„Es gibt sicher wenige, die nach Durchlesung der Debatten vom Freitag nicht von einer melancholischen Empfindung übermeistert werden. Sie wird sich bei näherer Analyse in die Überzeugung auflösen, daß unsere Legislatur, zusammenberufen bei der dringendsten Gelegenheit zur Erwägung der ernstesten Fragen, die wichtigsten Gegenstände Nebendingen nachsetzt und persönlichen und Parteiinteressen die Stunden widmet, die ausschließlich der verzweifelten Lage unserer Krimarmee gebühren."
Bei dieser Gelegenheit rät die „Times" denn auch, Palmerston zum Premierminister zu machen, weil er zum Kriegsminister „zu alt" sei. Dieselbe „Times" riet, die Krimexpedition zu einer Jahreszeit und mit einer Truppenstärke zu unternehmen, die, nach dem Zeugnis von Sir Howard Douglas, dem größten militärischen Kritiker Englands, ihr Mißlingen fast garantierten. Zur Charakteristik der Freitagsitzung noch ein kleiner Nachtrag. Obgleich Roebuck durch sein seit Jahren chronisches Leiden gezwungen ward, seine Rede nach 10 Minuten abzubrechen und abrupt seinen Antrag zu stellen» hatte er Zeit genug gefunden, die fatale Frage zu formulieren: Wir haben 54000 Mann wohlausgerüstete Truppen nach dem Orient gesandt. Davon existieren noch 14000. Was ist aus den 40000 geworden, die fehlen? Und wie
Aus dem Parlamente - Vom Kriegsschauplatz 19
antwortete der Kriegsminister1 Sidney Herbert, der große Patron der englischen Pietisten, der Traktarianerll4J? Das System tauge nichts. Aber wer ' widerstand vor wenigen Monaten, als die Trennung des Ministeriums für den Krieg vom Kolonialministerium durchgesetzt wurde, jeder gründlichen Reform des Systems? Sidney Herbert und seine Kollegen. Sidney Herbert, nicht zufrieden, sich hinter „das System" zu retten, klagt die Kommandeurs der Brigaden und Regimenter völliger Untüchtigkeit an. Wer das System kennt, weiß auch, daß diese Kommandeurs nichts mit der Verwaltung, also auch nichts mit der Mißverwaltung zu tun haben, die jetzt eingestandenermaßen eine Musterarmee geopfert hat. Aber der fromme Herbert hat noch nicht genug mit dem Beichten fremder Sünden. Die englischen Soldaten seien unbeholfen. Sie wüßten sich nicht selbst zu helfen. Tapfer seien sie, aber stupid. „Zuschlagen, da sind sie respektabel, Denken gelingt ihnen miserabel.4'1211 Er, Sidney Herbert, und seine Kollegen seien lauter verkannte Genies. Kann man sich wundern, daß Herberts Predigt den wunderlichen Drummond aufrief und ihm die Frage in den Mund legte, ob es nicht Zeit sei, die Konstitution zu suspendieren und einen Diktator für England zu ernennen? Vernon Smith, der Ex-Whigminister, gab schließlich der allgemeinen Konfusion den klassischen Ausdruck, indem er erklärte: Er wisse nicht, was die Motion eigentlich wolle, noch was er selbst solle, noch ob ein neues Ministerium im Entstehen begriffen, noch ob das alte je existiert habe, und darum wolle er nicht für die Motion stimmen. Die „Times" glaubt indes, daß die Motion heute abend durchgehn werde. Am 26. Januar 1810 wurde bekanntlich Widerstand geleistet im englischen Parlament gegen Lord Porchesters Antrag auf Niedersetzung eines Untersuchungskomitees über die WalcherenExpedition[22]. Ähnlicher Widerstand am 26. Januar 1855. Am 29. Januar 1810 passierte die Motion, und England ist ein Land der historischenPräzedenzien. Die bloße Annahme der Friedensunterhandlungen erlaubte Rußland, soviel Truppen von der Observationsarmee an der österreichischen Grenze zu entziehen, als in 2 Monaten oder 10 Wochen wiederersetzt werden können, d. h. mindestens 60000-80000 Mann. Wir wissen nun, daß die gesamte ehemalige (russische) Donauarmee aufgehört hat, als solche zu existieren, da sich das 4. Korps seit Ende Oktober in der Krim befindet, das 3. dort in den letzten Tagen des Dezember anlangte und der Rest des 5. Korps nebst Kavallerie und Reserven auf dem Marsch dahin begriffen ist. Die neue
1 hier der Secretary at War (Staatssekretär für das Kriegswesen)
Verteilung dieser Truppen, die am Bug und Dnestr zu ersetzen sind durch Truppen von der Westarmee (stationiert in Polen, Wolhynien und Podolien), und die Tatsache, daß zudem Teile des 2. Korps und der Reservekavallerie ebenfalls nach der Krim marschieren, erklären, selbst ohne Rücksicht auf alle anderen diplomatischen Nebenzwecke, hinreichend, warum Rußland keinen Augenblick zauderte, die Unterhandlungen auf der sog. „Basis" wiederaufzunehmen. Zwei bis drei Monate Zeit sind von entscheidender Wichtigkeit für es, weil seine auf der langen Linie von Kaiisch nach Ismail zerstreute Armee ohne Verstärkungen nicht länger fähig ist, der wachsenden Zahl der ihr gegenüberstehenden österreichischen Armee zu widerstehen. Um dies näher zu zeigen, geben wir folgende aus den möglichst besten Quellen geschöpfte und die russische Streitkraft eher über- als unterschätzende Übersicht über die Stärke und Stellung der russischen großen aktiven Armee, die bestimmt ist, gegen den Süden und Westen Europas zu agieren. Sie bestand ursprünglich aus 6 Armeekorps, jedes von 48 Bataillons, 2 Korps auserlesener Truppen (Garden und Grenadiere), jedes 36 Bataillons stark, nebst einer verhältnismäßig starken Anzahl von Kavallerie, regelmäßiger und unregelmäßiger, und Artillerie. Die russische Regierung rief dann die Reserven ein, um das 4., 5. und 6. Bataillon der auserlesenen Truppen und das 5. und 6. Bataillon der anderen Armeekorps zu formieren. Bald darauf fügte sie durch neue Truppenaushebungen ein 7. und 8. Bataillon jedem Regiment hinzu, so daß die Anzahl der Bataillons für die Linienkorps verdoppelt und für die auserlesenen Truppen mehr als verdoppelt wurde. Diese Streitkräfte können annäherungsweise veranschlagt werden wie folgt: Garden vnd Grenadiere — die ersten 4 Bataillons pro Regiment = 96 Bataillons zu 900 Mann = 86400 Mann, dito die letzten 4 Bataillons pro Regiment, dito zu 700 Mann = 67200 Mann. 7. und 2. Korps (noch nicht engagiert) — die ersten vier Bataillons pro Regiment = 96 Bataillons zu 900 Mann = 86400 Mann. Die letzten 4 Bataillons pro Regiment = 96 Bataillons zu 700 Mann = 67200 Mann. 3., 4., 5., 6. Korps - die ersten 4 Bataillons pro Regiment = 192 Bataillons zu 500 Mann = 96000 Mann; die letzten 4 Bataillons pro Regiment = 192 Bataillons zu 700 Mann = 134400 Mann. Korps von Finnland - 14400 Mann. [Gesamtzahl] = 784 Bataillons [mit] 552000 Mann. Kavallerie (reguläre) - 80000 Mann. Kavallerie (irreguläre) 46000 Mann. Artillerie-80000 Mann. Gesamtzahl 758000Mann. Die Verluste fielen bisher nur auf die 96 aktiven Bataillons des 3., 4., 5. und 6. Korps. Nach Abzug der 1. Division des 5. Korps, die am Kaukasus steht, bleiben 750000 Mann, die nun folgendermaßen disloziert sind. An den Ufern des Baltischen Meeres die Baltische Armee unter General Sievers, bestehend aus
dem Finnischen Korps und den Reserven der Garden, Grenadiere und des 6. Korps, zusammen mit Kavallerie usw. ungefähr 135000 Mann, wovon ein Teil rohe Rekruten und kaum organisierte Bataillons. In Polen und an der Grenze von Galizien, von Kaiisch bis Kamenez, die Garden, Grenadiere, das 1. Korps, die 2. Division des 6. Korps, einige Reserven der Grenadiere und des 1. Korps nebst Kavallerie und Artillerie, ungefähr 235000 Mann. Dies ist der auserlesenste Teil der russischen Armee, kommandiertvon [Michail Dmitrijewitsch] Gortschakow. In Bessarabien und zwischen Dnestr und Bug zwei Divisionen des 2. Korps und ein Teil seiner Reserven, ungefähr 60000 Mann. Diese bildeten einen Teil der Armee des Westens. Als aber die Donauarmee nach der Krim gesandt wurde, wurden sie, um deren Stelle einzunehmen, von der Westarmee detachiert und stehen nun der österreichischen Armee in den Fürstentümern gegenüber unter dem Kommando des Generals Panjutin. Für die Verteidigung der Krim bestimmt:3.und4.Korps, 2 Divisionen des 6. Korps und Reserven nebst 1 Division sowohl des 2. als 5. Armeekorps auf dem Marsche, alles zusammen mit Kavallerie an 170000 Mann unter Menschikow. Der Rest der Reserven und neu gebildeten Bataillons, besonders des 12., 3., 4., 5. Korps, wird neu organisiert als große Reservearmee durch General Tscheodajew. Sie ist konzentriert im Innern von Rußland, ungefähr 150000 Mann stark. Wie viele davon nach Polen oder dem Süden marschieren, ist unbekannt. Während Rußland also Ende vergangenen Sommers weniger als 500000 Mann an den westlichen Grenzen seines Reiches musterte, von Finnland bis zur Krim, zählt es jetzt 600000 Mann, außer einer Reservearmee von 150000 Mann. Trotzdem ist es schwächer gegen Österreich als damals. Damals, August und September, standen in Polen und Podolien 270000 Russen, während die Armee am Pruth, Dnestr, der Donau ungefähr 80000 Mann betrug, zusammen 350000 Mann, die zusammen gegen Österreich operieren konnten. Jetzt nur noch 295000 Mann, während Österreich ihnen 320000 direkt entgegenstehen hat und sie mit 70000-80000 in Böhmen und Mähren unterstützen kann. Rußland kann daher in diesem Augenblicke keine Offensivoperation wagen, was in einem offenen Land wie Polen, ohne große Flußlinien zwischen den zwei Armeen, gleichbedeutend ist mit der Notwendigkeit, sich auf eine haltbare Position zurückzuziehen. Griffe Österreich jetzt an, so müßte sich die russische Armee in zwei Hälften spalten, wovon die eine auf Warschau, die andere auf Kiew retirieren müßte, zwischen beiden die unzugänglichen Moräste desPolesje, die vom Bug zum Dnepr reichen. Daher in diesem Augenblicke Zeitgewinn entscheidend für Rußland. Daher seine „diplomatischen Erwägungen44,
Karl Marx/Friedrich Engels
Die letzte britische Regierung1233
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4321 vom 23. Februar 1855, Leitartikel] Bei der Erwähnung des Amtsantritts der Regierung Lord Palmerstons, der, wie wir überzeugt sind, eine kurze und nicht sehr glanzvolle Laufbahn bevorstehen wird, scheint es nicht unpassend zu sein, einen Blick auf die Geschichte ihrer Vorgängerin zu werfen, von der man schwer sagen kann, ob in dem zukünftigen Bericht über sie die Großartigkeit ihrer anfänglichen Ansprüche, die folgenschwere Bedeutung der Geschehnisse, an denen sie mit beispielloser Unfähigkeit beteiligt war, oder die Schmach ihres Sturzes besonders gekennzeichnet werden wird. Man wird sich erinnern, daß Lord Aberdeen und seine Koalition durch die Abstimmung, die am 16. Dezember 1852 das Derby-Ministerium stürzte, ins Amt kam.Disraeli blieb bei einer Abstimmung übersein Budget,unter dem Vorwand, daß die von ihm vorgesehene Ausdehnung der Haussteuer und des allgemeinen Bereichs der direkten Besteuerung nicht mit den Grundsätzen der gesunden politischen Ökonomie der Whigs undPeeliten[111 übereinstimme, in einer Minderheit von 19 Stimmen. In Wirklichkeit wurde die Abstimmung jedoch durch die Irische Brigade1241 entschieden, deren Motive, wie wohl bekannt ist, von weit geringerer theoretischer Natur sind; und selbst die sog. Liberalen und liberalen Konservativen mußten ihre Worte durch ihre Taten Lügen strafen, als sie in ihrem eigenen Budget viele der Vorschläge Disraelis und die meisten seiner Argumente wiederholten. Auf jeden Fall wurden die Tories hinausgeworfen, und nach einigen Kämpfen und fruchtlosen Versuchen wurde diese Koalition gebildet, durch die, der Londoner „Times" zufolge, England jetzt „beim Beginn des politischen Millenniums" angelangt war. Dieses Millennium dauerte genau zwei Jahre und einen Monat; es endete unter der allgemeinen Entrüstimg des britischen
Volkes mit völligem Mißerfolg und Fiasko. Dieselbe „Times", die den Regierungsantritt „aller Talente" als den Beginn eines Millenniums verkündet hatte, war ausgerechnet diejenige, die am meisten zu ihrem Sturz beitrug. Die „Talente" kamen am 10. Februar 1853 mit dem Parlament zusammen. Sie wiederholten von neuem das gleiche Whig-Programm, das Lord John Russell schon einmal 1850 eröffnet und das dann sehr bald zum Sturz des Ministeriums geführt hatte. An die Hauptaufgabe, die Parlamentsreform, war vor der „nächsten Session" nicht zu denken. Vorläufig sollte das Land mit weniger wichtigen, doch häufigeren und praktischeren administrativen Reformen zufriedengestellt werden, wie die Gesetzreform, Eisenbahnregulationen und Verbcsserungen im Erziehungswesen. Der Rücktritt Lord John Russells vom Ministerium für Auswärtiges, in dem er durch Lord Clarendon ersetzt wurde, war die erste der Änderungen, die dieses talentierte Ministerium charakterisieren und die alle mit der Einrichtung neuer Stellen, neuer Pfründe und neuer Gehälter für ihre treuen Anhänger endeten. Eine Zeitlang war Russell Mitglied des Kabinetts ohne eine andere Funktion als die des Führers des Unterhauses und ohne Gehalt; doch er suchte sehr bald um letzteres nach und wurde schließlich mit einer schönen runden Jahressumme in den Rang und Titel des Präsidenten des [Privy] Council1 erhoben. Am 24. Februar brachte Lord John seine Bill zur Aufhebung der jüdischen Rechtsunfähigkeit ein, die zu nichts führte, da sie vom Oberhaus unterdrückt wurde. Am 4.April folgte er dieser mit seiner Bill über Erziehungsreform. Beide Bills waren so zahm und harmlos, wie man es von einer Regierung der Nichtstuer erwarten konnte. Inzwischen entdeckte Palmerston in seiner Stellung als Innenminister die neue Pulververschwörung, die große KossuthHale-Raketenaffäre2. Man wird sich erinnern, daß Palmerston Herrn Haies Raketenfabrik durchsuchen und eine Anzahl Raketen und Zündsätze beschlagnahmen ließ. Von dieser Angelegenheit wurde viel Aufhebens gemacht, und als man sie am 15. April im Parlament behandelte, gab Palmerston ihr durch seine geheimnisvolle Sprache noch größere Bedeutung. Doch aus einem Punkt machte er kein Geheimnis: er gab sich ebenso offen, wie es Sir James Graham 1844 anläßlich der Öffnung der Briefe Mazzinis[25] getan hatte, als den Hauptinformator der kontinentalen Polizei hinsichtlich der Flüchtlinge zu erkennen. Schließlich mußte die Sache von dem edlen Informator jedoch aufgegeben werden, da man Herrn Haie nur anklagen konnte, in einer gesetzwidrigen Nähe der Vororte Londons die Fabrikation explosiver Stoffe betrieben zu haben; und das große Komplott, ganz Europa in die Luft
1 [Geheimen] Rates - 2 siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 83-85
zu sprengen, wurde auf eine einfache strafbare Übertretung polizeilicher Reglements reduziert! Jetzt kam Russell wieder an die Reihe. Am 31 .Mai beleidigte er in einer Rede im Parlament die Katholiken1261 - die Leute, die ihn ins Amt gebracht hatten und das auf eine solche Weise, daß die irischen Mitglieder des Ministeriums sofort zurücktraten. Das war mehr, als die „starke Regierung" aushalten konnte. Die Unterstützung durch die Irische Brigade war die wichtigste Grundlage ihrer Existenz, und dementsprechend mußte Aberdeen meinem Brief an eines der irischen Mitglieder sich von seinem Kollegen abgrenzen und Russell im Parlament seine Worte zurücknehmen. Das Hauptmerkmal dieser Sitzung war die Ostindienbill, in der die Regierung vorschlug, ohne eine wesentliche Verbesserung des indischen Verwaltungssystems vorzunehmen, die Charte der Ostindischen Kompanie für zwanzig Jahre zu verlängern. Das war selbst solch einem Parlament zu viel und mußte aufgegeben werden. Die Charte sollte jährlich durch das Parlament gekündigt werden können. Sir Charles Wood, der ehemalige stümperhafte Schatzkanzler des Russell-Kabinetts, zeigte jetzt seine Fähigkeiten in dem Board of Control1 oder Indian Board2. Alle die vorgeschlagenen Reformen beschränkten sich auf einige wenige kleine Veränderungen von zweifelhafter Wirkung im Rechtssystem und auf Eröffnung der Zivildienste und der wissenschaftlichen Militärstellen für die öffentliche Konkurrenz. Doch diese Reformen waren lediglich Vorwände; der eigentliche Kern der Bill war folgender: Sir Charles Wood bekam sein Gehalt als Präsident des Board of Control von 1200 Pfd.St. auf 5000 Pfd.St. erhöht; statt der von der Kompanie gewählten 24 Indiendirektoren sollte es nur 18 geben, für 6 von ihnen hat die Regierung das Emennungsrecht, ein Patronatszuwachs, der um so weniger zu verachten war, als die Gehälter der Direktoren von300 Pfd.St. auf 900 Pfd. St. erhöht wurden, während der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende 1000 Pfd.St. bekommen sollten. Mit dieser Verschwendung öffentlicher Gelder nicht zufrieden, sollte der Generalgouvemeur von Indien, der früher zugleich Gouverneur von Bengalen war, jetzt einen besonderen Gouverneur für diese Präsidentschaft unter sich haben, während eine neue Präsidentschaft mit einem neuen Gouverneur am Indus geschaffen werden sollte. Jeder dieser Gouverneure mußte natürlich seinen Council3 haben, und die Sitze in diesen Councils sind gewiß überbezahlte und luxuriöse Pfründe. Wie glücklich müßte Indien sein, daß es endlich nach unverfälschten Whig-Prinzipien regiert wird.
1 Kontrollbehörde (für indische Angelegenheiten) - 2 Indienbehörde - 9 Rat
Dann kam das Budget. Diese glänzende finanzielle Kombination ist, zusammen mit Herrn Gladstones Plan für die Aufhebung der Nationalschuld, in der „Tribüne*4 so vollständig dargestellt worden1, daß es unnötig ist, seine Hauptzüge im einzelnen aufzuzählen. Viele waren dem Budget Disraelis entnommen, das so sehr die sittliche Entrüstung Gladstones hervorgerufen hatte; nichtsdestoweniger waren die Reduktion der Teesteuer und die Ausdehnung der direkten Besteuerung beiden Budgets gemeinsam. Einige seiner wichtigsten Bestimmungen wurden dem großen Finanzmann aufgedrungen, nachdem er wiederholt im Parlament mit seiner Opposition dagegen niedergestimmt worden war; so die Aufhebung der Steuern auf Zeitungsanzeigen und die Ausdehnung der Erbschaftssteuer auf Grundeigentum. Die Reform des Patentsystems2, während der Diskussion mehrere Male umgeändert, mußte fallengelassen werden. Das Budget, das mit den Prätensionen eines vollständigen Systems vorgetragen wurde, verwandelte sich im Verlauf der Debatte in ein wirres Mixtum compositum unzusammenhängender kleiner Items, die kaum den hundertsten Teil des Geredes wert waren, das sie verursachten. Über die Reduktion der Staatsschuld brach Gladstone noch vollständiger zusammen. Dieser mit noch größeren Prätensionen als dasBudget vorgebrachte Plan brachte als Ergebnis die Schaffung von 21/2prozentigen Schatzkammerbonds an Stelle der einprozentigen Schatzkammerscheine, wodurch das Publikum IV2 p.c. des Gesamtbetrages verlor; das Ergebnis war die Notwendigkeit, die ganze Summe der Schatzkammerscheine und zugleich 8 Millionen Südseeaktien[271 zum größten Nachteil für die Öffentlichkeit zurückzuzahlen, und dietotalePIeite der Schatzkammerbonds, dieniemand nehmen will. Durch diese wunderbare Anordnung konnte Herr Gladstone am I.April 1854 den Bestand der Schatzkammer mit Befriedigung von 7800000 Pfd. St. des Vorjahres auf 2800000 Pfd.St. reduziert sehen, wodurch der zur Verfügung stehende Fonds des öffentlichen Schatzamtes direkt am Vorabend eines Krieges um 5 Millionen vermindert wurde. All das angesichts der Geheimkorrespondenz Sir Hfamilton] Seymours, durch welche die Regierung ein Jahr vorher gewußt haben muß, daß ein Krieg mit Rußland unvermeidlich war. Die neue auf die irischen Grundherren und Pächter bezügliche Bill1281, unter Lord Derby von dem Tory [Joseph] Napier eingebracht, geht im Unterhaus wenigstens mit einigen Zeichen der Zustimmung von seiten der Regierung durch; die Lords warfen sie wieder hinaus, und Aberdeen erklärte am 9. August seine Befriedigung über dieses Ergebnis. Die Deportations
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 58-61 - 2 d. h. des Schanksteuersysiems
bill[20J, die Navigationsbill u.a., die zum Gesetz erhoben wurden, hatte man vom Derby-Kabinett geerbt. Die Bills über parlamentarische Reform, über Reform der nationalen Erziehung und beinahe alle Bills über die Gesetzreform mußten vertagt werden. Die britischen Whigs scheinen es als Unglück zu betrachten, wenn eine ihrer Maßnahmen diesem Schicksal entgehen sollte. Die einzige Bill, die durchkam und die man als rechtmäßigen Besitz dieser Regierung ansehen kann, ist die große Droschkenakte, die am Tage nach ihrer Annahme geändert werden mußte, da die Droschkenkutscher allgemein rebellierten. „Alle die Talente" konnten nicht einmal eine Droschkenregulation erfolgreich verwirklichen. Am 20. August 1853 entließ Palmerston das Parlament mit der Versicherung, daß das Volk wegen der orientalischen Schwierigkeiten beruhigt sein könne: die Evakuierung der Fürstentümer sei garantiert durch „sein Vertrauen in die Ehre und den Charakter des russischen Kaisers, die ihn dazu bewegen würden, seine Truppen [freiwillig] aus den Fürstentümern zurückzuziehen"! Am 3.Dezember wurde bekannt, daß die türkische Flotte von den Russen bei Sinope vernichtet worden war. Am 12. sandten die vier Mächte eine Note nach Konstantinopel, in der in Wirklichkeit weit mehr Konzessionen von der Pforte verlangt wurden als in der vergangenen Note der Wiener Konferenz[30]. Am 14. telegraphierte die britische Regierung nach Wien, daß die Affäre von Sinope nicht als Hindernis für die Fortsetzimg der Negotiationen betrachtet werde. Palmerston stimmte dem ausdrücklich zu; doch am nächsten Tag trat er zurück - anscheinend wegen einiger Differenzen, die Russells Reformbill betrafen, in Wirklichkeit, um das Publikum glauben zu machen, daß er wegen der Außen- und Kriegspolitik zurückgetreten sei. Nachdem sein Zweck erreicht worden war, trat er einige Tage später wieder in das Kabinett ein und vermied so alle unangenehmen Erklärungen im Parlament. Im Jahre 1854 wurde das Schauspiel mit dem Rücktritt eines der Junior Lords des Schatzamtes, Mr. Sadleir, eröffnet, der auch der Regierungsmakler der Irischen Brigade war. Skandalöse Enthüllungen in einem irischen Gerichtshof beraubten die Regierung eines ihrer Talente. Hinterher kamen neue skandalöse Dinge an den Tag. Mr. Gladstone, der tugendhafte Gladstone» versuchte, einem seiner Verwandten, seinem eigenen Sekretär, einem gewissen Lawley, der nur als ein Mensch, der aus Rennwetten ein Geschäft macht und als Börsenspieler bekannt ist, den Gouverneurposten für Australien zu verschaffen; aber zum Glück kam die Sache sehr bald heraus. «In gleicher Art stand derselbe Gladstone in unangenehmer Verbindung mit dem Laster, als ein gewisser O'Flaherty, ein Mann, der unter ihm angestellt und von ihm
auf seinen Posten gesetzt worden war, mit einer bedeutenden Summe öffentlicher Gelder flüchtig wurde. Ein anderes Individuum, mit dem Namen Hayward, schrieb ein dickleibiges Pasquill ohne literarischen oder wissenschaftlichen Wert gegen Disraeli und wurde von Gladstone mit einem Posten in der Armenverwaltung belohnt. Das Parlament kam Anfang Februar zusammen. Am 6. kündigte Palmerston eine Bill für die Schaffung der Miliz in Irland und in Schottland an; doch da der Krieg tatsächlich am 27. März erklärt wurde, betrachtete er es als seine Pflicht, sie nicht vor Ende Juni einzubringen. Am 13. brachte Russell seine Reformbill ein, um sie zehn Wochen später „mit Tränen in den Augen", auch weil der Krieg erklärt worden war, zurückzuziehen. Im März brachte Gladstone sein Budget vor, wobei er lediglich bat um „die Summe, die hinreicht, um die 25000 Mann, die im Begriff sind, die britische Küste zu verlassen, wieder dahin zurückztd>Tingenu. Dank seiner Kollegen ist er jetzt dieser Mühe enthoben. In der Zwischenzeit hat der Zar durch die Veröffentlichung der Geheimkorrespondenz1311 die Kabinette Frankreichs und Englands gezwungen, den Krieg zu erklären. Diese geheime Korrespondenz, die mit einer der Depeschen Russells vom I I.Januar 1853 beginnt, bewies, daß zu jener Zeit die britischen Minister sich völlig über die aggressiven Absichten der Russen klar waren. Alle ihre Behauptungen über die Ehre und den Charakter Nikolaus* und die friedliche und gemäßigte Haltung Rußlands sahen jetzt aus wie so viele schamlose Unwahrheiten, die nur erfunden wurden, um John Bull zu täuschen. Am 7. April hielt Lord Grey - der eine starke innere Berufung für den Posten des Kriegsministers verspürte, um die Disziplin in der Armee so zu untergraben, wie er die Loyalität in beinahe jeder britischen Kolonie während seiner früheren Kolonialverwaltung untergraben hatte - eine Philippika gegen die jetzige Organisation des Kriegsdepartements. Er forderte die Vereinigung aller seiner Amter unter einem Kriegsminister. Diese Rede gab den Ministern eine Gelegenheit, durch Trennung des Kriegsministeriums von dem Kolonialministerium im Juni eine neues Kriegsministeramt zu schaffen. Dadurch wurde alles in ebenso fehlerhaftem Zustande belassen wie bisher, wobei lediglich ein neues Amt und ein neues Gehalt geschaffen wurden. Diese ganze Parlamentssitzung kann man so zusammenfassen: sieben Hauptbills wurden eingebracht; davon fielen durch: die Bill für dieÄnderung des Niederlassungsgesetzes1321, für öffentliche Erziehung in Schottland und für die Änderung der parlamentarischen Eidformeln - eine andere Form der Bill für die Rechte der Juden; drei andere wurden zurückgezogen: die Bill für Verhinderung von Wahlbestechungen, die Bill für die Umgestaltung des Zivildienstes
und die Reformbill; eine Bill passierte: die für Reform der Universität zu Oxford, aber in einem scheußlich verstümmelten Zustand. Wir brauchen hier nicht auf die Kriegführung und die diplomatischen Bemühungen der Koalition einzugehen. Sie sind jedem noch frisch im Gedächtnis. Das Parlament, das sich am 12. August vergangenen Jahres vertagte, kam im Dezember wieder zusammen, um schnellstens zwei Maßnahmen von höchster Dringlichkeit zu bewilligen: die Bill über die Fremdenlegion und die Bill, welche der Miliz erlaubt, als solche im Ausland freiwilligen Dienst zu tun. Beide sind bis heute auf dem Papier geblieben. Inzwischen sind die Nachrichten über den verheerenden Zustand der britischen Armee in der Krim eingetroffen. Die Empörung der Öffentlichkeit wurde erregt; die Tatsachen waren offenkundig und unbestreitbar; Minister mußten an ihren Rücktritt denken. Das Parlament kam im Januar zusammen, Roebuck kündigte seine Motion an, Lord John Russell verschwand sofort, und eine Niederlage, wie sie in der Geschichte des Parlaments keine Parallele findet, stürzte „alle Talente" nach einer Debatte von nur wenigen Tagen. Großbritannien kann sich mancher schäbigen Regierung rühmen, doch ein so schäbiges, armseliges, gieriges und zugleich so anmaßendes Kabinett wie das „aller Talente" hat noch niemals bestanden. Es begann mit unbändigem Prahlen, lebte von Haarspalterei und Niederlagen und endete in so vollständiger Schande, wie es überhaupt menschenmöglich ist.
Geschrieben am l.Februar 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Zur Ministerkrise
[„Neue Oder-Zeitung* Nr. 59 vom 5. Februar 1855] London, 2. Februar. Gestern abend vertagte sich das Unterhaus wieder, nachdem Palmerston die formelle Anzeige, von der Resignation des Ministeriums gemacht. Im Oberhause hielt Aberdeen die Leichenrede des „Kabinetts aller Talente". Er habe sich dem Antrage Roebucks widersetzt, nicht weil seine Administration die Untersuchung scheue, sondern weil der Antrag die Konstitution verletze. Aberdeen vermeidet jedoch, dies historisch zu illustrieren in der Art seines Freundes Sidney Herbert, der das Unterhaus fragte, ob es gesonnen, das französische Direktorium (gestiftet 1795) nachzuahmen, das Kommissäre ausgesandt habe, um Dumouriez zu arretieren - Kommissäre, die bekanntlich 1793 von Dumouriez an Österreich ausgeliefert wurden1341. Solche Gelehrsamkeit vermeidet der schottische Than. Sein Kabinett, versichert er, könne nur gewinnen durch ein Untersuchungskomitee. Er geht weiter. Er antizipiert das Resultat der Untersuchung in einem Panegyrikus seiner selbst und seiner Kollegen, erst des Kriegsministers, dann des Schatzkanzlers, dann des Marineministers, endlich des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten. Jeder an seinem Posten sei groß gewesen - ein Talent. Was Englands militärische Position betreffe, so sei die Lage der Krimarmee zwar verdrießlich, aber Bonaparte habe Europa erzählt, daß die französische Armee aus 581000 Mann bestehe; er habe zudem eine neue Aushebung von 140 000 Mann verfügt. Sardinien habe dem Lord Raglan 15000 treffliche Truppen zur Disposition gestellt. Sollten die Friedensunterhandlungen in Wien sich zerschlagen, so sei ihnen der Beistand einer großen Militärmacht mit einer Armee von 500000 Mann gesichert. Der schottische Than leidet jedenfalls nicht an demselben Fehler wie der große Ökonom und Geschichtsschreiber Sismondi, der mit einem Auge, wie
er selbst erzählt, alles schwarz sah. Aberdeen sieht mit beiden Augen rosenfarben. So entdeckt er in diesem Augenblicke in allen Distrikten von England blühenden Wohlstand, während Handelsleute, Fabrikanten und Arbeiter an einer großen Handelskrise zu leiden vorschützen. Von dem attischen Salz, das schon Lord Byron am schottischen Than rühmte[35J, schüttet er folgendes Quantum auf seinen Antagonisten, Lord Derby:
„Meine Lords! Was das Land jetzt erheischt, ist eine starke Administration. Wie diese zu bilden, sei nicht an ihm, zu sagen. Das öffentliche Gerücht habe zuversichtlich behauptet, Lord Derby habe von Ihrer Majestät Befehl erhalten, die Bildung einer Administration zu unternehmen. Da er ihn indes auf seinem Platze sehe, so vermute er, daß dies nicht der Fall sei und das öffentliche Gerücht irre.M
Um die attische Feinheit dieser Erklärung zu verstehen, ist es nötig, Lord Derbys Antwort gegenüberzustellen:
»Der edle Graf Aberdeen unterschätze die Quelle, von wo er seine Nachricht herleite. Nicht das öffentliche Gerücht, sondern er selbst" (Derby) „habe, bevor er sich zum Hause der Lords begeben, Aberdeen persönlich unterrichtet über den Ruf, den er von der Königin erhalten. Das Öffentliche Gerücht, das den edlen Grafen zum Glauben verleitet, es sei möglich, daß er" (Derby) „eine Zusammenkunft mit Ihrer Majestät gehabt, sei daher eine Redeformel, vom edlen Grafen gebraucht von wegen seiner gewöhnlichen Ängstlichkeit, sich vor Übertreibung zu wahren und jeden Teil seines Rechtshandels unparteiisch darzulegen."
Bei dieser Gelegenheit erklärt Derby denn auch, daß der augenblickliche Stand der Parteien und die gegenwärtige Lage des Hauses der Gemeinen ihm nicht erlaubt hätten, die Bildung eines Ministeriums zu übernehmen. Für das Auditorium des Oberhauses und die edlen Pairs selbst verdrängten die Erklärungen des Kriegsministers, des Herzogs von Newcastle, und das Gemälde, das er vom Innern der „einträchtigen Familie" entwarf, nicht nur das Interesse an der Krimarmee, sondern selbst das an der ministeriellen Krise. Die Auseinandersetzung Lord John Russells im Unterhause zwänge ihn - sagt der Herzog von Newcastle -, sich über seine persönliche Stellung im gestürzten Kabinett auszusprechen. Russells Geschichtserzählung sei weder vollständig noch treu gewesen. Er habe insinuiert, als ob er bei der Trennung des Kriegs- vom Kolonialministerium nur dem „heftigen Wunsche" Newcastles widerstrebend nachgegeben, als er in die Übertragung des Kriegsministeriums auf den Herzog einwilligte. Als diese Trennung im Ministerrate beschlossen worden, habe er (Newcastle) vielmehr erklärt: „Was ihn persönlich betreffe, sei er durchaus bereit, irgendeines oder keines der beiden Departements zu übernehmen." Er erinnere sich nicht, daß Russell
je den Wunsch ausgesprochen, Lord Palmerston das Kriegsministerium zu übertragen, wohl aber, daß Russell selbst es einmal übernehmen wollte. Er (Newcastle) habe nie daran gedacht, ihm hier im Wege zu stehen. Er habe das Kriegsministerium übernommen mit dem vollen Bewußtsein, daß im Falle des Gelingens ihm nicht das Verdienst zugeschrieben, im Falle des Mißlingens aller Tadel auf ihn gewälzt werden würde. Er habe es aber für seine Pflicht gehalten, von diesem undankbaren Posten der Gefahr und der Schwierigkeiten nicht zu desertieren. Das sei, was einige seine „Arroganz", was Lord Russell in vornehm protektierender Weise seinen „löblichen Ehrgeiz" genannt. Lord Russell habe absichtlich dem Hause der Gemeinen folgende Stelle aus einem Briefe Aberdeens an den edlen Lord vorenthalten:
„ Ich habe Ihren Brief dem Herzog v[on] Newcastle und Sidney Herbert mitgeteilt. Beide, wie zu erwarten, drangen lebhaft in mich, solche Anordnungen in bezug auf ihre Posten zu treffen, wie sie am nützlichsten für den öffentlichen Dienst geglaubt würden."
Er (Newcastle) habe bei der Gelegenheit dem Grafen Aberdeen noch mündlich erklärt:
„Geben Sie dem Lord Russell keinen Vorwand, aus dem Kabinett auszutreten. Widerstehen Sie ja nicht seinem Wunsche, mich vom Amte zu entfernen. Verfahren Sie mit mir, wie es das Beste des öffentlichen Dienstes erheischt."
Lord John Russell habe im Hause der Gemeinen geheimnisvoll auf die Irrtümer hingewiesen, die er an Aberdeen schriftlich denunziert habe. Er habe sich wohl gehütet, die betreffenden Stellen zu verlesen. Die erste betreffe die Nichtabsendung des 97. Regiments von Athen nach der Krim, aber der Minister des Auswärtigen hätte die Entblößung Athens von englischen Truppen für unzulässig und gefährlich erklärt. Was seinen zweiten Irrtum betreffe, die Unterlassung einer Sendung von 3000 Rekruten, so habe Lord Raglan protestiert gegen die weitere Zufuhr so junger und undisziplinierter Soldaten. Außerdem habe es damals durchaus an Transportdampfern gefehlt. Diese zwei angeblichen Irrtümer - das sei alles, was Russell ausgeheckt, der mit seinen Kollegen sich in Badeplätzen erholt, während er (Newcastle) während des ganzen Jahres 1854 auf seinem Posten ausgehalten und geschanzt habe. Übrigens habe Russell ihm selbst am 8. Oktober in bezug auf die „Irrtümer" schließlich geschrieben: „Sie haben alles getan, was zu tun möglich war, und ich hege sanguinische Erwartungen vom Erfolge." Aberdeen habe übrigens dem gesamten Kabinettsrat Russells Vorschlag wegen der Personalveränderungen vorgelegt. Er sei einstimmig verworfen worden. Am 13.Dezember habe er (Newcastle) im Hause der Lords seine
Verwaltung in ausführlicher Rede verteidigt; am lö.Dezember habe Russell dem Aberdeen erklärt, daß er seine Ansichten geändert und seinen Wunsch bezüglich des Stellenwechsels aufgegeben habe. Maßregeln und Vorschläge zur Reform der Kriegsadministration habe Russell nie gemacht, mit zwei Ausnahmen. Drei Tage vor seiner Resignation und Roebucks Antrage fand Kabinettsrat statt. Russell schlägt vor, den Versammlungen der Chefs aller militärischen Departements, die seit einiger Zeit im Büro des Ministers für den Krieg stattfanden, einen formellen und offiziellen Charakter zu geben. Russells Vorschlag wurde angenommen. Kurz darauf sandte Russell einen schriftlichen Antrag ein, der außer der schon im Kabinettsrat bewilligten Neuerung nur zwei Vorschläge enthielt: 1. Ein oberstes Büro zu stiften, mit dem Minister für den Krieg an der Spitze, das das Ordonnanzbüro absorbieren und die ganze Zivilverwaltung der Armee kontrollieren solle; 2. zwei höhere Offiziere, außer den bisherigen Chefs der Kriegsdepartements, zu diesem obersten Büro hinzuzuziehen. Russell erklärte im Unterhause, er habe allen Grund gehabt zu glauben, daß seine „schriftlichen Vorschläge" verworfen würden. Dies war falsch. Vorschlag Nr. 1 wurde von Newcastle angenommen; Vorschlag Nr.2 wurde zurückgewiesen, unter anderem, weil der „Generalkommissär", den Russell zuziehen wollte, schon seit Jahren eine mythische Person ist, nicht mehr in der englischen Armee existiert. So habe Russell nie einen Vorschlag gemacht, der nicht angenommen worden sei. Übrigens habe er (Newcastle) dem Grafen Aberdeen schon am 23.Januar erklärt, daß, wie immer das Parlament entscheiden möge, für oder gegen das Ministerium, er aus dem Ministerium austreten werde. Nur wollte er nicht den Schein haben, auszureißen, bevor das Parlament sein Urteil gefällt. Lord John Russell, dessen ganzes Leben, wie der alte Cobbett sagt, nur eine Reihe von „falschen Vorwänden zum Leben" war, ist, wie Newcastles Rede zeigt, nun auch auf falsche Vorwände hin verstorben.
Karl Marx
Der Sturz des Ministeriums Aberdeen
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4316 vom 17.Februar 1855] London, Freitag, 2. Februar 1855 In der ganzen Geschichte der Repräsentatiwerfassung hat noch niemals ein Ministerium so schimpflich abtreten müssen wie das gepriesene Kabinett „aller Talente" in England. In die Minderheit kann jeder einmal kommen, aber mit 305 Stimmen gegen 148, also mit mehr als zwei zu eins zu unterliegen, und das in einer Versammlung wie im Unterhaus von Großbritannien, diese Auszeichnung blieb der Plejade der genialen Köpfe vorbehalten, die ce eher1 Aberdeen anführte. Kein Zweifel, das Kabinett wußte, daß seine Teige gezählt waren, sobald das Parlament zusammentrat. Die skandalösen Vorgänge auf der Krim, der vollständige Zusammenbruch der Armee, die Hilflosigkeit aller derer, die an der Führung des Krieges beteiligt waren, die Entrüstung im Lande, genährt durch die Ausfälle der „Times", die offenbare Entschlossenheit John Bulls, endlich zu erfahren, wer zu tadeln sei, oder wenigstens seinen Zorn an dem einen oder andern auszulassen - alles das mußte dem Kabinett beweisen, daß die Zeit gekommen war, sein Haus zu bestellen. Drohende Anfragen und Motionen wurden sofort in großer Zahl angekündigt; vor allem drohte die Motion des Herrn Roebuck über die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Führung des Krieges und der Tätigkeit aller Personen, die irgendwie für seine Leitung verantwortlich waren. Das brachte die Dinge sogleich zur Entscheidung. Lord John Russells politisches Fingerspitzengefühl ließ ihn sofort begreifen, daß diese Motion trotz der Minderheiten[36J adoptiert werden würde, und ein Staatsmann wie er, der mehr Minderheiten als Lebensjahre aufzuweisen hat, konnte es sich
1 dieser liebe 3 Marx,Endels, Werke. Bd. 11
nicht gut leisten, nochmals überstimmt zu werden. Dementsprechend hielt Lord John Russell mit der ihm eigenen Kleinmütigkeit und rabülistischen Gemeinheit - Eigenschaften, die während seiher ganzen Laufbahn sichtbar sind hinter einer Hülle von wichtigtuerischer Geschwätzigkeit und konstitutioneller Engstirnigkeit - „Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit"13'1 und machte sich aus seinem Amte fort, ohne auch nur seine Kollegen hiervon zu benachrichtigen. Obgleich er ein Mann ist, der schwerlich erwarten kann, irgendwo vermißt zu werden, scheint es dennoch, daß „alle Talente" durch seinen plötzlichen Rücktritt völlig aus der Fassung gebracht wurden. Einmütig verdammte die englische Presse den kleinen Staatsmann, aber was hatte das zu bedeuten? Die ganze Presse und alle ihre Verdammungsurteile konnten dem ministeriellen Drunter und Drüber kein Ende bereiten; und in diesem Zustand der Desorganisation, als der Herzog von Newcastle vom Kriegsministerium zurücktrat und Lord Palmerston es noch nicht in Besitz genommen hatte, mußte das Kabinett Herrn Roebucks schrecklicher Motion gegenübertreten. Herr Roebuck ist ein kleiner Advokat, der ein ebenso drolliger wie harmloser kleiner Whig wäre wie Lord John Russell, hätte er nur in seiner parlamentarischen Laufbahn mehr Erfolg gehabt. Aber dem ci-devant1 Anwalt ohne Praxis und jetzigen parlamentarischen Salbader blieb es trotz seiner ganzen Pfiffigkeit und Gewandtheit versagt, irgendwie nennenswertes politisches Kapital anzuhäufen. Obgleich er gewöhnlich als eine Art geheimer und vertraulicher Zuträger jedes Whig-Ministeriums auftrat, glückte es ihm nie, jene Stellung zu erlangen, die, das höchste Ziel aller britischen Liberalen, einen „Posten" sichert. Getäuscht in seinen süßesten Hoffnungen, unterschätzt von seiner eigenen Partei, verhöhnt von seinen Gegnern, fühlte unser Freund Roebuck, daß in seiner Brust die Milch der frommen Denkungsart allmählich sauer zu werden begann, und wurde nach und nach zum gehässigsten, ungeselligsten, unangenehmsten und aufgebrachtesten kleinen Köter, der je im Sitzungssaal eines Parlaments gebelfert hat. In dieser Eigenschaft diente er nacheinander allen, die sich seiner zu bedienen wußten, ohne je Ansprüche auf die Dankbarkeit oder Achtung irgendeiner Partei zu erwerben; und niemand wußte besseren Nutzen aus ihm zu ziehen als unser alter Freund Palmerston, zu dessen Benefiz er wieder am 26. vorigen Monats auftreten mußte. Herrn Roebucks Motion konnte so, wie sie tatsächlich war, in einer Versammlung wie das britische Unterhaus, kaum irgendwelchen Sinn haben.
1 ehemaligen
Jeder weiß, wie schwerfällig, träge und zeitraubend die Kommissionen des Unterhauses arbeiten; eine Untersuchung der Führung dieses Krieges durch eine solche Kommission hätte nicht den geringsten praktischen Zweck, denn ihre Resultate kämen um viele Monate zu spät, um noch etwas gutzumachen vorausgesetzt, daß bei der Untersuchung überhaupt etwas Gutes herauskäme. Nur in einer revolutionären, diktatorischen Versammlung, wie es etwa der französische Nationalkonvent von 1793 war, könnten solche Kommissionen Gutes tun. Aber da ist die Regierung selbst nichts anderes als eine solche Kommission; ihre Vertreter sind die Kommissäre der Versammlung selbst, und daher würden in einer solchen Versammlung derartige Motionen überflüssig sein. Dennoch hatte Herr Sidney Herbert nicht ganz unrecht, als er darauf hinwies, die Motion habe einen etwas unkonstitutionellen Charakter (sicher ganz unabsichtlich seitens des Herrn Roebuck), und als er mit der an ihm gewohnten historischen Genauigkeit fragte, ob das Unterhaus gesonnen sei, Kommissäre nach der Krim zu senden, so wie es das Direktorium (sie!1) gegenüber General Dumouriez getan habe. Nebenbei sei eins bemerkt: diese selbe köstliche Chronologie läßt das Direktorium (gestiftet 1795) Kommissäre zu Dumouriez senden, die von diesem General bereits 1793 arretiert und an Österreich ausgeliefert worden waren. Diese Chronologie bildet ein würdiges Seitenstück zu der Verwirrung in Zeit und Raum, die in allen Taten des Herrn Sidney Herbert und seiner Kollegen vorherrscht. Um aber auf Herrn Roebucks Motion zurückzukommen, so diente der erwähnte Formfehler darin einer Unmenge von Stellenjägern als Vorwand, nicht dafür zu stimmen und sich für jede mögliche Kombination frei zu halten. Und doch war die Mehrheit gegen die Minister so überwältigend groß! Die Debatte selbst zeichnete sich besonders durch die Streitigkeiten aus, die die verschiedenen Departements der Regierung untereinander ausfochten. Jeder suchte die Schuld auf den andern zu schieben. Sidney Herbert, der Staatssekretär für das Kriegswesen, sagte, die ganze Schuld liege am Transportdienst; Bernal Osborne, Sekretär der Admiralität, erklärte, nur das verderbte, morsche System der Horse Guards[3S1 sei die Ursache des ganzen Unheils; Admiral Berkeley, einer der Lords der Admiralität, gab Herrn Herbert ziemlich deutlich den Rat, sich an die eigene Nase zu fassen etc. Im Oberhaus wurden zur selben Zeit ähnliche Liebenswürdigkeiten zwischen dem Kriegsminister, dem Herzog von Newcastle, und dem Oberbefehlshaber, Viscount Hardinge, ausgetauscht. Herrn Herberts Position wurde in der Tat durch L,ord John Russell außerordentlich erschwert, der bei der Erklärung
1 so! wirklich sol
über seinen Rücktritt zugab» daß alles, was die Presse über den Zustand der Krimarmee gesagt hatte, dem Wesen nach richtig und die Lage der Truppen „schrecklich und herzzerreißend" sei. Darauf blieb Sidney Herbert nichts übrig, als die Tatsachen ohne Murren zuzugeben und eine Reihe außerordentlich lahmer und teilweise unbegründeter Entschuldigungen vorzubringen. Er mußte die völlige Unfähigkeit und Desorganisation der militärischen Verwaltung sogar ganz ausdrücklich zugestehen. Es war uns verhältnismäßig leicht gelungen, sagte Herbert, 240000 Tonnen der verschiedensten Vorräte und eine zahlreiche Armee nach einer Reise von dreitausend Meilen bis nach Balaklawa zu bringen - und nun folgt eine feurige Aufzählung all der Uniformen, Zelte, des Proviants und sogar der Luxusartikel, die der Armee im Überfluß geschickt wurden. Aber ach, nicht in Balaklawa brauchte man die Dinge, sondern sechs Meilen weiter aufwärts im Lande. Dreitausend Meilen weit konnte man alle diese Vorräte transportieren, aber dreitausendundsechs unmöglich! Die Tatsache, daß sie sechs Meilen weiter gebracht werden mußten, hat edles zuschanden gemacht! Immerhin hätte seine um Nachsicht bittende Haltung etwas Mitleid für ihn erwecken können, waren nicht die Reden von Layard, Stafford und seinem eigenen Kollegen Gladstone gewesen. Die beiden ersteren Unterhausmitglieder waren erst kürzlich von einer Reise nach dem Osten zurückgekehrt; sie hatten mit eigenen Augen gesehen, was sie erzählten. Und weit davon entfernt, nur das zu wiederholen, was die Zeitungen bereits veröffentlicht hatten, brachten sie Beispiele von Vernachlässigung, verkehrter Verwaltung und Unfähigkeit, beschrieben sie Greuelszenen, die bei weitem alles bisher bekannt gewordene übertrafen. Pferde wurden auf Segelschiffen von Varna nach Balaklawa transportiert, ohne daß es Futter für sie gab; Tornister machten fünf- oder sechsmal dieReise von der KrimnachdemBosporus,indes die Soldaten hüngerten, froren und durchnäßt waren wegen des Fehlens der in den Tornistern befindlichen Kleidungsstücke. „Rekonvaleszenten" wurden zum aktiven Dienstauf die Krimzurückgeschickt,während sie noch zu schwach waren, auf ihren Füßen zu stehen; die Kranken und Verwundeten waren in Skutäri wie auch in Balaklawa und auf den Transportschiffen einer schändlichen Vernachlässigung, dem Mangel und dem Schmutz ausgesetzt. Alles dies ergab ein Bild, demgegenüber die Schilderungen der „eigenen Korrespondenten" oder der Privatbriefe aus dem Osten vollständig verblassen. Um die entsetzliche Wirkung dieser Schilderungen zu verwischen, mußte die weise Selbstgefälligkeit des Herrn Gladstone in die Bresche springen, und zum Unglück für Sidney Herbert zog er alle Eingeständnisse zurück, die seine Kollegen am ersten Abend der Debatte gemacht hatten. Roebuck hatte
Herbert geradezu gefragt: Sie sandten 54000 Mann aus England weg, jetzt sind nur 14000 unter Waffen; was ist aus den übrigen 40000 geworden? Herbert antwortete Roebuck einfach, indem er daran erinnerte, daß einige von ihnen schon in Gallipoli und Varna gestorben seien; er habe nie die allgemeine Richtigkeit der angegebenen Ziffern der Toten und Kampfunfähigen in Zweifel gestellt. Gladstone zeigt sich nun aber besser informiert als der Staatssekretär für das Kriegswesen und stellt „laut Datum der zuletzt eingegangenen Berichte" fest, die Zahl der Truppen betrage nicht 14000, sondern 28200 Mann, außer den 3000 bis 4000 Seesoldaten und Matrosen, die am Land dienen. Gladstone hütet sich selbstverständlich, zu verraten, „welches Datum diese letzten Berichte" tragen. Aber angesichts der beispiellosen Faulheit, die in allen Instanzen und besonders im Brigade-, Divisions- und Generalstab herrscht und in dem verspäteten Eintreffen der Verlustlisten zum Ausdruck kommt, sind wir wohl berechtigt, anzunehmen, daß die wunderbaren Berichte des Herrn Gladstone etwa das Datum des 1. Dezember 1854 tragen und noch eine große Zahl von Leuten aufführen, die in den auf dieses Datum folgenden sechs Wochen durch schlechtes Wetter und Überanstrengung endgültig aufgerieben wurden. Gladstone scheint wirklich jenen blinden Glauben an offizielle Dokumente zu haben, den er bei früheren Anlässen vom Publikum für seine Finanzaufstellungen erwartete. Ich will keine längere Analyse der Debatte anstellen. Außer einer Menge von Dii minorum gentium1 sprach noch Disraeli, ebenfalls Walpole, der letzte Tory-Minister des Innern, und endlich Palmerston, der „edelmütig" für seine verleumdeten Kollegen eintrat. Nicht ein Wort hatte er während des ganzen Verlaufs der Debatte gesagt, ehe er sich nicht vergewissert hatte, wohin der Kurs gehe. Dann, und erst dann erhob er sich. Die Gerüchte, die durch ihre Zuträger zur Ministerbank gebracht wurden, die allgemeine Stimmung des Hauses machten eine Niederlage gewiß - eine Niederlage, die seine Kollegen ruinieren, ihm aber nichts anhaben konnte. Obzwar er scheinbar mit den übrigen abtreten mußte, so war er doch seiner Position so sicher, war er so überzeugt, durch ihren Rücktritt zu profitieren, daß er es fast als eine Höflichkeitspflicht empfand, sie hinauszugeleiten. Und dieser Pflicht entledigte er sich durch seine Rede unmittelbar vor der Abstimmung. Palmerston hat in der Tat die ihm zu Gebot stehenden Mittel geschickt . ausgenutzt. Gelegentlich der Affäre Pacifico1391 zum „wahrhaft englischen Minister" erklärt, hat er diese Rolle seither stets zu spielen verstanden, und zwar in einem solchen Maße, daß John Bull trotz aller erstaunlichen
1 niederen Göttern
Enthüllungen sich jedesmal an eine fremde Macht verkauft wähnte, sobald Palmerston das Auswärtige Amt verließ. Durch Lord John Russell in höchst unzeremonieller Weise aus diesem Amt vertrieben, erzwang er von diesem kleinen Mann durch Drohungen Stillschweigen über den Grund jener Vertreibung, und von diesem Augenblick ein wandte sich dem „wahrhaft englischen Minister" neues Interesse zu, als dem unschuldigen Opfer ehrgeiziger und unfähiger Kollegen, als dem Mann, den die Whigs verraten hatten. Nach dem Sturz des Derby-Ministeriums wurde er ins Ministerium des Innern gesteckt, eine Stellung, die ihn neuerdings als Opfer erscheinen ließ. Man konnte den großen Mann nicht entbehren, den alle haßten, und da man ihm keine angemessene Stellung geben wollte, so wurde er mit einem Posten abgespeist, der eines solchen Genies völlig unwürdig war. So dachte John Bull und ward immer stolzer auf seinen Palmerston, als er sah, wie dieser echt englische Minister in seiner untergeordneten Stellung sich geräuschvoll betätigte, sich mit Friedensrichtern herumschlug, mit Droschkenkutschern herumzankte, das Kanalisationsamt tadelte, seine Redekraft an dem Patentsystem1 erprobte, sich mit der Frage der großen Rauchplage herumbalgte, die Zentralisation der Polizei einstrebte und den Beerdigungen innerhalb der Stadtgrenzen ein Ende setzte. Der echte englische Minister! Seine Richtschnur, seine Informationsquelle, seine Schatzkammer für neue Maßregeln und Reformen waren die nie endenwollenden „Paterfamilias"2-Briefe in der „Times". Natürlich freute sich darüber niemand mehr als Paterfamilias, der das Ebenbild der Mehrheit edler Wähler aus der englischen Bourgeoisie ist und deren Abgott nun Palmerston wurde. „Seht, was ein großer Mann auf einem kleinen Posten meichen kann! Weinn hätte je vorher ein Minister des Innern sich mit der Abschaffung solcher Übelstände abgegeben!" Dabei aber wurden weder die Droschken verbessert noch der Rauch unterdrückt, noch die innerhalb der Stadt befindlichen Friedhöfe beseitigt, noch die Polizei zentredisiert, noch irgendeine dieser großen Reformen ausgeführt - aber das lag beileibe nicht an Palmerston, sondern nur an seinen mißgünstigen und dickköpfigen Kollegen! Und bald wurde diese Geschäftigkeit, diese Sucht, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen, als Beweis großer Energie und Tatkraft angesehen. Und dieser unbeständigste aller englischen Staatsmänner, der niemals weder eine Verhandlung noch eine Bill im Parlament zu einem befriedigenden Resultat führen konnte, dieser Politiker, der sich nur zum Zeitvertreib betätigt und dessen Maßnahmen immer damit enden, daß man sie sanft einschlafen läßt - dieser selbe Palmerston wurde zum einzigen Meinn ausposaunt,
1 d. h. Schanksteuersystem - 2 „Haus-44 oder „Familienvater44
auf den sein Land sich in schwierigen Fällen verlassen könne. In Wahrheit trug er selbst ein gut Teil zu dieser marktschreierischen Reklame bei. Nicht zufrieden damit, Mitbesitzer der „Morning Post"[401 zu sein, wo er tagtäglich als der künftige Retter seines Landes gepriesen wurde, mietete er auch noch Gesellen wie den Chevalier Wikoff, die seinen Ruhm in Frankreich und Amerika verbreiten mußten, bestach er vor einigen Monaten die „Daily News" [411, indem er ihr telegraphische Depeschen übermittelte und sonstige nützliche Winke gab, und hatte seine Hand in der Leitung fast jedes Londoner Blattes. Die schlechte Führung des Krieges führte jene schwierige Lage herbei, in der er auf den Ruinen der Koalition groß, unerreicht und unerreichbar sich zu erheben beabsichtigte. In diesem entscheidenden Moment verschaffte er sich die rückhaltlose Unterstützung der „Times ". Wie er das zuwege brachte, welchen Vertrag er mit Herrn Delane abschloß, können wir natürlich nicht sagen. Aber am Tage nach der Abstimmung rief die ganze Londoner Tagespresse, mit der einzigen Ausnahme des „Herald"1421, einstimmig nach Palmerston als Premier; und wir nehmen an, er dachte, jetzt das Ziel seiner Wünsche erreicht zu haben. Zum Unglück hat die Königin von dem wahrhaft englischen Minister zu viel gesehen und wird ihm nicht nachgeben, wenn sie es verhindern kann. Karl Marx
Geschrieben am 2. Februar 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Das gestürzte Ministerium
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 63 vom 7. Februar 1855] London, 3. Februar. Am 16. Dezember 1852 wurde der erste Punkt von Disraelis Budget-Ausdehnung der direkten Steuer, zunächst der Haussteuer— durch eine Majorität von 19 Stimmen verworfen. Das Tory-Ministerium resignierte. Nach zehntägigen Intrigen hatte sich das Koalitionsministerium gebildet. Es bestand aus einem Teile der Whig-Oligarchie - der Grey-CIan war diesmal ausgeschlossen-, der Bürokratie der Peeliten111 einem Zusatz von sog. Mayfair-Radikalen[431, wie Molesworth und Osborne, endlich den Maklern der Irischen Brigade[24], die am 16. Dezember den Ausschlag gegeben hatten - Sadleir, Keogh, Monsell - und in untergeordneten ministeriellen Posten untergebracht wurden. Das Ministerium bezeichnete sich selbst als das „Kabinett aller Talente". Es umfaßte in der Tat beinahe alle Talente, die sich seit 30 Jahren und länger in der Regierung abgelöst hatten. Die „Times" kündete das „Kabinett aller Talente" mit den Worten an: „Wir sind nun beim Beginn des politischen Millenniums angelangt." Das „politische Millennium" war in der Tat für die regierenden Klassen hereingebrochen von dem Augenblicke, wo sie entdeckten, daß ihre Parteibildungen aufgelöst, ihre innem Gegensätze nur noch auf persönlichen Launen und Eitelkeiten beruhten und ihre wechselseitigen Reibungen nicht länger das nationale Interesse zu spannen vermochten. Das Koalitionsministerium vertrat keine besondere Fraktion. Es vertrat „alle Talente" der Klasse, die bis jetzt England regiert hat. Es ist daher wichtig, einen Rückblick auf seine Leistungen zu werfen. Nach dem Sturz des Derby-Ministeriums wurde das Parlament für die Weihnachtsferien vertagt. Es wurde dann wieder vertagt für die Osterferien. Dann erst begann die wirkliche Sitzung von 1853, beinahe ganz absorbiert von den Debatten über Gladstones Budget, von Sir Charles Woods Bill über
Indien und Youngs Bill zur Regulation der Verhältnisse zwischen Grundherren und Pächtern in Irland. Bevor er sein Budget einbrachte, kündigte Gladstone große Operationen zur Reduktion der Staatsschuld * sowohl der schwebenden wie der konsolidierten - an. Die Operation auf die erste bestand darin, daß er den Zins der Schatzkammerscheine von l1^ d- per Tag auf 1 d. herabsetzte, und zwar in einem Augenblicke, wo die Marktrate des Zinses stieg. Resultat war, daß er 3 Millionen von Schatzscheinen erst einzulösen und dann zu höherem Zinse wieder auszugeben hatte. Bedeutender noch war sein Experiment mit dem Ungeheuer der konsolidierten Staatsschuld. Ostensibler Zweck war ihre Reduktion. Er operierte so geschickt, daß er am Ende des finanziellen Jahres 8 Millionen Südseescheine at par1 rückkaufen mußte, die nach dem damaligen Börsenkurse nur 85 p.c. wert waren. Gleichzeitig wirft er ein neu von ihm erfundenes Papier - Schatzkammerbonds - auf die Börse. Er hat sich vom Parlament zur Ausgabe Von 30 Millionen Pfd. St. solcher Papiere ermächtigen lassen. Er wird mit Mühe 400 000 Pfd. St. los. Mit einem Worte: seine Operationen zur Reduktion der Staatsschuld endigen mit Vergrößerung des Kapitals der konsolidierten und des Zinsfußes der schwebenden Staatsschuld. Sein Budget, der Stolz der Koalition, besteht aus verschiedenen heterogenen Momenten. Teile desselben, wie Herabsetzung der Teesteuer, der Akzise (nur daß er sie auf Seife, Disraeli auf Malz herabsetzte) und Erhöhung der direkten Steuer, sind dem Budget seines Vorgängers entlehnt. Andere und die wichtigsten Bestimmungen, wie Auflegung der Erbschaftssteuer auf Grund und Boden, Abschaffung der Steuer auf Zeitungsanzeigen etc., wurden ihm aufgenötigt, indem er zweimal mit seinen Gegenanträgen im Hause durchfiel. Andere Bestandteile seines Plans, wie z.B. die neue Regulation des Patentsystems2, muß er ganz zurückziehen. Was er als ein enzyklopädisches System in das Haus gebracht, kommt heraus als ein Mischmasch von heterogenen und widersprechenden Items. Originell bleibt ihm nur noch ein Platz im Budget, der, wo der „Times" 30000-40000 Pfd. St. jährlich erlassen werden durch Abschaffung des Stempels für die Beiblätter, die von allen Zeitungen nur die „Times" herausgibt. Um so fester bestand er - und so sehr hat er sich dadurch die Gunst der „Times" erworben, daß sie ihn auch in einem neuen Ministerium nicht vermissen will - auf Beibehaltung des Stempels für das Hauptblatt. Das waren Gladstones Meisterstücke, von denen die Koalition während der ganzen Session von 1853 zehrte.
1 auf pari (gleich an Wert) - 8 d. h. des Schanksteuersystems
Die Charte der Ostindischen Kompanie lief ab mit dem 30. April 1854. Das Verhältnis Englands zu Indien mußte also neu reguliert werden. Die Koalition bezweckte» die Charte der Ostindischen Kompanie wieder für 20 Jahre zu erneuern. Sie fiel durch. Indien ist nicht von neuem für Dezennien an die Kompanie „verpachtet44.* Sie besteht nur noch auf „Ankündigung", die das Parlament ihr jeden Tag zuschicken kann. Dies, das einzig bedeutende Moment der Indiabill, wurde wider das Ministerium durchgesetzt. Mit Ausnahme einiger Winkelreformen im indischen Justizdienste und der Eröffnung der Zivilstellen und wissenschaftlichen Militärstellen für alle Befähigten kann der eigentliche Kern der indischen Reformbill so zusammengefaßt werden: das Gehalt des in London regierenden Ministers für Indien (Präsident des BoardofControl1) ist von 1200auf 5000Pfd.St. jährlich erhöht. Von ^Direktoren wird die Regierung künftig 6, die Versammlung der Aktionäre der Ostindischen Kompanie nur noch 12 wählen. Das Gehalt dieser Direktoren wird von 300 auf 900 und das ihrer 2 Vorsteher von 400 auf 1000 Pfd. St. erhöht. Außerdem wird die Stelle eines Gouverneurs von Bengalen (nebst seinem Regierungskollegium) künftig von der des Generalgouverneurs von Indien getrennt; nicht minder wird ein neuer Präsident nebst Kollegium für den eigentlichen Indusdistrikt geschaffen werden. Auf diese Erhöhung von Gehalten und Schöpfung von neuen Sinekuren beschränkt sich die indische Reform des Kabinetts aller Talente. Die auf das Verhältnis von Grundherrn und Pächtern in Irland bezüglichen Bills hatte das Koalitionsministerium von seinen torystischen Vorgängern übernommen. Es durfte sich nicht von ihnen überbieten lassen. Es nahm sie auf und setzte sie kurz vor Schließung der Sitzung nach lOmonatlicher Debatte im Unterhaus durch oder erlaubte ihnen vielmehr, dort zu passieren. Im Oberhause billigte Aberdeen dagegen, daß dieselben Bills verworfen würden - unter dem Vorwande, sie in der nächsten Sitzung näher zu prüfen und wieder aufzunehmen. Die ministeriellen Bills für parlamentarische Reform, nationale Erziehung, Gesetz-und Gerichtsreform etc. wurden auf Verlangen des Kabinetts für die folgende Sitzung vertagt. Das große Werk „aller Talente" - die Bill für Regulation der Droschkenkutscher in London - wurde wirklich Gesetz, hatte aber kaum die Schwelle des Parlaments verlassen, als es umkehren mußte, um neu gemacht zu werden. Es hatte sich unausführbar gezeigt. Endlich am 20. August ward das Parlament vertagt. Die auswärtige Politik des Ministeriums während dieser Session faßte Palmerston zusammen, indem
1 Kontrollbehörde (für indische Angelegenheiten)
er das Parlament mit den Worten entließ: Es könne sich ruhig vertagen. „Er habe volles Vertrauen in die Ehre und den Charakter des russischen Kaisers", der die Donaufürstentümer freiwillig räumen werde. Palmerstons öffentliche Einmischung in die auswärtige Politik beschränkte sich während der Sitzung von 1853 auf diese Erklärung, auf eine parlamentarische Rede einige Teige vor der Vertagung des Unterhauses, worin er die Verstopfung der Sulinamündung der Donau durch die Russen als einen schlechten Witz behandelte, endlich auf das in der Sitzung vom 15. April 1853 ihm abgepreßte Geständnis - bei Gelegenheit der sog. Kossuthschen Pulververschwörung1-, daß er die englische Polizei im Auftrage kontinentaler Höfe zur Überwachung der politischen Flüchtlinge verwende.
