KARL MARX FRIEDRICH ENGELS BAND 10

KARL MARX • FRIEDRICH ENGELS WERKE•BAND 10
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX FRIEDRICH EINIGELS
WERKE
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DIETZ VERLAG BERLIN
1977
INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX FRIEDRICH ENGELS
BAND 10
0
DIETZ VERLAG BERLIN
1977
Die deutsche Ausgabe der Werke von Marx und Engels fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU besorgten zweiten russischen Ausgabe.
Die Texte werden nach den Handschriften bzw. nach den zu Lebzeiten von Marx und Engels erfolgten Veröffentlichungen wiedergegeben.
© Dietz Verlag Berlin 1961
Vorwort
Der zehnte Band der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels enthält Artikel aus der Zeit von Januar 1854 bis Januar 1855. Der größte Teil dieser Artikel wurde in der fortschrittlichen amerikanischen Zeitung „New-York Daily Tribüne" veröffentlicht. Einige der an die „Tribüne" eingesandten Beiträge veröffentlichte Marx gleichzeitig in dem Chartistenorgan „People's Paper", wobei er sie zum Teil, überarbeitete, um sie den englischen Arbeitern besser verständlich zu machen. Ende Dezember 1854 begann Marxauch für die deutsche bürgerlich-demokratische „Neue Oder-Zeitung" zu schreiben. Dazu verwertete er die von ihm selbst und von Engels für die „Tribüne" verfaßten Artikel. Die Mitarbeit an der „Neuen Oder-Zeitung" bot Marx die Möglichkeit, die wichtigsten Probleme der Weltpolitik, der ökonomischen Entwicklung und der inneren Lage in den verschiedenen kapitalistischen Ländern sowie Probleme der bürgerlich-demokratischen und der Arbeiterbewegung für die deutschen Leser darzustellen. Die publizistischen Arbeiten von Marx und Engels bilden einen großen Teil der umfangreichen und vielseitigen wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit, die die Begründer des Marxismus in der damaligen Zeit leisteten. Marx maß der weiteren Entwicklung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus erstrangige Bedeutung bei und setzte seine Studien auf dem Gebiet der politischen Ökonomie fort. Die Hauptgebiete der Forschungsarbeit von Engels waren Geschichte und Theorie des Militärwesens sowie Linguistik. Viele Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen, die Marx und Engels bei ihrer Forschungsarbeit zogen, fanden ihren Niederschlag in den für die „Tribüne" und andere Zeitungen geschriebenen Beiträgen. Diese Artikel der Begründer des Marxismus, die sich größtenteils mit Tagesereignissen und dem politischen und ökonomischen Leben der wichtigsten Länder Europas und Asiens beschäftigten, sind ein glänzendes Beispiel für
die Anwendung der materialistischen Dialektik bei der Analyse der wichtigsten Probleme jener Zeit. Marx und Engels waren bestrebt, in ihren Zeitungsartikeln und ihrem Briefwechsel mit den Führern der Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder den Standpunkt des Proletariats zu den wichtigsten internationalen Problemen sowie zur Innenpolitik der europäischen Staaten darzulegen. Zu einer Zeit, wo sich die Arbeiterbewegung in den meisten Ländern noch nicht von der allgemein-demokratischen Bewegung geschieden hatte, arbeiteten sie das Aktionsprogramm des Proletariats aus und wandten ihre Lehre von der führenden Rolle des Proletariats konkret auf die Hauptaufgaben der Epoche und die besonderen Bedingungen dieses oder jenes Landes an. Ohne die Möglichkeit zu haben, die Taktik des Proletariats ausführlich und offen zu begründen, wie seinerzeit in einer Reihe von Dokumenten des Bundes der Kommunisten und in der „Neuen Rheinischen Zeitung", mußten Marx und Engels jetzt ihre taktischen Thesen in einzelnen, von Fall zu Fall geschriebenen Artikeln mit der Analyse konkreter Ereignisse verbinden und durften dabei manchmal nur umschreibende Formulierungen gebrauchen. In den Jahren 1854/55 standen in Verbindung mit dem Krimkrieg die internationalen Beziehungen und der Verlauf der Kriegshandlungen auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Marx und Engels. Mit diesen beiden Hauptthemen befassen sich viele Arbeiten des zehnten Bandes. BesonderenRaum nehmen die Artikel ein, die die ökonomische Entwicklung und das politische Leben der kapitalistischen Länder, insbesondere Englands, sowie die englische Arbeiterbewegung charakterisieren. Eine große Gruppe von Beiträgen behandelt die revolutionären Ereignisse von 1854 in Spanien. Ihnen schließt sich die Artikelreihe „Das revolutionäre Spanien" von Karl Marx an, die der Geschichte der spanischen bürgerlichen Revolutionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Bei der Erörterung der Außenpolitik der verschiedenen europäischen Staaten während des Krimkrieges, der Etappen der diplomatischen Verhandlungen und des Verlaufs der Kriegshandlungen analysierten Marx und Engels jede dieser Fragen vom Standpunkt der Perspektiven der weiteren Entwicklung der proletarischen, der revolutionär-demokratischen und der nationalen Befreiungsbewegung, vom Standpunkt der Interessen der Revolution. Wie bereits in den Jahren 1848/49 hielten Marx und Engels den Zarismus für das Hauptbollwerk der feudal-absolutistischen Reaktion in Europa. Sie erblickten im Sturz des Zarismus, in der Ausschaltung seines reaktionären
Einflusses auf Europa die notwendige Voraussetzung für den Sieg der proletarischen Revolution in England und Frankreich, für die demokratische Lösung der Grundfragen der historischen Entwicklung Deutschlands, Italiens, Polens, Ungarns und anderer Länder Europas - der Fragen, die in den Revolutionen von 1848/49 nicht gelöst worden waren. Zugleich erkannten Marx und Engels deutlich, daß die herrschenden Klassen Englands und Frankreichs, die an der Erhaltung des Zarismus als konterrevolutionärer Kraft äußerst interessiert waren, dessen völlige Vernichtung nicht wollten, da sie revolutionäre Folgen für Europa befürchteten und darin eine Gefahr für ihre eigene Herrschaft erblickten. Marx und Engels bewiesen in ihren Artikeln, daß die Pläne der englischen Oligarchie und der französischen bonapartistischen Regierung lediglich darauf abzielten, Rußland als Konkurrenten im Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Osten auszuschalten, ihre eigene Herrschaft auf dem Balkan und im Schwarzmeergebiet zu errichten und die Militärmacht des zaristischen Rußlands zu schwächen. Entsprechend diesen Plänen richteten die Regierungen Englands und Frankreichs ihre Hauptanstrengungen darauf, den Krieg möglichst zu lokalisieren, die Kriegshandlungen auf die Gebiete zu beschränken, denen ihre Eroberungsbestrebungen galten. Diesem Plan des lokalisierten Krieges im eigennützigen Interesse der herrschenden Klassen Englands und Frankreichs stellten Marx und Engels die Losung des revolutionären Krieges der europäischen Völker gegen die zaristische Selbstherrschaft entgegen. Bei der Ausarbeitung der Taktik des Proletariats während des Krimkrieges gingen Marx und Engels davon aus, daß der Krieg gegen den Zarismus, wenn er europäischen Charakter annähme, einen neuen revolutionären Aufschwung in den europäischen Ländern hervorrufen und zum Sturz der volksfeindlichen, despotischen Regimes in diesen Ländern und zur Befreiung der unterdrückten Nationalitäten Europas führen könnte; unter diesen Umständen würde der begonnene Krieg in einen revolutionären Krieg der Völker gegen den Zarismus umschlagen. Dieser Krieg könnte auch in Rußland das Heranreifen einer revolutionären Situation und die gegen die Selbstherrschaft und die Leibeigenschaft gerichtete Revolution beschleunigen. Die von Marx und Engels aufgestellte Losung des revolutionären Krieges gegen den Zarismus sollte also die revolutionäre Bewegung in Europa entfesseln und bewirken, daß sich die Volksmassen aller europäischen Länder gegen ihre Regierungen erheben. Gerade darin unterschied sich der Standpunkt von Marx und Engels prinzipiell von dem nationalistischen Stand
punkt der Vertreter der europäischen bürgerlichen Demokratie, die die konterrevolutionären Regierungen Englands und Frankreichs unterstützten und deren Krieg gegen Rußland als „einen Kampf zwischen Freiheit und Despotismus" betrachteten (siehe vorl. Band, S. 268). Die Taktik von Marx und Engels während des Krimkrieges war die Fortsetzung ihrer Taktik von 1848/49, als sie in der „Neuen Rheinischen Zeitung" zum revolutionären Krieg gegen den Zarismus aufriefen. Diese Taktik wurde, wie W.I.Lenin lehrte, durch die objektiven historischen Bedingungen der Epoche von 1789-1871 diktiert, als die Aufgabe der endgültigen Beseitigung des Absolutismus und Feudalismus in den Vordergrund rückte. „Vor dem Sturz des Feudalismus, des Absolutismus und der Fremdherrschaft konnte von einer Entwicklung des proletarischen Kampfes um den Sozialismus nicht die Rede sein" (W. I. Lenin, Werke, Band 21, S. 300). Der Aufruf zum revolutionären Krieg gegen den Zarismus und zur revolutionären Umgestaltung Europas wird in dem Artikel „Der europäische Krieg" von Friedrich Engels, mit dem der vorliegende Band beginnt, klar formuliert. Dieser Artikel entstand im Zusammenhang mit dem Erscheinen der englischen und derfranzösischen Flotte im Schwarzen Meerim Januar 1854. Engels hebt darin den grundlegenden Unterschied hervor zwischen dem Krieg, den die herrschenden Klassen Englands und Frankreichs gegen Rußland führen wollten, und dem wahrhaft revolutionären Krieg gegen den Zarismus, der im Interesse einer demokratischen Umgestaltung Europas geführt werden müßte. Engels bringt die Überzeugung zum Ausdruck, daß eine Änderung der Lage, der Bedingungen und des Charakters des Krieges dann eintreten wird, wenn die sechste Macht auf den Schauplatz tritt - die Revolution, die ihre Herrschaft über alle fünf sogenannten Großmächte behaupten und jede von ihnen erzittern lassen wird. In dem Artikel wird der Gedanke zum Ausdruck gebracht, daß die begonnenen Kriegshandlungen unabhängig vom Willen der Regierungen Englands und Frankreichs den Anstoß für eine europäische Revolution geben können, für die die ökonomische und politische Entwicklung Europas, das Anwachsen der Klassenwidersprüche und die verstärkte Unruhe unter den Arbeitern und werktätigen Massen den Boden vorbereitet haben. Dieser Gedanke taucht auch in den Beiträgen „Die Kriegstaten in der Ostsee und im Schwarzen Meer - Englischfranzösisches Operationssystem" von Engels und „Der Verlauf des Krieges" von Marx und Engels auf; er liegt auch anderen ihrer Abhandlungen über den Krieg zugrunde. Die Begründer des Marxismus entwickelten die von ihnen für die Periode des Krimkrieges ausgearbeitete Taktik des Proletariats weiter und wandten
sie konkret auf die besonderen Bedingungen dieses oder jenes Landes an. Besondere Aufmerksamkeit schenkten Marx und Engels England, dem damals wichtigsten kapitalistischen Land, dem sie hinsichtlich der Perspektiven seiner revolutionären Entwicklung erstrangige Bedeutung beimaßen. Bei der Analyse der ökonomischen und politischen Lage Englands, der Haltung der verschiedenen Klassen der englischen Gesellschaft und ihrer politischen Parteien zum Krimkrieg entlarvten die Begründer des Marxismus in ihren Artikeln unermüdlich die Innen- und Außenpolitik der herrschenden Klassen Englands und ihrer Parteien, der Whigs und der Tories. Marx und Engels bewiesen, daß die herrschenden Klassen Englands mit ihrer Innenpolitik die fortschrittliche Entwicklung des englischen Volkes behinderten und auf dem Gebiet der Außenpolitik auf Grund ihrer eigennützigen Klasseninteressen den Zarismus lediglich schwächen, gleichzeitig jedoch dieses Bollwerk der Reaktion in Europa erhalten wollten. Entlarvung des ganzen politischen Systems Englands und des Standpunktes der bürgerlichen Parteien, scharfe Kritik an der englischen Diplomatie und den Methoden der Kriegführung das ist der Hauptinhalt der Artikel von Marx und Engels über die Politik der herrschenden Klassen Englands. Marx zeigt in seinen Aufsätzen, daß sich die Politik der bürgerlich-aristokratischen Oligarchie in der orientalischen Frage durch Verrat auszeichnete, der überhaupt der englischen Diplomatie eigen war und ihr traditionelles Merkmal bildete. In den Artikeln „Die Dokumente über die Teilung der Türkei" und „Die geheime diplomatische Korrespondenz" entlarvt Marx auf Grund einer sorgfältigen Analyse zahlreicher diplomatischer Dokumente die Versuche einer Reihe englischer Staatsmänner vor Ausbruch des Krieges, mit der zaristischen Regierung über die Teilung der Türkei einig zu werden und sich dabei die entscheidenden Positionen im Nahen Osten zu sichern. Marx gelangt zu der Schlußfolgerung, daß, wenn die Teilung der Türkei zwischen dem zaristischen Rußland und England nicht unvermeidlich einen Krieg mit Frankreich hervorrufen und ein Krieg mit Frankreich nicht die Gefahr einer europäischen Revolution heraufbeschwören würde, die Regierung Englands mit dem gleichen Vergnügen die Türkei eingesteckt hätte wie Rußland (siehe vorl. Band, S. 165). Die zahlreichen militärischen Übersichten, die Engels auf Bitte von Marx schrieb und die in der „New-York Daily Tribüne" als Leitartikel veröffentlicht wurden, kritisieren die Methoden der Kriegführung der englischen Regierung. Marx und Engels hielten diese Kritik für einen wichtigen Bestandteil ihrer Tätigkeit zur Entlarvung der englischen Oligarchie. Ein Teil dieser Übersichten wurde gleichzeitig in dem Chartistenorgan „People's Paper"
veröffentlicht; darin sahen Marx und Engels ein Mittel der Agitation unter den englischen Arbeitern gegen die Politik der herrschenden Klassen. In seinen militärischen Aufsätzen zeigt sich Engels als großer Militärfachmann, als ausgezeichneter Kenner des Kriegswesens. In einer Reihe von Artikeln - „Die Kriegstaten in der Ostsee und im Schwarzen Meer - Englisch-französisches Operationssystem", „Der gegenwärtige Stand der englischen Armee - Taktik, Uniformen, Kommissariat usw.", „Zum englischen Militärwesen" und anderen - enthüllt er den Konservatismus des englischen Militärsystems, seinen routinemäßigen Charakter und die Rückständigkeit des Militärwesens in England im Vergleich zu seiner allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. In den Beiträgen „Die Kriegsfrage in Europa", „Der Rückzug der Russen von Kalafat", „Die Lage der Armeen in der Türkei" und vielen anderen behandelt Engels den Verlauf des Feldzugs, charakterisiert er den Zustand der Streitkräfte der kriegführenden Mächte und analysiert einzelne militärische Operationen. Von großem Interesse ist das erstmals veröffentlichte Manuskript „Die Festung Kronstadt" von Engels. In den Artikeln „Die Schlacht bei Inkerman", „Die Kriegstaten in der Ostsee und im Schwarzen Meer - Englisch-französisches Operationssystem", „Der Feldzug auf der Krim" schätztEngels den Heldenmut der russischen Soldaten hoch ein, kritisiert jedoch zugleich scharf die Rückständigkeit des Kriegswesens im zaristischen Rußland, die Unfähigkeit vieler Generale und den „Paradedrill" in der zaristischen Armee. Eine große Reihe von Arbeiten behandelt die Belagerung Sewastopols, die Engels als eine neue Etappe des Feldzugs betrachtete („Der Angriff auf Sewastopol", „Die Belagerung Sewastopols", „Zur Kritik der Belagerung Sewastopols" u.a.). In den im Oktober und November 1854 geschriebenen Artikeln, in denen Engels von der zahlenmäßigen Überlegenheit der Verbündeten ausgeht und die Schwäche der Befestigungen Sewastopols hervorhebt, hielt er den Fall der Stadt in nächster Zeit für möglich. Doch der Heroismus der Verteidiger von Sewastopol, ihr Mut und ihre Aufopferung ermöglichten es, die bis dahin vom Lande her nicht geschützte Stadt für eine lange Verteidigung vorzubereiten. Das veranlaßte Engels bereits Ende Dezember 1854 und Anfang Januar 1855 zu betonen, daß sich „die offene Stadt schon in ein verschanztes Laiger ersten Ranges verwandelt" hat (siehe vorl. Band, S. 591), daß Sewastopol durch den Eifer der Russen besser denn je befestigt ist und daß die Möglichkeit, es im Sturm zu nehmen, völlig ausgeschlossen ist (siehe vorl. Band, S. 625). Die hier sowie in den Bänden 9 und 11 unserer Ausgabe veröffentlichten Artikel von Engels über den Krimkrieg enthalten wertvolle Materialien und
theoretische Schlußfolgerungen auf dem Gebiet der Geschichte der Kriegskunst, der Militärtheorie, -Strategie und -taktik. Diese Artikel widerspiegeln eine wichtige Etappe in der Herausbildung der marxistischen Militärwissenschaft, in der Verallgemeinerung der Erfahrungen der damaligen Kriege auf der Grundlage des historischen Materialismus. Beim Lesen der militärischen Artikel von Engels muß man jedoch berücksichtigen, daß er oft nur über tendenziöse Informationen der westeuropäischen bürgerlichen Presse verfügte und weder die Zeit noch die Möglichkeit hatte, die Meldungen über den Verlauf der Kriegshandlungen zu überprüfen, da er die militärischen Übersichten unmittelbar nach den Ereignissen schrieb, so daß er manchmal einige militärische Operationen einseitig einschätzte, zum Beispiel die Schlacht bei Sinope oder die Einnahme Bomarsunds. Marx und Engels verbanden die Entlarvung der Außenpolitik der englischen Oligarchie mit der Aufdeckung des volksfeindlichen Wesens der gesamten politischen Ordnung im bürgerlich-aristokratischen England. In einer Reihe von Artikeln über die Parlamentsdebatten gibt Marx eine glänzende Kritik des in England bestehenden Zweiparteiensystems. Er betont, daß der Kampf zwischen den Whigs und den Tories in außenpolitischen Fragen nur vorgetäuscht ist, da jede Partei es vorzieht, „dem Gegner die Möglichkeit zu lassen, an ihre Stelle zu treten, als ihren gemeinsamen politischen ,Ruf' zu ruinieren und dadurch das System der herrschenden Klassen vollkommen aufs Spiel zu setzen" (siehe vorl. Band, S. 58). Eine Reihe Artikel von Marx war gegen bestimmte Personen gerichtet - damalige englische Staatsmänner. Die schon früher begonnene Entlarvung der Politik so namhafter Vertreter der englischen Oligarchie, wie Palmerston, Russell, Aberdeen, Gladstone und andere, setzt Marx in diesen Arbeiten fort. In bezug auf die Haltung der verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen im englischen Parlament während des Krieges zeigt Marx die schmähliche Rolle auf, die die Fraktion der liberalen irischen Mitglieder des Parlaments (die sogenannte Irische Brigade) im politischen Leben des Landes spielte, und hebt hervor, daß die Vertreter dieser Fraktion im Grunde genommen die nationale Bewegung des irischen Volkes verrieten. Durch die Unterstützung bald der einen, bald der anderen englischen Partei erzielte die Irische Brigade einzelne Zugeständnisse, die Befriedigung ihrer eigensüchtigen Interessen, ohne jedoch die englischen Kolonisatoren an der Unterdrückung Irlands zu hindern; sie verhinderte „niemals eine Schändlichkeit gegen ihr eigenes Land oder ein Unrecht am englischen Volk" (siehe vorl. Band, S. 62). Eine beträchtliche Zahl von Artikeln - „Parlamentsdebatten", „Der Krieg
-Parlamentsdebatte", „Die Kriegsdebatten im Parlament" und andere - sind der Analyse der Parlamentsreden verschiedener Mitglieder des Parlaments über Fragen der Kriegführung, des Staatshaushalts, der Entwürfe einzelner Reformen usw. gewidmet. Einigen dieser Sitzungen des Unterhauses wohnte Marx persönlich bei. An konkreten Beispielen kritisiert er schonungslos die kapitalistische Gesellschaft, enthüllt er ihre Fehler und Geschwüre, entlarvt er die herrschenden politischen Zustände und deckt den Klassencharakter des englischen Parlamentarismus sowie die Heuchelei und Falschheit der bürgerlichen Parlamentarier auf. Bei der Analyse des von Schatzkanzler Gladstone vorgelegten Kriegsbudgets betont Marx in dem Artikel „Britische Finanzen", daß für den Krieg letztlich die Volksmassen bezahlen müssen. Viele Artikel von Marx enthalten eine scharfe Kritik an der englischen bürgerlichen Presse. In einer Reihe von Aufsätzen kritisiert Marx heftig die Vertreter der Freihandelskreise der englischen Industriebourgeoisie, die sich um die als „Anhängerin des Friedens" und Gegnerin des Krieges mit Rußland auftretende sogenannte Manchesterschule gruppierten. Marx zeigt, daß diese Einstellung der Freihändler keineswegs einer aufrichtigen Friedensliebe entspringt, sondern der Ansicht, daß England in der Lage sei, sein Monopol auf dem Weltmarkt mit friedlichen Mitteln, ohne Kriegsausgaben zu errichten. Ausgehend von dem steigenden Export englischer Waren nach russischen Märkten, bewiesen die Freihändler die Gemeinsamkeit der Interessen des kapitalistischen Englands und des zaristischen Rußlands. Marx hebt hervor, daß das Auftreten der Führer der Freihändler, G>bden und Bright, als „Verteidiger des Friedens" in Wirklichkeit eine Verteidigung des Regimes bedeutete, das 1815 in Europa im Interesse der reaktionären herrschenden Kreise der Großmächte und entgegen den Lebensinteressen der Völker errichtet worden war. Somit trat die Industriebourgeoisie Englands unter dem Deckmantel pazifistischer Losungen in Wahrheit wie die englische aristokratische Oligarchie als Feind der Demokratie und der nationalen Befreiungsbewegung auf. Die heuchlerische Friedensliebe der G>bden und Bright, die verbergen sollte, daß sie die Revolution haßten und bestrebt waren, eine solche reaktionäre Macht wie den Zarismus zu erhalten, zeigte, wie Marx betont, „die niedrigen, gemeinen Seelen der europäischen Bourgeoisie" (siehe vorl. Band, S. 42). Seine Kritik an der Haltung der englischen Freihändler zu Fragen der Außenpolitik ergänzt Marx durch eine beißende und geißelnde Kritik ihrer Innenpolitik, ihrer Scheinreden in der Rolle von „Verteidigern" der Volksmassen. In den Artikeln „Die Industrie-und Handelskrise" und „Die Handels
krise in Britannien" entlarvt Marx die Freihändler als schlimmste Feinde der Arbeiterklasse. Die Cobden und Bright, schreibt er, beklagen scheinheilig das „wechselseitige Abschlachten von Christenmenschen" im Kriege, treten aber gleichzeitig als Fürsprecher der hemmungslosen Ausbeutung der Arbeiter auf, indem sie mit allen Mitteln die Abschaffung der Gesetze erreichen wollen, die den Arbeitstag der Frauen und Kinder begrenzen. Marx zeigt, wie falsch die Versuche der Freihändler sind, die heranwachsende Wirtschaftskrise in England durch zufällige Umstände, insbesondere als Auswirkung des Krieges zu erklären. Die Freihändler versuchten ihr Dogma zu retten, demzufolge die Abschaffung der Korngesetze und die Annahme der Freihandelsgrundsätze ein Allheilmittel gegen Handels- und Industriekrisen sind. In mehreren seiner Artikel über die ökonomische Entwicklung der kapitalistischen Länder, vor allem Englands, widerlegt Marx die Konzeptionen der Freihändler und anderer bürgerlicher Ökonomen. Hierbei stützt er sich auf umfangreiches statistisches Material, auf das tägliche Studium und die Verallgemeinerung der laufenden ökonomischen Angaben, was zu den gigantischen Vorarbeiten für sein ökonomisches Hauptwerk, das „Kapital", gehörte. Beim Nachweis der Haltlosigkeit der bürgerlichen politischen Ökonomie, stützt sich Marx auf die von ihm entdeckten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des Kapitalismus. Er betont, daß die Krisenerscheinungen, die in England auftreten, organisch der kapitalistischen Produktionsweise mit ihren antagonistischen Widersprüchen eigen sind. Diese Krisenerscheinungen traten ungeachtet dessen auf, daß der Krieg bis zu einem gewissen Grad die Entwicklung einzelner Produktionszweige gefördert hatte und gestattete, einen Teil des freien Kapitals für Kriegszwecke zu verwenden. Marx erwähnt das damals auftretende, so spezifische Merkmal der englischen Wirtschaft - ihre enge Verbindung mit dem Weltmarkt; durch die steigende Ausfuhr englischer Waren in andere Länder verstärkte sich der Einfluß der englischen Industrie und auch ihrer Erschütterungen auf die gesamte Weltwirtschaft. Durch die Erforschung der zyklischen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft kommt Marx zu der Schlußfolgerung, daß die Periode der Prosperität in England, die 1849 begonnen hatte, nicht ohne Unterbrechung anhalten kann und daß die in der englischen Wirtschaft 1853/54 beobachteten Krisenerscheinungen in eine tiefgreifende Wirtschaftskrise hinüberwachsen werden, was 1857 auch eintraf. Marx verband mit dem Auftreten der nächsten Krise die Erwartung eines neuen Aufschwungs der proletarischen und revolutionären Bewegung in Europa.