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 83-85
Karl Marx
Die Parteien und Cliquen
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 65 vom 8. Februar 1855] London, 5. Februar. Die Dauer der jetzigen Ministerkrise ist mehr oder minder normal, da solche Krisen in England durchschnittlich 9-10 Tage währten. In seinem berühmten Werke über „Die Fähigkeiten des Menschen "[44) setzt Quetelet in Erstaunen durch den Nachweis, daß die jährliche Summe von Unglücksfällen, Verbrechen etc. für zivilisierte Länder im voraus mit fast mathematischer Genauigkeit bestimmt werden kann. Die normale Dauer englischer Ministerkrisen in verschiedenen Epochen des 19. Jahrhunderts ist dagegen nichts Erstaunenswertes, da hier bekanntlich stets ein gegebener Kreis von Kombinationen zu durchlaufen, eine gegebene Zahl von Stellen zu verhandeln ist und eine gegebene Summe von Intrigen sich selbst zu paralysieren hat. Außergewöhnlich ist nur der Charakter der Kombinationen, wozu diesmal die Auflösimg der alten Parteien zwingt. Die Tatsache dieser Auflösung machte die Bildung des gefallenen Koalitionsministeriums möglich und unvermeidlich. Die regierende Kaste, die in England keineswegs mit der herrschenden Klasse zusammenfällt, wird von einer Koalition zur anderen getrieben werden, bis der Beweis erschöpfend geliefert ist, daß sie ihren Beruf zum Regieren verloren hat. Die Derbyiten hatten sich bekanntlich höchst pathetisch gegen Koalitionen ausgesprochen. Der erste Schritt Lord Derbys, sobald ihn die Königin mit Bildimg eines neuen Kabinetts beauftragte, war, eine Koalition zu versuchen, nicht nur mit Palmerston - dem Disraeli während der Roebuckschen Debatte ausdrücklich erklärt hatte: das beantragte Tadelsvotum sei nicht mehr gegen den Herzog von Newcastle oder Aberdeen als gegen ihn selbst gerichtet sondern auch mit Gladstone und Sidney Herbert, also mit den Peeliten[ni, die von den Tories als die nächsten Werkzeuge der Auflösung ihrer Partei mit spezifischem Hasse verfolgt werden. Russell, seinerseits mit der Bildung eines Kabinetts beauftragt, versucht eine Koali
tion mit denselben Peeliten, deren Anwesenheit im alten Ministerium er zum Vorwand seines Austritts gemacht und die ihn in feierlicher Parlamentssitzung Lügen gestraft haben. Palmerston endlich, wenn er sein Ministerium zustande bringt, gibt nur eine zweite, wenig veränderte Ausgabe des alten Koalitionsministeriums heraus. Der Grey-Clan der Whigs wird vielleicht den Russell-Clan der Whigs ersetzen usf. Die alten mit dem Regierungsmonopol betrauten parlamentarischen Parteien existieren nur noch in der Form von Koterien; aber dieselben Ursachen, die diesen Koterien die Kraft entzogen, Parteien zu bilden, sich zu unterscheiden, berauben sie der Kraft, sich zu vereinen. Keine Epoche der parlamentarischen Geschichte Englands zeigt daher die Zersplitterung in eine solche Masse unbedeutender und zufälliger Cliquen als gerade die Epoche des Koalitionsministeriums. Numerisch bedeutend sind nur zwei dieser Cliquen, die Derbyiten und die Russelliten. In ihrem Gefolge befindet sich eine vielverzweigte Gruppe von mächtigen alten Familien mit einer zahlreichen Klientel. Aber gerade diese numerische Stärke bildet die Schwäche sowohl der Derbyiten als Russelliten. Zu klein, um eine selbständige parlamentarische Majorität zu bilden, sind sie zu groß und haben zu viel Stellenjäger in ihrem eignen Schöße zu versorgen, um sich die genügende Unterstützung von außen durch Vergebung wichtiger Posten erkaufen zu können. Die numerisch schwachen Cliquen der Peeliten, Greyiten, Palmerstonianer usw. sind daher geeigneter zur Bildung von Koalitionsministerien. Was sie aber zur Bildung von Ministerien befähigt - die Schwäche jeder dieser Cliquen - macht ihre parlamentarische Majorität zu einer Sache des Zufalls, die jeden Tag gebrochen werden kann, sei es durch eine Kombination der Derbyiten und Russelliten, sei es durch eine Kombination der Manchesterschule1453 usw. mit den Derbyiten. Von einem andern Gesichtspunkt sind die neuversuchten Ministerkombinationen ebenso interessant. In allen befanden sich Mitglieder des alten Kabinetts. In der letzten befindet sich das wichtigste Mitglied jenes Kabinetts an der Spitze. Und hat nicht das Haus der Gemeinen durch Annahme der Roebuckschen Motion gegen sämtliche Mitglieder der alten Koalition - wie Palmerston selbst in seiner Antwort anDisraeli erklärte-nicht nur ein Tadelsvotum, sondern auch ein Untersuchungskomitee verhängt? Das Komitee ist nochnicht ernannt, die Untersuchung noch nicht eröffnet, und die Angeklagten übernehmen wieder das Staatsruder? Aber wenn das Parlament die Macht besitzt, das Ministeriuni zu stürzen, besitzt das Ministerium die Macht, das Parlament aufzulösen. Wie die Aussicht einer Auflösung auf das jetzige Parlament wirken muß, mag man aus der Erklärung ersehen, die Sir J[ohn] Trollope am 1. März 1853 im Hause der Gemeinen machte.
„Es säßen*4, bemerkte er, „nun schon 14 Komitees, die das Haus aus seinen Mitgliedern gebildet, um die hei den letzten Parlamentswahlen vorgefallenen Bestechungen zu untersuchen. Fahre man in demselben Maße fort, so würde bald das ganze Parlament in Untersuchungskomitees aufgelöst sein. Noch mehr. Die Zahl der angeschuldigten Parlamentsmitglieder sei so überwiegend, daß der unangefochtene Rest nicht hinreiche, um sie zu richten oder auch nur gegen sie zu inquirieren.*4 Es wäre hart, die so teuer erkauften Sitze schon im Beginn der dritten Legislatur zu verlieren - aus Patriotismus.
Karl Marx
Zwei Krisen
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 67 vom 9. Februar 1855] Lohdon, 6. Februar. Zwei Krisen absorbieren in diesem Augenblicke die öffentliche Meinung - die Krise der Krimarmee und die Ministerkrise. Die erste beschäftigt das Volk, die zweite die Klubs und Salons. Die letzten Briefe von der Krim, grau in grau gemalt, lassen die englische Streitmacht von 14000 auf 12000 Mann zusammenschmelzen und stellen die baldige Aufhebung der Belagerung von Sewastopol in Aussicht. Unterdessen wird die Salonskabale im Unterhause verhandelt. Lord [John] Russell und Herr Gladstone füllen eine ganze Sitzung abermals mit breiten Erörterungen über, für und gegen den Austritt des großen Russell aus einem nicht mehr existierenden Kabinett. Neue Tatsachen werden von keiner Seite vorgebracht, aber die alten werden plädiert. Lord John ist sein eigener Advokat, Gladstone der Advokat des Herzogs von Newcastle. Die tiefen Untersuchungen über die Brauchbarkeit des letztern zum Kriegsminister empfangen neues Lustre von dem Umstände, daß keine Armee mehr vorhanden ist, die administriert zu werden braucht. Selbst dieses Haus der Gemeinen indes machte seinem Unwillen in dem bekannten traditionellen Grunzen Luft, als Gladstone am Schlüsse seiner wohlgesetzten Rede die Worte fallen ließ: „Er wünsche, das ganze Mißverständnis*4 (zwischen Russell und Newcastle) „könne rückgängig gemacht werden.*4 Also nicht das Mißtrauensvotum des Hauses, noch weniger der Untergang einer englischen Armee, nichts als ein „Mißverständnis" zwischen einem alten Lord und einem jungen Herzog - darauf reduziert sich die Ministerkrise. Die Krim ist bloß ein Vorwand für die Salonskabale. Das Mißverständnis zwischen Ministerium und den Gemeinen verdient nicht einmal die Ehre der Erwähnung. Das war selbst diesen Gemeinen zu stark. Russell fiel durch, Gladstone fiel durch, die ganze Sitzung fiel durch.
Beiden Häusern ward angezeigt, daß Lord Palmerston mit der Bildung eines Ministeriums beauftragt sei. Er ist jedoch auf unerwartete Hindernisse gestoßen. Lord Grey verweigerte, die Leitung eines Krieges zu übernehmen, den er von Anfang an mißbilligte und noch mißbilligt. Ein Glück dies für die Armee, deren Disziplin er ebenso sicher gebrochen haben würde, wie er zu seiner Zeit die Disziplin der Kolonien brach. Aber auch Gladstone, Sidney Herbert und Graham zeigten sich widerstrebend. Sie verlangten die Restauration der Peeliten111J mit Haut und Haar. Diese Staatsmänner sind sich bewußt, eine sehr kleine Clique zu bilden, die ungefähr 32 Stimmen im Unterhause kommandiert. Nur durch Zusammenhalten ihrer „großen" Talente kann die kleine Clique hoffen, ihre Selbständigkeit zu konservieren. Ein Teil der leitenden Peeliten im, ein anderer außerhalb des Kabinetts wäre gleichbedeutend mit dem Verschwinden dieses gediegenen Staatsmännerklubs. Palmerston versucht unterdes das äußerste, sich dem Parlamente, wo er keine Partei besitzt, ebenso zu oktroyieren, wie er sich der Königin oktroyiert hat. Noch ist sein Kabinett nicht gebildet, und schon droht er in der „Morning Post", von der Legislatur an das Volk zu appellieren. Er droht mit Auflösung des Hauses, sollte es wagen, „ihm nicht die Schätzung angedeihen zu lassen, deren er außerhalb des Westminster-Palastes, im Volke, genieße". Dieses „Volk" beschränkt sich auf die ihm halb oder ganz angehorigen Journale. Wo das Volk sich neuerdings hat hören lassen, z.B. im Meeting zu Newcastle-upon-Tyne von wo Petitionen an das Parlament gerichtet sind, das Ministerium in Anklagezustand zu versetzen wurde Palmerston als der geheime Leiter der verstorbenen Koalition auf das heftigste denunziert. Noch einiges Nachträgliches, um den Nekrolog des „Kabinetts aller Talente" zu vervollständigen. Am 30. November 1853 fiel das Ereignis von Sinope vor; am 3.Dezember ward es zu Konstantinopel bekannt; am ^.Dezember reichten die Repräsentanten der Pforte eine Note ein, die größere Zugeständnisse an Rußland Verlangte als die berufene Wiener Note. Am 14.Dezember telegraphiert das englische Ministerium nach Wien, daß Sinope die Wiener Friedenskonferenzen nicht unterbrechen solle. Lord Palmerston wohnte dem Kabinettsrat bei, worin dieser Beschluß gefaßt wurde. Er billigte ihn, trat aber den nächsten Tag aus dem Kabinett aus unter dem Vorwande, Russells beabsichtigte Reformbill widerspreche seiner konservativen Ansicht. Der wirkliche Zweck war, sich vor dem Publikum die Hände in Unschuld zu waschen wegen des Sinope-Ereignisses. Sobald dieser Zweck erreicht, trat er ohne weiteres in das Kabinett zurück. Anfang Februar 1854 wird das Parlament wieder eröffnet. Die diplomatischen Dokumente über die orientalischen Wirren werden ihm angeblich vor
gelegt. Die wichtigsten Papiere fehlen. Das Parlament erhält sie vom Kaiser Nikolaus statt von den britischen Ministern via Petersburg. Die dort veröffentlichte „Geheime und vertrauliche Korrespondenz"1311 beweist denTerstaunten Parlament sonnenklar, daß es während seiner ganzen bisherigen Sitzung 1853 wie 1854 absichtlich von seinen Ministern über die auswärtige Politik düpiert ward. Sie zwingt die Minister den 27. März zur Kriegserklärung. Am 6. Februar hatte Palmerston angezeigt, daß er eine Bill für Einberufung der Milizen in Schottland und Irland einbringen werde. Sobald aber der Krieg erklärt ist, vertagt er seine Bill und bringt sie nicht vor Ende Juni ein. Am 13. Februar legt Russell seine Reformbill vor, vertagt die zweite Lesung bis Ende April, nimmt sie im März pathetisch schluchzend zurück und wird von seinen Kollegen für dies Opfer belohnt, indem er - bisher ohne Departement und ohne Gehalt - sozusagen als außerordentlicher Minister eine ministerielle Sinekure mit Gehalt erhält, die Präsidentschaft des Geheimen Rats. Am 6.März legt der große Finanzier Gladstone sein Budget vor. Er beschränkt sich darauf, die Einkommensteuer für sechs Monate zu verdoppeln. Er verlangt „nur die Summe, die hinreicht, um die 25000 Mann, die im Begriffe sind, England zu verlassen, wieder dahin zurückzubringen". Von dieser Sorge hat ihn jetzt sein Kollege Newcastle befreit. Schon am 8.Mai ist er gezwungen, ein zweites Budget einzubringen. Am 12.April erklärt er sich gegen jede Staatsanleihe; am 21 .April ersucht er das Haus, eine Anleihe von 6 Millionen zu sanktionieren, um die Kosten seines unglücklichen Staatsschulden-Konversionsexperiments zu bestreiten. Am 7.April hält Lord Grey seine Rede über die Mängel der englischen Kriegsverwaltung. Am 2. Juni benutzt das Ministerium seinen Reformkasus - wie es die Reform von Indien, wie es die Reform [im Zusammenhang mit] der Cholera benutzte - zur Schöpfung eines neuen Postens. Das Kriegsministerium wird vom Kolonialministerium getrennt. Alles andere bleibt beimalten. Die legislativen Leistungen des Ministeriums in dieser Sitzung fassen sich so zusammen:.Es legt 7 wichtig^ Bills vor. Es fällt durch mit 3 Stücke: den Bilk für Niederlassung, für Erziehung für Schottland, für Änderung der parlamentarischen Eidformeln. Es zieht 3 Stücke zurück: die Bills für Verhinderung von Wahlbestechungen, für die gänzliche Umgestaltung des Zivildienstes und die Parlamentsreform. Eine Bill passiert, die für Reform der Universität zu Oxford, aber so mit Amendements gepflastert, daß ihre ursprüngliche Form nicht mehr erkenntlich. Die diplomatischen und militärischen Großtaten sind in frischem Gedächtnis. Das war das „Kabinett aller Talente".
4 Marx/Engels, Werke. Bd. 11
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Friedrich Engels
Der Kampf auf der Krim
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4323 vom 26. Februar 1855, Leitartikel] Unmittelbar nach der Schlacht an der Alma und dem Marsch der Alliierten nach Balaklawa gaben wir der Meinung Ausdruck, daß das endgültige Ergebnis der Krimkampagne davon abhängen dürfte, welche der kämpfenden Seiten zuerst genügend neue Truppen heranbringen wird, um sie in Anzahl und Schlagkraft ihrem Gegner überlegen zu machen[4öi. Seit dieser Zeit hat sich die Lage der Dinge beträchtlich verändert, und viele Illusionen sind zerstört worden. Doch während der ganzen Zeit waren sowohl die Russen als auch die Alliierten in einer Art Hindernisrennen um Verstärkungen engagiert, und wir müssen sagen, daß die Russen in diesem Kampf im Vorteil sind. Trotz all der gepriesenen Fortschritte auf dem Gebiet der Technik und der Transportmittel durchquert eine Armee russischer Barbaren dreihundert oder fünfhundert Meilen Straßen viel leichter als eine Armee hochzivilisierter Franzosen und Engländer zweitausend Seemeilen, insbesondere dann, wenn es sich die letzteren zur Aufgabe machen, alle ihnen von ihrer hohen Zivilisation gebotenen Vorteile außer acht zu lassen, und die russischen Barbaren es sich leisten können, .zwei Soldaten auf einen der Alliierten zu verlieren, ohne ihre schließliche Überlegenheit einzubüßen. Was kann jedoch den Alliierten bevorstehen, wenn eine ihrer Armeen die britisch^ - in der Verzweiflung, von den Russen vernichtet zu werden, absichtlich darauf aus ist, sich selbst mit einer systematischen Beharrlichkeit, einem Eifer und einem Erfolg zu vernichten, der alle ihre früheren Heldentaten, auf welchem Gebiet auch immer, in den Schatten stellt. Aber das ist der Fall. Die britische Streitkraft, so informiert man uns jetzt, hat aufgehört als Armee zu bestehen. Von 54000 sind noch einige wenige tausend Mann unter Waffen, und selbst sie werden nur deshalb als „dienstfähig" aufgeführt, weil
in den Hospitälern kein Raum für sie zum Sterben vorhanden ist. Von den Franzosen mögen jetzt noch einige 50 000 von der doppelten Anzahl unter Waffen stehen. Auf alle Fälle haben sie es fertiggebracht, im Verhältnis zu den Briten mindestens fünfmal soviel Soldaten in einem kampffähigen Zustand zu halten. Was aber sind schon fünfzig- oder sechzigtausend Mann, um den Herakleatischen Chersones den Winter über zu halten, Sewastopol auf der Südseite zu blockieren, die Laufgräben zu verteidigen und - mit dem, was von ihnen noch übriggeblieben sein mag - im Frühling die Offensive zu ergreifen? Einstweilen haben die Briten aufgehört, Verstärkungen zu schicken. Tatsächlich scheint Raglan, der seine Armee aufgegeben hat, auch keine zu wünschen, da er nicht weiß, wie er selbst den ihm verbliebenen Rest verpflegen, unterbringen und beschäftigen soll. Die Franzosen mögen neue Divisionen für Verschiffung im März bereithalten, aber sie haben hinreichend zu tun, um im Falle einer großen Frühlingskampagne auf dem Kontinent gerüstet zu sein. Übrigens stehen zehn Chancen gegen eine, daß das, was sie schicken, entweder zu schwach sein oder zu spät anlangen wird. Diesem Umstand abzuhelfen, wurden zwei Schritte unternommen, und beide zeugen von der völligen Hilflosigkeit der Alliierten, das Verhängnis abzuwenden, das langsam, aber unausweichlich auf ihre Armeen auf der Krim zukommt. Erstens, um den kolossalen Fehler, diese Expedition vier Monate zu spät unternommen zu haben, wiedergutzumachen, begehen sie den unvergleichlich größeren Fehler, vier Monate nach ihrem eigenen Eintreffen, im tiefsten Winter den einzigen Überrest einer anständigen Armee, den die Türkei noch besitzt, nach der Krim zu senden. Diese Armee, schon ruiniert und in der Auflösung begriffen zu Schumla infolge der Nachlässigkeit, Unfähigkeit und Korruption der türkischen Regierung, wird, einmal auf der Krim gelandet, durch Kälte und Hunger in einem Verhältnis zusammenschmelzen, das selbst die Leistungen des englischen Kriegsministeriums auf diesem Gebiet verblassen läßt - d.h., wenn die Russen die Vernunft aufbringen, die Türken, ohne sie anzugreifen, eine Zeitlang sich selbst zu überlassen. Erlaubt das Wetter einen Angriff, werden die Türken sofort vernichtet werden, wenn auch um einen höheren Preis und wohl kaum mit einem Vorteil für die Russen, es sei denn einem moralischen. Alsdann haben die Alliierten 15 000-20 000 Piemontesen in ihren Sold genommen - nur so kann man das ausdrücken -, die die dünnen Reihen der britischen Armee auffüllen und von dem britischen Kommissariat genährt werden sollen. Die Piemontesen haben sich als tapfere und gute Soldaten während 1848 und 1849 gezeigt. Meist Gebirgsbewohner, besitzen sie eine 4*
Infanterie, die für das Plänkeln und Fechten auf durchbrochenem Grunde sogar in einem höheren Grade als die der Franzosen geeignet ist, während die Ebenen des Po eine Kavallerie liefern, deren hochgewachsene, wohlproportionierte Gestalten einen an die Eliteregimenter der britischen Horse Guards1381 erinnern. Überdies haben sie die harten Revolutionsfeldzüge nicht ohne Gewinn mitgemacht. Ohne Zweifel werden sich diese beiden piemontesischen Divisionen als eine gute „Fremdenlegion" in diesem Kriege erweisen. Was sollen aber diese leichtfüßigen, beweglichen, gewandten, kleinen Kerle unter dem Kommando eines alten britischen Martinet1 tun, der vom Manövrieren keine Ahnung hat und von seinen Soldaten nur die verbissene Starrköpfigkeit erwartet, die die Glorie und gleichzeitig die einzige militärische Qualität des britischen Soldaten ist? Man wird sie in Stellungen bringen, die für ihre Kampfesweise ungeeignet sind und sie daran hindern, das zu tun, wofür sie tauglich sind, während man von ihnen Dinge erwartet, die ein vernünftiger Mensch ihnen niemals zumuten würde. Eine britische Armee so sinnlos, geradewegs und dumm, wie das an der Alma geschehen ist, ins Schlachthaus zu führen, mag der kürzeste Weg für sie sein, die vor ihr stehenden Aufgaben zu lösen. Der alte Herzog2 nahm die Dinge gewöhnlich genauso leicht. Vielleicht kann man deutsche Truppen das gleiche tun lassen, obwohl die hohe militärische Ausbildung der deutschen Offiziere einen solchen Mangel an Feldherrnkunst auf die Dauer nicht ertragen wird. Doch so etwas mit einer französischen, italienischen oder spanischen Armee zu wagen - mit Truppen, die hauptsächlich für leichten Infanteriedienst, für das Manövrieren und für die Ausnutzung der Vorteile des Bodens geeignet sind, d.h. mit Truppen, deren Kampffähigkeit in einem bedeutenden Maße von der Behendigkeit und dem schnellen Blick jedes einzelnen Soldaten abhängt -, ist unmöglich; solch eine plumpe Methode der Kriegführung wird niemals angehen. Die armen Piemontesen werden jedoch wahrscheinlich von der Prüfung, auf englische Weise zu kämpfen, verschont bleiben. Verpflegt werden sollen sie von jener berüchtigten Körperschaft, dem britischen Kommissariat, das niemals jemanden denn sich selbst zu verpflegen vermochte. So werden sie also das Schicksal der neu eintreffenden britischen Truppen teilen. Genau wie bei diesen werden hundert Mann in einer Woche sterben, und dreimal soviel wird man in die Hospitäler schaffen. Wenn Lord Raglan glaubt, daß die Piemontesen seine Unfähigkeit und die seiner Kommissäre so ruhig wie die britischen Truppen hinnehmen werden, so dürfte er sich in einem schweren Irrtum
1 Name eines französischen Generals unter Ludwig XIV.; (hier:) strengen Vorgesetzten (gemeint ist Raglan) - 2 Wellington
befinden. Nur die Briten und Russen würden unter solchen Umständen in Gehorsam verharren, und wir müssen sagen, es gereicht ihrem Nationalcharakter nicht zur Ehre. Dieser melancholische Feldzug - so melancholisch und rauh wie die sumpfige Hochebene von Sewastopol - wird vermutlich diesen Verlauf nehmen: Sobald die Russen völlig konzentriert sind und das Wetter es erlaubt, werden sie wahrscheinlich zuerst die Türken unter Omer Pascha angreifen. Dies wird erwartet von Briten, Franzosen und Türken, so gut kennen sie die wenig beneidenswerte Stellung, die man den letzteren angewiesen hat; auf alle Fälle zeigt es, daß die Türken völlig bewußt nach dem Norden geschickt werden. Für die verzweifelte Lage der Alliierten kann man sich keinen besseren Beweis denken, als er in diesem unfreiwilligen Eingeständnis ihrer eigenen Generale enthalten ist. Daß die Türken geschlagen werden, kann man als sicher annehmen. Was wird dann das Schicksal der alliierten Armeen und der piemontesischen Truppen sein? Das Renommieren von einem Sturm auf Sewastopol hat man jetzt fast ganz eingestellt. In der Londoner „Times" finden wir über dieses Kapitel einen Brief des Obersten E[dward] Napier vom 3.Februar des Inhalts, daß, wenn die Alliierten die Südseite Sewastopols attackieren, sie sehr wahrscheinlich in die Stadt eindringen werden; aber das überwältigende Feuer der nördlichen Forts und Batterien wird sie zu Brei zerstampfen, während sie gleichzeitig von der russischen Armee im Felde belagert werden. Diese Armee, sagt Oberst Napier, sollte erst geschlagen werden, und dann sollte man sowohl die Nord- wie auch die Südseite der Stadt einschließen. Als ein treffendes Beispiel erinnert er an die Tatsache, daß der Herzog von Wellington zweimal die Belagerung von Badajoz aufhob, um gegen eine Entsatzarmee zu marschieren.t47] Oberst Napier hat ganz recht, und „The Tribüne" sagte das gleiche zur Zeit des berühmten Flankenmarsches auf Balaklawa1481. Was jedoch das Eindringen der Alliierten in^ Sewastopol betrifft, so scheint er die besondere Beschaffenheit der russischen Verteidigungswerke zu übersehen, die es unmöglich machen, den Platz durch einen einzigen Sturm zu nehmen. Da sind zunächst Außenwerke, dann der Hauptwall und dahinter die in Redouten verwandelten Gebäude der Stadt, verbarrikadierte Straßen, mit Schießscharten versehene Häuserblöcke und schließlich die mit Schießscharten versehenen Hinterwälle der Küstenforts, die einer nach dem andern einen besonderen Angriff erfordern-vielleicht eine besondere Belagerung und sogar Minieroperationen. Darüber hinaus haben seit einiger Zeit die erfolgreichen Ausfälle der Russen hinlänglich bewiesen, daß man sich der Stadt bis zu einem Punkte genähert hat, wo die Kräfte der Gegner sich völlig die Waage halten und der Angriff, mit Ausnahme der
Artillerie, jedes Übergewichts beraubt ist. Solange Ausfälle nicht vereitelt werden können, ist jeder Gedanke an Stürmung lächerlich. Der Belagerer, der unfähig ist, den Belagerten auf den Raum der eigentlichen Festung zu beschränken, ist noch weniger fähig, diese Festung durch einen Nahkampf wegzunehmen. So werden also die Belagerer in ihrem Lager fortvegetieren. Gefesselt durch ihre Schwäche und durch die russische Armee im Felde, werden sie fortfahren zusammenzuschmelzen, während die Russen neue Streitkräfte herbeibringen. Wenn nicht das neue britische Ministerium einige ganz unerwartete Hilfsquellen in Gang setzt, wird der Tag kommen, da Briten, Franzosen, Piemontesen und Türken vom Boden der Krim hinweggefegt werden.
Geschrieben um den 9. Februar 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels Palmerston - Die Armee
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 71 vom 12.Februar 18551 London, 9. Februar. Infolge der Annahme neuer Ministerposten haben Palmerston und Sidney Herbert die Formalität einer Neuwahl zu ihren Parlamentssitzen durchzumachen. Auf diesen Grund hin wurden beide Häuser gestern für eine Woche vertagt. Lord Derbys und des Marquis von Lansdowne Mitteilungen im Hause der Lords über die geheime Geschichte der Ministerkrise wiederholten schon oft Wiederholtes. Wichtig war nur eine Äußerung Derbys, die das Geheimnis von Lord Palmerstons Stellung enthält. Palmerston hat bekanntlich keine parlamentarische Partei hinter sich oder Clique, die sich unter diesemNamen verbirgt. Whigs,Tories,Peeliten1111 hegen gleiches Mißtrauen gegen ihn. Die Manchesterschulel45] bekämpft ihn offen. Seine persönlichen Anhänger unter den Mayfair-Radikalen[43] (im Unterschied von den Manchester-Radikalen) zählen höchstens ein Dutzend. Wer und was befähigte ihn also, sich der Krone und dem Parlament zu oktroyieren? Seine Popularität? So wenig als die Inpopularität, die Gladstone, Herbert, Graham und Clarendon verhindert hat, das Staatsruder wieder zu ergreifen. Oder ist der Mann, der nie einer Partei angehört, abwechselnd allen diente, der Reihe nach alle preisgab und stets die Balancierstange zwischen ihnen hielt, das naturgemäße Haupt aufgelöster Parteien, die den Strom der Geschichte zu hemmen suchen, indem sie sich koalisieren? Dieser Umstand beweist nichts in diesem Augenblicke, da er zu schwach war, 1852 Palmerston statt Aberdeen an die Spitze der Koalition zu bringen. Derby hat das Wort des Rätsels verraten. Palmerston ist der ostensible Freund Bonapartes. Seine voreilige Anerkennung des Staatsstreichs im Dezember 1851 war damals die angebliche Ursache seiner Entfernung aus dem Whig-MinisteriumC491. Er ist daher die „Persona grata", der Vertrauensmann Bonapartes. Die Allianz Bonapartes ist daher in diesem Augenblick
entscheidend.Palmerston hat also das Ausland in die Waagschale der Ministerkombinationen geworfen - nicht zum erstenmal, wie ein näheres Eingehn in die Geschichte der englischen Ministerien von 1830-1852 beweisen würde. Da die Lage der Krimarmee in diesem Augenblicke nicht weiter für die Kabinettskabalen exploitiert werden kann, hat Lord John Russell in der gestrigen Sitzung der Gemeinen seine düstre Ansicht zurückgenommen, die englische Armee wieder um einige 10 000 Mann anwachsen lassen und Gratulationen mit dem rechtgläubigen Gladstone ausgewechselt. Trotz dieser „parlamentarischen Auferstehung" der englischen Armee unterliegt es keinem Zweifel, daß sie in diesem Augenblick aufgehört hat, als Armee zu existieren. Einige wenige Tausende werden noch als „dienstfähig" aufgeführt, weil in den Spitälern kein Raum vorhanden ist, sie aufzunehmen. Von 100 000 zählen die Franzosen noch einige 50 000, aber was sind 50 000 oder 60 000 Mann, um den Herakleatischen Chersones den Winter durch zu halten, Sewastopol auf der Südseite zu blockieren, die Laufgräben zu verteidigen und mit dem übrigbleibenden Rest im Frühling die Offensive zu ergreifen? Die Franzosen mögen neue Divisionen für Verschiffung im März bereithalten, aber sie haben die Hände voll mit Vorbereitungen für eine Frühlingskampagne auf dem Kontinent, und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ihre Verschiffungen zu schwach [sind] oder zu spät anlangen werden. Die Hilflosigkeit der englisch-französischen Regierungen, ja ihr Aufgeben der Krimarmee, zeigt sich in den zwei Schritten, die sie zur Abhilfe des Übels ergriffen haben. Um den Fehler gutzumachen, die Expedition 4 Monate zu spät unternommen zu haben, begehen sie den unvergleichlich größeren Fehler, 4 Monate nach ihrem eignen Eintreffen und mitten im Winter die einzig brauchbaren Überbleibsel der türkischen Armee nach der Krim zu senden. Diese Armee, schon ruiniert und in der Auflösung begriffen zu Schumla infolge der Nachlässigkeit, Unfähigkeit und Korruption der türkischen Regierung, wird in der Krim durch Kälte und Hunger in einem Maßstabe zusammenschmelzen, der selbst die englischen Leistungen in diesem Gebiet überbieten wird. Sobald die Russen völlig konzentriert sind und das Wetter Feldoperationen erlaubt, werden sie wahrscheinlich zuerst die Türken unter Omer Pascha angreifen. Dies wird erwartet von Engländern und Franzosen. So bewußt sind sie sich der wenig beneidenswerten Stellung, die sie den letzteren angewiesen. So klar zeigen sie, daß der strategische Fehler, die Türken jetzt auf die Nordseite zu werfen, mit offenen Augen begangen worden ist. Nur durch die unbegreiflichsten Fehler auf Seiten der Russen könnten die Türken sich vor dem Schicksed des Unterganges retten.
Zweitens haben die Anglo-Franzosen 15000 Piemontesen in ihren Sold genommen, die die dünnen Reihen der Engländer ausfüllen und von dem britischen Kommissariat genährt werden sollen. Die Piemontesen haben sich als tapfere und gute Soldaten während 1848 und 1849 gezeigt. Meist Gebirgsbewohner, besitzen sie eine Infanterie, die im Plänkeln, Tiraillieren und Fechten auf durchbrochenem Grunde selbst die Franzosen übertrifft. Andererseits liefern die Ebenen des Po eine Kavallerie, die sich mit den englischen Horse Guards[38) vergleichen kann. Endlich haben sie gelernt in der ernsten Schule der letzten Revolutionsfeldzüge. Diese leichtfüßigen, beweglichen, gewandten kleinen Kerle passen zu allem, nur nicht zu englischen Soldaten, wozu man sie machen will, und zu den einfachen, schwerfälligen Frontangriffen, worauf sich die ganze Taktik eines Raglan beschränkt. Und nun gar genährt zu werden von einem englischen Kommissariat, das bisher nur sich selbst zu nähren verstand! Die 15000 Piemontesen möchten sich daher als ein neuer Mißgriff herausstellen. Englische Verstärkungen sind in diesem Augenblicke suspendiert. Raglan selbst scheint sie zu verbitten, da er nicht einmal mit dem vorhandenen Uberrest fertig werden kann. Wird man glauben, daß in demselben Verhältnis wie Krankheit, Uberarbeiten, Mangel an Erholung im britischen Lager zunehmen, die bewunderungswürdige Praxis des Auspeitschens zunimmt? Männer, die nur geeignet sind, ins Spital geschickt zu werden, die wochenlang schlafen und Dienst tun in nassen Kleidern und auf nassem Boden und alles dies mit fast übermenschlicher Hartnäckigkeit ertragen - [diese Männer,] wenn schlaftrunken überrascht in den Laufgräben, werden traktiert mit dem Katzenschwanz und dem Stocke. „Fünfzig Hiebe für jeden Vagabunden!" das ist die einzige strategische Order, die Lord Raglan von Zeit zu Zeit erläßt. Was Wunder dann, daß die Soldaten des Urhebers des berühmten „Flankenmarsches" nach BalaklawaI3] ihm nachahmen und durch einen „Flankenmarsch" zu den Russen dem Stocke ausweichen? Die Desertionen ins russische Lager nehmen täglich zu, wie der „Times"-Korrespondent berichtete. Das Renommieren von einem Sturme auf Sewastopol hat natürlich aufgehört. Erst müßte die russische Armee im freien Felde geschlagen sein. So hob Wellington zweimal die Belagerung von Badajoz auf, um gegen eine Entsatzarmee zu marschieren. Zudem haben wir früher gesehen, wie die neuerrichteten russischen Verteidigungswerke es unmöglich machen, den Platz durch einen Sturm zu nehmen.1501 Endlich beweisen die letzten Ausfälle der Russen, daß die alliierte Armee den Russen nur noch in der Artillerie überlegen ist. Solange Ausfälle nicht vereitelt werden können, ist jeder Gedanke an Stürmung lächerlich; die Belagerer, die unfähig sind, die Belagerten auf
den Raum der eigentlichen Festung zu beschränken, sind noch weniger fähig, diese Festung durch einen Faustkampf wegzunehmen. So werden die Belagerer fortvegetieren, auf ihr Lager angewiesen durch eigene Schwäche und durch die russische Armee im Felde. Sie werden fortfahren zusammenzuschmelzen, während die Russen neue Streitkräfte herbeibringen. Das Vorspiel des europäischen Krieges, das in der Krim aufgeführt wird, wird mit dem Untergang der alliierten Truppen enden, sollten nicht ganz unerwartete und nicht vorher zu berechnende Hilfsquellen aufgefunden werden.
Karl Marx
Aus dem Parlamente - [Gladstones Auftreten]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 73 vom 13. Februar1855] London, 10. Februar. Gladstone, der Schatzkanzler der Dogmatik und der Duns Scotus der Finanzen, hat einen neuen Beweis zu dem alten Satze geliefert, daß der Glaube alle Dinge gerecht macht. Gladstone hat die Toten auferweckt durch den Glauben und die englische Krimarmee von 11000 zu 30 000 Mann erhöht durch den Glauben. Denselben Glauben verlangt er vom Parlament. Unglücklicherweise trifft gerade der Bericht des Dr. Hall ein, des Chefs des medizinischen Departements im Lager vor Sewastopol. Nicht nur, daß diesem Berichte gemäß das 63. Regiment ganz verschwunden ist und von dem 46., das England letzten November 1000 Mann stark verließ, nur noch 30 Mann dienstfähig sind, erklärt Dr. Hall, daß die Hälfte der noch diensttuenden Truppen ins Spital gehöre und daß höchstens 5000-6000 wirklich dienstfähige Leute im Lager vorhanden sind. Wer die Kunststücke frommer Apologeten kennt, wird nicht zweifeln, daß Gladstone, wie Falstaff, aus den 6000 SteifleinenenC51] 30 000 herausbringen wird. Hat er uns nicht schon in der letzten Donnerstagsitzung erklärt, die zwei Veranschlagungen gingen von verschiedenen Standpunkten aus, z. B. die Verkleinerer der Krimarmee rechneten die Kavallerie nicht wie er, als ob seit der Schlacht von Balaklawa überhaupt noch nennenswerte Kavallerie existiert hätte? Gladstone findet es einfach, die „Nichtvorhandenen" einzurechnen. Unübertrefflich war die Salbung, womit er in der letzten Donnerstagsitzung sein „Budget" des Armeebestandes - wo jedes Debet als Kredit und jedes Defizit als Surplus figuriert - mit den Worten schloß: „Er verzeihe den Gegnern der Regierung ihre Übertreibungen." Unübertrefflich war Ton und Haltung, womit er die Mitglieder des Parlaments ermahnte, sich ja nicht von „Gefühlen" überwältigen zu lassen. Fremde Leiden mit Demut und Gleichmut ertragen, so lautet der Wahlspruch des rechtgläubigen Gladstone.
Karl Marx
Lord Palmerston1-21
I
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 79 vom 16. Februar 1855] London, 12. Februar. Lord Palmerston ist unstreitig das interessanteste Phänomen des offiziellen England. Obgleich ein Greis und seit 1807 fast ohne Unterbrechung auf der öffentlichen Bühne, hat er verstanden, eine Neuigkeit zu bleiben und alle die Hoffnungen wachzuhalten, die sich an vielversprechende und ungeprüfte Jugend zu haften pflegen. Mit einem Fuße im Grabe, soll er seine wahre Karriere noch nicht begonnen haben. Wenn er morgen stirbt, wird ganz England überrascht werden mit der Nachricht, daß er während eines halben Jahrhunderts Minister war. Kein universeller Staatsmann, ist er sicher ein universeller Schauspieler - gleich erfolgreich im heroischen wie im komischen, im pathetischen wie im familiären Stil, in der Tragödie wie in der Farce, obgleich letztere seiner Natur mehr zusagen mag. Er ist kein Redner erster Klasse, aber er ist ein vollendeter Mann der Debatte. Mit wundervollem Gedächtnis, großer Erfahrung, vollkommenem Takt, nie versagender Geistesgegenwart, vornehmer Geschmeidigkeit und der allergenauesten Kenntnis parlamentarischer Schliche, Intrigen, Parteien und Persönlichkeiten, behandelt er schwierige Fälle mit gefälliger Geläufigkeit, sich anschmiegend an die Vorurteile seines jedesmaligen Publikums, geschützt vor jeder Überraschung durch seine Nonchalance, gegen jedes Selbstbekenntnis durch seine selbstische Gewandtheit, gegen leidenschaftliches Uberströmen durch tiefe Frivolität und aristokratische Indifferenz. Ein glücklicher Witzling, schmeichelt er sich bei aller Welt ein. Da er nie sein kahes Blut verliert, imponiert er leidenschaftlichen Gegnern. Wenn allgemeiner Standpunkte ermangelnd, ist er stets bereit, ein Netz eleganter Allgemeinheiten zu spinnen. Wenn unfähig, einen Gegenstand zu bemeistern, weiß er mit ihm zu spielen. Wenn zurückbebend vor dem Kampfe mit einem gewaltigen Feinde, weiß er einen schwachen zu improvisieren.
Ausländischem Einfluß in der Tat nachgebend, bekämpft er ihn mit dem Worte. Da er von Canning - der indes auf seinem Sterbebett vor ihm warnte die Mission Englands, konstitutionelle Propaganda auf dem Kontinente zu machen, als Erbe übernahm, fehlte ihm natürlich nie das Thema, den Nationalvorurteilen zu schmeicheln und gleichzeitig den eifersüchtigen Verdacht fremder Mächte wachzuhalten. In dieser bequemen Weise zur bhte noire1 der kontinentalen Höfe geworden, konnte er nicht verfehlen, daheim als „wahrhaft englischer Minister" zu figurieren. Obgleich ursprünglich Tory, hat er es erreicht, alle „shams" 2 und Widersprüche, die das Wesen des Whiggismus bilden, in die Leitung der auswärtigen Politik einzuführen. Er versteht es, demokratische Phraseologie mit oligarchischen Ansichten zu versöhnen; die Frieden predigende Bourgeoisie mit der hochfahrenden Sprache von Englands aristokratischer Vergangenheit zu decken; als Angreifer zu erscheinen, wo er einverstanden, und als Verteidiger, wo er verrät; einen scheinbaren Feind zu schonen und einen angeblichen Verbündeten zu erbittern; im entscheidenden Moment des Zwistes sich auf der Seite des Stärkeren gegen den Schwachen zu befinden und tapfere Worte zu machen im Akt des Davonlaufens. Von der einen Seite angeklagt, sich im Solde Rußlands zu befinden, ist er auf der andern des Karbonarismus[53] verdächtig. Wenn er sich 1848 im Parlament zu verteidigen [hatte] gegen eine Motion auf Anklagezustand wegen geheimen Einverständnisses mit Rußland, hatte er 1850 die Selbstgenugtuung, von einer Verschwörung fremder Gesandtschaften verfolgt zu werden, die im Hause der Lords erfolgreich war, aber am Hause der Gemeinen scheiterte*541. Wenn er fremde Völker verriet, so geschah es stets mit großer Höflichkeit. Wenn die Unterdrücker stets seines aktiven Beistandes sicher waren, fehlte den Unterdrückten nie das Schaugepränge seiner edelmütigen Rhetorik. Polen, Italiener, Ungarn etc. fanden ihn immer am Ruder, wenn sie unterlagen, aber ihre Besieger verdächtigten ihn stets der Verschwörung mit den Opfern, die er ihnen zu machen erlaubt hatte. Bisher, in allen Fällen, war es eine wahrscheinliche Chance des Erfolges, ihn zum Gegner, und eine sichere Chance des Ruins, ihn zum Freunde zu haben. Aber wenn die Kunst seiner Diplomatie nicht in den wirklichen Resultaten seiner auswärtigen Unterhandlungen erscheint, glänzt sie desto heller in der Art, wie er das englische Volk vermochte [dahinzubringen], Phrasen für Tatsachen, Phantasien für Realitäten und hochklingende Vorwände für schäbige Motive in Kauf zu nehmen.
1 (wörtlich: schwarzes Tier; hier:) Abscheu, Schreckgespenst - 2 „Schwindeleien"
Henry John Temple, Vicomte Palmerston, wurde 1807 bei Bildung der Administration des Herzogs von Portland zum Junior Lord der Admiralität ernannt. 1809 ward er Secretary at War1 und behauptete sich auf diesem Posten bis Mai 1828 in den Ministerien von Perceval, Liverpool, Canning, Goderich und Wellington. Jedenfalls ist es sonderbar, den Don Quijote „freier Institutionen", den Pindar der „Herrlichkeiten des konstitutionellen Systems" als eminentes und permanentes Mitglied der Tory-Verwaltung zu finden, die die Korngesetze promulgierte1553, fremde Söldner aüf dem englischen Boden stationierte, dem Volke, nach einem Ausdrucke des Lord Sidmouth, von Zeit zu Zeit „zur Ader ließ", die Presse knebelte, die Meetings unterdrückte, die Masse der Nation entwaffnete, regelmäßige Gerichte zugleich mit der individuellen Freiheit suspendierte, mit einem Worte, den Belagerungszustand über Großbritannien und Irland verhing! 1829 ging Palmerston zu den Whigs über, die ihn November 1830 zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten ernannten. Mit Ausnahme der Unterbrechungen von November 1834 bis April 1835 und von 1841 bis 1846, wo sich die Tories am Ruder befanden, hat er ausschließlich die auswärtige Politik Englands geleitet von der Revolution von 1830 bis zum Staatsstreich von 1851. Ein Uberblick über seine Leistungen während dieser Periode in einem andern Briefe.
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[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 83 vom 19. Februar 1855] London, 14. Februar. „Punch" pflegte in den letzten Wochen Lord Palmerston als den Clown des Puppenspiels zu maskieren. Dieser Clown ist bekanntlich Störenfried von Profession, Liebhaber von geräuschvollen Prügeleien, Ausbrüter schädlicher Mißverständnisse, Virtuose des Krakeels, heimisch nur in der allgemeinen Verwirrung, die er anrichtet, worin er Weib, Kind und zuletzt auch die Polizei zum Fenster hinauswirft, um am Schlüsse, nach vielem Lärmen um nichts, sich selbst aus der Schlinge zu ziehen, mehr oder minder unversehrt und mit neckischer Schadenfreude über den Verlauf des Skandals. Und so erscheint Lord Palmerston allerdings - von einem pittoresken Gesichtspunkt - als ein rastloser und unermüdlicher Geist, der Schwierigkeiten, Verwickelungen, Wirren aufsucht, als das naturgemäße
1 Staatssekretär für das Kriegswesen
Material seiner Tätigkeit, und daher Konflikte schafft, wo er sie nicht fertig vorfindet. Kein englischer Minister des Auswärtigen zeigte sich je so rührig in jedem Winkel der Erde - Blockaden der Scheide, des Tagus, des Douro, Blockaden von Mexiko und Buenos Aires1561, Neapel-Expeditionen, PacificoExpeditionen, Expeditionen in den Persischen Meerbusen1571, Kriege in Spanien um die „Freiheit" und in China, um das Opium einzuführen1581, nordamerikanische Grenzstreitigkeiten, Afghanistan-Feldzüge, Saint-Jeand'Acre-Bombardement[59], westafrikanische Schiffsdurchsuchungsrechts-Krakeele, Unfriede selbst im „Pazifik", und alles das begleitet und ergänzt von einer Unzahl drohender Noten, Aktenstößen von Protokollen und diplomatischen Protesten. All dieser Lärm scheint sich im Durchschnitt aufzulösen in heftige parlamentarische Debatten, die dem edlen Lord ebensoviel ephemere Triumphe sichern. Er scheint auswärtige Konflikte zu behandeln wie ein Artist, der sie zu einem gewissen Punkte treibt, aber sich zurückzieht, sobald sie zu ernsthaft zu werden drohen und ihm die dramatische Aufregung verschafft haben, deren er bedarf. Die Weltgeschichte selbst erscheint so als ein Zeitvertreib, ausdrücklich erfunden zur privaten Selbstgenüge des edlen Vicomte Palmerston von Palmerston. Dies ist der erste Eindruck, den die bunte Diplomatie Palmerstons auf den Unbefangenen hervorbringt. Bei näherer Prüfung zeigt sich jedoch, daß sonderbarerweise ein Land stets bei seinen diplomatischen Kreuz- und Querzügen gewann, und zwar nicht England, sondern Rußland. [Joseph] Hume, ein Freund Palmerstons, erklärte ihm 1841: „Wenn der Kaiser von Rußland einen eigenen Agenten im britischen Kabinett besäße, könnte der sein Interesse nicht besser vertreten als der edle Lord es tue." 1837 apostrophierte Lord Dudley Stuart, einer der größten Bewunderer Lord Palmerstons, ihn in folgenden Worten: „Für wieviel Zeit noch der edle Lord vorhabe, Rußland zu erlauben, Großbritannien zu insultieren und den britischen Handel zu gefährden? Der edle Lord degradiere England in den Augen der Welt, indem er ihm die Rolle eines Renommisten zuteile, hochfahrend und tyrannisch gegen den Schwachen, demütig und verworfen gegen den Starken.*4 Es kann wenigstens nicht geleugnet werden, daß alle Rußland günstigen Verträge, vom Vertrage zu Adrianopel [191bis zum Vertrage von Balta-Liman1601 und dem dänischen Sukzessionsvertrage[611, unter den Auspizien Palmerstons abgeschlossen wurden. Der Vertrag von Adrianopel fand Palmerston allerdings nicht im Ministerium, sondern in der Opposition, aber einmal wurde der Vertrag erst von ihm, und zwar auf einem Schleichwege, anerkannt,
andrerseits leitete er damals die Whig-Opposition, griff Aberdeen wegen seiner österreichisch-türkischen Tendenz an und erklärte Rußland für den Verfechter der Zivilisation. (Siehe z.B. die Sitzungen des Hauses der Gemeinen vom I.Juni 1829, 1 I.Juni 1829, 16.Februar 1830 etc.) Sir Robert Peel erklärte ihm bei dieser Gelegenheit im Hause der Gemeinen: „Er wisse nicht, wen Palmerston eigentlich repräsentiere." Im November 1830 übernahm Palmerston das auswärtige Ministerium. Er wies nicht nur das französische Anerbieten zur gemeinsamen Intervention für Polen zurück wegen der „freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kabinett von St. James und dem Kabinett von St. Petersburg", sondern verbot Schweden zu waffnen, und drohte Persien, das bereits eine Armee an die russische Grenze gesandt, mit Krieg, wenn es sie nicht zurückziehe. Er bestreitet selbst einen Teil der russischen Kriegskosten, indem er ohne parlamentarische Vollmacht fortfährt, Zins und Kapital auf das sog. russisch-holländische Anlehen auszuzahlen, nachdem die belgische Revolution die Stipulationen wegen dieses Anlehens annulliert hattet621 1832 erlaubt er, daß die Hypothek, welche die Nationalversammlung von Griechenland den englischen Kontrahenten der griechisch-englischen Anleihe von 1824 auf die Nationaldomänen garantiert hatte, repudiiert und als Sicherheit auf ein neues Anlehen übertragen wird, das unter russischen Auspizien abgeschlossen. Seine Depeschen an Herrn Dawkins, den englischen Residenten in Griechenland, lauten stets: „Sie haben im Einverständnis mit den russischen Agenten zu handeln." Am 8. Juli 1833 erpreßt Rußland von der Pforte den Vertrag von HunkiarIskelessi, der europäischen Kriegsschiffen die Dardanellen verschließt und Rußland (siehe den zweiten Artikel des Vertrags) eine achtjährige Diktatur in der Türkei sichert1631. Der Sultan war zu dem Vertrage gezwungen, weil eine russische Flotte im Bosporus und eine russische Armee vor den Toren von Konstantinopel - angeblich zum Schutze gegen Ibrahim Pascha. Palmerston hatte die dringende Aufforderung der Türkei, für sie zu intervenieren, wiederholt abgeschlagen und sie so zur Annahme der russischen Hilfe gezwungen. (Nach seinen eignen Erklärungen im Hause der Gemeinen am 11 .Juli, 24. August etc. 1833 und 17. März 1834.) Als Lord Palmerston in das auswärtige Ministerium eintrat, fand er den englischen Einfluß durchaus überwiegend in Persien. Die englischen Agenten erhalten von ihm die stehende Ordre: „sie hätten für alle Fälle im Einverständnis mit dem russischen Gesandten zu handeln." Rußland setzt mit seiner Unterstützung einen russischen Prätendenten auf den persischen Thron.1-641 Lord Palmerston erlaubt die russisch-persische Expedition gegen Herat.1651 Erst nachdem sie gescheitert , verordnet er eine anglo-indische Expedition in den Persischen Meer
busen, ein Scheinmanöver, das den russischen Einfluß in Persien verstärkte. 1836, unter dem edlen Lord, werden Rußlands Usurpationen an den Donaumündüngen, seine Quarantänen, seine Mautverfügungen usw. zum erstenmal von England anerkannt.t661 In demselben Jahre benutzt er die Konfiskation eines englischen Handelsschiffes, des „Vixen" - und der „Vixen" war auf Antrieb der englischen Regierung expediert - in der zirkassischen Bucht von Sudschuk Kaie durch ein russisches Kriegsschiff, um die russischen Ansprüche auf die zirkassische Küste offiziell anzuerkennen. Es stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß er schon seit 6 Jahren die russischen Ansprüche auf den Kaukasus im geheimen anerkannt hatte. Bei dieser Gelegenheit entschlüpfte der edle Vicomte dem Tadelsvotum des Hauses der Gemeinen durch eine Majorität von nur 16 Stimmen. Einer seiner heftigsten Ankläger war damals Sir Stratford Canning, jetzt Lord Redcliffe und englischer Gesandter zu Konstantinopel. 1836 schließt einer der englischen Agenten1 zu Konstantinopel einen für England vorteilhaften Handelstraktat mit der Türkei. Palmerston schiebt die Ratifikation auf und schiebt 1838 einen neuen Vertrag unter, so nützlich für Rußland und so schädlich für England, daß eine Anzahl englischer Kaufleute in der Levante sich entschließen, künftig unter dem Schutze russischer Firmen zu handeln. Der Tod Königs Wilhelm IV. gab Anlaß zu dem berüchtigten Portfolio-Skandal1671. Zur Zeit der Warschauer Revolution war mit dem Palaste des Großfürsten Konstantin eine Sammlung geheimer Korrespondenzen, Depeschen usw. der russischen Diplomaten und Minister in die Hände der Polen gefallen. Graf Zamoyski, Neffe des Prinzen Czartoryski, brachte sie nach England. Hier wurden sie auf Befehl des Königs unter der Redaktion Urquharts und der Oberaufsicht Palmerstons im „Portfolio" veröffentlicht. Kaum war der König tot, so verleugnete Palmerston seine Verbindung mit dem „Portfolio", weigerte sich, die Kosten dem Drucker zu zahlen usw. Urquhart ließ seine Korrespondenz mit Backhouse, Palmerstons Unterstaatssekretär, drucken. Die „Times" (vom 26. Januar 1839) bemerkt darüber:
„Es ist nicht an uns, zu verstehn, was Lord Palmerston fühlt, aber wir sind sicher, daß kein Zweifel möglich über das, was jede andere Person vom Range eines Gentleman und in der Position eines Ministers nach der Veröffentlichung jener Korrespondenz fühlen würde."
1 Urquhart
5 Marx/Engels. Werke. Bd. 11
Karl Marx
Herberts Wiederwahl Die ersten Schritte des neuen Ministeriums Nachrichten aus Ostindien
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.85 vom 20. Februar 1855] London, 16. Februar. Die Farce der Wiederwahl des Herrn Sidney Herbert als Parlamentsmitglied für die südliche Abteilung von Wiltshire ging gestern in der Stadthalle von Salisbury vor sich. Wilts ist selbst unter den englischen Grafschaften berüchtigt durch eine Konzentration des Grundbesitzes, die seine gesamte Bodenfläche in das Eigentum von weniger als ein Dutzend Familien verwandelt hat. Mit Ausnahme einiger nordschottischer Distrikte ist die Erde nirgends so gründlich von Einwohnern „gesäubert" und das System der modernen Landwirtschaft so konsequent durchgeführt. Brechen nicht zufällig Familienfehden unter seinen wenigen Besitzern aus, so kennt Wilts keine Wahlkämpfe. Kein Gegenkandidat war wider Sidney Herbert aufgestellt. Der Hochsheriff, der bei der Wahl präsidierte, erklärte ihn daher, gleich nach dem Beginn der Sitzung, für in aller Formen Rechtens wiedererwählt. Sidney Herbert erhob sich dann und richtete einige ganz abgedroschene Gemeinplätze an seine Pachter und Vasallen. Indes hatte sich nach und nach in der Stadthalle ein nicht wahlberechtigtes städtisches Publikum versammelt, das von der englischen Konstitution mit dem Privilegium, die Kandidaten auf den Hustings zu langweilen, abgespeist wird. Kaum saß Sidney Herbert nieder, als ein Kreuzfeuer von Interpellationen sein geweihtes Haupt umschwirrte. „Wie steht's mit den grünen Kaffeebohnen, die man unseren Soldaten aufgetischt hat?", „Wo ist unsere Armee?", „Was sagte die ,Times* gestern von Ihnen?", „Warum schönten Sie Odessa?", „Besitzt Ihr Onkel, der russische Prinz Woronzow, Paläste zu Odessa?" usw. Es wurde natürlich nicht die geringste Notiz auf diese unparlamentarischen Fragesteller genommen. Sidney Herbert faßte vielmehr den ersten Augenblick des nachlassenden Lärms ab, um ein Dankvotum für den Sheriff zu beantragen, der so „unparteiisch" die
Herberts Wiederwahl - Erste Schritte des neuen Ministeriums — Ostindien 67
„Verhandlungen" geleitet habe. Dies wurde angenommen unter dem Beifallsklatschen des parlamentarischen und dem Zischen und Grunzen des unparlamentarischen Publikums. Dann folgte eine zweite Salve von Stoßfragen: „Wer hungerte unsere Soldaten aus? Laßt ihn selbst in den Krieg ziehn! etc.". Resultat dasselbe wie das erstemal. Der Sheriff erklärte dann das Stück, das wenig mehr als eine halbe Stunde gewährt hatte, für ausgespielt, und der Vorhang fiel. Die ersten Schritte des erneuten Ministeriums werden keineswegs beifällig aufgenommen. Da LordPanmure, der neue Kriegsminister, ein Invalide ist, fällt die Hauptlast seiner Verwaltung auf den Unterstaatssekretär des Krieges. Die Ernennung Frederick Peels, des jüngern Sohnes des verstorbnen Peel, zu diesem wichtigen Posten erregt um so größeren Anstoß, als Frederick Peel eine notorische Mittelmäßigkeit ist. Trotz seiner Jugend ist er das leibhafte Bild der Routine. Andere Leute werden zu Bürokraten gemacht. Er ist als Bürokrat auf die Welt gekommen. Frederick Peel verdankt seinen Posten dem Einfluß derPeeliten1111. Es war daher nötig, in die andre Seite der Waagschale einen Whig zu werfen. Sir Francis Baring ist daher zum Kanzler des Herzogtums Lancaster ernannt. Er war der Schatzkanzler der WhigAdministration des Lord Melbourne und führte damals den wohlverdienten Beinamen: „Herr Defizit". Die neueren Armee-Ernennungen bleiben alle dem System der Gerontokratie treu. So ist der mehr als 80jährige Lord Seaton zum Obergeneral in Irland bestellt. Lord Rokeby, alt, gichtbrüchig, taub, ist als Kommandant der Gardebrigade nach der Krim entsandt. Das Kommando der zweiten Division daselbst - früher unter Sir de Lacy Evans - ist dem General Simpson zugefallen, der kein Simson ist, sondern vielmehr als überjähriger Lieutnant-Gouverneur von Portsmouth sich auf dem passenden Ruheposten befand. General Somerset, 1811 schon Brigadier, ist als kommandierender General nach Ostindien verschifft. Endlich Admiral Boxer, dieser alte „Anarch", wie ihn die „Times" nennt, der zu Konstantinopel den ganzen Transportdienst usw. in die äußerste Unordnung brachte, ist nun nach Balaklawa beordert, um den dortigen Hafen „in Ordnung" zu bringen.
„Wir fürchten", sagt die „Times", „wir müssen anderswohin schauen für ministerielle Energie. Es wäre umsonst, gegen solche grausame und leichtfertige Vergeudung der besten Hilfsquellen der Nation an die zu appellieren, die solche Dinge ins Werk setzen. Wären sie nicht betört durch den langen Besitz der Gewalt, die stets von einem Teil ihrer eigenen Klasse auf den andern überging, sie würden sich mindestens gehütet haben, gerade diesen Augenblick zur Schaustellung solcher mutwilligen und kurzsichtigen Selbstsucht zu erwählen. Der Instinkt der Selbsterhaltung würde sie eines Bessern belehren, aber wir fragen das Volk von England feierlich, ob es erlauben will,
daß seine Landsleute so auf dem Altar grausamer Apathie oder hilfsloser Unfähigkeit geopfert werden." Die »Times" droht: »Es ist nicht die Regierung, selbst nicht das Haus der Gemeinen, es ist die britische Konstitution, die vor Gericht steht." Die neuesten Nachrichten aus Ostindien sind wichtig, weil sie den Stand des Geschäfts zu Kalkutta und Bombay als trostlos darstellen. In den Manufakturdistrikten schreitet die Krise langsam aber sicher voran. Die Besitzer von Feinspinnereien in Manchester haben in einem vorgestern gehaltenen Meeting beschlossen, vom 26. Februar an ihre Fabriken nur 4 Tage in der Woche arbeiten zu lassen und in der Zwischenzeit die Fabrikanten in der Umgegend zu ähnlichem Schritte aufzufordern. In den Fabriken zu Blackburn,Preston und Bolton ist den Arbeitern bereits angezeigt, daß künftig nur „kurze Zeit" gearbeitet wird. Die Bankerutte werden um so zahlreicher und größer sein, als in dem letzten Jahre viele Fabrikanten, um die Märkte zu forcieren, das Exportgeschäft mit Übergehung der Kommissionshäuser selbst in. die Hand genommen. Der „Manchester Guardian"1681 vom letzten Mittwoch gesteht, daß Überproduktion vorhanden sei, nicht nur in Fabrikaten, sondern auch in Fabriken.
Karl Marx
Das Parlament
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.88 vom 22.Februar 1855] London, 17. Februar. Das Parlament eröffnete gestern wieder seine Sitzungen. Das Haus der Gemeinen war offenbar verstimmt. Es schien von der Überzeugung gequält, daß die Transaktionen der letzten 3 Wochen seine Autorität völlig gebrochen. Da saß wieder das alte Ministerium, neupoliert. Zwei alte Lords, die sich nicht vertragen konnten, waren daraus verschwunden, aber ein dritter alter Lord, der das Mißtrauensvotum mit beiden geteilt, war keine Staffel herunter-, sondern nur die höchste Staffel hinaufgefallen. Lord Palmerston wurde mit feierlichem Stillschweigen empfangen. Keine „cheers"1, kein Enthusiasmus. Seine Rede wurde ausnahmsweise mit sichtbarer Gleichgültigkeit und mit mißlaunigem Skeptizismus aufgenommen. Ausnahmsweise auch ließ ihn sein Gedächtnis im Stiche, und wühlte er zögernd unter seinen vor ihm liegenden Noten, bis Sir Charles Wood ihm zuflüsternd den verlorenen Faden wieder darreichte. Sein Auditorium schien ungläubig, daß die Veränderung der Firma das alte Haus vor dem Bankerutt retten werde. Seine ganze Erscheinung rief das Urteil des Kardinals Alberoni über Wilhelm von Oranien ins Gedächtnis: „Dieser Mann war stark, solange er die Waage hielt. Er ist schwach, seitdem er sich selbst in eine der Schalen geworfen hat." Die wichtigste Tatsache war jedoch unzweifelhaft die Erscheinung einer neuen Koalition gegenüber der erneuten alten-die Koalition der Tories unter Disraeli mit dem prononciertesten Teil der Radikalen, den Layard, Duncombe, Horsman usw. Gerade unter den letzten, den Mayfair-Radikalenf431p zählte Palmerston bisher seine lautesten Anhänger. Getäuschte Hoffnung
1 „Beifall"
des Layard, einen subalternen Posten im Kriegsministerium zu erhalten munkelt ein 'ministerielles'Blatt. Werft ihm einen Posten hin! -'zischelt ein anderes. Lord Palmerston begann die Ankündigung seines neuen Ministeriums mit einer kurzen Geschichte der Ministerkrisis. Dann pries er sein eigenes Fabrikat. Das Ministerium, das er gebildet,
„besitze hinreichendes administratives Geschick, hinreichenden politischen Scharfsinn, hinreichend liberale Prinzipien, hinreichenden Patriotismus und Entschluß, seine Pflicht zu tun".
Lord Clarendon, Lord Panmure, Herr Gladstone, Sir James Graham jeder erhielt sein Kompliment. Vorzüglich wie das Ministerium sei, werde es indes von einer großen Schwierigkeit angestarrt. Da sei Herr Roebuck und bestehe darauf, nächsten Donnerstag sein Untersuchungskomitee ernannt zu haben. Wozu bedürfe das Haus eines Komitees? Er erinnere sie an eine Anekdote aus der Epoche Richards II. zur Zeit der Empörung Wat Tylers. Der junge Monarch sei einer Truppe von Rebellen begegnet, deren Häuptling soeben unter ihren Augen gefallen. Kühn auf sie losgehend, habe er ausgerufen: „Ihr habt euren Führer verloren; ich, Freunde, will euer Führer sein." „So sage ich" (der junge (!) Diktator Palmerston), „wenn ihr, das Haus der Gemeinen, dies Komitee nun drangeben wollt, so wird die Regierung selbst ein Komitee sein." Diese wenig ehrerbietige Vergleichung des Hauses mit einem Klub von „Rebellen" und die ungenierte Forderung, das Kabinett zum Richter über sich selbst zu bestallen, wurde mit ironischer Lache aufgenommen. Was wollt ihr denn, rief Palmerston, seine Stimme erhebend und seinen Kopf in die bekannte irisch kecke Position werfend. Was bezweckt ein Untersuchungskomitee? Administrative Verbesserungen? Ganz wohl! Hört, was wir alles zu verbessern beschließen. Ihr hattet vorher zwei Kriegsminisier, den Secretary at War und den Minister für den Krieg. Ihr sollt künftighin nur einen haben, den letzteren. In dem Ordonnanzdepartement wird der militärische Oberbefehl an den Oberkommandanten (die Horse Guards[381) übertragen, die Zivilverwaltung an den Kriegsminister. Das Transportbüro wird ausgedehnt werden. Bisher, nach dem Akt von 1847, war der Termin für den Dienst 10 Jahre. Man wird jetzt freistellen, für jede beliebige Jahreszahl von 1-10 Tch anwerben zu lassen. Man wird weder unter 24, noch über 32 Jahre werben. Nun zum Kriegsschauplatz! Hier wählt Palmerston, um Einheit, Energie und Ordnung in die Kriegführung und Verwaltung zu bringen, das sonderbare Mittel, hinter jeden Posten einen Kontrolleur mit unbestimmter Macht
Vollkommenheit zu stellen. Lord Raglan bleibt Oberkommandant,aber General Simpson wird Chef des Generalstabes, und Raglan „wird es für seihe Pflicht halten, seine Ratschläge auszuführen". Sir John Burgoyne wird zurückberufen, und Sir Harry Jones wird Generalkommissär des Kommissariats mit unbestimmter diktatorischer Gewalt. Zugleich aber wird eine Zivilperson, Sir John MacNeill (Verfasser des berühmten Pamphlets: „Fortschritte Rußlands im Osten"C69]) nach der Krim beordert, um Untersuchungen über die Unterschleife, Unfähigkeit, Pflichtverletzung des Kommissariats anzustellen. Neue Spitalvorrichtungen in Smyrna, Skutari; Reform des ärztlichen Departements in der Krim und zu Hause, alle 10 Tage zwischen der Krim und England laufende Transportschiffe für Kranke und Verwundete. Zugleich aber wird der Kriegsminister von dem Gesundheitsminister 3 Zivilpersonen borgen und nach der Krim schicken, um dort die nötigen sanitären Vorrichtungen zur Verhütung der Pest bei eintretendem Frühlingswetter zu treffen und Untersuchungen über Personal und Führung des Medizinaldepartements zu veranstalten. Man sieht, für Kompetenzkonflikte ist gesorgt. Um Lord Raglan für sein jetzt mit „konstitutionellen Institutionen umgebenes Oberkommando" zu entschädigen, erhält er Vollmacht, in Konstantinopel über ein Korps von 300 türkischen Gassenkehrern und Totengräbern zu unterhandeln, die die tote Armee, verfaulten Pferde und übrigen Unrat beim Beginn des Tauwetters ins Meer zu liefern haben. Ein eigener Landtransport wird auf dem Kriegstheater errichtet werden. Während so auf der einen Seite der Krieg, wird durch Lord John Russell in Wien der Frieden vorbereitet werden, wenn tunlich. Disraeli: Wenn man des edlen Lords Rühmen von dem „administrativen Geschicke und dem politischen Scharfsinn " seiner Kollegen gehört, sollte man [kaum] glauben, daß er von denselben „Schnitzermachern olme Parallele" spreche, die das Haus vor 19 Tagen verurteilt habe! Gesetzt, die versprochenen Verbesserungen würden ins Werk gesetzt und seien das, wofür man sie ausgebe, bildeten sie nicht die stärkste Satire auf das Ministerium, das sich ihnen allein widersetzt, das eine Untersuchung der Gemeinen über die bisherige Mißverwaltung für ein Mißtrauensvotum gegen sich selbst erklärt habe? Sogar Lord John Russell habe erklärt, ihm sei das mysteriöse Verschwinden der Armee unerklärlich, und eine Untersuchung ihrer geheimen Ursachen sei unumgänglich. Solle das Haus sich selbst betören und den Beschluß, den es vor 10 Tagen erst gefaßt, wieder zurücknehmen? Es werde dadurch seinen öffentlichen Einfluß unwiederbringlich für Jahre einbüßen. Welches sei das Argument des edlen Lords und seiner neuangestrichenen Kollegen, das Haus der Gemeinen zur Selbstverdummung zu verleiten?
Versprechen, die ohne die Drohung eines Untersuchungskomitees nie gemacht worden wären. Er bestehe auf parlamentarischer Untersuchung. Palmerston trete seine neue Würde an mit Drohung gegen die selbständige Bewegung des Parlaments. Nie hätte ein Ministerium solche Unterstützung und Bereitwilligkeit auf Seiten der Opposition gefunden wie das des Lords Aberdeen, das „letzte" Ministerium, doch wie solle er sagen! Die zwei Dromios verwirrten ihn ganz; er wolle daher sagen „das letzte Ministerium und ihre gegenwärtigen Treuen - ihre identischen Repräsentanten auf der Ministerbank". Roebuck erklärte, er werde nächsten Donnerstag die Namen für das bereits vom Haus votierte Komitee vorschlagen. Die Administration sei die alte, die Karten seien nur gemischt worden, aber wieder in die alten Hände geraten. Nur die direkte Intervention des Hauses der Gemeinen könne die Fesseln der Routine brechen und die Hindernisse beseitigen, die der Regierung nicht erlaubten, selbst wenn sie wolle, die nötigen Reformen durchzuführen. T[homasJ Duncombe: Der edle Lord habe ihnen erzählt, er und die Regierung wollten ihr Komitee bilden! Sie dankten schönstens! Das Haus verlange eben, die Führung des edlen Lords und seiner Kollegen zu untersuchen! Er habe Reformen versprochen, aber wer solle sie ausführen! Dieselben Männer, deren Administration zu Reformen gezwungen. Nichts sei in der Verwaltung geändert. Es sei der Status quo ante1 Roebuck. Lord John Russell sei feig von seinem Posten ausgerissen. Lord Palmerston selbst sei die „welke Blume" von 13 zu den Vätern versammelten Kabinetten, von dem Lord Liverpools bis zum gegenwärtigen. Er müsse daher unstreitig „große Erfahrung und hohes administratives Talent" besitzen. Sein Lord Panmure wiege nicht einmal den Herzog von Newcastle auf. Die Ernennung des Komitees sei keine Zensur. Es handle sich um Untersuchung. Zensur werde ihr wahrscheinlich auf dem Fuße folgen. Was die Verhandlungen in Wien angehe, so befinde sich auch hier die Regierung im Gegensatze zum Volke. Das Volk verlange Revision der Wiener Verträge von 1815 im Interesse der Polen, Ungarn und Italiener. Unter Krieg gegen Rußland aber verstehe es wörtliche Vernichtung der russischen Präponderanz. Man sieht, das Ministerium Palmerston beginnt, womit das Ministerium Aberdeen geendet - mit dem Kampf gegen Roebucks Motion. Bis zum nächsten Donnerstag wird alles aufgeboten werden, um eine ministerielle Majorität gegen das Untersuchungskomitee zu erschleichen.
1 Zustand wie vor [der Motion des]
Karl Marx
Die Koalition zwischen Tories und Radikalen
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr.92 vom 24.Februar 1855] London, 19. Februar. Die Koalition zwischen Tories und Radikalen, die wir in unserem letzten Schreiben ankündigten1, wird heute als eine Fait accompli von der gesamten Londoner Tagespresse besprochen. Der ministerielle „Moming Chronicle"1701 bemerkt darüber:
„Nie hat eine Revolution stattgefunden, die nicht beschleunigt worden wäre durch Gereiztheit, verwundete Eitelkeit, falsch plazierte Ehrsucht oder reine Narrheit auf Seite ihrer prädestinierten und unbewußten Schlachtopfer, und die buntscheckige Kombination von Derbyiten und Liberalen, die sich mit Herrn Roebuck vereint haben, tritt in die Fußstapfen der Mitglieder der Deputiertenkammer, die, als sie die Reformbanketts von 1848 ins Leben riefen, nur ein Ministerium zu beseitigen suchten und damit endeten, einen Thron umzustürzen.44
Roebuck sei bereit, die Rolle eines Robespierre oder (höchst merkwürdiges oder!) eines Ledru-Rollin zu spielen. Er beabsichtigt einen „Wohlfahrtsausschuß** zu bilden. Er habe nicht davor zurückgebebt, zu seinem beantragten Untersuchungskomitee folgende Namen vorzuschlagen: Roebuck, Drummond, Layard, Sir Joseph Paxton (Erbauer des Weltindustrie-Ausstellungspalastes), Lord Stanley (Sohn Derbys), Ellice, Whiteside, Disraeli, Butt, Lowe, (Mitglied des geheimen Rates der „Times") und Miles.
„Es würde nutzlos sein", fährt der „Moming Chronicle*4 fort, „zu verhehlen, daß wir offen mit einem revolutionären Kreuzzug gegen die Aristokratie dieses Landes bedroht sind. Demagogen suchen die Administration Lord Palmerstons zu stürzen, indem sie geschickt die assoziierten, aber nicht kombinierten Streitkräfte Disraelis und
1 Siehe vorl. Band, S. 69/70
Roebucks dagegen ausspielen. Die, Demokratie sucht eine Revolution herbeizuführen, indem sie methodisch ein Kabinett nach dem andern stürzt.4* Ein Regierungsblatt droht schließlich mit Auflösung des Parlaments, [mit einem] „Appell an das Volk", wie Bonaparte wenige Monate vor dem Staatsstreich. Der „Economist"t711, dessen Herausgeber Wilson, Sekretär vom Finanzministerium, erklärt „Repräsentatiwerfassung" für unvereinbar mit Kriegführung. Der ehemalige Hutmacher Wilson schlägt daher vor, Parlamentsglieder, die Staatsämter annehmen, von der Notwendigkeit einer Wiederwahl zu entbinden und den Kabinettsministern ex officio1 Sitz und Stimme im Hause der Gemeinen einzuräumen. So soll das Ministerium unabhängig von Wählern und dem Hause der Gemeinen, das Haus aber abhängig vom Ministerium werden. Mit Bezug hierauf warnt die „Daily News": „Das Volk von England muß auf seiner Hut sein und sich vorbereiten, Front zu machen zur Verteidigung seiner Repräsentativinstitutionen. Ein Versuch, dieRegierung unabhängiger vöm Hause der Gemeinen zu machen, steht in Aussicht. Konflikt zwischen Regierung und Haus würde folgen. Resultat wäre eine Revolution." In der Tat ist in Marylebone - gilt für eines der radikalsten Stadtviertel von London - für nächsten Mittwoch ein Meeting zusammenberufen, um über „den Versuch der Regierung, der parlamentarischen Untersuchung zu widerstehen, Beschlüsse zu fassen". Während so der „Morning Chronicle" Revolution und die „Daily News" den Versuch einer Konterrevolution prophezeit, spielt auch die „Times" auf die Februarrevolution an, jedoch nicht mit Bezug auf die Reformbanketts, sondern auf den Mord Praslins. Vor einigen Tagen ward nämlich im irischen Kanzleigerichte ein Erbschaftsfall verhandelt, bei welcher Gelegenheit der Marquis von Clanricarde - englischer Pair, Gesandter am Petersburger Hofe während der Melbourne- und Generalpostmeister während der RussellAdministration - als Hauptakteur in einem echt Balzacschen Roman von Mord, Ehebruch, Erbschleicherei und Betrug figuriert. „Während des düstern Herbstes 1847", bemerkt die „Times", „als Frankreichs Geist aufgestört war von einer unbestimmten Ahnung herannahender Revolution, bestürzte ein großer Skandal in den höchsten Kreisen der Pariser Gesellschaft das bereits überreizte Publikum noch mehr und half auf das mächtigste die bevorstehende Katast rophe beschleunigen. Wer aufmerksam den hoch aufgeregten Stand des öffentlichen Geistes in diesem Augenblicke beobachtet, kann nicht ohne ähnliche Bewegung den großen Skandal betrachten, der im irischen Kanzleigerichte enthüllt wurde.**
1 von Amts wegen
Verbrechen in den Kreisen der regierenden Kaste, gleichzeitig enthüllt mit ihrer arroganten Hilfslosigkeit und Ohnmacht, Untergang der Blüte der englischen Armee, Auflösung der alten Parteien, ein Haus der Gemeinen ohne Majorität, auf überlebten Traditionen beruhende Ministerkoalitionen, die Kosten eines europäischen Krieges zugleich mit der furchtbarsten Handelsund Industriekrise - Symptome genug einer bevorstehenden politischen und sozialen Umwälzung in Großbritannien. Durchaus bedeutend ist, daß gleichzeitig mit dem Schiffbruch der politischen der Schiffbruch der Freihandelsillusionen stattfindet. Wie die ersteren das Regierungsmonopol der Aristokratie, sicherten die letzteren das Gesetzgebungsmonopol der Bourgeoisie.
Friedrich Engels
Der Krieg, der sich über Europa zusammenballt1723
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4332 vom 8. März 1855, Leitartikel] Noch ein paar Wochen, und wir werden - wenn nicht in Wien in der allernächsten Zeit Frieden geschlossen wird, woran jetzt in Europa, wie es scheint, niemand glaubt - den Ausbruch eines Krieges auf diesem Kontinent erleben, im Vergleich zu dem der Krimfeldzug die unbedeutende Rolle spielen wird, die er in einem Krieg zwischen den drei größten Nationen auf der Erdoberfläche hätte spielen sollen. Die bisher voneinander unabhängigen Operationen auf dem Schwarzen Meer und der Ostsee werden dann verbunden sein durch eine Schlachtlinie, die sich ausdehnt über die ganze Breite jles Kontinents, der diese zwei kolossalen Binnenmeere trennt; und Armeen, deren Größe der fast endlosen Weite der sarmatischen Ebene entspricht, werden um ihre Herrschaft kämpfen. Dann, und nur dann wird man sagen können, daß der Krieg wirklich ein europäischer Krieg geworden ist. Der Krimfeldzug macht von unserer Seite nur einige kurze zusätzliche Bemerkungen notwendig. Wir haben so oft und so detailliert seinen Charakter und seine Aussichten beschrieben, daß wir bloß einige neue Tatsachen zur Bestätigung unserer Darlegungen zu berichten haben. Vor einer Woche bemerkten wir1, daß dieser Feldzug in ein Hindernisrennen um Verstärkungen ausgeartet ist und daß die Russen wahrscheinlich als Sieger daraus hervorgehen werden. Jetzt besteht kaum ein Zweifel darüber, daß die Russen, sobald die Jahreszeit langandauernde planmäßige Operationen gestattet, 120000 bis 150000 Mann auf der Halbinsel haben werden, denen die Alliierten mit über
1 Siehe vorl. Band, S. 50
menschlicher Anstrengung vielleicht 90 000 Mann entgegenstellen können. Wenn man sogar annimmt, daß sowohl Frankreich als auch England genügend Truppen haben, um sie dorthin zu senden, woher werden sie die Transportmittel nehmen, solange drei von vier ins Schwarze Meer entsandten Schiffen dort unter allen möglichen Vorwänden festgehalten werden? England hat seinen transatlantischen Postdampferdienst schon völlig in Unordnung gebracht, und im Moment herrscht nach nichts eine größere Nachfrage als nach Ozeandampfern, aber das Angebot ist erschöpft. Das einzige, was die Alliierten retten könnte, wäre die rechtzeitige Ankunft eines österreichischen Korps von ungefähr 30 000 Mann auf der Krim, welches an der Donaumündung eingeschifft werden könnte. Ohne eine solche Verstärkung können ihnen weder das piemontesische noch das neapolitanische Korps und auch nicht die geringen englisch-französischen Verstärkungen oder die Armee Omer Paschas wirklich etwas nützen. Betrachten wir nun, welchen Teil ihrer eigenen Streitkräfte England und Frankreich bereits in der Krim engagiert haben. Wir werden nur von der Infanterie sprechen, denn die Proportionen, in denen Kavallerie und Artillerie solchen Expeditionen beigegeben werden, sind so wandelbar, daß in dieser Beziehung keine bestimmten Schlußfolgerungen gezogen werden können. Außerdem wird die ganze aktive Streitmacht eines Landes immer im Verhältnis zu seiner Infanterie engagiert. Von der Türkei reden wir nicht, denn diese engagiert mit der Armee Omer Paschas ihre letzte, ihre einzige Armee in diesem Kampf. Was ihr in Asien verblieben ist, ist keine Armee; das ist nur ein Haufen Lumpengesindel. England besitzt in allem 99 Regimenter oder 106 «Bataillone Infanterie, davon befinden sich mindestens 35 Bataillone im Kolonialdienst. Von dem Rest nahmen die ersten fünf nach der Krim gesandten Divisionen ungefähr weitere 40 Bataillone weg, und wenigstens 8 Bataillone sind seitdem zur Verstärkung abgesandt worden. Es bleiben also ungefähr 23 Bataillone, wovon kaum eins entbehrt werden kann. Demgemäß gibt England durch seine letzten militärischen Maßnahmen offen zu, daß der Friedensbestand seiner Armee völlig ausgeschöpft ist. Verschiedene Kniffe werden angewandt, um gutzumachen, was vernachlässigt worden ist. Der Miliz, die ungefähr 50 000Mann zählt, wurde erlaubt, freiwillig auswärtigen Dienst zu übernehmen. Sie wird Gibraltar, Malta und Korfu besetzen und so ungefähr 12 Bataillone aus dem Kolonialdienst freisetzen, die dann auf die Krim gesandt werden können. Eine Fremdenlegion ist dekretiert worden, aber zum Unglück scheinen die Ausländer nicht bereit zu sein, sich für eine Armee anwerben zu lassen, in der die neunschwänzige Katze herrscht. Schließlich wurde am 13. Februar
Befehl gegeben, zweite Bataillone für 93 Regimenter zu bilden - 43 mit je 1000 Mann und 50 mit je 1200 Mann. Dies würde einen Zuwachs von 103 000 Mann geben, neben ungefähr weiteren 17 000 Mann für die Kavallerie und Artillerie. Bis jetzt ist jedoch noch nicht ein Mann von diesen 120000 Mann geworben worden. Und wie sollen sie dann gedrillt und mit Offizieren versehen werden? Die treffliche Organisation und allgemeine Führung der britischen Armee hat es fertiggebracht, fast die ganze Infanterie mit Ausnahme der Depotkompanien und einiger Depotbataillone - nicht nur die Leute, sondern auch die Cadres - auf die eine oder andere Art zwischen der Krim und den Kolonien zu verwenden. Nun, Generale, Oberste und Majore auf Halbsold befinden sich im Überfluß auf der britischen Armeeliste, die für diese neue Streitkraft benutzt werden können. Soviel wir wissen, fehlt es aber ganz oder beinahe ganz an Hauptleuten auf Halbsold, während ausgebildete Leutnante, Fähnriche und Unteroffiziere nirgends zu haben sind. Rohmaterial gibt es genug; aber unausgebildete Offiziere taugen niemals zum Einexerzieren noch ungedrillter Rekruten, und alte, erfahrene, standhafte Unteroffiziere bilden, wie jedermann weiß, die Hauptstütze jeder Armee. Außerdem wissen wir von der besten Autorität - SirW[iIliam] Napier daß volle drei Jahre nötig sind, um den „tag-rag" und „bob-tail"1 von Alt-England zu dem zu dressieren, was John Bull „die ersten Soldaten der Welt" und „das beste Blut Englands" nennt. Wenn dies sogar zu Zeiten der Fall ist, in denen die Cadres vorhanden und nur aufzufüllen sind, wieviel Zeit wird dann wohl erforderlich sein - ohne Subalternoffiziere und Unteroffiziere um aus 120000 Mann, die noch nicht gefunden sind, Helden zu fabrizieren? Wir können annehmen, da die gesamten militärischen Streitkräfte Englands in einem solchen Grade in diesem Krieg engagiert sind, daß die britische Regierung in den nächsten zwölf Monaten als äußerstes nur eine „kleine heroische Bande" von 40 000 oder 50 000 Mann vor dem Feind halten kann. Diese Zahl könnte nur für sehr kurze Perioden überschritten werden, aber nur mit wesentlicher Störung aller Vorbereitungen für künftige Verstärkungen.
Frankreich, mit viel größerer Armee und ungleich vollständigerer Kriegsorganisation, hat seine Streitkräfte bei weitem nicht in demselben Maße engagiert. Frankreich besitzt 100 Infanterieregimenter von der Linie, 3 Regimenter Zuaven, 2 Regimenter Fremdenlegion, jedes von 3 Bataillonen, außerdem 20 Bataillone Büchsenschützen und 6 afrikanische Bataillone - zusammen 341 Bataillone. Von diesen sind 100 Bataillone, oder eins auf jedes Linienregiment, als Depotbataillone zur Aufnahme und Bildung von Rekruten vor
1 „Lumpenproletariat"
gesehen. Die zwei ersten Bataillone allein werden für den aktiven Dienst außerhalb des Landes gesandt, während die Depots, die Verstärkungen vorbereiten, bestimmt sind, diese auf voller Stärke zu halten. Es müssen daher zugleich 100 Bataillone von der Gesamtzahl abgerechnet werden. Werden, wie dies öfter unter Napoleon geschah, diese Depotbataillone als Grundlage für ein drittes Feldbataillon benutzt, so geschieht dies durch Überweisung einer außerordentlichen Zahl von Rekruten an sie, und dazu bedarf es dann stets einiger Zeit, bis sie für den Felddienst tauglich sind. Daher überschreiten die augenblicklich verwendbaren Kräfte der französischen Armee keine 241 Bataillone. Davon bedarf Algier mindestens 25; vier befinden sich in Rom; neun Infanteriedivisionen oder ungefähr 80 Bataillone sind nach der Krim, Konstantinopel und Athen gesandt. Im ganzen sind also engagiert rund 110 Bataillone oder beinahe die Hälfte der verwendbaren französischen Infanterie auf dem Friedensfuß, minus die Depots. Die Verbesserungen in der französischen Armee, nämlich die rechtzeitige Organisierung der Depotbataillone, die Einberufung der während ihres letzten Dienstjahres zum Urlaub entlassenen Soldaten, die Fähigkeit, jedes Jahr die volle Anzahl der Wehrpflichtigen einzuberufen neben außerordentlichen Rekrutierungen, und schließlich die besondere militärische Bildungsfähigkeit der Franzosen, erlauben der Regierung, die Zahl ihrer Infanterie in ungefähr 12 Monaten zu verdoppeln. Wenn wir die stille, jedoch ununterbrochene Bewaffnung seit Mitte 1853, die Errichtung von 10 oder 12 Bataillonen Kaisergarden und die Stärke, in der die französischen Truppen vergangenen Herbst in ihren respektiven Lagern gemustert wurden, in Betracht ziehen, können wir unterstellen, daß die Kraft ihrer Infanterie im Inlande so stark ist, wie sie war, bevor die neun Divisionen das Land verließen, und daß, wenn man die Möglichkeit der Formierung dritter Feldbataillone aus den Depotbataillonen berücksichtigt, ohne ihre Wirksamkeit als Depot wesentlich zu beeinflussen, sie noch stärker ist. Wenn wir jedoch die Stärke der Infanterie, die Frankreich Ende März auf seinem eigenenTerritorium haben wird, auf 350000 Mann schätzen, so werden wir eher zu hoch als zu niedrig geschätzt haben. Mit Kavallerie, Artillerie usw. würde eine solche Infanterie-Streitkraft, entsprechend der in Frankreich bestehenden Organisation, eine Armee von ungefähr 500 000 Mann repräsentieren. Davon müßten mindestens 200 000 Mann im Innern des Landes bleiben als Cadres für die Depots zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Inland, für die Klilitärwerkstätten oder Spitäler. Frankreich könnte also bis zum 1 .April mit 300 000 Mann ins Feld rücken, darunter ungefähr 200 Infanteriebataillone. Diese 200 Bataillone stehen aber weder an Organisation, Disziplin noch an Stetigkeit im Feuer
al pari mit den nach der Krim gesandten Truppen. Sie würden viele junge Rekruten enthalten, viele für die Gelegenheit neu gebildete Bataillone. Alle Korps, in denen die Offiziere und Soldaten sich fremd sind, wo eine hastige Organisation nach dem vorgeschriebenen Plan besteht, der gerade zur Zeit für den Ausmarsch fertiggestellt worden war, stehen den alten Truppenkörpern weit nach, bei denen die Gewohnheit des langen Dienstes, der gemeinsam erlebten Gefahren und des jahrelangen täglichen Verkehrs miteinander jenen Esprit de corps geschaffen hat, der sehr bald auch die jüngsten Rekruten in seinen mächtigen Bann zieht. Man muß also einräumen, daß die nach der Krim gesandten 80 Bataillone einen ungleich wichtigeren Teil der französischen Armee repräsentieren, als das rein numerische Verhältnis zeigt. Wenn England fast bis auf den letzten Mann den besten Teil seiner Armee engagiert hat, so hat Frankreich beinahe eine Hälfte seiner besten Truppen nach dem Osten gesandt. Es ist hier nicht nötig, die Daten der russischen Streitkräfte zu wiederholen, da wir erst ganz unlängst ihre Anzahl und Verteilung mitgeteilt haben.1 Es genügt zu sagen, daß von der russischen aktiven Armee oder der Armee, die für Operationen an der westlichen Grenze des Reiches vorgesehen ist, bisher nur das 3., 4., 5. und 6. Korps während des Krieges engagiert worden sind. Die Garden und Grenadierkorps sind völlig intakt, ebenso auch das 1. Korps; das 2. Korps scheint ungefähr eine Division nach der Krim detachiert zu haben. Neben diesen Truppen wurden oder werden noch acht Reservekorps formiert, gleich an Zahl der Bataillone der acht Korps der aktiven Armee, wenn auch nicht gleich an numerischer Stärke. So stellt Rußland gegen den Westen eine Streitkraft von ungefähr 750 Bataillonen auf, wovon 250 noch nicht ganz formiert sind'und stets zahlenmäßig schwach bleiben werden, während 200 andere in den letzten zwei Kampagnen starke Verluste erlitten haben. Was die Reserve anbelangt, so besteht das fünfte und sechste Bataillon der Regimenter hauptsächlich aus alten Soldaten, wenn der ursprüngliche Organisationsplan befolgt worden ist; das siebente und achte Bataillon dagegen muß aus Rekruten formiert und wenig brauchbar sein, da der Russe trotz seiner Gelehrigkeit nur äußerst langsam den Militärdienst lernt. Außerdem ist die ganze Reserve schlecht mit Offizieren versehen. Rußland hat daher bereits ungefähr eine Hälfte seiner regulär organisierten aktiven Armee engagiert. Die andere Hälfte, die noch nicht engagiert ist - die Garden, Grenadiere, 1. und 2. Korps -, bildet indes die Blüte seines Heeres, die Lieblingstruppe des Kaisers, über deren Tüchtigkeit er mit
1 Siehe vorl. Band, S. 12-14
besonderer Sorgfalt wacht. Und was hat überdies Rußland, indem es die Hälfte seiner aktiven Armee engagierte, erreicht?1 Es hat fast ganz die Offensiv- und Defensivkraft der Türkei vernichtet; es hat England gezwungen, eine Armee von 50 000 Mann zu opfern und es für mindestens 12 Monate kampfunfähig gemacht; außerdem hat es Frankreich gezwungen, im gleichen Verhältnis Truppen zu engagieren wie Rußland selbst. Und während die besten afrikanischen Regimenter Frankreichs bereits vor dem Feind stehen, hat Rußlands eigene Elite noch keinen Schuß abgefeuert. Somit ist einstweilen das Übergewicht auf Seiten Rußlands, obgleich seine in Europa beschäftigten Truppen sich nicht eines einzigen Erfolgs rühmen können, sondern im Gegenteil in jeder bedeutenden Aktion weichen und jede ihrer eigenen Unternehmungen aufgeben mußten. Aber das wird sich völlig ändern, sobald Österreich in den Krieg eintritt. Es verfugt über ungefähr 500 000 Mann, die für den Felddienst bereit, nebst 100 000 in Depots und 120000 in Reserve. Seine Gesamtstreitkraft kann durch nicht übermäßige Rekrutierung zu 850 000 Mann gebracht werden. Wir wollen aber als ihre Zahl 600000 annehmen, eingeschlossen die Depots und ohne Rücksicht auf die Reserve, die noch nicht einberufen. Von diesen 600000 Mann befinden sich 100000 in den Depots, ungefähr 70000 in Italien und in anderen Teilen des nicht von Rußland bedrohten Inlands. Die übrigen 430000 sind in verschiedenen Armeen von Böhmen bis nach Galizien und der untern Donau zusammengezogen. Davon können 150000 Mann in sehr kurzer Zeit auf jedem gegebenen Punkte konzentriert werden. Diese formidable Armee schafft sofort ein Übergewicht gegen Rußland, sobald Österreich gegen Rußland zu agieren beginnt; denn seitdem die ganze frühere russische Donauarmee nach der Krim detachiert wurde, sind die Österreicher den Russen auf jedem Punkte überlegen und können ihre Reserve ebenso rasch zur Grenze bringen, trotz des Vorsprungs, den Rußland gewonnen hat. Nur ist zu bemerken, daß die österreichische Reserve numerisch bei weitem beschränkter ist als die russische und daß, einmal die 120 000 Mann Reserve einberufen, jeder frische Zuwachs aus Neurekrutierungen entspringen muß und daher nur sehr langsam erfolgen wird. Je länger Österreich daher seine Kriegserklärung zurückhält, desto größern Vorteil räumt es den Russen ein. Man sagte uns, dies auszugleichen sei eine französische Hilfsarmee auf dem Marsch nach
1 Bei der Ubersetzung dieses Artikels für die „Neue Oder-Zeitung" Nr. 91 und 93 vom 23. und 24.Februar 1855 ersetzte Marx diesen Satz durch den folgenden: „Nur die Einwirkung der Diplomatie auf die westliche Kriegführung erklart die Resultate, die Rußland schon erreicht...44
6 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
Österreich. Aber der Weg von Dijon oder Lyon nach Krakau ist ziemlich weit, und ohne eine gute Organisation kann die französische Armee zu spät kommen, wenn der wahre Wert der reorganisierten österreichischen Armee sie selbst einer etwas höheren Anzahl Russen ebenbürtig macht. Also Österreich ist der Gebieter der Lage. Seitdem es an seinen Ostgrenzen eine militärische Position bezogen hat, behauptet es seine Superiorität über die Russen. Sollte rechtzeitiges Eintreffen russischer Reserven es für einen Augenblick seiner Superiorität berauben, so kann es sich auf seine erfahrenen Generale verlassen - die einzigen, außer einigen wenigen Ungarn, die in den letzten Jahren militärisches Talent zeigen - und auf ihre gut organisierten Truppen, von denen die meisten bereits im Feuer standen. Einige wenige geschickte Manöver, ein ganz unbedeutendes Zurückziehen würden seinen Gegner zu solchen Detachierungen zwingen, die günstige Chancen für es sichern. Von dem Augenblick, wo Österreich seine Armee bewegt, ist Rußland auf Defensive geworfen, rein militärisch betrachtet. Ein weiterer Punkt muß noch erwähnt werden. Wenn Frankreich seine Armee im Innern zu 500 000 Mann steigert und Österreich sein Gesamtheer zu 800 000, dann ist jedes dieser Länder fähig, in zwölf Monaten mindestens 250000 Mann mehr unter die Waffen zu rufen. Der Zar dagegen, wenn er das siebente und achte Bataillon seiner Infanterieregimenter vervollständigt und sein gesamtes Aktivheer zu 900000 anschwellt, hat ziemlich alles erschöpft, was ihm für die Defensive zu Gebote steht. Seine letzten Rekrutierungen, so sagt man, stießen schon überall auf bedeutende Schwierigkeiten: das Größenmaß mußte herabgesetzt und zu andern außerordentlichen Mitteln gegriffen werden, um die erforderliche Mannschaft zu erhalten. Das Dekret des Kaisers, das die ganze männliche Bevölkerung Südrußlands zu den Waffen entbietet - weit davon entfernt, einen tatsächlichen Zuwachs der Armee zu geben verrät nur die Unfähigkeit weiterer regelmäßiger Rekrutierung. Dieses Mittel wurde angewandt zur Zeit der französischen Invasion von 1812, als das Land tatsächlich überfallen wurde, und da nur in 17 Provinzen. Moskau stellte 80 000 Freiwillige oder 10 p. c. der Bevölkerung der Provinz, Smolensk schickte 25 000 etc. Aber während des Krieges waren sie nirgends zu finden, und diese Hunderttausende von Freiwilligen hinderten die Russen nicht, in ebenso schlechtem Zustand und ebenso völliger Auflösung an der Weichsel anzulangen wie die Franzosen selbst. Diese neue Aushebung en masse bedeutet außerdem, daß Nikolaus entschlossen ist, den Krieg bis zum äußersten zu führen. Aber wenn, vom militärischen Standpunkt aus, Österreichs Teilnahme am Krieg Rußland zur Defensive zwingt, so ist dies vom politischen Standpunkt
aus nicht notwendigerweise auch der Fall. Das große politische Offensivmittel des Zaren-wir haben mehr denn einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenktist die Erhebung der österreichischen und türkischen Slawen und die Proklamierung der ungarischen Unabhängigkeit. Wie sehr die Österreichischen Staatsmänner dieses fürchten, ist unseren Lesern bekannt. Ohne Zweifel wird der Zar im Notfall auf dieses Mittel zurückgreifen; mit welchem Resultat, bleibt abzuwarten. Wir haben nicht von Preußen gesprochen - es wird wahrscheinlich schließlich mit dem Westen gegen Rußland gehen, wenn auch vielleicht erst nach einigen Stürmen, die niemand voraussehen kann. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich, daß seine Truppen, ehe eine nationale Bewegung stattfindet, eine sehr bedeutende Rolle spielen werden, und deshalb brauchen wir sie im Moment kaum zu beachten.
Geschrieben um den 20. Februar 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Parlamentarisches und Militärisches
[„Neue Oder-ZeitungNr. 91 vom 23. Februar 1855] London, 20. Februar. Obgleich das Unterhaus gestern von 4 Uhr nachmittags bis 2 Uhr morgens saß und ungefähr T1^ Millionen Pfund Sterling für das Landheer wegvotierte, boten die Verhandlungen kein des Berichts wertes Interesse. Es sei daher nur bemerkt, daß Palmerston seine liberalen Gegner außer Fassung setzte sowohl durch die gesuchte Trivialität seiner Repliken als durch die herausfordernd zuversichtliche Insolenz, womit er das Triviale vortrug. Während er in dem Genre von Astleys Amphitheater über die Schlacht von Balaklawa[31 deklamierte, fuhr er Layard an wegen „ordinärer Deklamation über Aristokratie". Nicht die Aristokratie stecke im Kommissariat, im Transport, im medizinischen Departement. Er vergaß, daß ihre Lakaien darin stecken. Layard hebt richtig hervor, daß die von Palmerston erfundenen Kommissionen zu nichts taugen, als Kompetenzkonflikte in der Expeditionsarmee zu erzeugen. Was!, rief Palmerston aus, ihr - er war wieder an der Stelle von Richard II. und das Parlament in der Rolle von Wat Tylers Mob ihr wollt ein parlamentarisches Komitee einsetzen, das zu nichts gut ist, als Blue Books173] zu machen, und ihr findet Anstoß an meinen Kommissionen, „die arbeiten sollen!" Palmerston behandelte das Parlament mit solcher Vornehmheit, daß er diesmal es sogar für überflüssig hielt, seine Witze selbst zu machen. Er borgte sie von den ministeriellen Morgenblättern, die die Parlamentsmitglieder auf ihren Tischen vor sich liegen hatten. Da fehlte weder der „Wohlfahrtsausschuß" des „Morning Chronicle" noch die „Morning Post" mit ihrem schlechten Witze, die inquisitionslustigen Deputierten nach der Krim zu transportieren und - dort zu lassen. Nur einem so konstituierten Parlament durfte solches geboten werden. Während Palmerston so im Parlament den alten Aberdeen überaberdeenisiert, läßt er - nicht in seinen direkten Organen, sondern in dem leicht
gläubigen Organ der vereinigten Bierwirte1 - ausstreuen, er sei kein freier Agent, der Hof habe ihn an Ketten gelegt usf. Da ein Friedenskongreß bald in Wien tagen wird, ist es an der Zeit, vom Krieg zu sprechen und die Streitkräfte abzuschätzen, worüber die bisher mehr oder weniger auf den Kampfplatz getretenen Mächte zu verfügen haben. Es handelt sich dabei nicht nur um die numerische Stärke der Heere, sondern um den Teil derselben, der zu Offensivoperationen verwandt werden kann. Bei dem Detail berücksichtigen wir nur die Infanterie, indem die übrigen Truppengattungen sich in gegebenen Proportionen zu derselben befinden müssen. England besitzt in allem 99 Regimenter oder 106 Bataillons Infanterie, davon befinden sich mindestens 35 Bataillons im Kolonialdienst. Von dem Rest nahmen die ersten 5 nach der Krim gesandten Divisionen weitere 40 Bataillons weg, und wenigstens 8 Bataillons sind seitdem als Verstärkungen verschifft worden. Es bleiben also ungefähr 23 Bataillons, wovon kaum eines für auswärtigen Dienst entbehrt werden kann. Die Miliz, einverleibt zur Zahl von über 50 000 Mann, ist ermächtigt, außerhalb Englands zu dienen. Sie wird Gibraltar, Malta, Korfu besetzen und so ungefähr 12 Bataillons freisetzen, die in der Krim verwandt werden können. Die Eremdenlegion, wie Palmerston gestern dem Unterhaus erklärte, kömmt nicht zustande. Schließlich ist seit dem 13. Febr[uar] Befehl gegeben worden, zweite Bataillons für 93 Regimenter zu bilden, 43 von je 1000 Mann und 50 von je 1200 Mann. Dies würde einen Zuwachs von 103000 Mann geben, neben 17 000 Mann für Kavallerie und Artillerie. Noch nicht ein Mann von diesen 120 000 ist geworben. Dann müssen sie einexerziert und mit Offizieren versehn werden. Die schöne Organisation, die jetzt besteht, hat es erreicht, zwischen der Krim und den Kolonien fast die ganze Infanterie, mit Ausnahme der Depotkompanien und einiger weniger Depotbataillons, zu verwenden, nicht nur die Leute, sondern, was unglaublich scheint, auch die Cadres. Generale, Obersten, Majore auf Halbsold befinden sich in Überfluß auf der britischen Armeeliste, und sie können für diese neuen Streitkräfte benutzt werden. Es fehlt aber beinahe ganz an Hauptleuten und gänzlich an Lieutenants und Unteroffizieren auf Halbsold. Die Unteroffiziere bilden aber bekanntlich den Eckstein jeder Armee. Nach der besten Autorität in diesem Gebiete - General Sir William Napier, dem Geschichtsschreiber des Pyrenäischen Kriegst74J - sind 3 volle Jahre nötig, um den „tag-rag" und „bob-tail" (das Lumpenprole
1 d. h, des „Morning Advertiser"
tariat) von Alt-England in „das beste Blut von England*4, in „die ersten Soldaten der Welt*4 zu dressieren. Dies der Fall, wenn die Cadres vorhanden und nur auszufüllen sind. Wieviel Zeit wird also erforderlich sein, um Helden aus diesen 120000 Mann zu fabrizieren? Für die nächsten 12 Monate kann die englische Regierung höchstens „eine kleine heroische Bande*4 von 50 000 Mann vor dem Feind halten. Diese Zahl könnte für kurze Perioden überschritten werden, aber nur mit wesentlicher Störung aller Vorbereitungen für künftige Verstärkungen. Der Abgang der Post zwingt uns, diese Aufstellung hier abzubrechen.
Karl Marx
Zur neuen Ministerkrisis
[„Neue Oder-Zeitungtt Nr. 97 vom 27.Februar 1855] London, 24. Februar. Das Haus der Gemeinen war gestern gedrängt voll, da ministerielle Erklärungen über den Aufbruch der ersten PalmerstonAdministration angekündigt waren. Ungeduldig harrten die dichtgescharten Parlamentler der Ankunft des edlen Vicomte, der endlich erschien, eine Stunde nach Eröffnung des Hauses, empfangen mit Gelächter von der einen, mit cheers1 von der andern Seite. Die abtrünnigen Minister - Graham, Gladstone, Herbert - nahmen ihre Sitze auf den Bänken der sog. Radikalen (Manchesterschule[45]), wo Herr Bright ihnen die Honneurs zu machen schien. Eine Bank vor ihnen thronte der ebenfalls ausgeschiedene Cardwell. Lord Palmerston erhob sich mit dem Antrag, daß Roebucks Komitee sofort in Betracht gezogen werde. Sir James Graham begann dann die ministeriellen Bekenntnisse und befand sich noch auf der Schwelle seines rhetorischen Luftgebäudes, als Palmerston ihn mit unverkennbaren Zeichen eines gesunden Schlafes akkompagnierte. Grahams Polemik gegen das Untersuchungskomitee beschränkte sich im Prinzip darauf, daß es ein Übergriff des Hauses der Gemeinen in die Prärogative der Krone sei. Wir wissen, daß es seit anderthalb Jahrhunderten Sitte englischer Ministerien ist, sich gegen die Krone auf die Privilegien des Hauses und gegen das Haus auf die Prärogative der Krone zu beziehen. Faktisch droht Graham mit Gefahr für die englisch-französische Allianz infolge der Nachforschungen des Komitees. Was war dies anders als eine Insinuation, daß der französische] Alliierte sich als Häuptursache der beklagten Unfälle herausstellen werde! Was seinen Austritt aus dem Ministerium betreffe, so habe das Ministerium von vornherein Roebucks Motion
1 Beifall
nur als verstecktes Mißtrauensvotum, betrachtet. Aberdeen und Newcastle seien daher geopfert, das alte Kabinett aufgelöst worden. Das neue Kabinett besteht, mit Ausnahme von Canning und Panmure, aus dem alten Personal; wie also solle plötzlich Roebucks Motion einer neuen Deutung fähig geworden sein? Nicht er, sondern Lord Palmerston habe seine Ansichten von Freiteig auf Dienstag verändert. Nicht er sei der Deserteur, sondern sein edler Freund. Außerdem - und dieses war ein naives Geständnis - gab Graham als Grund seines Austritts aus dem erneuten Kabinett an, er habe sich überzeugt,
„daß die jetzige Administration das Vertrauen des Hauses in keinem höheren Grade besitze als die, die sich vor wenigen Wochen zurückgezogen".
Während seiner Auseinandersetzung ließ Graham folgende Worte fallen: „Bei der Bildung der neuen Administration wünschte ich von dem edlen Lord" (Palmerston) „zu erfahren, ob irgendein Wechsel in der auswärtigen Politik des Grafen Aberdeen stattfinden und ebenso, ob irgend etwas an den aufgestellten Friedensbedingungen geändert werden solle. Lord Palmerston gab mir die vollste Versicherung, daß in diesen Beziehungen alles beim alten bleiben werde." (Wir zitieren diese Worte, wie sie im Hause der Gemeinen gesprochen, nicht wie sie in mehr umschreibender Form in den Zeitungen gedruckt wurden.) Bright hob sofort diese Äußerung Grahams auf, um zu konstatieren, daß er Palmerstons Regierung nicht gestürzt wünsche, den edlen Lord nicht persönlich hasse, vielmehr überzeugt sei, daß Palmerston und Russell das besaßen, was dem ungerecht verfolgten Aberdeen gefehlt, nämlich hinreichende Popularität, um auf der Grundlage der vier Punkte Frieden181 zu schließen. Sidney Herbert: Die Motion Roebucks zerfalle in zwei ganz verschiedene Bestandteile. Erstens schlage er vor, den Stand der Armee vor Sewastopol zu untersuchen; zweitens.die Leitung der Regierungsdepartements zu untersuchen, die speziell mit der Erhaltung der Armee beauftragt seien. Das Haus habe das Recht, das letztere zu tun, nicht aber das erstere. Aus diesem Grunde wohl opponierte Herbert am 26. Januar ebenso heftig gegen das „letztere", wie er jetzt, am 23.Februar, gegen das „erstere" opponiert? Als er (Herbert) seine Stellung im jetzigen Kabinett eingenommen, habe Lord Palmerston, im Einklang mit seiner Rede vom letzten Freitag, das Komitee für unkonstitutionell, für beseitigt erklärt mit dem Austritt Aberdeens und Newcastles. Palmerston habe sogar nicht gezweifelt, daß das Haus Roebucks Motion nun ohne Diskussion verneinen werde. Das Komitee, soweit es nicht
Anklage gegen die Regierung, sondern Untersuchung in dem Stand der Armee bezwecke, werde sich als ein ungeheurer Schein ausweisen. Lord Palmerston, indem er nicht den Mut habe, seiner wiederholt formulierten Uberzeugung gemäß zu handeln, schwäche die Regierung. Wozu sei ein starker Mann nütze, wenn er eine schwache Politik befolge? Gladstone fügt in der Tat den Erklärungen seiner Kollegen nichts hinzu, außer jener Art von Argumentation, die den verstorbenen Peel veranlaßt hatte, bei Gelegenheit des Austritts Gladstones aus seiner Administration es handelte sich damals um das Maynooth-Institut1753 - zu erklären, er habe die Gründe des Austritts seines Freundes zu verstehen geglaubt, bevor sein Freund sie dem Parlament in einer zweistündigen Rede zu entwickeln unternommen. Palmerston hielt es für überflüssig, auf die Erklärungen seiner Exkollegen einzugehen. Er bedaure ihren Austritt, werde sich jedoch zu trösten wissen. In seinen Augen bezwecke das Komitee keinen Tadel, sondern eine Untersuchung um den Stand der Armee. Er habe sich der Ernennung des Komitees widersetzt, sich aber überzeugt, daß der Entschluß des Hauses nicht rückgängig zu machen [ist]. Ohne Regierung dürfe das Land nicht sein, und darum werde er Regierung bleiben mit oder ohne Komitee. Auf die Frage Brights erklärte er, daß die Friedensverhandlungen ernst gemeint und Russells Instruktionen auf Grundlage der vier Punkte abgefaßt seien. Über den Stand seines eigenen Ministeriums teilte er dem Hause nichts mit. Palmerston hat unstreitig trotz des plötzlichen Aufbruchs seiner ersten Administration schon Siege errungen, wenn nicht in der öffentlichen Meinung, jedoch im Kabinett und im Parlament. Durch Russells Mission nach Wien hat er sich eines lästigen, launigen Rivalen entledigt. Durch sein Kompromiß mit Roebuck hat er das parlamentarische Untersuchungskomitee in eine Regierungskommission verwandelt, die neben den drei von ihm selbst ernannten nur als vierte zählt. Er hat, wie Sidney Herbert sagt, einen „ungeheuren Schein" an die Stelle einer Realität gesetzt. Der Austritt der Peeliten1111 hat ihm die Möglichkeit gegeben, ein Kabinett zu bilden aus lauter, Nullen mit ihm selbst als der einzigen Ziffer. Daß indes die Bildung eines solchen wirklichen Palmerston-Ministeriums mit beinahe unüberwindbaren Schwierigkeiten zu kämpfen [hat], ist außer Frage.
Karl Marx
[Joseph] Hume
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.98 vom 28.Februar 1855] London, 24. Februar. In Hume ist der Veteran des Hauses der Gemeinen gestorben. Sein langes parlamentarisches Leben ist ein genauer Barometer der bürgerlich-radikalen Partei, die 1831 auf ihrem Höhepunkt stand. In der ersten Zeit des reformierten Hauses1761 eine Art von parlamentarischem Warwick oder Deputiertenmacher, figuriert er 8 Jahre später mit Daniel O'Connell und Feargus O'Connor als einer der Urheber der „Volks-Charter"[77], die noch heute das politische Programm der Chartisten bildet undim Grunde nichts enthält als die Forderung des allgemeinen Wahlrechts, nebst den Bedingungen, die es in England zu einer Realität machen würden. Der bald erfolgende Bruch zwischen den Arbeitern und den bürgerlichen Agitatoren fand Hume auf der Seite der letzteren. Zur Zeit des RussellMinisteriums entwarf er die von den sogenannten „parlamentarischen und finanziellen Reformern" als Programm angenommene „kleine Charter"r781. Statt der sechs Punkte der Volks-Charter enthält sie drei Punkte und setzt an die Stelle des „allgemeinen" ein mehr oder minder „erweitertes" Wahlrecht. Schließlich 1852 proklamierte Hume ein neues Programm, worin er auch auf seine „kleine Charter" verzichtet und nur noch einen Punkt verlangt - Wahl durch Kugeln (Ballot). Im übrigen war Hume der klassische Repräsentant der sogenannten „independeriten" Opposition, die Cobbett als das „Sicherheitsventil" des alten Systems treffend und erschöpfend charakterisiert hat. In seinen letzten Tagen war ihm die Gewohnheit, Motionen einzubringen und dann vor Toresschluß auf einen Wink der Minister wieder zurückzuziehen, zur förmlichen Manie geworden. Seine Koketterie mit der „Ökonomie der öffentlichen Gelder" ist sprichwörtlich geworden. Alle Ministerien erlaubten ihm, kleine Posten zu bekämpfen und zu verkürzen, um die großen desto unversehrter durchs Haus zu bringen.
Karl Marx
Palmerston [und die englische Oligarchie]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 105 vom 3. März 1855] London, 27. Februar. Dem Schrei gegen die Aristokratie hat Palmerston ironisch geantwortet mit einem Ministerium von 10 Lords und 4 Baronetts dazu 10 Lords, wovon 8 im Hause der Pairs sitzen. Der Ungeduld über das Kompromiß zwischen den verschiedenen Fraktionen der Oligarchie entgegnet er mit einem Kompromiß zwischen verschiedenen Familien innerhalb der Whig-Fraktion. In seinem Ministerium ist der Grey-Clan abgefunden, die herzoglich Sutherlandsche Familie, endlich die Clarendonsche Familie. Der Minister des Innern, Sir George Grey, ist Vetter des Grafen Grey, dessen Schwager Sir Charles Wood ist, der Erste Lord der Admiralität; der Graf Granville und der Herzog von Argyll vertreten die Familie Sutherland. Sir G[eorge] C[ornewallJ Lewis, Schatzkanzler, ist Schwager des Grafen Clarendon, [des] auswärtigen Ministers. Indien allein ist einem Unbetitelten, obgleich in die Whig-Familien Hineingeheirateten, dem Vernon Smith anheimgefallen. Ein Königreich für ein Pferd! rief Richard III. Ein Pferd für ein Königreich! ruft Palmerston, den Caligula nachahmendt7ÖJ, und macht Vernon Smith zum Großmogul von Indient801. „Lord Palmerston", klagt der „Morning Advertiser", „hat uns nicht nur die alleraristokratischste Administration gegeben, von der unsere Geschichte ein Beispiel aufweist, sondern er hat seine Regierung aus dem miserabelsten aristokratischen Material zusammengesetzt, das aufzufinden war/ Aber, tröstet sich der biedere „Advertiser", aber „Palmerston ist immer noch kein freier Agent; er ist immer noch in Ketten und Banden etc.w Wie wir vorhersagten1, Lord Palmerston hat ein Kabinett von Nullen gebildet, mit sich selbst als der einzigen Ziffer. Lord John Russell, der ihn 1851 undiplomatisch aus dem Whig-Kabinett warf, hat er diplomatisch auf Reisen geschickt181J. Die Peelitentn) hat er benutzt, um die Erbschaft
1 Siehe vorl. Band, S. 89
Aberdeens anzutreten. Die Ministerpräsidentschaft, einmal gesichert, hat die Aberdeeniten fallen lassen und dem Russell, wie Disraeli sagt, nicht nur die Whig-Garderobe, sondern die Whigs selbst gestohlen. Trotz der großen Ähnlichkeit, ja fast Identität der jetzigen Regierung mit Russells Whig-Administration von 1846-1852, wäre nichts falscher als sie zu verwechseln. Es handelt sich diesmal überhaupt nicht um ein Kabinett, sondern um Lord Palmerston statt eines Kabinetts. Obgleich das Personal großenteils das alte, sind die Stellen so unter dasselbe verteilt, ist sein Anhang im Hause der Gemeinen so verschieden und erscheint es unter so gänzlich veränderten Verhältnissen wieder, daß, wenn es früher ein schwaches WhigMinisterium, es jetzt die starke Diktatur eines einzigen Mannes bildet, vorausgesetzt, daß Palmerston kein unechter Pitt, Bonaparte kein unechter Napoleon und Lord John Russell auf Reisen bleibt. Verdrießlich, wie dem englischen Bürger die unerwartete Wendung der Dinge kam, amüsiert ihn einstweilen die gewissenlose Gewandtheit, womit Palmerston Freund und Feind düpiert und übervorteilt hat. Palmerston, sagt der Citykaufmann, hat wieder gezeigt, daß er „clever" ist. „Clever" aber ist ein unübersetzbares Prädikat, vieldeutig, vielsinnig. Es umfaßt alle Eigenschaften eines Mannes, der .sich an den Mann zu bringen weiß und sich ebensosehr auf den eigenen Vorteil wie auf den fremden Schaden versteht. Moralisch, wie der englische Bürger ist, respektabel, wie er ist, bewundert er doch vor allem den Mann, der „clever" ist, den die Moral nicht geniert, den der Respekt nicht irrt, der Prinzipien für Fallstricke hält, um seinen Nebenmenschen zu Fall zu bringen. Wenn der Palmerston so „clever" ist, wird er nicht die Russen überlisten, so gut wie er den Russell überlistet hat? So der Politiker der höheren englischen Mittelklasse. Was die Tories betrifft, so glauben sie die gute alte Zeit wiederhergestellt, den bösen Koalitionszauber gebrochen und den angestammten Regierungswechsel zwischen Whigs und Tories wieder eingeleitet. Eine wirkliche Änderung, nicht beschränkt auf bloß passive Auflösung, dürfte in der Tat erst unter einer Tory-Regierung eintreten. Nur wenn die Tories am Ruder sind, beginnt der gewaltige Druck von außen - die pressure from without - und werden die unvermeidlichen Umwälzungen ins Werk gesetzt. So die K' ;holikenemanzipation1821 unter dem Ministerium Wellington, so der Widerruf der Korngesetze unter dem Ministerium Peel, so, wenn nicht die Reformbill, mindestens die Reformagitation, die. bedeutender war als ihr Resultat. Als die Engländer eigens einen Holländer über die See kommen ließen1,
1 Wilhelm III. von Oranien
um ihn zum König zu machen, geschah es, um mit der neuen Dynastie eine neue Epoche einzuführen - die Epoche der Vermählung von Grundaristokratie und Finanzaristokratie. Seit der Zeit finden wir das Privilegium des Bluts und das Privilegium des Goldes im konstitutionellen Gleichgewicht bis auf den heutigen Tag. Das Blut z. B. überwiegt einen Teil der Stellen in der Armee der Familienkonnexion, dem Nepotismus, dem Favoritismus, aber das Prinzip des Goldes erhält sein Recht, indem alle Offiziersstellen für klingende Münze verkaufbar und kaufbar sind. Es wird so berechnet, daß die gegenwärtig in den Regimentern dienenden Offiziere ein Kapital von 6 Millionen Pfd. St. in ihren Stellen fixiert haben. Der ärmere Offizier, um nicht seines im Dienst erworbenen Anrechts verlustig zu gehen und durch einen jungen Geldbeutel ausgestochen zu werden, leiht Kapital auf, um sein Avancement zu sichern, und wird so ein verhypothekiertes Wesen. Wie in der Armee, so herrscht in der Kirche neben dem Prinzipe der Familie das bare Prinzip. Wenn ein Teil der Kirche den jungen Söhnen der Aristokratie anheimfällt, so gehört der andere dem Meistbietenden. Der Handel mit den „Seelen" des englischen Volkes - soweit sie der Staatskirche zugehören - ist nicht minder regelmäßig wie der Negerhandel in Virginien. Es existieren in diesem Handel nicht nur Käufer und Verkäufer, sondern auch Mäkler. Ein solcher „klerikaler" Mäkler, namens Simpson, erschien gestern vor dem Court of Queen's Bench1 und verlangte seine Gebühren von einem gewissen Lamb, der sich kontraktlich verpflichtet habe, ihm diePräsentation zur Pfarre von Westhackney für den Rektor Joseah Rodwell zu verschaffen, wobei Simpson 5 p.c. von Käufer und Verkäufer sich ausbedungen, nebst einigen Nebensporteln. Lamb habe seine Verpflichtung nicht erfüllt. Die Sache hing so zusammen: Lamb ist der Sohn des 70jährigen Rektors zweier Pfründen in Sussex, deren Marktpreis zu 16 000 Pfd. St. angeschlagen wird. Der Preis steht natürlich im direkten Verhältnis zur Einnahme der Pfarre und im umgekehrten Verhältnis zum Alter des Pfründenbesitzers. Der junge Lamb ist der Patron der vom alten Lamb besessenen Pfarreien und zugleich der Bruder eines noch jüngeren Lamb, des Pfründenbesitzers und Pfarrers von Westhackney. Da der Rektor von Westhackney noch sehr jugendlich, steht der Marktpreis der nächsten Präsentation zu seiner Sinekure verhältnismäßig niedrig. Obgleich ihre Einnahme 550 Pfund jährlich nebst Pfarrwohnung, verkauft ihr Besitzer die nächste Präsentation zu nur 1000 Pfd. St. Sein Bruder verspricht ihm die Pfarreien in Sussex bei dem Tode des Vaters, verkauft aber durch Simpson seine so erledigte Stelle in
1 Oberhofgericht
Westhackney zu 3000 Pfd. St. dem Joseah Rodwell, wobei er also einen Nettoprofit von 2000 Pfd. St. einsteckt, sein Bruder eine bessere Pfründe erhält, und der Mäkler zu 5 p.c. Kommission ein Geschäft von 300 Pfd. St. gemacht haben würde. Es stellte sich nicht heraus, wodurch der Kontrakt sich zerschlagen. Das Gericht erkannte dem Mäkler Simpson „für getane Arbeit" eine Entschädigung von 50 Pfd. St. [zu].
Karl Marx Die britische Konstitution
[„Neue Oder-Zeitung1* Nr. 109 vom 6. März 1855] London, 2. März. Während die britische Konstitution im Detail auf jedem Punkte scheiterte, wo der Krieg sie auf die Probe gestellt, brach im Inland das Koalitionsministerium entzwei, das konstitutionellste aller Ministerien, das die englische Geschichte aufzuweisen. 40 000 britische Soldaten starben an den Ufern des Schwarzen Meeres, Opfer der britischen Konstitution! Offiziere, Generalstab, Kommissariat, ärztliches Departement, Transportdienst, Admiralität, Horse Guards138Feldzeugamt, Armee und Marine, alle sind zusammengebrochen und haben sich selbst ruiniert in der Achtung der Welt; aber alle hatten die Genugtuung, zu wissen, daß sie nur ihre Pflicht getan in den Augen der britischen Konstitution! Die „Times" sprach wahrer, als sie ahnte, wenn sie mit Bezug auf diesen allgemeinen Bankerutt ausrief: „Es ist die britische Konstitution selbst, die vor Gericht steht." Sie hat vor Gericht gestanden und ist schuldig gefunden worden. Aber was ist diese britische Konstitution? Besteht ihr Wesen in der Repräsentatiwerfassung und der Beschränkung der Exekutivgewalt? Diese Merkmale unterscheiden sie weder von der Konstitution der Vereinigten Staaten von Nordamerika noch von der Konstitution der unzähligen englischen Aktiengesellschaften, die „ihr Geschäft" verstehn. Die britische Konstitution ist in der Tat nur ein verjährtes, überlebtes, veraltetes Kompromiß zwischen der nicht offiziell, aber faktisch in allen entscheidenden Sphären der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Bourgeoisie und der offiziell regierenden Grundaristokratie. Ursprünglich, nach der „glorreichen" Revolution von 1688, war nur eine Sektion in der Bourgeoisie — die Finanzaristokratie - in das Kompromiß eingeschlossen. .Die Reformbill von 1831 ließ eine andere Sektion zu, die Millocracy, wie die Engländer sie nennen, d. h. die Großwürdenträger der industriellen Bourgeoisie. Die Geschichte der Gesetzgebimg seit 1831 ist die Geschichte der Konzessionen, die an die industrielle Bourgeoisie gemacht worden sind, von der neuen Armenhausakte[831 bis zum Widerruf der Konigesetze und vom Widerruf der Konigesetze bis zur Sukzessionssteuer auf den Grundbesitz.
Wenn die Bourgeoisie - selbst nur die höchste Schicht der Mittelklassen - so im allgemeinen als die herrschende Klasse auch politisch anerkannt wurde, so geschah dies indes nur auf eine Bedingung hin, daß das gesamte Regierungswesen in allen seinen Details, selbst das exekutive Departement der gesetzgebenden Gewalt, d. h. das eigentliche Gesetzmachen in beiden Häusern des Parlaments, der Grundaristokratie gesichert bleibe. Die Bourgeoisie zog [um] 1830 [herum] die Erneuerung des Kompromisses mit der Grundaristokratie einem Kompromiß mit der Masse des englischen Volkes vor. Die Aristokratie nun, die, unterworfen unter gewisse von der Bourgeoisie aufgestellte Prinzipien, ausschließlich herrscht im Kabinett, dem Parlamente, der Administration, der Armee und der Marine - diese eine und verhältnismäßig wichtigste Hälfte der britischen Nation ist grade jetzt gezwungen, ihr eignes Todesurteil zu unterschreiben und vor den Augen aller Welt zu gestehn, daß sie nicht länger den Beruf hat, England zu regieren. Man betrachte nur die Versuche, ihre Leichen zu galvanisieren! Ministerium wird gebildet nach Ministerium, [um] sich selbst aufzulösen nach dem Regime von wenigen Wochen. Die Krisis ist permanent, die Regierung nur provisorisch. Alle politische Aktion ist suspendiert, und jeder gesteht, daß er nur noch daran denkt, die politische Maschine hinlänglich einzuölen, damit sie nicht völlig stillsteht. Das Haus der Gemeinen selbst erkennt sich nicht wieder in den Ministerien, die nach seinem eignen Bilde geschaffen sind. In Mitte dieser allgemeinen Hilflosigkeit ist nicht nur der Krieg zu führen, sondern ein Gegner zu bekämpfen, gefährlicher selbst als der Kaiser Nikolaus. Dieser Gegner ist die Handels- und Industriekrise, die seit letztem September jeden Tag an Gewaltsamkeit und Universalität zunimmt. Ihre eiserne Hand hat sofort den Mund der oberflächlichen Freihandelsapostel geschlossen, die seit Jahren predigten, daß seit dem Widerruf der Korngesetze überfüllte Märkte und soziale Krisen für immer in das Schattenreich der Vergangenheit verbannt seien. Die überfüllten Märkte sind da, und nun schreit niemand lauter über den Mangel an Vorsicht, der die Fabrikanten abgehalten, die Produktion zu beschränken, als dieselben Ökonomen, die noch vor 5 Monaten mit dogmatischer Unfehlbarkeit lehrten, daß nie zu viel produziert werden könne. In einer chronischen Form äußerte sich die Krankheit bereits zur Zeit der Prestoner Arbeitseinstellung1841. Kurz nachher brachte die Uberfuhr des amerikanischen Markts die Krise zum Ausbruch in den Vereinigten Staaten. Indien und China, obgleich überführt, ebenso wie Kalifornien und Australien, fuhren fort, Abzugskanäle der Überproduktion zu bilden. Da die englischen Fabrikanten ihre Ware nicht länger im heimischen Markt verkaufen
konnten, ohne die Preise herabzudrücken, nahmen sie zu dem gefährlichen Mittel ihre Zuflucht, selbst ihre Ware auf Konsignation ins Ausland zu schicken, besonders nach Indien, China, Australien und Kalifornien. Dieses Ausfluchtsmittel befähigte den Handel, für eine Weile voranzugehen, mit weniger Störung, als wenn die Waren auf einmal auf den Markt geworfen worden wären. Sobald sie aber an ihren Bestimmungsorten anlangten, entschieden sie dort die Kurse sofort, und gegen Ende September wurde die Wirkung hier in England fühlbar. Die Krise vertauschte dann ihren chronischen mit einem akuten Charakter. Die ersten Häuser, die zusammenbrachen, waren die Kattundrucker darunter altetablierte Firmen von Manchester und Umgegend. Die Reihe kam dann an die Schiffsbesitzer und die australischen und kalifornischen Kaufleute, dann die chinesischen Häuser, endlich die indischen. Alle kamen an die Reihe, die meisten litten schwer, viele mußten ihr Geschäft suspendieren, und für keinen dieser Handelszweige ist die Gefahr vorüber. Sie ist im Gegenteil beständig wachsend. Die Seidenfabrikanten wurden ebenfalls getroffen; ihre Industrie ist momentan fast auf nichts reduziert, und die örtlichkeiten, wo sie betrieben wird, sind vom größten Elend heimgesucht. Die Reihe kömmt nun an die Baumwollenspinner und Fabrikanten. Einige von ihnen sind bereits unterlegen, und ein großer Teil wird ihr Schicksal noch teilen müssen. Wir haben früher gesehen1, daß die Feingarnspinner nur noch kurze Zeit arbeiten, und die Grobgarnspinner werden bald zum selben Mittel ihre Zuflucht nehmen. Ein Teil davon arbeitet jetzt schon nur einige Tage in der Woche. Wie lange werden sie dies aushalten können? Noch einige Monate, und die Krisis wird in den Fabrikdistrikten die Höhe von 1842 erreichen, wenn nicht übersteigen. Sobald aber ihre Wirkungen sich allgemein unter den arbeitenden Klassen fühlbar machen, wird die politische Bewegung wieder beginnen, die sechs Jahre mehr oder minder unter diesen Klassen geschlummert und nur noch die Cadres für eine neue Agitation zurückgelassen hatte. Der Konflikt zwischen dem industriellen Proletariat und der Bourgeoisie wird zur selben Zeit wieder beginnen, wo der Konflikt zwischen Bourgeoisie und Aristokratie seinen Höhepunkt erreicht. Die Maske wird dann fallen, die bis jetzt dem Auslande die wirklichen Züge der politischen Physiognomie Großbritanniens versteckt hat. Indes, nur wer unbekannt mit dem Reichtum dieses Landes an Menschenmaterial wie an materiellen Hilfsmitteln ist, wird zweifeln, daß es siegreich und neu verjüngt aus der bevorstehenden großen Krise hervorgehen wird.