Einen besonderen Platz nehmen im vorliegenden Band die Artikel über die Arbeiterbewegung in England ein: „Die Eröffnung des Arbeiterparlaments Das englische Kriegsbudget", „Brief an das Arbeiterparlament", „Das Arbeiterparlament" und andere, Marx und Engels waren lange Jahre auf das engste mit der Chartistenbewegung verbunden und nahmen an ihr unmittelbar teil. In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre unterstützten sie die revolutionären Chartisten in ihrem Kampf für das Wiederaufleben des Chartismus auf einer neuen, sozialistischen Grundlage. Marx popularisierte in seinen Artikeln Materialien, die in der Chartistenpresse erschienen waren, propagierte die Reden Ernest Jones, des Führers der revolutionären Chartisten, und half den Chartisten, vor den werktätigen Massen den Klassencharakter des englischen Parlaments aufzudecken. In dem Artikel „Die Befestigung Konstantinopels - Die dänische Neutralität - Die Zusammensetzung des britischen Parlaments - Die Mißernte in Europa" zeigt Marx an Hand einer Analyse der sozialen Zusammensetzung des Parlaments und des gültigen Wahlsystems, daß die größte Klasse der englischen Gesellschaft, das Proletariat, im Grunde des Rechtes und der Möglichkeit beraubt ist, am politischen Leben des Landes teilzunehmen. Die Begründer des Marxismus stellten dem englischen Proletariat nachdrücklich die Aufgabe, sich seine eigene, wahrhaft revolutionäre politische Massenpartei zu schaffen. In dem Grußschreiben an das Arbeiterparlament stellt Marx ihm das große und glorreiche Ziel „die Organisation der Arbeiterklasse im nationalen Maßstab" (siehe vorl. Band, S. 126). In einem anderen Artikel betont Marx, daß das Proletariat Englands erst nach seiner Organisierung in einer Partei im nationalen Maßstab die soziale und politische Macht erlangen wird, um gegen „die Privilegien der gegenwärtig herrschenden Klassen wie die Sklaverei der Arbeiterklasse" zu kämpfen (siehe vorl. Band, S. 118). Breiter Raum wird in den Artikeln dieses Bandes Frankreich, seiner Innen- und Außenpolitik und seiner Haltung im Krimkrieg gewidmet. Bei der Einschätzung dieser Haltung gingen Marx und Engels von der These aus, daß das Wesen des bonapartistischen Regimes - eines Regimes der bürgerlichen Diktatur, das sich auf die Armee stützt - Napoleon III. unweigerlich zu Kriegsabenteuern drängen mußte. „Ihm bleibt keine andere Wahl als die Revolution im Innern oder der Krieg nach außen", schreibt Marx (siehe vorl. Band, S. 102). Er betont wiederholt, daß das bonapartistische Frankreich die Rolle eines der Hauptanstifter des Krimkrieges gespielt hat. „Die bonapartistische Usurpation", schreibt Marx, „ist daher die wahre Quelle der jetzigen orientalischen Verwicklung." (Siehe vorl. Band, S. 66.) Marx und Engels betonten, daß, genau wie die englische Oligarchie, auch
Vorwort XV
Napoleon III. und seine Clique die europäische Revolution fürchteten und deshalb ebenfalls für einen lokalisierten Krieg eintraten. Gleich dem britischen Koalitionsministerium verfolgte die bonapartistische Regierung Frankreichs im Kriege eigennützige Eroberungsziele, was in den Kriegsplänen und Kriegshandlungen des französischen Kommandos seinen Niederschlag fand. Marx entlarvte in seinen Artikeln systematisch die Geheimpläne der französischen Regierung, kämpfte gegen die verlogenen bonapartistischen Losungen, die in den Massen einen chauvinistischen Rausch entfachten. Er wandte sich entschieden gegen die Versuche einiger bürgerlicher Demokraten, Louis Bonaparte als Verfechter der Demokratie, als Vertreter der Freiheit hinzustellen (siehe vorl. Band, S. 268). Marx entlarvte die antidemokratische, volksfeindliche Politik Napoleons III. und brandmarkte die blutigen Methoden der „dezembristischen Zivilisation" (siehe vorl. Band, S. 530). In dem Artikel „Die Reorganisation der englischen Militäradministration - Die österreichische Sommation - Die ökonomische Lage Englands - Saint-Arnaud" wird in der glänzenden Form eines Pamphlets das Gesicht eines derjenigen gezeigt, dem „die Rettung der Zivilisation" anvertraut worden war, eines typischen Vertreters der herrschenden Kreise im bonapartistischen Frankreich, des Marschalls Saint-Arnaud, eines käuflichen Karrieristen und zynischen Spießgesellen Louis Bonapartes. Unter Bedingungen, wo die Arbeiterbewegung in Frankreich zerschlagen war, verfolgten Marx und Engels mit besonderer Aufmerksamkeit und Sympathie das Schicksal der französischen proletarischen Revolutionäre, in erster Linie das von Auguste Blanqui, den sie für einen hervorragenden Führer der französischen Arbeiterklasse hielten. Von großem Interesse ist in diesem Zusammenhang derjenige Teil des erstmalig veröffentlichten Artikels „Der Schwindel von Sewastopol - Allgemeine Nachrichten", in dem Auguste Blanqui Armand Barbes gegenübergestellt wird, der sich während des Krimkrieges im Banne bürgerlich-nationalistischer Stimmungen befand. Eine Reihe von Marx geschriebener Artikel enthalten eine scharfe kritische Analyse der Innen- und Außenpolitik Preußens und seiner Haltung während des Krimkrieges. Davon handeln die Artikel „Erklärung des preußischen Kabinetts - Napoleons Pläne - Die Politik Preußens", „Rußland und die deutschen Mächte - Die Kornpreise", „Das Bombardement Odessas Griechenland-Die Proklamation des Fürsten Danilo-Die Rede Man teuffeis", „Der Vertrag zwischen Österreich undPreußen - Die Parlamentsdebatten vom 29.Mai" und andere. Die Frage der Haltung, die Preußen im Kriege einnehmen sollte, behandelte Marx vom Standpunkt der Lösung der historischen Hauptaufgabe Deutschlands, die in der Revolution von 1848/49 nicht
XVI Vorwort
gelöst worden war - der Schaffung einer einigen demokratischen deutschen Republik. Marx war der Ansicht, daß die Teilnahme Preußens am Krieg gegen das zaristische Rußland als unmittelbarer Anstoß für einen neuen Aufschwung der demokratischen Bewegung in Deutschland dienen könne, in der die Arbeiterklasse die entscheidende Rolle spielen mußte. Das Auftreten der Volksmassen würde zum Sturz der Monarchien in Preußen und in den anderen deutschen Staaten und zur Bildung eines einigen demokratischen deutschen Staates führen. Marx entlarvte die von Angst vor den Volksmassen durchdrungene Politik der reaktionären preußischen herrschenden Kreise, insbesondere ihre Absicht, alle bekannteren Demokraten zu verhaften und nach den östlichen Festungen zu transportieren, um ihnen so die Möglichkeit zu nehmen, eine Volksbewegung zu organisieren (siehe vorl. Band, S. 77-79). Besondere Aufmerksamkeit schenkt Marx in seinen Artikeln der Analyse der Haltung Österreichs im Krimkrieg. Marx und Engels maßen dem Eintritt Österreichs in den Krieg große Bedeutung bei, denn sie waren der Ansicht, daß die Verlagerung der Kriegshandlungen nach Mitteleuropa dort einen neuen Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegung hervorrufen würde, der zum Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution führen könnte. In diesem Falle würde sich unvermeidlich auch der Charakter des ganzen Krieges ändern. „Solange sich jedoch der Krieg auf die westlichen Mächte und die Türkei auf der einen Seite und Rußland auf der anderen beschränkt", schrieb Engels, „wird er kein europäischer Krieg sein, wie wir ihn nach 1792 gesehen haben.41 (Siehe vorl. Band, S. 7.) Der Eintritt Österreichs in den Krieg hätte den Zusammenbruch des Völkergefängnisses der österreichischen Monarchie, die Bildung selbständiger Nationalstaaten durch die von Österreich unterdrückten Völker und eine demokratische Umwälzung in einer Reihe europäischer Länder zur Folge haben können. „Die an dem Ausgang der orientalischen Wirren unmittelbar am stärksten Interessierten", schrieb Marx, „sind neben den Deutschen die Ungarn und Italiener." (Siehe vorl. Band, S. 203.) Auf Grund einer sorgfältigen Analyse der Haltung Österreichs in den Artikeln „Russische Diplomatie - Das Blaubuch zur orientalischen Frage Montenegro", „Einzelheiten des Madrider Aufstands - Die österreichischpreußischen Forderungen - Die neue Anleihe in Österreich - Die Walachei", „Der russische Rückzug", „Der orientalische Krieg" gelangen Marx und Engels zu der Schlußfolgerung, daß die von der österreichischen Regierung in der orientalischen Krise verfolgte Neutralitätspolitik durch die Labilität des reaktionären Regimes des Habsburger Reiches, durch ihre außenpoliti
sehen sowie inneren Schwierigkeiten bedingt war. Die österreichische Regierung stand gleichsam zwischen zwei Feuern. Sie konnte die Zerschlagung des zaristischen Rußlands nicht zulassen, „da die Habsburger in diesem Falle ohne einen Freund wären, der ihnen aus dem nächsten revolutionären Strudel heraushelfen könnte" (siehe vorl. Band, S. 297). Andrerseits wünschte die österreichische Regierung keine Stärkung Rußlands, denn sie befürchtete, daß der Vormarsch der russischen Truppen auf dem Balkan Unruhen unter den von Österreich unterdrückten slawischen Völkern hervorrufen und in ihnen „das Bewußtsein der eigenen Kraft erweckt und der Erniedrigung, die sie unter der Herrschaft der Deutschen erleiden" (siehe vorl. Band, S. 34). Deshalb forderte Österreich den Abzug der russischen Streitkräfte aus den Donaufürstentümern. Außerdem hoffte die österreichische Regierung, mit Hilfe der Westmächte aus den finanziellen Schwierigkeiten herauszukommen, die, wie Marx in den Artikeln „Der orientalische Krieg", „Österreichs Bankrott" und anderen zeigte, ziemlich groß waren. Diese Ursachen, schreibt Marx, bedingten auch die schwankende und unbestimmte Haltung der österreichischen Regierung. Bei der Analyse der inneren Lage Österreichs zeigt Marx, daß die Politik der österreichischen Regierung, die unter den von Österreich unterdrückten Völkern nationalen Hader schürte, in der nationalistischen Haltung der bürgerlich-liberalen Vertreter dieser Völker, vor allem in der Haltung der italienischen Liberalen, günstigen Boden fand. „Das Geheimnis der Langlebigkeit des österreichischen Reiches", schreibt Marx, „ist gerade dieser provinzielle Egoismus, der jedes Volk mit der Illusion blendet, es könne seine Freiheit erringen, wenn es die Unabhängigkeit des andren Volkes opfere" (siehe vorl. Band, S. 203). Das Schicksal der von Österreich unterdrückten Völker sowie das Schicksal der slawischen und anderen Völker, die zum feudalistischen Ottomanischen (Osmanischen) Reich gehören, verbanden Marx und Engels mit den revolutionär-demokratischen Umwälzungen in Europa, mit einem revolutionären Krieg, der den Sturz dieses Reiches und die Bildung unabhängiger demokratischer Staaten auf dem Balkan zur Folge haben müßte. Im Gegensatz zur Ansicht vieler westeuropäischer Politiker, vor allem des englischen Publizisten David Urquhart, der für die Unantastbarkeit des reaktionären türkischen Staates eintrat, hielten Marx und Engels das feudalistische Türkische Reich für das größte Hindernis des historischen Fortschritts und unterstützten die Forderung der slawischen und anderen Völker, die unter der Herrschaft der türkischen Eroberer standen, auf nationale Unabhängigkeit..
2 Marx'Engels, Werke, Band 10
Außer den Artikeln über den Krimkrieg und den Verlauf der Kriegshandlungen sowie den mit diesem Krieg verbundenen Perspektiven der revolutionären Bewegung in Europa nehmen einen großen Teil des Bandes die Artikel von Marx über die 1854 beginnende bürgerliche Revolution in Spanien ein. Zu ihnen zählen: „Der Aufstand in Madrid - Die russische Anleihe - Der österreichisch-türkische Vertrag - Die Moldau und die Walachei", „Die Wiener Konferenz - Die österreichische Anleihe - Die Proklamationen Dulces und O'Donnells - Die Ministerkrise in England",„Die spanische Revolution - Griechenland und die Türkei", „Die Reaktion in Spanien" und andere. Marx und Engels, die alle Erscheinungen der revolutionären Bewegung auf dem europäischen Kontinent aufmerksam verfolgten, maßen den revolutionären Ereignissen in Spanien große Bedeutung bei. Sie begrüßten von ganzem Herzen das Auftreten des spanischen Volkes gegen den Absolutismus und betrachteten es als ein mögliches Vorspiel zur Revolution in ganz Europa. Um die Besonderheiten der in Spanien heranreifenden bürgerlichen Revolution und die Gruppierung der Klassenkräfte besser zu verstehen, studierte Marx sorgfältig die Geschichte der vorangegangenen spanischen Revolutionen und machte sich mit den Werken spanischer, französischer, englischer und deutscher Verfasser bekannt. Das Ergebnis dieser historischen Forschungen war die von September bis Dezember 1854 in der „NewYork Daily Tribüne" veröffentlichte Artikelreihe „Das revolutionäre Spanien", die eine gründliche Analyse vom Kampf des spanischen Volkes von der napoleonischen Invasion bis zur Revolution von 1820-1823 gibt. Eine wichtige Ergänzung zu dieser Arbeit ist das erstmalig veröffentlichte handschriftliche Fragment eines Artikels dieser Reihe, den Marx an die „NewYork Daily Tribüne" eingesandt hatte, der aber in der Zeitung nicht erschienen ist. Marx' Abhandlungen über Spanien sind von großem wissenschaftlichen Wert. Die darin enthaltenen Verallgemeinerungen werfen nicht nur ein Licht auf die wichtigsten Ereignisse der spanischen Geschichte - den Kampf der Spanier gegen die Mauren, den Aufstand gegen den Absolutismus Karls V. zum Schutz der mittelalterlichen Privilegien, den nationalen Befreiungskrieg gegen Napoleon, die bürgerlichen Revolutionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den Karlistenkrieg und andere sondern erleichtern auch das Verständnis einer Reihe allgemeiner Probleme der Weltgeschichte. In allen Artikeln, die der Geschichte der spanischen Revolutionen gewidmet sind, hebt Marx vor allem die Rolle der Volksmassen hervor, deren
revolutionäre Energie weder das despotische Regime des Absolutismus, noch die „heilige Inquisition", noch die napoleonischen Armeen ersticken konnten. Wie leblos der spanische Staat auf den ersten Blick auch erscheinen mochte, unter seiner Oberfläche schlummerten die Lebenskräfte des spanischen Volkes, und Napoleon I., der Spanien für einen leblosen Leichnam hielt, war „höchst peinlich überrascht, als er die Entdeckung machen mußte, daß wohl der spanische Staat tot sei, aber die spanische Gesellschaft voll gesunden Lebens stecke und in allen ihren Teilen von Widerstandskraft strotze" (siehe vorl. Band, S. 441). Bei seiner hohen Einschätzung des in Spanien entbrannten Kampfes gegen die französischen Eindringlinge deckt Marx dialektisch auch die Widersprüche dieses Kampfes auf: den Widerspruch zwischen den Zielen des um seine Befreiung kämpfenden Volkes und den Bestrebungen der spanischen reaktionären herrschenden Kreise, den Absolutismus wieder zu errichten und ihre Privilegien zu erhalten. Marx schreibt, daß diese Erscheinung bis zu einem gewissen Grade allen Unabhängigkeitskriegen eigen ist, die gegen die napoleonische Invasion geführt wurden. In diesem Zusammenhang äußert Marx den wichtigen Gedanken über die Notwendigkeit, den nationalen Befreiungskampf mit tiefgreifenden inneren sozialen und politischen Umwälzungen zu verbinden. Am Beispiel der spanischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts deckte Marx eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten auf, die allen früheren bürgerlichen Revolutionen eigen sind. Er zeigte die Rolle der Volksmassen als Triebkraft dieser Revolutionen und gleichzeitig die Unentschlossenheit, die Klassenbeschränktheit der den Interessen des Volkes fremden bürgerlich-liberalen Führer dieser Revolutionen, was der ganzen Entwicklung des revolutionären Kampfes den Stempel aufdrückte. Die politische Unreife und die Vorurteile der Massen, betonte Marx, wurden unweigerlich von den der Revolution im Grunde feindlich gesinnten liberalen Elementen ausgenutzt, die die Bewegung in konstitutionellen Schranken halten wollten. Es ist eine der Eigentümlichkeiten der Revolutionen, schrieb Marx in dem Artikel „Espartero", „daß gerade dann, wenn das Volk einen großen Sprung nach vorwärts machen und eine neue Ära beginnen will, es sich stets von den Illusionen der Vergangenheit beherrschen läßt und all die Macht und den Einfluß, den es so teuer erkauft hat, in die Hände von Männern ausliefert, die als Träger der Volksbewegung einer früheren Zeit gelten oder zu gelten scheinen" (siehe vorl. Band, S. 381). Die tiefgreifende Kritik, die Marx an den spanischen Liberalen übt, ergänzt die in seinen früheren Arbeiten enthaltene Charakteristik des Liberalismus als der im 19. Jahrhundert in der Bourgeoisie vorherr
sehenden politischen und ideologischen Strömung. Äußerst typisch für die bürgerlichen Liberalen war vor allem die von Marx hervorgehobene chauvinistische Haltung der Führer der spanischen Revolutionen in der kolonialen Frage, ihr Bestreben, Spanien die Herrschaft über seine lateinamerikanischen Besitzungen um jeden Preis zu erhalten. Bei der Analyse der spanischen Geschichte zeigt Marx außer den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung auch die spezifischen Besonderheiten dieser Geschichte auf, insbesondere den Einfluß, den die nationalen Merkmale und jahrhundertealten Traditionen des spanischen Volkes auf den Verlauf der geschichtlichen Entwicklung ausgeübt haben. So zeigt Marx am Beispiel Spaniens, daß die absolute Monarchie in der Periode des Verfalls des Feudalismus und der Herausbildung von Nationalstaaten nicht überall eine fortschrittliche Rolle gespielt hat. Wenn die absolute Monarchie in den großen europäischen Staaten damals „als ein zivilisierendes Zentrum, als der Urheber gesellschaftlicher Einheit" auftritt (siehe vorl. Band, S. 439), so erfüllte sie in Spanien, bedingt durch eine Reihe historischer Ursachen, die zentralisierenden Funktionen nicht, sondern hemmte den historischen Fortschritt. Marx gelangt zu der Schlußfolgerung, daß „die absolute Monarchie in Spanien eher auf eine Stufe mit asiatischen Herrschaftsformen zu stellen ist, als mit anderen absoluten Monarchien in Europa zu vergleichen, mit denen sie nur geringe Ähnlichkeit aufweist. Spanien blieb, wie die Türkei, ein Konglomerat schlechtverwalteter Provinzen mit einem nominellen Herrscher an der Spitze" (siehe vorl. Band, S. 440). In bezug auf die Besonderheiten der historischen Entwicklung Spaniens zu Beginn des 19. Jahrhunderts betont Marx, daß auf Grund der spanischen Traditionen der Kampf des Kapitalismus und des Feudalismus, „der Kampf der beiden Gesellschaften die Form eines Kampfes entgegengesetzter dynastischer Interessen annehmen mußte" (siehe vorl. Band, S. 634). Das handschriftliche Fragment des unveröffentlichten Artikels von Marx aus der Reihe „Das revolutionäre Spanien" enthält wichtige theoretische Schlußfolgerungen, die gleichsam den Inhalt sämtlicher Artikel dieser Reihe zusammenfassen und den Schlüssel zum Verständnis der in ihnen dargestellten Ereignisse bilden. Marx zeigt hier die Hauptursache der Niederlage der bürgerlichen Revolution in Spanien von 1820-1823 auf, die darin bestand, daß die bürgerlichen Revolutionäre, die die Interessen der städtischen Schichten vertraten, von den Bauernmassen isoliert waren. Die revolutionäre Partei, betont Marx, wußte nicht, wie die Interessen der Bauernschaft mit der städtischen Bewegung zu verbinden waren, wodurch sie die Bauernmassen
von der Revolution abstieß, und ihre Ausnutzung durch konterrevolutionäre Kräfte ermöglichte. Diese Einengung der sozialen Basis der Bewegung und die damit verbundene Abhängigkeit der revolutionären Stadtbevölkerung von der Armee, diesem „gefährlichen Instrument für diejenigen, die es benutzten" (siehe vorl. Band, S. 633), waren die Hauptursache für die Niederlage der Revolution. Die Artikel von Marx über Spanien sind ein glänzendes Beispiel für die Anwendung des historischen Materialismus auf die Erforschung der Geschichte der einzelnen Völker.
Im vorliegenden Band sind zwei bisher unveröffentlichte Handschriften aufgenommen - ein Fragment aus der Artikelreihe „Das revolutionäre Spanien" von Karl Marx und „Die Festung Kronstadt" von Friedrich Engels. Außerdem erscheinen 25 Artikel von Marx und Engels zum erstenmal in russischer Sprache. Zur Identifizierung der neuen Artikel wurde das im Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU aufbewahrte Notizbuch von Marx aus den Jahren 1850-1854 benutzt, in dem außer anderen Materialien die Notizen von Marx und seiner Frau über die an die „New-York Daily Tribüne" eingesandten Artikel enthalten sind. Dieses Notizbuch und andere Quellen erlaubten die Feststellung der Verfasserschaft und des Datums der Niederschrift der in den vorliegenden Band aufgenommenen Werke. Wie Marx und Engels in ihren Briefen wiederholt schrieben, verfuhr die Redaktion der „New-York Daily Tribüne" willkürlich mit dem Text ihrer Arbeiten, insbesondere mit jenen, die sie ohne Unterschrift als Leitartikel veröffentlichte. Bei einer Reihe von Artikeln, vornehmlich militärischen Übersichten von Engels, wollte die Redaktion den Eindruck erwecken, daß sie in New York geschrieben wurden, und nahm deshalb redaktionelle Zusätze vor; in einigen Artikeln von Marx und Engels wurden ganze Absätze hinzugefügt; in vorliegender Ausgabe sind offensichtliche Zusätze der Redaktion durch Anmerkungen zu den betreffenden Stellen der Artikel kenntlich gemacht. Beim Studium des konkreten historischen Materials, das in den Artikeln des vorliegenden Bandes enthalten ist, ist zu berücksichtigen, daß Marx und Engels für eine beträchtliche Zahl von Artikeln über Tagesereignisse als Quellen hauptsächlich die Informationen benutzten, die in der bürgerlichen Presse standen - in den Zeitungen „Times", „Moniteur universel", „Independance Beige", in der Zeitschrift „Economist" und anderen. Daraus entnahmen sie die Angaben über den Verlauf der Kriegshandlungen, die zahlen
mäßige Stärke der Armeen der kriegführenden Länder, die Finanzlage in den verschiedenen Staaten usw. In einigen Fällen weichen diese Angaben von denen ab, die durch spätere Forschungen ermittelt wurden...
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU
Von den insgesamt 89 im vorliegenden Band veröffentlichten Arbeiten von Marx und Engels werden neben den beiden im Vorwort zur russischen Ausgabe dieses Bandes genannten Manuskripten aus dem handschriftlichen Nachlaß noch 41 Artikel zum erstenmal in deutscher Sprache veröffentlicht. Die Mehrzahl dieser dem deutschen Leser bisher unbekannten Beiträge für die „New-York Daily Tribüne" und „The People's Paper" sind den Ereignissen auf den Kriegsschauplätzen - an der Donau und auf der Krim sowie auf dem Schwarzen Meer und in der Ostsee - gewidmet. Für die Beurteilung des Einflusses von Marx und Engels auf die Chartistenbewegung in den fünfziger Jahren sind die gleichfalls erstmalig in deutscher Sprache erscheinenden Artikel über das am 6. März 1854 in Manchester eröffnete Arbeiterparlament von großer Bedeutung. Karl Marx, der als Ehrendelegierter eingeladen war, dieser Einladung aber nicht folgen konnte, wandte sich mit einem Brief an das Arbeiterparlament (siehe vorl. Band, S. 125/126), der mit zu den wichtigsten Dokumenten zählt, die über Marx' direkte Einflußnahme auf die Entwicklung der Chartistenbewegung Aufschluß geben. Der Text des vorliegenden Bandes wurde nach Photokopien überprüft. Bei jedem Artikel ist die zum Abdruck herangezogene Quelle vermerkt. Die von Marx und Engels angeführten Zitate wurden ebenfalls überprüft, soweit die Originale zur Verfügung standen. Längere Zitate werden zur leichteren Übersicht in kleinerem Druck gebracht. Fremdsprachige Zitate und im Text vorkommende fremdsprachige Wörter sind in Fußnoten übersetzt. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind, soweit vertretbar, modernisiert. Der Lautstand der Wörter in den deutschsprachigen Texten wurde nicht verändert. Alle in eckigen Klammern stehenden Titel, Wörter und Wortteile stammen von der Redaktion; offensichtliche Druck- oder Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. In Zweifelsfällen wurde in Fußnoten die Schreibweise des Originals angeführt.