1 Siehe vorl. Band, S. 68
7 MareEngeU, Werke, Bd. 11
Karl Marx
Layard
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 107 vom 5. März 1855] London, 2. März. Layard, der große Ninive-Gelehrte, hat vorgestern in einer Rede an seine Kommittenten von Aylesbury ein interessantes Kapitel veröffentlicht zur Charakteristik einerseits der Art und Weise, wie die Oligarchie die wichtigsten Staatsämter verteilt, andererseits der höchst zweideutigen Position der sog. liberalen und independenten Parlamentsmitglieder zu dieser Oligarchie. Lord Granville, erzählt Layard, ernannte ihn zum Unterstaatssekretär im Ministerium des Auswärtigen, wo er 3 Monate diente, als Russells Ministerium stürzte und das Derby-Kabinett gebildet ward. Derby trug ihm an, an seinem Platze zu bleiben, bis der ihm bestimmte Nachfolger, Lord Stanley (Derbys Sohn), aus Indien zurückgekehrt sei. Dann wolle er ihn (Layard) mit einer diplomatischen Mission im Auslande betrauen. „Alle meine politischen Freunde", erzählt Layard, „waren der Ansicht, ich solle , das Angebot annehmen, mit Ausnahme Lord Russells, der eine umgekehrte Meinung aussprach, der zu folgAi ich nicht anstand." Layard schlug also Derbys Anerbieten ab. Wohl! Lord Russell wird wieder Minister, und Layard ist nicht vergessen. Russell ladet ihn nun ein zum ministeriellen Bankett, an dem er seinen Sitz nehmen soll als Untersekretär des „Board of Control", d. h. des Ministeriums für Indien. Layard schlägt zu. Plötzlich aber besinnt sich Russell, daß ein ältlicher WhigGentleman, namens Sir Thomas Redington, der früher einmal mit irischen, nie aber mit asiatischen Angelegenheiten betraut war, „noch unversorgt ist" (wörtlich). Er deutet also dem Layard an, der Unterbringung des ältlichen Herrn nicht im Wege zu stehen. Layard resigniert wieder. Russell, ermutigt durch die selbstaufopfernde Bescheidenheit des Gelehrten,
insinuiert ihm nun, ganz aus dem Wege zu gehen und eine Konsulstelle in Ägypten anzunehmen. Diesmal wird Layard wild, schlägt ab und macht sich im Parlament bemerkbar durch bedeutende Reden gegen die orientalische Politik des Ministeriums. Palmerston, sobald er sein Kabinett gebildet, sucht ihn abzufinden durch die Stelle des Sekretärs im Feldzeugamt. Layard lehnt dies ab, weil er durchaus nichts verstehe von der Artillerie etc. Wie naiv! Als ob der abgetretene Sekretär-Herr Monsell, einer der Mäkler der Irischen Brigade[24] - je imstande gewesen, eine gewöhnliche Muskete von einem Zündnadelgewehr zu unterscheiden] Palmerston bietet ihm nun das Untersekretariat im Ministerium des Krieges an. Layard akzeptiert, aber den andern Morgen hat Palmerston ausgefunden, daß Frederick Peel - diese bürokratische Nullität - in diesem Augenblicke unentbehrlich im Kriegsministerium sei, von dessen Funktionen Peel notorisch nichts versteht. Zum Ersatz bietet er dem Layard schließlich im Namen Russells das Untersekretariat im Kolonialministerium an. Layard hält die Umstände zu schwierig, um in diesem Augenblicke Studien über 50 Kolonien zu machen, mit denen er sich nie beschäftigt. Er lehnt ab, und damit endet diese erbauliche Historie. Die einzige Moral, die die ministeriellen Blätter daraus ziehen, ist: daß Layard noch sehr unerfahren im Weltlauf und seinen assyrischen Ruhm schnöde verwirkt habe.
Karl Marx
Die Krise in England
[„New-York Daily Tribüne* Nr.4346 vom 24.März 1855, Leitartikel] Der Tod des Zaren und die Wirkung dieses Ereignisses auf die schwebenden Verwicklungen dürfte unstreitig der interessanteste Teil der Nachrichten aus Europa sein, die uns die „Atlantic" brachtet85]. Indessen, so wichtig auch die Kunde über dieses Thema oder über andere kontinentale Angelegenheiten ist, so kann sie in ihrem Interesse für den aufmerksamen Beobachter wohl kaum die fortlaufenden Anzeichen und Entwicklungen jener folgenschweren politischen Krise übertreffen, in der gegenwärtig die britische Nation daheim ganz ohne ihr Wollen verwickelt ist. Der letzte Versuch, jenes veraltete Kompromiß, genannt die britische Konstitution - ein Kompromiß zwischen der Klasse, die offiziell herrscht, und jener, die inoffiziell herrscht aufrechtzuerhalten, mißlang gründlich. In England ist nicht nur das Koalitionsministerium, das allerkonstitutionellste von allen Ministerien, zusammengebrochen, sondern die Konstitution selbst ist in jedem einzelnen Punkt, wo sie der Krieg auf die Probe stellte, zusammengebrochen. Vierzigtausend britische Soldaten fanden als Opfer der britischen Konstitution den Tod an den Küsten des Schwarzen Meeres. Offizierkorps, Armeestab, Kommissariat, medizinisches Departement, Transportdienst, Admiralität, Horse GuardsI381, Artilleriewesen, Heer und Marine, alle miteinander sind zusammengebrochen, haben sich in der Wertschätzimg der Welt zugrunde gerichtet. Doch alle miteinander fanden Genugtuung in dem Bewußtsein, nur ihre Pflicht im Sinne der britischen Konstitution getan zu haben. Die Londoner „Times" war der Wahrheit näher, als sie selber erkannte, wenn sie im Hinblick auf dieses allgemeine Fiasko sagte, daß es die britische Konstitution selbst ist, die vor Gericht steht!
Sie ist geprüft und für schuldig befunden worden. Diese britische Konstitution ist nichts anderes als ein veraltetes Kompromiß, durch das die allgemeine Regierungsmacht bestimmten Teilen der Bourgeoisie überlassen wird, unter der Bedingung, daß die gesamte wirkliche Leitung, die vollziehende Gewalt in allen ihren Einzelheiten, selbst bis zur vollziehenden Funktion der gesetzgebenden Macht - d. h. die wirkliche Gesetzgebung in den beiden Häusern des Parlaments der Grundaristokratie gesichert bleibt. Diese Aristokratie hat, obwohl sie sich den von der Bourgeoisie aufgestellten allgemeinen Prinzipien unterwirft, die oberste Entscheidung im Kabinett, im Parlament, in der Verwaltung, in der Armee und Flotte; und diese sehr bedeutende Hälfte der britischen Konstitution mußte nun ihr eigenes Todesurteil unterzeichnen. Sie ist gezwungen worden, anzuerkennen, nicht fähig zu sein, England weiter zu regieren. Ein Ministerium nach dem anderen wird gebildet, nur um sich nach wenigen Wochen Regierungstätigkeit wieder aufzulösen. Die Krise ist permanent, die Regierung ist nur provisorisch. Jede politische Tätigkeit ist unterbrochen, niemand gibt vor, mehr zu tun, als die politische Maschine gerade gut genug zu ölen, damit sie nicht stehenbleibt. Selbst das Haus der Gemeinen, dieser Stolz des konstitutionellen Engländers, ist an einem toten Punkt angelangt. Es kennt sich selbst nicht mehr, da es in zahllose Fraktionen aufgespalten ist, die alle arithmetischen Kombinationen und Variationen, die bei der gegebenen Anzahl von Einheiten möglich sind, ausprobieren. Es vermag sich in den verschiedenen Kabinetten nicht mehr wiederzuerkennen, die es nach seinem eigenen Bild zu keinem anderen Zweck bildet, als sie wieder aufzulösen. Der Bankrott ist komplett. Unter den Bedingungen dieser nationalen Ohnmacht, die, ähnlich wie die Seuche auf der Krim, nach und nach alle Glieder des politischen Organismus befallen hat, mußte nicht nur der Krieg fortgeführt werden, sondern auch gekämpft werden mit einem anderen, weit gefährlicheren Gegner als Rußland, mit einem Gegner, der den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Kabinetten all der Gladstones, Cardwells, Russells und Palmerstons zusammengenommen überlegen ist. Dieser Gegner ist die Handels- und Industriekrise, die seit letztem September mit einer Härte, Universalität und Heftigkeit eingesetzt hat, die nicht zu verkennen ist. Seine unerbittlich eiserne Hand hat sofort jene seichten Freihändler zum Schweigen gebracht, die seit Jahren unaufhörlich gepredigt hatten, nach der Aufhebung der Korngesetze wären überfüllte Märkte unmöglich. Da haben wir nun die Überfülle mit all ihren Konsequenzen und in ihrer schärfsten Form, und angesichts dieser Tatsache klagt nun niemand eifriger die Fabrikanten der Unvorsichtigkeit an, sie hatten die Produktion nicht verringert, als genau die
gleichen Ökonomen, die ihnen noch vor wenigen Monaten sagten, sie könnten niemals zu viel produzieren. Seit langem haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß diese Krankheit in einer chronischen Form existiert. Sie ist natürlich durch die kürzlichen Schwierigkeiten in Amerika und durch die Krise verschärft worden, die unseren Handel einschränkte. Obwohl Indien und China mit Waren überschwemmt .waren, wurden diese Länder weiterhin als Märkte benutzt, ebenso Kalifornien und Australien. Als die englischen Fabrikanten ihre Güter nicht mehr im Inland absetzen konnten oder vorzogen, das nicht zu tun, um nicht die Preise herabzusetzen, nahmen sie zu dem absurden Mittel ihre Zuflucht, die Waren ins Ausland zu schicken, insbesondere nach Indien, China, Australien und Kalifornien. Mit diesem Notbehelf konnte der Handel eine Zeitlang weitergehen, ohne in eine so große Schwierigkeit zu geraten, als wenn die Güter sofort auf den Innenmarkt geworfen worden wären. Als sie jedoch ihre Bestimmungsorte erreichten, riefen sie sofort Schwierigkeiten hervor, und gegen Ende September begann die Auswirkung in England fühlbar zu werden. Alsdann trat die Kriäe aus ihrem chronischen in das akute Stadium. Die ersten Firmen, die es zu spüren bekamen, waren die Kattundrucker. Einige, darunter seit langem bestehende Firmen in Manchester und Umgebung, machten Bankrott. Dann kam die Reihe an die Schiffsbesitzer und die australischen und kalifornischen Kaufleute; die nächsten waren die Kaufleute, die mit China Handel trieben, und schließlich die indischen Häuser. Alle kamen an die Reihe; die meisten erlitten schwere Verluste, während viele ihre Zahlungen einstellen mußten. Für keinen ist die Gefahr vorüber. Im Gegenteil, sie nimmt noch zu. Die Seidenfabrikanten waren ebenfalls betroffen; ihr Gewerbe ist auf fast nichts zusammengeschrumpft, und die Ortschaften, wo es weiter betrieben wird, litten und leiden noch immer die größte Not. Dann kamen die Baumwollspinner und -fabrikanten an die Reihe. Nach unseren letzten Mitteilungen zu urteilen, haben einige nicht standgehalten, und noch vielen wird das gleiche geschehen. Die Spinner von feinem Garn haben, wie wir ebenfalls erfuhren, begonnen, nur vier Tage in der Woche zu arbeiten; auch die Grobspinner werden bald gezwungen sein, das gleiche zu tun. Indessen, wie viele werden es sein, die das auf die Dauer durchhalten können? In wenigen Monaten wird die Krise an einem Höhepunkt angelangt sein, den sie in England seit 1846, vielleicht seit 1842 nicht mehr erreicht hat. Wenn die Arbeiterklasse beginnt, ihre Auswirkungen in vollem Umfange zu spüren, dann wird jene politische Bewegung von neuem beginnen, die sechs Jahre lang schlummerte. Dann werden sich die Arbeitsmänner Englands
wieder erheben und die Bourgeoisie gerade zu der Zeit bedrohen, da sie endgültig die Aristokratie von der Macht vertreibt. Dann wird die Maske, die bisher die wirklichen Züge der politischen Physiognomie Großbritanniens verbarg, heruntergerissen werden und die beiden wirklich kämpfenden Parteien in diesem Lande sich Auge in Auge gegenübertreten - die Mittelklasse und die Arbeiterklasse, die Bourgeoisie und das Proletariat, und England wird dann endlich gezwungen sein, an den allgemeinen sozialen Entwicklungen der europäischen Gesellschaft teilzunehmen. Als England das Bündnis mit Frankreich einging, gab es endgültig jene isolierte Stellung auf, die seine insulare Lage geschaffen hatte, die jedoch der Welthandel und'die wachsenden Verkehrsmöglichkeiten schon seit langem unterminierten. Von nun an wird England wohl kaum umhin können, die großen inneren Bewegungen der anderen europäischen Nationen durchzumachen. Es ist ebenfalls eine auffallende Tatsache, daß die letzten Augenblicke der britischen Konstitution ebenso reich an Beweisen eines verderbten Gesellschaftszustandes sind wie die letzten Augenblicke der Monarchie LouisPhilippes. Wir haben schon vorher die Parlaments- und Regierungsskandale erwähnt, die Stonor-, die Sadleir- und die Lawley-Skandale1. Um jedoch allen die Krone aufzusetzen, kamen die Enthüllungen über Handcock und de Burgh, in denen sich Lord Ganricarde, ein Mitglied des Oberhauses, als ein, wenn auch mittelbarer, so doch Hauptbeteiligter an einer höchst empörenden Handlung bloßstellt. Kein Wunder, daß dies die Parallele zu vervollständigen scheint und Leute beim Lesen der abscheulichen Einzelheiten unwillkürlich ausrufen: „Der Duc de Praslin! Der Duc de Praslin!" England ist bei seinem 1847 angelangt; wer weiß, wann und was sein 1848 sein wird?
Geschrieben am 2. Marz 1855. Aus dem Englischen.
1 Siehe vorl. Band, S. 26/27
Karl Marx
Stellenkauf - Aus Australien
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr-111 vom 7. März 1855] London, 3. März. In der vorgestrigen Sitzung des Hauses der Gemeinen wurde bekanntlich Lord Goderichs Antrag, Unteroffiziere bis zum Range von Hauptleuten avancieren zu lassen, verworfen. Palmerston wandte das alte Dilemma an: Eine partielle Reform ist unmöglich, weil ein Glied des alten Systems das andere bedingt. Einzelne praktische Reform also unmöglich, weil sie nicht theoretisch. Die Gesamtreform des Systems unmöglich, weil sie nicht Reform, sondern Revolution. Theoretische Reform also unmöglich, weil sie nicht praktisch. Dieses Haus der Gemeinen - ein Haus, das das Prinzip beherzigt: principiis obsta1 - ließ sich natürlich gern überzeugen oder bedurfte vielmehr nicht der Überzeugimg, da sein Urteil vor dem Prozeß gefällt war. Palmerston führte bei dieser Gelegenheit ein, daß das System des Verkaufs der Offizierspatente alt sei, und hierin hatte er recht. Wir haben früher schon angedeutet, daß es mit der „glorreichen" Revolution von 1688 begann, mit der Einführung von Staatsschulden, Banknoten und holländischem Königtume. Schon in der Meutereiakte vpn 1694[861 wird die Notwendigkeit erwähnt, „dem großen Unheil des Kaufes und Verkaufes der militärischen Stellen in der königlichen Armee" zuvorzukommen, und wird angeordnet, daß „jeder bestallte Offizier" (nur die Unteroffiziere sind nicht bestallt) „schwören sollte, daß er seine Bestallung nicht gekauft habe". Diese Restriktion wurde indes nicht durchgesetzt; 1702 entschied vielmehr Sir N[athan] Wright, der Lord Keeper2, in umgekehrtem Sinne. Am
1 widerstehe der Versuchung - 2 Lordsiegelbewahrer
Stellenkauf - Aus Australien 105
I.Mai 1711 erkannte eine Verordnung der Königin Anna ausdrücklich das System an, indem sie verfügte,
»daß keine Bestallungen verkauft werden sollten ohne königliche Bestätigung und daß kein Offizier auskaufen dürfe, der nicht 20 Jahre gedient oder im Dienste unfähig geworden sei etc.44 Es war nur noch ein Schritt von dieser offiziellen Anerkennung des Handels in militärischen Patenten zur offiziellen Regulierung des Marktpreises der Bestallungen .1719/1720 wurden demgemäß zum erstenmal solche Marktpreise fixiert. Die Preise der Offizierspatente wurden erneut 1766,1772,1773, 1783 und schließlich 1821, wo die jetzigen Preise festgesetzt wurden. Schon 1766 veröffentlichte der Kriegsminister Barrington einen Brief, worin es heißt:
„Die Folge dieses Handels in Offizierspatenten ist häufig, daß Männer, die mit der wärmsten Neigung für den Dienst in die Armee getreten sind, die sich selbst bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet haben, ihr ganzes Leben durch in dem untersten Rang gehalten werden, weil sie arm sind. Diese verdienstvollen Offiziere erdulden oft die grausame Demütigung, durch junge Buben von reichen Familien kommandiert zu werden, die viel später in den Dienst eintreten, und deren Vermögen sie befähigt, sich außerhalb des Regiments zu amüsieren, während die anderen, beständig im Dienstquartier, die Pflichten dieser Gentlemen erfüllen und ihre eignen gelernt haben.44
Es ist wahr, daß das gemeine Recht von England es für illegal erklärt, für irgendein öffentliches Amt ein Geschenk oder „Mäklersporteln44 zu geben, ganz wie die Statuten der Staatskirche Simonie1871 mit ihrem Bann belegen. Die historische Entwickelung besteht aber darin, daß weder das Gesetz die Praxis bestimmt, noch die Praxis das widersprechende Gesetz beseitigt. Die letzten Nachrichten von Australien fügen ein neues Element der allgemeinen Unbehaglichkeit, Unruhe und Unsicherheit hinzu. Wir müssen unterscheiden zwischen der Erneute zu Ballarat (unweit Melbourne) und der allgemeinen revolutionären Bewegung in der Provinz Victoria. Die erstere wird in diesem Moment unterdrückt sein; die letztere ist nur durch vollständige Zugeständnisse zu unterdrücken. Die erstere ist selbst nur ein Symptom, ein gelegentlicher Ausbruch der letzteren. Was die Erneute bei Ballarat angeht, so sind die Tatsachen einfach diese: Ein gewisser Bentley, Eigentümer des Eureka-Hotels bei den Goldfeldern von Ballarat, war in allerlei Konflikte mit den Goldgräbern geraten. Ein Mord, der in seinem Hause vorfiel, vermehrte den Haß gegen ihn. Bei der Untersuchung des Leichenbeschauers ward Bentley als unschuldig entlassen. Indes veröffentlichten zehn von den zwölf Geschworenen, die während der Leichenschau funk
tionierten, einen Protest gegen die Parteilichkeit des Coroner (Leichenbeschauer), der die dem Gefangenen nachteiligen Zeugenaussagen zu unterdrücken gesucht. Auf das Verlangen der Volksmasse fand eine zweite Untersuchung statt. Trotz sehr verdächtigender Zeugenaussage wurde Bentley wieder entlassen. Indes ward bekannt, daß einer der Richter pekuniär an dem Hotel beteiligt sei. Viele frühere und spätere Klagen beweisen den zweideutigen Charakter der Regierungsbeamten des Distrikts von Ballarat. Am Tage der zweiten Entlassung des Bentley machten die Goldgräber eine furchtbare Demonstration, übergaben sein Hotel den Flammen und zogen sich dann zurück. Drei der Rädelsführer wurden verhaftet auf Befehl von Sir Charles Hotham, dem Generalgouverneur der Provinz Victoria. Am 27. November verlangte eine Deputation der Goldgräber ihre Freilassung. Hotham schlug das Gesuch ab. Die Goldgräber hielten ein Monstre-Meeting. Der Gouverneur entsandte Polizei und Militärmacht von Melbourne. Es kam zum Konflikt, mehrere Tote blieben, und die Goldgräber, nach den letzten Nachrichten, die bis zum I.Dezember gehen, hatten die Unabhängigkeitsfahne aufgepflanzt. Diese Erzählung, im wesentlichen einem Regierungsorgan entnommen, spricht schon keineswegs zugunsten der englischen Richter und Regierungsbeamten. Sie zeigt das herrschende Mißtrauen. Die eigentlichen großen Streitfragen, um die sich die revolutionäre Bewegung in der Provinz Victoria dreht, sind zwei. Die Goldgräber verlangen Abschaffung der Patente zum Goldgraben - d.h. einer direkt auf die Arbeit gelegten Steuer; sie verlangen zweitens Abschaffung der Eigentumsqualifikation für Mitglieder der Repräsentantenkammer, um so selbst Kontrolle über Steuern und Gesetzgebung zu erhalten. Man sieht: im wesentlichen ähnliche Motive wie die, die zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten führten, nur, daß in Australien der Gegensatz von den Arbeitern gegen die mit der Kolonialbürokratie verbundenen Monopolisten ausgeht. Im Melbourne „Argus" lesen wir von großen Reformmeetings und andererseits großen militärischen Vorbereitungen auf seiten der Regierung. Es heißt dort unter anderem:
„Auf einem Meeting von 4000 Personen wurde beschlossen, daß die Patentabgabe eine Auflage und ungerechte Steuer auf freie Arbeit sei, das Meeting sich daher verpflichte, sie sofort abzuschaffen durch Verbrennen aller Patente. Sollte irgendeiner verhaftet werden, weil nicht im Besitze eines Patents, so werde ihn das vereinigte Volk verteidigen und beschützen."
Zu Ballarat erschienen am 30. November die Kommissäre Rede und Johnson mit Kavallerie und Polizei und verlangten mit gezückten Schwertern
Aus Australien 107
und fixierten Bajonetten die Vorzeigung der Patente von den Goldgräbern. Diese hielten ein Massenmeeting, meist bewaffnet, und beschlossen, der Eintreibung der gehässigen Steuer aufs äußerste zu widerstehen. Sie verweigerten, ihre Patente vorzuzeigen; sie erklärten, sie hätten sie verbrannt; die Aufruhrakte1881 wurde verlesen, und der Aufruhr war nun vollständig. Es genügt, hier anzuführen - um das gemeinsame Tretben der in den Lokallegislaturen hausenden Monopolisten und der mit ihnen verbundenen Kolonialbürokratie zu schildern -, daß 1854 die Regierungsausgabe in Victoria 3 564258 Pfd. St. betrug, ein Defizit einschließend von 1085 896, also von mehr als ein Drittel der Gesamteinnahme. Und im Angesicht der jetzigen Krise, des allgemeinen Bankerutts verlangt Sir Charles Hotham für das Jahr 1855 eine Summe von4801292 Pfd. St. Victoriazählt kaum 300 000Einwohner, und von der obigen Summe sind 1860 830 Pfd. St., d.h. 6 Pfd. St. per Kopf, für öffentliche Arbeiten bestimmt, nämlich für Wege, Docks, Kais, Kasernen, Regierungsgebäude, Zollämter, botanische Gärten, Regierungsstallungen etc. Nach diesem Maßstab - 6 Pfd. St. per Kopf - müßte die Bevölkerung von Großbritannien 168 000 000 Pfd. St. allein für öffentliche Arbeiten jährlich zahlen, d.h. dreimal mehr, als ihre Gesamtsteuer beträgt. Man begreift, daß die arbeitende Bevölkerung sich gegen diese Übersteuerung empört. Man begreift zugleich, wie gute Geschäfte Bürokratie und Monopolisten vereinigt bei so ausgedehnten - auf fremde Kosten bestrittenen - Staatsarbeiten machen müssen.
Karl Marx
Die englische Presse über den toten Zar
I
[„Neue Oder-Zeitung44 Nr. 109 vom 6.März1855] London, 3. März. Sämtliche heut erschienenen Tages- und Wochenblätter bringen natürlich Leitartikel über den Tod des Kaisers von Rußland - jedoch ohne Ausnahme geistlos und gemeinplätzlich. Die „Times" sucht wenigstens ihren Stil durch ein Pathos von Hundertpferdekraft aufzuschwellen zur Timur-Tamerlan-Höhe. Wir heben nur zwei Stellen hervor, beide Komplimente für Lord Palmerston. Palmerstons, des „schlimmsten Feindes des Zaren", Ernennung zum Premierminister habe die Überreizung, die seinenTod beschleunigt, noch mehr aufgeschraubt. Von 1830-1840 (erstes Dezennium der Palmerstonschen auswärtigen Politik) habe der Zar seine Politik der Übergriffe und der Weltherrschaft aufgegeben. Die eine Behauptung ist der andern wert. Der „Moming Advertiser" zeichnet sich dagegen durch die Entdekkung aus, daß Michael der älteste Sohn des Kaisers und darum der legitime Thronfolger sei. Die „Moming Post", Palmerstons Privatmoniteur, offenbart in ihrer Leichenrede dem englischen Publikum, daß »die Wiener Konferenzen nun zwar für kurze Zeit aufgeschoben, aber unter neuen Auspizien eröffnet werden sollen**, und daß »heute nachmittag Lord Clarendon mit dem Kaiser Napoleon eine Zusammenkunft in Boulogne hat, wo die beiden Regierun« gen ihre Ideen über dies plötzliche und wichtige Ereignis austauschen werden4*. Die „Daily News" glaubt nicht an die friedlichen Folgen des „plötzlichen Ereignisses", da die Westmächte sich nicht zurückziehen könnten, bevor, und Rußland nicht, nachdem Sewastopol gefallen.
Die englische Presse über den toten Zar 109
II
[„Neue Oder-Zeitung*4 Nr. 116 vom 10. März 1855] London, 6. März. Der Tod des Kaisers Nikolaus veranlaßt sonderbare Reklamen in der hiesigen Presse. Dr. Granville wird überboten durch Herrn James Lee, der keine ärztlichen Beobachtungen angestellt hat.[89] „Am 6. Februar", schreibt er in dem heutigen „Morning Advertiser", „sandte ich Ihnen einen Brief, worin ich sagte, daß der Kaiser von Rußland im Verlaufe von 3 Wochen eine Leiche sein werde, vom Datum meines Briefes an gerechnet."
Die Redaktion des „Morning Advertiser", in einem Postskriptum, erklärt, daß sie Lees Brief in der Tat erhalten, aber als Ausgeburt eines kranken Hirns zum Papierkorb verurteilt habe. Lee geht noch weiter. Er erbietet sich, dem „Advertiser" den baldigen Tod eines andern Potentaten zu prophezeien, und zwar auf die einzige Bedingung hin, daß seine Mitteilung veröffentlicht werde. Lees Prophezeiungen scheinen wohlfeiler zu sein als die Bücher der Sibylle. Der Tod des Kaisers hat auch UrquharU als Hochschotte der Gabe des zweiten Gesichts teilhaft, zu einigen pythischen Sprüchen veranlaßt, wovon folgender der charakteristischste und verständlichste: „Blut stand zwischen Nikolaus und den Polen, die nicht zurückgelassen werden konnten, um sie zu überwachen, und deren 500000 Krieger erheischt waren. Und es war völlig begriffen, daß die Restauration des weißen, doppelköpfigen Adlers - des Synjbols jener Vereinigung der slawischen Racen, verkündigt in der Kathedrale von Moskau durch Alexander, seinen Vorfahren - zu seinen Lebzeiten nicht stattfinden könne." Urquhart meint also, daß jetzt der Moment gekommen, wo Rußland in Slawonien aufgehen werde, wie das moskowitische Reich früher in Rußland aufging.
Karl Marx
Zur Geschichte der französischen Allianz
[„Neue Oder-Zeitung14 Nr. 115 vom 9. März 1855] London, 6. März. Der heutige „Morning Herald" überrascht London mit folgender Ankündigung: „Wir haben ausgezeichnete Autorität für den Glauben, daß der Kaiser der Franzosen remonstriert hat gegen das Untersuchungskomitee über die Kriegführung und daß er erklärt hat, falls es fortfahre tätig zu sein, könnten die Armeen der beiden Nationen nicht länger zusammen handeln, obgleich sie beide für denselben Zweck handeln möchten. Um Louis-Napoleon daher Genüge zu tun, ohne das englische Volk vor den Kopf zu stoßen, wird eine Auflösung des Parlaments sobald als möglich stattfinden."
Ohne diesem Paragraphen des „Herald" besondere Wichtigkeit beizumessen, registrieren wir ihn als eines der vielen Symptome, daß geheime Kräfte diesseits und jenseits des Kanals an einer Auflösung der englisch-französischen Allianz arbeiten. Man erinnere sich der Erklärungen des ausgeschiedenen Ministers Sir James Graham: Unter dem Zwang des Untersuchungskomitees wird unser Admiral gezwungen sein, alle Gründe zu enthüllen, die zum Aufschub der Blockade führten, und die Untersuchung würde bis zu unserer Verbindung mit unserem großen und mächtigen Verbündeten treiben zu einer Zeit, wo es von der äußersten Wichtigkeit ist, daß nicht das allergeringste Mißverständnis obwalte. Sidney Herbert: Er fordere das Komitee heraus, auf den Grund der Sache zu gehen, ohne Gefahr unsere Armee in der Krim zu beschimpfen und vielleicht das Vertrauen unserer Alliierten zu erschüttern. Wenn nicht ein Mitglied des Komitees fähig sei, es aufzuhalten, wo es auf gefährlichem Grund grabe, würde großes Unrecht verübt werden, und selbst die Offiziere, die es vorlade, würden vielleicht geopfert werden, da ihnen beschuldigende Fragen
Zur Geschichte der französischen Allianz 111
gestellt werden möchten, während sie nicht die Erlaubnis erhalten würden, Antwort zu geben, weil sie dadurch gefährliche und delikate Enthüllungen wagen müßten. Er für seinen Teil halte es für seine Pflicht, zu verhindern, die Offiziere der britischen Armee in eine Situation zu stellen, wo sie zum Gegenstand von Anklagen gemacht würden, während ihre Hände gebunden und sie unfähig wären, sich selbst zu verteidigen. Gladstone: Unter anderen Dingen werde ein Komitee zu ergründen haben, warum nicht früher ein Weg von Balaklawa gebaut worden! Wenn das Komitee dies nicht untersuche, tue es gar nichts. Wenn es untersuche, werde die Antwort sein: Mangel an Arbeitskraft. Wenn es weiter frage, woher dieser Mangel an Arbeitskraft, werde es lauten, daß die Leute in den Laufgräben schanzten und daß diese von großem Umfang waren infolge des Verhältnisses, worin die Linien zwischen Franzosen und Engländern verteilt wurden. Ich erkläre auch, daß eine Untersuchung leerer Schein sein würde, wenn ihr die Frage der Wege nicht ergründet, und wenn ihr sie ergründet, wird die Verteidigung der angeklagten Parteien direkt die intimsten Beziehungen zwischen England und Frankreich berühren. Man begreift, daß diese ministeriellen Erklärungen schon ausgestreuten Samen des Mißtrauens treibhausmäßig zur .Entwickelung drängen. Die Relegation der englischen Armee in der Krim zum Wachtpostendienst bei Balaklawa hatte schon das Nationalgefühl empfindlich verletzt. Dann kam der halboffizielle Artikel im „Moniteur"1901 mit seinen „imperatorischen" Betrachtungen über die englische Konstitution. Er rief beißende Repliken in der hiesigen Wochenpresse hervor. Dann die Veröffentlichimg des Brüsseler „Memoires"[911, worin Louis Bonaparte einerseits als Urheber der Krimexpedition, anderseits der Konzessionen an Österreich dargestellt wird. Die Kommentare, die zu diesem „Memoire" z.B. im „Morning Advertiser" erschienen, erinnern in ihrer Rücksichtslosigkeit an die „Briefe des Englishman" über den Staatsstreich vom 2.Dezember1921. Welches Echo dies alles in der eigentlichen Volkspresse findet, mag man aus folgendem Auszug aus dem „People's Paper"[931, dem Chartistenorgan, ersehen:
„Bonaparte lockte England nach der Krim... Unsre Armee, einmal in dieser Falle, wurde von ihm in eine solche Position gestellt, daß sie die Schneide der russischen Streitkraft brach, bevor diese Schneide seine eigene Armee erreichen konnte. Zu Alma, zu Balaklawa, zu Inkerman, zu Sewastopol wurden die Briten in den Posten der Gefahr hineingespielt. Sie hatten die Hitze des Gefechts zu tragen, sie den Hauptverlust zu erdulden. Vertragsmäßig hatte England nur ein Drittel der Mannschaft zu stellen im Verhältnis zu Frankreich. Dieses eine Drittel hatte beinahe alle Schlachten zu kämpfen. Dieses eine Drittel hatte mehr als die Hälfte der Linien vor Sewastopol einzunehmen.
Unsere Armee ward vernichtet, weil sie nicht an die Nahrung und Kleidung, die zu Balaklawa verfaulten, herankommen konnte. Sie konnte es nicht, weil kein Weg von Balaklawa nach Sewastopol vorhanden, und dieser Weg war nicht vorhanden, weil Napoleon darauf bestand, daß die Engländer mit weniger als ein Drittel der Gesamtstreitkraft mehr als die halbe Arbeit in den Laufgräben verrichten sollen; und darum hatten sie keine Leute für Wegebau zu entbehren. Dies ist das Geheimnis, worauf Graham, Herbert, Gladstone anspielten... So hat Napoleon absichtlich 44 000 unserer Truppen gemordet etc. etc."
Alle diese Anzeigen mißtrauischer Verstimmung gegen den französischen Alliierten erhalten dadurch Bedeutung, daß Lord Palmerston sich an der Spitze der Regierung befindet - ein Mann, der jedesmal auf der Leiter der französischen Allianz seine Stellung erklettert und dann plötzlich die Allianz in fast unvermeidlichen Krieg zwischen Frankreich und England verkehrt. So in der türkisch-syrischen Angelegenheit 1840 und dem Vertrage vom 15. JuliI94], womit er seine 10jährige Allianz mit Frankreich krönte. Sir Robert Peel bemerkte in bezug hierauf im Jahre 1842: „Er habe nie hlar verstanden, warum die Allianz mit Frankreich gebrochen worden sei, auf welche der edle Lord stets so stolz zu sein vorgeschützt." So abermals 1847 bei Gelegenheit der spanischen Heiraten.[ö51 Damals behauptete Palmerston - der 1846 nur seinen Posten wieder antreten durfte, nachdem er Louis-Philippe seine Aufwartung gemacht, sich mit großer Ostentation mit ihm versöhnt, und dem Franzosen in einer Rede im Hause der Gemeinen geschmeichelt Louis-Philippe habe die Allianz aufgelöst, weil der Vertrag von Utrecht1961 verletzt (ein Vertrag, der seit 1793 erloschen und seit der Zeit nie wieder erneuert war) und weil er eine „Treulosigkeit" gegen die englische Krone begangen. Mit der Treulosigkeit hatte es seine Richtigkeit, aber wie die später veröffentlichten Dokumente bewiesen, hatte Palmerston in der raffiniertesten Weise den französischen Hof in diese Treulosigkeit hineinmachiniert, um einen Vorwand zum Bruche zu erhalten. Während der schlaue Louis-Philippe ihn zu überlisten glaubte, fiel er nur in die sorgsam gelegte Falle des „scherzhaften" Vicomte. Die Februarrevolution allein verhinderte damals den Ausbruch des Krieges zwischen England und Frankreich.
Karl Marx
Untersuchimgskomitee
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 117 vom 10.März 1855] London, 7. März. Das Gerücht von einer bevorstehenden Auflösung des Parlaments auf den Vorwand, daß das Untersuchungskomitee die französische Allianz kompromittiere, scheint sich zu bestätigen. Ein Korrespondent des „Morning Advertiser" bemerkt darüber: „Wer machte das Komitee zu einem öffentlichen? Lord Palmerston, der, wie es heißt, das Haus auflösen will. Roebuck, der Untersuchung verlangt und erzwungen hatte, verlangte Geheimnis. Lord Palmerston, der sie verweigert und dazu gezwungen worden, war für Öffentlichkeit. Er zwingt erst das Komitee, die für unseren fremden Alliierten anstößigste Bahn einzuschlagen, und dann wird diese Anstößigkeit ein Grund für den Minister, das Haus aufzulösen, die Untersuchung auszulöschen und über beide sich in die Faust zu lachen." „Morning Herald" sagt in einem Leitartikel über denselben Gegenstand u.a.: ^ „Als die alliierten Armeen vor Sewastopol ihre Stellungen einnahmen, war das englische Kontingent das stärkere von den beiden, und die nachfolgende Zerstörung unserer Armee ist gänzlich dem Mangel an Reserven im Mittelländischen Meere und einer organisierten Miliz zu Hause zuzuschreiben, da diese Ursachen der englischen Armee die notwendigen Verstärkungen abschnitten. Der Versuch, den Namen unserer Alliierten in die Debatte zu verwickeln, ist ein kaum bemänteltes Strategem verzweifelter und gewissenloser Männer, sich selbst vor einer Untersuchung zu schirmen, von der sie wissen, daß sie für ihre künftige politische Existenz fatal sein muß. Lord Clarendon hat in unkonstitutioneller Weise eine Zusammenkunft mit dem Kaiser der Franzosen gesucht, zu dem einzigen Behuf, ihm eine Erklärung oder Meinung abzupressen, die in eine Mißbilligung des Untersuchungskomitees gefoltert werden könne. Dies einmal erreicht, ist es der Zweck dieser patriotischen Minister, zu versuchen, das Haus einzuschüchtern durch die Drohung der Auflösung und an das Land zu appellieren mit der Parole: Die französische Allianz ist in Gefahr!"
8 Marx/Engols, Werke, Bd. 1!
Es ist klar, daß, wenn dieser Vorwand der englischen Regierung dazu dient, sich des Untersuchungskomitees zu entledigen, er nicht minder dazu dient, die französische Allianz zu gefährden und so gerade das vorzubereiten, was er zu verhüten vorgibt. Mit der Überzeugung, daß das Komitee aufgegeben, weil es „delikate und gefährliche" Mysterien aufgraben würde, kompromittierend für den französischen Alliierten, ist der französische Alliierte kompromittiert. Die Unterdrückung des Komitees spräche lauter gegen ihn, als das Komitee selbst tun könnte. Außerdem muß die geringste Bekanntschaft mit den Ebben und Fluten der öffentlichen Meinung in England überzeugen, daß das Bewußtsein einer so großen Konzession an das Ausland, wie das Unterdrücken eines parlamentarischen Komitees oder eine Auflösung des Parlaments auf angebliches Verlangen Bonapartes wäre, bei der nächsten Gelegenheit in einer furchtbaren Reaktion gegen den französischen Einfluß sich auszugleichen suchen würde. Aus den Berichten über die zwei ersten Sitzungen des Untersuchungskomitees stellen wir die Aussagen des Generals Sir de Lacy Evans zusammen. Zu Malta, wohin ein Kommissär gesandt worden, einige Zeit bevor die Armee England verließ, habe er zu seinem Erstaunen gefunden, daß keine Maultiere aufgekauft worden. Zu Skutari seien keine hinreichenden Vorbereitungen getroffen worden für Schlachten von Vieh und für Backen von Getreide. Schon damals hätten sich einige Schatzkammer-Regulationen als sehr störend herausgestellt. Er glaube fest, daß der Krieg begonnen worden in der Illusion, daß die Angelegenheiten sich ordnen würden ohne eine Explosion von Schießpulver und daß für Magazine irgendeiner Art keine Notwendigkeit vorhanden. Obgleich das Kommissariat unter der Kontrolle des kommandierenden Generals stehe, so sei es doch auch eng verbunden mit der Schatzkammer (also 'Sem Premierminister), und die Beamten des Kommissariats müßten mit der Meinung inspiriert, worden sein, daß es Extravaganz sei, die für einen wirklichen Krieg nötigen Geldauslagen zu machen. Zu Varna seien fast gar keine Anstalten zur Verpflegung von Verwundeten getroffen worden. Der Eindruck habe offenbar vorgeherrscht, daß dies ein Krieg ohne Wunden sein werde. Keine Vorbereitungen hätten stattgefunden, um die Armee sofort zum Felddienst zu befähigen. Als die Russen die Donau überschritten, habe Omer Pascha sie1 um Beistand angegangen, und die Antwort sei gewesen, daß die Armee ohne die nötigen Transportmittel sei, wofür lange vorher hätte gesorgt werden müssen. Die Regierung habe stets noch auf Noten und Protokolle von-Wien gewartet und keine großen Anstrengungen
1 die Engländer
Untersuchungskomitee 115
gemacht, die Armee in marschfähigen Zustand zu setzen. Für Verzögerungen dieser Art sei natürlich die Regierung und nicht das Kommissariat verantwortlich. Die Russen waren schon mit der Belagerung von Silistria beschäftigt und immer noch die Armee nicht marschfertig. Die zwei Departements, mit der Besorgung der Lebensmittel betraut, seien das Kommissariat und das des Generalquartier meisters. Konfliktemit dem Kommissariat seien an der Tagesordnung gewesen. Seine Beamten möchten gute Schreiber in der Schatzkammer sein. Sie seien in der Tat beständig mit Briefen an die Schatzkammer beschäftigt gewesen. Im Felde hätten sie sich untauglich erwiesen. Sogar 18 Meilen vor Varna habe die größte Schwierigkeit geherrscht, Lebensmittel beizutreiben. Das Personal des Kommissariats habe sich dort so numerisch mangelhaft erwiesen, daß er 100 Unteroffiziere zum Dienst für es habe detachieren müssen. Die Sterblichkeit der Truppen zu Varna sei größtenteils aus der Niedergedrücktheit, Folge ihrer aufreibenden und langen Inaktivität, entsprungen. In bezug auf die Lage der Truppen in der Krim wiederholt de Lacy zum Teil das Bekannte - Mangel an Lebensmitteln, Kleidung, hölzernen Hütten etc. etc. Wir führen in bezug auf das Detail nur noch folgende Äußerungen an: „Filder, steinalt, schon wahrend des pyrenäischen Feldzugs mit dem Kommissariat betraut, jetzt Generalquartiermeister, habe ihn nie konsultiert über die Bedürfnisse seiner" (des Evans) „Division; es sei seine Pflicht, das zu tun; er" (Everns) „habe ihn dazu aufgefordert, Filder es aber abgeschlagen. Filder stehe allerdings unter Raglans Ordres, habe aber daneben direkte Korrespondenz mit der Schatzkammer.*4 „Die Verwendung der Artillerie- und Kavalleriepferde zum Fouragieren sei sehr unpassend gewesen. Die Folge war, daß seine*4 (desEvans) „Kanonen in der letztenZeit nur halb mit Pferden versehen waren.44 „Der Weg vom Hafen von Balaklawa nach dem Lager sei schrecklich aufgeweicht und naß gewesen. Wären 1000 Mann darauf während 10 Tagen verwandt worden, so würden sie ihn fahrbar gemacht haben; er glaube aber, daß alle Leute, die gespart werden konnten, in den Laufgräben verwandt wurden.44
Schließlich erklärt Evans über das Zusammenschmelzen der englischen Armee vor Sewastopol: „Eis ist meine Überzeugung, daß weder der Mangel an Zufuhr von Kleidung oder Nahrung und Brennmaterial die erstaunliche Sterblichkeit und Krankheit in der Armee erzeugt haben würden, wären die Truppen in den Laufgräben nicht überarbeitet worden. Die Erschöpfung der Leute erwies sich sehr schädlich. Von Anfang an war die ihnen zugewiesene Arbeit durchaus im Mißverhältnis zu ihrer numerischen Starke. Die Überanstrengung während der Nächte war zweifelsohne der Hauptgrund der Leiden der Armee.44
Karl Marx
Das Brüsseler „Memoire"
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 118 vom 1 I.März 1855] London, 7. März. Die „Morning Post", Palmerstons Privatmoniteur, bringt heute das bekannte Brüsseler „Memoire"1911 in englischer Übersetzung mit einem kurzen Vorwort, worin Prinz Napoleon als mutmaßlicher Verfasser des Pamphlets bezeichnet ist. Gleichzeitig bringt dasselbe Blatt einen Leitartikel voll boshafter Ausfälle auf Napoleon Bonaparte, mit der geschmacklos häufig wiederholten Pointe, daß „nur ein russischer Spion" Verfasser des „Memoires" sein könne. Unter dem Vorwand, eine Lanze für Louis Bonaparte gegen seinen Vetter zu brechen und das Angedenken des unbefleckten Achille Leroy, alias Florimond, alias de S[ain]t-Arnaud zu hüten, bezweckt die „Post" offenbar nur Material zu französisch-englischen Kollisionen aufzuhäufen. Satnf-Arnaud war einer von den Saints, wie sie im Kalender der französischen Industrieritterschaft zu allen Epochen aufstoßen, z.B. Saint-Germain, Saint-Georges etc. Der „Morning Post" gebührt das Verdienst, diese Saints kanonisiert und in standesgemäße Heilige verwandelt zu haben. Die Behauptung, daß das „Memoire" den Russen „militärische" Enthüllungen mache, ist rein abgeschmackt. Die Kritik hat weder in England noch in Amerika oder Deutschland auf das „Memoire" geharrt, um die Krimexpedition als einen Fehlschlag darzustellen. Das „Memoire" hat nicht eine Silbe der bisherigen Kritik hinzugefügt, obgleich es das Verdienst besitzt, familiäre Porträts der Mittelmäßigkeiten zu liefern, die vor Sewastopol das große Wort führen. Es liegt nur im russischen Interesse, Illusionen über die Krimexpedition wachzuhalten, und das Pathos, womit die „Post" von russischen Agenten und russischen Spionen deklamiert, erinnert an Äschines, der sich auch rühmte, zuerst die Pläne des Königs von Mazedonien durchschaut zu haben, während er dem Demosthenes vorwarf, von Philipp erkauft zu sein. Wir sind jedoch natürlich weit davon entfernt, denPrinzen Napoleon Bonaparte für einen Demosthenes auszugeben.
Karl Marx
Irlands Rache
[„Neue Oder-ZeitungNr. 127 vom 16.MärzI855] London, 13. März. Irland hat sich an England gerächt - sozial, indem es jede größere englische Fabrik-, See- oder Handelsstadt mit einem irischen Viertel, politisch, indem es das britische Parlament mit der „IrischenBrigade"^ begabt hat. 1833 denunzierte Daniel O'Connell die Whigs als „niedrig, blutig und brutal". 1835 ward er das nützlichste Werkzeug der Whigs, und die Melbourne-Administration, obgleich die englische Majorität gegen sie, hielt sich vom April 1835 bis August 1841 durch die Unterstützung O'Connells und seiner Irischen Brigade. Was stand zwischen dem O'Connell von 1833 und dem O'Connell von 1835? Der sogenannte „Lichfield-House"-Vertrag[97] ein Vertrag, wodurch das Whig-Ministerium dem O'Connell die Regierungs„Patronage" in Irland und O'Connell dem Whig-Ministerium die Stimmen der Brigade im Parlament sicherte. Kaum waren die Whigs gestürzt, so begann die Repealagitation[98] des „Königs Dan", aber sobald die Tories aus dem Feld geschlagen, sank „King Dan" wieder zu einem gewöhnlichen Advokaten herab. Mit dem Tode O'Connells starb keineswegs der Einfluß der Irischen Brigade. Es zeigte sich vielmehr, daß dieser Einfluß nicht dem Talente eines einzigen Mannes, sondern der Macht allgemeiner Verhältnisse geschuldet war. Die großen traditionellen Parteien des englischen Parlaments, Tories und Whigs, hielten sich ungefähr das Gleichgewicht. Kein Wunder denn, daß die neuen numerisch schwachen Fraktionen, die im reformierten Parlamente ihre Plätze einnahmen - die Manchesterschule[45 ] und die Irische Brigade - den Ausschlag geben und entscheiden mußten. Daher die Wichtigkeit des „irischen Viertels" im britischen Parlament. Nach O'Connell war es nicht länger möglich, die irischen Massen mit der „Repeal" von England in Bewegung zu setzen. Die „katholische" Frage konnte auch nur noch gelegentlich dienen. Stehendes Thema der Agitation konnte sie seit der katholischen
Emanzipation nicht mehr sein. Es war also nötig geworden für die irischen Politiker, was O'Connell stets vermieden und abgewehrt hatte, dem irischen Übel auf den Grund zu gehen, die Grundeigentumsverhältnisse und deren Reform zur Wahlparole zu machen, d.h. zur Parole, die zur Wahl ins Parlament verhalf. Sobald man einmal im Parlament saß, wurden die Rechte der Pächter etc. benutzt - wie früher die Repeal - zur Abschließung eines neuen „ Lichfield-House "-Vertrags. Die Irische Brigade hatte das Derby-Ministerium gestürzt. Sie hatte sich einen Platz - wenn auch subalternen - im Koalitionsministerium verschafft. Wozu benutzte sie ihn? Sie half der Koalition die Maßregeln zur Reform der irischen Grundverhältnisse „burken"1, die die Tories, im Glauben an den Patriotismus der Irischen Brigade und um sie zu gewinnen, sich entschlossen hatten, selbst vorzuschlagen. Palmerston, der als geborener Irländer sein „irisches Viertel" kennt, hat seinerseits den „Lichfield-House "-Vertrag von 1835 auf der breitesten Grundlage erneuert. Keogh, den Chef der Brigade, hat er zum Attorney-General2 von Irland ernannt. Fitzgerald, ebenfalls liberal-katholisches Parlamentsmitglied für Irland, zum Solicitor-General3; ein drittes Mitglied der Brigade zum gesetzlichen Rat des irischen Lord Lieutenant4, so daß der ganze juristische Generalstab der irischen Regierung nun katholisch und irisch ist. Monsell, den Clerk of Ordnance5 der Koalition, hat er neu bestätigt nach einigem Schwanken, obgleich Monsell, wie Müntz (Deputierter von Birmingham und Waffenfabrikant) richtig bemerkt hat, unfähig ist, eine Muskete von einem Zündnadelgewehr zu unterscheiden. Bei der Besetzung der Obersten- und anderen höheren Stellen in der irischen Miliz hat er die Lieutenants der Grafschaften angewiesen, den Schützlingen der mit der parlamentarischen Brigade verbundenen irischen Priester überall den Vorrang einzuräumen. Daß Palmerstons Politik schon gewirkt, zeigt der Übertritt des Serjeant6 Shee auf die ministerielle Seite. Es zeigt sich ferner darin, daß der katholische Bischof von Athlone Keoghs Neuwahl durchgesetzt und die katholische Geistlichkeit ebenso die Neuwahl von Fitzgerald begünstigt hat. Wo etwa die niedere katholische Geistlichkeit den „irischen Patriotismus" ernsthaft nimmt und den zu der Regierung abgefallenen Mitgliedern der Brigade Opposition macht, erhält sie Verweise von ihren in das diplomatische Geheimnis eingeweihten Bischöfen.
„Es herrscht völliges Verständnis41, ruft ein protestantisch-torystisches Blatt Jammernd aus, „zwischen Lord Palmerston und der irischen Geistlichkeit; wenn
1 „zu unterdrücken" - 2 Kronanwalt - 8 Generalprokurator - 4 Vizekönigs - 5 Sekretär des Feldzeugamtes ~ 6 (hier:) hoher Anwalt des gemeinen Rechts
Irlands Rache 119
Palmerston Irland den Priestern überhändigt, werden die Priester Parlamentsmitglieder wählen, die England dem Lord Palmerston überhändigen." Die Irische Brigade dient den Whigs zur Beherrschung des englischen Parlaments; die Whigs werfen der Brigade Stellen und Gehalte hin; die katholische Geistlichkeit erlaubt den einen zu kaufen und den andern zu verkaufen auf die Bedingung, daß ihr Einfluß von beiden anerkannt, befestigt und ausgeweitet wird. Es ist jedoch ein sehr bemerkenswertes Phänomen, daß in demselben Maße, wie der irische Einfluß politisch in England steigt, die keltische Macht sozial in Irland fällt. Das „irische Viertel" im Parlament und die irische Geistlichkeit scheinen gleich unbewußt, daß hinter ihrem Rücken eine angelsächsische Revolution die irische Gesellschaft von Grund aus umwälzt. Diese Revolution besteht darin, daß das irische Agrikultursystem dem englischen Platz macht, das kleine Pachtsystem dem großen - ebenso wie die alten Grundeigentümer modernen Kapitalisten. Die Hauptmomente, die diese Umwälzung vorbereitet haben, sind folgende: Das Hungers jähr 1847, das ungefähr eine Million Irländer tötete; die Auswanderung nach Amerika und Australien, die eine andere Million vom Boden wegfegte und immer noch neue Tausende wegführt; die verfehlte Insurrektion von 1848[99], die den letzten Glauben Irlands an sich selbst brach; endlich der Parlamentsakt, der die Güter des alten verschuldeten irischen Adels dem Hammer des Exekutors und Versteigerers preisgab und sie ebenso vom Grund und Boden verjagte wie der Hungertod ihre kleinen Pächter, Unterpächter und Häusler.
Friedrich Engels
Krimsche Angelegenheiten11003
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 131 vom 19.März 1855] London, 16. März. Die Illusionen, womit offizielle Unfähigkeit, englische Ministerkabale und interessierter Bonapartismus die Kriegsoperationen in der Krim umgeben, beginnen zu zerschmelzen zugleich mit dem Schneegewand, das die Bühne der Aktion in den letzten Monaten bedeckt hielt. Das Pamphlet des J6röme Bonaparte Qun.)1911 erklärt ausdrücklich, daß, während in der Krim alles schiefging, „die kommandierenden Generale im Besitze von Regierungsbefehlen waren, die Schwierigkeiten, worauf die Einnahme von Sewastopol stieß, zu verbergen und zu verschweigen". Dies ist völlig bestätigt durch die Berichte dieser Generale und besonders durch die Gerüchte, die sie wiederholt ausstreuten, der Sturm stehe für diesen oder jenen Tag bevor. Von dem 5.November bis zu Anfang März ward das Publikum diesseits und jenseits des Kanals in beständiger Erwartung dieser schließlichen Spektakelszene gehalten.1 Unterdes hat die Länge der Belagerung eine Art öffentlicher Meinung im Lager selbst erzeugt, gegründet auf die laut ausgesprochene Ansicht sachkundiger Offiziere, und die Herrn vom Generalstab können nun nicht länger umherflüstern, daß an einem gegebnen Tage der Sturm stattfinden und die Stadt fallen werde. Jeder gemeine Soldat weiß das jetzt besser. Die Natur der Verteidigungswerke, die Überlegenheit des feindlichen Feuers, das Mißverhältnis der belagernden Streitkraft zu ihrer Aufgabe und vor allem die entscheidende Wichtigkeit des Nord
1 In der „New-York Daily Tribüne" Nr. 4353 vom 2. April 1855 folgt der Satz: „Obwohl standig verschoben, sollte jede Verzögerung nur kurze Zeit dauern, und die Neugier der Öffentlichkeit wurde dadurch nur gesteigert. Jetzt aber beginnen die Dinge eine andere Wendung zu nehmen und..."
forts sind in diesem Augenblicke zu gut im Lager verstanden, um die alten Märchen neu zu wiederholen. Wir haben selbst Briefe englischer Offiziere mitgeteilt erhalten, die keinen Zweifel über diesen Punkt erlauben. Gegen Ende Februar sollen die Alliierten vor Sewastopol 58 000 Franzosen, 10 000 Engländer und 10 000 Türken stark gewesen sein, zusammen ungefähr 80 000 Mann. Aber selbst mit 90 000 Mann würden sie immer noch unfähig sein, mit einem Teil die Belagerung aufrechtzuerhalten und den andern Teil zu detachieren zu Offensivoperationen gegen die Russen zu Bachtschissarai; denn die Feldarmee der Alliierten könnte vor Bachtschissarai mit nur 40 000 Mann eintreffen, während die Russen mindestens 60 000 Mann gegen sie stellen könnten in einem offenen Felde, ohne die unangreifbaren Flanken der Position zwischen Inkerman und Balaklawa.1 So bleiben die Alliierten belagert auf ihrem Chersones, bis sie fähig sein werden, mit ungefähr 100 000 Mann über die Tschornaja vorzudringen; aber eben das ist der fehlerhafte Zirkel, worin sie sich bewegen: Je mehr Truppen sie in diese verpestete Mausfalle werfen, desto mehr verlieren sie durch Krankheit; und dennoch, der einzige Weg, glücklich herauszukommen, ist: mehr Truppen hineinzusenden. Das andere Auskunftsmittel, das sie entdeckt, die türkische Expedition nach Eupatoria, stellt sich nun als vollkommene Wiederholung des ursprünglichen Schnitzers heraus. Die Türken, einmal zu Eupatoria gelandet, sind viel zu schwach, in das Innere des Landes vorzumarschieren. Die Verschanzungen um den Platz scheinen so weitläufig, daß eine Armee von einigen 20 000 Mann zu ihrer Verteidigung erheischt ist.2 Die Ausdehnung eines befestigten Lagers, das 40 000 Mann zu bergen bezweckt, muß außerdem so groß sein, daß ungefähr eine Hälfte der Mannschaft erheischt sein wird für aktiven Dienst im Fall eines Angriffs. So wird die Stadt ungefähr 20 000 Mann für ihre Verteidigung erheischen, und nur 20 000 werden disponibel sein für Feldoperationen. Aber 20 000 Mann können nicht wagen, sich mehr als ein paar Meilen von Eupatoria zu entfernen, ohne sich allen Arten von Angriffen auf den Flanken und im Rücken auszusetzen und selbst der Gefahr, ihre Verbindungen mit der Stadt von den Russen abgeschnitten zu sehen. Die Russen aber, im Besitz einer doppelten Rückzugslinie, entweder
1 In der «New-York Daily Tribüne" folgen die Worte: „und wo daher die moralische Überlegenheit der alliierten Armee beträchtlich beeinflußt werden müßte durch Manöver, die von den zahlenmäßig überlegenen Russen weder bei Balaklawa noch bei Inkerman wirksam angewandt werden konnten/ -2 Inder „New-York Daily Tribüne" folgt der Satz: „Die Berichte von der »Schlacht* vom 17. Februar vor Eupatoria führen zu dem Schluß, daß mindestens die Hälfte der dort zusammengefaßten 40 000 Mann bei der Verteidigung zum aktiven Einsatz kam.**
nach Perekop oder nach Simferopol - zudem auf eignem Grund und Boden können stets jedwede entscheidende Aktion mit den 20 000 Türken vermeiden, die von Eupatoria anrücken mögen. 10 000 Russen, einen Tagesmarsch von der Stadt aufgestellt, reichen daher hin, 40 000 Türken in Schach zu halten, die in ihr konzentriert sind. Jede 10 oder 12 Meilen Rückzug auf seiten der Russen schwächt die Zahl der Türken, die sich auf die längere Entfernung von ihrer Operationsbasis entfernen kann. In andern Worten: Eupatoria ist ein zweites Kalafat, aber mit dem Unterschiede, daß Kalafat die Donau in seinem Rücken hatte und nicht das Schwarze Meer und daß Kalafat eine Defensivposition war, während Eupatoria eine Offensivposition ist. Wenn 30 000 Mann zu Kalafat eine erfolgreiche Defensive behaupten konnten, verbunden mit gelegentlichen und gleich erfolgreichen offensiven Ausfällen auf eine gegebene Entfernung hin, so sind 40 000 Mann zu Eupatoria viel zuviel, um einen Platz zu verteidigen, den ungefähr 1000 Engländer und Franzosen während 5 Monaten hielten, während sie bei weitem zuwenig sind für irgendwelche Offensivoperationen. Die Folge ist, daß eine russische Brigade und sicher eine russische Division völlig hinreicht, die gesamte türkische Streitkraft zu Eupatoria in Schach zu halten. Die sog. Schlacht von Eupatoria[1013 war eine bloße Reconnaissance von Seiten der Russen. Sie rückten vor, 25 000-30 000 Mann stark, gegen Eupatoria von Nordwesten, der einzig angreifbaren Seite, da der Süden gedeckt ist durch das Meer und der Osten durch den morastigen Landsee von Sasyk. Das Land nordwestlich von der Stadt wird von niedrigem wellenförmigem Boden gebildet, der, nach den Karten zu urteilen und nach der Erfahrung dieser letzten Aktion, die Stadt innerhalb der Schußweite von Feldartillerie nicht beherrscht. Die Russen, mit einer Streitkraft um 10 000 Mann schwächer als die Garnison und außerdem auf beiden Flanken, besonders der rechten, dem Feuer der Kriegsschiffe in der Bucht ausgesetzt, konnten nie die ernste Absicht haben, den Platz durch Sturm zu nehmen. Sie beschränkten sich daher auf eine energische Reconnaissance. Sie begannen damit, eine Kanonade auf ihrer ganzen Linie zu eröffnen in einer Entfernung, die die Möglichkeit, ernsthaften Schaden anzurichten, ausschloß; sie schoben dann ihre Batterien näher und näher vor, indem sie ihre Kolonnen so weit als möglich aus der Schußweite hielten; rückten später ihre Kolonnen vor, als wie zum Angriff, um die Türken zu zwingen, ihre Stärke zu zeigen, und machten einen wirklichen Angriff an einem Punkte, wo der Schutz, gewährt durch die Monumente und die Pflanzungen eines Kirchhofes, ihnen erlaubte, dicht an die Verteidigungswerke heranzugehen. Nachdem sie sich Gewißheit verschafft über die Lage und Stärke der Verschanzungen, ebenso über den
ungefähren numerischen Belauf der Garnison, zogen sie sich zurück, wie jede andere vernünftig angeführte Armee getan haben würde. Ihr Zweck war erreicht; daß ihre Verluste größer als die der Türken, verstand sich von vornherein. Diese ganz einfache Affäre ist durch die alliierten Kommandeurs zu einem glorreichen Sieg vergrößert worden. Was beweist das, als die große Nachfrage nach und die geringe Zufuhr von wirklichen Siegen? Es war sicher ein großer Mißgriff der Russen, daß sie den Alliierten erlaubten, sich in Eupatoria fünf Monate zu halten bis zur Ankunft der Türken. Eine russische Brigade mit einer hinreichenden Anzahl von Zwölfpfündern hätte hingereicht, sie in das Meer zu jagen, und einige leichte Erdwerke, aufgeworfen am Strande, möchten selbst die Kriegsschiffe in anständiger Distanz gehalten haben. Hätten die alliierten Flotten überwältigende Kriegsschiffe nach Eupatoria detachiert, so konnte der Platz niedergebrannt und so wertlos als künftige Operationsbasis für Landungstruppen gemacht werden. Aber wie die Sachen jetzt stehen, können die Russen völlig zufrieden damit sein, Eupatoria im Besitz der Alliierten gelassen zu haben. 40 000 Türken, der letzte Rest der einzig respektablen Armee, die die Türkei besitzt, blockiert in einem Lager, wo 10 000 Russen sie in Schach halten können und wo sie allen Krankheiten und Leiden dicht zusammengehäufter Menschenmassen ausgesetzt sind diese 40 000 paralysierten Türken sind kein unbeträchtlicher Abzug von der Offensivkraft der Alliierten. Franzosen und Engländer1 belagert auf dem Herakleatischen Chersones, die Türken belagert bei Eupatoria, die Russen in freier Kommunikation mit der Nord- und Südseite von Sewastopol - das ist das glorreiche Resultat von fünfmonatlichem Experimentieren in der Krim. Es kommen dazu noch militärische und politische Gesichtspunkte in Betracht, die wir dem nächsten Briefe vorbehalten.
1 In der „New-York Daily Tribüne- sind hier die Worte eingefügt: „nachdem sie 50 000-60 000 Mann verloren haben"
Friedrich Engels
Das Schicksal des großen Abenteurers
[„New-York Daily Tribüne44 Nr.4353 vom 2.ApriI 1855. Leitartikel] Unlängst veröffentlichten wir einige interesseinte Auszüge aus dem vom Prinzen Napoleon kürzlich herausgegebenen Pamphlet1911, die sicherlich bei unseren Lesern gebührende Beachtung fanden[102]. Jenes Pamphlet enthüllt die auffallende und höchst bedeutsame Tatsache, daß die Krimexpedition eine Originalerfin dung von Louis Bonaparte selbst ist, daß er sie ausgearbeitet in allen ihren Details, ohne sich mit jemandem zu beraten, und daß er sie in seiner eigenen Handschrift nach Konstantinopel schickte, um die Einwürfe des Marschalls Vaillant zu vermeiden. Seit all dies bekannt, ist ein großer Teil der schreiendsten militärischen Böcke dieser Expedition durch die dynastischen Bedürfnisse ihres Urhebers erklärt. Im Kriegsrat zu Varna mußte sie den gegenwärtigen Admiralen und Generalen aufgezwungen werden durch S[ain]t-Arnauds direkten Appell an die Autorität des „Kaisers", während dagegen jener Potentat alle gegnerischen Meinungen öffentlich als „furchtsame Ratschläge" brandmarkte. Einmal in der Krim, ward Raglans wirklich furchtsamer Ratschlag, nach Balaklawa zu marschieren, eifrig von St-Arnaud adoptiert, da er, wenn nicht direkt nach Sewastopol hinein, wenigstens nahe an seine Tore führte. Die fieberhaften Anstrengungen, die Belagerung voranzutreiben-obgleich ohne hinreichende Mittel-, die Begierde, das Feuer zu eröffnen, welche die Franzosen die Solidität ihrer Wer^; zu einem solchen Grade vernachlässigen ließ, daß ihre Batterien von dem teind in ein paar Stunden zum Schweigen gebracht wurden; die ständige Überanstrengung der Truppen in den Laufgräben, die nun erwiesenermaßen so viel zum Untergang der britischen Armee beigetragen hat; die unüberlegte und nutzlose Kanonade vom 17. Oktober bis 5. November; die Vernachlässigung aller Defensivwerke und sogar einer ausreichenden Besetzung der
Bergkette in Richtung der Tschornaja, was den Verlust von Balaklawa und Inkerman zur Folge hatte, dies alles ist nun so deutlich aufgeklärt, wie man es nur wünschen kann. Die Dynastie Bonaparte war entschlossen, Sewastopol um jeden Preis und auf den kürzesten Termin einzunehmen, und die alliierten Armeen hatten das auszuführen. Canrobert, wenn erfolgreich, wäre Marschall von Frankreich, Graf, Herzog, Prinz, was er wünschte, mit unbegrenzten Vollmachten, im Finanzfache „Unregelmäßigkeiten" zu begehen. Wenn unglücklich, wäre er ein Verräter am Kaiser, hätte er gehen und sich seinen früheren Kollegen Lamorici&re, Bedeau und Changarnier in ihrem Exil zugesellen müssen. Und Raglan war altweibisch genug, seinem interessierten Kollegen nachzugeben. All dies jedoch sind nur die weniger bedeutenden Folgen dieses imperatorischen Operationsplanes. Neun französische Divisionen - gleich einundachtzig Bataillone - sind in dieser hoffnungslosen Affäre engagiert worden. Die größten Anstrengungen, die verschwenderischsten Opfer habenzu keinem Resultat geführt. Sewastopol ist stärker als zuvor. Die französischen Laufgräben, wie wir nun aus authentischer Quelle wissen,sindnoch volle 400Yards1 von den russischen Werken entfernt, während die britischen Laufgraben noch einmal so weit ab liegen. General Niel, durch Bonaparte abgesandt, um die Belagerungswerke zu besichtigen, erklärt, daß an Stürmung nicht zu denken ist. Er hat den Hauptpunkt des Angriffes von der französischen nach der britischen Seite verlegt und dadurch nicht nur einen Aufschub in der Belagerung verursacht, sondern auch den Hauptangriff auf eine Vorstadt gelenkt, die, selbst wenn genommen, von der Stadt noch getrennt ist durch den inneren Hafen. Kurz, Entwurf auf Entwurf, List auf List, um nicht die Hoffnung, sondern den bloßen Schein einer Hoffnung auf Erfolg aufrechtzuerhalten. Und während die Dinge bis auf diesen Punkt gediehen sind, während ein allgemeiner Krieg auf dem Kontinent bevorsteht, während eine neue Expedition nach der Ostsee gerüstet wird, eine Expedition, die in dieser Jahreszeit etwas tun und daher über bei weitem mehr Landungstruppen verfügen muß als 1854 - in diesem Augenblick stachelt der Eigensinn Louis Bonaparte an, fünf neue Divisionen Infanterie in diesem Krimsumpfe zu engagieren, wo Menschen verschwinden und ganze Regimenter vergehen wie durch Zauber! Und als ob das noch nicht genügte, ist er entschlossen, selbst dorthin zu gehen, um den entscheidenden Angriff seiner Soldaten zu beobachten. Dies ist die Situation, wozu das erste strategische Experiment Bonapartes Frankreich reduziert h^t. Der Mann, der mit einigem Recht glaubt, es sei
11 Yard— 91,44 cm
ihm bestimmt, ein großer Feldherr zu sein und einigermaßen an den Begründer seiner Dynastie heranzukommen, erweist sich von vornherein als ein anmaßendes Stück Unfähigkeit. Bei nur spärlicher Information entwirft er, ungefähr dreitausend Meilen von Ort und Stelle entfernt, den Plan der Expedition, arbeitet ihn in allen seinen Details aus und schickt ihn heimlich, ohne sich mit jemandem zu beraten, an seinen Oberbefehlshaber ab, der, obgleich nur wenige hundert Meilen vom Angriffspunkt entfernt, deshalb nicht weniger unkundig ist hinsichtlich der Art der Hindernisse und der Widerstandskräfte, auf die man wahrscheinlich stoßen wird. Die Expedition einmal begonnen, folgt eine Katastrophe der anderen, selbst der Sieg ist ärger als fruchtlos, und das einzige Ergebnis ist die Vernichtung des Expeditionsheeres selbst. Napoleon hätte auch zu seiner besten Zeit niemals auf solch einem Unternehmen beharrt. In einem solchen Falle pflegte er irgendeine neue List zu finden, seine Truppen ganz unversehens auf einen neuen Angriffspunkt zu führen und durch ein brillantes mit Erfolg gekröntes Manöver zeitweilige Niederlagen selbst als steuernd zum definitiven Sieg erscheinen zu lassen. Was wäre geschehen, hätte er bei Asperntl03] bis zum Äußersten Widerstand geleistet? Erst in den Tagen seines Verfalls, nachdem der Donnerschlag von 1812 sein Selbstvertrauen gebrochen hatte, verkehrte sich seine Energie in verblendeten Starrsinn, der ihn, wie bei Leipzig11041, bis zum letzten Mann Positionen behaupten ließ, die, was ihm sein militärisches Urteil hätte sagen müssen, völlig falsch waren. Doch hierin besteht gerade der Unterschied zwischen den beiden Kaisern: womit Napoleon endete, beginnt Louis-Napoleon. Sehr wahrscheinlich hat Louis Bonaparte die feste Absicht, sich nach der Krim zu begeben und selbst Sewastopol zu erobern. Er mag seine Abreise aufschieben, doch nichts wird seinen Entschluß wanken machen, es sei denn der Friede. In der Tat, sein persönliches Schicksal ist mit dieser Expedition verknüpft, seinem ersten militärischen Unternehmen. Indessen, von dem Tag an, da er wirklich aufbricht, kann man den Beginn der vierten und größten französischen Revolution datieren. Jedermann in Europa fühlt das, jeder widerrät ihm. Ein Schaudern erfaßt die Reihen der französischen Bourgeoisie, sobald diese Abreise erwähnt wird. Doch der Held von Straßburg[105] ist unerschütterlich. Ein Spieler sein Leben lang und in letzter Zeit ein Spieler, der sich an die allerhöchsten Einsätze gewöhnt hat, setzt er - trotz der ungünstigsten Chancen - alles auf die eine Karte, auf seinen „Stern". Außerdem weiß er nur zu gut, daß die Hoffnungen der Bourgeoisie, der Krise zu entgehen, indem man ihn in Paris zurückhält, völlig leer sind. Ob er dort ist oder nicht, das Schicksal des französischen Kaiserreiches, das Schicksal der bestehenden Gesellschaftsordnung entscheidet sich in den Laufgräben vor
Sewastopol. Sollte er dort wider allem Erwarten Erfolg haben, so wird er durch seine Anwesenheit, wenigstens in der Meinung Europas, die Schranke zwischen einem Straßenräuber und einem Helden überschreiten; hat er keinen Erfolg, so ist sein Kaiserreich unter allen Umständen dahin. Daß er mit der Möglichkeit eines solchen Ausgangs rechnet, zeigt er dadurch, daß er seinen Rivalen und mutmaßlichen Erben, den jungen J6röme Bonaparte, in der Uniform eines Generalleutnants mitnehmen wird. Gerade jetzt hat Österreich den größten Nutzen von dieser Krimexpedition. Wenn der Kampf vor Sewastopol sich noch einige Monate hinzieht, wird dieser Kampf, der ein Armeekorps nach dem andern verschlingt und die Kraft Frankreichs und Rußlands schwächt, Österreich zum Hauptschiedsrichter auf dem Kontinent machen, wo in kompakter Masse seine 600000 Bajonette zur Verfügung stehen, um als überwältigendes Gewicht in die Waagschale geworfen zu werden. Doch es gibt glücklicherweise ein Gegengewicht gegen diese Suprematie Österreichs. In dem Augenblick, in dem Frankreich wieder den Weg der Revolution beschreitet, löst sich diese Macht Österreichs in ihre verschiedenen Elemente auf. Deutsche, Ungarn, Polen, Italiener und Kroaten werden die aufgezwungenen Bande, die sie zusammenketten, von sich werfen, und an Stelle der unbestimmten und zufälligen Bündnisse und Antagonismen von heute wird Europa wieder in zwei große Lager mit verschiedenen Bannern und neuen Zielen geteilt sein. Dann wird der Kampf allein zwischen der demokratischen Revolution auf der einen und der monarchistischen Konterrevolution auf der anderen Seite geführt werden.
Geschrieben um den 16. März 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
Kritik der französischen Kriegführung
[„Neue Oder-ZeitungNr. 133 vom 20. Marz 1855] London, 17. März.Nachdem das Pamphlet des Jerome Bonaparte Gunior)1911 verraten, daß die Krimexpedition die Originalerfindung Louis Napoleons, daß er sie ausgearbeitet in allen Details ohne Zuziehung von Dritten, daß er sie in seiner eigenen Handschrift nach Konstantinopel schickte, um die Einwürfe des Marschalls Vaillant zu vermeiden - seit alles dies bekannt, ist ein großer Teil der schreiendsten militärischen Böcke dieser Expedition durch die dynastischen Bedürfnisse ihres Urhebers erklärt. Im Kriegsrat zu Varna mußte sie den gegenwärtigen Generalen und Admiralen aufgezwungen werden durch S[ain]t-Arnauds direkten Appell an die Autorität des „Kaisers14, der seinerseits die gegnerischen Meinungen öffentlich als „furchtsame Ratschläge" brandmarkte. Einmal in der Krim, ward Raglans wirklich „furchtsamer Ratschlag", nach Balaklawa zu marschieren, eifrig von St-Arnaud adoptiert, da er, wenn nicht direkt nach Sewastopol hinein, wenigstens nahe an dessen Tore führte. Die fieberhaften Anstrengungen, die Belagerung voranzutreiben, obgleich ohne hinreichende Mittel; die Begierde, das Feuer zu eröffnen, welche die Franzosen die Solidität ihrer Werke zu einem solchen Grade vernachlässigen ließ, daß ihre Batterien von dem Feind in ein paar Stunden zum Schweigen gebracht wurden; die Überanstrengung der Truppen in den Laufgräben, die nun erwiesenermaßen so viel zum Untergange der britischen Armee beigetragen hat als Kommissariat, Transportdienst, medizinisches Departement usw.; die unüberlegte und nutzlose Kanonade vom 17. Oktober bis 5. November; die Vernachlässigung aller Defensivwerkedies alles ist nun genügend aufgeklärt. Die Dynastie Bonaparte bedurfte der Einnahme Sewastopols und auf den kürzesten Termin; die alliierte Armee hatte sie auszuführen. Canrobert, wenn erfolgreich, war Marschall von Frankreich, Graf, Herzog, Prinz, was er wünschte, mit unbegrenzter Voll
macht im Finanzfache. Wenn unglücklich, war seine Karriere zu Ende. Raglan war altweibisch genug, seinem interessierten Kollegen nachzugeben. Dies jedoch sind nicht die bedeutendsten Folgen des imperatorischen1 Operationsplanes. Neun französische Divisionen oder 81 Bataillons sind in dieser hoffnungslosen Affäre engagiert worden. Sie ist erkannt als beinahe hoffnungslos; die größten Anstrengungen, die verschwenderischsten Opfer haben zu keinem Resultat geführt; Sewastopol ist stärker als zuvor; die französischen Laufgräben, wie wir nun aus authentischer Quelle wissen, sind noch volle 400 Yards von den russischen Werken entfernt, die britischen aber noch einmal so weit ab. Generell Niel, durch Bonaparte abgesandt, um die Belagerungsarbeiten zu besichtigen, erklärt, daß an Stürmung nicht zu denken ist; er hat den Hauptpunkt des Angriffes von der französischen nach der britischen Seite verlegt und dadurch nicht nur einen Aufschub in der Belagerung verursacht, sondern auch den Hauptangriff auf eine Vorstadt gelenkt, die, selbst wenn genommen, von der Stadt noch getrennt ist durch den inneren Hafen. Kurz, Entwurf auf Entwurf, List auf List, um nicht die Hoffnung, sondern den bloßen Schein einer Hoffnung auf Erfolg aufrechtzuerhalten. Und während die Dinge auf diesen Punkt gediehen sind, während ein allgemeiner Krieg auf dem Kontinent bevorsteht, während eine neue Expedition nach der Ostsee gerüstet wird, eine Expedition, die diesmal etwas tun und daher über bei weitem mehr Landungstruppen verfügen muß als 1854 - in diesem Augenblicke sendet Bonaparte 5 neue Divisionen Infanterie nach dem Krimsumpfe, wo Menschen verschwinden und Regimenter vergehen wie durch Zauber. Ja, er ist entschlossen, selbst hinzugehen, und wird hingehen, sollten nicht ein unwahrscheinlicher Friede oder bedeutende Ereignisse an der polnischen Grenze anders entscheiden. Dies ist die Situation, wozu das erste strategische Experiment Bonapartes ihn selbst in das „kaiserliche" Frankreich reduziert hat. Es ist nicht bloß Eigensinn, was ihn treibt, sondern der fatalistische Instinkt, daß das Schicksal des französischen Kaiserreichs in den Laufgräben vor Sewastopol entschieden wird. Bisher hat kein Marengo die zweite Ausgabe des 18.Brumairet1061 gerechtfertigt. Es mag als geschichtliche Ironie betrachtet werden, daß, ängstlich wie das restaurierte Kaisertum sein Vorbild nachahmt, es gezwungen ist, überall das Gegenteil von dem zu tun, was Napoleon tat. Napoleon griff das Herz der Staaten an, die er bekriegte; das jetzige Frankreich hat Rußland cul de sac2 angegriffen. Es war nicht auf große militärische Operationen abgesehn, sondern auf einen glücklichen Coup de main, eine Überrumpelung, ein
1 In der „Neuen Oder-Zeitung" : imperialistischen; vgl. S. 125 - 2 [in einer] Sackgasse
9 Marx/Endels, Werke. Bd. 11
Abenteuer. In dieser verschiedenen Absicht liegt der ganze Unterschied zwischen dem ersten undzweiten französischen Kaiserreichundihren wechselseitigen Repräsentanten. Napoleon pflegte als Sieger in die Hauptstädte des modernen Europa einzuziehn. Sein Nachfolger hat unter verschiedenen Vorwänden - Schutz des Papstes, Schutz des Sultans, Schutz des Hellenen-Königs französische Garnisonen in die Hauptstädte des antiken Europa verlegt, nach Rom, Konstantinopel und Athen, in der Tat kein Zuwachs von Macht, sondern nur eine Zersplitterung von Kräften. Napoleons Kunst bestand in der Konzentration, die seines Nachfolgers in der Zersplitterung. Wenn Napoleon verpflichtet war, den Krieg auf 2 verschiedenen Theatern zu führen, wie in seinen Kriegen gegen Österreich, konzentrierte er den bei weitem bedeutendsten Teil seiner Streitkraft auf der entscheidenden Operationslinie (in den Kriegen mit Österreich die Linie von Straßburg nach Wien), während er eine verhältnismäßig geringe Streitkraft auf dem sekundären Kriegstheater (Italien) ließ, sicher, daß, selbst wenn seine Truppen hier geschlagen, seine eigenen Erfolge auf der Hauptlinie den Fortschritt der feindlichen Armee gewisser hemmen würden als irgendein direkter Widerstand. Sein Nachfolger dagegen zerstreut Frankreichs Streitkraft auf vielen Punkten und konzentriert einen Teil davon auf dem Punkte, wo die mindesten, wenn irgendwelche, Resultate mit den größten Opfern erkauft werden müssen. Außer den Truppen in Rom, Athen, Konstantinopel, Krim, soll eine Hilfsarmee nach Österreich an die polnische Grenze und eine andere ins Baltische Meer geschickt werden. Die französische Armee hatte so auf mindestens 3 Kriegstheatern zu agieren, voneinander getrennt durch mindestens tausend Meilen. Diesem Plan gemäß wäre über das Ganze der französischen Streitkräfte ziemlich verfügt, bevor noch der Krieg ernsthaft in Europa begonnen. Napoleon, wenn er eine begonnene Unternehmung irrational fand (wie bei Aspern), statt auf ihr zu beharren, wußte irgendeine neue Wendung zu finden, seine Truppen unversehens auf einen neuen Angriffspunkt zu führen und durch ein brillantes, mit Erfolg gekröntes Manöver zeitweilige Niederlage selbst als steuernd zum definitiven Sieg erscheinen zu lassen. Erst in den Tagen seines Verfalls, nachdem 1812 sein Selbstvertrauen gebrochen, verkehrte sich die Energie seines Willens in verblendeten Starrsinn, der ihn Positionen (wie bei Leipzig) behaupten ließ, die sein militärisches Urteil verwarf. Aber sein Nachfolger ist gezwungen, mit dem zu beginnen, womit der Vorgänger endete. Bei dem einen war Resultat unerklärbarer Niederlagen, was bei dem andern das Resultat unerklärbarer Glücksfälle. Bei dem einen wurde das eigne Genie der Stern, woran er glaubte; bei dem andern muß der Glauben an den Stern das Genie ersetzen. Der eine besiegte eine wirkliche
Revolution, weil er der einzige Mann war, sie auszuführen; der andere, die neu aufgelebte Reminiszenz einer vergangenen Revolutionsepoche, weil er den Namen des einzigen Mannes trug, also selbst eine Reminiszenz war. Es wäre leicht nachzuweisen, wie in der innern Administration des zweiten Kaisertums die anspruchsvolle Mittelmäßigkeit seiner Kriegsführung sich widerspiegelt, wie auch hier der Schein an die Stelle des Wesens getreten und wie die „ökonomischen" Feldzüge keineswegs erfolgreicher waren als die militärischen.
Karl Marx
Agitation gegen Preußen - Ein Fasttag
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 137 vom 22. März 1855] London, 19. März. Um die Stimmung der hiesigen Presse gegen Preußen zu charakterisieren, geben wir zwei Auszüge, den einen aus dem „Morning Herald", dem Tory-Organ, den andern aus der „Morning Post", dem Organ Palmerstons. Der „Morning Herald" bemerkt mit Bezug auf Sir Robert Peels, des neu ernannten Junior Lords der Admiralität, Rede vor seinen Konstituenten von Portsmouth: „Sir Robert Peel hat ganz richtig die Empfindung des englischen Volkes repräsentiert, als er verlangte, Preußen müsse zu einer bestimmt ausgesprochenen Politik gedrängt werden oder unsere zweite Expedition in die Ostsee werde so nutzlos sein, wie die erste war. Wir haben genug Protokolle gehabt, genug »Punkte*; es ist nun hohe Zeit, Rußland von seinen Hilfsquellen abzuschneiden und eine Reaktion im Innern von Rußland vorzubereiten." Die „Morning Post" läßt sich aus Paris über die Mission des Generals Wedeil schreiben: „General Wedell hat seine Instruktionen dem Kabinett Napoleons mitgeteilt. Und was sind sie? General Wedell erzählt der französischen Regierung: 1. daß Seine Majestät der König von Preußen tief betrübt ist über den Tod seines kaiserlichen Schwagers; 2. daß Preußen durchaus mit den Westmächten über das Protokoll vom 28. Dezember übereinstimmt und bereit ist, es in jeder ordentlichen Form zu unterschreiben, und daß Preußen daher seinen Platz im Wiener Rat einnehmen muß. Es trifft sich aber so, daß das Dezemberprotokoll vom 28. niemanden zu irgend etwas verpflichtet, vielmehr nur eine diplomatische Skizze für ein historisches Werk ist. Und da Preußen verweigert, den wirklichen Allianzvertrag zwischen England, Frankreich und Österreich zu unterzeichnen, muß Herrn Wedells Mission als geschlossen betrachtet werden." Es ist bekannt, daß die Herrscher von Tyrus und Karthago den Zorn der Götter besänftigten, nicht indem sie sich selbst opferten, sondern indem sie den Armen Kinder abkauften, um sie dem Moloch in die glühenden Arme zu
Ein Fasttag 133
schleudern. Das offizielle England schreibt dem Volk vor, sich zu demütigen vor dem Herrn, zu fasten und Buße zu tun für die Schmach, die die Mißverwaltung seiner vorigen Regierung auf es gewälzt, die Millionen Pfund Sterlinge, die sie ihm nutzlos abgepreßt, und die Tausende von Leben, die sie ihm gewissenlos geraubt. Für nächsten Mittwoch hat der Staatsrat nämlich einen Büß- und Bettag angeordnet, „um Verzeihung für unsere Sünden zu erwirken und in der devotesten und frommsten Weise unsere Gebete und Bitten zur göttlichen Majestät zu senden, erflehend ihren Segen und Beistand für unsere Waffen und die Restauration des Friedens für die Königin und ihre Reiche*4. Ganz wie der Hofmarschall bei Hoffeierlichkeiten, hat der Erzbischof von Canterbury ein „Formular" für diese Religionsfeierlichkeit veröffentlicht, ein Formular, worin vorgeschrieben, wie die göttliche Majestät anzureden ist. Bei Gelegenheit dieser sonderbaren Konkurrenz der englischen Staatskirche mit der russischen, die auch den Segen Gottes für ihre Waffen angefleht hat, ist der Vorteil offenbar auf Seite der letztern. „Gelesen von den Landleuten des Zaren-, bemerkt der „Leader"^1071, „ist das von Canterbury vorgeschriebene Gebet ein Gebet von Feiglingen; gelesen von Engländern, ist es das Gebet von Heuchlern. Gelesen von Dissenters, ist es das Gebet einer Sekte, die den andern diktieren will. Gelesen von der Arbeiterbevölkerung, ist es das Gebet der Reichen, die zu der einen Sekte gehören und diesen Mummenschanz aufrechterhalten im Glauben, daß er ein indirektes Mittel, sie im Monopol von Rang und Stellen zu erhalten. Das ölige Gesalbader des Erzbischofs hat die Arbeiterklasse in verschiedenen Teilen dieses Landes aufgehetzt. Ein Tag des Fastens und der Demütigung ist für sie eine Realität. Für alle andern Glaubensbekenntnisse, außer dem der Armut, bedeutet er nur die Zulage von Eiern und Fischsauce zur gewöhnlichen Mahlzeit und das Schließen der Geschäftslokale wie an Sonntagen. Für den Arbeiter bedeutet ein Fasttag Wegfallen des Arbeitslohnes und daher der Mahlzeit." In einer früheren Korrespondenz sagten wir: „Der Konflikt zwischen dem industriellen Proletariat und der Bourgeoisie wird zur selben Zeit wieder beginnen, wo der Konflikt zwischen Bourgeoisie und Aristokratie seinen Höhepunkt erreicht."1 Auf dem großen Meeting, das vergangenen Freitag in der London Tavern stattfand, ist dieser Satz handgreiflich bewiesen worden. Dem Berichte über dieses Meeting senden wir einige Angaben über die Plänklergefechte vorher, die in der letzten Zeit, innerhalb und außerhalb des Parlaments, zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie vorfielen. Ganz kürzlich kielten die Fabrikanten von Manchester Meetings, worin beschlossen wurde,
1 Siehe vorl. Band, S. 97
eine Agitation zur Abschaffung der offiziellen „Fabrikinspektoren" ins Leben zu rufen, da diese Inspektoren sich nicht nur herausnehmen, über die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsstunden zu wachen, sondern gar verlangen, daß in den Fabriken die vom Parlament anbefohlenen Vorrichtungen zum Verhüten von Leibes- und Lebensbeschädigungen der Arbeiter durch die Maschinerie wirklich getroffen werden. Der Fabrikinspektor von Süd-Lancashire, der bekannte Leonard Horner, hat sich ihre besondere Ungunst zugezogen, weil er in seinem letzten Bericht auf einer gesetzlich vorgeschriebenen Anstalt in den Spinnereien besteht, deren Vernachlässigung, wie einer der Fabrikanten - natürlich ein Mitglied der Friedensgesellschaft- naiv ausrief, „im vergangenen Jahr nur fünf erwachsenen Arbeitern das Leben gekostet hat". Dies war außerparlamentarisch. Im Unterhause selbst ward in zweiter Lesung die Bill des Sir H[enry] Haiford verworfen, die das „stoppage of wages" für ungesetzlich erklärte. Das „stoppage of wages" bedeutet die Abzüge vom nominellen Arbeitslohn teils als Geldbuße für die Verletzung der vom Arbeitgeber gemachten Fabrikregulationen, teils in den Industriezweigen, wo das moderne System noch nicht eingeführt ist, die Abzüge von Renten etc. für die den Arbeitern geliehenen Webestühle usw. Letzteres System herrscht besonders vor in der Strumpfwirkerei in Nottingham, und Sir H. Haiford wies nach, daß der Arbeiter hier in vielen Fällen, statt von seinem Unternehmer bezahlt zu werden, vielmehr seinen Unternehmer bezahlen muß. Es werden nämlich unter verschiedenen Vorwänden so viel Abzüge vom nominellen Arbeitslohn gemacht, daß der Arbeiter noch einen Uberschuß herauszugeben hat, den der Kapitalist in der Form eines Debets ihm aufnotiert. So zum Schuldner seines Arbeitgebers geworden, zwingt dieser ihn unter immer ungünstigeren Bedingungen, seinen Kontrakt zu erneuern, bis er im vollen Sinne zum Leibeigenen geworden, ohne aber wie der Leibeigene wenigstens die leibliche Existenz garantiert zu erhalten. Während das Unterhaus "die Bill Sir H.Haifords, die diesem Unfug steuern sollte, in zweiter Lesung verwarf, weigerte es sich, die Bill Cobbetts Sohn des großen englischen Pamphletisten - auch nur in Betracht zu ziehen. Diese Bill bezweckte: 1. das „Zehnstundengesetz" von 1847 dem Zehnundeinhalbstundengesetz von 1850 zu substituieren1-1091; 2. die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit in den Fabriken zur „Wahrheit" zu machen durch zwangsweises Stillsetzen der Maschinerien am Ende des jedesmaligen gesetzlichen Arbeitstages« Morgen zum Meeting in der London Tavern.
Karl Marx
Ein Meeting
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 141 vom 24. März 1855] London, 20.März. Der „Morning Advertiser" hatte seit Monaten daran gearbeitet, eine Agitationsgesellschaft unter dem Namen „Nationale und konstitutionelle Assoziation" ins Leben zu rufen zum Behufe des Sturzes des oligarchischen Regimes. Nach vielen Vorarbeiten, Aufrufen, Subskriptionen etc. war endlich für vergangenen Freitag ein öffentliches Meeting nach London Tavern zusammenberufen.[110J Es sollte der Geburtstag der neuen vielangekündigten Assoziation sein. Lange vor Eröffnung des Meetings war die große Halle dicht mit Arbeitern besetzt, und die selbstgewählten Führer der neuen Bewegung, als sie endlich erschienen, fanden nur mit Mühe Platz auf der Plattform. Herr James Taylor, zum Präsidenten ernannt, verlas Briefe von Layard, Sir de Lacy Evans, Wakley, Sir James Duke, Sir John Shelley und andern, die ihre Sympathien mit den Zwecken der Assoziation versicherten, gleichzeitig aber die Einladung, persönlich zu erscheinen, unter verschiedenen Vorwänden ablehnten. Dann Verlesung einer „Adresse an das Volk". Schlaglichter werden darin geworfen auf die Kriegführung im Orient und die Ministerialkrisis. Folgt die Erklärung,
„daß praktische Männer von jeder Klasse, besonders aber der Mittelklasse, die nötigen Attribute zur Übernahme der Regierung besitzen-.
Diese ungeschickte Anspielung auf die besondern Ansprüche der Mittelklasse ward mit lautem Zischen empfangen.
„Der Hauptzweck dieser Assoziation", heißt es weiter, „wird sein, das aristokratische Monopol der Regierungsgewalt und Stellen zu zerstören, das so unheilvoll für die besten Interessen des Landes ist. Zu den Nebenzwecken gehöre die Abschaffung der geheimen Diplomatie. Es werde die besondere Mission der Gesellschaft sein, sich an
die Wahlbürger des Vereinigten Königreichs zu wenden und sie zu warnen, sorglich zuzusehen, welchen Händen sie die Hilfsquellen und Freiheiten des Landes anvertrauten und namentlich ihre Stimmen dem Scheinwesen der Aristokratie und des Reichtums und ihren Kreaturen nicht ferner zu geben."
Herr Beales erhob sich hierauf und befürwortete in ausführlicher Rede den ersten Antrag:
»Der gefährliche Stand der öffentlichen Angelegenheiten und die offenbare Hoffnungslosigkeit jeder Besserung unter dem gegenwärtigen oligarchischen System, das die Funktionen der Regierung usurpiere, Stellen und Privilegien monopolisiere, Schmach und Unglück dem Land zuziehe, ernötigten eine Vereinigung des Volkes, um die Fortdauer des alten Systems zu brechen... Es solle daher eine Gesellschaft gebüdet werden unter dem Namen der Nationalen und konstitutionellen Assoziation
Herr Nicholay, eins der Lichter von Marylebone, unterstützte den Antrag. Ebenso Apsley Pellatt, Parlamentsmitglied:
„Das Volk werde an sein Werk der Regierungsreform gehen mit der Bestimmtheit, Mäßigung, Ausdauer und Entschlossenheit der Ironsides1 des CromwelL Die Wahlkörper von England hätten es in ihrer eignen Hand, jeden Mißbrauch zu berichtigen, wenn sie sich entschlössen, ehrliche Männer gratis ins Parlament zu schicken; aber sie könnten nie erwarten, ehrlich repräsentiert zu sein, wenn ein Mann wie Lord Ebrington nur zu einem Kostenbelauf von 5000 Pfd. St. von Marylebone ins Parlament käme, während sein unglücklicher Rivale 3000 Pfd.St. gespart hätte.**
Herr Murrough, Parlamentsmitglied, trat nun vor, war aber nach beträchtlicher Opposition gezwungen, Platz zu machen dem George Harrison (Arbeiter und Chartist von Nottingham).
„Diese Bewegung", sagte Harrison, „sei ein Versuch der Mittelklasse, dieRegierung in ihre eignen Hände zu bekommen, unter sich Stellen und Pensionen zu verteilen und eine schlimmere Oligarchie ins Leben zu rufen als die jetzt bestehende.44
Er verlas dann ein Amendement, worin er gleichmäßig die Grund- und Geldaristokratie als Feinde des Volks denunzierte und erklärte, das einzige Mittel, die Nation zu regenerieren, sei die Einführung der Volks-Charte[771 mit ihren 5 Punkten: allgemeines Stimmrecht, Abstimmen durch Kugeln, gleiche Wahldistrikte, jährliche Parlamente, Wegfallen der Eigentumsqualifikation. Ernest Jones (der Chartistenchef, einer hocharistokratischen Familie angehörig) unterstützte das Amendement und bemerkte u. a.:
1 (eisenfeste Männer; hier:) eisernen Dragoner
Ein Meeting 137
„Das Volk würde seine eigne Position zerstören, unterstützte es diese Bewegung der Mittelklasse, sich der Macht und der Stellen zu bemächtigen. Auf der Plattform befänden sich zweifelsohne viele hungrige Premierminister" (cheers1), „viele Stellenjäger in partibus2" (cheers). „Das Volk müsse sich jedoch nicht alliieren mit den Brights und den Cobdens und den Geldinteressen. Nicht die Grundaristokratie, sondern das Geldinteresse habe sich einem humanen Fabrikgesetze widersetzt, habe die Bill gegen die stoppage of wages (Abzüge vom nominellen Arbeitslohn) verworfen, habe das Durchgehen eines guten Assoziationsgesetzes verhindert, und es sei das Geld- und Fabrikinteresse, die vor allem das Volk niederzuhalten und zu entwürdigen strebten. Er seinerseits sei jeden Augenblick bereit, sich einer Bewegung anzuschließen, deren Zweck, den Einfluß des Herzogs von Devonshire etc. zu brechen, aber er wolle es nicht tun, um in ihre Stelle den des Herzogs von Fabrikstaub und die Lords von der Spindel zu setzen.- (Cheers und Gelächter.) „Man habe gesagt, die Arbeiterbewegung, die Chartistenbewegung sei tot. Er erkläre hier den Herren Reformern von der Mittelklasse, daß die Arbeiterklasse lebendig genug sei, um jede Bewegung zu toten. Sie würden der Mittelklasse nicht erlauben, sich zu bewegen, falls sie sich nicht entschließe, die Volks-Charte und deren 5 Punkte in ihr Programm aufzunehmen. Sie soll sich nicht selbst täuschen. Eine Wiederholung der alten Täuschungen sei außer Frage."
Nach einiger weitern Diskussion, mitten unter beträchtlichem Aufruhr, versuchte der Präsident, sich des Amendements zu entledigen durch die Erklärung, es sei kein Amendement; er sah sich jedoch veranlaßt, seinen Entschluß zu ändern. Das Amendement wird gestellt und ging durch mit einer Majorität von wenigstens 10 zu 1, unter lautem Beifallsruf und Schwenken der Hüte. Der Präsident, nachdem er erklärte, das Amendement sei durchgegangen, konstatierte unter lautem Gelächter, er glaube nach wie vor, die Majorität der gegenwärtigen Personen sei für Gründung der „Konstitutionellen und nationalen Vereinigung". Sie werden daher mit ihrer Organisation vorangehen und später einen andern Appell ans Publikum richten - andeutend, obgleich versteckt, daß, um künftig Opposition zu vermeiden, nur mit Mitgliedschaftskarten versehene Personen zugelassen würden. Die Chartisten, im besten Humor, bekomplimentierten den Präsidenten mit einem Dankvotum, und das Meeting trennte sich. Man kann nicht leugnen, daß die Logik auf Seite der Chartisten, selbst vom Standpunkt der öffentlich proklamierten Prinzipien der Assoziation, war. Sie will die Oligarchie stürzen. Durch Appell vom Ministerium an das Parlament. Aber was ist das Ministerium? Die Kreatur der parlamentarischen Majorität. Oder sie will das Parlament stürzen durch Appell an die Wahl
1 Beifall - 2 ohne Amt
körper. Aber wer ist das Parlament? Der freigewählte Repräsentant der Wahlkörper. Bleibt also nur Erweiterung der Wahlkörper. Verweigert man, sie durch Annahme der Volks-Charte zu den Dimensionen des Volkes selbst auszuweiten, so gesteht man, daß man die alte Aristokratie durch eine neue zu ersetzen strebt. Der bestehenden Oligarchie gegenüber möchte man im Namen des Volles sprechen; zugleich aber vermeiden, daß das Volk in eigner Person erscheint, wenn man es ruft.
Karl Marx
Mitteilungen aus der englischen Presse
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 139 vom 23.März1855] London, 20. März. Der Herzog von Newcastle verordnete die Rückberufung Lord Lucans; Lord Panmure veröffentlichte Raglans Schreiben gegen ihn, und Lord Hardinge, der fabelhafte Connetable1 der englischen Armee, verweigerte ihm Untersuchung und Kriegsgericht. Trotz der Opposition zweier Ministerien, des Oberfeldherrn in der Krim und des Chefs der Horse Guards[38 J zu London, bewies Lord Lucan durch seine gestrige, ausführliche Auseinandersetzung im Hause der Lords, daß nicht er, sondern Raglan allein für das Opfer der leichten Kavallerie bei Balaklawa1-3 ] verantwortlich und daß die Ministerien Aberdeen und Palmerston, um den gefügigen, schwachsinnigen und lenkbaren Feldherrn in der Krim zu retten, dem Mißvergnügen des Publikums Lord Lucan als Beute hinwarfen. Das öffentliche Ungeheuer mußte abgespeist werden. Entscheidend in dieser Frage ist ein halb vollendeter Brief, gefunden auf der Leiche des Generals Cathcart, gerichtet an seine Gemahlin und datiert vom 2. November, 3 Tage vor der Schlacht bei Inkermantm] und 8 Tage nach der Kavalleriecharge bei Balaklawa. In diesem Briefe heißt es wörtlich: „Weder Lord Lucan noch Lord Cardigan waren zu tadeln, sondern umgekehrt, denn sie gehorchten Befehlen." Die „Times " in einem Artikel über die Wiener Konferenzen[30], läßt heute die charakteristische Randglosse fallen, daß, sollte der Kongreß ernst werden, die Hauptschwierigkeiten von türkischer Seite zu gewärtigen [seien]. Dem Sultan, nicht dem Zar, würden innerhalb der Grenzen der vier Punkte[SI die Hauptkonzessionen abzupressen sein.
1 Konnetabel, (Kron)feldherr
Vorgestern mystifizierte die „Times" ihr Publikum wieder einmal mit der „authentischen" Anzeige, daß vor dem 19. März die große Kanonade und der schließliche Sturm auf Sewastopol zweifelsohne stattgefunden. Woher diese plötzliche Wendung von verzweifelnder Hoffnungslosigkeit zu sanguinischem Aberglauben? Die „Times" begann ihren Krimfeldzug gegen die gestürzte Koalition und ihr „Ceterum censeo", daß ein Untersuchungskomitee not tue, in demselben Augenblicke, wo Gladstone ihr Monopol bedrohte durch den Vorschlag, die Stempelsteuer abzuschaffen und das Gewicht der Zeitungen, die für einen Penny durch die Post befördert werden sollten, auf 4 Unzen zu beschränken - weniger als das Gewicht eines Exemplars der „Times" beträgt. Sobald Gladstone gestürzt war, nahm sein Nachfolger, Sir G[eorge] C[ornewall] Lewis, die Bill zurück, und die „Times", hoffend, er werde alles beim alten belassen, verwandelte plötzlich ihre schwarzgallige Ansicht von der Krim in ein bewegliches Panorama, strahlend von Hoffnung in Erfolgen, und worin selbst die Armee wieder agiert, deren Leichenrede sie vor drei Monaten hielt. Heute ist ihre Ansicht wieder verdüstert, weil gestern Sir G.G. Lewis wider alle Erwartung ebenfalls eine Bill zur Abschaffung der Zeitungsstempelsteuer eingebracht hat. Haß des retrospektiven Revueschreibers gegen frische NeuigkeitenI ruft die „Times" aus. Lewis war bekanntlich Herausgeber der „Edinburgh Review". Wir kommen auf die Bill zurück, sobald sie im Detail dem Unterhause vorliegt, bemerken aber einstweilen, daß sie ein Zugeständnis an die Manchester Schooft*5\ der das Verdienst bleibt, unermüdlich für Durchführung der freien Konkurrenz im Gebiet der Presse agitiert zu haben. Die Konzession des Ministeriums Palmerston an die Manchester School ist eine Captatio benevolentiae für den Fall der Auflösung des Unterhauses und parlamentarischer Neuwahlen.
Karl Marx
Aus dem Parlamente [Debatten über Preußen im Haus der Lords]
[„Neue Oder-Zeitung14 Nr. 141 vom 24.März 1855] London, 21. Marz. In der gestrigen Sitzung des Hauses der Lords krachte Lord Lyndkurst, der alte Kollege von Liverpool und Castlereagh, seine längst angekündigte Motion „über das Verhältnis Preußens zur Wiener Konferenz1301" vor. Zwei Umstände, bemerkte er, hätten in letzter Zeit dieser Frage neues Interesse verliehen: Die Botschaft des sterbenden Kaisers von Rußland an den preußischen Hof, das Manifest Alexanders II., worin er die Politik Peters, Katharinens, Alexanders und seines Vaters zu vollenden verspricht. Wie Rußland selbst die preußische Politik auffasse, möge man aus folgenden Auszügen einer geheimen Depesche ersehen, die Pozzo di Borgo kurz vor Ausbruch des Krieges von 1828/29 an Nesselrode gerichtet. Es lautet hier u. a.:
„Wenn Rußland zu Zwangsmaßregeln gegen die Türkei greife, sei aller Grund, zu glauben, daß Preußen ihm in keiner Weise opponieren werde, sondern umgekehrt, Preußens Haltung, zugleich frei und freundlich, wird als mächtiges Hindernis auf andere Staaten wirken und sie zur Annahme von Resultaten bringen entsprechend der Würde und den Interessen Rußlands. Es wird notwendig sein, das Berliner Kabinett zu einem gewissen Umfang in dieses Vertrauen zu ziehen und es zu überzeugen, daß die Rolle, die wir Preußen anweisen, dazu beitragen wird, die glückliche Vertraulichkeit zwischen den beiden Souveränen und den beiden Höfen zu vermehren."
War es möglich, ruft Lyndhurst aus, in mehr prophetischem Geist die Richtung zu antizipieren, die der preußische Hof in den letzten 6 oder 12 Monaten verfolgt hat? Preußen habe allerdings die Protokolle vom 5.Dezember, 13.Januar und 9.April mitunterzeichnet. Der Zweck dieser Protokolle war, die Räumung der Donaufürstentümer herbeizuführen und Garantien zum Schutz der Unabhängigkeit des Sultans und der Integrität
der Türkei zu erhalten. Habe der preußische Hof diesem Zwecke gemäß gehandelt? Bei Gelegenheit der Anleihe von 30 Millionen] T[a]I[e]rn für militärische Operationen habe Baron Manteuffel erklärt: Preußen habe seine Meinung über die russische Politik in den obenerwähnten Protokollen dahin ausgesprochen, daß ein großes Unrecht begangen worden; aber es betrachte sich nicht verpflichtet, weiterzugehen und aktiv teilzunehmen. Sei diese Sprache die einer großen Nation? Und sei Preußen nicht zum Schutz der Türkei ausdrücklich verpflichtet durch die Verträge von 1840 und 1841? Baron Manteuffel habe hinzugesetzt, die Unabhängigkeit Deutschlands oder deutscher Interessen seien nicht in dem Zwist involviert und Preußen daher nicht verpflichtet, irgendwelche Opfer zu bringen. Baron Manteuffel habe aber selbst in einem anderen Dokumente das Gegenteil konstatiert. Übrigens, wenn der Zar sich einmal Konstantinopels bemächtigt, werde es überflüssig sein, ferner von deutscher Unabhängigkeit und deutschen Interessen zu sprechen. Sie müßten dann einer überwiegenden Macht unterliegen. Nachdem Lord Lyndhurst dann noch angespielt auf die Entlassung des Kriegsministers Bonin, auf des Gesandten Bunsen Zurückberufung von London und auf das Abwehren einer Antwortsadresse der preußischen Kammern auf die Thronrede, kommt er „zu dem zweiten Akt dieses politischen Dramas". Nach Verlauf einer geraumen Zeit habe Österreich für geeignet gehalten, von Rußland die Räumung der Donaufürstentümer zu fordern. Diese Forderung ward aufgesetzt und nach Berlin zum Unterzeichnen geschickt. Von Berlin wurden Gegenvorschläge nach Wien gesandt, durchaus unzureichend, aber Zeitverlust verursachend, sofern sie den Alliierten zur Prüfung mitgeteilt werden mußten. Rußland unterdes habe die Fürstentümer geräumt, Jedoch einen Teil aus militärischen Gründen besetzt gehalten und erklärt, sich ganz auf der Defensive halten zu wollen. Preußen habe sich dann von der Konföderation zurückgezogen, weil Rußland allen vernünftigen Ansprüchen genügt habe. Von diesem Augenblicke habe Preußen alles aufgeboten, die Pläne Österreichs zu vereiteln. Zu diesem Behuf habe es, großenteils mit Erfolg, dem Bundestag und den einzelnen deutschen Staaten Vorschläge gemacht. Zur selben Zeit dankte Rußland zwei deutschen Staaten öffentlich für ihre Weigerung, sich den Alliierten anzuschließen. Er (Lyndhurst) komme jetzt zum dritten und letzten Akt des Dramas. Die Alliierten hätten eine Zusammenkunft für den 8. August zu Wien festgesetzt gehabt, um zu entscheiden, was von Rußland als Grundlage jeder vorläufigen Negotiation zu verlangen [sei]. Da sei in der herkömmlichen Weise Preußen Anzeige gemacht und diese mehr als einmal wiederholt worden. Preußen habe nicht ausdrücklich verweigert, beizuwohnen, in der Tat sich aber nicht bei der
Konferenz eingefunden. Infolge seiner Abwesenheit hätten die Alliierten, statt ein Protokoll aufzusetzen, eine Note unterzeichnet, die als Grundlage künftiger Unterhandlung die vier Punkte1-81 niedergelegt. Diese vier Punkte seien dann Rußland zur Annahme vorgelegt worden, das verweigert, sie anzunehmen. Preußen seinerseits veröffentlichte und zirkulierte ein Dokument, worin es Einwendungen gegen die vier Punkte erhob. Ebenso fuhr es fort, auf dem Bundestag und bei den einzelnen deutschen Höfen den Anschluß der kleinen deutschen Staaten an die Alliierten zu hindern. Nach Abschluß des Vertrags vom 2.Dezember1'1 wird Preußen mitgeteilt, daß Raum für seine Adhäsion gelassen worden. Preußen schlug ab, beizutreten, erklärte sich aber bereit, abgesondert ähnliche Verträge mit Frankreich und England einzugehen. Von dem Augenblicke, wo letztere diesen Vorschlag annahmen, habe es in verschiedenen Negotiationen und verschiedenen Vorschlägen zahllose Modifikationen verlangt, von denen sicher war, daß Frankreich und England sie verwerfen mußten. Wenn er (Lyndhurst) von Preußen spreche, so meine er das offizielle Preußen. Er wisse, daß die preußische Nation der großen Mehrzahl nach antirussisch gesinnt sei. Unbegreiflich sei, wie Preußen, nachdem es verweigert, dem Vertrag vom 2. Dezember beizutreten, verlangen könne, zu den Wiener Verhandlungen zugezogen zu werden. Er hoffe, die alliierten Mächte würden unter keinem Vorwande einen preußischen Geschäftsführer zulassen. Geschehe das Gegenteil, so würde Rußland statt einer zwei Stimmen auf dem Wiener Kongreß besitzen. Die preußische Diplomatie sei seit Friedrich dem Großen unveränderlich geblieben. Er erinnere an 1794, an die Zeit kurz vor und nach der Schlacht von Austerlitz etc. Lord Clarendon: Er wolle sich darauf beschränken, einige Lücken auszufüllen in bezug auf die Mitteilungen, die zwischen England und Preußen stattgehabt. Nachdem das russische Kabinett die Bedingungen der Alliierten verworfen, wurde eine Konferenz der respektiven Bevollmächtigten zusammengerufen, die indes nicht abgehalten werden konnte, weil der Repräsentant der preußischen Regierung nicht beiwohnen wollte. Später habe ihm zwar der preußische Gesandte zu London erklärt, seine Regierung wolle ihrem Bevollmächtigten in Wien die verlangte Erlaubnis geben. Er (Clarendon) habe jedoch erklärt: „Es sei zu spät." Die Korrespondenz zwischen Preußen und Österreich habe Rußland gedient. Vor der Zeichnung des Vertrages vom 2. Dezember sei Preußen schon zum Zutritt eingeladen worden, aber vergeblich. Preußen habe verlangt, unbedingt zur neuen Konferenz zugelassen zu werden, weil sie eine Fortsetzung der frühern Konferenz, die noch nicht beendigt, und von der es sich keineswegs zurückgezogen. In bezug auf das letztere verwies die englische Regierung auf die Tatsache, daß bei einer
frühem Gelegenheit keine Konferenz stattfinden konnte, weil Preußen nicht beiwohnen wollte, obgleich wiederholt gebeten. Die neue Konferenz sei auch durchaus keine Fortsetzung der alten, da, als Österreich im Oktober und November Frankreich und England ersuchte, sie wieder aufzunehmen, geantwortet wurde, daß die Zeit für Protokolle und Konferenzen vorbei, daß aber, wenn Österreich eine Kriegsverpflichtung mit ihnen eingehe, sie zusehen wollten, ob Friede ausführbar sei. Dies habe zum Vertrag vom2. Dezember geführt. Man sei später bereit gewesen, Spezialverträge mit Preußen einzugehen.
„Aber Preußen zu erlauben, alle Privilegien in Anspruch zu nehmen, ohne irgendeine Gefahr zu teilen, es unbedingt zu einer Konferenz zuzulassen, die in Frieden enden, aber auch zu einem Kriege auf größerer Stufenleiter führen kann, ohne seine Erklärung, was seine Absichten oder seine Politik, ohne daß es mit uns eine unmittelbare oder eventuelle Verbindung eingeht, ohne zu wissen, ob es in die Konferenz kommt als Neutraler, als Feind oder als Freund - das ist absolut unmöglich."
Die später von Preußen abgesandten Spezialmissionen seien in London und Paris gleich freundlich aufgenommen worden, hätten indes bisher zu nichts geführt. Indes betrachte er die Verhandlungen nicht als abgebrochen. Erst vor drei Tagen seien neue Vorschläge gemacht worden. Unglücklicherweise jedoch seien die Wiener Konferenzen eröffnet worden, während Preußen durch seinen eignen Akt ausgeschlossen blieb. Eine große Macht wie Preußen dürfe sich nicht in engster deutscher Verschlossenheit halten. Man habe wiederholt gegen diese Haltung remonstriert. Die beständige Antwort sei, daß Frieden die Politik Preußens. Seine Politik sei aber in der Tat weder „europäisch, noch deutsch, noch russisch", mehr geeignet, Österreich zu durchkreuzen, als Rußland in Schach zu halten. Trotz alledem könne Preußen nicht lange in der Isolierung verharren, sobald große europäische Interessen auf dem Spiele stehen. Es könne nicht auf Rußlands Seite treten im Widerspruch mit dem Nationalgefühl in Preufeen und Deutschland. Auf der Seite Rußlands gegen Österreich wisse es wohl, daß es in Abhängigkeit von ersterem geraten werde. Eis wolle nicht auf Seite Österreichs treten. Es habe im Gegenteil eine unfreundliche Haltung gegen Österreich eingenommen.
„ Ich sage daher, daß Preußen sich in einer vereinsamten und falschen Position befindet. Dies mag genugtuend sein für seine Feinde, aber es wird tief bedauert von seinen Alliierten und den Patrioten seiner eigenen Bevölkerung."
Es würden, versicherte er schließlich, keine Anstrengungen gespart werden, um Preußens Mitwirkung zu gewinnen.
ImUnterhauseinterpellierteLorJ W[illiam] Graham denPremierminister: „ob der österreichische Gesandte von Lord Clarendon eine Erläuterung verlangt wegen der von Sir Robert Peel bei seiner Neuwahl geäußerten Worte, daß kein Abschluß der östlichen Frage befriedige ohne die Wiederherstellung von Polen und Ungarn?"
Lord Palmerston, statt irgendeiner Antwort auf diese Frage, gratulierte sich erst, daß Sir Robert Peel eine Stelle in seiner Administration angenommen. Was Ungarn betreffe, so wisse Österreich seit langem, daß England seine Trennung vom Kaiserstaat als ein großes europäisches Unglück betrachten würde, da der Kaiserstaat als Gesamtkörper im Zentrum von Europa ein wesentliches Element des Gleichgewichts der Mächte sei. Was Polen angehe - (beträchtliches Gelächter ward hier erregt durch eine kleine Pause in Palmerstons Antwort und die sonderbare Art, womit er seine Rede wieder aufnahm) so sei es seine Ansicht, daß das Königreich Polen, wie jetzt konstituiert und wie jetzt besessen, eine fortwährende Drohung für Deutschland sei. Indes Stipulationen wegen einer Neugestaltung Polens bildeten keinen Teil der Punkte, worüber gegenwärtig in Wien verhandelt werde. Indes hätten England und Frankreich sich vorbehalten, je nach Umständen oder den Ereignissen des Kriegs den vier Punkten, auf deren Grundlage man jetzt unterhandle, andre Stipulationen hinzuzufügen, die ihnen für die künftige Sicherheit Europas wesentlich scheinen möchten.
Friedrich Engels
Napoleons letzter Schwindel11121
[„New-York Daily Tribüne*4 Nr. 4358 vom 7. April 1855, Leitartikel] „Wenn Krösus den Halys überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören !" Diese Antwort des Orakels von Delphi an den lydischeri König könnte jetzt mit gleicher Berechtigung Louis Bonaparte für seine Exkursion nach der Krim mitgegeben werden. Eis ist nicht das Russische Reich, sondern sein eigenes Reich, das durch diese Reise bestimmt ist, zerstört zu werden. Eine außergewöhnliche, anomale Lage ruft anomale Notwendigkeiten hervor. Jeden anderen an seiner Stelle würde man für einen Narren halten, unternähme er diesen Ausflug, bei dem die Chancen zehn zu eins gegen ihn stehen. Louis Bonaparte muß sich dieser Tatsache völlig bewußt sein und ist gezwungen, dennoch zu gehen. Er ist der Urheber der ganzen Expedition, er hat die alliierten Armeen in ihre gegenwärtige, nicht beneidenswerte Lage gebracht und ist vor ganz Europa verpflichtet, sie wieder herauszubringen. Es ist seine erste militärische Tat, und von ihrem Ausgang wird sein Ruf als General wenigstens für einige Zeit abhängen. Für den Erfolg der Kampagne haftet er mit keinem geringeren Pfand als mit seiner Krone. Es gibt außerdem weniger wichtige Gründe, die ebenfalls dazu beitragen, diese gewagte Reise zu einer Staatsnotwendigkeit zu machen. Die Soldaten im Osten haben bei mehr als einer Gelegenheit gezeigt, daß sie in ihren Hoffnungen auf militärischen Ruhm für das neue Reich bitter enttäuscht wurden. Bei Varna und Basardschik wurden die Paladine des nachgeäfften Karls des Großen von ihren eigenen Truppen mit der Bezeichnung „Affen" begrüßt. „A bas les singes! Vive Lamoriciere!"1 war der Schrei der Zuaven, als sie von S[ain]t-Arnaud und Espinasse in die bulgarische Wüste geschickt
* „Nieder mit den Affen! Es lebe Lamoricifere!"
wurden, um an Cholera und Fieber zu sterben. Jetzt stellen die Truppen nicht mehr nur den Ruhm und die Popularität der verbannten Generale den Kommandeuren von zweifelhaftem Ruf, die jetzt die französische Armee führen, gegenüber. Das sonderbare Betragen des jungen Napoleon-Jeröme, als er im Osten war11131, hat bei den alten algerischen Soldaten das ganz andere Verhalten der Prinzen von Orleans in Afrika wieder ins Gedächtnis gerufen, die, was auch sonst gegen sie gesagt werden könnte, immer an der Spitze der Truppen standen und ihre Pflicht als Soldaten erfüllten. Der Kontrast zwischen dem jungen Aumale und dem jungen Napoleon war gewiß stark genug, um die Soldaten zu dem Ausspruch zu veranlassen: Wenn die Orleans noch an der Macht wären, wären die Prinzen mit uns in den Laufgräben und teilten die Gefahren und Strapazen mit uns; und doch trugen sie nicht den Namen Napoleons! So sprechen die Soldaten, und was kann man tun, um sie zum Schweigen zu bringen? Der Mann, dem „es erlaubt ist, die Uniform eines Divisionsgenerals zu tragen", hat es fertiggebracht, den militärischen Traditionen, die mit dem Namen Napoleons verbunden sind, einen Makel anzuhängen; die übrigen Mitglieder der Familie sind alles sehr ruhige Zivilisten, Naturforscher, Priester oder aber ausgesprochene Abenteurer; der alte Jerome kann wegen seines Alters nicht in Betracht gezogen werden, und da seine kriegerischen Taten von früher keinen großen Glorienschein um sein Haupt weben, muß Louis-Napoleon eben selber gehen. Dann war auch das Gerücht von der Krimreise in den entlegensten Nestern Frankreichs bekannt und von der Bauernschaft begeistert begrüßt worden; und es war die Bauernschaft, die Louis-Napoleon zum Kaiser gemacht hatte- Die Bauernschaft, ist überzeugt, daß ein Kaiser, den sie selbst auf den Thron gesetzt hat und der den Namen Napoleons trägt, in der Tat ein Napoleon redivivus1 sein müsse. In ihren Augen ist sein Platz an der Spitze der Truppen, die, von ihm geführt, mit den Legionen der großen Armee wetteifern werden. Wenn Sewastopol noch nicht eingenommen ist, so nur, weil der Kaiser noch nicht dorthin gegangen ist; laßt ihn erst an Ort und Stelle sein, und die Wälle der russischen Festung werden in den Staub sinken wie die Mauern Jerichos. Louis-Napoleon kann also jetzt nicht mehr, auch wenn er wollte, sein Versprechen zurücknehmen, da das Gerücht von seiner Reise nun einmal ausgesprengt wurde. Demzufolge wird alles vorbereitet. Den zehn Divisionen, die sich jetzt in der Krim befinden, werden vier neue nachgeschickt, wovon zwei im Beginn der Kampagne eine Reservearmee zu Konstantinopel bilden sollen. Eine dieser
1 wiedererstandener Napoleon t
Divisionen wird aus der kaiserlichen Garde bestehen, eine andere aus den vereinigten Elitekompanien oder den Grenadieren und Voltigeurs1 der Pariser Armee. Die zwei andern Divisionen (11. und 12.) werden bereits verschifft oder konzentriert zu Toulon und Algier. Diese frischen Verstärkungen werden die französische Truppenstärke auf der Krim auf ungefähr 100000 oder 110000 Mann bringen, während gegen Ende April die 15000 Piemontesen und zahlreiche britische Verstärkungen eintreffen werden. Doch es ist kaum zu erwarten, daß die Alliierten in der Lage sein werden, die Kampagne im Mai mit einer Armee von 150000 Mann zu eröffnen. Der Zustand des Herakleatischen Chersones, der in einen großen und völlig verwilderten Begräbnisplatz verwandelt wurde, ist derartig, daß mit cfem Eintreten des heißen und feuchten Wetters das Ganze eine Brutstätte aller möglichen Seuchen werden muß. Und wieviel Truppen auch immer sich dort aufhalten sollten, sie werden weit furchtbareren Verlusten durch Krankheit und Tod ausgesetzt sein als je zuvor. Es gibt keine Chance für die Alliierten, aus ihrer Position mit einer aktiven Armee vorzustoßen, bevor alle ihre Verstärkungen eingetroffen sind, und das wird irgendwann um die Mitte des Monats Mai sein, wenn die Epidemie bereits ausgebrochen ist. Im günstigsten Falle müssen die Alliierten 40000 Mann vor der Südseite Sewastopols zurücklassen und werden 90000-100000 Mann zur Verfügung haben für eine Expedition gegen die russische Feldarmee. Wenn sie nicht sehr gut manövrieren und die Russen keine ernsten Fehler begehen, wird diese Armee, wenn sie vom Chersones hervorrückt, erst die Russen schlagen und sie aus Simferopol zurückdrängen müssen, bevor sie sich mit den Türken bei Eupatoria vereinigen kann. Wir wollen jedoch annehmen, daß diese Verbindung ohne Schwierigkeiten hergestellt werden wird; die Verstärkung, die die Türken diesem buntscheckigen Korps von Franzosen, Engländern und Piemontesen höchstens geben können, wird 20000 Mann betragen, die nicht sehr geeignet sind für eine Schlacht auf offenem Felde. Alles miteinander würde das eine Armee von ungefähr 120000 Mann ausmachen. Wie eine solche Armee in einem Lande leben soll, das von den Russen selber verwüstet wurde, arm an Getreide ist und dessen Hauptreichtum, das Vieh, die Russen bestrebt sein werden, nach demPerekop zu treiben, kann man sich schwer vorstellen. Der geringste Vormarsch würde ausgedehnte Fouragierung und zahlreiche Detachements benötigen, um die Flanken und die Kommunikationen zur See zu sichern. Die russische irreguläre Kavallerie, die bislang keine Gelegenheit zum Eingreifen gehabt hatte, wird
1 Füsilieren
dann beginnen, sie mit ihren Operationen zu zermürben. In der Zwischenzeit werden auch die Russen ihre Verstärkungen erhalten haben. Die Offenkundigkeit, mit der die französischen Bewaffnungen während der letzten sechs Wochen betrieben wurden, machte es den Russen möglich, ihre Maßnahmen rechtzeitig zu treffen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß gegenwärtig zwei oder drei russische Divisionen entweder der wolhynischen und der bessarabischen Armee oder der neugebildeten Reserven auf dem Marsch sind, um dort das Gleichgewicht zu behaupten. Jedoch das größte Detachement, das von der alliierten Armee bereitgestellt werden muß, müssen die Kräfte sein, die Sewastopol von der Nordseite einzuschließen haben. Für diesen Zweck werden 20000 Mann abgezogen werden müssen, und ob dann der Rest ihrer Streitkräfte, die durch Versorgungsschwierigkeiten gebunden sind und durch endlose Reihen von Fuhrwerken mit Kriegsmaterialien und Proviant behindert sein müssen, ausreichen wird, um die russische Feldarmee aus der Krim zu vertreiben, ist sehr zweifelhaft. Soviel ist gewiß, die Lorbeeren, durch die Louis Bonaparte sich den Namen eines Napoleon der Krim zu erwerben gedenkt, hängen ziemlich hoch und werden nicht so leicht zu pflücken sein. Jedoch alle bisher erwähnten Schwierigkeiten sind rein lokalen Charakters. Der Haupteinwand gegen diese Art der Kriegführung in der Krim ist im Grunde der, daß sie ein Viertel der verfügbaren Kräfte Frankreichs auf einen kleinen Kriegsschauplatz wirft, wo selbst die größten Erfolge nichts entscheiden. Es ist diese absurde Starrköpfigkeit in bezug auf Sewastopol, die in eine Art von Aberglauben ausartet, Erfolgen, aber auch Rückschlägen, fiktiven Wert beimißt, die den großen fundamentalen Fehler dieses ganzen Planes bildet. Und es ist dieser, den Ereignissen m der Krim zugesprochene, fiktive Wert, der mit verdoppelter Kraft auf den unglückseligen Urheber dieses Planes zurückfällt. Für Alexander ist Sewastopol bei weitem nicht Rußland, doch für Louis Bonaparte ist die Unmöglichkeit, Sewastopol zu nehmen, der Verlust Frankreichs.
Geschrieben um den 23. März 1855. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Eine Schlacht bei Sewastopol^143
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4358 vom 7. April 1855] Unsere Zeitung bringt heute morgen die offiziellen französischen, englischen und russischen Berichte über eine Schlacht zwischen den Gegnern vor Sewastopol. Dieses ziemlich wichtige Ereignis macht unsererseits in Ergänzung zu den offiziellen Dokumenten einige Worte der Erklärung und des Kommentars notwendig. Ungefähr vor einem Monat waren wir auf Grund der im allgemeinen erfolgreichen Ausfälle der Russen zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die Laufgräben bis zu einem Punkt vorgeschoben worden waren, wo die Kräfte des Belagerten sich denen des Belagerers die Waage halten1; mit anderen Worten, die Laufgräben waren einander so nahe, daß es den Russen durch einen Ausfall möglich wurde, in jeden Teil der Laufgräben Kräfte zu bringen, die denjenigen, die die Alliierten in der ersten oder den ersten beiden Stunden herbeischaffen können, zumindest gleich sind. Da ein oder zwei Stunden vollständig ausreichen, um das Erdwerk zu zerstören und die Kanonen einer Batterie zu vernageln, war die natürliche Folge, daß die Alliierten ihre Approchen nicht über diesen Punkt hinaus vortreiben konnten. Seit dieser Zeit war die Belagerung zu einem Stillstand gekommen, bis die Ankunft von drei französischen Brigaden (eine von der 8. und zwei von der 9. Division) es ihnen erlaubte, einen Teil der englischen Infanterie abzulösen und die Wachen der Trancheen zu verstärken. Gleichzeitig gab die Ankunft der Generale Niel und Jones von den Geniekorps den Belagerungsoperationen neue Lebhaftigkeit, und sie machten die Fehler wieder gut, die hauptsächlich der Eigensinn des französischen Generals Bizot und die numerische Schwäche
1 Siehe vorl. Band, S. 53/54
Eine Schlacht bei Sewastopol 151
der britischen Infanterie veranlaßt hatten. Neue Approchen wurden jetzt aufgeworfen, besonders auf der englischen Seite, wo eine Parallele eröffnet ward, ungefähr 300 Yards von den russischen Werken auf dem Hügel von Malachow. Einige von den neuerrichteten Batterien gingen so weit vor nach der Seite von Inkerman, daß sie einem Teil der russischen Batterien in den Rücken gekommen wären oder sie enfiliert hätten, sobald ihr Feuer eröffnet werden konnte. Gegen diese neuen Linien haben die Russen gerade einen Vorstoß unternommen, der mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit und Kühnheit ausgeführt wurde. Die russischen Linien, wie jede Karte zeigt, erstrecken sich in einem halbrunden Bogen um die Stadt, von dem oberen Ende der Quarantäne-Bucht bis zum inneren Kriegshafen und von hier bis zur Spitze der Kilen-buchta. Diese letztere ist eine kleine Bucht, die durch die Ausläufer einer tiefen Schlucht gebildet wird, einer Schlucht, die sich von der Großen Bucht oder Sewastopoler Bucht bis hinauf zu dem Plateau hinzieht, wo die Alliierten ihr Lager haben. Auf der westlichen Seite dieser Schlucht erstreckt sich eine Reihe von Höhen hin, die die russischen Linien bilden; die beträchtlichste dieser Höhen ist der Hügel von Malachow, der durch seine beherrschende Position den Schlüssel des ganzen russischen rechten Flügels bildet. Auf der Ostseite der Schlucht und der Kilen-buchta befindet sich eine andere Anhöhe, die, völlig unter dem Feuer der russischen Batterien und ihrer Kriegsschiffe, solange außer dem Bereich der Alliierten blieb, als sie nicht völlig die Verbindung zwischen Sewastopol und Inkerman abschneiden konnte - eine Verbindung, die ihrerseits geschützt war durch das Feuer der Forts und Batterien der Nordseite des Hafens. Seitdem aber die Alliierten im Osten und Südosten von Malachow Positionen für Batterien gefunden hatten, die die russischen Linien im Rücken und auf der Flanke bedrohten, erhielt jener neutrale Hügel Wichtigkeit. Die Russen sandten daher in der Nacht vom 21. Februar eine Partie Arbeiter dorthin, um eine Redoute darauf zu errichten1, die von ihren Ingenieuren im voraus geplant war. Am Morgen sahen die Alliierten den langen Graben und den Beginn der Brustwehr dahinter. Sie scheinen völlig außerstande gewesen zu sein, deren Bedeutung zu verstehen; sie begnügten sich deshalb damit, sich nicht darum zu kümmern. Den nächstfolgenden Morgen jedoch war die Redoute, wenigstens in ihren Umrissen, beinahe fertig, obgleich es sich zeigte, daß das Profil, d. h. die Tiefe des Grabens und die Stärke der Brustwehr, noch immer sehr unvollkommen war. Jetzt entdeckten die Alliierten, daß dieses Werk bewunderungswürdig
1 die Redoute Selenginsk
lag, um ihre eigenen enfilierenden Batterien zu enfilieren, so gut wie nutzlos zu machen. Die Ingenieure erklärten, daß dieses Werk um jeden .Preis genommen werden müsse. Canrobert organisierte daher unter dem größten Geheimnis eine Sturmkolonne, bestehend aus ungefähr 1000 Zuaven und 3000 Seetruppen. Da die Befehle erst zu einer späten Stunde gegeben werden konnten und unerwartet waren, verging einige Zeit, bis die Truppen auf dem Rendezvousplatz versammelt waren, und es war 2 Uhr morgens (24. [Februar]) geworden, bevor sie zum Sturm aufbrechen konnten, die Zuaven an der Spitze. Ein kurzer Marsch brachte sie bis auf 20 Yards an den Graben heran. Wie gewöhnlich bei Angriffen, war kein Schuß abzufeuern; die Soldaten hatten die Perkussionshütchen von ihren Gewehren zu nehmen, um nutzloses und zeittötendes Feuern zu verhindern. Plötzlich erschollen einige russische Kommandorufe; ein starkes Korps Russen im Innern der Redoute erhob sich vom Grunde, legte seine Büchsen an auf der Spitze der Brustwehr und warf eine Salve in die Angriffskolonne. Durch die Dunkelheit und durch die wohlbekannte eingefleischte Gewohnheit der Soldaten, in Verschanzungen immer direkt über die Brustwehr zu schießen, konnte diese Salve nur sehr geringe Wirkung auf die enge Spitze der Kolonne gehabt haben. Die Zuaven, kaum aufgehalten durch die abschüssigen Seiten des unvollendeten Grabens und Walls, waren in einem Augenblick in der Redoute und stürzten mit dem Bajonett auf ihre Gegner los. Ein fürchterliches Handgemenge fand statt. Nach einiger Zeit bemächtigten sich die Zuaven der Hälfte der Redoute, und später überließen die Russen sie ihnen gänzlich. Unterdes hatten die Seesoldaten, die den Zuaven in kurzer Entfernung folgten, entweder ihren Weg verloren oder machten aus einem anderen Grunde halt auf dem Rande des Hügels. Hier wurden sie auf jeder Flanke von einer russischen Kolonne angegriffen, die sie nach verzweifeltem Widerstand den Hügel hinuntertrieb. Während oder kurz nach dem Kampf muß der Tag angebrochen sein; die Russen zogen sich eilig vom Hügel zurück und ließen die Redoute in der Hand der Zuaven, auf die nun die ganze russische Artillerie, die auf diesen Punlct gerichtet werden konnte, ihr Feuer eröffnete. Die Zuaven warfen sich einen Augenblick nieder, während einige Büchsenschützen, die sie begleitet hatten, an den Malachow-Werken heraufkrochen und versuchten, auf die russischen Kanoniere durch die Schießscharten zu feuern. Aber das Feuer war zu stark, und bald hatten sich die Zuaven zurückzuziehen auf der Seite nach Inkerman zu, wo sie gegen die Batterien meistens gedeckt waren. Sie behaupten, alle ihre Verwundeten mitgenommen zu haben.