Fußnoten von Marx und Engels sind durch Sternchen gekennzeichnet, Fußnoten der Redaktion durch eine durchgehende Linie vom Text abgetrennt und durch Ziffern kenntlich gemacht. Zur Erläuterung ist der Band mit Anmerkungen versehen, auf die im Text durch hochgestellte Zahlen in eckigen Klammern hingewiesen wird; außerdem sind ein Literaturverzeichnis, Daten über das Leben und die Tätigkeit von Marx und Engels, ein Personen Verzeichnis, ein Verzeichnis der literarischen und mythologischen Namen, eine Liste der geographischen Namen sowie eine Erklärung der Fremdwörter beigefügt.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED

KARL MARX und FRIEDRICHENGELS
Januar 1854 - Januar 1855

Friedrich Engels
Der europäische Krieg111
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 3992 vom 2.Februar 1854, Leitartikel] Endlich scheint die schon so lange schwebende türkische Frage ein Stadium erreicht zu haben, in dem die Diplomatie nicht länger mehr imstande sein wird, mit ihrer immer sich ändernden, ewig zaghaften und ewig resultatlosen Tätigkeit das Feld zu beherrschen. Die französische und die britische Flotte sind in das Schwarze Meer vorgedrungen, um Angriffe des russischen Geschwaders auf die türkische Flotte oder die türkische Küste zu verhindern. Zar Nikolaus hat vor langer Zeit erklärt, daß ein solcher Schritt für ihn das Signal zu einer Kriegserklärung wäre. Wird er ihn nun ruhig hinnehmen? Es ist nicht zu erwarten, daß die vereinigten Flotten sogleich das russische Geschwader oder die Befestigungen und Schiffswerften von Sewastopol angreifen und zerstören werden. Im Gegenteil, wir können uns darauf verlassen, daß die Instruktionen der Diplomatie für die beiden Admirale1 so ausgeklügelt sind, daß möglichst jede Kollision vermieden wird. Militärische Bewegungen zu Wasser und zu Lande unterstehen jedoch, einmal im Gange, nicht mehr den Wünschen und Plänen der Diplomatie, sondern ihren eigenen Gesetzen, die nicht verletzt werden können, ohne das ganze Unternehmen zu gefährden. Nie war es die Absicht der Diplomatie gewesen, daß die Russen bei Oltenitza geschlagen werden sollten; aber nachdem man Omer Pascha etwas Bewegungsfreiheit gegeben hatte und die militärischen Operationen einmal begonnen hatten, wurde die Aktion der beiden feindlichen Befehlshaber in eine Sphäre gedrängt, die zum größten Teil nicht mehr dem Einfluß der Gesandten in Konstantinopel unterlag. Haben sich also die Schiffe erst einmal von ihren Ankerplätzen auf der Reede von Beikos entfernt, dann kann
1 Dundas und Hamelin
niemand sagen, wie bald sie in eine Lage geraten können, aus der sie weder Lord Aberdeens Friedensgebete noch Lord Palmerstons heimliches Einverständnis mit Rußland befreien können und in der sie nur zwischen einem schimpflichen Rückzug oder einem energischen Kampf zu wählen haben werden. Ein kleines, vom Lande eingeschlossenes Meer wie das Schwarze Meer, wo sich die feindlichen Schiffe kaum aus den Augen verlieren können, ist gerade der Ort, wo unter solchen Verhältnissen fast tägliche Zusammenstöße beinahe unausbleiblich sind. Es ist auch kaum zu erwarten, daß der Zar seine Flotte widerstandslos in Sewastopol wird blockieren lassen. Wenn sich also aus diesem Schritt ein europäischer Krieg ergeben sollte, so wird es sicher ein Krieg zwischen Rußland einerseits und England, Frankreich und der Türkei andrerseits werden. Dieser Fall ist wahrscheinlich genug, um uns einen Vergleich der Erfolgschancen und ein Abwägen der aktiven Stärke auf beiden Seiten zu gestatten, soweit uns das möglich ist. Wird aber Rußland allein stehen? Wessen Partei werden Österreich, Preußen und die von ihnen abhängigen deutschen und italienischen Staaten in einem allgemeinen Krieg ergreifen? Man sagt, Louis Bonaparte habe der österreichischen Regierung zu verstehen gegeben, daß die französische Regierung - falls es zu einem Konflikt mit Rußland komme und Österreich dessen Partei ergreifen sollte - sich die aufständischen Elemente zunutze machen werde, die in Italien und Ungarn nur eines Funkens bedürfen, um wieder zur verheerenden Flamme angefacht zu werden, und daß Frankreich alsdann die Wiederherstellung der italienischen und ungarischen Nation anstreben werde. Eine derartige Drohung dürfte ihre Wirkung auf Österreich kaum verfehlen; sie kann dazu beitragen, es so lange als möglich neutral zu halten, doch es ist nicht anzunehmen, daß sich Österreich lange aus dem Kampf wird heraushalten können, wenn es wirklich dazu kommen sollte. Schon die bloße Tatsache einer derartigen Drohung kann in Italien zu partiellen Aufständen führen, die Österreich nur zu einem noch abhängigeren und noch unterwürfigeren Vasallen Rußlands machen würden. Ist dieses napoleonische Spiel nicht übrigens schon einmal gespielt worden?[2] Kann man erwarten, daß der Mann, der den Papst wieder auf seinen weltlichen Thron setzte und der für die neapolitanische Monarchie schon einen Kandidaten parat hat13 den Italienern das geben wird, was sie ebenso heiß ersehnen wie die Unabhängigkeit von Österreich - die Einheit? Kann man erwarten, daß sich das italienische, Volk kopfüber in eine solche Falle stürzen wird? Zweifellos fühlt es sich durch die österreichische Herrschaft hart bedrückt, aber es wird dennoch nicht allzu erpicht darauf sein, sowohl das Ansehen eines Reiches, dessen eigener Boden in Frankreich bereits wankt, als auch den Ruhm eines Mannes
erhöhen zu helfen, der als erster die italienische Revolution bekämpfte. Alles das ist der österreichischen Regierung bekannt, und wir dürfen daher annehmen, daß sie sich mehr durch ihre eigenen finanziellen Schwierigkeiten als durch diese bonapartistischen Drohungen beeinflussen lassen wird; auch können wir sicher sein, daß im entscheidenden Moment der Einfluß des Zaren auf Wien den Ausschlag geben und Österreich auf Rußlands Seite bringen wird. Preußen versucht dasselbe Spiel zu wiederholen, das es 1780, 1800 und 1805[4] gespielt hat. Sein Plan ist die Bildung eines Bundes neutraler baltischer oder norddeutscher Staaten, an dessen Spitze es eine nicht unbedeutende Rolle spielen und sich auf jene Seite schlagen kann, die ihm die größten Vorteile bietet. Die beinahe komische Übereinstimmung, daß alle diese Versuche damit endeten, die geizige, wankelmütige und feige preußische Regierung in die Arme Rußlands zu treiben, gehört der Geschichte an. Preußen dürfte auch dieses Mal schwerlich dem gewohnten Schicksal entgehen. Eis wird nach allen Seiten Fühler ausstrecken, sich zur öffentlichen Versteigerung anbieten, in beiden Lagern intrigieren, Kamele verschlucken und Mücken seihent5], wird das bißchen Charakter, das ihm vielleicht noch geblieben ist, verlieren, wird Schläge bekommen und zuletzt dem Wenigstbietenden zugesprochen werden, der in diesem wie in jedem anderen Falle Rußland ist. Preußen wird für Rußland kein Bundesgenosse, sondern eine Last sein, denn es wird dafür sorgen, daß seine Armee schon vorher zu eigenem Nutz und Frommen geschlagen ist. Bevor nicht wenigstens eine der deutschen Mächte in einen europäischen Krieg verwickelt ist, kann der Kampf nur in der Türkei, im Schwarzen Meer und in der Ostsee um sich greifen. Während dieser Periode muß der Seekrieg das Wichtigste sein. Daß die verbündeten Flotten Sewastopol zerstören und die russische Schwarzmeerflotte vernichten, daß sie die Krim nehmen und halten können, Odessa besetzen, das Asowsche Meer blockieren und die Bergbewohner des Kaukasus entfesseln können, daran ist nicht zu zweifeln. Nichts ist leichter als das, wenn rasch und energisch gehandelt wird. Angenommen, darüber verginge der erste Monat der aktiven Operationen, so könnte schon der nächste Monat die Dampfschiffe der vereinigten Flotten nach dem britischen Kanal bringen, während die Segelschiffe nachfolgen; denn was im Schwarzen Meer dann noch zu tun ist, das könnte durch die türkische Flotte besorgt werden. Rechnet man weitere vierzehn Tage, um im Kanal Kohlen zu fassen und andere Vorbereitungen zu treffen, so könnten sie, vereinigt mit der atlantischen Flotte und der Kanalflotte Frankreichs und Großbritanniens, vor Ende Mai in solcher Stärke vor der Reede von Kronstadt erscheinen, daß
der Erfolg eines Angriffs gesichert wäre. Die Maßnahmen, die in der Ostsee ergriffen werden müssen, liegen ebenso auf der Hand wie die im Schwarzen Meer. Sie bestehen in einer Allianz um jeden Preis mit Schweden, in einer Einschüchterung Dänemarks, falls es notwendig sein sollte, in einem Aufstand in Finnland, der ausbrechen würde, wenn genügend Truppen landeten, und in einer Garantie, daß kein Frieden geschlossen werden darf ohne die Bedingung, daß diese Provinz wieder mit Schweden vereinigt wird. Die in Finnland gelandeten Truppen würden Petersburg bedrohen, während die Flotten Kronstadt beschießen. Diese Stadt besitzt allerdings durch ihre Lage eine sehr starke Position. Der Tiefwasserkanal, der zur Reede führt, gibt kaum zwei Kriegsschiffen nebeneinander Raum, und diese müssen ihre Breitseiten den Batterien preisgeben, die nicht nur auf der Hauptinsel, sondern auch im Umkreis auf kleineren Felsen, Sandbänken und Inseln aufgestellt sind. Nicht nur gewisse Verluste an Menschen, sondern auch an Schiffen wären unvermeidlich. Wird dies aber von vornherein im Angriffsplan berücksichtigt, wird einmal beschlossen, daß dieses und jenes Schiff geopfert werden muß, und wird der Plan energisch und unnachgiebig durchgeführt, so muß Kronstadt fallen. Das Mauerwerk seiner Festungswälle kann dem konzentrierten Feuer der schweren Paixhans-Kanonen nicht auf längere Zeit widerstehen, jenem wirksamsten aller Geschütze, wenn es gegen Steinmauern eingesetzt wird. Große Schraubendampfer, die mittschiffs nur mit solchen Geschützen ausgerüstet sind, würden sehr bald eine unwiderstehliche Wirkung ausüben, obgleich sie selbstverständlich dabei ihre eigene Existenz aufs Spiel setzten. Aber was bedeuten drei oder vier Linienschiffe mit Schraubenantrieb im Vergleich zu Kronstadt, dem Schlüssel des Russischen Reiches, durch dessen Einnahme St. Petersburg wehrlos würde? Odessa, Kronstadt, Riga, Sewastopol genommen, Finnland befreit, eine feindliche Armee vor den Toren der Hauptstadt, alle seine Flüsse und Häfen gesperrt - was bliebe von Rußland? Ein Riese ohne Arme, ohne Augen, dem nichts weiter übrigbliebe als zu versuchen, seine Gegner unter der Last seines ungeschlachten Rumpfes zu erdrücken, den es blindlings bald hierhin, bald dorthin würfe, wo immer ein feindlicher Schlachtruf ertönte. Wenn die Seemächte Europas so entschlossen und energisch vorgingen, dann könnten Preußen und Österreich der Kontrolle Rußlands so weit entzogen werden, daß sie sich vielleicht sogar den Alliierten anschließen. Denn beide deutschen Mächte, wären sie im eigenen Hause sicher, würden gern von Rußlands Schwierigkeiten profitieren. Aber es ist nicht anzunehmen, daß Lord Aberdeen und Herr Drouyn de Lhuys so energische Maßnahmen treffen werden. Die fraglichen Mächte sind nicht für eine energische Kampfführung, und
wenn ein allgemeiner Krieg ausbricht, wird man den Befehlshabern solche Fesseln anlegen, daß sie Vollständig gelähmt sind. Sollten trotzdem entscheidende Siege errungen werden, so wird man sich bemühen, sie dem reinen Zufall zuzuschreiben und ihre Folgen so harmlos wie möglich für den Feind zu gestalten. Der Krieg an der asiatischen Küste des Schwarzen Meeres könnte durch die Flotten sofort beendet werden; an der europäischen Küste würde er wohl ohne größere Unterbrechungen weitergehen. Wären die Russen aus dem Schwarzen Meer verjagt und wäre ihnen Odessa und Sewastopol genommen, so könnten sie die Donau nicht ohne großes Risiko überschreiten (ausgenommen in der Richtung nach Serbien, um dort Aufruhr zu stiften), aber sie könnten sehr wohl die Fürstentümer halten, bis überlegenere Kräfte und die Gefahr, daß starke Truppen an ihrer Flanke und in ihrem Rücken landen könnten, sie aus der Walachei vertreiben würden. Die Moldau brauchten sie nicht zu räumen, wenn keine umfassende Aktion erfolgte, denn dort wären Operationen an den Flanken und im Rücken nur von geringer Bedeutung, solange ihnen Chotin und Kischinjow eine sichere Verbindung mit Rußland böten. Solange sich jedoch der Krieg auf die westlichen Mächte und die Türkei auf der einen Seite und Rußland auf der anderen beschränkt, wird er kein europäischer Krieg sein, wie wir ihn nach 1792 gesehen haben. Ist er jedoch erst einmal ausgebrochen, so wird die Untätigkeit der Westmächte und der Tatendrang Rußlands bald Österreich und Preußen dazu zwingen, sich für den Autokraten zu entscheiden. Preußen wird vermutlich nicht sehr ins Gewicht fallen, da seine Armee, wie sie auch beschaffen sein mag, infolge ihrer Selbstgefälligkeit mehr als wahrscheinlich ein zweites Jenat6J erleben wird. Hingegen wird Österreich trotz seiner bankrotten Lage und trotz der etwaigen Aufstände in Italien und Ungarn kein zu verachtender Gegner sein. Rußland selbst, das gezwungen ist, seine Truppen in den Fürstentümern und an der kaukasischen Grenze weiterhin zu belassen, Polen zu okkupieren, eine Armee zur Verteidigung der Ostseeküste und besonders St. Petersburgs und Finnlands zu stellen, wird für Offensivoperationen nur sehr wenig Truppen übrig haben. Wenn Österreich, Rußland und Preußen (immer vorausgesetzt, daß letzteres noch nicht gänzlich aufs Haupt geschlagen ist) fünf- bis sechshunderttausend Mann am Rhein und in den Alpen aufbringen, so ist das mehr, als billigerweise erwartet werden darf. Und diesen fünfhunderttausend Mann sind die Franzosen allein gewachsen, vorausgesetzt, daß sie Generale haben, die denen ihrer Gegner ebenbürtig sind; unter diesen besitzen allein die Österreicher Befehlshaber, die tatsächlich ihren Namen verdienen. Die
russischen Generale sind nicht zu fürchten; die Preußen aber haben überhaupt keine Generale; ihre Offiziere sind erbliche Subalterne. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß in Europa noch eine sechste Macht existiert, die in bestimmten Augenblicken ihre Herrschaft über die gesamten fünf sogenannten Großmächte behauptet und jede von ihnen erzittern läßt. Diese Macht ist die Revolution. Nachdem sie sich lange still und zurückgezogen verhalten hat, wird sie jetzt durch die Handelskrise und die Lebensmittelknappheit wieder auf den Kampfplatz gerufen. Von Manchester bis Rom, von Paris bis Warschau und Pest ist sie allgegenwärtig, erhebt ihr Haupt und erwacht vom Schlummer. Mannigfach sind die Symptome ihres wiederkehrenden Lebens; überall sind sie erkennbar in der Unruhe und Aufregung, die die proletarische Klasse ergriffen hat. Es bedarf nur eines Signals, und die sechste und größte europäische Macht tritt hervor in glänzender Rüstung, das Schwert in der Hand, wie Minerva aus dem Haupte des Olympiers. Dieses Signal wird der drohende europäische Krieg geben, und dann werden alle Berechnungen über das Gleichgewicht der Mächte über den Haufen geworfen werden durch das Hinzutreten eines neuen Elements, das in seiner immerwährenden Schwungkraft und Jugendlichkeit die Pläne der alten europäischen Mächte und ihrer Generale ebenso vereiteln wird wie in den Jahren 1792 bis 1800.
Geschrieben am 8. Januar 1854. Aus dem Englischen.
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Karl Marx
[Die Westmächte und die Türkei]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 3988 vom 28. Januar 1854] London, Dienstag, 10. Januar 1854. Die Beschuldigung gegen Szemere, er habe den Ort verraten, an dem die ungarische Krone verborgen war[7J, wurde zuerst von dem Wiener „Soldatenfreund", dem anerkannten Organ der österreichischen Polizei, erhoben, und dies allein müßte genügen, um die Falschheit der Anklage zu beweisen. Es ist bei der Polizei nicht üblich, die eigenen Komplizen freiwillig anzuzeigen; vielmehr gehört es zu ihren gewohnten Winkelzügen, den Verdacht auf die Unschuldigen zu lenken, um die wirklich Schuldigen zu decken. Ein Mann von dem Ansehen und dem Einfluß Szemeres wäre wohl der letzte, den die österreichische Polizei aus freien Stücken geopfert hätte, wenn es ihr gelungen wäre, sich seine Mitarbeit zu sichern. Falls - was keineswegs unwahrscheinlich ist - das Geheimnis nicht durch die Indiskretion eines der Parteigänger Kossuths verraten wurde, so kann ich nur den Grafen K.Batthyany, der jetzt in Paris lebt, des Verrats verdächtigen. Er war einer der sehr wenigen, die um das Versteck wußten, in dem die königlichen Insignien verborgen waren, und er ist der einzige unter ihnen, der den Wiener Hof um Amnestie ersucht hat. Letzteres, so vermute ich mit gutem Grund, wird er nicht leugnen. Lord Hardinge, der britische Oberbefehlshaber, ist bewogen worden, sein Abschiedsgesuch zurückzuziehen. Über den Herzog von Norfolk hat sich, wie uns der Korrespondent der „Dublin Evening Mail" unterrichtet, „einiger Hofklatsch verbreitet. Ein gewisser edler Herzog, der am Hofe ein Amt und die höchste erbliche Feudalwürde im Staate innehat, machte, wie es heißt, etwas zu freien Gebrauch von dem Champagner an der königlichen Tafel, wonach er im Speisesaal sein höchst edles Gleichgewicht verlor und Ihre Majestät selbst in die Katastrophe verwickelte. Dieses störende contretemps1 führte zum Rücktritt des edlen Herzogs und zur Ernennung von Earl Spencer zum königlichen Oberhofmeister."
1 Ärgernis
3 Marx Engels, Werke, Band 10
Herr Sadleir, der Makler der Irischen Brigade[8], hat erneut um Rücktritt von seinem Ministerposten ersucht, der diesmal von Lord Aberdeen angenommen wurde. Seine Position war unhaltbar geworden nach den öffentlichen Enthüllungen vor einem irischen Gerichtshof über die skandalösen Mittel, mit denen er es fertiggebracht hatte, ins Parlament zu gelangen. Der Einfluß des Kabinetts aller Talente[S] über die Irische Brigade wird durch diesen peinlichen Vorfall nicht gerade verstärkt. Die Brotunruhen am Freitag und Sonnabend in Crediton, Devonshire[10!, waren gleichsam eine Antwort des Volkes auf die enthusiastischen Schilderungen des Wohlstands, mit denen die ministeriellen und Freihandelsblätter ihre Leser zum Ausgang des Jahres 1853 unterhalten zu können geglaubt hatten. Die „Patrie"1111 berichtet aus Trapezunt, das Volk sei, als der russische Geschäftsträger in Teheran die Entlassung von zwei der populärsten Minister des Schahs von Persien verlangt habe, in Erregung geraten, und der Befehlshaber der Garde habe erklärt, er könne nicht für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe einstehen, falls man dieser Forderung nachgäbe. Diesem Bericht zufolge veranlaßte die Furcht vor einem Ausbruch des Volkszorns gegen Rußland den Schah, seine Beziehungen zum Geschäftsträger Englands wiederaufzunehmen. Zu der Unmenge veröffentlichter diplomatischer Schriftstücke kommen jetzt noch eine Note der vier Mächte vom 12. Dezember1121 hinzu, die von den jeweiligen Gesandten in Konstantinopel gemeinsam an die Pforte gerichtet ist, sowie ein neues Zirkular von Drouyn de Lhuys an die französischen diplomatischen Vertreter vom 30.Dezember aus Paris, Bei sorgsamer Durchsicht der Note der vier Mächte verstehen wir, weshalb in Konstantinopel eine solch außergewöhnliche Erregung herrschte, als die Annahme der Note durch die Pforte bekannt wurde, weshalb die Aufstandsbewegung vom 21. entstand und weshalb das türkische Ministerium feierlich verkünden mußte, daß die Kriegsoperationen durch die erneuten Friedensverhandlungen weder unterbrochen noch beeinträchtigt würden. Genau neun Tage nachdem die Nachricht von dem verräterischen und feigen Gemetzel in Sinope Konstantinopel erreicht und im ganzen Ottomanischen Reich einen einzigen furchtbaren Racheschrei ausgelöst hatte, fordern die vier Mächte die Pforte kaltblütig auf - und die Gesandten Großbritanniens und Frankreichs zwingen sie sogar Verhandlungen mit dem Zaren auf der Grundlage aufzunehmen, daß alle alten Verträge erneuert werden sollen; daß die Fermane über die geistlichen Privilegien, die der Sultan seinen christlichen Untertanen gewährt hatte, von neuen Zusicherungen begleitet sein sollen, die jeder
dieser Mächte, folglich auch dem Zaren, gegeben werden; daß die Pforte einen Bevollmächtigten ernennen soll, um einen Waffenstillstand abzuschließen; daß sie Rußland erlauben soll, eine Kirche und ein Hospital in Jerusalem zu errichten, und daß sie sich gegenüber den Mächten, folglich auch dem Zaren, verpflichten soll, ihr inneres Verwaltungssystem zu verbessern. Die Pforte soll nicht nur keine Entschädigung für die schweren Verluste erhalten, die sie durch die Piratenstreiche des Moskowiters erlitten hat; all die Ketten, an denen Rußland die Türkei ein Vierteljahrhundert lang hat tanzen lassen, sollen nicht nur neu geschmiedet, sondern der Gefangene soll auch noch strenger als bisher gehalten werden; die Pforte soll sich in die Gewalt des Autokraten begeben, indem sie ihm demütig die Fermane über die geistlichen Privilegien ihrer christlichen Untertanen garantiert und sich ihm gegenüber hinsichtlich ihres inneren Verwaltungssystems verpflichtet. Damit würde sie dem Zaren gleichzeitig das religiöse Protektorat wie auch die Kontrolle über ihre Zivilverwaltung ausliefern. Als Entschädigung für eine derartige Kapitulation wird der Pforte die „so schleunig als möglich stattfindende Räumung der Donaufürstentümer", deren Besetzung Lord Clanricarde als „Piratenstück" bezeichnete, versprochen und zugesichert, daß die Präambel des Vertrags vom 13.Juli 1841113die sich als ein so zuverlässiger Schutz gegen Rußland erwiesen hat, förmlich bekräftigt werden soll. Obgleich die abgrundtiefe Niedertracht dieser jämmerlichen „Mächte" ihren Höhepunkt erreichte, als sie die Pforte einige Tage nach Sinope zwangen, Verhandlungen auf solcher Grundlage zu führen, werden sie auf diese hinterhältige Art nicht aus ihrer heiklen Situation herauskommen. Der Zar ist schon zu weit gegangen, um auch nur den Anschein zuzulassen, daß das von ihm beanspruchte alleinige Protektorat über die christlichen Untertanen der Türkei durch ein europäisches ersetzt wird, und wir sind bereits durch den Wiener Korrespondenten der „Times"[14] unterrichtet, daß
»Osterreich angefragt hat, ob der russische Hof Einwände gegen ein europäisches Protektorat über die Christen in der Türkei erheben würde. Die in entschiedenstem Ton gehaltene Antwort besagte, daß Rußland keiner anderen Macht gestatten werde, sich in Fragen der griechisch-orthodoxen Kirche einzumischen. Rußland habe Verträge mit der Pforte und werde diese Frage mit ihr allein regeln."
Auch im „Standard"[153 lesen wir, daß
»Nikolaus nicht gewillt ist, einen Vorschlag anzunehmen, der nicht direkt vom türkischen Herrscher kommt; damit lehnt er jegliches Recht der europäischen Mächte auf Vermittlung oder Einmischung ab und fügt jenen Mächten eine Beleidigung zu, die niemand als unverdient betrachten kann."