Dieses kleine Gefecht war von den Zuaven und einem General Monet mit großer Tapferkeit und von den Russen mit großer Meisterschaft, verbunden
Eine Schlacht hei Sewastopol 153
mit ihrer üblichen Zähigkeit, ausgeführt worden. Sie setzten sich aus den beiden Regimentern von Selenginsk und Wolhynien zusammen, deren Stärke nach mehreren Kampagnen nicht mehr als 500 Mann pro Bataillon oder insgesamt 4000 Mann betragen haben kann. General Chruschtschow kommandierte sie. Ihre Veranstaltungen waren so trefflich, daß die Franzosen erklären, der ganze Angriffsplan habe ihnen bekannt sein müssen. Die Attacke auf die Seesoldaten war ganz und fast augenblicklich erfolgreich,"während ihr Rückzug aus der unvollendeten Redoute zur Wirkung hatte, daß die unglücklichen und nicht unterstützten Zuaven einem überwältigenden Feuer ausgesetzt waren, das schweigen mußte, solange der Kampf innerhalb der Redoute währte. General Canrobert fand, daß diese Niederlage auf seine Truppen eine sehr große Wirkung hatte. Ihre Ungeduld, die sich bei verschiedenen Gelegenheiten bemerkbar gemacht hatte, brach jetzt mit voller Gewalt hervor. Die Soldaten forderten die Erstürmung der Stadt. Das Wort Verrat," die ewige Entschuldigung für eine von den Franzosen erlittene Niederlage, wurde laut ausgesprochen, und ohne sichtlichen Grund wurde General Forey sogar namentlich als derjenige bezeichnet, der dem Feind die geheimen Beschlüsse des französischen Kriegsrates verraten habe. Canrobert war so verwirrt, daß er in einem Zuge einen Tagesbefehl schrieb, in dem er die ganze Affäre als einen glänzenden, wenn auch relativen Erfolg hinstellte, und eine Note an Lord Raglan, in der er einen sofortigen Sturm vorschlug, den Lord Raglan natürlich ablehnte. Die Russen haben ihrerseits ihre neue Redoute behauptet und waren seitdem mit ihrer Vollendung beschäftigt. Diese Position ist von großer Wichtigkeit. Sie sichert die Kommunikation mit Inkerman und die Ankunft von Zufuhren von dieser Seite. Sie bedroht die ganze Rechte der Belagerungswerke der Alliierten, indem sie sie in die Flanke nimmt und neue Approchen erforderlich macht, um sie zu paralysieren. Doch vor allem zeigt sie die Fähigkeit der Russen, nicht nur ihren Grund und Boden zu behaupten, sondern sogar darüber hinaus vorzustoßen. In der zweiten Hälfte des Februar schoben sie aus ihrer neuen Redoute. Laufgräben von Konterapprochen gegen die alliierten Werke vor. Die Berichte geben jedoch nicht die genaue Richtung dieser Werke an. Auf jeden Fall beweist die Anwesenheit der beiden Linienregimenter in Sewastopol, daß die Garnison, die bisher nur aus Seesoldaten und Matrosen bestanden hat, bedeutend verstärkt worden und für jede Eventualität stark genug ist. Es wird jetzt berichtet, daß um den 10. oder 11. März die Alliierten in der Lage sein würden, das Feuer ihrer Batterien gegen die russischen Verteidi
gungsstellungen eröffnen zu können. Doch wie kann man erwarten, daß bei den Hilfsquellen der Russen und den Schwierigkeiten der Alliierten die erste Bedingung erfüllt wird, nämlich zu erreichen, daß das Feuer der Belagerer dem der Belagerten überlegen sein wird, und so überlegen, daß sie die russischen Batterien zum Schweigen bringen, bevor die Engländer und Franzosen ihren Munitionsvorrat erschöpft haben? Aber wir wollen sogar annehmen, daß dieses Resultat erzielt wird. Nehmen wir sogar an, daß die Russen in diesem entscheidenden Moment versäumen würden, die Positionen von Inkerman und Balaklawa zu attackieren. Nehmen wir an, daß die erste russische Linie gestürmt und sogar erobert wird. Was dann? Vor den stürmenden Kolonnen werden sich neue Verteidigungsstellungen, neue Batterien, starke, in kleine Zitadellen verwandelte Gebäude erheben, zu deren Vernichtung neue Batterien erforderlich sind. Ein Hagel von Traubenladungen und Gewehrfeuer wird sie zurücktreiben, und alles, was sie tun können, ist, die erste russische Linie zu halten. Dann folgt die Belagerung der zweiten und dann der dritten Linie - wobei die zahlreichen kleineren Hindernisse nicht erwähnt sind, welche die russischen Pioniere, wie wir sie jetzt kennengelernt haben, nicht verfehlt haben werden, im Innern des ihnen anvertrauten Raumes zu errichten. Und während dieser Zeit werden Nässe und Hitze und Hitze und Nässe, die einander abwechseln, auf einem Boden, der mit den animalischen Verwesungsstoffen von Tausenden von Menschen und Pferden durchtränkt ist, unbekannte und unerhörte Krankheiten hervorrufen. Gewiß wird die Seuche ebenso innerhalb wie außerhalb der Stadt herrschen, aber wer weiß, welche Partei als erste vor ihr kapitulieren wird? Der Frühling wird schreckliche Dinge für diese kleine Halbinsel von fünf zu zehn Meilen mit sich bringen, wo drei der größten Nationen Europas einen zähen Kampf ausfechten; und Louis Bonaparte wird reichlichen Grund haben, sich zu gratulieren, wenn seine große Expedition beginnt, reiche Früchte zu bringen.
Geschrieben um den 23. März 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Zur Geschichte der französischen Allianz
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 145 vom 27. März 1855] London, 24.März. Die „Press"t1151, Disraelis Organ, erregte letzte Woche einen Sturm in einem Glas Wasser durch die Behauptung, „Kaiser Louis" sei das einzige Hindernis gegen den Abschluß des Friedens und habe Osterreich durch eine geheime „Übereinkunft" an sich gefesselt, die es loszuwerden strebe. Die Tories hatten bisher die englisch-französische Allianz als ihr Machwerk vindiziert. Hatte nicht ihr Lord Malmesbury den Bund mit Bonaparte besiegelt?11161 Schüttete Disraeli nicht im Parlament seine Sarkasmen auf Graham und Wood, die frevlerisch vor ihren Wählern den Staatsstreich vom 2.Dezember[7] verleumdet hätten? Waren seit zwei Jahren, auf der Tribüne und [in] der Presse, nicht die Tories die lautesten Herolde des Krieges? Und nun plötzlich, ohne Übergang, ganz ohne alle mildernde Umstände Insinuationen gegen die französische Allianz, Anzüglichkeiten auf den „Kaiser Louis" und Friedenshomilie? Das altersschwache Organ der Alttories, der „Morning Herald", uneingeweiht in das Geheimnis der Parteiführer, schüttelte bedenklich das Haupt und murmelte heftige Proteste gegen die ihm unbegreiflichen Halluzinationen der „Press". Letztere kommt indes heute auf das verhängnisvolle Thema zurück. Auf ihrem Kopfe ist folgende, großgedruckte Ankündigung angeschlagen: „Wichtige Umstände haben transpiriert. Als wir neulich schrieben, war die Aussicht vorhanden, daß der Kongreß re infecta1 aufbreche und Lord John Russell plötzlich nach England zurückkehre. Der veränderte Ton Österreichs gegen Rußland seit dem Tode des Kaisers Nikolaus - und besonders die Erklärung des Österreichischen Kaisers an Alexander II. - haben zweifelsohne zu diesem Resultat beigetragen. Wir haben Grund, zu glauben, daß der Kaiser der Franzosen die Hindernisse, die gegen
1 unverrichteter Sache
eine allgemeine Pazifikation bestanden, entfernt hat und daß Frankreich zustimmen will zur völligen Räumung der Krim ohne irgendwelche Bedingungen über Zerstörung oder Verminderung der Befestigungen dieser Provinz."
Zur Aufklärung dieses Orakels verweist die „Press" auf „die authentischen Details ihres Leitartikels". Sonderbarerweise widerlegen grade diese Details den auf sie gegründeten und ihnen vorhergesandten Schluß.
„Die Angelegenheiten zu Wien", heißt es in dem Leitartikel, „werden stündlich minder rational und befriedigend; und es ist wichtig, daß die erleuchtete Meinung auf beiden Seiten des Kanals ihren Einfluß ausübe zur Vermeidung von Resultaten, die gleich ärgerlich und bedauernswert ausfallen möchten. ... Wäre die englisch-französische Allianz aufrichtig gewesen auf Seite unserer Minister im Jahre 1853, so würde wahrscheinlich die Gelegenheit zum Kriege gefehlt haben; aber, wenn notwendig, wäre seine Führung aller Wahrscheinlichkeit nach siegreich und erfolgreich gewesen. Statt solcher herzlichen Allianz mit Frankreich wurde ein Jahr von der britischen Regierung vergeudet mit dem, was sie Adhäsion der großen deutschen Staaten nannte. Nichts konnte einen Krieg mit Rußland rechtfertigen auf Seite der Westmächte als der feste Entschluß, sein Reich im Süden materiell zu schmälern. Das ist die einzige Lösung der orientalischen Frage. 1853 war die Gelegenheit günstig; sie ist verloren worden. Zeit, Schätze, Armeen, Ruf sind gleichmäßig verschwendet worden. Hätten wir 1853 herzlich mit Frankreich gehandelt, so hätten die deutschen Mächte unsren Fußstapfen folgen müssen. Was ist jetzt geschehen? Der Kaiser von Österreich hat dem Kaiser Alexander von Rußland versichert, ,daß Österreich weder die Grenzen seines Reiches zu vermindern noch irgendeine Schmach über sein Gebiet zu verhängen sucht'. Diese Worte lassen nur eine Deutung zu. Was die geheime Übereinkunft zwischen Frankreich und Österreich betrifft, auf die wir früher angespielt, so sind wir durch hohe Autorität versichert, daß, obgleich sie auf wahrscheinlich permanente Verbindung zwischen den beiden Reichen deutet, nichts darin enthalten, was notwendig zu einer Invasion Rußlands seitens Österreichs führen müßte. - Der Kaiser von Rußland ist bereit, Friedensbedingungen anzunehmen, die zwar keine Lösung der orientalischen Frage bieten, aber zweifelsohnexin Zugeständnis vereitelter Aggression und einigermaßen eine Buße für die Gewalttat sind. Wir glauben, daß die Gelegenheit für eine großartigere Politik verloren ist und daß die Kombination von Umständen, die die Unabhängigkeit von Europa gesichert haben konnte, nicht sobald wiederkehren wird; aber ein Friede, im ganzen vorteilhaft für Europa, nützlich für die Türkei und nicht entehrend für die Westmächte, kann jetzt noch erhalten werden. Wir haben Grund, zu fürchten, daß ein solcher Friede nicht negoziiert werden wird. Was ist das Hindernis?... Der Kaiser der Franzosen. Wäre er trotz der nun ungünstigen Umstände noch der Meinung, daß die Lösung der orientalischen Frage zu unternehmen sei, so würden wir nicht sagen, daß England zurücktreten solle; aber wir erfahren, daß die Ansichten des Kaisers ganz verschiedener Art sind... Zwischen der Schmälerung der russischen Grenzen und der Negotiation des projektierten Friedens hat der Kaiser der Franzosen
Zur Geschickte der französischen Allianz 157
einen mezzo termine1 ersonnen, der gefährlich ist und verhängnisvoll werden kann. Er beabsichtigt eine Kampagne voll brillanter Großtaten, die das Prestige4 (Glanz) „wiederherstellen und dann mit einem Frieden schließen soll, der nicht einen Pfifferling mehr die Territorialverfassung von Europa oder Asien ändern würde als die österreichisch-russischen Vorschläge, denen beizutreten der außerordentliche englische Bevollmächtigte zu Wien bereit war. Abgesehn von dem Teil des Planes, der viele tausend Menschenleben opfern will für die bloße Restauration von Prestige..., halten wir die Unpolitik dieses Projekts für so schreiend wie seine Immoralität. Gesetzt, die Kampagne des Prestige sei nicht erfolgreich?... Außer den Hindernissen, die die russische Armee in der Krim entgegenstellt, droht die Pest so sehr als die Waffen. Wenn die Kampagne des Prestige fehlschlägt, was wird aus England und Frankreich? Auf welcher Seite werden sich dann die deutschen Großmächte befinden? Die Aussicht ist keine andere als der Verfall und Fall Europas. Selbst wenn die Chancen nicht gegen uns wären, sind wir gerechtfertigt, solche Gefahren zu laufen, nicht einmal zugunsten einer bestimmten Politik, sondern einer bloßen Demonstration? Es mag marternd sein für den Herrscher von Frankreich, daß eine große Gelegenheit verlorengegangen; es ist nicht minder so für das englische Volk. Aber Staatsmänner müssen die Umstände nehmen, wie sie sind. Weder Frankreich noch England, noch Rußland befinden sich 1855 in denselben Stellungen wie 1853. Wehe den Männern, die die höchsten Interessen Europas verraten haben. Möge das Schicksal sie treffen, das sie verdienen. Der Herrscher von Frankreich und die Königin vonEngland sind schuldlos; aber sie müssen nicht, gleich irre gewordenen Spielern, darauf bestehen, ihr Mißgeschick zu forcieren in einem Wahnsinn der Enttäuschung und einem Paroxismus der Verzweiflung."
In demselben Blatt wird auf Girardins Pampbiet „LaPaix" hingewiesen, worin die gleichzeitige Entwaffnung Sewastopols und Gibraltars als die wahre Friedenslösung gefeiert wird. „Bedenkt", ruft die „Press", „daß dieses Pamphlet oder vielmehr sein Verkauf durch die französische Regierung autorisiert und sein Verfasser der teure und intime Freund, Ratgeber und Gefährte des präsumtiven Thronerben ist!" Hier sei nur angedeutet, daß die Derbyiten, deren Organ die „Press", an einer Koalition mit der (friedlichen) Manchester School1451 arbeiten und daß das Ministerium seinerseits durch die Zeitungsstempelbill (auf die wir zurückkommen) die Manchester School zu gewinnen sucht. Die Idee eines bloßen Demonstrationsfeldzugs, eines europäischen Krieges nicht zur Gefährdung der feindlichen Macht, sondern zur Rettung des eigenen Prestige, eines Spektakelstücken-Krieges, muß allerdings jeden nüchternen Engländer außer Fassung bringen. Frage: Ist sie nicht eine der „idees napoleoniennes"2[117J, wie das restaurierte Kaisertum sie versteht und verstehen muß?
1 Mittelweg (zur Ausgleichung) — 2 „napoleonischen Ideen"
Karl Marx
Napoleon und Barbes - Zeitungsstempel
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 151 vom 30. März 1855] London, 27. März. Wir erfahren aus der besten Quelle, daß Bonapartes Besuch in St. James's Palace[118] - erwartet für den 16. April - zu einer großen Gegendemonstration Anlaß geben wird. Die Chartisten haben nämlich den französischen Flüchtling Armand Barbes eingeladen, London ebenfalls am 16. April zu besuchen, wo er mit öffentlicher Prozession und großem Meeting empfangen werden soll. Es ist indes fraglich, ob sein Gesundheitszustand eine Seereise gestattet. Die Bill zur Aufhebung des Zeitungsstempeis ist gestern in zweiter Lesung im Hause der Gemeinen durchgegangen. Die Hauptbestimmungen dieser Bill sind folgende: 1. der zwangsweise Zeitungsstempel ist abgeschafft; 2. periodische Publikationen, auf gestempeltem Papier gedruckt, genießen nach wie vor das Privilegium freier Beförderung durch die Post. Eine dritte Klausel betrifft den Umfang durch die Post beförderter Druckschriften und eine andere verfügt, daß gestempelte Zeitungen Kautionen wegen etwaiger Verleumdungsklagen zu stellen haben. Zur Charakteristik des alten Zeitungssteuersystems genügen zwei Tatsachen. Die Herausgabe eines täglichen Blattes in London erheischt ein Kapital von mindestens 50000-60000 Pfd.St. Die gesamte englische Presse, mit sehr wenigen Ausnahmen, erhebt gegen die neue Bill eine schäm- und anstandslose Opposition. Bedarf es anderer Beweise, daß das alte System ein Schutzzollsystem für die bestehende Presse und ein Prohibitivsystem gegen freie geistige Produktion? Preßfreiheit war bisher in England das ausschließliche Privilegium des Kapitals. Die wenigen Wochenblätter, die die Interessen der arbeitenden Klasse vertreten - von Tagesblättern konnte natürlich nicht die Rede sein fristen ihr Dasein durch wöchentliche Zuschüsse der Arbeiter, die in England ganz andere Opfer für
Zeltungsstempel 159
öffentliche Zwecke zu bringen verstehen als auf dem Kontinent. Der tragikomische Polterpathos, womit der Leviathan der englischen Presse - die „Times" - pro aris et focis1, d.h. für das Zeitungsmonopol kämpft, bald sich bescheiden vergleichend mit dem Orakeltempel zu Delphi, bald versichernd, daß England nur eine einzige, der Erhaltung werte Institution besitzt, nämlich die „Times"; bald die Autokratie der Weltjournalistik und, ohne einen Vertrag von Kütschük-Kainardschitll91,das Protektorat sämtlicher europäischer Zeitungsschreiber beanspruchend. Der ganze „Cant"2 der „Times" wurde in der gestrigen Unterhaussitzung gebührend abgefertigt von dem wunderlichen Drummond: „Die jetzige Presse sei eine merkantile Spekulation und nichts weiter... Die Herren Walter" (Haupt-Aktionäre der „Times'4) „hätten natürlich dasselbe Recht, eine Fabrik von politischer Kannegießerei zu etablieren, wie Herr Bright eine Kattunfabrik... Die »Times verstehe das Geschäft besser als ihre Rivalen. Die Walter-Familie habe immer geriebene Männer zur Hand gehabt, Advokaten von siebenjähriger Praxis oder dergleichen Leute, die stets bereit waren, für und gegen alles einzustehen. Da seien z.B. die Herren Barnes, Alsager, Sterling, Delane, Morris, Lowe und Dasent. Diese Gentlemen seien alle verschiedener Meinungen. Die törichten Zeitungen, die das Geschäft nicht recht verständen, wie der ,Morning Chronicle* z.B., schlössen sich an eine besondere Partei an. Die eine sei Peelitt11^ die andere Derbyit usw. Wenn die Partei der Peeliten blühe, blühe auch ihre Zeitung; wenn sie herunterkomme, komme auch die Zeitung herunter. Das seien offenbar keine Geschäftsmänner. Die wahre Kunst worin die ,Times* Meister - sei, eine Bande von Gentlemen von verschiedenen Meinungen zu mieten und sie ans Schreiben zu setzen. Man könne natürlich keinen dieser Herren der .Inkonsequenz anklagen; derselbe Mann möge stets derselben Ansicht treu bleiben, und seien diese Schreiber individuell sehr konsequent, während, kollektiv genommen, nichts in der Welt inkonsequenter sein könne. Die wahre Vollendung des Journalismus scheine ihm darin zu bestehen - individuelle Ehrbarkeit, kollektive Ruchlosigkeit, politisch wie literarisch. Dies sei sohr einbringlich, und die ,Times* erinnere ihn stets an einen seiner Pächter, dem er vorschlug, ein morastiges Stück Land trockenzulegen. Beileibe nicht! sagte der Pächter. Legt es nur nicht trocken! Im nassen Wetter findet sich darauf etwas für die Kuh, und wenn für die Kuh nichts da ist, erneuert sich etwas für das Schwein, und wenn nichts für das Schwein, ist immer noch etwas für die Gans da. — Was die Bestechlichkeit der Zeitungen angehe, so seien positive Proben vorhanden in bezug auf die,Times*, von der Napoleon sagte: ,Sie haben mir die „Times" gesandt, die infame „Times", das Journal der Bourbons.4 Es sei konstatiert in einem Werke O'Mearast120!, daß sie von letzteren monatlich 6000 Frs. erhielt. O'Meara habe sich im Besitz der Quittung für das erhaltene Geld befunden, unterzeichnet vom Herausgeber des Blattes. O'Meara habe auch konstatiert, daß Napoleon vor seinem
1 für Altar und Herd - 2 „Scheinheiligkeit"
Exil in Elba Anträge von verschiedenen Zeitungen erhielt, namentlich von der .Times , für sie1 zu schreiben. Er habe das abgelehnt, aber später Ursache gehabt, seinen Entschluß zu bereuen." Wir bemerken hierzu nur, daß die „Times" im Jahre 1815 darauf drang, Napoleon, den sie als Zentrum der europäischen Demagogie darstellt, kriegsgerichtlich erschießen zu lassen. Dasselbe Blatt - im Jahre 1816 - wollte die Vereinigten Staaten von Nordamerika, „dies unheilvolle Beispiel erfolgreicher Insurrektion", unter englische Zwangsherrschaft zurückbringen.
1 In der „Neuen Oder-Zeitung": ihn
Karl Marx
Das Untersuchungskomitee [und seine Arbeit]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 153 vom 31. März 18551 London, 28. März. Das Untersuchungskomitee der Gemeinen hat nun mehr als ein Dutzend Sitzungen gehalten, und die Resultate seiner Nachforschung liegen zum großen Teil dem Publikum vor. Von dem Herzog von Cambridge bis auf Herrn Macdonald von der „Times" sind Zeugen aus den verschiedensten Gesellschaftssphären verhört worden, und selten hat 1 solche Übereinstimmung der Aussagen ein Zeugenverhör charakterisiert. Die verschiedenen Zweige der Administration haben Revue passiert, und alle sind nicht nur mangelhaft, sondern in einem schimpflich skandalösen Zustand befunden worden. Der Armeestab, das medizinische Departement, das Lieferantendepartement, das Kommissariat, der Transportdienst, die Spitalverwaltung, die Gesundheitspolizei, die Hafenpolizei von Balaklawa und Konstantinopel sind alle ohne Opposition verurteilt. Aber schlecht, wie jedes Departement für sich selbst betrachtet war, entwickelte sich die ganze Glorie des Systems nur im Kontakt und Zusammenwirken aller. Die Regulationen waren so schön arrangiert, daß, sobald sie in Kraft traten, niemand wußte, wo seine Autorität beginne oder wo sie ende oder an wen sich wenden. Man lese die Beschreibung des Zustandes der Spitäler, der infamen Brutalitäten, aus Nachlässigkeit oder Indolenz verübt, gegen die Kranken und Verwundeten an Bord der Transportschiffe und bei der Ankunft an ihrem Bestimmungsplatz. Nichts Schauderhafteres ereignete sich auf dem Rückzug von Moskau. Und diese Dinge passierten zu Skutari, im Angesicht Konstantinopels, einer großen Stadt mit mannigfaltigen Ressourcen, nicht auf einem hastigen Rückzug, die Kosaken auf den Fersen der Flüchtigen, ihnen die Zufuhren abschneidend - sondern infolge einer bis dahin erfolgreichen Kampagne, in » einem vor jedem feindlichen Angriffe gesicherten Platze, im großen Zentral
U Mang Engels, Werke, Bd. U
depot, wo Großbritannien seine Vorräte für seine Armee aufgehäuft. Und die Urbeber aller dieser Greuel waren keine Barbaren, sondern Gentlemen, zugehörig „den 10000 Höhern", in ihrer Art milde Männer. Fiat1 das Reglement, pereat2 die Armee! „Wenden Sie sich an eine andere Behörde, der Gegenstand gehört nicht zu unserer Kompetenz." „Aber an wen sich wenden?" „Es gehört nicht zu unserer Kompetenz, zu wissen, welches das kompetente Departement ist, und selbst wenn es dazu gehörte* wären wir nicht kompetent, es Ihnen zu sagen." „Aber die Kranken bedürfen Hemden, Seife, Bettzeug, Behausung, Medizin, Arrowroot3, Portwein. Sie sterben zu Hunderten." „Tut mir in der Tat sehr leid, daß das beste Blut von England so rasch versiecht, aber wir können nicht helfen. Wir können nichts geben, selbst wenn wir haben, ohne die genügenden Requisitionen, unterschrieben von einem halben Dutzend Personen, wovon zwei Drittel abwesend sind in der Krim oder sonstwo," Und Tantalus gleich hatten die Soldaten zu sterben, im Angesicht, ja im Gerüche der Komforts, die ihnen das Leben retten konnten. Kein Mann an Ort und Stelle besaß die Energie, das Netzwerk der Routine zu durchbrechen, auf seine eigne Verantwortlichkeit zu handeln, wie die Bedürfnisse des Augenblicks geboten, und den Reglements zum Trotze. Nur eine einzige Person wagte das zu tun, und zwar ein Weib, Miß Nightingale. Nachdem sie sich einmal versichert, daß die nötigen Dinge aufgelagert waren, wählte sie eine Anzahl handfester Gesellen und beging in der Tat Einbruch in Ihrer Majestät Magazine. Den vor Schrecken erstarrten Lieferanten sagte sie: „Ich habe nun, wessen ich bedurfte. Geht ihr jetzt und berichtet daheim, was ihr gesehn habt. Ich nehme alles auf mich selbst."
Die alten Weiber in Autorität zu Konstantinopel und Skutari, weit entfernt, solcher Wagnis fähig zu sein, waren Feiglinge bis zu einem Grade, der unglaublich scheinen würde, hätten wir nicht ihr eignes offnes Zugeständnis. Einer von ihnen z.B., ein gewisser Dr. Andrew Smith, eine Zeitlang Chef der Spitäler, ward vom Untersuchungskomitee befragt, ob in Konstantinopel keine Fonds vorhanden zum Ankauf und kein Markt für die Beschaffung der nötigen Waren? „0 ja!", antwortete er. „Aber nach 40jährigeT Routine und Plackerei daheim, versichere ich Ihnen, daß ich einige Monate durch kaum die Idee fassen k°nnte, daß ich in der Tat Fonds zu meiner freien Verfügung gestellt hatte"
1 Es lebe - 2 nieder - 3 eine Art Stärkemehl (aus der Wurzel einer südamerikanischen Pflanze)
Und solchen alten Weibern war die britische Armee überhändigt! In der Tat, die lebhaftesten Beschreibungen in der Presse und im Parlament erscheinen farblos vor der Wirklichkeit, wie sie sich in den Zeugenverhören aufrollt. Und was sollen wir sagen zu den Herberts, den Gladstones, Newcastles und tutti quanti1, zu Peels fashionablen Clerks, die wiederholt im Parlament alle nun bewiesenen Tatsachen Lügen straften und mit einer leidenschaftlichen Bitterkeit zurückwiesen, die man bis dahin diesen „hochehrwürdigen" Herren nicht zugetraut! Diese Dandies von Exeter Hall[m], puseyitische Elegants[14J, denen die Unterscheidung zwischen „Transsubstantiation" und „realer Gegenwart/" eine Lebensfrage, unternahmen mit jener bescheidenen Anmaßung, die sie charakterisiert, die Leitung des Krieges und waren so weit erfolgreich in der „Transsubstantiation" der britischen Armee, daß deren „reale Gegenwart" nirgendwo. „Ja, sie ist irgendwo", erwidert Gladstone. „Am 1 .Januar belief sich die britische Armee in der Krim auf 32000 Mann." Unglücklicherweise haben wir des Herzogs von Cambridge Zeugnis, daß nach der Schlacht von Inkerman[111J, am 6. November, die britische Armee keine 13000 Bajonette zählte, und wir wissen, daß sie seit November und Dezember ungefähr 3000 Mann verlor. Unterdes hat die Nachricht vom Aufruhr der Gemeinen gegen die Minister, von Roebucks Komitee und der populären Indignation in England die Krim erreicht. Mit Jubel von den Soldaten begrüßt, schlug sie die Generale und Departementschefs mit Schrecken. Eine Woche später traf die Nachricht ein, daß Kommissäre unterwegs mit Vollmacht, zu untersuchen und zu unterhandeln. Dies wirkte wie eine galvanische Batterie auf die Paralytiker. Gleichzeitig geben sich die Eisenbahnarbeiter ans Werk, ungefesselt durch Präzedenzien, Regulationen und Büroangewohnheiten. Sie sicherten einen Landungsplatz, setzten die Schaufel in Bewegung, errichteten Werften, Hütten, Dämme, und bevor die amüsanten alten Gentlemen es ahnten, war die erste Schiene gelegt. Unbedeutend wie die Eisenbahn wahrscheinlich für die Belagerung - alle ihre Vorteile waren wohlfeiler und einfacher zu erhalten -, erwies sie sich vom größten Nutzen durch das bloße Beispiel, durch den lebendigen Gegensatz des modernen industriellen Englands gegen das hilflose England der Routine. Die „Vorwärts"-Operationen der Eisenbahnarbeiter brachen den Zauber, der die ganze britische Armee befangen hielt, den Zauber, erzeugt durch das Gaukelbild phantastischer Unmöglichkeiten, das britische Offiziere und Soldaten dem dumpfen Fatalismus der Türken nahegebracht und sie verleitete, sicherem Ruin ruhig zuzusehen, als sei er
1 (hier:) ihnen ähnlichen
unvermeidliches Verhängnis. Mit den Eisenbahnarbeitern taucht in der Armee wieder auf das „Aide toi et le ciel t'aidera"1. In der Zeit von 6 Wochen nahm alles eine andere Gestalt an. Raglan und sein Stab, Divisions- und Brigadegenerale sind täglich in den Laufgräben, besichtigend und anordnend. Das Kommissariat hat Pferde, Karren und Treiber entdeckt und die Truppen Mittel, ihre Kranken und zum Teil sich selbst unter Dach zu bringen. Der ärztliche Stab hat die schreiendsten Greuel aus den Spitalzelten und Baracken entfernt. Munition, Kleidung, selbst frisches Fleisch und Vegetabilien fangen an, sich einzufinden. Ein gewisser Grad von Ordnung beginnt vorzuwalten, und soviel vom alten Übel noch immer zu heilen, ist die Besserung in den Zuständen unwidersprechbar und überraschend.
1 „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott"
Karl Marx
Die britische Armee
[„New-York Daily Tribüne" Nr.4364 vom 14. April 1855, Leitartikel] Wir haben jetzt den Bericht von mehr als einem Dutzend Sitzungen des berühmten vom Unterhaus ernannten Komitees vor uns, das den Zustand der britischen Armee in der Krim untersuchen soll. Zeugen aus den verschiedensten Gesellschaftssphären sind verhört worden, von dem Herzog von Cambridge bis nach unten, und ihre Aussagen stimmen erstaunlich überein. Alle Zweige der Administration haben Revue passiert, und alle sind nicht nur mangelhaft, sondern in einem skandalösen Zustand befunden worden. Der Armeestab, das medizinische Departement, das Lieferantendepartement, das Kommissariat, der Transportdienst, die Spitalverwaltung, die Gesundheits- und Disziplinarpolizei, die Hafenpolizei von Balaklawa sind alle miteinander ohne eine Stimme der Opposition verurteilt. Aber so schlecht, wie jedes Departement für sich betrachtet war, entwickelte sich die ganze Glorie des Systems nur im Kontakt und Zusammenwirken aller. Die Regulationen waren so schön arrangiert, daß, sobald sie, als die ersten Truppen in der Türkei landeten, in Kraft traten, niemand wußte, wo seine Autorität beginne oder wo sie ende, oder in irgendeiner Sache an wen sich wenden; und deshalb schob jeder aus heilsamer Furcht vor der Verantwortung alles von seinen Schultern auf die irgendeines anderen. Unter diesem System waren die Spitäler Schauplätze abscheulicher Brutalität. Nachlässigkeit und Indolenz wirkten sich am schlimmsten auf die Kranken und Verwundeten an Bord der Transportschiffe und nach ihrer Ankunft an ihrem Bestimmungsplatz aus. Die aufgedeckten Tatsachen sind unglaublich; tatsächlich ereignete sich nichts Schauderhafteres auf dem Rückzug von Moskau. Und doch passierten diese Dinge wirklich bei Skutari, im Angesicht Konstantinopels, einer großen Stadt mit allen Ressourcen an Tätigkeit und
materiellem Komfort. Es geschah nicht auf einem hastigen Rückzug, die Kosaken auf den Fersen der Flüchtigen, ihnen die Zufuhren abschneidend, sondern infolge einer teilweise erfolgreichen Kampagne, in einem vor jedem feindlichen Angriff gesicherten Platze, im großen Zentraldepot, wo Großbritannien seine Vorräte für seine Armee aufgehäuft. Und die Urheber all dieser Schrecken.und Greuel sind keine hartherzigen Barbaren. Sie sind, jeder von ihnen, britische Gentlemen von guter Herkunft, gut erzogen und mild, philanthropisch und religiös veranlagt. In ihrer persönlichen Eigenschaft waren sie ohne Zweifel bereit und willens, alles zu tun; in ihrer offiziellen Stellung war es ihre Pflicht, kühl und mit verschränkten Armen alle diese Scheußlichkeiten mit anzusehen, sich dessen bewußt, daß dieser Fall in keiner der Regulationen Ihrer Majestät enthalten wäre, die sie selbst beträfen! Eher sollen tausend Soldaten zugrunde gehen, als gegen die Regulationen Ihrer Majestät zu verstoßen. Und Tantalus gleich hatten die Soldaten zu sterben, im Angesicht, ja im Gerüche der Komforts, die ihnen ihr Leben retten konnten. Kein Mann an Ort und Stelle besaß die Energie, das Netzwerk der Routine zu durchbrechen, auf seine eigene Verantwortlichkeit zu handeln, wie die Bedürfnisse es geboten, und den Reglements zum Trotze. Nur eine einzige Person wagte das zu tun, und zwar ein Weib, MissNightingale. Nachdem sie sich einmal versichert, daß die nötigen Dinge aufgelagert waren, wählte sie eine Anzahl handfester Gesellen und beging in der Tat einen richtigen Einbruch in die Lagerhäuser der Königin! Die alten Weiber in Autorität zu Konstantinopel und Skutari waren Feiglinge bis zu einem Grade, der unglaublich scheinen würde, hätten wir nicht ihr eigenes offenes Zugeständnis. Einer von ihnen, Dr. Andrew Smith, eine Zeitlang Chef der Spitäler, ward befragt, ob in Konstantinopel keine Fonds vorhanden zum Ankauf oder kein Markt für die Beschaffung vieler der nötigen Dinge.
„0 jala, antwortete er. „Aber nach vierzigjähriger Routine und Plackerei daheim, versichere ich Ihnen, daß ich einige Monate durch kaum die Idee fassen konnte, daß ich in der Tat Fonds zu meiner freien Verfügung gestellt hatte!11'
Die schwärzesten Beschreibungen der Zustände, die sowohl in den Zeitungen wie in Parlamentsreden gegeben werden, werden durch die Wirklichkeit weit übertroffen, wie sie uns jetzt unterbreitet wird. Einige der empörendsten Tatsachen waren aufs Tapet gebracht worden, doch selbst diese erscheinen nun in einem noch düstereren Lichte. Obgleich das Bild bei weitem noch nicht vollständig ist, können wir doch genug davon erkennen, um das Ganze zu beurteilen. Abgesehen von den hinausgesandten Krankenschwestern gibt es in diesem Bilde nicht einen einzigen mildernden Zug. Eine Gruppe
ist so schlecht und so dumm wie die andere, und wenn das Komitee in seinem Bericht den Mut aufbringt, das auszusprechen, was die Beweise besagen,dann wird es in Verlegenheit kommen, in der englischen Sprache die Worte zu finden, die stark genug sind, um seine Verdammung auszudrücken. Angesichts dieser Enthüllungen ist es unmöglich, ein heftiges Gefühl des Unwillens und der Verachtung zu unterdrücken, nicht nur gegenüber den unmittelbaren Schuldigen, sondern vor allem gegen die Regierung, welche diese Expedition arrangiert hat und die die Schamlosigkeit besaß, die in die Augen springenden Tatsachen zu Fiktionen zu erklären. Wo bleibt jetzt diese große Koalition „all der Talente", diese Plejade von Staatsmännern, mit deren Amtsantritt das goldene Zeitalter über England aufgehen sollte? Whigs und Peeliten1111, Russelliten und Palmerstonianer, Iren und Engländer, LiberalKonservative und Konservativ-Liberale sie alle haben untereinander gegehökert und geschachert, und jeder, der auf einen Posten gesetzt wurde, entpuppte sich als ein altes Weib oder als ein erschrecklicher Dummkopf. Diese Staatsmänner waren so sicher, daß die Maschine, die sie seit dreißig Jahren gehandhabt haben, trefflich arbeiten würde, daß sie sogar nicht einmal eine Person mit außerordentlichen Vollmachten für unvorhergesehene Umstände hinschickten; unvorhergesehene Umstände können natürlich unter einer gut funktionierenden Regierung nie vorkommen! Diese britischen Minister, subaltern von Natur und aus Gewohnheit, haben, plötzlich auf Kommandoposten gestellt, England die größte Schande gebracht. Da ist der alte Raglan, der sein Leben lang ein erster Beamter bei Wellington war; ein Mann, dem niemals erlaubt wurde, auf eigene Verantwortung zu handeln; ein Mann, der dazu erzogen war, genau das zu tun, was ihm befohlen wurde, bis er 65 Jahre alt geworden war; und dieser Mann wird ganz plötzlich ernannt, eine Armee gegen den Feind zu führen und alle Fragen sofort und selbständig zu entscheiden! Und ein schönes Durcheinander hat er dabei angerichtet. Wankelmütigkeit, Mutlosigkeit, völliger Mangel an Selbstvertrauen, Festigkeit und Initiative charakterisieren jeden seiner Schritte. Wir wissen jetzt, wie kleinmütig er sich im Kriegsrat benahm, als der Krimfeldzug beschlossen wurde. Von einem prahlerischen Lumpenkerl wie S[ain]t-Arnaud ins Schlepptau genommen zu werden, den der alte Wellington mit einem trockenen ironischen Wort für immer zum Schweigen gebracht hätte! Dann dieser zaghafte Marsch nach Balaklawa, seine Hilflosigkeit bei der Belagerung und während der Leiden des Winters, als er nichts Besseres zu tun wußte, als sich zu verbergen. Dann gibt es den Lord Hardinge von ebenso subalternem Charakter, der die Armee hier im Lande kommandiert. Obwohl er ein alter Soldat ist, könnte man aus seiner Verwaltung und aus der Art, wie er sie im Oberhaus
verteidigt, schließen, daß er sich niemals außerhalb seiner Kasernen oder seiner Kanzlei befunden hat. Wenn man sagt, daß er absolut kein Verständnis hat für die allerwichtigsten Bedürfnisse einer aktiven Armee, oder daß er zu faul war, sich diese wieder ins Gedächtnis zu rufen, ist das die günstigste Meinung, die man von seinem Fall haben kann. Dann kommen Peels Sekretäre - Cardwell, Gladstone, Newcastle, Herbert und tutti quanti1. Sie sind wohlerzogene, gut aussehende Gentlemen, deren elegantes Benehmen und Vornehmheit der Gefühle ihnen nicht erlauben, eine Sache grob zu behandeln oder auch nur mit einem Anschein von Entscheidung in den Angelegenheiten dieser Welt zu handeln. „In Erwägung ziehen" ist ihre Redewendung. Sie ziehen alles in Erwägung. Sie wollen jede Sache in Erwägung ziehen. Sie ziehen jeden in Erwägung, durch welches In-Erwägung-Ziehen sie annehmen, von jedem in Erwägung gezogen zu werden. Alles bei ihnen muß rund und glatt sein. Nichts ist widerwärtiger als die eckigen Formen, die Kraft und Energie bezeichnen. Diese milden, wahrheitsliebenden und frommen Gentlemen verleugneten schamlos alle von der Armee kommenden Berichte darüber, daß sie durch die schlechte Führung ruiniert werde, da sie von der Perfektion ihrer Regierung a priori überzeugt waren und die beste Autorität für diese Dementis hatten; und als die Angelegenheit beharrlich weiterging, und als die offiziellen Berichte vom Kriegsschauplatz sie sogar zwangen, Teile dieser Erklärung zuzugeben, klangen in ihren Dementis nach wie vor Schärfe und Zorn hervor. Ihre Opposition gegen Roebucks Antrag auf eine Untersuchung ist das skandalöseste Beispiel des öffentlichen Beharrens bei der Unwahrheit. Die Londoner „Times", Layard, Stafford und selbst ihr eigener Kollege Russell beschuldigen sie der Lüge, doch sie blieben dabei. Das ganze Unterhaus mit einer Zweidrittelmehrheit beschuldigte sie der Lügen, doch sie blieben nach wie vor dabei. Jetzt stehen sie überführt vor dem Komitee Roebucks, doch soviel wir wissen, bleiben sie immer noch dabei. Doch ihr Beharren ist jetzt zu einer Sache von geringer Bedeutung geworden. Die in ihrer ganzen schrecklichen Realität der Welt enthüllte Wahrheit wird unvermeidlich zu einer Reform am System und in der Verwaltung der britischen Armee führen.
Geschrieben am 28. März 1855. Aus dem Englischen.
1 ihnen ähnliche
Friedrich Engels
Der Verlauf des Krieges
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4366 vom 17.April 1855, Leitartikel] Während die Diplomaten in Wien zusammengekommen sind, um über das Schicksal Sewastopols zu verhandeln, und die Alliierten unter den bestmöglichen Bedingungen versuchen, Frieden zu schließen, gehen die Russen auf der Krim überall wieder zur Offensive über, wobei sie sich die Fehler ihrer Gegner sowie ihre eigene zentrale Position im Lande zunutze machen. Wenn man sich der Prahlereien erinnert, mit denen die Alliierten ihre Invasion begonnen haben, so erscheint die Lage der Dinge recht merkwürdig und wirkt wie eine ungeheure Satire auf menschlichen Dünkel und Torheit. Aber trotz dieser seiner komischen Seite ist das Drama im Grunde zutiefst tragisch; wir laden deshalb unsere Leser wiederum ein zu einer ernsthaften Betrachtung der Tatsachen, wie sie sich aus unseren letzten Nachrichten ergeben, die wir Sonntag morgen mit der „America" erhalten haben11221. Zu Eupatoria sitzt Omer Pascha nun faktisch fest auf der Landseite. Ihre Überlegenheit an Kavallerie erlaubt den Russen, ihre Piketts und Vedetten nahe an die Stadt zu legen, die Umgegend mit Patrouillen zu durchstreifen, die die Zufuhren abschneiden und im Fall eines ernstlichen Ausfalls auf ihre Infanterie zurückfallen. So, wie wir vermuteten1, tun sie alles, eine überlegene türkische Streitkraft mit vielleicht nicht mehr als einem Viertel oder einem Drittel ihrer Anzahl in Schach zu halten11231. Omer Pascha harrt auf die Ankunft von Kavallerieverstärkungen und war in der Zwischenzeit imfranzösisch-englischen Lager, seine Alliierten zu unterrichten, daß er für den Augenblick nichts tun könne und daß eine Verstärkung von einigen 10000 französischen Soldaten sehr wünschenswert sei. Zweifelsohne, aber nicht minder wünschenswert für Canrobert selbst, der bereits entdeckt haben muß, daß er zur selben Zeit zuviel und auch zuwenig Truppen zur Verfügung hat zuviel für die bloße Fortführung der Belagerung als solche und für die Ver
1 Siehe vorl. Band, S. 121-123
teidigung der Tschornaja; aber nicht genug, um von der Tschornaja hervorzubrechen, die Russen ins Innere zu treiben und das Nordfort einzuschließen. Die Detachierung von 10000 Mann nach Eupatoria würde die Türken nicht befähigen, mit Erfolg ins Feld zu rücken; zumal ihre Abwesenheit die französische Armee gerade dann schwächen würde, wenn sie zusammen mit den im Frühjahr eintreffenden Verstärkungen ins Feld rücken sollte. Mit der Belagerung sieht es zur Zeit recht trostlos aus. Die Nachtattacke der Zuaven am 24. Februar war in ihren Resultaten sogar noch verheerender, als wir vor einer Woche berichteten.1 Aus Canroberts eigener Depesche geht hervor, daß er selbst nicht verstand, was er vorhatte, als er diese Attacke befahl. Er sagt: »Da der Zweck der Attacke nun erreicht war, zogen sich unsere Truppen zurück, weil niemand daran denken konnte, daß wir uns an einem Punkt festsetzen könnten, der so vollständig unter feindlichem Feuer lag.u Aber was für ein Zweck war denn erreicht? Was war da zu tun, wenn die Stellung nicht gehalten werden konnte? Absolut nichts. Die Zerstörung der Redoute war nicht vollendet und konnte unter dem feindlichen Feuer auch nicht vollendet worden sein, selbst wenn die Zuaven, wie der erste Bericht vorgab, für kurze Zeit das Werk gänzlich genommen hatten. Aber das war nie der Fall; der russische Bericht stellt das ganz entschieden in Abrede, und Canrobert besteht auch auf nichts dergleichen. Aber was bezweckte dann diese Attacke? Einfach folgendes: Da Canrobert sah, daß sich die Russen in einer Position etablierten, die die Belagerer in eine sehr schwierige und zugleich erniedrigende Lage brachte, schickte er ohne Überlegung, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, den möglichen Ausgang der Affäre zu prüfen, seine Truppen zum Angriff vor. Das war eine völlig sinnlose Metzelei, die ein Schandfleck auf Canroberts militärischer Reputation bleiben wird. Wenn sich überhaupt eine Entschuldigung finden läßt, so liegt sie nur in der Annahme, daß die französischen Truppen den Sturm nicht mehr erwarten konnten und der General ihnen deshalb einen leichten Vorgeschmack eines solchen Sturms geben wollte. Aber diese Entschuldigung diskreditiert Canrobert ebenso wie der Angriff selbst. Bei der Affäre am Malachow bewiesen die Russen ihre Superiorität zu Lande unmittelbar vor ihren Defensivwerken. Das auf dem Hügelkamm gelegene und von den Zuaven vergeblich angegriffene Werk wird von ihnen nach dem Regiment, das es verteidigt, die Selenginsk-Redoute genannt. Sie machten sich sofort daran, ihren Vorteil auszubauen und die so gewonnene
1 Siehe vorl. Band, S, 152/153
Siegesgewißheit zu nutzen. Selenginsk wurde erweitert und verstärkt, Kanonen wurden hinaufgebracht, obwohl sie durch schwerstes Feuer der Belagerer hindurch mußten, und Konterapprochen wurden von dort aus angelegt, wahrscheinlich, um vor der Redoute ein oder zwei kleinere Werke zu errichten. Ebenso ist auf einem anderen Platze, in der Front der KornilowBastion, eine Reihe von neuen Redouten aufgeworfen worden, 300 Yards weiter als die alten russischen Befestigungswerke. Auf Grund früherer britischer Berichte scheint eine solche Maßnahme recht erstaunlich, denn es war uns immer gesagt worden, die Alliierten hätten ihre eigenen Laufgräben in einer geringeren Entfernung von den russischen Linien aufgeworfen. Aber wie wir vor ungefähr einem Monat aus bester kriegswissenschaftlicher Quelle feststellen konnten, waren die französischen Linien noch einige 400 Yards von den russischen Vorwerken entfernt und die britischen sogar doppelt so weit. Jetzt endlich, im Brief vom 16.März, gesteht der „Times"-Korrespondent, daß selbst an letzteren Daten die britischen Trancheen noch 600 bis 800 Yards entfernt waren, und daß in der Tat die Batterien, die im Begriff stehen, auf den Feind zu spielen, dieselben sind, die ihr Feuer am vergangenen 17. Oktober eröffneten! Das also ist der große Fortschritt in der Belagerung das das Voranstoßen der Laufgräben, das zwei Dritteilen der britischen Armee das Leben gekostet hat! Unter diesen Umständen war Platz genug Vorhemden in dem Zwischenraum zwischen den beiden Batterielinien zur Errichtung der neuen russischen Werke; aber dennoch bleibt es ein Unternehmen sondergleichen, das kühnste und geschickteste, das je eine belagerte Garnison unternommen hat. Es läuft ,auf nichts anderes hinaus als auf das Eröffnen einer neuen Parallele gegen die Alliierten auf einer Distanz von 300-400 Yards von ihren Werken; auf eine Konterapproche auf der größten Stufenleiter gegen die Belagerer, die dadurch mit einemmal in die Defensive geworfen werden, während die erste wesentliche Bedingung einer Belagerung die ist, daß die Belagerer die Belagerten in die Defensive werfen. So hat sich das Blatt völlig gewendet, und die Russen sind stark im Aufstieg. Was für Fehler und phantastische Experimente die russischen Ingenieure unter Schilder bei Silistria auch immer gemacht haben mögen, hier bei Sewastopol haben die Alliierten es augenscheinlich mit einem ganz anderen Menschenschlag zu tun. Die genaue und rasche Orientierung, die unverzügliche, kühne und fehlerfreie Ausführung, die die russischen Ingenieure beim Aufwerfen ihrer Linien um Sewastopol an den Tag gelegt haben, die unermüdliche Aufmerksamkeit, mit der jeder schwache Punkt geschützt wurde, sobald der Feind ihn entdeckt hatte, die ausgezeichnete Anordnung der Feuer
Knie, die es möglich macht, auf jeden gegebenen Punkt des Frontgeländes ein dem Belagerer überlegeneres Feuer zu konzentrieren - die Vorbereitung einer zweiten, dritten und vierten Fortifikationslinie hinter der ersten mit einem Wort, die ganze Führung dieser Verteidigung war klassisch. Das letzte offensive Vorrücken am Malachow-Hügel und vor der Kornilow-Bastion findet in der Geschichte der Belagerungen nicht ihresgleichen und stempelt ihre Urheber zu erstklassigen Größen auf ihrem Gebiet. Es ist nur recht und billig, hinzuzufügen, daß Oberst Todtieben, Chef des Ingenieurwesens in Sewastopol, eine verhältnismäßig unbekannte Gestalt im russischen Kriegsdienst ist. Aber wir dürfen die Verteidigung Sewastopols nicht für ein typisches Beispiel der russischen Ingenieurkunst halten. Der Durchschnitt von Silistria und Sewastopol kommt den wahren Verhältnissen näher. Sowohl auf der Krim als auch in England und Frankreich beginnt man nun - wenn auch nur allmählich - zu entdecken, daß keine Chance vorhanden ist, Sewastopol im Sturm zu nehmen. In dieser peinlichen Verlegenheit hat sich die Londoner „Times" an eine „hohe kriegswissenschaftliche Autorität" gewandt und erfahren, daß das einzig Vernünftige sei, die Offensive zu ergreifen entweder durch Überschreiten der Tschornaja und Bewirken einer Vereinigung mit den Türken unter Omer Pascha, sei es vor oder nach einer Schlacht gegen die russische Observationsarmee, oder durch eine Diversion nach Kaffa, die die Russen zwingen würde, sich zu zersplittern. Da die alliierte Armee nun 110000-120000 Mann zählt, so müssen solche Bewegungen in ihrer Gewalt sein. Nun weiß niemand besser als Canrobert und Raglan, daß ein Überschreiten der Tschornaja und eine Vereinigung mit Omer Paschas Armee sehr wünschenswert wäre; aber wie wir schon immer wieder bewiesen haben1, gibt es unglücklicherweise auf den Höhen vor Sewastopol die 110000 bis 120000 Mann der Alliierten gar nicht und hat es auch nie gegeben. Am I. März ging ihre Zahl nicht über 90000 dienstfähige Mann hinaus. Was aber eine Expedition nach Kaffa betrifft, so könnten die Russen nichts Besseres wünschen, als die alliierten Truppen nach drei verschiedenen Punkten 60-150 Meilen von dem Zentralpunkt entfernt zerstreut zu sehen, während sie an keinem der zwei Punkte, die sie nun innehaben, hinreichend stark sind, um die Aufgabe vor ihnen zu lösen! Offensichtlich hat die „hohe kriegswissenscha*1 iche Autorität" der „Times" einen Bären aufgebunden, wenn sie ihr ernstlicii den Rat gibt, sich für eine Neuauflage der Eupatoria-Expedition einzusetzenl
Geschrieben um den 30. März 1855. Aus dem Englischen.
1 Siehe z.B. vorl. Band, S. 76/77
Friedrich Engels
Über die Situation in der Krim
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 155 vom 2. April 1855] Londony 30. März. Die Berichte über den Fortschritt der Friedensverhandlungen wechseln täglich Farbe und Ton. Heute ist der Friede sicher, morgen der Krieg. Palmerston, in der „Post", sprüht Schwerter und Kanonen Beweis, daß er sobald als möglich Frieden schließen will. Napoleon befiehlt seiner Presse, Friedenspsalmen zu schreiben - sicherste Probe, daß er den Krieg fortzusetzen denkt. Der Fortschritt der Ereignisse in der Krim deutet auf nichts weniger als baldigen Fall Sewastopols. Zu Eupatoria sitzt Omer Pascha nun faktisch fest, auf der Landseite. Ihre Überlegenheit an Kavallerie erlaubt den Russen, ihre Piketts und Vedetten ganz nahe an die Stadt zu legen, die Umgegend mit Patrouillen zu durchstreifen, die die Zufuhren abschneiden, und im Fall eines ernstlichen Ausfalls auf die weiter ab postierte Infanterie zurückzufallen. So wie wir vorher vermuteten1, gelingt es ihnen, eine überlegene türkische Streitkraft mit einem Viertel oder einem Drittel ihrer Anzahl in Schach zu halten. Der Ausfall, den die türkische Kavallerie unter Iskender Beg (der Pole Ilinski, glorreich bekannt von Kalafat) machte, wurde zurückgewiesen durch eine gleichzeitige Charge von 3 russischen Detachements, die von 3 verschiedenen Punkten angriffen. Wie alle schlecht einexerzierte und unsichere Kavallerie machten die Türken, statt köpflings mit dem Säbel in der Faust auf die Russen herzufallen, in einer respektvollen Entfernung halt und begannen ihre Karabiner abzufeuern. Dies unzweideutige Zeichen der Unentschlossenheit trieb die Russen in die Offensive. Iskender Beg versuchte mit einer Eskadron einzuhauen, wurde aber von allen außer denBaschi-Bosuks2 im Stich gelassen und hatte seinen Rückzug mitten durch
1 Sieke vorl. Band, S. 121-123 - 2 (eigentl. Wirrköpfe, Tollköpfe) irreguläre türkische Truppen, eine Art Landsturm
die Russen zu erzwingen. Omer Pascha harrt auf die Ankunft von Kavallerieverstärkungen und war in der Zwischenzeit im französisch-englischen Lager, die Alliierten zu unterrichten, daß er für den Augenblick nichts tun könne und daß eine Verstärkung von einigen 10000 französischen Truppen sehr wünschenswert sei. Zweifelsohne, aber nicht minder wünschenswert für Canrobert selbst, der bereits entdeckt hat, daß er zur selben Zeit zuviel und zuwenig Truppen zur Verfügung hat. Zuviel für die Belagerung von Sewastopol in der alten Weise und die Verteidigung der Tschornaja; nicht genug, um von der Tschornaja hervorzubrechen, die Russen ins Innere zu treiben und das Nordfort1 einzuschließen. Die Detachierung von 10000 Mann nach Eupatoria würde die Türken nicht befähigen, mit Erfolg ins Feld zu rücken, die französische Armee aber für Operationen im freien Feld schwächen. Die Belagerung wird täglich eine kritischere Affäre für die Belagerer. Wir haben gesehen, daß die Russen am 24. Februar die Redoute auf dem Berge Sapun (vor den Malachow-Werken) hielten11241. Sie haben diese Redoute nun vergrößert, verstärkt, Kanonen auf ihr aufgepflanzt und ContreApprochen von ihr aus unternommen. Ebenso ist auf einem anderen Platze, in der Front der Kornilow-Bastion, eine Reihe von neuen Redouten aufgeworfen worden, 300 Yards weiter als die alten russischen Befestigungswerke. Dem Leser der „Times" muß dies unerklärlich sein, da ihr zufolge schon längst die Alliierten ihre eigenen Laufgräben in einer geringem Entfernung von den russischen Linien aufgeworfen hatten. Jetzt endlich, z.B. in seinem Briefe vom 16. März, gesteht der „Times"-Korrespondent, daß selbst an letzteren Daten die britischen Trancheen noch 600-800 Yards entfernt waren und daß in der Tat die Batterien, die im Begriff stehen, auf den Feind zu spielen, dieselben sind, die ihr Feuer am vergangenen 17. Oktober eröffneten. Das also der große Fortschritt in der Belagerung, das das Voranstoßen der Laufgräben, das zwei Dritteilen der englischen Armee Leben oder Gesundheit gekostet hat! Unter diesen Umständen war Platz genug vorhanden in dem Zwischenräume zwischen den zwei Batterielinien zur Errichtung der neuen russischen Werke. Diese können als Eröffnen einer neuen Parallele gegen die Belagerer, auf einer Distanz von 300-400 Yards von ihren Werken, als eine Contre-Approche auf der größten Stufenleiter gegen die einschließende Armee betrachtet werden. Letztere ist so in die Defensive geworfen, während die erste wesentliche Bedingung einer Belagerung, daß die Belagerer die Belagerten in die Defensive werfen. Wie im Lager vor Sewastopol, beginnt man nun in England zu entdecken,
1 In der „Neuen Oder-Zeitung": die „Stadtseite"; vgl. S. 170
daß keine Chance vorhanden ist, Sewastopol im Sturme zu nehmen. In dieser Verlegenheit hat sich die „Times" an eine „hohe kriegswissenschaftliche Autorität" gewandt und erfahren, daß es nötig ist, die Offensive zu ergreifen, entweder durch Überschreiten der Tschornaja und Bewirken einer Vereinigung mit den Türken unter Omer Pascha, sei es vor oder nach einer Schlacht gegen die russische Observationsarmee oder durch eine Diversion nach Kaffa, die die Russen zwingen würde, sich zu zersplittern. Da die alliierte Armee nun 110000-120000 Mann zählt, so müssen solche Bewegungen in ihrer Gewalt sein. So die „Times". Nun weiß niemand besser als Raglan und Canrobert, daß eine Vereinigung mit Omer Paschas Armee sehr wünschenswert, aber unglücklicherweise haben die Alliierten auf den Höhen vor Sewastopol bis jetzt [nicht] über 110000 bis 120000, sondern höchstens über 80000-90000 dienstfähige Mann zu verfügen gehabt. Was aber eine Expedition nach Kaffa betrifft, so könnten die Russen nichts Besseres wünschen: Die alliierten Truppen nach drei verschiedenen Punkten zerstreuen, 60-150 Meilen von dem Zentralpunkt entfernt, während sie an keinem der zwei Punkte, die sie nun innehaben, hinreichend stark sind, um die Aufgabe vor ihnen zu lösen! Es scheint, daß die „Times" sich ihren Rat bei „russischen" Kriegsgelehrten geholt hat. Da die 11. und 12. französische Division nun auf dem Wege, wenigstens teilweise, und der Rest sowie die 13. und 14. Division und die zwei piemontesischen Divisionen im Begriff sind zu folgen, wird die alliierte Armee vor Ende Mai zu einer Stärke gebracht sein, die sie zugleich befähigen und zwingen wird, von der defensiven Position an der Tschornaja voranzumarschieren. Die Truppen werden zu Konstantinopel konzentriert und wahrscheinlich alle zusammen verschifft werden, so daß sie möglichst kurze Zeit auf dem fatalen Chersones zu verweilen haben werden. Diese Maßregel wird einige Verzögerung verursachen, sichert aber große Vorteile. Die Verstärkungen, die bisher nach und nach in kleinen Abteilungen zur Krim verschickt worden, obgleich zusammengenommen eine Armee, stärkten die Expeditionsarmee nie hinreichend, um sie zu Offensivoperationen zu befähigen.
Karl Marx
Ein Skandal in der französischen Legislativen Drouyn de Lhuys' Einfluß - Zustand der Miliz
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 163 vom 7. April 1855]
London, 3. April. Man schreibt uns aus Paris: „ Im bonapartistischen Corps Legislatif1 kam es zu einer Szene, die nicht bis zur englischen Presse gedrungen ist. In der Debatte über das Remplacementsgesetzt12 sprang Grcmier de Cassagnac auf - nach der Rede von Montalembert - und schwatzte in seiner Wut aus der Schule. Wenn dies Gesetz erst in Kraft tritt, sagte er, wird die Armee werden, was sie sein sollte, der Ordnung und dem Kaiser ergeben, und wir werden nie mehr den schimpflichen Anblick von Soldaten sehen, die die Flinten umdrehn" (soldats ä baionnettes renvers£es). »Dieser Schluß einer Rede, worin das Janitscharentum offen als Ideal für die Armee gepredigt wurde, erregte selbst in dieser Versammlung lautes Murren, undGranier mußte niedersitzen. Ein anderer Legislativer sprang auf und geißelte Gramer. Der Skandal war so groß, daß selbst Momy den Cassagnac" (Guizot nannte ihn bekanntlich, als er noch sein Winkelblattchen, den „Globe", redigierte: le roi des droles2) „auffordern mußte, sich zu erklären. Granier tat förmliche Abbitte mit dem größten Kleinmut und trug selbst darauf an, daß dieser Zwischenfall im ,Moniteur* mit Stillschweigen übergangen werde. Die Sitzung war so stürmisch wie in den schönsten Tagen der Louis-Philippeschen Deputiertenkammer."
„Das britische Publikum", sagt der heutige „Morning Chronicle", „ist zum Schlüsse gekommen, daß Herr Drouyn de Lhuys nach Wien gereist ist, um als eine Art von Ohrenbläser oder Flügelschläger auf Lord John Russell zu wirken, dessen Verhalten bisher weder seinen eignen Landsleuten noch unsem Alliierten Genüge getan hat. Der edle Lord ist berüchtigt für seine Einfälle und Ausfälle von Patriotismus und Liberalismus, für seinen extremen öffentlichen Geist, solange er in der Opposition ist oder politisches Kapital machen muß, und für sein Zusammenklappen, sobald die unmittelbare Notwendigkeit vorüber. Etwas der Art scheint ihm bei der gegenwärtigen
1 Gesetzgebenden Körper - 2 den König der durchtriebenen Kerle
Gelegenheit passiert zu sein, und das Volk beginnt zu murren... Seit der Anwesenheit des Herrn Drouyn de Lhuys zu London macht sich ein mehr entschiedener Ton in hohen Zirkeln bemerkbar. Es hat selbst verlautet, daß seine Mission so weit erfolgreich war, daß die friedlichen Aspirationen des Lord John Russell offiziell durchkreuzt worden sind, und daß unser Mann von Energie1 (Palmerston) »widerstrebend seine Einwilligung zu einem Ultimatum gegeben, das Rußland wahrscheinlich mit Verachtung zurückweisen wird." Die englische Armee ist verschwunden, und die englische Miliz ist im Verschwinden begriffen. Die Miliz, die unter Lord Derby geschaffen wurde durch die Parlamentsakte von 1852, sollte gesetzlich unter gewöhnlichen Umständen nicht über 28 Tage in jedem Jahre einberufen werden. Im Falle eines Invasionskrieges jedoch oder eines anderen großen und unmittelbaren Anlasses sollte sie für permanenten Dienst einverleibt werden können. Durch Parlamentsakte von 1854 dagegen waren alle nach dem 12. Mai 1854 Angeworbenen verpflichtet, so lange zu dienen, als der Krieg währe. Die Frage ward nun aufgeworfen, wie es sich mit den Verpflichtungen der unter der Akte von 1852 Angeworbenen verhalte! Die Kronsyndici erklärten, sie hielten diese Kategorie ebenfalls zu permanentem Dienst während des Krieges verpflichtet. Lord Panmure, im Widerspruch mit dieser juristischen Entscheidung, erließ vor einigen Wochen eine Verordnung, wonach alle vor der Akte von 1854 Angeworbenen austreten können, dagegen eine Prämie von 1 Pfd.St. erhalten, wenn sie sich neu für fünf Jahre einschreiben lassen. Da gegenwärtig die Prämie für Rekruten, die für 2 Jahre in die reguläre Armee treten, 7Pfd.St. in der Infanterie und 1 OPfd.St. in der Kavallerie beträgt, war diePrämie von nur 1 Pfd.St. für fünfjährigen Dienst in der Miliz das unfehlbarste Mittel, letztere aufzulösen. Lord Palmerston, der beinahe ein Jahr mit Einberufung der Miliz gezögert, scheint sie sobald wie möglich wieder loswerden zu wollen. Demgemäß erfahren wir, daß in den letzten vierzehn Tagen ein Milizregiment nach dem andern von 2/3 bis 5/8 seiner Mannschaft verloren hat. So sind in dem ersten Regiment der Somerset-Miliz 414 Mann von 500 ausgeschieden, in der North-Durham-Miliz 770 von 800, in der Leicester-Miliz 340 von 460, in der Suffolk-Artillerie 90 von 130 usw.
Karl Marx
Die Aussichten in Frankreich und England
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4375 vom 27. April 1855] London, Dienstag, 10. April 1855 Erlauben Sie mir, nach einer längeren Pause meine Korrespondenz in der „Tribüne" wieder aufzunehmen. Gestern und heute werden höchstwahrscheinlich die beiden ersten entscheidenden Tage der Wiener Konferenz1301 sein, da sie am 9. in Gegenwart des Herrn Drouyn de Lhuys eröffnet werden sollte und gleichzeitig erwartet wurde, daß der russische Botschafter seine Instruktionen wegen des dritten und vierten Punktes bekommen hat. Die Reise des Herrn Drouyn de Lhuys wurde von Anfang an an sämtlichen Börsen als sicheres Friedenssymptom in den Himmel gehoben. Es wurde gesagt, daß ein so hervorragender Diplomat sicherlich nicht persönlich an den Verhandlungen teilnehmen würde, wäre er nicht seines Erfolges sicher. Was die „hervorragende Qualität" dieses Diplomaten anbelangt, so ist sie von einer sehr sagenhaften Natur und existiert hauptsächlich nur in den von ihm bezahlten Zeitungsartikeln, durch die er sich zu einem zweiten Talleyrand erheben läßt, als ob seine langjährige Karriere unter Louis-Philippe nicht schon seit langem seine „hervorragende" Mittelmäßigkeit etabliert hätte. Der wahre Grund seiner Reise ist aber der: Lord John Russell hat es durch seine allbekannte Unkenntnis der französischen Sprache binnen wenigen Wochen fertiggebracht, die Alliierten in Konzessionen zu verwickeln, die er gewiß niemals machen wollte und die zurückzuziehen außerordentlich schwer sein dürftp. Lord Johns Französisch ist die Art des typischen John Bull, so wie es „Mylord" in „Fra Diavolo"[126J spricht und in anderen ehedem in Frankreich populären Stücken. Es fängt mit den Worten „Monsieur Taubergiste"1 an und endigt mit den Worten „trfes bien"2. Versteht er nur die Hälfte von dem, was man zu ihm spricht, so
1 „Herr Gastwirt" -2 „sehr gut"
hat er die Genugtuung in dem Bewußtsein, daß andere Leute von dem, was er von sich gibt, noch weniger verstehen. Gerade aus diesem Grund schickte ihn aber sein Freund und Rivale Lord Palmerston nach Wien, erwägend, daß ein paar grobe Fehler auf diesem Schauplatz genügen dürften, um dem armen kleinen John endgültig das Genick zu brechen. Und so ist es auch wirklich gekommen. Meistens konnte er nicht verstehen, wovon die Rede war, und eine jede rasche und unerwartete Interpolation Gortschakows oder Buols entlockte dem unglückseligen diplomatischen Debütanten unfehlbar ein verlegenes „tr&s bien". So konnte es geschehen, daß Rußland und bis zu einem gewissen Grade auch Österreich die Behauptung aufstellen konnten, daß in einigen Punkten, wenigstens soweit sie England betreffen, bereits eine Übereinstimmung erzielt sei, die der arme Lord John niemals zuzugestehen die Absicht hatte. Selbstverständlich hatte Palmerston dagegen nichts einzuwenden, solange die Schuld seinen unglücklichen Kollegen trifft. Doch kann es Louis Bonaparte nicht zulassen, auf diese Weise zum Frieden überlistet zu werden. Um dieser Art von Diplomatie einen Riegel vorzuschieben, hat die französische Regierung sich daher plötzlich entschlossen, die Dinge zur Entscheidung zu bringen. Sie stellte ein Ultimatum auf, mit dem Drouyn de Lhuys nach London ging, wo er die Zustimmung der britischen Regierung erlangte, und das er dann mit sich nach Wien nahm. Man kann ihn daher jetzt als den gemeinsamen Vertreter von Frankreich und England betrachten, und es ist nicht daran zu zweifeln, daß er diese Stellung im besten Interesse seines Herrn ausnützen wird. Und da das einzige und ausschließliche Interesse Louis Bonapartes darin besteht, feinen Frieden zu schließen, ehe er nicht neuen Ruhm und neue Vorteile für Frankreich errungen und ehe nicht der Krieg seinen Zweck als „moyen de gouvernementttl voll und ganz erfüllt hat, wird es klar, daß Drouyns Mission, weit entfernt davon, eine friedliche zu sein, im Gegenteil nichts anderes bezweckt, als eine Fortdauer des Krieges unter jedem nur halbwegs schicklichen Vorwand zu sichern. Bei der Bourgeoisie Frankreichs und Englands ist dieser Krieg entschieden unpopulär. Bei der französischen war er es von allem Anfang an, denn diese Klasse stand seit dem 2. Dezember181 stets in voller Opposition zur Regierung des „Retters der Gesellschaft". In England war die Bourgeoisie geteilt. Die große Masse hat ihren Nationalhaß von den Franzosen auf die Russen übertragen. Obgleich John Bull gerne selbst in Indien hie und da ein kleines Annexionsgeschäft vornimmt, so denkt er gar nicht daran, anderen Nationen zu erlauben, in anderen Gegenden dasselbe zu tun, wenn diese England oder
1 „Mittel der Verwaltung"
seinen Besitzungen beunruhigend nahe sind. Rußland war das Land, das in dieser Hinsicht schon längst seinen eifersüchtigen Argwohn erregte. Der ins Ungeheure anwachsende britische Handel nach der Levante und über Trapezunt nach Innerasien macht die freie Schiffahrt durch die Dardanellen zu einem Punkt von höchster Wichtigkeit für England. Es kann nicht zulassen, wie Rußland nach und nach die Donauländer aufsaugt, deren Wert als Kornkammer beständig wächst, und ebensowenig kann es erlauben, daß Rußland die Schiffahrt auf der Donau sperrt. Russisches Getreide spielt bereits eine übermächtige Rolle in der britischen Konsumtion; eine Annexion der kornproduzierenden Nachbarländer durch Rußland würde Großbritannien von ihm und den Vereinigten Staaten ganz abhängig machen und diese beiden Länder in Regulatoren des Getreidemarktes der ganzen Welt verwandeln. Außerdem zirkulieren in England einige unbestimmte und alarmierende Gerüchte über Rußlands Vordringen in Zentralasien; diese Gerüchte werden von daran interessierten indischen Politikern und erschreckten Phantasten aufgegriffen und durch die allgemeine geographische Unkenntnis von dem britischen Publikum gläubig hingenommen. Als daher Rußland seine Aggression gegen die Türkei begann, brach der nationale Haß elementar hervor, und nie war vielleicht ein Krieg so populär wie dieser. Die Friedenspartei11081 mußte zeitweilig schweigen, und die Masse ihrer eigenen Mitglieder ließ sich sogar von der allgemeinen Strömung mitreißen. Wer aber den Charakter der Engländer kennt, der mußte wissen, daß diese Kriegsbegeisterung nicht von langer Dauer sein konnte, wenigstens soweit die Bourgeoisie in Betracht kam. Sobald die Wirkung des Krieges auf ihre Taschen in Form von Steuern sich fühlbar machte, siegte natürlich der kaufmännische Verstand über den Nationalstolz, und die Einbuße unmittelbarer persönlicher Profite wog natürlich schwerer als die Gewißheit des allmählichen Verlustes großer nationaler Vorteile. Die Peeliten1111, dem Kriege abhold nicht so sehr aus wahrer Friedensliebe als aus Beschränktheit und Zaghaftigkeit, die alle großen Krisen und jede entschiedene Aktion verabscheut, boten alles auf, schleunigst den großen Moment herbeizuführen, wo jeder britische Kaufmann und Fabrikant bis auf den letzten Heller sich berechnen konnte, was ihn persönlich der Krieg per annum1 kosten würde. Herr Gladstone, die vulgäre Idee einer Anleihe verschmähend, verdoppelte sofort die Einkommensteuer und stellte die Finanzreform ein. Sofort zeigte sich das Resultat. Die Friedenspartei erhob wieder ihr Haupt. Herr Bright erkühnte sich, mit dem an ihm wohlbekannten Feuer und mit Zähigkeit gegen die herrschende Stimmung aufzutreten, bis es
1 pro Jahr
ihm gelang, die Industriedistrikte für sich zu gewinnen. In London ist die Stimmung zwar immer noch mehr für den Krieg; aber sogar hier ist der Einfluß der Friedenspartei sichtbar. Auch darf man nicht vergessen, daß die Friedensgesellschaft niemals zu irgendeiner Zeit irgendwelchen nennenswerten Einfluß in der Hauptstadt hatte. Trotzdem nimmt ihre Agitation in allen Teilen des Landes zu, und ein zweites Jahr verdoppelter Einkommensteuer, dazu eine Anleihe - denn diese wird jetzt als unvermeidlich angesehen und die letzte Spur kriegerischen Geistes unter den gewerbe- und handeltreibenden Klassen ist ausgerottet. Ganz anders liegt der Fall bei der Masse des Volkes in beiden Ländern. Die Bauernschaft in Frankreich war seit 1789 der heißeste Verfechter des Krieges und des Kriegsruhms. Dieses Mal sind die Bauern sicher, nicht viel von der Bedrängnis des Krieges zu spüren; denn in einem Lande, wo der Grund und Boden unter den kleinen Eigentümern unendlich zersplittert ist, befreit die Aushebung zu Kriegsdiensten nicht nur die Ackerbau treibenden Distrikte von überschüssigen Arbeitskräften, sondern sie gibt auch noch jedes Jahr einigen 20000 jungen Menschen Gelegenheit, ein rundes Sümmchen Geld dadurch zu verdienen, daß sie sich als Stellvertreter anwerben lassen. Nur ein langwieriger Krieg würde schwer empfunden werden. Kriegssteuern darf der Kaiser den Bauern nicht auferlegen, wenn er nicht Krone und Leben riskieren will. Sein einziges Mittel, den Bonapartismus unter ihnen zu erhalten, besteht darin, sie von Kriegssteuern zu befreien und dadurch ihre Gunst zu erkaufen, und so mögen sie noch mehrere Jahre von dieser Art der Bedrückung frei bleiben. Ähnlich liegt der Fall in England. In der Landwirtschaft herrscht gewöhnlich Überfluß an Arbeitskräften, und aus ihnen rekrutiert sich die Hauptmasse des Militärs, das erst in einer späteren Periode des Krieges einen starken Zusatz aus dem Rowdytum der Städte bekommt. Als der Krieg begann, befand sich der Handel in einem leidlich guten Zustand, und manche gute landwirtschaftliche Verbesserung wurde verwirklicht; daher war diesmal die Zahl der bäuerlichen Rekruten eine geringere als sonst, und das städtische Element ist in der gegenwärtigen Miliz entschieden das vorherrschende. Aber schon die geringe Zahl der Eingezogenen genügte, die Löhne günstig zu beeinflussen, und die Sympathie der Dorfbewohner begleitet stets die Soldaten, die aus ihrer Mitte kommen und die sich nun in Helden verwandeln. Die direkte Besteuerung berührt nicht die kleinen Farmer und Arbeiter, und ehe die Erhöhung der indirekten Steuern sich für sie fühlbar macht, müssen erst einige Kriegsjahre verstrichen sein. Unter diesen Leuten ist die Kriegsbegeisterung stärker als sonstwo, und es gibt wohl kein Dorf, wo nicht ein neues Bierhaus
mit dem Schild „Zu den Helden von der Alma" oder einer ähnlichen Aufschrift sich fände und wo nicht in fast jedem Hause wunderbare Farbendrucke mit Darstellungen von der Alma, von Inkerman, der Attacke bei Balaklawa und Bilder von Lord Raglan und anderen die Wände zieren. Wenn aber in Frankreich das große Übergewicht der Kleinbauern (vier Fünftel der ganzen Bevölkerung) und ihr eigenartiges Verhältnis zu Louis-Napoleon ihren Stimmen ein solches Gewicht verleihen, so hat in England das Landvolk, das nur ein Drittel der Bevölkerung bildet, kaum irgendeinen Einfluß, außer als Anhängsel und Nachläufer der aristokratischen Grundeigentümer. Die industrielle Arbeiterbevölkerung nimmt in beiden Ländern fast die gleiche besondere Stellung in bezug auf diesen Krieg ein. Sowohl die britischen wie auch die französischen Proletarier sind von einem edlen Nationalgeist erfüllt, obgleich sie sich mehr oder weniger von den veralteten nationalen Vorurteilen frei gemacht haben, die der Bauernschaft beider Länder eigen sind. Sie haben wenig unmittelbares Interesse an dem Krieg, es sei denn, daß die Siege ihrer Landsleute ihrem nationalen Stolze schmeicheln und daß der Verlauf des Krieges, der von den Franzosen tollkühn und vermessen, von den Engländern zaghaft und stumpfsinnig geführt wird, ihnen eine gute Gelegenheit gibt, gegen die bestehenden Regierungen und herrschenden Klassen zu agitieren. Die Hauptsache für sie ist es aber: Dieser Krieg, der mit einer kommerziellen Krise zusammenfällt - deren erste Anfänge sich eben bemerkbar machten der von Köpfen und Händen geleitet wird, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind und der gleichzeitig europäische Dimensionen annimmt, wird und muß Ereignisse heraufbeschwören, die die proletarische Klasse in den Stand setzen werden, jene Stellung wieder einzunehmen, die sie durch die Junischlacht 1848 in Frankreich verlor11271. Und das gilt nicht allein für Frankreich, sondern auch für das ganze Mitteleuropa, einschließlich England. In Frankreich kann in der Tat kein Zweifel darüber herrschen, daß jeder neue revolutionäre Sturm früher oder später die Arbeiterklasse zur Macht bringen muß. In England nehmen die Dinge rasch eine ähnliche Wendung. Da ist eine Aristokratie, die den Krieg weiterzuführen wünscht, aber dazu nicht fähig ist, und die sich durch die schlechte Kriegführung im vergangenen Winter völlig kompromittiert hat. Da ist eine Bourgeoisie, die diesen Krieg nicht weiterzuführen wünscht, aber der Krieg kann jetzt nicht beendet werden; indem sie alles dem Frieden opfert, tut sie dadurch ihre Unfähigkeit kund, England zu regieren. Sollten die Ereignisse die eine dieser beiden Klassen mit ihren zahlreichen Fraktionen ausschalten und die andere nicht ans Ruder kommen lassen, so bleiben bloß zwei Klassen, denen die Macht
zufallen kann: Die Kleinbourgeoisie, die Klasse der kleinen Gewerbetreibenden, deren Mangel an Energie und Entschiedenheit sich bei jeder Gelegenheit zeigte, wo sie berufen war, von Worten zu Taten überzugehen, und die Arbeiterklasse, der man beständig vorwarf, sie zeige viel zuviel Energie und Entschiedenheit, wenn sie sich anschickte, als Klasse zu handeln. Welche dieser Klassen wird also diejenige sein, die England aus dem jetzigen Kampf und aus edlen Verwicklungen hinausführt, die im Zusammenhang mit ihm entstehen? Karl Marx
Geschrieben am 10. April 1855. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Kritik des napoleonischen „Moniteur"~Artikelscl28]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 177 vom 17. April 1855] London, 14. April. Das Publikum, selbst in Frankreich, scheint hinter die Mysterien der Belagerung von Sewastopol gekommen zu sein. Louis Bonaparte daher, in seiner Eigenschaft als Redakteur en chef1 des „Moniteur", hat wieder einen langen Leitartikel über diesen Gegenstand losgelassen. Verschiedene Zwecke sollen damit erreicht werden: im allgemeinen das Publikum zu trösten über den Nichterfolg des Unternehmens; im besondern die Verantwortlichkeit für den Fehlschlag von den Schultern des Nachfolgers Napoleons abzuwälzen; im einzelnen auf das Brüsseler Pamphlet1911 zu antworten. In jenem halb vertraulichen, halb würdevollen Stil, charakteristisch für den Mann, der gleichzeitig für die französischen Bauern und die europäischen Kabinette schreibt, wird eine Art Geschichte des Feldzugs gegeben mit angeblichen Gründen für jeden Schritt. Das Dokument ist im höchsten Grade unpolitisch, weil es über alle Maßen schwach und unzureichend ist. Indes muß der „pressure from without"2 bedenklich stark sein, wenn Bonaparte in dieser Weise vorzutreten und sich selbst zu verteidigen hat. Nach einer schleppenden Einleitung wird ein Teil der Instruktionen, die S[ain]t-Arnaud beim Beginn des Feldzuges erhielt, mitgeteilt und auseinandergesetzt, warum die alliierten Truppen zuerst nach Gallipoli gebracht wurden. Die Russen, heißt es, konnten die Donau bei Rustschuk überschreiten und, die Linien von Varna und Schumla umgehend, den Balkan passieren und auf Konstantinopel marschieren. Von allen Gründen, die für die Landung bei Gallipoli sprechen sollten, ist dies der schlechteste. Erstens ist Rustschuk eine Festung und nicht eine offene Stadt, wie der erlauchte Herausgeber des „Moniteur" sich einzubilden scheint. Es erinnert dies an den
1 Chefredakteur - 2 „Druck von außen"
historischen Schnitzer, den der „Moniteur" neulich in seinem Nekrolog des Kaisers Nikolaus beging, worin u. a. der Vertrag mit Adrianopel1191 mit dem Vertrag von Kütschük-Kainardschi[1191 verwechselt wird. Was die Gefahr eines solchen russischen Flankenmarsches betrifft, so mag daran erinnert werden, daß eine türkische Armee von 60000 Mann, fest etabliert zwischen 4 starken Festungen, nicht ungestraft zurückgelassen werden konnte, ohne ein starkes Korps zu ihrer Beschäftigung zu detachieren; daß dieser Flankenmarsch die Russen in den Bergschluchten des Balkans dem Schicksal Duponts bei Baylen und Vandammes bei Kulm aussetzte^291 und daß sie im besten Fall nur 25000 Mann nach Adrianopel bringen konnten. Wer eine solche Armee als gefährlich für Konstantinopel betrachtet, kann sich eines Besseren belehren aus den Werken des Majors Moltke über den Russisch-Türkischen Krieg von 1828/182911301. Hören wir weiter. Falls Konstantinopel nicht gefährdet war, sollten die Alliierten einige Divisionen nach Varna vorschieben, um jeden Versuch auf eine Belagerung von Silistria zurückzuweisen. Dies geschehen, boten sich zwei weitere Operationen dar: in der Nähe von Odessa landen oder sich der Krim bemächtigen. Beide waren von den alliierten Generalen auf dem Fleck in Erwägung zu ziehn. Die Instruktionen enden mit einigen gesunden militärischen Ratschlägen in der Form von Maximen und Apophthegmen:
„Haltet euch stets von dem unterrichtet, was der Feind tut. Haltet eure Truppen zusammen, teilt sie nicht; aber wenn ihr sie teilen müßt, richtet es so ein, daß ihr sie auf einem gegebenen Punkt in 24 Stunden wieder vereinigen könnt etc."
Alles dies in der Tat sehr wertvolle Regeln des Betragens, aber so fürchterlich abgedroschen, so unbeschreiblich gemeinplätzlich, daß man sofort schließen muß, St-Arnaud habe in den Augen seines Meisters für einen vollkommenen Ignoranten gegolten, um solch guten Rates zu bedürfen. Und plötzlich brechen die Instruktionen unerwartet damit ab:
„Sie besitzen mein volles Vertrauen, Marschall! Gehen Sie, denn ich bin sicher, daß unter Ihrer erfahrenen Leitung der französische Adler neuen Ruhm erbeuten wird."
Was den Hauptpunkt betrifft, die Krimexpedition, so gesteht Bonaparte, daß sie sein Favoritplan war und daß er später mit Bezug auf sie einen zweiten Pack Instruktionen an St-Arnaud sandte. Aber er leugnet, den Plan in seinem Detail ausgearbeitet und ins Hauptquartier gesandt zu haben. Ihm zufolge blieb den Generalen offen, die Landung bei Odessa vorzuziehen. Zum Beweis wird eine Stelle aus diesen neuen Instruktionen mitgeteilt. Bonaparte schlägt
darin eine Landung bei Feodosia (Kaffa) vor in Anbetracht des sichern und geräumigen Ankerplatzes, den es biete für die Flotten, die stets die Operationsbasis der Armee bilden müßten. Was eine Operationsbasis ist, hatte er schon in der ersten Instruktion dem berühmten Marschall auf das weitläufigste und elementarste verständlich zu machen gesucht. Von diesem Punkte - Kaffa sollte die Armee auf Simferopol marschieren, die Russen auf Sewastopol werfen, vor dessen Wällen wahrscheinlich eine Schlacht stattfinden würde, und schließlich Sewastopol belagern. „Unglücklicherweise" wurde dieser Plan nicht befolgt von den alliierten Generalen! Dieser „unglückliche" Umstand ist um so glücklicher, als er Bonaparte erlaubt, die ganze Verantwortlichkeit für die verdrießliche Affäre abzuschütteln und auf die Schultern der Generale abzuwälzen. Der Plan, mit 60000 Mann bei Kaffa zu landen und von da auf Sewastopol zu marschieren, ist in der Tat originell. Als allgemeine Regel angenommen, daß die Offensivkraft einer Armee in feindlichem Lande wenigstens in demselben Verhältnisse abnimmt, worin die Entfernung von ihrer Operationsbasis zunimmt, wieviel Mann würden die Alliierten nach Sewastopol gebracht haben nach einem Marsche von mehr als 120 Meilen? Wieviel Mann hätten in Kaffa zurückgelassen werden müssen? Wie viele, um Zwischenpunkte zu behaupten und zu befestigen? Wie viele, um Transporte zu beschützen und das Land zu säubern? Nicht 20000 Mann hätten unter den Wällen einer Festung konzentriert werden können, die dreimal diese Zahl zu ihrer bloßen Blockade erheischt. Wenn Bonaparte je selbst in den Krieg zieht und ihn nach diesen Prinzipien führt, so wird jedenfalls dieselbe Familie den erstaunlichsten Antagonismus in der Kriegsgeschichte repräsentieren.1 Was das sichere Ankern bei Kaffa betrifft, so weiß jeder Matrose im Schwarzen Meer und zeigt jede Schiffskarte, daß Kaffa eine offene Reede mit Schutz bloß gegen Nord- und Westwinde ist, während die gefährlichsten Stürme im Schwarzen Meere von Südost- und Südwestwinden drohen. So z.B. der Sturm vom 14. November. Hätten die Flotten damals bei Kaffa vor Anker gelegen, so wären sie unstreitig auf die Windseite geworfen worden. Nun kommt der schwierigste Teil des Werkes. Louis Bonaparte selbst, wie er glaubt, hat die Verantwortlichkeit, die das Brüsseler Pamphlet auf ihn wirft, glücklich abgewälzt. Aber er geht nicht, Raglan und Canrobert zu opfern. Demgemäß, um die Tüchtigkeit besagter Generale zu beweisen, wird
1 In der „New-York Daily Tribüne" Nr. 4377 vom 30. April 1855 wird dieser Satz folgendermaßen gebracht: „Wenn Bonaparte je selbst in den Krieg zieht und ihn nach diesen Prinzipien führt, so kann er ebensogut sofort im Hotel Mivarts, London, sich Quartier bestellen, denn er wird niemals Paris wiedersehen.*4
eine Skizze der Belagerungskunst entworfen. Diese Skizze jedoch dient nur dazu, zu zeigen, wie Sewastopol nicht genommen -werden muß, denn sie wickelt sich ab mit der Versicherung, daß alle diese Regeln unanwendbar auf Sewastopol waren. „Zum Beispiel", heißt es, „in einer gewohnlichen Belagerung, wo eine Front angegriffen wird, würde die Lange der letzten Parallele ungefähr 300 m&tres1 betragen und die Gesamtlänge der Laufgräben nicht über 4000 metres. Hier hingegen beträgt die Ausdehnung der Parallele 3000 m&tres und die gesamte Linearlänge der Laufgräben 41000 metres." Richtig, aber das gerade ist dieFrage: PTaram ist diese enorme Ausdehnung der Attacke beliebt worden, während alle .Umstände die größtmögliche Konzentration des Feuers auf einem oder zwei bestimmten Punkten geboten? Die Antwort ist: „Sewastopol ist nicht wie eine andere Festung. Eis hat einen nur seichten Graben, keine gemauerten Eskarpes, und diese Verteidigungswerke sind ersetzt durch Abaiii& und Palisaden. So konnte unser Feuer nur schwache Wirkung auf die Erdbrustwehren machen." Da dies nicht für Marschall St- Arnaud geschrieben sein kann, der vielleicht daran geglaubt hätte, muß es ausschließlich zum Behuf und Besten der französischen Bauernschaft geschrieben sein, denn jeder Unteroffizier in der französischen Armee wird über solchen Galimathias lachen. Palisaden, wenn nicht auf dem Grunde eines Grabens oder wenigstens außerhalb des Gesichtskreises des Feindes, sind sehr bald niederkartätscht. Abattis können in Brand gesteckt werden. Sie müssen sich am Fuße der Glacis befinden, ungefähr 60-80 Yards von den Brustwehren, weil sie sonst dem Feuer der Kanonen im Wege stehen. Wo das Holz für diese Abattis - lange, auf den Grund gelegte Bäume, mit den zugespitzten Zweigen nach dem Feinde gekehrt, das Ganze fest zusammen verbunden woher dies Holz in diesem holzlosen Lande kommen sollte, verschweigt der „Moniteur"3. Daß Palisaden ein Fortschritt gegen gemauerte Eskarpen sind, ist sicher neu; denn diese hölzernen Wehren können sehr leicht in Brand gesteckt werden und erlauben so einen Sturm, sobald die Kanonen des Feindes zum Stillschweigen gebracht sind.
1 Meter - 2 Verhaue - 3 In der „New-York Daily Tribüne44 folgt hier der Satz: „Das Fehlen gemauerter Eskarpen hat nichts mit der langwierigen Belagerung zu tun, denn selbst nach der Darstellung des .Moniteur' kommen sie erst dann ins Spiel, nachdem die Bresche legenden Batterien auf der Spitze des Glacis etabliert sind - eine Position, von der die Alliierten noch weit entfernt sind."
Schließlich erfahren wir, soll das oben beleuchtete Expose beweisen, daß die alliierten Generale getan haben, was möglich war, ja, mehr als unter den gegebenen Umständen von ihnen zu erwarten war, ja, sich sogar mit Ruhm bedeckt haben. Schlimm für den Ruhm, der bewiesen werden muß und so bewiesen wird! Wenn die Herren Generale Sewastopol nicht einschließen konnten, wenn sie die russische Observationsarmee nicht vertreiben konnten, wenn sie noch nicht in Sewastopol sind - nun, so liegt das nur daran, daß sie nicht stark genug waren! In der Tat, sie sind es nicht. Aber wenn sie es nicht waren, wer ist verantwortlich für diesen größten aller Fehler? Niemand als Bonaparte. Das ist der notwendige Schluß, wozu der Leitartikel des „Moniteur" führte. Welchen Eindruck er in Paris hervorgebracht, zeigt folgender Auszug aus dem Briefe des sonst so servilen Pariser Korrespondenten der T*« u „limes : „Manche Personen betrachten diesen Artikel bloß als Vorwort zur gänzlichen Räumung der Krim. In einem Legitimistenzirkel sagt man: Man ließ uns Krieg ä la Napoleon erwarten; aber es scheint, wir sollen nun einen Frieden ä la Louis-Philippe haben. Auf der andern Seite herrschen Eindrücke ähnlicher Art in den Gemütern der arbeitenden Klasse des Faubourg1 Saint Antoine. Sie legen den Artikel als ein offenes Eingeständnis ohnmächtiger Schwäche aus."
1 Vorortes
Friedrich Engels
Die Affäre vom 23. März[ls"
[„Neue Oder-Zeitung4* Nr. 179 vom 18. April 1855] London, 15. April. Die Belagerung von Sewastopol schleppt sich voran, langsam, langweilig, leer an Ereignissen und Entscheidungen, kaum hier und da belebt durch einige resultatlose Scharmützel oder desultorische Angriffe, worin die letzte immer die Kopie der vorletzten und das Original der nachfolgenden ist. Mit Ausnahme der Überlegenheit, die die Verteidigung im Ingenieurdepartement entwickelt, bieten sicher wenige Feldzüge von gleicher Dauer das Schauspiel gleicher Mittelmäßigkeit in den kommandierenden Offizieren auf beiden Seiten. Die französischen und englischen offiziellen Berichte über die Affäre vom 23. März liegen uns vor; einen detaillierten russischen Bericht haben wir noch nicht gesehen. Wie gewöhnlich sind die Berichte der alliierten Generale in so künstlerisches Halbdunkel gehüllt, daß wir nichts Bestimmtes aus ihnen ersehen können. Mit Hilfe von englischen Privatbriefen undZeitungskorresponzen lassen sich indes die Hauptumrisse des Ereignisses wiederfinden. Die rechte Attacke der Alliierten, gerichtet gegen die südöstliche Front von Sewastopol, ist vorwärts geschoben bis zu 600 Yards von der ersten russischen Linie vermittels 3 Linien von Approchen oder Zickzacks, die an ihren Enden durch die sog. zweite Parallele miteinander verbunden sind. Über diese hinaus werden die 3 Zickzacks weitergerückt, obgleich langsam und unregelmäßig; dies ist bezweckt, sie durch eine dritte Parallele zu verbinden und auf der Zentralapproche einen Waffenplatz zu bilden oder einen gedeckten Platz, geräumig genug, um eine Reserve zu beherbergen. Von den 3 Approchen befindet sich die mittlere in der Hand der Engländer, während die rechte und linke von den Franzosen besetzt ist. Diese zwei Flankenapprochen sind weiter vorgestoßen als die zentrale, so daß hier die französischen Laufgräben dem Platze
ungefähr 50 Yards näher sind als die von den Engländern eingenommene Position. Am 23. März vor Tagesanbruch rückten beträchtliche russische Streitkräfte, ungefähr 12 Bataillons, von der Stadt auf die Belagerungswerke vor. Wohl wissend, daß die Laufgräben mit völliger Vernachlässigung der herkömmlichen und vorschriftsmäßigen Vorkehrungen konstruiert worden, daß ihre Flanken weder hinreichend eingezogen noch durch Redouten verteidigt sind, daß folglich ein kühner Stoß auf die extremen Flanken der Parallele in die Laufgräben führen muß, begannen die Russen ihren Angriff mit einer plötzlichen und raschen Bewegung, wodurch die östlichen und westlichen Extremitäten der Parallele umgangen wurden. Ein Frontangriff beschäftigte die Laufgrabenwache und ihre Reserven, während die überflügelnden Kolonnen, trotz dem tapferen Widerstand der Franzosen, in die Werke hinabstiegen und den Laufgraben fegten, bis sie bei der durch die Briten verteidigten Zentralposition anlangten. Die britischen Linien, gesichert vor ernsthafter Beunruhigung in der Front, wurden nicht belästigt, bis die auf der Rechten und Linken stattfindende Füsillade einen Teil ihrer Reserven herbeigerufen hatte, und selbst dann war der Frontangriff nicht von großer Heftigkeit, da die Stärke des Ausfalles in den überflügelnden Kolonnen konzentriert war. Aber auch diese hatten infolge des großen Umfanges des Laufgrabens, den sie bereits überrannt, ihr erstes Feuer verloren, und als sie bei den Briten ankamen, hatten ihre Offiziere beständig die Chance des schließlichen Rückzuges im Auge zu halten. Der Kampf erreichte daher sehr bald den Punkt, wo beide Teile ihren Grund behaupten, und das ist der Moment, wenn ein ausfallendes Detachement an sichere Retirade denken muß. Das taten die Russen. Ohne einen ernsthaften Versuch, die Briten aus ihrer Position zu bringen, hielten sie das Gefecht aufrecht, bis die Mehrzahl ihrer Truppen sich Sewastopol bedeutend genähert hatte, und dann riß ihre Arrieregarde aus, heftig verletzt durch die französischen und britischen Reserven. Die Russen müssen erwartet haben, viele Kanonen, beträchtliche Munition und anderes Kriegsmaterial in der zweiten Parallele zu finden. Dies zu zerstören, kann der einzige Zweck ihres Ausfalls gewesen sein. Aber sie fanden fast nichts von alledem und gewannen so nichts durch den Ausfall, außer der Sicherheit, daß sie noch fähig sind, in dieser Entfernung von ihren eigenen Linien, in der ersten oder zweiten Stunde eines Ausfalls, und bevor die feindlichen Reserven sich versammeln können, die stärkste Front zu zeigen. Dies ist etwas wert, kaum aber die Verluste eines solchen Ausfalles. Der materielle Schaden, den sie den Belagerungswerken zugefügt, war in einem oder zwei Tagen wieder gutgemacht, und der durch diesen Ausfall hervorgebrachte
moralische Effekt ist auf Null zu setzen. Da jeder Ausfall in einen Rückzug endet, so halten sich die Belagerer stets für die Sieger. Falls der Verlust der Belagerten nicht unverhältnismäßig gering im Vergleich mit dem der Belagerer, ist der moralische Effekt im Durchschnitt mehr ermutigend für die letzteren als für die ersteren. In diesem Falle, da Canrobert und Raglan mehr denn je eines scheinbaren Erfolgs bedürftig waren, kam ihnen dieser Ausfall mit seinen Diminutiv-Früchten und seinem schließlichen hastigen Rückzug ungemein gelegen. Die französischen Truppen schreiben sich besonders hoch an, den Feind bis dicht an die Linien von Sewastopol verfolgt zu haben. Dies ist indes in ähnlichen Umständen nicht so schwierig, da die Kanonen des Platzes nicht spielen können aus Furcht, die eignen Truppen zu treffen. Die Briten ihrerseits, während sie mit Stillschweigen über ihre ausnahmsweise zurückgeschobene Position weggehn, die ihnen mehr den Charakter einer Reserve geben als den eines Truppenkorps in erster Schlachtlinie, renommieren wieder - diesmal aber mit weniger Grund als je zuvor - mit ihrer eignen Unbesiegbarkeit und dem unbeugsamen Mut, der dem britischen Soldaten verbietet, auch nur einen Zollbreit zu weichen. Die britischen Offiziere in den Händen der Russen, aufg egriffen aus der Mitte dieser unbeugsamen Soldaten und sicher nach Sewastopol beordert; Oberst Kelly u.a., wissen, was all dieser Cant1 auf sich hat. Unterdes fahren die großen Strategiker der britischen Presse fort, mit bedeutender Emphase zu erklären, daß, bevor an einen Sturm auf Sewastopol zu denken, die neu von den Russen errichteten Außenwerke durchaus genommen werden müssen; und sie hoffen, daß dies bald sich ereignen werde. Ihre Behauptung ist sicher ebenso wahr wie gemeinplätzlich, aber die Frage ist, wie sie zu nehmen, wenn die Alliierten nicht einmal deren Vollendung unter den Augen ihrer eigenen Batterien verhindern konnten? Der Angriff auf Selenginsk (auf dem Berg Sapun) zeigte klar genug, daß ein solches Werk mit großen Opfern an Leben in Besitz genommen werden kann für einen Augenblick, aber es ist schwer zu sagen, mit welchem Nutzen, wenn es nicht einmal während der zu seiner Zerstörung nötigen Zeit behauptet werden kann. Die Tatsache ist, daß diese neuen Werke, die einen integrierenden Teil des russischen Verteidigungssystems bilden, die auf den Flanken und im Rücken durch die russische Hauptlinie beherrscht sind, nicht genommen werden können, außer wenn dieselben Mittel gegen sie wie gegen die Hauptlinie angewandt werden. Approchen müssen bis zu einer passenden
1 Scheinheiligkeit
Entfernung vorgeschoben, bedeckte Parallelen mit Waffenplätzen vollendet, Batterien, um die russische Hauptlinie zu engagieren, errichtet und armiert werden, bevor an einen Angriff auf diese Außenwerke und Bemächtigung derselben ernstlich gedacht werden kann. Die „Times", am lautesten in ihrem Schrei nach Wegnahme dieser Außenwerke, vergaß nur die neue Methode mitzuteilen, wodurch diese schwierige Aufgabe in ein paar Stunden zu lösen, was sie zuversichtlich ankündigte. Kaum hatte sie ihre sanguinischen Hoffnungen verraten, als ein Brief ihres Krim-Korrespondenten eintraf, der die neuen russischen Außenwerke nicht nur für uneinnehmbar erklärt, sondern zugleich für bloßen ersten Grenzstein eines beabsichtigten weitern Vorrückens russischer Contre-Approchen. Die Schützengräben in Front der MamelonRedoute (von den Russen Kamtschatka genannt) sind miteinander verbunden worden durch einen regelmäßigen Laufgraben und bilden so eine neue.Verteidigungslinie. Zwischen der Mamelon-Redoute und der SelenginskRedoute (auf Berg Sapun) ist ein anderer Laufgraben gegraben, der 3 Seiten eines Quadrats bildet und einen Teil der französischen Approchen enfiladiert. Soviel ist klar, daß ein vollständiges System vorgeschobener Posten von den Russen bezweckt ist, um Malachow auf beiden Seiten in der Front zu decken und vielleicht schließlich sich in den Laufgräben der Alliierten festzusetzen. Sollte ein solcher Versuch gelingen, so wären die Belagerungslinien auf dieser Seite der Attacke durchbrochen. Während die Alliierten in den letzten 6 Monaten nur ihren Grund behauptet und ihre Batterien eher verstärkt als vorgerückt haben, sind die Russen in einem einzigen Monat bedeutend auf sie vorgerückt und rücken noch vor. Gewiß! Manche Verteidigung war glorreicher als die von Sewastopol, aber es ist unmöglich, seit der Belagerung von Troj'a, in den Annalen des Kriegs eine Belagerung aufzuweisen, so zusammenhanglos, ideenlos und ruhmlos wie die Belagerung von Sewastopol.
Friedrich Engels
Deutschland und der Panslawismus[132]
I
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 185 vom 21. April 1855] Es wird aus bester Quelle versichert, daß der jetzige Kaiser von Rußland gewissen Höfen eine Depesche hat zukommen lassen, worin es u. a. lautet: „Den Augenblick, wo Österreich sich unwiderruflich mit dem Westen alliiere oder irgendeinen offen feindlichen Akt gegen Rußland begehe, werde Alexander IL sich selbst an die Spitze der panslawistischen Bewegung stellen und seinen jetzigen Titel: Kaiser aller Reußen in den eines Kaisers aller Slawen verwandeln" (?).
Diese Erklärung Alexanders, wenn authentisch, ist das erste gerade Wort ^eit Beginn des Krieges. Es ist der erste Schritt, dem Kriege den europäischen Charakter zu geben, der bisher hinter allen Arten von Vorwänden und Vorgeben, Protokollen und Verträgen lauerte, Paragraphen aus Vattel und Zitationen aus Pufendorf. Die Unabhängigkeit, ja die Existenz der Türkei ist damit in den Hintergrund gedrängt. Es fragt sich nicht länger, wer in Konstantinopel regieren, sondern wer ganz Europa beherrschen soll. Die slawische Race1, lang geteilt durch innere Zwiste, nach dem Osten zurückgetrieben durch die Deutschen, unterjocht, zum Teil von Deutschen, Türken und Ungarn, still ihre Zweige wiedervereinend, nach 1815, durch das allmähliche Wachstum des Panslawismus, sie versichert nun zum erstenmal ihre Einheit und erklärt damit Krieg auf den Tod den römisch-keltischen und deutschen Racen, die bisher in Europa geherrscht haben. Panslawismus isteineBewegung nicht nur für nationale Unabhängigkeit; er ist eine Bewegung, die ungeschehen zu machen strebt, was eine Geschichte von tausend Jahren geschaffen hat, die sich nicht verwirklichen kann, ohne die Türkei, Ungarn und eine Hälfte Deutschlands von der Karte von Europa wegzufegen, die, sollte
1 Stamm, Geschlecht
13 Marx/Engels, Werke, Bd. 11
sie dies Resultat erreichen, seine Dauer nicht sichern kann außer durch die Unterjochung Europas. Panslawismus hat sich jetzt umgewandelt aus einem Glaubensbekenntnis in ein politisches Programm, mit 800000 Bajonetten zu seiner Verfügung. Er läßt Europa nur eine Alternative: Unterjochung durch die Slawen oder Zerstörung für immer des Zentrums ihrer Offensivkraft Rußlands. Die nächste Frage, die wir zu beantworten haben: wie ist Österreich affiziert durch den von Rußland uniformierten Panslawismus? Von den siebzig Millionen Slawen, die östlich vom böhmischen Wald und den kärntischen Alpen leben, sind ungefähr 15 Millionen dem österreichischen Szepter unterworfen, einschließend die Repräsentanten fast jeder Abart slawischer Sprache. Der böhmische oder tschechische Stamm (6 Millionen) fällt ganz unter österreichische Oberherrschaft; der polnische ist repräsentiert durch ungefähr 3 Millionen Galizier; der russische durch 3 Millionen Malorussen (Rotrussen, Ruthenen) in Galizien und dem Nordosten von Ungarn - der einzige russische Stamm außer dem Bereich des russischen Kaisertums; der südslawische Stamm durch ungefähr 3 Millionen Slowenen (Kärntner und Kroaten) und Serben mit Einschluß von zerstreuten Bulgaren.Die österreichischen Slawen zerfallen so in zwei Klassen: Ein Teil davon besteht aus Trümmern von Nationalitäten, deren eigne Geschichte der Vergangenheit angehört und deren gegenwärtige historische Entwickelung an die von Nationen verschiedener Race und Sprache gebunden ist. Um ihre mißliche nationale Lage zu vollenden, besitzen diese traurigen Trümmer früherer Größe nicht einmal eine nationale Organisation innerhalb Österreichs, sondern sind vielmehr unter verschiedene Provinzen verteilt. Die Slowenen, obgleich kaum 1500000, sind zerstreut über die verschiedenen Provinzen von Krain, Kärnten, Steiermark, Kroatien und das südwestliche Ungarn. Die Böhmen, obgleich der zahlreichste Stamm unter den Österreichischen Slawen, sind teils in Böhmen angesiedelt, teils in Mähren und teils (die slowakische Linie) im nordwestlichen Ungarn. Diese Nationalitäten daher, obgleich ausschließlich auf österreichischem Boden lebend, sind keineswegs anerkannt als verschiedene Nationen konstituiert. Sie werden betrachtet als Anhängsel entweder der deutschen oder der ungarischen Nation, und in der Tat: sie sind weiter nichts. Die zweite Klasse der österreichischen Slawen besteht aus Bruchstücken verschiedener Stämme, die im Lauf der Geschichte vom großen Körper ihrer Nation getrennt worden sind und deren Schwerpunkt daher außerhalb Österreichs liegt. So haben die österreichischen Polen ihr natürliches Gravitätszentrum in Russisch-Polen, die Ruthenen in den andern mit Rußland vereinigten malorussischen Provinzen und die Serben im türkischen Serbien.
Daß ihre von ihren resp. Nationalitäten abgelösten Fragmente nach ihrem natürlichen Zentrum hin gravitieren, versteht sich von selbst und wird augenfälliger, je mehr Zivilisation und daher das Bedürfnis nationalhistorischer Tätigkeit sich unter ihnen verbreitet. In beiden Fällen sind die österreichischen Slawen nur disjecta membra1, die nach ihrer Wiedervereinigung streben, entweder untereinander oder mit dem Hauptkörper ihrer besonderen Nationalitäten. Dies ist der Grund, warum der Panslawismus nicht eine russische, sondern eine österreichische Erfindung ist. Um die Restauration jeder besonderen slawischen Nationalität zu sichern, beginnen die verschiedenen slawischen Stämme in Österreich für eine Verbindung aller slawischen Stämme in Europa zu arbeiten. Rußland, stark in sich selbst, Polen, selbst im Sinne unbesiegbarer Zähigkeit des nationalen Lebens sich bewußt und zudem in offener Feinschaft gegen das slawische Rußland - diese beiden Nationen waren offenbar nicht dazu berufen, den Panslawismus zu erfinden. Die Serben und Bulgaren der Türkei aber waren zu barbarisch, um eine solche Idee zu fassen; die Bulgaren unterwarfen sich ruhig den Türken, die Serben hatten genug zu tun mit dem Kampf für ihre eigene Unabhängigkeit.
II
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 189 vom 24. April 1855] Die erste Form des Panslawismus war eine rein literarische. Dobrovsky, ein Böhme, der Gründer der wissenschaftlichen Philologie der slawischen Dialekte, Kollär, ein slowakischer Poet von den ungarischen Karpaten, waren seine Erfinder. Bei Dobrovsky war es der Enthusiasmus des wissenschaftlichen Entdeckers, bei Kollär wurden politische Ideen bald vorherrschend. Aber noch befriedigte sich der Panslawismus in der Elegie, und die Größe der Vergangenheit, die Schmach, das Unglück und die fremdländische Unterdrückung der Gegenwart waren das Hauptthema seiner Poesie. „Ist denn, o Gott, kein Mann auf Erden, der dem Slawen Recht widerfahren lassen will?" Die Träume von einem panslawischen Reich, Europa Gesetze diktierend, wagten sich damals kaum noch anzudeuten. Aber die Jammerperiode schwand bald vorüber und mit ihr der Schrei für bloße „Gerechtigkeit für den Slawen". Historische Forschung, umfassend die politische,
1 zerstreute Glieder
literarische und linguistische Entwicklung der slawischen Race, machte Riesenfortschritte in Österreich. Schafarik, Kopitar und Mifylosich als Linguisten, Palacky als Geschichtsschreiber stellten sich an die Spitze, gefolgt von einem Schwärm anderer von weniger oder gar keiner wissenschaftlichen Begabung, wie Hanka% Gaj etc. Die glorreichen Epochen der böhmischen und serbischen Geschichte wurden in glühenden Farben geschildert im Kontrast zu der erniedrigten und gebrochenen Gegenwart dieser Nationalitäten; und gerade wie im übrigen Teil von Deutschland unter dem Schutze der „Philosophie" Politik und Theologie der Kritik unterworfen wurden, so wurde in Österreich, unter den Augen Metternichs, die Philologie von den Panslawisten benutzt, um die Lehre von der slawischen Einheit zu predigen und eine politische Partei zu schaffen, deren unverkennbares Ziel: die Verhältnisse aller Nationalitäten in Österreich umzuwälzen und es selbst in ein großes slawonisches Reich zu verwandeln. Die Sprachverwirrung, die östlich von Böhmen und Kärnten bis zum Schwarzen Meere herrscht, ist wahrhaft erstaunlich. Der Prozeß der Entnationalisierung unter den an Deutschland angrenzenden Slawen, das langsame, aber ununterbrochene Fortschreiten der Deutschen, der Einfall der Ungarn, der Nord- und Südslawen schied durch eine kompakte Masse von 7 Millionen finnischer Race, das Zwischenschieben von Türken, Tartaren, Walachen mitten unter die slawischen Stämme, brachte ein sprachliches Babel hervor. Von Dorf zu Dorf, beinahe von Pachthof zu Pachthof, variiert die Sprache. Böhmen selbst zählt unter 5 Millionen Einwohnern 2 Millionen Deutsche neben 3 Millionen Slawen, außerdem auf drei Seiten von den Deutschen umringt. Dasselbe ist der Fall mit den österreichisch-slawonischen Stämmen. Allen ursprünglich slawischen Grund und Boden den Slawen zurückerstatten, Österreich, mit Ausnahme Tirols und der Lombardei, in ein slawonisches Reich verwandeln, was die Panslawisten bezweckten, hieß null und nichtig erklären die historische Entwicklung der letzten tausend Jahre, ein Drittel von Deutschland abschneiden und ganz Ungarn und Wien und Budapest in slawische Städte verwandeln - eine Verfahrungsart, womit die diese Distrikte besitzenden Deutschen und Ungarn nicht gerade sympathisieren konnten. Zudem ist die Verschiedenheit zwischen den slawischen Dialekten so groß, daß sie mit wenigen Ausnahmen sich wechselseitig unverständlich sind. Dies wurde in komischer Weise bewiesen auf dem Slawenkongreß zu Prag 18481133 wo, nach verschiedenen und nutzlosen Versuchen, eine allen Mitgliedern verständliche Sprache auszufinden, sie schließlich die Sprache sprechen mußten, die ihnen allen die meist verhaßte war - die deutsche.
Wir sehen so, daß dem österreichischen Panslawismus die wesentlichsten Elemente des Erfolgs fehlten: Masse und Einheit. Masse, weil die panslawistische Partei, auf einen Teil der gebildeten Klassen beschränkt, keinen Einfluß auf das Volk besaß und daher nicht die Kraft, gleichzeitig der österreichischen Regierung Widerstand zu leisten und den deutschen und ungarischen Nationalitäten, die sie in die Schranken forderte. Einheit, weil ihr Einheitsprinzip ein rein ideales war, das bei dem ersten Versuch zur Verwirklichung durch die Tatsache der Sprachverschiedenheit gebrochen wurde. Solange der Panslawismus eine rein Österreichische Bewegung blieb, bot er keine große Gefahr, aber das Zentrum der Einheit und Masse, dessen er bedurfte, wurde sehr bald für ihn gefunden. Die Nationalbewegung der türkischen Serben im Beginn dieses Jahrhunderts [134] lenkte bald die Aufmerksamkeit der russischen Regierung auf die Tatsache, daß einige 7 Millionen Slawen die Türkei bewohnten, deren Sprache vor allen andern slawischen Dialekten der russischen glich, deren Religion und heilige Sprache - Alt- oder Kirchenslaworiisch - vollständig dieselbe war wie die der Russen. Es war unter diesen Serben und Bulgaren, daß Rußland zum erstenmal eine panslawistische Agitation begann, unterstützt durch Rußlands Stellung als Haupt und Protektor der griechischen Kirche. Als die panslawistische Bewegung in Österreich einigen Boden gewonnen hatte, dehnte Rußland sehr bald die Verzweigungen seiner Agenturen auf das Gebiet seines Alliierten aus. Wo es auf römisch-katholische Slawen stieß, wurde die religiöse Seite der Frage fallengelassen und Rußland bloß hingestellt als Gravitationszentrum der slawischen Race, als der Kern, um den sich die regenerierten slawischen Stämme kristallisieren, als das starke und einige Volk, berufen zur Verwirklichung des großen Slawenreichs von der Elbe bis China und vom Adriatischen bis zum Eismeer. Hier also war die mangelnde Einheit und Masse gefunden! Der Panslawismus fiel sofort in die Falle. Er sprach so sein eignes Urteil. Um eingebildete Nationalitäten neu zu behaupten, erklärten sich die Panslawisten bereit, eine 800jährige faktische Teilnahme an der Zivilisation russisch-mongolischer Barbarei zu opfern. War das nicht das naturgemäße Resultat einer Bewegimg, die mit einer entschiedenen Reaktion gegen den Gang der europäischen Zivilisation begann und die Weltgeschichte zurückdämmen wollte? Metternich, in den besten Jahren seiner Macht, erkannte die Gefahr und durchschaute die russischen Intrigen. Er unterdrückte die Bewegung mit edlen zu seiner Verfügung stehenden Mitteln. Alle seine Mittel jedoch faßten sich in einem Worte zusammen: Repression. Die einzig geeigneten Mittel: Freie Entwicklung des deutschen und ungarischen Geistes, mehr als hin
reichend, das slawische Gespenst zu verscheuchen, paßte nicht in das System seiner kleinen Politik. Folglich, nach Metternichs Sturz, 1848, brach die slawische Bewegung aus, stärker als je und weitere Schichten der Bevölkerung umfassend als je zuvor. Aber hier kam sofort ihr gründlich reaktionärer Charakter ans Tageslicht. Während die deutschen und ungarischen Bewegungen in Österreich entschieden progressiv, waren es die Slawen, die das alte System vor Zerstörung retteten, Radetzky befähigten, auf den Mincio vorzumarschieren und Windischgrätz, Wien zu erobern. Um die Abhängigkeit Österreichs von der slawischen Race zu vollenden, hatte 1849 die große slawische Reserve, die russische Armee, nach Ungarn herabzusteigen^351 und dort Frieden für es zu diktieren. Aber wenn die Adhäsion der panslawischen Bewegung an Rußland ihre Selbstverurteilung war, erkannte Österreich nicht minder seinen Mangel an Lebensfähigkeit durch die Annahme, ja Herausforderung dieser slawischen Hilfe gegen die drei einzigen Nationen in seinen Besitzungen, die historische Lebenskraft besitzen und beweisen: Deutsche, Italiener und Ungarn. Stets seit 1848 hielt diese Schuld an den Panslawismus Österreich nieder, und das Bewußtsein derselben war die Hauptspringfeder der österreichischen Politik. Das erste, was Österreich tat, war, gegen die Slawen auf seinem eigenen Gebiet zu reagieren, und das war nur möglich durch eine teilweis wenigstens progressive Politik. Die Privilegien aller Provinzen wurden gebrochen, eine zentralisierte Administration trat an die Stelle einer föderativen; und statt der verschiedenen Nationalitäten sollte eine künstliche, die österreichische, allein anerkannt werden. Obgleich diese Neuerungen teilweise auch gegen die deutschen, italienischen und ungarischen Elemente gerichtet waren, fielen sie doch mit der größten Wucht auf die weniger kompakten slawischen Stämme und gaben dem deutschen Element ein beträchtliches Übergewicht. Wenn so die Abhängigkeit von den Slawen im Innern beseitigt war, blieb die Abhängigkeit von Rußland und die Notwendigkeit, für einen Augenblick wenigstens und in einem gewissen Grade, diese direkte und erniedrigende Abhängigkeit zu brechen. Das war der wirkliche Grund der zwar schwankenden, aber wenigstens öffentlich proklamierten antirussischen Politik Österreichs in der orientalischen Frage. Andererseits ist der Panslawismus nicht verschwunden; er ist tief verletzt, grollt, schweigt und blickt seit der ungarischen Intervention auf den Kaiser von Rußland als seinen prädestinierten Messias. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob Österreich, sollte Rußland offen als Haupt des Panslawismus hervortreten, mit JConzessionen ein Ungarn und Polen antworten kann, ohne seine Existenz zu gefährden. Soviel ist gewiß, es ist jetzt nicht mehr Rußland allein, es ist die panslawistische
Verschwörung, die ihr Reich auf den Ruinen von Europa zu gründen droht. Die Vereinigung aller Slawen wird bald durch die unleugbare Stärke, die sie besitzt und erhalten kann, die Seite, die ihr gegenübersteht, zwingen, in einer durchaus anderen Form als bisher zu erscheinen. Wir haben bei dieser Gelegenheit weder von den Polen gesprochen - zu ihrer Ehre meist entschieden feindlich dem Panslawismus - noch von der angeblich demokratischen und sozialistischen Form des Panslawismus, die sich im Grunde nur durch ihre Phraseologie und Heuchelei von dem gemeinen, ehrlichen, russischen Panslawismus unterscheidet. Wir haben ebensowenig von der deutschen Spekulation11363 gesprochen, die aus sublimierter Unwissenheit zum Organ der russischen Verschwörung herabgesunken ist. Wir werden ausführlich auf diese und andere mit dem Panslawismus zusammenhängenden Fragen zurückkommen.
Geschrieben um den 17. April 1855.
Karl Marx
Zur Geschichte der Agitationen
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.2l5vomlO.Mail855] London, 7. Mai. Zur Zeit großer Agitationen in England verstand die City von London niemals, sich in der Avantgarde zu befinden. Ihr Anschließen an eine Agitation bewies bisher nur, daß der Zweck der Agitation erreicht, zum Fait accompli geworden war. So mit der Reformbewegung, worin Birmingham die Initiative ergriff. So mit der Anti-Corn-Law-Bewegung[137J, die von Manchester aus geleitet wurde. Eine Ausnahme bildet die Bank-Restriktionsakte von 1797fl38]. Meetings der Bankiers und Kaufleute der City von London erleichterten Pitt damals, der Bank von England die Fortsetzung der Barzahlungen zu verbieten - nachdem die Bankdirektoren ihm wochenlang vorher eröffnet, daß die Bank am Rande des Bankerutts schwebe und nur durch einen Coup d'etat, durch Zwangskurs der Banknoten, zu retten sei. Die Umstände erheischten damals nicht mehr Resignation von Seiten der Bank von England, sich die Barzahlung verbieten zu lassen, als von Seiten der Citykaufleute, deren Kredit mit dem der Bank stand und fiel, Pitts Verbot zu unterstützen und dem Landmann zu empfehlen.* Die Rettung der Bank von England war die Rettung der City. Daher damals ihre „patriotischen" Meetings und ihre „agitatorische" Initiative. Die Initiative, die die City in diesem Augenblick ergriffen hat, durch ihre letzten Sonnabend in der London Tavern und der
* Es ist unglaublich, daß noch in den modernsten Geschichten der Nationalökonomie das damalige Benehmen der City als Beweis von englischem Patriotismus zitiert wird. Es ist noch unglaublicher, daß Herr v[on] Haxthausen in seinem Werke über Rußland (3. Band, 1852) so leichtgläubig ist, zu behaupten, Pitt habe durch seine Suspendierung der Barzahlungen der Bank das Geld in England festgehalten.^139! Was mag einem Manne, der solchen Glauben besitzt, nun erst in Rußland aufgebunden worden sein? Und was wollen wir gar von der Berliner Kritik denken, die an Herrn v[on] Haxthausen mit Haut und Haar glaubt und zum Beweis dessen ihn abschreibt!