Die einzige wichtige Stelle im Zirkular des Herrn Drouyn de Lhuys ist die Bekanntgabe, daß die vereinigten Flotten ins Schwarze Meer auslaufen und beabsichtigen, „ihre Bewegungen in einer Weise zu kombinieren, welche verhindern soll, daß das Territorium oder die Flagge der Türkei neuerdings den Angriffen der russischen Streitkräfte zur See ausgesetzt sei". Non bis in idem.1 La moutarde apres la viande.2 Der gestrige „Morning Chronicle"116 ] veröffentlichte eine Depesche seines Korrespondenten in Konstantinopel vom 30. Dezember, in der mitgeteilt wird, daß die vereinigten Flotten ins Schwarze Meer eingelaufen seien. „Vermutlich laufen die Flotten ins Schwarze Meer nur ein", schreibt die „Daily News"!"], „um das zu tun, was sie im Bosporus getan haben - nämlich nichts."
Der „Press "[18] zufolge „sind bereits Befehle an jeweils ein Schiff der englischen und der französischen Flotte ergangen, ins Schwarze Meer einzulaufen und sich unter der weißen Flagge nach Sewastopol zu begeben. Dort sollen sie dann dem russischen Admiral bekanntgeben, daß man sofort das Feuer gegen ihn eröffnen werde, falls er den Hafen von Sewastopol verlasse."
Obwohl die russische Flotte in dieser nicht gerade sehr günstigen Jahreszeit und nach ihrer ruhmreichen Heldentat von Sinope absolut keinen Grund hat, sich in das Schwarze Meer zu begeben, wird der Zar es England und Frankreich nicht erlauben, ihn, und sei es auch nur zeitweilig, aus den Gewässern zu drängen, von denen er sie seit 1833[19] stets fernzuhalten vermochte. Sein Prestige wäre dahin, würde er diese Nachricht nicht mit einer Kriegserklärung beantworten.
„Eine russische Kriegserklärung an Frankreich und England", heißt es in der „Neuen Preußischen Zeitung"*20', „ist wahrscheinlicher als ein baldiger Frieden zwischen Rußland und der Türkei." In Newry (Ulster) wurde ein großes Meeting über den durch nichts herausgeforderten Überfall Rußlands auf die Türkei abgehalten. Ich bin erfreut, durch Herrn Urquharts freundliche Übersendung des Berichts aus Newry Ihren Lesern die bemerkenswertesten Stellen aus der Rede dieses Herrn übermitteln zu können. Da ich schon verschiedentlich meine eigenen Ansichten zur orientalischen Frage dargelegt habe, brauche ich nicht mehr
1 Man richtet nicht zweimal über dasselbe Vergehen. - 2 Da kommt der Mostrich nach dem Essen.
jene Punkte hervorzuheben, in denen ich mich nicht mit Herrn Urquhart einverstanden erklären kann.l21J Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß die folgende Nachricht seine Ansichten bestätigt: „Die Bauern der Kleinen Walachei haben sich mit Unterstützung des walachischen Militärs gegen die Russen erhoben. Das ganze Land in der Umgegend von Kalafat und entlang des linken Donauufers ist in Bewegung. Die russischen Beamten haben Turmal verlassen."
Nach einigen einleitenden Bemerkungen führte Urquhart aus:
„In den Fragen, die unsere ernstesten Belange gegenüber anderen Staaten und unsere Beziehungen zu ihnen berühren, gibt es weder eine gesetzliche Beschränkung noch eine systematische Lenkung, gibt es keine Verantwortlichkeit gegenüber der Nation, keine Strafen für die Unterlassung einer Pflicht oder für das Begehen eines Verbrechens; ihr seid jeder Möglichkeit konstitutioneller Einwirkung vollständig beraubt, weil ihr entweder in Unwissenheit gehalten oder falsch informiert werdet. Dieses System ist also dazu bestimmt, die Nation irrezuführen, die Regierung zu korrumpieren und den Staat zu gefährden. Indessen seid ihr gegen eine Regierung, die äußerst raffiniert und mit Methode vorgeht, die äußerst feindselig auftritt und gewissenlos ist und die sich ihren Weg zu jener die Welt bedrohenden Vormachtstellung mit Hilfe gerade der Regierungen gebahnt hat, auf deren Sturz sie jetzt hinarbeitet - und hierin liegt die Besonderheit unserer Lage, wie dies ehedem auch in Athen gewesen daß nämlich Rußland die Hauptmittel seiner Größe im Herzen jenes Staates gefunden oder geschaffen hat, dessen öffentliche Organe sich seiner Politik am meisten widersetzten. Das ist ein wesentlicher Grund, weshalb England in derartigen Dingen ein Schandmal der Unwissenheit darstellt. Die Vereinigten Staaten haben einen Präsidenten, der die der Krone eigenen Hoheitsrechte ausübt, einen Senat, der die Exekutivgewalt kontrolliert und von vornherein über ihre Handlungen informiert ist." („Hört, hört!" Beifall.) „ In Frankreich hat es zur Untersuchung der Staatsgeschäfte wiederholt Parlamentskommissionen gegeben, die sich Dokumente vorlegen ließen und den Minister des Auswärtigen zur Befragung vorluden. Auch ist dort die Nation, wenigstens ihrer Information entsprechend, wachsam und ebenso die Regierung; denn an solchen Dingen hängt die Existenz von Ministerien und Dynastien. In Österreich gibt es wenigstens einen Monarchen, der vom Vorgehen seiner Untergebenen unterrichtet ist. In der Türkei und in Rußland seht ihr, wie in dem einen Land die Meinung des Volkes die Regierung drängt und in dem anderen die Regierung den Willen der Nation verkörpert. So bleibt allein England mit einer Krone ohne Autorität, einer Regierung ohne System, einem Parlament ohne Kontrolle und einer Nation in Unwissenheit." („Hört, hört!") „Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nun wieder der gegenwärtigen Lage, den vor uns liegenden Tatsachen zuwenden, so muß ich zunächst darauf hinweisen - und das ist der springende Punkt -, daß Rußland nicht die Macht hat, seine Drohungen zu verwirklichen, und daß es lediglich mit der Möglichkeit gerechnet hat, euch in unbegründetem Schrecken zu halten, daß es absolut nicht die Absicht hatte,
gegen die Türkei Krieg zu führen, daß es gar nicht die Mittel hierfür hat, daß es auf ein derartiges Unternehmen nicht einmal vorbereitet ist, daß es damit gerechnet hat, ihr würdet die Türkei in Schach halten, damit es ihre Provinzen besetzen kann, und daß es weiter hofft, ihr würdet diesen Staat zwingen, Rußlands anmaßenden Forderungen, die den Zerfall des Ottomanischen Reiches herbeiführen sollen, nachzugeben." („Hört, hört!") „Mit Hilfe eures Gesandten in Konstantinopel und eures Geschwaders im Bosporus ist Rußland dabei, seine Ziele zu verwirklichen. Und hier muß ich auf eine Behauptung meines tapferen Freundes, des Obersten Chesney, hinweisen und gleichzeitig etwas ergänzen, was er ausgelassen hat. Er erklärte, daß die Türkei - wie die Dinge vor dem Überschreiten des Pruth standen - Rußland mehr als nur gewachsen war; aber er erwähnte nichts von der hohen Achtung, die er den militärischen Fähigkeiten der Türken zollt und auch schon zum Ausdruck gebracht hat. Er sagte, selbst im gegenwärtigen Zeitpunkt und trotz all der großen Vorteile, die Rußland durch euch erzielen konnte, frage er sich noch immer, ob die Türkei Rußland nicht doch gewachsen sei. In diesem Punkte hege ich nicht den geringsten Zweifel, zwei Bedingungen vorausgesetzt - erstens, daß euer Gesandter und euer Geschwader zurückgezogen werden, und zweitens, daß die Türkei aufhört, sich durch ihr Vertrauen auf Ausländer zu schwächen. Doch danach folgte eine weitere, allerdings nicht von Bedenken freie Behauptung, die jedoch auf Grund seiner hohen Autorität - und es gibt auf diesem Gebiet keine höhere Autorität - eine unangemessene Bedeutung erlangen oder zu einer nicht zu rechtfertigenden Auslegung führen kann. Er erklärte, der gegenwärtige Augenblick könnte günstig sein für Rußland, weil die Donau gefroren sei und es mit seinen Truppen über die Donau nach Bulgarien vorstoßen könnte. Aber welche Truppen kann es denn nach Bulgarien verlegen? Europa hat seit vielen Monaten übertriebenen Nachrichten gelauscht; man hat uns emsig über die riesigen Ansammlungen einsatzbereiter russischer Truppen informiert. Sie wurden allgemein auf 150000 Mann geschätzt, und das Volk mochte wohl glauben, daß 150000 Mann genügten, um die Türkei zu erobern. Ich erhielt vor einiger Zeit einen amtlichen Bericht, in dem die Gesamtzahl der Truppen, die den Pruth überquert hatten, auf 80000 Mann herabgesetzt war, wovon bereits 20000 bis 30000 durch Krankheit umgekommen oder ins Lazarett gebracht worden waren. Ich schickte diesen Bericht an eine Zeitung; er wurde aber nicht veröffentlicht, da man ihn für nicht glaubwürdig hielt. Rußland hat jetzt selbst Angaben veröffentlicht, worin die Gesamtzahl auf 70000 Mann reduziert ist." (Beifall.) „Läßt man nun das Verhältnis der Stärke beider Reiche, wenn alle ihre Kräfte mobilisiert sind, außer Betracht, so sollte klar sein, daß Rußland nicht die Absicht hatte, mit einer solchen Truppenstärke Krieg zu führen. Aber welche Streitmacht konnte nun eigentlich die Türkei dem entgegenstellen? Zu dem betreffenden Zeitpunkt befanden sich zwischen Balkan und Donau nicht weniger als 180000 Mann, die jetzt auf 200000 Mann in starken, befestigten Stellungen angewachsen sind, bei einem russischen Heer, das auf mindestens 50000 Mann zusammengeschmolzen und zudem durch Niederlagen demoralisiert und durch Desertion zersetzt ist. Was die Fähigkeiten der türkischen Truppen und ihre Überlegenheit über die Russen anbelangt, so habt ihr das Zeugnis des Generals Bern gehört; ihr habt den lebenden Beweis des Obersten
Chesney, der durch die Ereignisse, die Europa in Erstaunen und Bewunderung versetzten, bestätigt wurde. Bedenkt, daß uns jetzt nicht das Verhältnis der Stärke der beiden Reiche interessiert, sondern das Vorhaben und die Handlungsweise des einen von ihnen - nämlich Rußlands. Ich bin der Ansicht, daß es nicht beabsichtigte, Krieg zu führen, denn einmal hatte es nicht die erforderlichen Kräfte zur Stelle und zum anderen konnte es sich auf das englische Kabinett verlassen. Rußland hatte nicht die Absicht, Krieg zu führen - es hat diese auch jetzt nicht. Ich sagte schon vor dem Krieg: in die Donaufürstentümer einfallen und diese besetzen werde es mit Hilfe Englands. Wie war es mir möglich, das vorauszusagen? Gewiß nicht, weil ich die russischen Pläne kannte, die Tausende genausogut oder besser als ich kennen, sondern weil ich Englands Charakter kannte. Aber wollen wir die Frage von neuem überdenken - sie ist zu wichtig, Um übergangen zu werden. Oberst Chesney meinte, das ganze Problem wäre die Reserve, die Rußland hinter dem Pruth hatte. Von dieser Reserve hat er kürzlich einfe ganze Menge gehört. Osten-Sacken zog mit seinen 50000 Mann in voller Marschordnung auf die Donau zu, um die Katastrophe von Oltenitza wieder wettzumachen. Die 50000 Mann schmolzen auf 18000 zusammen, und das Beste daran ist, daß nicht einmal diese angekommen sind." (Gelächter und Beifallsrufe.) „Nimmt man Oberst Chesneys Zahl von 75000, die durch Todesfälle und Erkrankungen auf 50000 zurückgegangen ist, und schlägt man die überall verstreute Reserve von 18000 Mann noch dazu, so haben wir im Grunde doch nur 70000 Mann, die gegen 200000 in starken Verschanzungen vorgehen sollen, überdies in bergigem Gelände und zu einer Jahreszeit, zu der sich die Russen bisher beständig zurückgezogen haben. Erlaubt mir, euch jetzt die Ereignisse des letzten Krieges von 1828/29 ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Türkei machte damals politische Erschütterungen durch. Die Muselmanen richteten das Schwert gegeneinander; die Provinzen waren in Aufruhr, Griechenland im Aufstand, die alte militärische Macht vernichtet, die neuen Rekruten, ohnehin nur 33000 Mann an der Zahl, kaum ausgebildet. Die mit voller Wucht auf den Hafen von Navarino abgefeuerten britischen Breitseiten entrissen der Türkei die Herrschaft über das Schwarze Meer; und dann überfiel Rußland, von England und Frankreich unterstützt, die Türkei und drang bis in das Zentrum ihrer Provinzen vor, ehe sie überhaupt merkte, daß ihr Krieg erklärt worden war. Aber was glaubt ihr, wieviel Mann sie dann einzuberufen für richtig hielt? Zweihundertundsechzehntausend!" (Beifall.) „Und doch wurde sie nur durch Täuschung und den Einfluß des englischen Gesandten, der unglücklicherweise zurückgekehrt war, dazu gebracht, den Vertrag von Adrianopel zu unterzeichnen, der ihr durch den plötzlichen Überfall aufgezwungen wurde." („Hört, hört!") „Werft einen Blick auf die jetzige Türkei, einig in Herz und Hirn, mit einem von Vaterlandsliebe und Abscheu vor Gewalttaten gleichermaßen beflügelten Heroismus, mit geeinter Staatsmacht, unermeßlichen Hilfsquellen; in der Lage, über 300000 Freiwillige zu verfügen, voller Kriegsmut, wie man ihn auf der Erde nicht wiederfindet, und über 250000 ausgebildete, in Asien siegreiche Soldaten; mit der Herrschaft über das Schwarze Meer, einem wohlgemerkt nicht verlorenen Sinope, wie ich gleich zeigen werde, und im Besitz von Dampfschiffen, um ihre Truppen ohne Menschen- und Zeitverluste von den entlegensten Provinzen des Reiches auf den Kriegsschauplatz zu
werfen; von den schneebedeckten Gipfeln des Kaukasus bis zu den unfruchtbaren Wüsten Arabiens, von den weiten Einöden Afrikas bis zum Persischen Golf - überall herrscht ein Geist der Entrüstung, ist ein Geist der Tapferkeit erwacht." („Hört!" Beifall.) „Aber wie im vorigen Krieg ein Navarino die Kosaken über den Balkan brachte, so können jetzt die Schiffsschrauben Britanniens, selbst ohne Krieg, die alten russischen Schiffe in die Dardanellen bringen. Doch ich spreche von russischen Absichten; das ist der springende Punkt. Dieser Sieg muß in der Downing Street*22^ errungen werden und nicht im Osten. Bleibt ihr indessen ungeschoren? Gibt es hier einen unter euch, der nicht im Grunde genommen leidet, einen, dessen Brotpreis nicht steigt, für den die Möglichkeit, zu arbeiten oder sein Kapital anzulegen, nicht eingeschränkt wird?" („Hört, hört!") „Wessen Steuern werden nicht erhöht? Wird die Change alleyl23! etwa nicht erschüttert? Haben wir nicht gesehen, wie durch diese Bewegung der russischen Truppen eine Zerrüttung des Geldmarktes hervorgerufen worden ist, die zu zwei Dritteln der von 1847 gleicht - und doch hat Rußland niemals Krieg gewollt. Haben wir nicht gesehen, wie die Regierungen Europas erniedrigt wurden und wie man den Boden für Aufstände und Erschütterungen bereitete - und doch hat Rußland niemals Krieg gewöllt. Haben wir nicht gesehen, wie sich das Ottomanische Reich durch ein riesiges Heer von einer halben Million Mann erschöpfte, weil Rußland 70000 Mann verlegte, um sie auf Kosten der Türkei und auf Kosten der Arbeiter Großbritanniens zu verpflegen? Und das alles, weil ihr leichtgläubige Leute geglaubt habt, Rußland sei so stark, daß man ihm nicht Widerstand leisten, und die Türkei so schwach, daß man sie nicht unterstützen könne. Wir leben wirklich in einem Zeitalter der Träume und Fabeln; wir sind imstande, nicht nur das zu glauben, sondern auch, daß Rußland mächtiger als alle anderen Mächte der Welt ist, die gegen Rußland verbündet sind. Die ,Times' äußert sich geringschätzig über die muselmanische Armee wie auch über die Armeen Frankreichs und die Seestreitkräfte Englands und erklärt allen Ernstes, daß ganz Europa und die Türkei noch dazu ebensogut versuchen könnten, die Russen von Konstantinopel fernzuhalten, wie sie die Nordwinde davon abhalten könnten, über die Sarmatischen Ebenen zu wehen. Und was für Europa zutrifft, gilt in gleichem Maße für die Türkei; doch wenn ihr ausharrt, wird die Türkei fallen. Rußland hat 70000 Mann verlegt, und folglich ist die Türkei voller Schrecken und Entrüstung, England ist von Furcht und Panik gepackt, und auch Rußland bebt - vor Lachen." (Gelächter und anhaltender Beifall.) „ Ich sagte, ich käme auf die Affäre von Sinope zurück oder - wie man sie mit Recht genannt hat - auf das kleine Navarino. Ich erinnere an jenen beschämenden Vorfall nicht in Verbindung mit unserem Verhalten - denn wir haben dabei nichts Schmachvolleres begangen als in den übrigen Fällen sondern tue dies nur, um das Kräfteverhältnis der beiden Parteien zu beleuchten. So betrachtet, hat die Affäre Rußlands Macht um nichts vergrößert und die der Türkei um nichts vermindert, ganz im Gegenteil: Sie hat die berechtigte Furcht der Russen vor der Tapferkeit der Türken in ein höchst unmißverständliches Licht gerückt. Hier stehen wir vor einer Tatsache, die selbst in unseren Seekriegsannalen nicht ihresgleichen findet - Fregatten, die sich Bord an Bord an Linienschiffe legen, und Kapitäne, die die Fackel in das Pulvermagazin werfen und sich selbst als Brandopfer auf dem Altar des Vaterlandes
darbringen. Was kann man nicht alles gegen eine Regierung erreichen, die bei jedem Schritt, und besonders bei diesem, Gegenstand des Abscheus und Entsetzens für jeden Menschen ist. Bedenkt, daß die Seestreitmacht der Türkei unangetastet ist; nicht ein Linienschiff, nicht ein Dampfer ging verloren. Jetzt ist die Herrschaft der Türkei über das Schwarze Meer doppelt gesichert, falls die Diplomaten abberufen werden, und sie, sie allein haben die sogenannte Katastrophe von Sinope heraufbeschworen. Aber diese Katastrophe war mit einem anderen Ziel vorbereitet worden; sie war als Stock und Peitsche gedacht, um die zögernden Lasttiere in Paris und London anzutreiben und sie zu veranlassen, den kriegführenden Mächten die Bedingungen eines Abkommens aufzuzwingen. Ehe ich in diese Versammlung kam, hörte ich, wie ein Herr des Komitees erklärte, es sei für England und Frankreich völlig statthaft gewesen, sich einzumischen, falls sie dadurch hofften, den Frieden zu sichern. Ich weiß, daß diese Auffassung der allgemeine Eindruck im Lande ist, aber nichtsdestoweniger konnte ich ihm nur mit Entsetzen zuhören. Wer hat euch das Recht gegeben, durch die Welt zu ziehen und mit Waffen Frieden zu erzwingen? Einer Aggression Widerstand leisten und eine Aggression verüben, sind zwei verschiedene Dinge." („Hört, hört!") „Selbst um die Türkei zu retten, könnt ihr euch nicht einmischen, ohne Rußland den Krieg zu erklären. Eure Einmischung jedoch wird Rußland von Vorteil sein, sie geschieht auf sein Geheiß und mit der Absicht, der Türkei Bedingungen aufzuerlegen, die sie zu Fall bringen müssen... In euren Verhandlungen werdet ihr der Türkei vorschlagen, sich der früheren Verträge mit Rußland zugunsten eines europäischen Abkommens zu entledigen. Das ist tatsächlich schon vorgebracht worden und hat bei einer Nation Beifall gefunden, die jeglicher Verwirrung Beifall zollt. Du lieber Himmel! Ein europäisches Abkommen! Darauf soll sich die Türkei verlassen! Gewiß war auch euer Wiener Vertrag ein europäisches Abkommen, aber mit welchem Ergebnis? Jenes Abkommen war wegen der Schaffung Polens wichtig; und was geschah mit Polen? Was sagte euch euer Minister über jenen Vertrag, als Polen gefallen war? Nun, er sagte, ,daß der Vertrag England das Recht gegeben hat, eine Meinung über die Vorgänge in Polen zu äußern'. Und nachdem er dann behauptete, daß er schon vor dem Vorfall Einwände erhoben habe, sagte er: ,Aber Rußland war hierin anderer Ansicht.' Dasselbe wird auch mit eurem gegenwärtigen Abkommen geschehen; Rußland wird darüber anderer Ansicht sein." (Lauter Beifall.) „Diese Worte fielen im Unterhaus; sie wurden von demselben Minister" (Lord Palmerston) „ausgesprochen, in dessen Händen jetzt das Schicksal der Türkei liegt wie seinerzeit das Polens. Doch jetzt seid ihr gewarnt, damals wart ihr unwissend ... Ich möchte nun auf eine Meldung eingehen, die kürzlich in der .Times' veröffentlicht wurde. Darin heißt es, zwischen unserem Gesandten in Persien und der Regierung des Schahs habe es Differenzen gegeben. Als der Schah schon nachgeben wollte, mischte sich der russische Gesandte ein und verschlimmerte noch den Streit. Da treibt also Rußland England aus Persien, während England im selben Momeift Rußland der Türkei aufdrängt. In der gleichen Meldung wird erwähnt, daß in Teheran eine Gesandtschaft eingetroffen ist, daß die Afghanen außerordentlich erregt sind und daß Dost Muhammad Chan, dieser unversöhnliche Feind Rußlands, von Herzen auf einen Erfolg seiner Gesandtschaft hofft, die Persien dazu bewegen soll, die
Türkei zu unterstützen. Ihr werdet euch daran erinnern, daß England vor sechzehn Jahren gegen die Afghanen Krieg führte, um Dost Muhammad Chan zu entthronen, weil er ein Feind Englands und ein fester Verbündeter Rußlands sei. Vielleicht glaubte eure Regierung daran. Wenn ja, dann ist es sehr merkwürdig, weshalb sie nicht gegen Rußland, sondern gegen die Afghanen Krieg führte, was diese doch direkt in die Arme Rußlands treiben mußte. Aber eure Regierung dachte nicht daran, das zu glauben; sie wußte damals sehr genau, daß Dost Muhammad Chan, wie man jetzt sieht, ein unversöhnlicher Feind Rußlands war, und gerade aus diesem Grunde griff sie ihn ja an. Del Sachverhalt ist festgestellt worden, und im Unterhaus wurde bewiesen, daß die Dokumente, die Dost Muhammad Chan als Verbündeten Rußlands hinstellten, gefälscht waren. Der englische Gesandte selbst schickte das Original zur Veröffentlichung nach Hause." („Pfui!") „Das ist nur das folgerichtige Ergebnis der Heimlichtuerei der Regierung und jener Unwissenheit der Nation, auf die ich bereits hinwies. In dieser Versammlung sehe ich keinen, der nicht durch stillschweigendes Dulden Mitschuldiger an diesem Verbrechen ist und der durch diese Gleichgültigkeit gegenüber den Handlungen und dem Ansehen seines Landes nicht auf den Stand eines Sklaven gesunken ist, obwohl er in dem Wahn lebt, ein freier Bürger zu sein." („Hört, hört!") „Darf ich euch ein wenig darüber berichten, was Ausländer von euch denken? Ihr habt kürzlich viel von deutschen Einflüssen am Hofe gehört. Vielleicht möchtet ihr etwas über die Ansichten der deutschen Vettern der Königin hören? Nun, so erlaubt mir denn, euch zu erklären, wenn Deutschland russenfreundlich ist, dann hat England es dazu gemacht. Hört also diese Worte: ,Wenn England und Frankreich sich nicht einmischen, wird die Türkei siegen. Wenn dagegen die Westmächte in ihrer törichten Unterwürfigkeit sich des „Vermitteins" oder des Einmischens in die orientalischen Angelegenheiten nicht enthalten können, so ist die Türkei verloren, und die allgemeine Herrschaft der Moskauer Kosaken wird bald die Geschicke dieser Welt lenken! Und wie edel ist bislang die Stellung und Haltung der armen Türkei gewesen - trotz aller diplomatischen Unterschlagungen und obwohl sie eine Bande von Mördern für ihre Freunde hielt. Die Dinge sehen tatsächlich finster aus! Ich habe stündlich erwartet, daß die alliierten Flotten die Hauptstadt der Türkei beschießen, um ihren heroischen Geist zu brechen und sie zu entehrender Unterwerfung zu zwingen. Die Türken können wahrlich sagen: „Longa est injuria, longae ambages, sed summa sequor fastigia rerum!"1 Welch einen Kontrast bildet ihr gegenwärtiges Verhalten zu dem Englands in ähnlichen Situationen! Sie „führen Krieg" - England betreibt Piraterie. Man erinnere sich nur der „Deklaration von Lima", des Einfalls in Afghanistan, der Beschießung Kopenhagens und der Schlacht bei Navarino, und dann bedenke man, in welcher Lage sich die Türkei augenblicklich befindet - gedemütigt und bedroht, sogar überfallen und provoziert von der „zivilisierten Welt"; sie bleibt inmitten all dieser Heimsuchungen ruhig und verständig, fest und entschlossen, dennoch gelassen/
1 „Lang währt das Unrecht, lang die Ungewißheit, doch ich strebe nach den höchsten Gipfeln der Dingel" (Vergil, „Aeneis", I, Vers 341-342.)
Ihr könnt hieraus den Schluß ziehen, daß jene Personen in den höchsten Stellungen vergeblich schmachten mögen nach dem Privileg, das mir eure Nachsicht gewährt und das mir erlaubt, meiner Entrüstung Luft zu machen, und mir Gelegenheit gibt, vor kommenden Ereignissen zu warnen. Gestattet mir denn, euch die Lage zu schildern, in der ihr euch befindet. Britannien zeigt zwei Gesichter - zu Hause ist es ein Schwachsinniger und im Ausland ein Wahnsinniger, ein bewaffneter Wahnsinniger, der sein eigenes Leben und das anderer gefährdet. Ihr seid das nicht einzeln genommen, jedoch in der Gesamtheit. Rüttelt also euren individuellen Verstand wach und unterdrückt den gemeinsamen Wahnsinn, bis ihr das zerrüttete Hirn kurieren könnt - dieses System, das die Ursache des ganzen Übels ist." (Lauter und anhaltender Beifall.)
Ich möchte Herrn Urquharts Rede hinzufügen, daß Lord Palmerstons jüngster coup d'eclat1 und die Gunst des Volkes ihn zum Premierminister, wenn nicht dem Namen, so doch der Sache nach, gemacht habend241 Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 aufsehenerregender Streich
Karl Marx
[Der orientalische Krieg[25]]
[„Zuid Afrikaan" vom 6. März 1854] London, 14. Januar 1854. Endlich scheint die schon so lange schwebende „orientalische Frage" einen Punkt erreicht zu haben, an dem die Diplomatie nicht länger mehr imstande sein wird, mit ihrer immer sich ändernden und ewig resultatlosen Tätigkeit dieses Feld zu beherrschen. Am 3. d.M. sind die französische und die britische Flotte in das Schwarze Meer vorgedrungen, um Angriffe des russischen Geschwaders auf die türkische Flotte oder die türkische Küste zu verhindern. Zar Nikolaus hat schon einmal erklärt, daß ein solcher Schritt für ihn das Signal zu einer Kriegserklärung wäre. Wird er ihn nun ruhig hinnehmen? Ein Bericht von heute meldet, daß die vereinigten französischen und englischen Flotten zusammen mit der ersten Division der türkischen Flotte 17000 Türken nach Batum bringen. Wenn das stimmt, so ist das geradesogut eine Kriegshandlung, als wenn sie einen direkten Angriff auf Sewastopol unternähmen, und der Zar kann nicht umhin, sofort den Krieg zu erklären. Wird aber Rußland alleinstehen? Wessen Partei würden Österreich und Preußen in einem allgemeinen Krieg ergreifen? Man sagt, Louis Bonaparte habe der österreichischen Regierung zu verstehen gegeben, daß die französische Regierung - falls es zu einem Konflikt mit Rußland komme und Österreich dessen Partei ergreifen sollte - sich die aufständischen Elemente zunutze machen werde, die in Italien und Polen nur eines Funkens bedürften, um wieder zur verheerenden Flamme angefacht zu werden, und daß Frankreich alsdann die Wiederherstellung der -italienischen und polnischen Nation anstreben werde. Die österreichische Regierung jedoch, dessen können wir sicher sein, wird sich mehr durch ihre
eigenen finanziellen Schwierigkeiten als durch die Drohungen Bonapartes beeinflussen lassen. Auf den Zustand der österreichischen Staatskasse kann man schließen aus der jüngsten Zunahme der entwerteten Banknoten und aus dem neuen Ausweg der Regierung, eine Abwertung des von ihr selbst ausgegebenen Papiergeldes um 15 p.c. anzuordnen. Dieser Kunstgriff, dereine Entwertung des eigenen Papiergeldes bewirkt, bringt die Findigkeit, Steuern zu ersinnen, wahrscheinlich zu höchster Vollendung - er besteuert die Zahlung von Steuern. Den deutschen Zeitungen zufolge wird das österreichische Budget für 1854 ein Defizit von 45000000 Gulden im ordentlichen Haushalt und von 50000000 Gulden im außerordentlichen Haushalt aufweisen. Zum hundertsten Male geht Österreich einer Anleihe entgegen, aber in einer Weise, die keinen Erfolg verspricht. Man beabsichtigt jetzt, eine Anleihe von 50000000 Gülden zu dem höchst offenkundigen Zweck aufzunehmen, fällige Zinsen zu zahlen und einigen anderen dringenden Forderungen nachzukommen. Als in Wien die Nachricht von der bevorstehenden Einfahrt des vereinigten Geschwaders in das Schwarze Meer eintraf, hatten die Geldwechsler vollauf zu tun, um Papiergeld gegen Silbermünzen einzutauschen. Die Besitzer von 100- und 200-Gulden-Scheinen strömten zu ihren Kontoren, um ihre gefährdeten Schätze in Sicherheit zu bringen. Dennoch wird im entscheidenden Moment der Einfluß St. Petersburgs auf Wien den Ausschlag geben und Österreich auf Rußlands Seite in den kommenden Krieg verwickeln. Preußen wiederum versucht das Spiel von 1780, 1800 und 1805141 zu wiederholen, d.h. einen Bund neutraler baltischer oder norddeutscher Staaten zu bilden, an dessen Spitze es eine nicht unbedeutende Rolle spielen und sich auf jene Seite schlagen könnte, die ihm die größten Vorteile bietet. Daß die türkisch-europäischen Flotten Sewastopol zerstören und die russische Schwarzmeerflotte vernichten, daß sie die Krim nehmen und halten können, Odessa besetzen, das Asowsche Meer blockieren und die Bergbewohner des Kaukasus entfesseln können, daran ist nicht zu zweifeln. Die Maßnahmen, die in der Ostsee ergriffen werden müssen, liegen ebenso auf der Hand wie die im Schwarzen Meer: eine Allianz um jeden Preis mit Schweden; eine Einschüchterung Dänemarks, falls es notwendig sein sollte; ein Aufstand in Finnland, der ausbrechen würde, wenn genügend Truppen landeten, und eine Garantie, daß kein Frieden geschlossen werden darf ohne die Bedingung, daß diese Provinz wieder mit Schweden vereinigt wird. Die in Finnland gelandeten Truppen würden Petersburg bedrohen, während die Flotte Kronstadt beschießt.
Das Ganze wird von dem entschlossenen und energischen Vorgehen der Seemächte Europas abhängen. Die „Neue Preußische Zeitung" vom 29. v. M. bestätigt die Nachricht» daß der Kaiser von Rußland die Mobilmachung für sämtliche Truppen seines Reiches befohlen habe. Er hat nicht nur seine Einlagen von den englischen und französischen Banken zurückgezogen, sondern auch eine freiwillige Spendensammlung unter dem Adel angeordnet sowie verfügt, den Eisenbahnbau einzustellen, um Menschen und Geld, die für diese Arbeiten erforderlich sind, für den Krieg einzusetzen. Andrerseits schreiten die Rüstungen in Frankreich energischer denn je voran; die zweite Hälfte des 80000-Mann-Kontingents von 1852 ist einberufen worden. Auch in Frankreich hat man seit langem eine Anleihe von 200000000 Francs (ungefähr 8000000 Pfd. St.) in Erwägung gezogen, doch die Lebensmittelteuerung, der ungenügende Ertrag der Weinernte und der Seidengewinnung, die allgemeine Stagnation in Handel und Industrie, die großen Befürchtungen wegen der Ende Februar zu leistenden Zahlungen, die fallende Tendenz der Staatspapiere und Eisenbahnaktien - all das ist keineswegs geeignet, ein solches Unternehmen zu erleichtern. Die britische Regierung hat die Absicht, wie die „Times" meldet, die Zahl der Matrosen und Seesoldaten für das laufende Jahr auf 53000 Mann zu erhöhen, was die im vorigen Jahr bewilligte Zahl um etwa 8000 und die unter der Regierung Lord Derbys einberufene Zahl um weitere 5000 übersteigt. Insgesamt kann man daher die Verstärkung der Kriegsflotte seit 1852 mit ungefähr 13000 Mann annehmen. Die Mannschaften der Flotte sollen jetzt 38000 Matrosen und Schiffsjungen und 15000 Seesoldaten umfassen. Endlich ist die Wahrheit über die Affäre von Sinope heraus. Angaben zufolge, die über das Verhältnis der Stärke Rußlands und der Türkei bei Sinope veröffentlicht wurden, hatten die Russen drei Dampf-Zweidecker, einen Dreidecker und 680 Kanonen mehr als die türkischen Streitkräfte. So betrachtet, hat Sinope Rußlands Macht um nichts vergrößert und die der Türkei um nichts vermindert, ganz im Gegenteil. Hier stehen wir vor einer Tatsache, die selbst in den Annalen der britischen Flotte nicht ihresgleichen findet - Fregatten, die sich Bord an Bord an Linienschiffe legen, und Kapitäne, die die Fackel in das Pulvermagazin werfen und sich selbst als Brandopfer auf dem Altar des Vaterlandes darbringen. Die eigentliche Seestreitmacht der Türkei ist unangetastet; nicht ein Linienschiff, nicht ein Dampfer ging verloren. Doch damit nicht genug. Nach den letzten Nachrichten wurde einer der besten Dreidecker der russischen Flotte, die „Rostislaw", ein
Schiff mit 120 Kanonen, von den Türken versenkt. Dieser Verlust, der bislang unter dem passenden Vorwand verschwiegen wurde, die „Rostislaw" sei nicht während des Kampfes, sondern unmittelbar danach gesunken, wird jetzt von den Russen zugegeben und bildet einen guten Ausgleich für die Verluste der türkischen Flotte.[26] Wenn tatsächlich ein Dreidecker versenkt wurde, so können wir annehmen, daß auch die anderen russischen Schiffe wirklich sehr ernsthafte Beschädigungen während des Kampfes erlitten haben, so daß im Grunde genommen der Sieg bei Sinope die russische Flotte mehr geschwächt haben dürfte als die türkische. Als der Pascha vonÄgypten von der Katastrophe bei Sinope erfuhr, befahl er, sogleich 6 Fregatten, 5 Korvetten und 3 Briggs auszurüsten, um die Lücken in der türkischen Flotte wieder zu schließen. Die ägyptische Dampffregatte „Pervas-Bahri", die von der weit größeren russischen Dampffregatte „Wladimir" außer Gefecht gesetzt und nach nahezu fünfstündigem Kampf genommen wurde, war von Einschlägen derart durchlöchert, daß sie nur mit Mühe nach Sewastopol gebracht werden konnte, wo sie sofort sank. Die „Pervas-Bahri" wurde in den Hafen von Sewastopol nur mit Hilfe ihres ersten Maschinisten, des Engländers Bell, gesteuert, dem der Admiral Kornilow sofortige Freilassung versprochen hatte, wenn es ihm gelänge, das Schiff dorthin in Sicherheit zu bringen. Statt aber nach der Ankunft in Sewastopol freigelassen zu werden, wurden Herr Bell und die ihm unterstellten Maschinisten und Heizer in strenge Haft genommen und auf die kärgliche Ration von 3 Pence pro Tag gesetzt; außerdem gab man ihnen zu verstehen, daß sie in dieser rauhen Jahreszeit 80 Meilen zu Fuß ins Landinnere marschieren müßten. Der Zar und seine Minister billigten das Vorgehen Fürst Menschikows, des Befehlshabers von Sewastopol, und stellten sich taub gegenüber den Einwänden des britischen Konsuls in Odessa und des britischen Gesandten in St.Petersburg. Es ist bereits bekannt, daß bei der Schlacht von Sinope zwei englische Handelsschiffe, die in eigenen Geschäften unterwegs waren, ohne jeden Anlaß erbarmungslos in die allgemeine Vernichtung einbezogen wurden. Das Folgende ist die einfache Schilderung von der Zerstörung eines der beiden Schiffe, wie sie ein französisches Blatt bringt:
„Am 30. November hatte die Brigantine .Howard* aus Bideford, einem Seehafen in Südengland, eine Ladung Kohlen für den österreichischen Konsul in Sinope, Herrn Pirentz, gelöscht und lag vor Anker, um Ballast zu laden und dann nach Fatsa zu segeln, wo sie eine Ladung Getreide übernehmen und nach England bringen sollte, als plötzlich die russische Flotte auftauchte und, ohne den fremden Schiffen ein Zeichen oder irgendeine Möglichkeit zu geben, sich außer Gefahr zu bringen, ein schweres
Kugel- und Bombenfeuer auf die vor Anker liegende türkische Flotte eröffnete und binnen weniger Minuten die .Howard' und andere Handelsschiffe im Hafen vollständig zerstörte." Mit dieser abscheulichen Verletzung des Völkerrechts wurde in dem Odessaer Tagesbericht geprahlt, während die russischen Zeitungen gleichzeitig in höhnischen Worten meldeten, daß zu einer Zeit, da die englische Flotte nicht wagte, ins Schwarze Meer einzulaufen, die englische Regierung die Benutzung ihrer Werften zur Überholung eines russischen Kriegsschiffes nicht abzulehnen wagte. Die letzte Post hat uns weitere ergänzende Nachrichten über die jüngsten militärischen Ereignisse in Asien gebracht. Anscheinend sind die Türken gezwungen worden, den russischen Teil Armeniens gänzlich zu räumen, doch ist der genaue Ausgang der Gefechte, die diesen Rückzug veranlaßt haben, noch nicht bekannt. Ein türkisches Korps war auf direktem Wege von Ardagan nach Achalzych vorgedrungen, während eine andere Abteilung den südlichen Weg von Kars über Alexandropol (auf georgisch Gumry) nach Tiflis eingeschlagen hatte. Beide Gruppen scheinen auf die Russen gestoßen zu sein. Nach russischen Berichten wurden die Türken auf beiden Vormarschwegen geschlagen und verloren ungefähr 40 Kanonen. Offizielle türkische Berichte besitzen wir nicht; doch in Privatkorrespondenzen wird der Rückzug mit der Notwendigkeit begründet, Winterquartiere zu beziehen. Fest steht jedenfalls, daß die Türken das russische Territorium bis auf das Fort St. Nikolaja geräumt haben, daß die Russen sie verfolgten und daß sich ihre Vorhut sogar bis auf eine Meile vor Kars wagte, wo sie zurückgeschlagen wurde. Wir wissen außerdem, daß die türkische Armee Anatoliens, die sich aus den asiatischen Provinzen, dem Bollwerk der altmuselmanischen Barbarei, rekrutiert und in ihren Reihen eine große Anzahl irregulärer Truppen hat, unzuverlässige, wenngleich im allgemeinen tapfere Gelegenheitssoldaten, Abenteurer und kurdische Freibeuter -, daß die Armee Anatoliens nicht mit der beständigen, disziplinierten und ausgebildeten Armee Rumeliens zu vergleichen ist, wo der Befehlshaber weiß, wie viele und welche Leute er Tag für Tag unter seinem Kommando hat, und wo dem Drang nach Abenteuern auf eigene Faust und eigenmächtigem Plündern durch Kriegsartikel und Kriegsgerichte Einhalt geboten wird. Wir wissen, daß die Russen, denen es zu Beginn des asiatischen Feldzuges sehr an Truppen mangelte, durch die 13. Infanteriedivision (16000 Mann) unter Generalleutnant Obrutschew II und eine Abteilung Donkosaken verstärkt wurden; wir wissen, daß es ihnen gelang, die Bergbewohner in Schranken zu halten und ihre Kommunikationen sowohl über den Kaukasus durch Wladikawkas als auch auf dem Seewege
nach Odessa und Sewastopol aufrechtzuerhalten. Wenn wir diese Umstände bedenken und berücksichtigen, daß der türkische Befehlshaber Abdi Pascha entweder ein Verräter oder ein Dummkopf war (er ist inzwischen abberufen und Achmed Pascha an seiner Stelle ernannt worden), brauchen wir uns überhaupt nicht zu wundern, wenn die Türken geschlagen worden sind, obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, daß die russischen Tagesberichte gewöhnlich übertreiben. An der Donau haben die Russen vor kurzem Matschin, eine an einem Donauarm gelegene Festung, angegriffen. Ein Dampfer und zwei Kanonenboote kreuzten auf; sie wurden von heftigem Feuer empfangen. Es heißt, die Kanonenboote seien zum Sinken gebracht und der Dampfer so stark beschädigt worden, daß er eilends umkehren mußte. Drei oder vier Scharmützel ereigneten sich teils zwischen den Vorposten bei Kalafat, teils zwischen den russischen Posten an der Donau und kleinen türkischen Abteilungen, die über den Strom setzten, um sie zu überrumpeln. Die Türken behaupten, in allen Gefechten die Oberhand behalten zu haben. Es ist zu bedauern, daß den türkischen irregulären Truppen, die sich ganz besonders für solche Aktionen eignen, nicht schon längst der Befehl gegeben wurde, diesen Kleinkrieg mit größter Aktivität zu führen. Sie wären den Kosaken überlegen gewesen, hätten das Vorpostensystem des Gegners, das notwendig unzulänglich ist, weil es sich über eine Länge von 300 Meilen erstreckt, desorganisiert; sie hätten die russischen Pläne gestört, genaue Kenntnis von den Bewegungen des Gegners erlangt und wären bei entsprechend vorsichtigem und kühnem Vorgehen in jedem Gefecht siegreich geblieben. Aus soeben empfangenen telegraphischen Nachrichten geht hervor, daß
„am 6. d.M. eine 15000 Mann starke türkische Division mit 15 Kanonen die verschanzte Stellung bei Cetate, unweit von Kalafat, angriff und im Sturm nahm; die Russen verloren 2500 Mann; eine Verstärkung von 18000 Russen, die von Karakal anrückte, wurde zum Rückzug gezwungen und verlor dabei 250 Mann".t273
Einem anderen Bericht zufolge hat sich die große Mehrheit der Bevölkerung der Kleinen Walachei gegen die Russen erhoben, und diese haben Krajowa belagert. Unterdessen erschöpfte sich Rußland in Bemühungen, überall in der Welt, an den Grenzen Britisch-Indiens, in Persien, Serbien, Schweden, Dänemark etc., Köder auszuwerfen oder Furcht einzuflößen. In Persien war es zu einer Differenz zwischen dem britischen Gesandten und der Regierung des Schahs gekommen. Als der Schah schon nachgeben wollte, mischte sich der russische Gesandte in der Absicht ein, den Schah nicht nur gegen England
4 Marx/Engels, Werke, Band 10
aufzuhetzen, sondern ihn außerdem zu offener Feindschaft mit der Pforte und zu einer Kriegserklärung an die Türken zu drängen. Dieses Ränkespiel soll jedoch vereitelt worden sein durch die Drohung des britischen Geschäftsträgers Thompson, aus Teheran abzureisen, sowie durch die Gefahr eines schlagartig ausbrechenden Unwillens des persischen Volkes gegen Rußland und durch das Eintreffen einer afghanischen Gesandtschaft, die mit einem Einfall der Afghanen in persisches Gebiet drohte, falls Persien ein Bündnis mit Rußland einginge. Zur gleichen Zeit wurde Serbien von einer Unmenge russischer Agenten überschwemmt; sie erkundeten Orte und forschten nach Personen, von denen früher bekannt gewesen, daß sie der verbannten Dynastie der Obrenovic ergeben waren, sprachen mit dem einen über den jungen Fürsten Michael mit den andren über seinen alten Vater Milos, nährten bald die Hoffnung in ihnen auf Ausdehnung der Grenzen Serbiens unter dem Schutz Rußlands, auf die Bildung eines neuen Königreichs Illyrien, das alle serbisch sprechenden Menschen vereinigen soll, die sich gegenwärtig unter der Herrschaft der Türkei und Österreichs befinden - bald drohten sie ihnen mit unzähligen Armeen und völliger Unterjochung, falls sie sich widersetzten. Trotz dieser in verschiedenen Richtungen unausgesetzt betriebenen Intrigen ist es Rußland nicht gelungen, die Bande zwischen den Serben und dem Sultan zu zerreißen; im Gegenteil, man erwartete in Belgrad zwei Fermane aus Konstantinopel, von denen der eine alle bestehenden Verbindungen zwischen Serbien und Rußland beseitigen und der andere alle dem serbischen Volk im Laufe der Zeit zugestandenen Privilegien bestätigen sollte. Ferner hat die russische Regierung eifrig Verhandlungen in Stockholm und Kopenhagen betrieben, mit dem Ziel, die Regierungen Schwedens und Dänemarks zu bewegen, in dem nahenden europäischen Konflikt sich auf Rußlands Seite zu stellen. Der Hauptzweck, den es mit einem solchen Bündnis verfolgt, ist, zu erreichen, daß der Sund und der Belt für die westlichen Mächte gesperrt werden. Alles, was es bisher erreicht hat, ist der Abschluß eines Vertrages zwischen Schweden, Dänemark und Preußen über eine bewaffnete Neutralität und sind Rüstungsvorbereitungen, die sich offenkundig gegen Rußland selbst richten. Privatkorrespondenzen aus Schweden frohlocken über die Möglichkeit, das Herzogtum Finnland, das von Rußland ohne Kriegserklärung so schändlich in Besitz genommen wurde, dem Skandinavischen Königreich wieder einzuverleiben. In Dänemark ist die Haltung des Hofes, nicht des Volkes, fragwürdiger. Es geht sogar das Gerücht, der jetzige dänische Minister des Auswärtigen werde zurücktreten, und seinen Platz werde Graf Reventlow-Criminil einnehmen, ein Mann, der für seine engen Beziehungen
zum St.Petersburger Hof bekannt ist. In Frankreich hatte die „Fusion" der Orleanisten und Legitimisten1281 dank Rußlands Einwirken einigen Erfolg; unterdessen setzt dieselbe Macht Himmel und Hölle in Bewegung, um die Entente cordiale1291 zwischen den Regierungen Englands und Frankreichs zu untergraben und Zwietracht zwischen ihnen zu säen. Einige Pariser Zeitungen, die von Kisselew bezahlt werden, versuchen Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit der englischen Regierung zu wecken, und wie wir sehen, stellt auch in England eine Zeitung, die von Brunnow bezahlt wird, ihrerseits die Aufrichtigkeit der französischen Regierung in Zweifel. Ein weiterer Schlag, der sich hauptsächlich gegen die Westmächte richtet, ist das russische Verbot über die Ausfuhr von polnischem Getreide. Indessen waren die Schritte der westlichen Diplomatie keinesfalls rußlandfeindlich, sondern zeigten im Gegenteil eher eine allzu eifrige Neigung, der Gerechtigkeit aus dem Weg und mit dem Verbrechen zusammenzugehen. Es leuchtet jetzt jedem ein, daß diese Schritte falsch und verhängnisvoll gewesen sind. Die Wiedergeburt der Wiener Konferenz und das dort am 5. v.M. abgefaßte Protokoll, das Schreiben des französischen und des britischen Gesandten in Konstantinopel an Reschid Paschat30J, die gemeinsame Note der vier Großmächte, die am 15. v. M. der Pforte überreicht und am 31. vom Sultan angenommen wurde, das Zirkular von Drouyn de Lhuys vom 30. v.M. an die französischen diplomatischen Vertreter, worin die Einfahrt der vereinigten Flotten ins Schwarze Meer angezeigt wird - dies sind die wesentlichen Ereignisse aus der diplomatischen Geschichte der letzten sechs Wochen. Über den Inhalt des Protokolls der Wiener Konferenz werden Ihre Leser schon früher unterrichtet worden sein. Kann es etwas Lächerlicheres geben als die darin enthaltene Behauptung,
„die zu wiederholten Malen vom Kaiser von Rußland gegebenen Versicherungen schlössen den Gedanken aus, daß dieser erlauchte Souverän irgendwelche Absichten eines Angriffs auf die Integrität des Ottomanischen Reiches habe".