Guildhall abgehaltenen Meetings, durch Bildung einer „Assoziation für die administrative Reform"[U0], hat das Verdienst der Neuheit, das in England seltene Verdienst, keine Präzedenz zu besitzen. Außerdem wurde in diesen Meetings weder gegessen noch getrunken, was ebenfalls neu ist in den Annalen der City, deren „Schildkrötensuppen-Patriotismus" schon von Cobbett verewigt ward. Endlich war es neu, daß die Meetings der Citykaufleute in „London Tavern" und „Guildhall" zur Geschäftszeit abgehalten wurden, bei hellem Licht und Tag. Die gegenwärtige Geschäftsstockung mag etwas mit diesem Phänomen zu tun haben, wie sie überhaupt ein Ferment in der Gärung des Citygeistes bilden mag, und ein wesentliches Ferment. Bei alldem kann die Wichtigkeit dieser Citybewegung nicht abgeleugnet werden, so sehr man sich auch im Westend abmüht, sie niederzulächeln. Die bürgerlichen Reformblätter - „Daily News", „Morning Advertiser", „Morning Chronicle" (letzteres gehört seit einiger Zeit in diese Kategorie) - suchen ihren Gegnern, die „große Zukunft" der Cityassoziation zu demonstrieren. Sie übersehen das Näherliegende. Sie haben nicht begriffen, daß sehr wesentliche, sehr entscheidende Punkte durch die bloße Tatsache dieser Meetings bereits entschieden sind: 1. Der Bruch zwischen der herrschenden Klasse außerhalb und der regierenden Klasse innerhalb des Parlaments; 2. eine Dislokation der bisher in der Politik tonangebenden Elemente der Bourgeoisie; 3. die Entzauberung Palmerstons. Layard hat bekanntlich seine Reformvorschläge für heute abend im Unterhause angekündigt. Das Unterhaus hat ihn bekanntlich vor ungefähr einer Woche niedergezischt, ausgepfiffen, angegrunzt. Die Prinzen der englischen Kaufmannswelt in der City antworteten in ihren Meetings mit krampfhaften Lebehochs für Layard. Er war der Held des Tages in London Tavern und Guildhall. Die cheers1 der City sind die provozierende Antwort auf die groans2 des Unterhauses. Zeigt sich das Unterhaus heute abend eingeschüchtert, so ist seine Autorität hin, so dankt es ab. Erneuert es seine groans, so werden die gegnerischen cheers um so lauter gellen. Und aus den „Abderiten"[141] ist bekannt, zu welchen Tatsächlichkeiten die Rivalität zwischen cheers und groans hinführt. Die Citymeetings waren eine direkte Herausforderung des Unterhauses, ähnlich'wie in dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die Wahl von Sir Francis Burdett durch Westminster. Bisher stand bekanntlich die Manchesterschule[45] mit ihren Brights und Cobdens an der Spitze der Bewegung der englischen Bourgeoisie. Die Fabrikherren von Manchester sind jetzt durch die Handelsherren der City ver
1 Beifall - 2 Zischen
drängt. Ihr orthodoxer Gegensatz gegen den Krieg überzeugte die Bourgeoisie, die in England keinen Augenblick stillstehen kann, daß sie momentan wenigstens den Beruf, sie anzuführen, verloren haben. Die Herren von Manchester können in diesem Augenblick ihre „Hegemonie" nur noch behaupten, indem sie die Herren von der City überbieten. Diese Rivalität zwischen den zwei bedeutendsten Fraktionen der Bourgeoisie, tatsächlich verkündet durch die Citymeetings, wovon die Brights und Cobdens ausgeschlossen wurden und sich selbst ausschlössen, verkündet Gutes für die Volksbewegung. Schon können wir als Beweis anführen, daß der Sekretär des Citykomitees einen Brief an die Chartisten in London gerichtet und sie ersucht hat, ein Mitglied für ihren beständigen Ausschuß zu ernennen. Ernest Jones ist zu diesem Behuf von den Chartisten kommittiert worden/Die Kaufmannschaft steht natürlich nicht in so direktem Gegem i zu den Arbeitern wie die Fabrikanten, die Millocracy, und so können wenigstens für den Beginn gemeinschaftliche Schritte geschehen, die zwischen Chartisten und Manchestermen unmöglich waren. Palmerston, dies ist die letzte große Tatsache der Citymeetings, ist zum erstenmal von der wichtigsten Wahlkörperschaft des Landes ausgezischt und ausgepfiffen worden. Der Zauber seines Namens ist für immer gebrochen. Was ihn in der City in Verruf brachte, war nicht seine russische Politik, die älter ist als der Dreißigjährige Krieg11421. Es war der saloppe Hohn, der prätentiöse Zynismus, es waren vor allem die „schlechten Witze", womit er die furchtbarste Krise, die England je erlebt hat, zu kurieren affektiert. Das empörte die bürgerlichen Gewissen, so sehr es in dem verkommenen Hause der „Gemeinen" zog. Administrative Reform mit einem Parlament, wie es jetzt konstituiert ist, jeder erkennt das Unlogische dieser frommen Wünsche auf den ersten Blick. Aber wir haben in unserm Jahrhundert reformierende Päpste erlebt.11431 Wir haben Reformbanketts erlebt mit Odilon Barrots an der Spitze.11441 Kein Wunder dann, daß die Lawine, die Alt-England wegspülen wird, zunächst als Schneeball erscheint in der Hand von reformierenden Citykaufleuten. •
Friedrich Engels
Aus Sewastopol11453
[„New-York DailyTribune" Nr.4401 vom 28. Mai 1855, Leitartikel] Die Post, die hier Sonnabend abend mit der „America" angekommen ist, gibt uns erneut die Möglichkeit, unseren Lesern einen gewissen Überblick über die Kriegslage auf der Krim zu geben, obwohl der immer noch widerspruchsvolle und unbestimmte Charakter sowohl der offiziellen Berichte als auch der Zeitungskorrespondenzen unsere Aufgabe nicht leicht macht. Es steht fest, daß der Mißerfolg von Wien[146J im Lager der Alliierten bei Sewastopol von verstärkter Wachsamkeit und Aktivität begleitet wurde und daß das Bombardement - obwohl man sagen kann, daß es am 24. April eingestellt worden ist - in den folgenden Tagen dennoch nicht gerade schwächer war. Trotzdem läßt sich schwer sagen, was für Vorteile eigentlich erreicht worden sind; ein Berichterstatter behauptet sogar, daß die russischen vorgeschobenen Werke, Selenginsk, Wolhynsk und Kamtschatka, ebenso wie die Schützengräben in Front der ganzen Linie von den Verteidigern geräumt worden sind[147J. Da dies offensichtlich das Günstigste ist, was die Alliierten erreichen konnten, wollen wir zunächst annehmen, es sei wahr. Andere Korrespondenten berichten, daß die Franzosen die Flagstaff-Bastion selbst gestürmt und sich dort verschanzt haben, aber diese Nachricht verdient keinen Glauben. Es ist nichts weiter als eine dumme Übertreibung der Affäre vom 21 .April, als die Franzosen durch Sprengen von Minen einen vorgeschobenen Laufgraben vor dieser Bastion zogen.1
1 In der „Neuen Oder-Zeitung" Nr. 217 vom 11. Mai 1855 wurde an Stelle dieses Absatzes folgender Text gegeben: „Die Eröffnung der telegraphischen Kommunikation von Balaklawa nach London und Paris hat, soweit das Publikum beteiligt ist, bisher nur dazu gedient, größere Verwirrung in das ihm mitgeteilte Material zu bringen. Die englische Regierung veröffentlicht nichts oder höchstens einige unbestimmte Ver Sicherungen über erreichte Erfolge; die französische Regierung veröffentlicht Depeschen
Wir wollen weiterhin annehmen, daß es stimmt, daß die Russen auf ihre ursprüngliche Verteidigungslinie zurückgeworfen sind, obgleich es sehr auffallend bleibt, daß Berichte über die Einnahme des Berges Sapun und des Mamelon durch die Alliierten bisher noch fehlen. Gesetzt aber auch, die Redouten auf diesen Hügeln befänden sich nicht länger in den Händen der Russen, so kann niemand leugnen, daß sie große Vorteile von ihnen gezogen haben. Sie haben den Sapun vom 23. Februar und die Mamelon-KamtschatkaRedoute vom 12. März bis Ende April gehalten, während welcher Zeit die Laufgräben der Alliierten entweder enfiliert oder anhaltendem Feuer in der Front ausgesetzt waren, während der Schlüssel der ganzen Position - Malachow - vollständig durch sie geschützt wurde während der fünfzehntägigen Kanonade. Nachdem die Russen sie so gut genutzt hatten, konnten sie deren Verlust verschmerzen. Die verschiedenen Nachtattacken, bei denen sich die Alliierten der russischen Schützengräben und Konterapprochen bemächtigten, brauchen hier ebensowenig beschrieben zu werden wie der Ausfall der Russen, den diese unternahmen, um sie wieder zurückzugewinnen. Derartige Operationen sind von keinem taktischen Interesse, es sei denn für solche Leute, die das Gelände aus persönlicher Erfahrung kennen; sie Werden hauptsächlich durch den Verstand, die Kühnheit und Beharrlichkeit der Subalternoffiziere und Soldaten bestimmt. In diesen Eigenschaften sind die Engländer und Franzosen den Russen überlegen, und demzufolge haben sie ihre Stützpunkte an einigen Stellen nahe der russischen Werke gut behauptet. Die Entfernung zwischen den Gegnern ist hier und dort reduziert auf die Weite von Handgranaten, d. h. zu 20 oder 30 Yards von dem russischen gedeckten Wege oder von 40-60 Yards von dem Hauptwalle. Die Russen behaupten, die Belagerer
unter dem Namen Canrobert, aber so beschnitten und verfälscht, daß es fast unmöglich ist, irgend etwas aus ihnen zu entnehmen. Zum Beispiel: Die Bastion, wogegen der französische Hauptangriff gerichtet ist, hieß bisher unabänderlich Flagstaff "Bastion oder Bastion du MdL Jetzt erfahren wir, große Vorteile seien davongetragen worden gegen die Zentral-Bastion, dann gegen Bastion Nr. 4. Nach langem Vergleichen mit früheren Berichten, besonders auch russischen, stellt sich heraus, daß noch fortwährend von unserer alten bekannten, der Bastion du Mät, aber unter verschiedenen Titeln und Nomenklaturen die Rede ist. Diese Art Mystifikation ist durchaus tendenziell und so gewissermaßen auch ,providentieir. Aber wenn der Telegraph dem Publikum nicht zugute kommt, hat er unstreitig einiges Leben in das alliierte Heerlager gebracht. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die ersten Depeschen, die Canrobert empfing, gemessenen Befehl erteilten, mit größerer Entschiedenheit zu handeln und um jeden Preis irgendwelche Erfolge zu gewinnen. Ein nicht offizieller Bericht behauptet, daß alle vorgeschobenen Werke, Selenginsk, Wolhynsk und Kamtschatka, ebenso wie die Schützengräben in Front der ganzen Linie von den Russen geräumt worden sind.44
seien 30 Sashen1 oder 60 Yards von ihm entfernt. Das ist besonders der Fall in Front der Flagstaff-Bastion, der Zentral-Bastion und des Redan, wo das Gelände tote Winkel bildet mit Vertiefungen, die so gelegen sind, daß die russischen Kanonen nicht genügend unter die Horizontale gerichtet werden können, um die Geschosse dort einschlagen zu lassen. Da die russische Artillerie keineswegs zum Schweigen gebracht worden ist, sind die Kommunikationen mit diesen Vertiefungen und ihre Umwandlung in ein vollständiges System von Laufgräben eine sehr schwierige Angelegenheit, und die Alliierten werden das Flankenfeuer der Russen recht heftig zu spüren bekommen. Indes, solange die Batterien der Alliierten an 400 oder 500 Yards hinter den vorgeschobenen Laufgraben sich befinden, ist nicht einzusehen, wie sie so ausgesetzte Positionen zu behaupten erwarten gegen plötzliche und mit genügender Stärke unternommene Ausfälle; und nach dem anerkannten Mißlingen des Bombardements wird es Zeit kosten, bis neue und weiter vorgeschobene Batterien ins Spiel gebracht werden können. Dieses plötzliche Vorrücken der Alliierten direkt bis zum Fuße der russischen Festungswälle steht zwar im Gegensatz zu ihrer bisherigen Trägheit und Unentschlossenheit, befindet sich aber dennoch ganz im Einklang damit. In der Führung dieser Belagerung hat es nie weder System noch wirkliche Konsequenz gegeben; und da eine Belagerung im wesentlichen eine systematische Operation ist, in der jeder erreichte Schritt auf die Gefahr hin, sich sonst als nutzlos zu erweisen, sofort zu neuem Vorteil ausgebaut werden muß, ist es klar, daß die Alliierten das nach dem denkbar schlechtesten Plan betrieben haben. Ungeachtet der Enttäuschung, die in den Köpfen der Generale der Alliierten Platz griff, als sie den Schauplatz zum erstenmal sahen, ungeachtet der Irrtümer, die im vergangenen Herbst begangen wurden während der ersten Belagerung, hätten sie doch größere Fortschritte machen können. Lassen wir die Nordseite der Stadt völlig außer acht, wie die Generale der Alliierten es selbst getan haben. Sie hatten sich ein für allemal entschlossen, die Südseite abgesondert anzugreifen und Gefahr zu laufen, an eine Stelle zu kommen, die durch eine für sie unzugängliche Festung beherrscht wird. Aber hier ergibt sich eine Alternative: entweder fühlten sich die Generale der Alliierten stark genug, um die Südseite einzunehmen, und dann müssen sie jetzt zugeben, daß sie in einem unverzeihlichen Irrtum waren; oder sie fühlten sich zu schwach, und weshalb sorgten sie dann nicht für Verstärkung? Es kann jetzt nicht geleugnet werden, daß ein Fehler dem andern in dieser „denkwürdigen und beispiellosen" Belagerung gefolgt ist. Die Härte des
1 altes russisches Längenmaß = 2,336 m
Winterquartiers scheint sowohl der Armee als auch den Generalen einen Geist unüberwindlicher Schläfrigkeit, Apathie und Trägheit eingeflößt zu haben. Als die Russen im Februar kühn aus ihren Linien hervorkamen und im Vorgehen neue bildeten, hätte es ihnen ein ausreichender Ansporn sein müssen, ihre ganze Energie aufzubieten; doch Canrobert konnte diese sehr ernste Warnung zu keinem anderen Zweck benutzen als dem, den Eifer der Zuaven durch eine Attacke zu dämpfen, die - wie er von vornherein wußte zu nichts Gutem führen konnte. Die Arbeit in den Laufgräben wurde wieder aufgenommen, aber mehr, um gedeckte Wege für Sturmkolonnen zu bilden, als die Batterien näher an den Feind zu schieben. Selbst nachdem man sechs Monate vor der Festung verbracht hat, zeigt jede Handlung, daß kein definitiver Plan verfolgt wurde, kein Punkt für eine Generalattacke ins Auge gefaßt, ja, daß sogar die alte fixe Idee, Sewastopol durch einen Coup de main1 zu nehmen, immer noch in den Köpfen der Alliierten vorherrschte, die jeden vernünftigen Vorschlag durchkreuzte und jeden Versuch eines systematischen Vorgehens zunichte machte, und das wenige, was getan wurde, wurde dreimal langsamer wie reguläre Belagerungsoperationen durchgeführt, wobei die Inkonsequenz und das Fehlen eines Planes, die das Ganze kennzeichneten, ihm nicht einmal die Siegesgewißheit verliehen, die solchen regulären Operationen innewohnt.2 Aber alles wurde erwartet von dem Wiedereröffnen des Feuers. Das war die hauptsächliche Entschuldigung für jedes Zögern und Nichtstun. Obgleich es schwer ist, zu sagen, was von diesem großen Ereignis erwartet wurde - von Batterien auf 600-1000 Yards von ihrem Angriffsgegenstand entfernt -, so wurde das Feuer doch endlich eröffnet. Ungefähr 150 Schüsse per Kanone die ersten zwei oder drei Tage, dann 120 Schüsse, dann 80, dann 50, schließlich 30, wonach die Kanonade suspendiert ward. Der Effekt war kaum sicht
1 Handstreich-2 Inder „Neuen Oder-Zeitung" wurde an Stelle dieses Absatzes folgender Text gegeben: „Selbst dies plötzliche Vorrücken der Alliierten bildet nur einen Ring in der Kette von planlosen Einfällen, die diese Belagerung auszeichnen - wo bunt durcheinanderlaufen regelmäßige Blockade, gewaltsamer Angriff, Träume von coups de main. Dem ersten Bombardement vom 17. Oktober bis 5. November war schon der Beschluß der Alliierten vorausgegangen, keine Rücksicht auf die Nordseite der Stadt zu nehmen und einen abgesonderten Angriff auf die Südseite zu unternehmen, d. h. die Gefahren zu laufen, sich in einenPlatz hineinzuwagen, der durch eine für sie uneinnehmbare Befestigung beherrscht bliebe. Dann zeichnete sich schon das erste Bombardement aus durch Zersplitterung des Feuers auf einer enormen Linie, statt es auf einen oder zwei Punkte zu konzentrieren. Die fünf Monate zwischen dem ersten und zweiten Bombardement wurden nicht dazu benutzt, Hauptpunkte des Angriffe auszufinden, sondern nur um den ursprünglichen Fehler, den gleichmäßigen Angriff von allen Punkten eines enormen Halbkreises, im Detail und möglichst schläfrig auszuarbeiten."
bar, außer in den unbrauchbar gewordenen Kanonen und ausgeleerten Magazinen der Alliierten. Eine fünftägige Kanonade mit voller Wucht würde den Russen mehr Schaden getan und den Alliierten mehr Chancen des Erfolgs eröffnet haben als fünfzehn Tage eines Feuers, das mit großer Wut begann und ebenso schnell erschlaffte, wie es begonnen hatte. Aber wie konnten die Alliierten in der Lage sein, diese günstigen Umstände zu nutzen, nachdem ihre Munition verschossen und ihre Kanonen unbrauchbar geworden waren? Ebensowenig wie jetzt, während die Russen in einer weit besseren Lage sind als damals, da sie sehen, wie das Feuer nachläßt und es ihnen erspart bleibt, von einem Hagel von 50000 Geschossen pro Tag an fünf aufeinanderfolgenden Tagen überschüttet zu werden. Diese Verlängerung der Kanonade durch Abschwächung ihrer Intensivkraft ist eine so große und unerklärliche Abweichung von allen Kriegsregeln, daß politische Gründe dem zugrunde liegen müssen. Als das Feuer der ersten beiden Tage die Erwartungen der Alliierten enttäuscht hatte, muß die Notwendigkeit, wenigstens den Schein einer Kanonade während der Wiener Konferenz1301 aufrechtzuerhalten, zu dieser sinnlosen Verschwendung von Munition geführt haben. Die^ Kanonade endigt, die Wiener Konferenzen sind suspendiert, der Telegraph ist vollendet. Zugleich folgt ein Szenenwechsel. Befehle langen von Paris an, rasch und entscheidend zu handeln. Das alte System des Angriffs wird aufgegeben; Stürme im kleinen, Logierungen durch Minenexplosionen, Kampf mit Büchsen und Bajonetten folgen dem resultatlosen Gebrüll der Artillerie. Vorgeschobene Punkte werden gewonnen und selbst behauptet gegen einen ersten Ausfall der Belagerten. Aber falls nicht Batterien in kurzer Entfernimg von den russischen Linien errichtet und zu heiß für die Belagerten gemacht werden, ist nichts gewonnen. Die vorgeschobenen Posten können nicht gehalten werden ohne große und täglich wiederholte Verluste und ohne regelmäßig wiederkehrende Gefechte mit zweifelhaftem und schwankendem Ausgang. Und gesetzt selbst, daß diese Batterien der zweiten und dritten Parallele errichtet werden sollen, daß es für ihr Eröffnen nötig war, die Russen erst aus ihren Schützengräben zu verjagen - wie lange wird es währen, bis diese neuen Batterien Kanonen genug erhalten haben, um erfolgreich das Feuer der Russen zu erwidern, das während der zwei Bombardements dem der Alliierten die Stange hielt? Je näher Batterien den feindlichen Werken rücken, desto destruktiveres Kreuzfeuer kann auf sie konzentriert werden und desto beschränkter wird der Raum für die Aufstellung von Kanonen; in andern Worten, desto gleicher wird das Feuer des Angriffs dem Feuer der Verteidigung, es sei denn, daß letzteres zuvor zum
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Schweigen gebracht durch die entfernteren Batterien, wovon hier nicht die Rede ist. Wie war es dann aber den Russen möglich, den Attacken der Alliierten so erfolgreich zu widerstehen? Erstens infolge der Fehler und der Unentschlossenheit der Verbündeten selbst; zweitens infolge der Tapferkeit der Garnison und der Geschicklichkeit des leitenden Ingenieurs, Oberst Todtieben, drittens durch die natürliche Stärke der Position. Denn man muß zugeben, daß die Position tatsächlich stark ist. Die schlechten Landkarten, die bis vor sehr kurzer Zeit die einzig erreichbaren waren, stellten Sewastopol als eine am unteren Teil eines Abhangs gelegene und von den Höhen im Hintergrund beherrschte Stadt dar; aber die neuesten und besten Landkarten beweisen, daß die Stadt auf mehreren abgerundeten, isolierten Hügeln steht, die vom Abhang des Plateaus durch Schluchten getrennt sind; diese Hügel beherrschen tatsächlich in gleicher Weise sowohl die Stadt wie auch das Plateau. Dieser Charakter des Geländes scheint das Zögern, die Festung im vergangenen September im Sturm zu nehmen, völlig zu rechtfertigen; offenbar war er den Generalen der Alliierten zu imponierend erschienen, so daß sie nicht einmal den Versuch unternahmen, den Feind zu veranlassen, zu zeigen, welche Kräfte er zur Verteidigung aufbieten könnte. Der russische Ingenieur hat sich diesen natürlichen Vorteil soweit wie möglich zunutze gemacht. Wo Sewastopol auch immer einen dem Plateau zugewandten Abhang hat, sind zwei und selbst drei Batteriereihen errichtet worden, eine über der anderen, die Verteidigungsstärke verdoppelnd und verdreifachend. Solche Batterien sind auch in anderen Festungswerken errichtet worden (z. B. am Abhang des Mont-Valerien bei Paris), aber sie werden von den Ingenieuren, die sie als Granatenfallen bezeichnen, nicht allgemein gebilligt. Sie bieten dem Belagerer wirklich ein größeres Ziel, dessen Salven die darunter- oder darüberliegende Batterie treffen können, wenn sie die verfehlen, auf die gezielt wurde, und sie werden aus diesem Grunde der Verteidigung stets größere Verluste zufügen. Aber wo eine Festung wie Sewastopol nicht einmal eingeschlossen ist, gilt ein solcher Nachteil nichts, verglichen mit der enormen Stärke, die sie dem Verteidigungsfeuer verleiht. Nach dieser Belagerung Sewastopols glauben wir, diese Granatenfallen recht wenig beanstanden zu können. Für Festungen ersten Ranges, die mit großen Vorräten versehen und schwer einzuschließen sind, können sie dort, wo das Gelände ihnen günstig ist, zum größten Vorteil genutzt werden. Abgesehen von diesen Granatenfallen sind die Russen auch in anderer Hinsicht von der üblichen Ingenieursroutine abgewichen. Den veralteten Systemen der Bastionsbefestigungen entsprechend, würden 15 oder 17 Bastionen zu wenig
gewesen sein, um die Festung einzukreisen und würden sie nur sehr schlecht verteidigt haben. Statt dessen gibt es auf vorgelagerten Höhen nur sechs Bastionen, während die Kurtinen, die sie miteinander verbinden, in winkelbildende Linien gebrochen sind, um so mit einem von dem der Bastionen unabhängigen Flankenfeuer aufwarten zu können, und von diesen vorspringenden Stellungen aus bestreichen schwere Geschütze das vordere Gelände. Diese Kurtinen sind fast auf ihrer ganzen Länge mit Kanonen bestückt, was wiederum eine Neuerung bedeutet, denn die Kurtinen in üblichen Bastions-Befestigungen sind im allgemeinen nur für besondere Falle mit ein bis zwei Kanonen bestückt, und die ganze Feuerverteidigung wird den Bastionen und Ravelins übertragen. Ohne auf weitere technische Details einzugehen, wird man aus dem oben Gesagten ersehen können, daß die Russen ihre Möglichkeiten bestens genutzt haben und daß die Alliierten falls sie jemals in den Besitz der Flagstaff- oder der Malachow-Bastion kommen sollten - sicher sein können, auf eine zweite und eine dritte Verteidigungslinie zu stoßen, die zu bezwingen sie ihre ganze Findigkeit einzusetzen haben werden.
Geschrieben um den 8. Mai 1855. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Pianori - Mißstimmung gegen Österreich
[„Neue Oder-ZeitungNr. 219 vom 12. Mai 1855] London, 9. Mai. „Morning Chronicle", „Advertiser", „Daily News" etc. enden alle ihre Philippiken gegen den Meuchelmörder Pianori mit mehr oder minder scheuen Wendungen gegen die Nummer des „Moniteur", die den Anklageakt gegen Pianori veröffentlicht gleichzeitig mit dem Dekret, das dem ehemaligen französischen Unteroffizier und jetzigen Brüsseler Ladenhüter Cantillon das Napoleonische Legat von 10000 Francs auszuzahlen verordnet, den Lohn seines an Wellington versuchten Meuchelmordes. Am drolligsten wendet und krümmt sich der von Profession ernsthafte „Chronicle". Napoleon III., meint er, müsse nicht wissen von dieser sonderbaren und in diesem Augenblicke so taktlosen Huldigung Napoleons I. Der Name „Cantillon" müsse sich durch einen Lapsus pennae1 in die sittenreinen Spalten des „Moniteur" verirrt haben. Oder ein übereifriger Subalternbeamter habe auf seine Faust Cantillon mit den 10000 Francs dotiert usw. Der würdige „Chronicle" scheint sich einzubilden, daß die französische Bürokratie nach dem Muster der englischen eingerichtet ist, wo allerdings, wie wir aus dem letzten Verhör vor dem parlamentarischen Untersuchungskomitee sehn, ein Subalterner in dem Board of Ordnance2 auf seine Faust eine gewisse Sorte von Raketen, hinter dem Rücken seiner Vorgesetzten und zum Belauf von Tausenden von Pfunden, bestellen kann, oder wo, wie Palmerston dem Unterhaus erklärt, diplomatische Aktenstücke dem Parlament wochenlang vorenthalten werden müssen, weil die „Person", die im Ministerium des Auswärtigen mit Übersetzung solcher Dokumente betraut ist, am Schnupfen oder Rheumatismus leidet.
1 Schreibfehler - 2 Feldzeugamt
Seit einigen Tagen sucht die Londoner Presse von ihrer Bewunderung Österreichs zurückzukommen und ihr Publikum auf einen jähen Übergang in einer entgegengesetzten Tonart vorzubereiten. Wie gewöhnlich müssen „our own correspondents"1 das Eis brechen. So läßt sich der „Morning Chronicle" von Berlin schreiben: „Kein positiver Akt der Täuschung oder formellen Wortbruchs kann dem preußischen Kabinett zur Last gelegt werden. Sind die westlichen Kabinette getäuscht worden, so war es ihr eigner Fehler oder derer, die das Geschäft haben, ihnen die Augen zu öffnen. Aber kann dasselbe von Österreich gesagt werden? War sein Betragen so unverhüllt wie das Preußens? Letzteres hat den westlichen Mächten allen Schaden getan, der in seiner Macht war, offen und unverhüllt. Es trotzt und verlacht uns ohne Maske oder Rückhalt. Das erstere hat kokettiert mit England und Frankreich während 20 Monaten, uns im geheimen ausgelacht, Hoffnungen hervorgerufen offiziell und privatim, von Kommission zu Kommission uns gelockt, Versicherungen des formellsten Charakters gegeben, und, wie lange vorhergesagt von denen, die nicht geblendet durch übertriebenes Vertrauen, steht nun auf dem Sprung, uns im Stich zu lassen, falls wir nicht Friedensbedingungen annehmen, möglichst vorteilhaft für Rußland und durchaus schädlich für Frankreich und England. In der Tat! Nachdem Österreich Rußland als Schild am Pruth gedient und Gortschakow befähigt hat, fast seine ganze Streitkraft von Bessarabien nach der Krim zu detachieren, tritt es nun vor und besteht auf einem Frieden, der die Dinge lassen soll, wie sie sind. Wenn das alles ist, was wir von Österreichischer Freundschaft zu erwarten haben, dann, je eher die Maske weggeworfen wird, desto besser."
Andrerseits läßt sich die „Times" aus Wien berichten: „Baron Heß, der Oberkommandant des 3. und 4. Armeekorps, hat neulich ein Memorandum aufgesetzt und seinem kaiserlichen Herrn überreicht, worin bewiesen wird, daß, unter gegenwärtigen Umständen, es nicht ratsam für Österreich sei, Rußland den Krieg zu erklären. Man wird wahrscheinlich ein Geschrei gegen mich erheben, daß ich in so öffentlicher Weise einen so delikaten Gegenstand berühre, aber nach meiner Meinung ist es ein Dienst für England und Frankreich, ihnen zu sagen, daß sie auf ihre eignen Hilfsquellen rechnen müssen und Österreichs Beistand kaum zu erwarten ist. Hätte es Preußen und den Bund bereden können, seine linke Flanke mit einer Armee von 100000 Mann zu decken, so würde es, trotz der vielen Hindernisse, die sich entgegenstellten, wahrscheinlich seit lange sich verpflichtet haben, die Offensive gegen Rußland zu ergreifen. Die Argumente, die Baron Heß in seinem Memorandum entwickelt, sind nicht positiv bekannt, aber die russischgesinnten Österreicher, in solchen Materien stets am besten unterrichtet, versichern, daß sie sich ungefähr auf folgendes belaufen: Die Westmächte haben zur Evidenz bewiesen, daß sie ihre eigenen Gesamtmittel wie die der Türkei erheischen, um gegen die Russen in der Krim stand
1 „unsere eigenen Korrespondenten*4
zuhalten. Es wäre daher höchst unklug auf Seiten Österreichs, falls es nicht den Beistand des Deutschen Bundes sichern kann, sich in einen Krieg mit Rußland einzulassen. Es ist von allen Seiten anerkannt, daß letzteres eine Armee von 250000 Mann, mit Einschluß der Garden und Grenadierkorps, in Polen stehen hat, und da sie hier in dem Rayon von sieben der stärksten Festungen des Russischen Reiches postiert ist, kann keine wenigstens doppelt so starke Streitkraft Vorteile über sie davonzutragen erwarten. Ebenso soll der zerrüttete Zustand der Finanzen in Betracht gezogen sein; Frankreichs Unfähigkeit, Österreich 100000 Mann zur Verfügung zu stellen; die bloßgelegte Hilflosigkeit der britischen Regierung; der wenige Verlaß auf Preußen usw. Letzte Woche kam noch ein neuer Grund hinzu, die Vergänglichkeit der Dinge im allgemeinen, die Ungewißheit eines Menschenlebens im besondern und das Dilemma, worein Österreich gestellt wäre, sollte irgend etwas dem Louis-Napoleon zustoßen, während es sich in einem Kriege mit Rußland befände!"
Friedrich Engels
Der Feldzug in der KrimCU8]
[„Neue Oder-Zeitung" Nr. 221 vom 14. Mai 1855] London, II.Mai. Die Ungeduld der französischen Armee hat Canrobert gezwungen, den Operationsplan der Alliierten auszuplaudern. Die 25000 Mann der Reservearmee sollen nach der Krim übergesetzt werden; 30000-40000 Mann mehr - Franzosen und Piemontesen - sollen folgen. Sobald die Reservearmee angelangt ist, werden die Franzosen ins Feld rücken, die Tschornaja überschreiten, die Russen angreifen, wo immer sie ihnen begegnen, eine Verbindung mit Omer Paschas Truppen irgendwo in der Nähe der Alma und Katscha zu bewirken suchen und dann nach Umständen handeln. Unterdessen sollen die Dampfer der Flotten Kaffa und Kertsch angreifen und, wenn es ihnen gelingt, sich ihrer zu bemächtigen, diese Plätze halten als mögliche Pivots oder Stützpunkte für die aktive Armee im Felde. Das ist in der Tat der einzig mögliche Plan für die Alliierten, den Krimfeldzug zu einem erfolgreichen Schlüsse zu bringen. Aber solche Aktion im freien Felde erfordert bedeutendes Übergewicht der Streitkräfte auf Seiten der Alliierten. Ohne dasselbe können sie keinen entscheidenden Vorteil über die russische Observationsarmee davonzutragen erwarten. Wie verhält es sich denn mit der Bilanz der Streitkräfte in diesem Augenblick? Die Franzosen haben in der Krim 9 Divisionen Infanterie und 1 Brigade Kavallerie (Chasseurs d'Afrique1). Zu 7000 Mann per Division gibt dies eine Infanterie von 63000 Mann, nebst 1500 Kavallerie. Die Engländer haben 5 Divisionen Infanterie zu höchstens 6000 Mann jede und 1 Division Kavallerie von 2000 Mann. Außerdem befindet sich dort eine Division türkischer
1 für den Dienst in Afrika bestimmte leichte Reiterei
Infanterie zu etwa 6000 Mann. Man füge hinzu die französische Reservearmee, von der nicht mehr als 20000 Bajonette, eingeschlossen die am 3. Mai gelandeten 4000 Piemontesen, nach der Krim gebracht werden können zu der von Canrobert für Eröffnung des Feldzugs festgesetzten Zeit. Die Gesamtkräfte der Alliierten vor Sewastopol ergeben dann folgendes Resultat: Französische Infanterie 83000, Kavallerie 1500 Englische dgl. 30000, dgl. 2000 Türkische dgl. 6000 Gesamtzahl: Infanterie 119000, Kavallerie 3500
Die Komposition der französischen Reservearmee zu Konstantinopel ist wenig bekannt. Wir wissen daher nicht, ob irgendwelche neue Kavallerie in diesem Augenblick nach der Krim gebracht werden kann. Höchstens wird der Zuwachs von Kavallerie, mit dem sie den Feldzug eröffnen können, 2000 Mann betragen, so daß ihre Gesamtkavallerie auf 5500 stiege. Um die Belagerung fortzuführen, sind mindestens ebensoviel Truppen nötwendig, als jetzt mit dieser Aufgabe beschäftigt sind, nämlich 46000 Mann (4 französische Divisionen zu 7000 Mann jede und drei englische zu 6000). Hierzu kommen die Matrosen, die Truppen, die mit der Bewachung von Balaklawa, der Linie von Befestigungen bis Inkerman betraut sind und zugleich eine Reserve für das Belagerungskorps bilden. Niedrig geschätzt, betragen sie 12000 Mann, darunter einbegriffen die obenerwähnten 6000 Türken. Die Matrosen und Seesoldaten zu 4000 geschätzt, sind 54000 Mann von der Gesamtzahl von 119000 abzuziehen, so daß verwendbar bleiben für Feldoperationen 65000 Mann Infanterie und 5500 Kavallerie, zusammen etwas über 70000 Mann. Außerdem ist in Anschlag zu bringen: Omer Paschas Korps bei Eupatoria, ungefähr 35000 Mann Infanterie und 3000 oder 4000 Kavallerie. Hiervon müssen 15000 zurückbleiben als Besatzung des Platzes, so daß Omer Pascha wahrscheinlich ins Feld rücken würde mit 20000 Mann Infanterie, 4000 Kavallerie, in allem 24000. Totalsumme daher der alliierten Streitkräfte für Feldoperationcn in 2 geteilten Korps: Infanterie Kavallerie Gesamtzahl Armee vor Sewastopol 65000 5500 70500 Armee vor Eupatoria 20000 4000 24000 85ÖÖÖ 95ÖÖ 94500 Nehmen wir den niedrigsten Anschlag, den die Russen selbst von ihren gegenwärtigen Streitkräften in der Krim geben, so erhalten wir 120000 Mann
Infanterie und 20000 Mann Kavallerie. Davon abzuziehn für die Verteidigung von Sewastopol 50000 Mann, nämlich 26000 für die Südseite und 2400(\für das Nordfort und das befestigte Lager. Bleiben verwendbar für das Feld 70000 Infanterie und 20000 Kavallerie. Es ist unmöglich, die Zahl der Feldartillerie auch nur annähernd zu bestimmen. Indes die Schwierigkeit für die Alliierten, sich Pferde zu verschaffen, und das große Verhältnis, worin Kanonen jede russische Armee begleiten, erlauben kaum einen Zweifel, daß die Russen ihren Gegnern in Artillerie überlegen sein werden. Ebenso klar ist die Überlegenheit der Russen in Kavallerie. Was die Infanterie betrifft, so sind die Alliierten vereint darin den Russen überlegen, aber jedes ihrer zwei Operationskorps für sich ist schwächer. Der größte Vorteil der Russen jedoch ist ihre Position. Postiert auf dem Dreieck zwischen der Alma, Sewastopol und Simferopol, halten sie im Norden gegen Omer Pascha die verschanzte Stellung an jenem Flusse, verteidigungsbar mit 15000 Mann Infanterie in der Front, während eine Flankenbewegung der russischen Kavallerie die Türken von Eupatoria abzuschneiden droht. Sollte Omer Pascha daher selbst bis zur Alma vorrücken, so wird er nie fähig sein, sie zu überschreiten, bevor die Anglo-Franzosen die Russen nach Simferopol geworfen und sie so gezwungen haben, die Alma aufzugeben. In diesem Falle könnte eine Vereinigung der beiden Korps bewerkstelligt werden. Das Vorrücken der anglo-französischen Armee ist daher die Grundbedingung allen Erfolgs. Dieses Vormarschieren aber der Alliierten kann schwerlich anders stattfinden als auf dem Wege nach Mackenzies-Pacht. Der Weg hier entlang nach der Alma und Simferopol ist verteidigt durch eine doppelte Reihe von Verschanzungen, die erste auf dem die Tschornaja überhängenden Bergrücken, die zweite auf der Nordseite einer Bergschlucht, die von der Felsenkette in der Nähe von Mackenzies-Pacht bis zum Kopfe der Sewastopolbucht niederläuft. Diese zweite und Hauptlinie der Verteidigung, etwa nur zwei englische Meilen ausgedehnt, soll sehr stark verschanzt sein, und hier wird für die Alliierten die erste entscheidende Aktion zu fechten sein, eine Aktion, die entscheiden wird, ob sie auf dem Herakleatischen Chersones gefangen, gesperrt zu bleiben oder in das Innere des Landes vorzudringen haben. Vorteilhaft für die Russen ist die schmale Front, in der die Alliierten hier agieren müssen. Würden die Russen hier geschlagen und ihre Position genommen, dann bleibt ihnen nichts übrig, als sich auf den Belbek zurückzuziehen und diese Linie gegen die Alliierten zu halten, während ein detachiertes Korps an der Alma die Türken in Schach hielte. Selbst wenn hier geschlagen, würden ihre Überlegenheit an Kavallerie und die schlechten Transportmittel, die den Alliierten nicht erlauben, auf einer größeren Ent
femung von der Küste zu leben, ihnen gestatten, sich aus dem Bereiche der Alliierten zurückzuziehen. Ihre Rückzugslinie läge auf der Verlängerung ihres linken Flügels, was allerdings eine sehr unvorteilhafte Position. Wahrscheinlich indes, daß die Russen von Anfang an versuchen werden, die Alliierten an der Tschornaja zu beschäftigen, ihre Hauptkraft aber auf Omer Pascha zu werfen, um ihn mit Kavallerie zu umzingeln und zu erdrücken und dann sich mit ihrer Gesamtkraft gegen die Anglo-Franzosen zu kehren.
Karl Marx
„Morning Post" gegen Preußen Charakter der Whigs und Tories
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.227 vom 18.Mai 1855] London, H.Mai. Palmerstons Privatorgan, die „Morning Post", bringt heute einen drohenden Artikel gegen Preußen, worin u. a. es heißt: „Im Monat April 1854 wurde durch einen Geheimratsbeschluß Erlaubnis erteilt, russische Produkte in das Vereinigte Königreich zu importieren in neutralen Schiffen. Preußen hat diese Erlaubnis mit erstaunlicher Raschheit verwertet. Die folgenden statistischen Angaben (entnommen aus offiziellen, dem Parlament vorgelegten Tabellen) zeigen vergleichungsweise den Betrag ihrer Einfuhren an Talg, Hanf und Flachs aus jenem Lande in den Jahren 1853 und 1854. Der Überschuß des letzteren Jahres zeigt klar die Quantität russischer Produkte an, die ihren Weg durch Memel und Danzig nach dem britischen Markt gefunden haben, trotz unserer strikten Blockade der russischen Häfen in der Ostsee. Von Preußen wird importiert in das Vereinigte Königreich:
1853 1854 Talg (Ztr.) 54 253955 Hanf » 3447 366220 Flachs „ 242383 667879 Flachs- Leinsamen (qrs.)1 57848 116267
Diese Zahlen zeigen hinlänglich den Wert dieses neuen Handelszweiges für Preußen. Das Resultat ist, daß Rußland trotz unserer Blockade befähigt ist, seine Produkte so frei zu verkaufen wie in Friedenszeit, während wir 50 Prozent mehr für sie zu zahlen haben in der Form von Gebühren und Profiten für den preußischen Kaufmann. Wir gestehen, daß unsre jetzige Politik wesentlich inkonsequent ist. Das Heilmittel aber ist zu suchen nicht in der Aufhebung der Blockade der feindlichen Häfen, sondern in der Vernichtung, soweit es unsre Macht irgend erlaubt, des über die preußischen Besitzungen geführten Landhandels.u
1 Die „Neue Oder-Zeitung" gibt Zentner statt Quarter an; 1 qr. = 290,791
Die antiaristokratische Bewegung in England kann nur ein unmittelbares Resultat haben, die Tories, d. h. die spezifisch aristokratische Partei ans Ruder zu bringen. Wenn nicht, so verläuft sie zunächst notwendig in einige WhigsPlattheiten, ein paar administrative Scheinreformen, nicht des Redens wert. Layards Ankündigung seiner Resolutionen über den „Zustand der Nation" und die Aufnahme, die diese Ankündigung im Hause der Gemeinen fand, rief die Citymeetings hervor. Aber dicht auf dem Fuße der Citymeetings folgte Ellenboroughs Motion im Hause der Lords, wodurch die Tories. die neue Reformagitation sich aneignen, sie in ihre Leiter zum Ministerium verwandeln. Layard selbst hat in seiner Motion die Worte „aristokratischen Einflußtt in „Familieneinfluß" verändert - eine Konzession an die Tories. Jede Bewegung außerhalb des Hauses nimmt innerhalb des Hauses die Form des Krakeels zwischen den zwei Fraktionen der regierenden Klasse an. In den Händen der Whigs wurde die Anti-Corn-Law League[137] ein Mittel zum Sturze der Tories. In den Händen der Tories ward die Administrative ReformAssoziation11401 ein Mittel zum Sturze der Whigs. Man darf nur nicht vergessen, daß in dieser Weise eine Grundlage des alten Regimes nach der andern abwechselnd von den beiden Fraktionen aufgeopfert ward und das Regime selbst erhalten blieb, können wir hinzusetzen. Wir haben früher schon unsere Ansicht konstatiert, daß nur die Tories zu großen Konzessionen sich zwingen lassen, weil nur unter ihnen das Drängen von außen einen drohenden und selbst revolutionierenden Charakter annimmt.1 Die Whigs repräsentieren die eigentliche Oligarchie in England, die Herrschaft weniger großer Familien, wie der Sutherlands, Bedfords, Carlisles, Devonshires etc.; die Tories repräsentieren die Squireocracy, die Junkerpartei, wenn man will, obgleich zwischen dem englischen Squire und deip norddeutschen Junker breite Unterscheidungslinien zu ziehen sind. Die Tories sind daher die Gefäße aller altenglischen Vorurteile mit Bezug auf Kirche und Staat, Protektion und Antikatholizismus. Die Whigs, die Oligarchen, sind aufgeklärt und haben nie angestanden, Vorurteile abzustreifen, die ihrer Erbpacht der Staatsstellen im Wege standen. Die Whigs hinderten stets durch ihre Freundschaft die Mittelklassen, sich zu ^ewegen; die Tories durch ihre Freundschaft warfen die Volksmassen stets in die Arme der Mittelklassen, die sie den Whigs zur Disposition stellten. In diesem Augenblicke existiert kein Unterschied mehr zwischen Whigs und Tories, als daß letztere den Plebs und erstere die Hautevolee der Aristokratie repräsentieren. Die altaristokratische Phrase befindet sich auf Seite des aristokratischen Plebs; die liberale Phrase auf Seite der
1 Siehe vorl. Band, S. 92
aristokratischen Hautevolee. In der Tat wird aber die Tory-Partei seit Untergang der Alttories (Lord Bolingbroke etc.) stets durch Parvenüs regiert, Pitt, Addington, Perceval, Canning, Peel und Disraeli. Die homines novi1 befanden sich stets in den Reihen der Tories. Als Derby (selbst ein Überläufer von den Whigs) sein Ministerium bildete, enthielt es außer ihm selbst vielleicht noch 2 alte Namen. Alles andere simple Squires und ein Literatus. Die Whigs dagegen, die in keinem Augenblick anstanden, ihre Röcke und ihre Ansichten mit den Zeitumständen zu wechseln, die sich scheinbar stets selbst erneuten und metamorphosierten, bedurften keiner neuen Leute. Sie konnten die Familiennamen verewigen. Wenn man einen Gesamtblick auf die englische Geschichte seit der „glorreichen" Revolution von 1688 wirft, so wird man finden, daß alle gegen die Masse des Volkes gerichteten Gesetze von den Whigs initiiert sind, von der Akte, die die Parlamente in siebenjährige verwandelte11491 bis zur neuesten Armenhaus-1831 und Fabrikgesetzgebung. Aber die Whig-Reaktion fand stets im Einklang mit den Mittelklassen statt. Die Töry-Reaktion war noch mehr gegen die Mittelklasse als gegen die Volksmasse gerichtet. Daher der Ruf der Liberalität der Whigs.
1 neuen Männer
Karl Marx
Oberhaussitzung
[„Neue Oder-Zeitung4* Nr. 228 vom 19.Mai 1855] London, 15. Mai. Die Galerien des Hauses der Lords waren gestern nach* mittag schon vor Eröffnung der Sitzung vollgepfropft. Es war ein Spektakel* stück angezeigt - Lord Ellenboroughs Motion und eine reguläre Schlacht zwischen den Ins und Ou/s1. Zudem war es pikant, mit eignen Augen anzuschauen, wie die erblichen Gesetzmacher die Rolle von Kreuzfahrern gegen die Aristokratie spielen würden. Die Aufführung war schlecht. Die Schauspieler fielen beständig aus der Rolle. Das Stück begann mit dem Drama und endete mit der Farce. Während des Scheingefechts wurde nicht einmal die Illusion, die künstlerische Illusion gewahrt. Den edlen Kämpfern sah man auf den ersten Blick an, daß sie nicht nur sich selbst, sondern sogar die Waffen, womit sie kämpften, wechselseitig unversehrt zu erhalten suchten. Soweit die Debatte sich um die Kritik der bisherigen Kriegführung drehte, erhob sie sich nicht auf die Höhe des ersten besten Debating-Club2 von London, und es wäre reine Zeitverschwendung, sich hier einen Augenblick aufzuhalten. Mit wenigen Strichen aber wollen wir andeuten, wie die edlen Lords als Vorkämpfer der administrativen Reform, als Gegner des aristokratischen Regierungsmonopols und als Echo der Citymeetings sich gebarten. „Der rechte Mann an den rechten Platz!", rief Lord Ellenborough. Und zum Beweis, wie dem Verdienste und nur dem Verdienste seine Kronen gebühren, führte er an, wie er (Ellenborough) und Lord Hardwicke im Oberhaus säßen, weil ihre Väter sich durch eignes Verdienst den Weg in das Pairshaus gebahnt. Es war dies, wie es scheint, gerade umgekehrt eine Instanz, wie man durch fremdes Verdienst, das seiner Väter, es für Lebenszeit nicht nur zu einem
1 (denen, die im Amt, im Ministerium, und denen, die nicht im Amt sind) Regierung und Opposition - 2 Debattierkfubs
Posten, sondern gar zur Würde eines Gesetzgebers von England bringen kann. Und welches waren die Verdienste, wodurch der Lord-Chief justice of the Queens Bench\ der alte EHenborough, und Herr Charles Yorke, der Vater Lord Hardwickes, sich den Weg ins Oberhaus bahnten? Die Historie ist instruktiv. Der verstorbene EHenborough, englischer Advokat, dann Richter, wußte sich in den unter Pitt und Nachfolgern schwebenden Preßprozessen, Verschwörungsprozessen, Mouchardprozessen den Ruf eines Jeffreys en miniature zu verschaffen. Unter seiner Leitung erlangte die Spezialjury in England einen Ruf, wie ihn selbst die „jur<§s probes et libres"2 unter LouisPhilippe nie besessen. Das war das Verdienst des alten EHenborough, und das bahnte ihm den Weg ins Haus der Lords. Was Herrn Charles Yorke, den Vorfahren Lord Hardwickes, betrifft, so läuft er dem alten EHenborough den Rang ab in bezug auf das Verdienst. Dieser Charles Yorke, zwanzig Jahre lang Parlamentsmitglied für Cambridge, war einer der Auserwählten, denen Pitt, Perceval und Liverpool überließen „to do the dirty work for them"3. Jede der „loyalen" Schreckensmaßregeln jener Zeit fand in ihm ihren Pindar. In jeder Petition gegen den offen betriebenen Stellenverkauf im Hause der Gemeinen erkannte er „jakobinische Umtriebe". Jede Motion gegen das schamlose Sinekurenwesen zu einer Zeit, wo der Pauperismus in England zur Welt kam, denunzierte Charles Yorke als Attentat auf „die gesegneten Komforts unserer heiligen Religion". Und bei welcher Gelegenheit feierte dieser Charles Yorke seine Himmelfahrt ins Oberhaus? Im Jahre 1810 hatte die WalcherenExpedition1221 ähnliche Wirkungen in England hervorgebracht wie im Jahre 1855 die Krimexpedition. Lord Porchester stellte im Unterhause den Antrag, ein Untersuchungskomitee niederzusetzen. Charles Yorke opponierte heftig, sprach von Verschwörungen, Erregimg von Unzufriedenheit u. dgl. Nichtsdestoweniger ging Porchesters Antrag durch. Aber nun beschloß Yorke, dem Publikum die Untersuchungsakten zu entziehen, indem er, auf ein altes, albernes Parlamentsprivilegium gestützt, darauf bestand, daß die öffentlichen Tribünen von Zuhörern und Berichterstattern gesäubert würden. Das geschah. Ein Herr Gale Jones, Präsident eines Londoner Debating-Club, veröffentlichte dann eine Anzeige, worin es hieß, daß in der nächsten Sitzung des Klubs die Verletzung der Preßfreiheit und die grobe Beschimpfung der öffentlichen Meinung durch Charles Yorke zur Diskussion kommen würde.Charles Yorke ließ den Gale Jones nun wegen Beleidigung eines Parlamentsmitglieds und Bruchs der „Privilegien des Parlaments" vor das Unterhaus
1 Präsident des Oberhofgerichts - a „ehrlichen und freien Gerichte44 - 3 „die schmutzige Arbeit für sie zu tun4*
zitieren, von wo er, im Widerspruch mit allen englischen Gesetzen, ohne weiteres, ohne Untersuchung, ohne Verweisung an einen Richter, in das Newgate-Gefängnis transportiert wurde, „dort gefangengehalten zu werden, solange es den Gemeinen beliebe". Während Charles Yorke diese Heldentaten verrichtete, gab er sich große Airs1 von Unabhängigkeit. Er handle nur als biederer „Landedelmann", als des „Königs Freund", als „loyaler AntiJakobiner". Es verflossen indes nicht 3 Wochen, seit er die Galerie hatte schließen lassen, als bekannt wurde, daß er unterdes dem Ministerium Perceval seine Rechnung eingesandt und die lebenslängliche Sinekure eines Teller ofthe Exchequer2 (ähnlich wie die „des Wächters vom grünen Wachse"), d.h. eine lebenslängliche Pfründe von jährlich 2700 Pfd.St. sich erhandelt hatte. Wegen Annahme dieser Sinekure mußte Charles Yorke sich einer Neuwahl vor seinen Konstituenten von Cambridge unterziehen. Auf dem Wahlmeeting ward er mit Zischen, Grunzen, faulen Äpfeln und Eiern begrüßt und sah sich genötigt, auszureißen. Zum Schadenersatz erhob ihn Perceval in die Pairswürde. So ward Charles Yorke in einen Lord metamorphosiert und so, lehrt Lord Ellenborough den Lord Palmerston, muß das Verdienst sich seine Bahn brechen können in einem wohlgeregelten Staatshaushalt. Diese höchst naiven und charakteristischen Lapsus linguae3 abgerechnet, hielt sich Ellenborough , der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Ritter von der traurigen Gestalt besitzt, mehr in der Phraseologie der Citymeetings. Sein Freund Derby bemühte sich, selbst die rein rhetorische Konzession einzuschränken. Er wies das Gerücht ab, sich mit Layard alliiert zu haben. Er, dessen ganzes Talent in der Diskretion besteht, klagte Layard der Indiskretion an. Es sei viel Wahres in den Ansichten der Citymänner, aber sie seien zu extravaganten (!!) Schlußfolgerungen fortgegangen. Ein Minister müsse seine Kollegen im Parlament suchen und nicht nur im Parlament, sondern in der Partei, der er angehöre, und nicht nur in dieser Partei, sondern unter dem Kreise der parlamentarisch einflußreichen Männer seiner Partei. Innerhalb dieses Kreises allerdings solle die Fähigkeit entscheiden, und das sei bis jetzt oft versäumt worden. Der Fehler, meinte Derby, liege in der Parlamentsreform von 1831. Man habe die „faulen Flecke", die „rotten boroughs" vertilgt, und gerade diese faulen Flecke hätten die gesunden Staatsmänner Englands geliefert. Sie hätten es einflußreichen Männern möglich gemacht, talentvolle, aber unbemittelte junge Leute ins Parlament und von da in den Staatsdienst zu bringen. Also selbst nach Lord Derby ist eine Administrationsreform möglich ohne Parlamentsreform - nur Parlaments
1 Anschein - 2 Zahlmeisters der Schatzkammer - 3 Schnitzer
reform im umgekehrten Sinne, Restauration der „faulen Flecke". Die Klage Derbys scheint nicht ganz begründet, wenn man erwägt, daß 85 Sitze im Hause der Gemeinen noch immer einigen 60 kleinen „rotten boroughs" angehören (in England allein), von denen keines über 500 Einwohner zählt und einige zwei Deputierte ernennen. Lord Panmure, im Namen des Ministeriums, brachte die Oberhausdebatte auf ihren -wahren Punkt. Ihr wollt, stotterte er, das Geschrei außerhalb der Parlamentsmauern exploitieren, um uns aus dem Ministerium herausund euch selbst hineinzudeklamieren. Warum bildete Derby kein Ministerium vor 3 Monaten, als er den Auftrag der Königin erhielt? Ja, erwiderte Derby schmunzelnd, vor 3 Monaten! Seit 3 Monaten haben sich die Dinge geändert. Lord Palmerston war vor 3 Monaten der komme a la mode^, der große, der unentbehrliche Staatsmann. Palmerston hat sich ausgespielt, und nun ist die Reihe an uns. Die Debatte im Oberhause hat gezeigt, daß hier auf keiner Seite der Stoff ist, um Männer daraus zu schneiden. Was aber das Unterhaus betrifft, so bemerkte EHenborough mit Recht, daß es abgedroschen, daß es seinen Kredit verloren hat und daß der politische Einfluß nicht mehr innerhalb, sondern außerhalb des Hauses zu suchen ist. Die Debatten im Oberhause zeigten klar die mala fides2 der aristokratischen Opposition, die die bürgerliche Bewegung gleichzeitig zu eskamotieren und als Mauerbrecher gegen das Ministerium zu benutzen gedenkt. In einem folgenden Briefe werden wir Gelegenheit haben, ebenso die mala fides der Cityreform gegen die Arbeiterklasse zu beweisen, mit der sie ganz ebenso zu spielen gedenken wie die aristokratische Opposition mit ihnen. Man würde daraus den Schluß ziehen, daß die jetzige Bewegungin Englanddurchaus komplizierter Natur ist und, wie wir früher andeuteten, gleichzeitig zwei entgegengesetzte und feindliche Bewegungen in sich einschließt.
1 begehrte Mann - 2 schlechten Absichten
Karl Marx
Die Aufregung außerhalb des Parlaments
[„Neue Oder-ZeitungNr.229 vom 19. Mai 1855] London, 16. Mai. Das Grollen der bürgerlichen Opposition über die Abstimmung im Oberhause bei Gelegenheit von Ellenboroughs Motion ist ein Symptom von Schwäche. Sie mußte umgekehrt die Verwerfung der Motion als einen Sieg feiern. Das Oberhaus, den hohen Rat der Aristokratie zwingen, sich in öffentlicher und feierlicher Debatte mit der bisherigen Art der Kriegführung zufrieden zu erklären, Palmerston als ihren Vorkämpfer und Repräsentanten laut anzuerkennen und bloße fromme Wünsche für administrative Reform, für jede Art von Reform, definitiv zu verwerfen - welch günstigeres Resultat konnten die Feinde der Aristokratie von Ellenboroughs Motion erwarten? Sie mußten vor allem das Haus der Lords, das letzte Bollwerk der englischen Aristokratie, zu diskreditieren suchen. Und sie klagen, daß das Haus der Lords eine vorübergehende Popularität auf Kosten nicht seiner Privilegien, sondern des bestehenden Kabinetts verschmäht? Daß der „Morning Herald" klagt, das Tory-Organ, das Organ aller Vorurteile „unserer unübertrefflichen Konstitution", ist in der Ordnung. Für den „Morning Herald" war es tröstliche Aussicht, nachdem die Whig-Oligarchen während anderthalb Jahrhunderten als Freunde des Bürgertums und des „liberalen Fortschritts" fungiert haben, nun die Rolle wechseln und wieder anderthalb Jahrhunderte durch die Tories mit der Rolle der „aristokratischen" Vertreter des Bürgertums und des „liberalen Fortschritts" betraut zu sehen. Der „Morning Herald" hat ein Recht zu klagen, gutes, volles Recht. Aber die bürgerliche Opposition? Bildete sie sich etwa ein, eine gemäßigte Demonstration der Citykaufleute reiche hin, um die Aristokratie zum Selbstmord, zur Abdankung zu zwingen? Aber die Wahrheit ist, daß die Bourgeoisie ein Kompromiß wünscht, daß sie Nachgiebigkeit auf der andern Seite erwartet, um selbst nachgiebig sein zu können, daß sie, wenn möglich, einen wirklichen Kampf
vermeiden möchte. Sobald der Kampf wirklich wird, drängt sich „die Million", wie sie die „niedern" Klassen nennen, mit in die Arena, nicht nur als Zuschauer, nicht nur als Schiedsrichter, sondern als Partei. Und das möchte die Bourgeoisie um jeden Preis umgehen. Es war ein ähnlicher Grund, der die Whigs von 1808-1830 aus dem Kabinett entfernt hielt. Sie wollten ihre Gegner herauswerfen um jeden Preis, nur nicht zu dem Preis wirklicher Konzessionen an die Bourgeoisie, ohne deren Beistand die Tories nicht herauszuwerfen waren, nur nicht zu dem Preis einer Parlamentsreform. Wir haben gesehen, in welch zweideutiger, achselzuckender, reservierender, ironisch-nichtssagender Weise EHenborough und Derby sich zu Parteigängern der bürgerlichen Administrativreform aufwarfen, zugleich mit Händen und Füßen ihre angeblichen Bundesgenossen abwehrend. Wir wollen nun andererseits sehen, wie ängstlich-perfid die reformierenden Handelsherren der City erst jeden Gegensatz von Seiten der Chartisten zu prävenieren und ihr Stillschweigen vorläufig zu sichern suchten, um sie dann aus den ihnen freiwillig eingeräumten Stellungen herauszueskamotieren. In dem Falle der Tories nicht mehr wie dem der Citykaufleute überwiegt die Furcht und Abneigung vor dem angeblichen Alliierten die Feindschaft gegen den angeblichen Gegner. Der Sachverlauf war in kurzem dieser. Die Administrative Reform-Assoziation11401 fürchtete Opposition von Seiten der Chartisten, die in zwei großen Meetings, wie der Leser sich erinnern wird, in St.Martins Hall und Southwark „die Nationale und konstitutionelle Assoziation" aus dem Feld geschlagen und zum Rückzug von dem selbstgewählten Terrain gezwungen hatten. Am 26. April sandten sie Herrn James Acland (früher Anti-Corn-Law Lecturer1) in die Wohnung von Ernest Jones, wo er sich als „Gesandter" der Administrativreform-Assoziation ankündigte, die auf die Unterstützung der Chartisten rechne, da es ihr Wunsch sei, die „Klassengesetzgebung" zu vernichten und eine Volksregierung einzuführen. Er lud Ernest Jones zu einer Zusammenkunft für den nächsten Tag mit dem Komitee der besagten Administration ein. Jones erklärte, er sei nicht kompetent, im Neunen der chartistischen Partei zu antworten. Er müsse die Zusammenkunft ablehnen, bis er das Londoner Verwaltungskomitee der Chartisten[150], das sich nächsten Sonntag versammele, konsultiert habe. Sonntag abend, den 29. April, teilte Jones die ganze Angelegenheit dem Chartistenkomitee mit. Er wurde bevollmächtigt, die Unterhandlung weiter zu führen. Den folgenden Morgen hatte Jones eine Zusammenkunft mit Herrn Ingraham Travers, dem Leiter der Citybewegung, der persönlich
1 Propagandist gegen die Korngesetze
15 MaraEngels, Werke, Bd. 11
Herrn James Acland als autorisierten Agenten und Repräsentanten seiner Partei akkreditierte. Herr I. Travers versicherte Jones, man beabsichtige, eine Volksregierung zu gründen. Die Resolutionen, wie sie in der „Times" gedruckt, seien nur vorläufig; über die Mittel zum Ziele sollte erst das Verwaltungskomitee entscheiden, das in dem London-Tavern-Meeting zu wählen sei. Die Chartisten, als Beweis ihrer Sympathie für die Sache der Administrativreform, sollten einen Sprecher ernennen, der sie bei dem Meeting vertrete. Dieser solle vom Präsidenten aufgerufen werden, um eine der Resolutionen zu unterstützen. Die Chartisten sollten ferner einen Repräsentanten ernennen, der auf dem Tavern-Meeting, auf Vorschlag des provisorischen Komitees der Citykaufleute, zum permanenten Mitglied des Verwaltungsausschusses der Reform-Assoziation ernannt werden würde. Es ward endlich übereingekommen, daß, da Zulassung nur auf Karten hin stattfand, die Chartisten den gebührenden Anteil an diesen Karten erhalten sollten. Jones schlug ab, diese Angelegenheit auf bloß mündlicher Verabredung beruhen zu lassen, und erklärte Herrn Ingraham [Travers], er müsse alle erwähnten Punkte in einem Briefe an das Verwaltungskomitee der Chartisten vorschlagen. Das geschah. Der Brief, strotzend von Beteuerungen, traf ein. Indes, als die Zeit zur Übersendung der Eintrittskarten herangekommen, trafen nur 12 Karten ein. Auf die Klage des Chartisterikomitees wegen Wortbruchs entschuldigte man sich damit, daß keine Karten übriggeblieben. Indes, wenn das Chartistenkomitee zwei seiner Mitglieder an die Tore der Tavern stationieren wollte, sollten sie Vollmacht erhalten, wen immer sie wünschten, auch ohne Einlaßkarten zuzulassen. Die Herren Slocombe und Workman wurden zu diesem Behufe von den Chartisten erwählt und erhielten ihre Vollmachten von Herrn Travers. Um allen Verdacht zu entfernen, sandte die Administrativreform-Assoziation noch am Tage des Meetings, einige Stunden vor seiner Eröffnung, einen Spezialboten mit einem Briefe an Jones, um ihn zu erinnern, daß der Präsident ihn auffordern werde, die 4. Resolution zu unterstützen, und daß er dem Meeting zum Mitglied des Verwaltungsausschusses vorgeschlagen werden würde in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Chartisten. Eine Stunde ungefähr vor Eröffnung des Meetings waren große Massen von Chartisten vor der Tavern versammelt. Sobald die Tore eröffnet, wurde den Herren Slocombe und Workman verboten, irgend jemand ohne Karten zuzulassen. Acht Karten wurden widerwillig ausgeteilt, um Aufschub zu verschaffen in einem Augenblicke, wo der Andrang von außen ernsthaft zu werden schien. Der Aufschub wurde benutzt, um eine in einer Neben
Straße bereitstehende Abteilung Polizei einzuschieben. Von diesem Augenblick ward niemand mehr zugelassen außer „den bekannten Kaufleuten und Bankiers". Ja, Leute in Arbeitertracht, in den bekannten Samtjacken, wurden abgewiesen» selbst wenn sie mit Einlaßkarten versehen waren. Um die in der Straße harrende Arbeitermasse zu täuschen, wurden die Türen plötzlich geschlossen und Zettel angeschlagen des Inhalts: „Die Halle ist voll. Es kann niemand mehr herein." Zu dieser Zeit war aber die Halle noch nicht halb gefüllt, und „Gentlemen", die in ihren Wagen vorfuhren, wurden zugelassen durch die Fenster und vermittels einer Hintertür durch die Küche. Die Arbeitermasse zerstreute sich ruhig, da sie von dem Verrat nichts ahnte. Obgleich Ernest Jones während des Meetings sein „Plattformticket" vorwies, wurde er nicht zur Tribüne und natürlich noch weniger zum Sprechen zugelassen. Die Assoziation hatte zwei Zwecke erreicht - die Opposition der Chartisten zu verhindern und auf die Masse in der Straße als ihren Anhang zeigen zu können. Aber sie sollte auch nur in der Straße als Statist figurieren. Ernest Jones, in einem Aufruf an die Arbeiter Englands, erzählt den Verlauf dieser Intrigenkomödie und wirft der Administrativreform-Assoziation den Fehdehandschuh hin im Neunen der Chartisten.1151^
Karl Marx
Finanzielles
[„Neue Oder-Zeitung" Nr.233 vom 22.Mai 1855] London, 19. Mai. Nach den Optimisten der hiesigen Presse hätte die englische Geschäftskrise ihren Abschluß erreicht und bewegten sich Handel und Industrie wieder in aufsteigender Linie. Die Tatsache, woraus sie diese tröstliche Konsequenz zieht, ist die Erleichterung des Geldmarkts. Einerseits hat sich nämlich der Goldvorrat in den Gewölben der Bank von England vermehrt, andererseits hat sie den Zinsfuß herabgesetzt. Während der Goldvorrat am 20.Januar 1855 nur 12162000Pfd.St. betrug, war er am 12.Mai 1855 auf 16045000Pfd.St. gestiegen - eine Zunahme von 3883000Pfd.St. Den Zinsfuß, der am 20. Januar 1855 auf 5 p.c. stand, setzte die Bankam31 .März herab auf 41/2 p.c. und am 28. April auf 4 p.c. Indes haben die Herren übersehen, daß Ansammeln von Gold in den Gewölben der Bank und Fallen des Zinsfußes noch eine andere Ursache haben können als blühendes Geschäft nämlich die umgekehrte: Geschäftsstockung und damit verbundene Abnahme der Nachfrage nach Kapital. Daß letzteres diesmal die wirkliche Ursache ist, zeigen die wöchentlich von der Bank von England veröffentlichten Tabellen. Nur muß man nicht, wie jene Optimisten, das Auge ausschließlich auf zwei Rubriken dieser Tabellen richten, auf den Goldvorrat und den Zinsfuß. Man muß zwei andere Rubriken vergleichen - die der Reservebanknoten und die der diskontierten Wechsel. Die Bank von England zerfällt bekanntlich in zwei verschiedene Departements. Das Issuing department (Ausgabedepartement) und das Banking department (Bankdepartement). Das erstere können wir die Münze der Bank von England nennen. Sein ganzes Geschäft besteht darin, Noten zu fabrizieren. Durch Robert Peels Akte von 1844 ist diese Notenfabrikation gesetzlich begrenzt. Die Bank darf nämlich über die Summe von vierzehn Millionen Pfund Sterling hinaus, die das ihr vom Staat geschuldete
Kapital repräsentieren, nicht mehr Noten ausgeben, als sich Gold in ihren Gewölben befindet. Wenn die Bank also z.B. 20 Millionen Pfd.St. Noten ausgibt, so müssen sich für 6 Millionen Pfd.St. Gold in ihren Kellern befinden. Auf die so regulierte MürÄung und Ausgabe von Noten beschränkt sich das Geschäft des Issuing department der Bank. Die Gesamtzahl der so von ihr fabrizierten Noten überweist sie dem Banking department, der eigentlichen Bank, die die Geschäfte mit dem Publikum macht, wie jede andre Deposit- und Diskontobank, und die Noten in Zirkulation setzt durch Diskontieren von Wechseln, Vorschüsse auf zinstragende Papiere, Auszahlung der Dividenden an die Staatsgläubiger, Abzahlung der bei ihr niedergelegten Deposita usw. Robert Peel machte diese schöne Erfindung der Teilung der Bank von England in zwei voneinander unabhängige Departements, wie jener Regulation des Beiaufs der auszugebenden Noten, weil er sich einbildete, in dieser Weise allen künftigen Geldkrisen vorzubeugen und durch ein selbsttätiges mechanisches Gesetz die Papierzirkulation der Metallzirkulation anzupassen. Weis der vielgerühmte Staatsmann übersah, war die nicht unwichtige Tatsache, daß seine Regulation nur die Zirkulation zwischen dem Issuing und Banking department, zwischen zwei Büros der Bank von England, keineswegs aber die Zirkulation zwischen dem Bankdepartement und der Außenwelt reguliert. Das Ausgabedepartement der Bank überliefert dem Bankdepartement so viel Noten, als es gesetzlich fabrizieren darf, z.B. 20 Millionen, wenn sich für 6 Millionen Gold in seinen Koffern befindet. Wieviel aber von diesen 20 Millionen nun wirklich in Zirkulation kommt, hängt vom Stand des Geschäfts, von den Bedürfnissen und der Nachfrage der Handelswelt ab. Der Rest, den die Bank nicht umzusetzen weiß, der also in den Koffern des Banking department liegenbleibt, fungiert in den Rechnungsablagen der Bank unter dem Namen Reservebanknoten. Wenn wir nun gesehen haben, daß der Goldvorrat der Bank vom 20. Januar 1855 bis zum 12. Mai 1855 um 3 883 000 Pfd. St. zugenommen hat, finden wir, daß während derselben Zeit der Betrag der Reservebanknoten von 5463000 auf 9417000 gestiegen ist, d.h. um 3954 000 Pfd.St. Je größer der Betrag der Reservebanknoten, d.h. in den Koffern des Banking department liegenbleibenden Noten, desto kleiner der Betrag der wirklich im Publikum zirkulierenden Noten. Aus der eben eingegebenen Zahl folgt aber, daß gleichzeitig mit dem Aufhäufen des Goldes in den Gewölben der Bank die Masse der im Publikum zirkulierenden Noten abgenommen hat. Woher diese Zusammenziehung der Zirkulation? Einfach aus der Abnahme des Verkehrs und der Verminderung der Geschäftstransaktionen. Es kann kein Zweifel über die Richtigkeit dieser Ansicht übrigbleiben, wenn wir aus denselben
Rechnungsablagen der Bank ersehen, daß der Wert der von ihr diskontierten Wechsel am 20.Januar 1855 sich auf 25282000Pfd.St. belief, dagegen am 12. Mai 1855 auf 23 007000 gefallen war - eine Abnahme von 2 275 000 Pfd. St. Der Wert der von ihr diskontierten Wechsel ist aber der sicherste Messer der von der Bank mit der Handelswelt abgemachten Geschäftsmasse. Das Resultat ist noch schlagender, wenn erwägt wird, daß die Bank am 28. April ihren Zinsfuß auf 4 p.c. heruntergesetzt hatte und also ihre Ware - Kapital um 20 p.c. wohlfeiler ausbot als im verflossenen Januar. Und [bis] heut, [von] dem 28. April, wo die Bank den Zinsfuß so herabsetzte, bis zum 12. Mai, ist die Masse der für Wechseldiskonto ausgegebenen Noten gefallen, statt zu steigen - Beweis, daß unter den jetzigen Konjunkturen das Kapital selbst zu 4 p.c. zu teuer ist, um auch nur die Nachfrage zu finden, die es noch Anfang Januar zu 5 p.c. fand; Beweis, daß der Teil des Zinsfußes nicht der größeren Zufuhr von Kapitalien, sondern nur der kleineren Nachfrage für kommerzielle und industrielle Unternehmungen zuzuschreiben ist; Beweis endlich, daß die Zunahme des Metallvorrats in den Kellern der Bank nur die Zunahme von müßig liegendem und in diesem Augenblicke nicht verwertbarem Kapital ist.

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