Kann es etwas Gemeineres geben, als der Türkei es für angemessen zu empfehlen, in einen Waffenstillstand von drei Monaten einzuwilligen? Am 5. v.M., zwei Tage, nachdem die Berichte von dem schändlichen Gemetzel bei Sinope in Konstantinopel eingetroffen waren, richtete Reschid Pascha ein Schreiben an Lord Stratford de Redcliffe und General Baraguay d'Hilliers, worin er ihnen die Nachrichten aus Sinope mitteilte und darum bat, die Flotten ins Schwarze Meer einlaufen zu lassen. Am 12., eine Woche nach Reschid Paschas Note, gaben ihm die beiden Gesandten in einer recht unbestimmten Antwort zu verstehen, daß
»die Anwesenheit des Vereinigten Geschwaders ,politische Bedeutung* hat, folglich keine militärische, und daß sie eine ,moralische Unterstützung* ist, folglich keine militärische". Auf diese Weise wurde die Pforte zur Annahme der ihr am 15. Dezember überreichten gemeinsamen Note der vier Mächte gezwungen. Diese Note gewährt der Pforte nicht nur keinerlei Entschädigung für die Verluste, die sie durch die Piratenstreiche des Autokraten erlitten hat; sie besteht nicht nur auf der Erneuerung all der alten Verträge von Kainardschi, Adrianopel, Hunkiar-Iskelessi1315 etc., die Rußland anderthalb Jahrhundert lang als Arsenal gedient haben, dem es die Waffen zum Betrug, zur Einmischung, zum weiteren Vordringen und zur Einverleibung entnommen hat; sie gestattet dem Zaren auch, seine Absicht - das religiöse Protektorat und das administrative Diktat über die Türkei - zu erreichen, wenn sie festlegt, daß
„die von der Hohen Pforte an alle ihre nicht-muselmanischen Untertanen in bezug auf die oktroyierten geistlichen Privilegien erlassenen Fermane allen Mächten mitgeteilt und von angemessenen, jeder derselben gemachten Zusicherungen begleitet sein sollen" und daß die Pforte ihrerseits den festen Entschluß aussprechen solle, ihr Verwaltungssystem und innere Reformen wirksamer zu entwickeln. Obwohl diese neuen Vorschläge dem Buchstaben nach das gemeinsame Protektorat über die christlichen Untertanen der Türkei den fünf europäischen Mächten übertragen, geben sie doch in Wahrheit das Protektorat allein an Rußland. Es soll so geregelt werden, daß Frankreich und Österreich als römisch-katholische Länder über die römisch-katholischen Christen in der Türkei das Protektorat ausüben, England undPreußen als protestantische Länder über die protestantischen Untertanen des Sultans, während jener Teil, der sich zum griechisch-orthodoxen Glauben bekennt, dem Protektorat Rußlands unterstellt werden soll. Da nun aber die Katholiken keine 800000 und die Protestanten noch nicht einmal 200000, die sich zur griechisch-orthodoxen Religion Bekennenden aber nahezu 10000000 zählen, ist es klar, daß tatsächlich der Zar das Protektorat über die christlichen Untertanen in der Türkei erlangen würde. Diese Vorschläge der vier Mächte wurden von der Pforte erst am 19. v.M. angenommen, als Riza Pascha und Halil Pascha ins Kabinett eintraten und damit den Erfolg der Friedens- oder russischen Partei sicherten. Als bekannt wurde, daß der Ministerrat die vier Gesandten über die Annahme der von ihnen angeregten Vorschläge in Kenntnis gesetzt hatte, versammelten sich am 21. v.M. die Softas (Studenten), um eine Petition gegen
den Beschluß der Regierung einzureichen, und nur die Verhaftung der Anführer verhinderte den Ausbruch von Unruhen. Die in Konstantinopel herrschende Erbitterung war so groß, daß es der Sultan den folgenden Tag weder wagte, sich in den Diwan zu begeben, noch wie gewöhnlich unter Kanonendonner und Hurrageschrei der Besatzungen ausländischer Kriegsschiffe zur Moschee von Top-hane zu ziehen, und Reschid Pascha aus seinem eigenen Palast in Stambul floh und in dem an die Residenz des Sultans angrenzenden Palast Zuflucht suchte. Am nächsten Tag wurde die Öffentlichkeit etwas beruhigt durch eine Erklärung des Sultans, daß die militärischen Operationen nicht eingestellt würden. Diese verworrenen, kleinmütigen und unbegreiflichen Schritte der westlichen Diplomatie, die während der düsteren Geschichte der letzten neun Monate die Geduld der Öffentlichkeit nahezu erschöpften, haben Zweifel an der Aufrichtigkeit der britischen Regierung aufkommen lassen. Da die Öffentlichkeit die Beweggründe für die Langmut der westlichen Mächte nicht verstehen kann, spricht man von geheimen Einflüssen, und es werden eifrig Gerüchte verbreitet, daß sich Prinz Albert, der Gemahl der Königin, in die Geschäfte der Exekutive einmische; daß er nicht nur bei den Beratungen der Herrscherin mit ihrem Geheimen Rat zugegen sei, sondern auch seinen Einfluß zur Kontrolle der Ansichten der verantwortlichen Ratgeber ausnutze, und daß, während er die Gelegenheit wahrnimmt, den Zusammenkünften der Königin mit ihren Ministern beizuwohnen, er auch in ständiger und direkter Verbindung mit ausländischen Höfen stehe, einschließlich des russischen, den französischen allerdings ausgenommen. Anderen Gerüchten zufolge soll die „Fusion" der Orleans und der älteren Linie der Bourbonen, des einstigen französischen Königshauses, fast ebensoviel Unterstützung vom britischen Hof erhalten wie vom russischen, und zum Beweise dessen verweist man auf den Besuch des Herzogs von Nemours am Hofe Königin Victorias, der unmittelbar nach dem Treffen mit „Heinrich dem Fünften" erfolgte. Ein viertes Gerücht, nach dem die Verhandlungen über die orientalische Frage mit Zustimmung Rußlands ausschließlich Graf Buol-Schauenstein, dem Schwager des Grafen Meyendorf, übertragen worden seien, wird als Beweis dafür angeführt, daß die englische Regierung niemals selbständige oder wirksame Verhandlungen gewünscht, sondern von Anfang an versucht habe, die Pläne Rußlands und seiner Alliierten zu unterstützen, während sie den Anschein erweckte, daß sie gegen Rußland sei. Es gilt als ziemlich sicher, daß Roebuck die gesamte Frage des coburgischen Einflusses vor das Unterhaus bringen wird, während Lord Brougham beabsichtigt, sie vor das Oberhaus zu bringen. Ohne Zweifel bildet der coburgische Einfluß gegenwärtig
das fast ausschließliche Gesprächsthema der Hauptstadt. Das Parlament wird am 31. d.M. wieder zusammentreten. Seit 1809 hat es keinen so strengen Winter gegeben wie den jetzigen. Die große Kälte ist noch nicht das Ärgste; weit schlimmer ist der ständige Temperaturwechsel und Wetterumschlag. Der Zugverkehr wurde nur unter größten Schwierigkeiten aufrechterhalten; in einigen Gebieten scheint der Verkehr ganz abgeschnitten zu sein, und mit dem Zustand seiner Verkehrsmittel ist England in längst vergessene Zeiten zurückgeworfen. Um die Beschwerlichkeiten beim Übersenden von Geschäftspapieren, die durch Schneeverwehungen aufgehalten worden sind, zu mildern und Wechselproteste bei unerklärter Nichteinlösung zu vermeiden, hat man sich des elektrischen Telegraphen bedient. Dennoch veranschaulichen mehr als 500 Wechselproteste in London das durch die ungewöhnlich rauhe Jahreszeit hervorgerufene allgemeine Durcheinander. Die Zeitungen sind voller Meldungen von furchtbaren, durch Schneestürme und Sturmwinde verursachten Schiffskatastrophen, besonders an der Ostküste. Obgleich die kürzlich veröffentlichten Tabellen über Handel, Schiffahrt und Staatseinkünfte ein Anhalten jener Prosperität anzeigen, mit der das Jahr 1853 begonnen hatte, wirken sich der harte Winter und Hand in Hand mit ihm die Teuerung der wichtigsten Bedarfsgüter, besonders bei Getreide, Kohlen und Fett, sehr schwer auf die Lage der unteren Klassen aus. Zahlreiche Fälle von Hungertod sind vorgekommen. Brotunruhen im Westen bilden jetzt eine Begleiterscheinung zu den Aussperrungen im Norden. Zeitmangel zwingt uns jedoch, einen ausführlichen Bericht über Handel und Gewerbe auf einen folgenden Brief zu verschieben.
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Kriegshandlungen im Orient Die österreichischen und französischen Finanzen Die Befestigung Konstantinopels]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 3997 vom 8. Februar 18541 London, Freitag, 20. Januar 1854. Die letzte Post hat uns einige ergänzende Nachrichten über die jüngsten militärischen Ereignisse in Asien gebracht. Anscheinend sind die Türken gezwungen worden, den russischen Teil Armeniens gänzlich zu räumen, doch ist der genaue Ausgang der Gefechte, die ihren Rückzug veranlaßt haben, nicht bekannt. Die Türken waren auf direktem Wege von Ardagan nach Achalzych vorgedrungen, während eine andere Abteilung den südlicheren Weg von Kars über Alexandropol (auf georgisch Gumry) nach Tiflis eingeschlagen hatte. Beide Gruppen scheinen auf die Russen gestoßen zu sein. Nach russischen Berichten wurden die Türken auf beiden Vormarschwegen geschlagen und verloren ungefähr 40 Kanonen. Offizielle türkische Berichte besitzen wir nicht; doch in Privatkorrespondenzen wird der Rückzug mit der Notwendigkeit begründet, Winterquartiere zu beziehen. Fest steht jedenfalls nur, daß die Türken das russische Territorium bis auf das Fort St. Nikolaja geräumt haben, daß die Russen sie verfolgten und daß sich ihre Vorhut sogar bis auf eine Meile vor Kars wagte, wo sie zurückgeschlagen wurde. Wir wissen außerdem, daß die türkische Armee Anatoliens, die sich aus den asiatischen Provinzen, dem Bollwerk der altmuselmanischen Barbarei, rekrutiert und in ihren Reihen eine große Anzahl irregulärer Truppen hat, unzuverlässige, wenngleich im allgemeinen tapfere Gelegenheitssoldaten, Abenteurer und Freibeuter daß diese Armee Anatoliens nicht mit der festen, disziplinierten und ausgebildeten Armee Rumeliens zu vergleichen ist, deren Befehlshaber weiß, wie viele und welche Leute er Tag für Tag unter seinem Kommando hat, und wo dem Drang nach Abenteuern auf eigene Faust und eigenmächtigem Plündern durch Kriegsartikel und
Kriegsgerichte Einhalt geboten wird. Wir wissen, daß die Russen, denen es zu Beginn des asiatischen Feldzuges sehr an Truppen mangelte, durch 16000 Mann unter Generalleutnant Obrutschew II und eine Abteilung Donkosaken verstärkt wurden; wir wissen, daß es ihnen gelang, die Bergbewohner in Schranken zu halten und ihre Kommunikationen sowohl über den Kaukasus durch Wladikawkas als auch auf dem Seewege nach Odessa und Sewastopol aufrechtzuerhalten. Wenn wir diese Umstände bedenken und berücksichtigen, daß der türkische Befehlshaber Abdi Pascha entweder ein Verräter oder ein Dummkopf war (er ist inzwischen abberufen und bei Kars in Arrest gebracht worden; an seiner Stelle wurde Achmed Pascha ernannt) brauchen wir uns überhaupt nicht zu wundern, wenn die Türken geschlagen worden sind, obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, daß die russischen Tagesberichte gewöhnlich übertreiben. Wir lesen in der „Augsburger Zeitung"[325, daß
„Schamyl gegen Ende November einen verzweifelten Versuch unternahm, sich einen Weg nach dem Süden zu erzwingen, um eine direkte Verbindung mit den Türken herzustellen. Die Stärke seiner Truppen wurde auf 10000 bis 16000 Mann geschätzt, und es wird bestätigt, daß die Muriden, die Blüte seiner Truppen, in Stücke gehauen wurden."
Das bedarf jedoch noch der Bestätigung. Nun ist die Wahrheit über die Affäre von Sinope endlich heraus! Einer der besten Dreidecker der russischen Flotte, die „Rostislaw", ein Schiff mit 120 Kanonen, wurde dort von den Türken versenkt. Dieser Verlust, der bislang unter dem passenden Vorwand verschwiegen wurde, die „Rostislaw" sei nicht während des Kampfes, sondern unmittelbar danach gesunken, wird jetzt von den Russen zugegeben und bildet einen guten Ausgleich für die Verluste der türkischen Flotte.[265 Wenn tatsächlich ein Dreidecker versenkt wurde, so dürfen wir annehmen, daß auch die anderen russischen Schiffe wirklich sehr ernsthafte Beschädigungen während des Kampfes erlitten haben, so daß im Grunde genommen der Sieg bei Sinope die russische Flotte mehr geschwächt haben dürfte als die türkische. Insgesamt scheinen die Türken auch auf dem Wasser wie Türken zu kämpfen. Die ägyptische Dampffregatte „Pervas-Bahri", die von der weit größeren russischen Dampffregatte „Wladimir" außer Gefecht gesetzt und nach nahezu fünfstündigem Kampf genommen wurde, war von Einschlägen derart durchlöchert, daß sie nur mit Mühe nach Sewastopol gebracht werden konnte, wo sie sofort sank. Soweit ist also die Beute der Russen gleich Null, und tatsächlich zeugt es von dem hartnäckigen Widerstand der Türken wie auch von dem kümmer
liehen Zustand der russischen Flotte nach dem Kampf, wenn es den Russen nicht gelang, auch nur eine einzige Trophäe zu erbeuten. Einem Bericht zufolge bringen die vereinigten französischen und englischen Flotten zusammen mit der ersten Division der türkischen Flotte 17000 Türken nach Batum. Wenn das stimmt, so ist dies geradesogut eine Kriegshandlung, als ob sie einen direkten Angriff auf Sewastopol unternähmen, und der Zar kann nicht umhin, sofort den Krieg zu erklären. Unmittelbar vor dem Einlaufen der vereinigten Flotten in das Schwarze Meer soll der Zar den Befehl gegeben haben, alle seine Kriegsschiffe aus den Gewässern des Schwarzen Meeres nach Sewastopol abzuziehen. Ein Brief aus Odessa vom 24. Dezember berichtet, daß „der Kommandeur der russischen Flottille im Asowschen Meer einen seiner Adjutanten nach Sewastopol mit der Meldung geschickt hatte, wie kritisch seine Lage wäre. Zwei Korps von je 12000 Mann sollten gerade nach Sewastopol eingeschifft werden, als plötzlich diese Kriegsoperation durch die Nachricht von dem bevorstehenden Einlaufen der vereinigten Flotten in das Schwarze Meer unwirksam gemacht wurde." Aus den letzten telegraphischen Nachrichten geht hervor, daß die Russen beabsichtigten, am 13. d.M., dem russischen Neujahrstag, eine Generalattacke auf die türkischen Linien bei Kalafat zu unternehmen. Sie waren bereits mit^ungefähr 10000 Mann vorgestoßen, die sich bei Cetate, einem neun englische Meilen nördlich von Kalafat gelegenen Dorf, verschanzten, wurden jedoch an der Konzentrierung all ihrer verfügbaxen Kräfte durch den türkischen General gehindert, der ihnen zuvorkam, die Verschanzungen des Gegners mit 15000 bis 18000 Mann stürmte, in einer Reihe höchst mörderischer Zusammenstöße am 6., 7., 8., 9. und 10. d.M. siegreich blieb und schließlich die Russen zwang, sich in Richtung Krajowa zurückzuziehen. Die Russen selbst geben einen Verlust von 1000 Toten und 4000 Verwundeten zu. Wie telegraphisch mitgeteilt wird, wurde General Anrep, „der die Russen befehligte, ebenso wie General Tuinant schwer verwundet". Am 10., so wird berichtet, haben sich die Türken unter der Führung Selim Paschas (des Polen Zedlinsky) wieder nach Kalafat zurückgezogen. Soweit die telegraphischen Nachrichten, bis jetzt die einzige Informationsquelle über diese höchst bedeutsamen Ereignisse. Der Bericht, der mit dem Rückzug der Russen auf Krajowa einerseits und der Türken nach Kalafat andrerseits schließt, erweckt den Verdacht, daß von beiden Seiten wieder große strategische Fehler begangen worden sind. Es ist eine Nachricht in Umlauf, wonach auf Omer Paschas Geheiß ein ganzes Korps die Donau zwischen der Aluta und dem Schyl passierte und so die Kommunikationen des russischen Korps in Krajowa bedrohte. Aber wie konnten die Türken die Donau, die voller schwimmender Eismassen ist, an einem anderen Punkt als bei Kalafat
überqueren, dem einzigen Punkt, wo sie für einen derartigen Fall Vorbereitungen getroffen hatten? Die von den Russen bei Kalafat erlittenen Niederlagen wiegen in politischer Hinsicht vielleicht noch schwerer als in militärischer. Sie schlössen in Verbindung mit dem Einlaufen der vereinigten Flotten ins Schwarze Meer auch den letzten Rest von Wahrscheinlichkeit aus, daß der Zar der demütigen Bitte um Frieden nachgeben werde, die ein Kurier der Wiener Konferenz nach St. Petersburg überbracht hatte. Andrerseits müssen diese Niederlagen im benachbarten Serbien unmittelbar die nationale Partei stärken und die russische Partei, die in letzter Zeit mit erstaunlicher Unverfrorenheit ihr Haupt in Belgrad erhoben hat, einschüchtern. Fürst Alexander und die Masse des serbischen Volkes allerdings konnten nicht dazu bewogen werden, die Bande zwischen ihrem Land und dem Sultan zu zerreißen, obwohl zur gleichen Zeit Serbien von einer Unmenge russischer Agenten überschwemmt wird, die ihre Intrigen in verschiedenen Richtungen betreiben; sie erkunden Orte und forschen nach Personen, von denen früher bekannt gewesen, daß sie der verbannten Dynastie der Obrenovic ergeben waren, sprechen mit den einen über den jungen Fürsten Michael - mit den anderen über seinen alten Vater Milos, nähren bald die Hoffnung in ihnen auf Ausdehnung sj|er Grenzen Serbiens unter dem Schutz Rußlands, auf die Bildung eines neuen Königreichs Illyrien, das alle serbisch sprechenden Menschen vereinigen würde, die sich gegenwärtig unter der Herrschaft der Türkei und Österreichs befinden - bald drohen sie ihnen mit unzähligen Armeen und völliger Unterjochung, falls sie sich widersetzten. Sie wissen, daß der in Wien residierende Fürst Milos ein alter Protege Metternichs ist, während Michael, sein Sohn, eine bloße Kreatur Rußlands ist, durch dessen Flucht aus Serbien im Jahre 1842 das Fürstentum vakant wurde. Die russische Niederlage bei Kalafat wird außerdem Österreich von der Furcht befreien, daß eine russische Armee vor Belgrad erscheint und unter den Untertanen Österreichs, die ihr in Abstammung und Glauben gleich, das Bewußtsein der eigenen Kraft erweckt und der Erniedrigung, die sie unter der Herrschaft der Deutschen erleiden. Über Österreich kann ich en passant1 berichten, daß es endlich die lang gehegte Hoffnung aufgegeben hat, eine, neue Anleihe aufzunehmen. Auf die Lage seines Schatzamtes kann man aus dem Ausweg schließen, zu dem seine Regierung kürzlich gegriffen hat, nämlich eine Abwertung ihres eigenen Papiergeldes um 15 Prozent anzuordnen - ein Finanzmanöver, nur mit den
1 übrigens
österreichische und französische Finanzen - Die Befestigung Konstantinopels 35
gaunerhaften Einfällen der französischen rois faux monoyeurs1 vergleichbar» die den Kurs der Münze heraufsetzten, wenn sie zahlen mußten, und herabsetzten, wenn sie Geld zu empfangen hatten. Den deutschen Zeitungen zufolge wird das österreichische Budget für 1854 ein Defizit von 45000000 Gulden im ordentlichen Haushalt und von 50000000 Gulden im außerordentlichen Haushalt aufweisen. Jedesmal, wenn in Wien Nachrichten eintreffen, die nach Krieg riechen, strömen die Menschen zu den Bankhäusern, um Papiergeld gegen Silber münzen einzutauschen. Auch Frankreich unternimmt bekanntlich seit langem Schritte für eine Anleihe von 200000000 Francs (8000000 Pfund Sterling), doch die Lebensmittelteuerung, der ungenügende Ertrag der Weinernte und Seidengewinnung, die allgemeine Stagnation in Handel und Industrie, die großen Befürchtungen, die' wegen der Ende Februar zu leistenden Zahlungen gehegt werden, die fallende Tendenz der Staatspapiere und Eisenbahnaktien - all das ist keinesfalls geeignet gewesen, ein solches Unternehmen zu erleichtern. Bonaparte konnte an der Börse für die neue Anleihe keine Abnehmer finden. Es blieb nur das Mittel, zu dem man am Vorabend des coup d'etat gegriffen hatte - Persigny zur Bank von Frankreich zu schicken, um von ihr 50000000 Francs (10000000 Dollar) zu erpressen und dafür dieselbe Summe Schatzbons als „Sicherheiten" zu hinterlegen. Das wurde tatsächlich am Neujahrstag durchgeführt. Die Antwort auf diesen finanziellen coup d'etat war der Sturz der Staatspapiere auf 69 p.c. Wie jetzt offiziell berichtet, wird die Regierung von der Bank von Frankreich eine Anleihe von 200 oder 300 Millionen Francs gegen Schatzbons erhalten. Wer nicht über das am Neujahrstag im Empfangszimmer der Bank von Frankreich Geschehene unterrichtet ist, wird nicht verstehen können, was die Bank veranlaßt hat, eine Anleihe zu gewähren, die von der Börse abgelehnt wurde. Die Nachrichten über Persien sind nach wie vor widersprechend. Einem Bericht zufolge marschiert die persische Armee auf Erzerum und Bagdad; ein anderer meldet, daß das russische Ränkespiel vereitelt wurde durch den britischen Geschäftsträger, Herrn Thompson, der mit seiner Abreise aus Teheran drohte, sowie durch die Gefahr eines schlagartig ausbrechenden Unwillens des persischen Volkes gegen Rußland und durch das Eintreffen einer afghanischen Gesandtschaft, die mit einem Einfall der Afghanen in persisches Gebiet drohte, falls Persien ein Bündnis mit Rußland einginge. Wie eine in der „Patrie" veröffentlichte Privatkorrespondenz aus Konstantinopel meldet, hat der Diwan beschlossen, Konstantinopel nach der
1 Falschmünzer-Könige
Landseite zu befestigen. Eine gemischte Kommission aus europäischen und ottomanischen Offizieren soll bereits mit der vorbereitenden Besichtigung der örtlichkeiten begonnen haben. Die Befestigung Konstantinopels würde den Charakter russisch-türkischer Kriegführung vollständig verändern und wäre der schwerste Schlag, der je den ewigen Träumen des angeblichen Erben der byzantinischen Kaiser versetzt wurde. Dem Gerücht, daß Österreich ein corps d'armee1 im Banat konzentriert, das dem Kommando des Generals Graf Schlick unterstellt werden soll, wird von der deutschen Presse widersprochen. Die Berliner „Correspondenz" berichtet, daß den Behörden die allgemeine Anweisung erteilt wurde, sich für den Fall einer Mobilisierung der Landwehr133 ] bereit zu halten. St. Petersburg hat dem Kopenhagener Kabinett den Vorschlag unterbreitet, die Insel Bornholm an Rußland abzutreten. „Bornholm könnte", wie die „Daily News" mit Recht bemerkt, „ein Malta oder Gibraltar der Ostsee sein. Es liegt eine Tagereise zu Schiff entfernt vom Sund und Kopenhagen und ist von Natur aus direkt am Eingang der Ostsee gelegen." In einem Schreiben Lord Redcliffes an den Gouverneur von Sewastopol, worin er diesem das Erscheinen der vereinigten Flotten im Schwarzen Meer zur Kenntnis gibt, wird „der Schutz des otiomanischen Territoriums vor jedem Angriff oder jeder feindlichen Handlung" zum einzigen Ziel dieses Manövers erklärt, des Schutzes der ottomanischen Flagge aber keinerlei Erwähnung getan. Da alle Berichte, die aus Paris, Wien, Berlin, Konstantinopel und St.Petersburg eingetroffen sind, auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges hinweisen, sind die Preise an allen Börsen beiderseits des Kanals allgemein gefallen. Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 Armeekorps
Friedrich Engels
Die letzte Schlacht in Europa
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 3997 vom 8. Februar 1854, Leitartikel] Die Berichte unserer Londoner Korrespondenten und der europäischen Zeitungen ermöglichen es uns endlich, den langwierigen Kampf zwischen den Türken und Russen, dessen Schauplatz Cetate, ein kleines Dorf neun Meilen nördlich von Kalafat, war, in seiner ganzen Tragweite einzuschätzen. Neben der Tatsache, daß in einer Reihe blutiger Zusammenstöße, von denen die Rede ist, große Tapferkeit bewiesen wurde und daß die Türken den Sieg davontrugen, ist das Auffallendste des gesamten Kampfes, daß er, was die Vertreibung der Russen aus der Walachei betrifft, kein praktisches Ergebnis zeigte. Das rührt von einem Fehler der Türken her, auf den wir unsere Leser schon des öfteren hinweisen konnten. Wir meinen die Verlegung einer einzelnen Armee nach Kalafat, mit der sie den Weg nach Serbien versperren wollten, während die beste Garantie gegen ein Vordringen der Russen in diese Provinz die Anwesenheit starker und konzentrierter Kräfte in der Nähe von Rustschuk und Hirsowa geboten hätte. Eine solche Streitmacht hätte die Kommunikationen einer jeden westwärts marschierenden russischen Armee bedroht, solange sie durch eine Brücke und einen Brückenkopf bei Oltenitza oder irgendwo in der Nähe, ähnlich befestigt wie bei Kalafat, einen Stützpunkt auf dem linken Donauufer unterhält. Doch auch ohne diesen konnten die Russen nicht die obere Donau überqueren und in Serbien einmarschieren, wollten sie den Türken nicht die Möglichkeit geben, die untere Donau zu überschreiten und auf Bukarest zu marschieren. Natürlich gehen wir bei dieser Behauptung von dem wirklichen Kräfteverhältnis der Parteien aus und schreiben der türkischen Armee Rumeliens eine entscheidende zahlenmäßige Überlegenheit über die russische Armee in der Walachei zu.
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Tatsächlich aber haben die Türken ihre Überlegenheit gerade in einer Weise genutzt, die sie unwirksam werden ließ und ihre schließliche Niederlage vorbereitete. Sie konzentrierten nicht ihre Kräfte an der unteren Donau, sondern teilten sie. Während 30000 bis 35000 Mann Widdin und Kalafat besetzten, blieb der restliche Teil der Armee an der mittleren und unteren Donau. Sie haben den Bogen eines Kreises, die Russen hingegen die Sehne dieses Bogens besetzt. Deshalb brauchen die letzteren nur einen geringeren Raum zu bewältigen, um alle ihre Truppen an einem gegebenen Punkt zu konzentrieren. Darüber hinaus liegen die kürzeren Wege der Russen auf dem Flachlande, während die längeren der Türken über Berge führen und viele Gebirgsströme kreuzen. Demnach ist die türkische Stellung so unvorteilhaft wie nur möglich, und doch wurde sie bezogen, um dem alten Vorurteil Genüge zu tun, daß es kein besseres Mittel gibt, einem Feind den Weg zu versperren, als sich ihm quer entgegenzustellen. Am 20.Dezember wußte Omer Pascha in Schumla, daß die Russen für den 13. Januar einen Großangriff auf Kalafat vorbereiteten. Er hatte zweiundzwanzig Tage Zeit; jedoch ist Kalafat zu anderen Stützpunkten der türkischen Armee so gelegen, daß er anscheinend keine Verstärkungen heranholen konnte, abgesehen von ein paar Reserven aus Sofia. Daß die Russen es andrerseits, ohne nennenswerte Verstärkungen aus Rußland erhalten zu haben - das allgegenwärtige Korps Osten-Sackens war am 3. Januar noch nicht in Bukarest - wagen konnten, sich so weit westlich zu konzentrieren, zeigt, daß entweder das Wetter und der Zustand der Donau es den Türken nicht erlaubten, den Fluß weiter unten zu überqueren, oder daß Gortschakow aus anderen Gründen ihrer Untätigkeit an diesem Abschnitt sicher war. Die Türken in Kalafat hatten den Befehl, die Russen anzugreifen, solange diese noch dabei waren, ihre Kräfte zu konzentrieren. Dies geschah am besten, indem man das Experiment von 01tenitza[34] wiederholte. Warum tat man das nicht? Die Brücke bei Kalafat steht trotz Winter und Treibeis, und weiter unten gab es keine Stelle, wo man eine ähnliche Brücke hätte errichten und einen Brückenkopf hätte bilden können. Oder hatte Omer Pascha Befehl, auf dem rechten Ufer des Flusses zu bleiben? In dem türkischen Vorgehen liegt so viel Widersprüchliches, kühnen und klugen Maßnahmen folgen so regelmäßig die offenkundigsten Unterlassungssünden und Fehlgriffe, daß die Diplomatie dahinterstecken muß. Auf jeden Fall hätte sich Gortschakow nicht einen Zoll in Richtung Kalafat bewegt, wäre er nicht sicher gewesen, daß die Türken das Oltenitza-Manöver nicht wiederholen würden. Die Russen müssen insgesamt etwa 30000 Mann gegen Kalafat eingesetzt haben, denn mit geringeren Kräften hätten sie kaum einen Angriff
auf eine befestigte Stellung gewagt, die von einer zehntausend Mann starken Garnison mit wenigstens noch zehntausend Mann als Reserve oder für Ausfälle verteidigt wurde. Dort war also wenigstens die Hälfte der aktiven russischen Armee der Walachei konzentriert. Wo und wie hätte dann die andere Hälfte, über einen weiten Raum verstreut, die türkischen Kräfte daran hindern können, bei Oltenitza, Silistria oder Hirsowa überzusetzen? Wenn aber die Verbindung zwischen Widdin und Kalafat ohne Schwierigkeit aufrechterhalten werden konnte, dann war es auch möglich, an anderen Punkten überzusetzen. So waren die Russen durch ihre Stellung an der Sehne des Bogens, dessen Peripherie von den Türken besetzt gehalten wurde, in der Lage, überlegene Kräfte auf das Schlachtfeld von Cetate zu führen, während die Türken ihre Abteilung bei Kalafat nicht verstärken konnten, obwohl sie lange vorher von dem geplanten Angriff wußten. Die Türken, der Möglichkeit beraubt, diese Ablenkungsbewegung, die die ganze Schlacht verhindert hätte, zu vollführen, der Aussicht auf Entsatz beraubt, waren allein auf ihre Tapferkeit angewiesen und konnten nur hoffen, die feindlichen Kräfte einzeln abzuschneiden, bevor es diesen gelang, sich zu konzentrieren. Aber selbst diese Hoffnung war gering, denn sie konnten sich von Kalafat nicht weit fortbewegen, und jede feindliche Abteilung, auch wenn sie ihnen an Stärke unterlegen war, konnte sich ihrem Operationsgebiet entziehen. So kämpften sie fünf Tage lang, im allgemeinen mit Erfolg, und dennoch mußten sie sich wieder auf ihre Verschanzungen in den Dörfern um Kalafat zurückziehen, da die russischen Truppen zum Schluß deutlich überlegen waren, nachdem sie neue Verstärkungen erhalten hatten. Das Ergebnis ist, daß der russische Angriff auf Kalafat höchstwahrscheinlich abgewendet oder verzögert wurde und die Türken bewiesen haben, daß sie auf offenem Felde nicht weniger gut als hinter Wällen und Gräben zu kämpfen verstehen. Wie blutig diese Zusammenstöße waren, kann man einem Brief aus Bukarest entnehmen, der berichtet, daß in den Kämpfen ein russisches Schützenregiment vollständig vernichtet wurde und von einem Regiment Ulanen nur 465 Mann übrigblieben. Bei Oltenitza griffen die Russen die verschanzten Stellungen der Türken an; bei Cetate griffen die Türken die verschanzten Stellungen der Russen an. In beiden Fällen waren die Türken siegreich, ohne jedoch irgendwelche Früchte ihres Sieges zu ernten. Die Schlacht von Oltenitza fand gerade zu der Zeit statt, als die Proklamation eines Waffenstillstands auf dem Weg von Konstantinopel nach der Donau war. Und sonderbarerweise fällt die Schlacht von Cetate mit der Nachricht zusammen, daß der Diwan die letzten Friedensvorschläge angenommen habe, die ihm von seinen westlichen Alliierten vor
geschrieben worden waren135 In dem einen Falle werden die Ränke der Diplomatie im Waffengeklirr zuschanden, während in dem andren Falle das blutige Werk des Krieges zur gleichen Zeit von dem geheimen Wirken der Diplomatie durchkreuzt wird.
Geschrieben am 19. Januar 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Ansichten des Zaren - Prinz Albert]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4000 vom 11 .Februar 1854] London, Dienstag, 24. Januar 1854. Die Versuche der russischen Armee, die Donau gleichzeitig auf der ganzen Operationslinie - bei Matschin, Giurgewo und Kalafat - zu überschreiten, sind eher als Erkundungsversuche denn als ernsthafte Angriffe zu betrachten, auf die sich General Gortschakow bei seiner jetzigen Truppenstärke wohl auch kaum einlassen kann. Das Disraeli-Organ „Press" vom letzten Sonnabend veröffentlichte eine Notiz über eine kürzlich in Gatschina stattgefundene Unterredung zwischen dem Zaren und einem „prominenten" Engländer. Fast die ganze Londoner Tagespresse druckt diese Notiz ab, die außer den bekannten und abgeleierten Gemeinplätzen der russischen Diplomatie auch einige interessante Angaben enthält. »Der Zar stellte ausdrücklich fest, daß Menschikows Ultimatum^ in London nicht mißbilligt worden sei, sondern daß das englische Ministerium, nachdem ihm mitgeteilt worden, daß die Pforte das Ultimatum wahrscheinlich annehmen würde, dies als eine befriedigende Lösung betrachtet." Dies bewiese nur, daß der arme John Russell durch Baron Brunnow über die „wahrscheinlichen" Absichten der Hohen Pforte falsch unterrichtet war, und daß es durchaus nicht am Koalitionskabinett lag, wenn die Pforte sich weigerte, Menschikows Ultimatum sofort anzunehmen. Der Zar fährt fort und teilt der „prominenten" Person mit, daß „nach dem Bekanntwerden des Sieges bei Sinope General Castelbajac (der französische Gesandte) an ihn einen Brief gerichtet hat, der etwa folgendermaßen begann: ,Als Christ und Soldat erlaube ich mir, Eure Kaiserliche Majestät zu dem glorreichen Sieg der Flotte Eurer Majestät zu beglückwünschen.'" Ich möchte hier bemerken, daß General Castelbajac, ein alter Legitimist und ein Verwandter von La Rochejaquelein, seine Generalswürde nicht im Felddienst, sondern durch den ungefährlicheren Dienst in den Vorzimmern
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des Hofs und durch das glühende Bekenntnis erhabener royalistischer Grundsätze erworben hat. Bonaparte ernannte ihn zum Gesandten am St.Petersburger Hof, um dadurch dem Zaren einen Beweis seiner Unterordnung unter dessen persönliche Wünsche zu geben, obgleich er genau wußte, daß Castelbajac mit dem Zaren weit eher wegen der Wiedereinsetzung der Bourbonen konspirieren als die Interessen seines nominellen Gebieters fördern werde. Dieser Castelbajac ist also gerade der Mann dazu, „als Soldat und Christ" den Zaren zu dem ergebnislosen Gemetzel von Sinope zu beglückwünschen. „Er glaube nicht", soll der Zar gesagt haben, „daß England unter einem Bourgeoisparlament einen Krieg in Ehren führen könne." Zweifellos kennt der Zar seine Cobdens und Brights und schätzt die niedrigen, gemeinen Seelen der europäischen Bourgeoisie nach ihrem wahren Wert ein. Schließlich hat der Zar ganz recht, wenn er einerseits behauptet, er sei nicht auf den Krieg vorbereitet gewesen - war er doch völlig überzeugt, daß er alles, was er erreichen wollte, durch simple Drohungen erlangen würde -, und andrerseits, es würde, wenn es Krieg gäbe, ein „Krieg der Unfähigen", die, in dem ängstlichen Bestreben, ihn zu verhüten, ihn unvermeidlich machen und sich zum Schluß hineinstürzen würden, um ihre Fehler zu verdecken und ihre Positionen zu retten.
„Die öffentliche Meinung ist fast geneigt, Prinz Albert gewissen Gerüchten zu opfern. Das Geflüster, das zuerst zu Parteizwecken in Umlauf gesetzt worden war, ist zum Gebrüll geworden, und bedeutungsschwere Anspielungen ließen es zu einer wirklichen und ungeheuerlichen Lüge anschwellen. Daß alle, die Audienz bei der Königin suchten, den Prinzen Albert bei Ihrer Majestät fanden, ist eine Tatsache, die ihm eher die Sympathie und Achtung der englischen Öffentlichkeit gewann; dann aber hieß es, er wohne den Zusammenkünften der Königin mit ihren Ministern bei; dann, daß die Minister auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht würden -, daß sie trotz ihres Widerstrebens, vor einer dritten Person zu verhandeln, gezwungen wären, dies zu tun daß sie sogar ihre Meinungen vor dem Prinzen verteidigen müßten -, daß der Prinz sich tatsächlich in ihre Beratungen mit der Herrscherin mische -, daß er nicht nur die Ansichten der Königin beeinflusse, sondern auch, da er die Macht zu freiem Verkehr mit auswärtigen Höfen besitze, einen unkontrollierten Informationsweg zwischen dem Geheimen Rat der Königin und den Kabinetten fremder Machthaber, vielleicht Englands Feinden, hergestellt habe - kurz, daß Prinz Albert ein Verräter seiner Königin sei, daß er des Hochverrats angeklagt und daß er schließlich auf die Anklage des Hochverrats hin festgenommen und in den Tower gebrächt worden sei. Diese Geschichte wurde in allen Teilen Englands vor ein oder zwei Tagen nicht nur erzählt, sondern auch von manchen geglaubt."
Ich zitiere diese Stelle aus dem „Spectator"1371, um Ihren Lesern zu zeigen, wie die öffentliche Meinung durch die Palmerston-Presse dazu ver
leitet wurde, einen armen einfältigen jungen Menschen zum Sündenbock für die verantwortlichen Minister zu machen. Prinz Albert ist ein deutscher Prinz, der mit den meisten absoluten und despotischen Regierungen des Kontinents verwandtschaftlich verbunden ist.[38] Seit er zum Rang eines Prinzgemahls in Großbritannien erhoben wurde, hat er seine Zeit teils mit dem Mästen von Schweinen, teils mit dem Erfinden lächerlicher Kopfbedeckungen für die Armee, mit dem Entwerfen von Musterhäusern, die merkwürdig durchsichtig und ungemütlich sind, mit der Ausstellung im Hyde Park und mit Soldatenspielerei verbracht. Man sah in ihm einen liebenswürdigen und harmlosen Menschen, geistig unter dem allgemeinen Durchschnitt menschlicher Wesen stehend, einen fruchtbaren Vater und einen gefügigen Gatten. In letzter Zeit hat man ihn jedoch mit Vorbedacht zum einflußreichsten Manne erhoben, zu einem der 'gefährlichsten Charaktere des Vereinigten Königreichs, der angeblich die ganze Staatsmaschinerie nach geheimen Vorschriften Rußlands lenkt. Nun kann wohl kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß der Prinz direkten Einfluß in höfischen Angelegenheiten und natürlich im Sinne des Despotismus ausübt. Der Prinz kann nur als Prinz handeln, und wer wäre so töricht, anzunehmen, er täte es nicht? Doch ich brauche natürlich Ihre Leser nicht erst auf die völlige Ohnmacht aufmerksam zu machen, auf die das britische Königtum durch die britische Oligarchie herabgedrückt wurde, so daß zum Beispiel König Wilhelm IV., ein entschiedener Feind Rußlands, durch seinen Minister des Auswärtigen1 - ein Mitglied der WhigOligarchie - gezwungen wurde, als Feind der Türkei zu handeln. Wie unsinnig wäre es also, anzunehmen, Prinz Albert könnte gegen den Willen des Ministeriums auch nur das Geringste durchsetzen, es sei denn nichtige höfische Dinge, ein armseliges Ordensband oder einen glitzernden Stern! Seine absolutistischen penchants2 benutzt man dazu, das Volk über die Intrigen und den Verrat der verantwortlichen Minister zu täuschen. Soll das Geschrei und der Angriff überhaupt etwas bezwecken, dann nur einen Angriff auf königliche Einrichtungen. Gäbe es keine Königin, dann gäbe es keinen Prinzen — gäbe es keinen Thron, dann gäbe es keine höfischen Einflüsse. Die Prinzen würden ihre Macht verlieren, wenn es keine Throne gäbe, die sie stützen und an die sie sich anlehnen könnten. Doch man beachte - jene Zeitungen, die in ihrer „fürchterlichen Kühnheit" am weitesten gehen, die am lautesten schreien und aus dem Prinzen Albert sozusagen politisches Kapital zu schlagen versuchen, sind am eifrigsten in der Versicherung ihrer Loyalität gegen den Thron und in ihrer widerlichen Lobpreisung der Königin. Für
die Tory-Zeitungen versteht sich das von selbst. Der radikale „Morning Advertiser"[391 ist dieselbe Zeitung, die den coup d'etat Bonapartes begrüßte und kürzlich ein irisches Blatt angriff, weil es gewagt hatte, die Königin im Zusammenhang mit ihrem Besuch in Dublin zu tadeln; die die französischen Revolutionäre wegen ihres Bekenntnisses zum Republikanismus rügt und die fortgesetzt Lord Palmerston als den Retter Englands bezeichnet, Das Ganze ist ein Trick Palmerstons. Palmerston ist durch die Enthüllungen über seine Russenfreundlichkeit und durch seinen Widerstand gegen die neue Reformbill unpopulär geworden. Bei dieser letzten Aktion fiel die liberale Vergoldung von seinem verschimmelten Pfefferkuchen ab. Er aber möchte jetzt Popularität, um Premierminister oder wenigstens Minister des Auswärtigen zu werden. Welch wunderbare Gelegenheit, sich wieder als Liberaler aufzuspielen und in der Rolle des Brutus aufzutreten, der durch geheime Hofintrigen verfolgt wird. Einen Prinzgemahl angreifen - das gefällt dem Volke. Er wird der populärste Staatsmann des Jahrhunderts werden. Welch wunderbare Gelegenheit, seine jetzigen Kollegen zu verleumden, sie als Werkzeuge des Prinzen Albert zu brandmarken und den Hof zu überzeugen, daß man Palmerston zu den von ihm selbst gestellten Bedingungen akzeptieren muß. Die Tories stimmen natürlich in das Geschrei mit ein, denn Kirche und Krone gilt ihnen wenig im Vergleich zu Geld und Grundstücken, und diese nehmen ihnen die Baumwoll-Lords jetzt rasch ab. Und wenn die Tories im Namen von „Verfassung" und „Freiheit" einen Prinzen mit Reden erdolchen, welcher aufgeklärte Liberale sollte sich da nicht anbetend ihnen zu Füßen stürzen! Auf der Jahresversammlung der Handelsassoziation zu Manchester erklärte der Präsident, Herr Aspinall Turner, zu den Streiks, den Aussperrungen und der allgemeinen Agitation der Arbeiter - die er ganz richtig als „Bürgerkrieg zwischen den Herren und den Arbeitern in Lancashire" bezeichnete -, daß „Manchester die Tyrannei der Demokratie ebenso niederwerfen werde, wie es dies mit der Tyrannei der Krone und der Tyrannei der Aristokratie getan habe". „Das ist", so ruft die „Press" aus, „ein unfreiwilliges Geständnis der Politik der Manchesterschule^40'. Die Krone ist in England die höchste Gewalt-so schwächt die königliche Macht! Die Aristokratie steht uns im Wege - so fegt sie hinweg! Arbeiter agitieren - so tretet sie in den Staub!" Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx/Friedrich Engels
[Die Befestigung Konstantinopels Die dänische Neutralität Die Zusammensetzung des britischen Parlaments— Die Mißernte in Europa]
r„New-York Daily Tribüne" Nr. 4004 vom 16. Februar 1854} London, Freitag, 27. Januar 1854. Die Befestigung Konstantinopels wäre, wie ich in einem der letzten Artikel1 erklärte, der wichtigste Schritt, den die Türken tun könnten. Ist Konstantinopel befestigt und sind die Forts am Bosporus und den Dardanellen entsprechend verstärkt, dann bedürfte weder die Türkei noch irgendeine andere Macht, die im Besitze dieser Hauptstadt ist, fremder Garantien zu ihrer Unabhängigkeit. Es gibt keine Stadt, die leichter zu befestigen wäre als Konstantinopel. Nur eine Seite des Dreiecks - die gegen das Land gelegene bedürfte eines fortlaufenden Walles; die zweite gegen das Marmarameer und die dritte gegen das Goldene Horn erfordern keine Befestigungen. Eine Linie von detachierten Forts in angemessener Entfernung von der Umwallung und ostwärts so weitergeführt, daß Pera und Galata und das Nordostufer des Goldenen Horns geschützt sind, würde die Umwallung verstärken und zugleich den Feind daran hindern, sie zu umgehen und Belagerungswerke auf den Hügeln zu errichten, die die Stadt hinter Pera und Galata beherrschen. Eine solche Festung wäre fast uneinnehmbar. Ihre Kommunikationen können nur dann abgeschnitten werden, wenn die Dardanellen oder der Bosporus genommen werden, und in diesem Falle wäre die Stadt sofort verloren. Aber zwei derart enge Durchfahrten können leicht so stark befestigt werden, daß sie keine feindliche Flotte passieren kann. Eine russische Armee, die von der Landseite käme, müßte sich auf die gefahrvolle Verbindung zur See mit Sewastopol und Odessa verlassen und könnte schwerlich so lange Zeit
aushalten, wie nötig wäre, um die Stadt zu nehmen; und durch ihre fortwährenden zahlenmäßigen Verluste hätte sie Niederlagen durch die Besatzung der Stadt wie auch durch die Reserven aus Asien zu gewärtigen. Die Antwort Rußlands auf die Neutralitätserklärung Dänemarks1411 traf am 20. d.M. in Kopenhagen ein. Man sagt, Rußland weigere sich, der Neutralität zuzustimmen, und verlange von Dänemark, es solle sich für die eine oder die andere Seite entscheiden. Unmittelbar nach dieser Mitteilung sollen der französische, der englische und der russische Gesandte mit den dänischen Ministern eine Unterredung gehabt haben. Nun erfahre ich aus sehr zuverlässiger Quelle, obgleich ich mich natürlich für die Richtigkeit der Nachricht nicht verbürgen kann, daß der Protest des Petersburger Kabinetts nur eine Finte und darauf berechnet sei, die anderen Mächte um so schneller zu einer formellen Anerkennung der Bedingungen zu treiben, zu denen die dänische Neutralität angeboten wird. Man versichert mir, daß kürzlich Verhandlungen zwischen Dänemark einerseits und Frankreich und England andrerseits stattfanden, denen zufolge im Kriegsfall England den Sund mit seinen Kriegsschiffen und Frankreich das Herzogtum Schleswig mit einem corps d'armee1 okkupieren soll. Um diese Kombination, die Nesselrode durch Minister -Orstedt mitgeteilt wurde, zu durchkreuzen, soll Rußland dem Kopenhagener Kabinett nahegelegt haben, eine Neutralitätserklärung vorzuschlagen. Es stellt sich jetzt, als ob es opponiere, und das wird, wenn Frankreich und England ihr zustimmen, nicht nur deren ursprüngliche Pläne zunichte machen, sondern auch den russischen Export über die Ostsee gewährleisten, da Waren auf neutralen Schiffen nicht dem Kriegsrecht unterliegen. Der Protest des Zaren gegen die Erwerbung eines oldenburgischen Hafens an der Nordsee durch Preußen ist ein Protest bona fide2, wie sehr man auch in Berlin über dieses neue Anzeichen der allgegenwärtigen Einmischung des Nachfolgers von Timur-Tamerlan erstaunt gewesen sein mag. Das große „Reform-Meeting in Manchester" ist „abgerollt und war ein großer Humbug", wie die Zeitung „Englishman" richtig bemerkt. Die wenigen Gemeinplätze, die, wo es um die auswärtige Politik geht, den Grundstock der Manchesterschulet40] bilden - die Lobpreisung der Politik Aberdeens, die Beschimpfung der Türkei, die Verherrlichung Rußlands und die Ablehnung aller Einmischung in Angelegenheiten zwischen fremden Staaten - wurden von den Herren Cobden, Bright und den anderen „einfachen und schlichten Männern" breitgetreten, die einen „Mann des Friedens" in den „Horse
1 Armeekorps - 2 ein ernsthafter Protest
Guards"[42J und ein „lock-out"1 im Oberhaus haben möchten, um die englische Nation zu verkaufen und alle anderen Nationen zu niedrigen Preisen zu verschachern. Die Rede des Herrn Cobden war eine bloße und noch dazu geistlose Wiederholung der Rede, die er beim Parlamentsschluß gehalten hatte. Der einzige Luxus an Neuigkeiten, den er sich gestattete, waren zwei Argumente eines gegen Frankreich, das andere gegen Amerika gerichtet. Es sieht ziemlich verdächtig aus, daß derselbe Mann, der eine so hervorragende Rolle bei der Schaffung der Allianz mit Frankreich zu einer Zeit spielte, da die Heldentaten der Dezembristen1431 einen Schrei der Empörung in England hervorgerufen hatten, nun eifrig sein eigenes Werk zunichte macht, indem er diese Allianz verhöhnt und sie als „unbedacht" und „unzeitgemäß" brandmarkt. Was Amerika betrifft, so erklärte Herr Cobden, daß dessen industrielle und kommerzielle Entwicklung - und nicht die kriegerische Politik Rußlands die Größe der kommerziellen und nationalen Prosperität Englands bedrohe. Wie vereinbart sich das mit seinen abgeleierten Redensarten vom Freihandel, denen zufolge die kommerzielle Prosperität eines Volkes von der kommerziellen und industriellen Entwicklung aller anderen Völker abhängt und die Idee jeglicher gefährlichen Rivalität zwischen zwei Industrievölkern als ein Fehlschluß der schutzzöllnerischen „Quacksalber" hingestellt wird? Wie paßt das zu dem Satz, daß „England mit dem Zauber seiner Maschinerie zwei entfernte Hemisphären durch die Bande des Friedens für immer vereint habe, indem es Europa und Amerika vollständig und unlösbar voneinander abhängig gemacht habe" ? Es ist nicht das erste Mal, daß Herr Cobden, um den Argwohn und Haß des englischen Volkes von Rußland abzulenken, eifrig bemüht ist, diese gegen die Vereinigten Staaten von Amerika zu richten. Als 1836 die Beschlagnahme eines englischen Schiffes durch ein russisches Kriegsschiff an der tscherkessischen Küste, die fiskalischen Bestimmungen des St. Petersburger Kabinetts über die Donauschiffahrt[44) und die Enthüllungen im „Portfolio" [45] den Zorn des englischen Volkes und besonders der Handelsleute gegen Rußland erregten, da veröffentlichte Herr Cobden, zu jener Zeit noch „ein Kindlein im literarischen Leben und des öffentlichen Sprechens ungewohnt" t46J, eine kleine anonyme Flugschrift, betitelt „Russia: A Cure for Russophobia. By a Manchester Manufacturer"2. In dieser Flugschrift wird nachgewiesen, daß
1 eine „Aussperrung" - 8 „Rußland. Ein Heilmittel gegen Russophobie. Von einem Fabrikanten aus Manchester"
„dieses Gefühl" (nämlich die Furcht vor der wachsenden Prosperität Amerikas, nicht aber vor Rußlands Ausdehnung) „in weniger als zwanzig Jahren die ganze englische Nation ergriffen haben werde und daß die Regierung des Landes dem notgedrungen Vierde Rechnung tragen müssen".
In derselben Flugschrift bekannte er, daß
»bei Untersuchung der verschiedenen Gründe für die rußlandfeindliche Haltung derjenigen , welche diesen Gegenstand erörtern, wir mit unendlichem Staunen und tiefer, wahrhafter Überzeugung entdeckt haben, daß ein Jahrhundert aristokratischer Herrschaft in England alle Klassen mit dem hochmütigen und arroganten Geist ihrer Herrscher durchtränkt hat" (gegen das sanftmütige Rußland). „Würde die St. Petersburger Regierung an die Ufer des Bosporus verlegt, erwüchse in weniger als zwanzig Jahren aus jenen Hütten, die jetzt die Hauptstadt der Türkei bilden, eine prächtige und wohlhabende europäische Stadt; stattliche Gebäude würden erstehen, wissenschaftliche Gesellschaften gedeihen und die Künste blühen. Sollte Rußlands Regierung wirklich solche Macht erlangen, so würde es das Kriegsschwert niederlegen und den Kampf mit der Wildnis beginnen, Eisenbahnen und Brücken bauen, die Akkumulation des Kapitals fördern sowie das Wachstum der Städte und das Fortschreiten von Zivilisation und Freiheit.., Die Sklaverei, die Konstantinopel befleckt, verschwände sogleich, und Handel und Gesetze, die Leben und Eigentum schützen" (wie jetzt am Beispiel der Moldau und Walachei demonstriert wird) „träten an ihre Stelle."
Als einen Beweis für die russische Zivilisation und folglich für ihr Recht zur Aneignung der Türkei erzählte Herr Cobden seinen erstaunten Lesern, daß der russische Kaufmann, der 10000 bis 15000 Rubel besäße, sich nicht nur am ausländischen Handel beteilige, sondern „von körperlicher Züchtigung befreit und berechtigt sei, in einem Wagen mit zwei Pferden herumzufahren". Kann es uns daher wundernehmen, wenn der russische Kaiser kürzlich die Überzeugung äußerte, daß „England unter einem Bourgeoisparlament einen Krieg in Ehren nicht führen könne"? So tief war 1836 Herr Cobden Von der „Schlechtigkeit der öffentlichen Schriftsteller und Redner" durchdrungen, die es wagten, den Herrscher aller Reußen zu tadeln, daß er seine Flugschrift mit der Frage schloß:
„Und wer und was sind diese Schriftsteller und Redner? Wie lange noch sollen politische Quacksalber ungestraft die Gemüter einer ganzen Nation erhitzen und ihren Verstand verwirren dürfen?"
Wir vermuten, diese „öffentlichen Schriftsteller und Redner", die 10000 bis 15000 Rubel besitzen, können in einem Wagen mit zwei Pferden herumfahren und sind wenigstens von „körperlicher Züchtigung" befreit. Bis jetzt haben die einen die russophile Manie des Herrn Cobden als einen der
zahlreichen sonderbaren Einfälle betrachtet, mit denen er zu hausieren pflegt, andere wieder als das unvermeidliche Ergebnis seiner Friedensdoktrin. Kürzlich wurde jedoch dem Publikum von einem1, der sich mit Recht „das literarische Pferd oder, wenn ihr wollt, den literarischen Esel" der verblichenen Anti-Korngesetz-Liga[47 5 nennt, berichtet, daß Herr Cobden, bevor er seine erste Broschüre schrieb, „von 1834 bis 1835 mit gutem Erfolg in eigenen Geschäften nach Rußland gereist war" und sein „Herz wie sein Kattun 1836 in Rußland waren"; sein Arger „über die englischen Schriftsteller, Redner, Autoren und Kritiker" entspringe daher dem Umstand, daß sie seinen neuen Kunden, Nikolaus von Rußland, bekrittelten. Da das Unterhaus in wenigen Tagen wieder zusammentreten wird, erscheint es angebracht, in gedrängter Form eine statistische Übersicht der britischen Vertretung zu geben: Sitze in Prozent Verwandte der Peers 103 Irische Peers 6 Landedelleute 266 41,3 Literaten und Wissenschaftler 20 3,0 Armee und Flotte 30 4,6 Vertreter der Handels- und Geldinteressen 109 17,1 Juristen 107 17,0 Vertreter der Arbeiterinteressen keine — Insgesamt besetzte Sitze 641 } 17,0
Die irischenPeers im Unterhaus[481 sind: Viscount Palmerston für Tiverton; Viscount Barrington für Berkshire; Earl Annesley für Grimsby; Viscount Monck für Portsmouth; Viscount Galway für Retford und-Lord Hotham für Ost-Yorkshire. Die Literaten und Wissenschaftler sind: Benjamin Disraeli für Buckinghamshire; Thomas Macaulay, der Historiker, für Edinburgh; MacGregor, der Handelsstatistiker, für Glasgow; William Stirling, Verfasser der „Annais of the Artists of Spain" etc., für Perihshire; William Gladstone, Verfasser von „The State in its Relations with the Church" und anderer Werke, für die Oxforder Universität; Dr. Austen H. Layard, Verfasser von „Niniveh and its Remains" etc., für Aylesbury; James Wilson, der Herausgeber des „Economist" 1493, für Westbury; Sir William Molesworth, der Herausgeber von Hobbes' Werken etc., für Southwark; Sir E.L.Bulwer
Lytton, Dichter, Dramatiker, Novellist, für Hertfordshire; William Johnson Fox, Schriftsteller der Anti-Korngesetz-Liga, für Oldham; W.A.Mackinnon, Verfasser einer (sehr kläglichen) „History of Civilisation" etc., für Rye; R.Monckton Milnes, Verfasser der „Memorials of Travel" etc., und Benjamin Oliveira, Verfasser einer „Tour in the East", beide für Pontefract; Edward Miall, Verfasser verschiedener theologischer und politischer Arbeiten, für Rochdale; William Mure, Verfasser einer „History of Grecian Literature", für Renfrewshire in Schottland; W. P. Urquhart, Verfasser von „The Life of Francisco Sforza", für die Grafschaft Westmeath in Irland; Robert Stephenson, der berühmte Eisenbahningenieur, für Whitby; William Michell, Arzt, für Bodmin; John Brady, Chirurg, für Leitrim. Ob man auch Lord John Russell in die Kategorie der Schriftsteller einreihen kann, wage ich nicht zu entscheiden. Es gibt mindestens 100 Sitze, deren Vertreter nominell von den Wahlkreisen gewählt, in Wirklichkeit aber von Herzögen, Earls, Marquis, Ladies und anderen Personen, die aus ihrem lokalen Einfluß politisches Kapital schlagen, ernannt werden. Zum Beispiel verfügt der Marquis of Westminster über zwei Sitze für Chester, eine Stadt mit 2524 Wählern; der Herzog von Norfolk über einen Sitz für Arundel; der Herzog von Sutherland über zwei Sitze für Newcastle-under-Lyme; der Marquis of Lansdowne über einen Sitz für Calne; der Earl Fitzwilliam über zwei Sitze für Malton; der Herzog von Richmond über zwei Sitze für Chichester; Miss Pierse über einen Sitz für Northallerton, etc. Das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Wähler einerseits und der gewählten Vertreter andrerseits im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mag an einigen wenigen Beispielen gezeigt werden: Die Gesamtbevölkerung Berkshires beträgt 170065, die Zahl der Wähler 7980. Es wählt neun Vertreter ins Haus, während Leicestershire mit einer Gesamtbevölkerung von 230308 und 13081 Wählern nur über sechs Sitze verfügt; Lincolnshire mit einer Bevölkerung von 407222 und 24782 Wählern verfügt über dreizehn Sitze im Haus, Middlesex hingegen mit einer Gesamtbevölkerung von 1886576 und 113490 Wählern nur über vierzehn Parlamentsmitglieder. Lancashire mit einer Bevölkerung von 2031236 hat nur 81 786 Wähler, verfügt aber über sechsundzwanzig Sitze im Haus, während Buckinghamshire mit einer Gesamtbevölkerung von 163723 und mit 8125 Wählern durch elf Mitglieder vertreten ist. Sussex mit einer Gesamtbevölkerung von 336844 und mit 18054 Wählern wählt achtzehn Mitglieder, Staffordshire hingegen mit einer Bevölkerung von 608716 und mit 29607 Wählern nur siebzehn.
Das Verhältnis von Wählerschaft zur Bevölkerung ist folgendes: In England vertritt ein Wähler der Landgemeinde 20,7 Bewohner der Grafschaft. In Wales vertritt ein Wähler der Landgemeinde 20 Bewohner der Grafschaft. In Schottland vertritt ein Wähler der Landgemeinde 34,4 Bewohner der Grafschaft. In England vertritt ein Wähler der Stadtgemeinde 18 Personen der Stadtbevölkerung. In Wales vertritt ein Wähler der Stadtgemeinde 24,4 Personen der Stadtbevölkerung. In Schottland vertritt ein Wähler der Stadtgemeinde 23,3 Personen der Stadtbevölkerung. Die Angaben für Irland sind nicht so vollständig wie für England und Schottland; aber die folgenden können als Näherungswerte für die gleiche Periode, 1851-1852, genommen werden. Der Wähler einer irischen Landgemeinde vertritt 36 Bewohner der Grafschaft. Der Wähler einer irischen Stadtgemeinde vertritt 23 Personen der Stadtbevölkerung. Über die allgemein schlechte Lage auf den europäischen Getreidemärkten kann folgendes berichtet werden: In Frankreich beträgt der Ausfall an Getreide nicht, wie der „Moniteur"[50! behauptet, um die Unruhe zu beschwichtigen, zehn Millionen Hektoliter, sondern übersteigt bei weitem zwanzig Millionen, das sind mehr als acht Millionen Quarter nach englischem Maß, und der Ausfall an Kartoffeln beträgt nicht weniger als ein Viertel des Durchschnitts der letzten fünf Jahre, während der Ausfall an Wein, 01 und Kastanien noch größer ist. In Belgien und Holland beträgt der Ausfall in der Produktion von Getreide ungefähr vier Millionen Hektoliter; in den Rheinprovinzen, in Preußen und in der Schweiz nach vorsichtiger Schätzung mehr als zehn Millionen Hektoliter. Die Ausfälle in Italien werden bekanntlich sehr hoch geschätzt, aber es ist außerordentlich schwierig, sie auch nur annähernd zu bestimmen. Jedoch ergibt die niedrigste Schätzung zehn Millionen Hektoliter Getreide, in allen großen Getreidebezirken Westeuropas folglich einen Ausfall von nicht weniger als vierundvierzig Millionen Hektolitern (siebzehn Millionen Quarter). Der Ausfall in England übersteigt bekanntlich fünf Millionen Quarter Getreide, und sehr ernstzunehmende Berechnungen geben diesen Betrag für Ausfall an Weizen allein an. Es ergibt sich also nur für Westeuropa ein gefährlicher Ausfall in der letzten Ernte von nicht weniger
als zweiundzwanzig Millionen Quarter, wobei noch nicht die starke Minderwertigkeit und der Ausfall bei anderen Getreidearten in Rechnung gestellt wurde und auch nicht die allgemein grassierende Kartoffelfäule - ein Ausfall, der umgerechnet in Getreide einem Wert von wenigstens fünf Millionen Quarter Weizen entspricht oder insgesamt einem Defizit von siebenundzwanzig Millionen Quarter Getreide. Zu den Aussichten auf Lieferungen von ausländischen Märkten wird aus einer in Handelsfragen sehr kompetenten Quelle erklärt: „In Polen waren die Ernten sehr knapp: in Rußland völlig unzureichend, wie an den hohen Preisen ersichtlich, die für Getreide an den Ostseehäfen verlangt wurden, noch ehe unsere Ernteausfälle bekannt waren. Und obgleich es in den Donauprovinzen keine Mißernte gegeben hat, sind doch die Vorräte dort, ebenso wie in Odessa, durch die gewaltigen Exporte in die Mittelmeerländer und nach Frankreich bedeutend geschrumpft. Amerika aber kann nicht zwei Millionen Quarter liefern. Alle Schiffe der Welt reichen nicht aus für so umfangreiche Lieferungen, daß der Fehlbetrag, von dem man gegenwärtig in ganz England weiß, annähernd oder auch nur zu einem Teil gedeckt werden könnte." Karl Marx
Geschrieben vom 26.-27. Januar 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Mission des Grafen Orlow Russische Kriegsfinanzen]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4007 vom 20. Februar 1854] London, Freitag, 3. Februar 1854. Ich hatte Gelegenheit, die Staatsprozession der Königin zu sehen, als sie bei den Horse Guards[42J vorbeikam, um das Parlament zu eröffnen. Der türkische Gesandte wurde mit lauten Hochrufen und Hurras empfangen. Prinz Albert, dessen Antlitz totenbleich war, wurde von der Menge zu beiden Seiten der Straße wütend ausgezischt, während die Königin mit ihren gewöhnlichen Begrüßungen sehr sparsam war und zu den ungewohnten Äußerungen der öffentlichen Unzufriedenheit krampfhaft lächelte. In einem früheren Brief habe ich die Anti-Albert-Bewegung auf ihr wahres Ausmaß zurückgeführt und nachgewiesen, daß sie nur ein Parteikniff sei.1 Dennoch ist die öffentliche Demonstration sehr ernst zu nehmen, da sie beweist, daß die zur Schau getragene Loyalität des britischen Volkes lediglich eine konventionelle Förmlichkeit, ein gekünsteltes Zeremoniell ist, das nicht den leisesten Stoß vertragen kann. Möglicherweise kann sie die Krone veranlassen, ein Ministerium zu entlassen, dessen antinationale Politik ihre eigene Sicherheit zu gefährden droht. Als die jüngste Mission des Grafen Orlow beim Wiener Kabinett1511 bekannt wurde, teilte die „Times" ihren leichtgläubigen Lesern mit, gerade Orlow sei der Mann, den der Zar zu friedlichen Botschaften zu verwenden pflege. Nun brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen, daß dieser selbe Orlow im Frühjahr 1833 in Konstantinopel erschien, um von der Pforte den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi zu erpressen.1521 Was er jetzt vom Wiener Kabinett verlangt, ist die Erlaubnis, ein russisches Korps von Warschau über Ungarn auf den Kriegsschauplatz an der Donau zu senden. Als erstes Ergebnis seiner Anwesenheit in Wien darf man betrachten, daß Österreich jetzt von der Pforte fordert, sie solle ihre gegenwärtigen Befehlshaber an der Donau - Selim
Pascha, Ismail Pascha und Omer Pascha - entlassen unter dem Vorwand, sie seien Renegaten und Revolutionäre. Wer die frühere Geschichte der Türkei kennt, weiß, daß von Anbeginn des osrnanischen Staates alle ihre großen Generale, Admirale, Diplomaten und Minister immer christliche Renegaten - Serben, Griechen, Albanesen etc. - waren. Warum verlangt man von Rußland nicht, daß es die vierzig oder fünfzig Mann entläßt, die es in allen Gegenden Europas zusammengekauft hat und die seinen ganzen Schatz an diplomatischem und politischem Scharfsinn und militärischer Fähigkeit bilden? Inzwischen hat Österreich 80000 Mann an der türkischen Grenze in Transsylvanien und Ungarn zusammengezogen und ein böhmisches Korps im Umfang von etwa 30000 Mann hinbeordert, damit es sich mit ihnen vereinige. Die preußische Regierung soll es für ihren Teil abgelehnt haben, dem Kommando des Zaren nachzukommen, der Friedrich Wilhelm IV. befahl, ein Korps von 100000 Mann zu schicken, um Polen im Namen und Interesse Rußlands zu okkupieren und dadurch die dort befindlichen Garnisonen für den Marsch nach Süden frei zu machen, wo sie zum Feldzug in den Fürstentümern eingesetzt werden sollten. In einem früheren Brief1 lenkte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den finanziellen Ausweg, zu dem die österreichische Regierung kürzlich ihre Zuflucht nahm, nämlich eine Abwertung ihres eigenen Papiergeldes um 15 Prozent bei der Zahlung von Steuern anzuordnen. Diese ausgeklügelte „Steuer auf die Zahlung von Steuern" ist nun auch auf Italien ausgedehnt worden. Die „Gazzetta di Milano" vom 22. Januar bringt einen Erlaß des österreichischen Finanzministers, welcher bekanntgibt, daß „das Papiergeld infolge seiner Entwertung vom Zollamt nur mit einem Abzug von 17 Prozent angenommen wird". Bei einer früheren Gelegenheit, zu Beginn der sogenannten orientalischen Wirren, habe ich bezüglich des russischen Staatsschatzes Ihre Leser vor der eifrig verbreiteten Behauptung von den „geheimen" Schätzen warnen müssen, die in den Gewölben der St.Petersburger Bank schlummern sollen, und auf die lächerliche Übertreibung der gewaltigen Geldmacht hingewiesen, über die Rußland in einem gegebenen Augenblick verfügen könne.2 Meine Ansichten sind durch die Ereignisse vollauf bestätigt worden. Der Zar war nicht nur gezwungen, seine Metalldeposita aus den Banken Englands und Frankreichs zurückzuziehen, sondern mußte auch noch eine betrügerische Konfiskation vornehmen. Fürst Paskewitsch hat der Warschauer Hypotheken und Diskontobank mitgeteilt, daß ihr Kapital als Zwangsanleihe genommen
würde, obgleich die Statuten dieser Bank ihr verbieten, Geld auf andere Sicherheiten vorzuschießen als auf Grundbesitz. Wir sind auch unterrichtet, daß die russische Regierung sechzig Millionen Rubel uneinlösbares Papiergeld herausgeben will, um die Kriegskosten zu decken. Das Petersburger Kabinett wendet diesen Kunstgriff nicht zum erstenmal an. Ende 1768 gründete Katharina II., um die Kosten des Krieges mit der Türkei zu decken, eine Assignatenbank, die vorgeblich auf dem Prinzip begründet war, einlösbare Noten, zahlbar an den Überbringer, auszugeben. Durch ein geschicktes Versehen vergaß sie jedoch, der Öffentlichkeit zu sagen, in welchem Gelde diese Noten zahlbar wären, und einige Monate später wurden die Zahlungen nur in Kupfergeld geleistet. Durch einen anderen ungünstigen „Zufall" passierte es, daß diese Kupfermünzen im Vergleich zum ungeprägten Metall um fünfzig Prozent überbewertet wurden und nur infolge ihrer großen Seltenheit und dem Mangel an Kleingeld für den Kleinhandel zu ihrem Nominalwert zirkulierten. Die Konvertibilität der Noten war also nur ein Trick. Zuerst beschränkte Katharina die ganze Ausgabe auf 40000000 Rubel in 25-Rubel-Scheinen; der Rubel repräsentierte eine Silbermünze von etwa 38 bis 40 d. in englischem Geld, nach dem Wechselkurs stand er etwas über 100 Kupferkopeken. Bei Katharinas Tod im Jahre 1796 war die Menge dieses Papiergelds auf 157000000 Rubel angewachsen, also fast auf das Vierfache des ursprünglichen Betrags. Der Wechselkurs war in London von 41 d. im Jahre 1787 auf 31 d. im Jahre 1796 gefallen. Während der zwei folgenden Regierungen war eine rasche Steigerung der Ausgaben erfolgt; 1810 erreichte die Papiergeldzirkulation 577000000 Rubel, und der Papierrubel war nur mehr 252/5 Kopeken wert, d.h. ein Viertel seines Werts von 1788, und der Wechselkurs in London sank im Herbst 1810 auf IF^d. für den Rubel statt der früheren 38 bis 40 d. 1817 betrug nach dem Bericht des Grafen Gurjew die Höhe der zirkulierenden Noten 836000000 Rubel. Da Zollgebühren und andere Steuern in Silberrubeln berechnet wurden, so erklärte nunmehr die Regierung, die Assignaten würden im Verhältnis von 4 zu 1 in Zahlung genommen, was einer Entwertung von 75 Prozent gleichkommt. Während diese Entwertung weiter fortschritt, stiegen im gleichen Verhältnis die Preise der Waren und waren so großen Schwankungen unterworfen, daß das Kabinett selbst sich darüber zu beunruhigen begann und sich gezwungen sah, auswärtige Anleihen aufzunehmen, um einen Teil der Noten aus dem Verkehr zu ziehen. Am 1 .Januar 1821 wurde erklärt, ihr Betrag sei auf 640000000 reduziert. Die nun folgenden Kriege mit der Türkei, Persien, Polen, China etc. ließen die Masse der Bankassignaten wieder anschwellen, die Wechselkurse aufs neue sinken und unterwarfen alle Waren ausgedehnten und unregelmäßigen Preis
Schwankungen. Erst am I.Juli 1839, als sich der Wechselkurs infolge eines enormen Getreideexports nach England erholt hatte, erließ der Zar ein Manifest, demzufolge vom 1 .Juli 1840 an die ungeheure Menge von Bankassignaten in Banknoten umgetauscht werden sollte, die auf Verlangen auch in Silberrubeln zum vollen Preis von 38 d. zahlbar waren. Zar Alexander hatte erklärt, die Assignaten würden von den Steuereinnehmern im Verhältnis von 4 zu ! genommen; vom Zar Nikolaus jedoch sagt man, er habe sie durch seine Konvertierung zu ihrem vollen ursprünglichen Wert wiederhergestellt. Jedoch war eine merkwürdige kleine Klausel daran geknüpft, die befahl, daß für je eine dieser neuen Noten dreieinhalb alte abgeliefert werden müßten. Es wurde nicht erklärt, daß die alte Note um 28 Prozent ihres ursprünglichen Betrags entwertet sei, sondern daß dreieinhalb alte Noten gleichwertig mit einer neuen Note seien. Wir können daraus entnehmen, daß einerseits das russische Kabinett in finanziellen Fragen ebenso gewissenhaft und peinlich genau ist wie in diplomatischen, und daß andrerseits die bloße Gefahr eines nahenden Kriegs genügt, um es in all die finanziellen Schwierigkeiten zurückzuschleudern, aus denen Nikolaus seit etwa zwanzig Jahren herauszukommen trachtet. Eine europäische Regierung nach der anderen kommt und appelliert an die Taschen ihrer geliebten Untertanen. Sogar der König der nüchternen Holländer1 verlangt von den Generalstaaten 600000 Rijksdaalder zu Befestigungs- und Verteidigungszwecken und fügt hinzu, daß „die Umstände ihn bestimmen könnten, einen Teil der Armee zu mobilisieren und seine Flotte auszusenden". Wenn es eine Möglichkeit gäbe, durch eine geschickte Buchführung wirklichem Geldmangel abzuhelfen und leere Geldschränke zu füllen, so hätte es der Urheber des vor einigen Tagen im „Moniteur" veröffentlichten französischen Budgets vollbracht. Aber selbst der kleinste Krämer in Paris täuscht sich nicht über die Tatsache, daß man auch durch die geschickteste Gruppierung der Zahlen nicht aus dem Schuldbuch der Gläubiger verschwinden kann, und daß der Held vom 2. Dezember2, der die Taschen des Volkes für unerschöpflich hielt, die Nation unbekümmert in Schulden gestürzt hat. Man kann sich nichts Naiveres vorstellen als die Erklärung des dänischen Ministeriums auf der Sitzung des Folketings am 17. d.M., die Regierung beabsichtige, die Ausführung ihres Plans, die fundamentalen Einrichtungen Dänemarks zu ändern und ihre so langersehnte Gesamtstaatsverfassung[531 einzuführen, auf eine passendere Zeit zu verschieben. Karl Marx Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Blaubücher Die Parlamentsdebatten vom 6. Februar Die Mission des Grafen Orlow Die Operationen der vereinigten Flotte Die Irische Brigade Zur Einberufung des Arbeiterparlaments]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4008 vom 21. Februar 1854] London, Dienstag, 7.Februar 1854. Ich habe die „Rights and Privileges of the Greekand Latin Churches", wie man das Blaubuch des Ministeriums zur orientalischen Frage[54J sinnigerweise getauft hat, einer sehr sorgsamen Durchsicht unterzogen und beabsichtige, Ihren Lesern in Kürze einen gedrängten Überblick von diesem diplomatischen Labyrinth zu geben. Für den Moment will ich mich mit der einfachen Feststellung begnügen, daß wohl noch nie eine Regierung der Geschichte ein größeres Denkmal der Niedertracht und Dummheit überliefert hat. Erinnern wir uns dessen, was Herr Baillie im Unterhaus über den Wert dieser Blaubücher sagte: „Auskünfte geben sie, soviel man will - zugegeben, keine offiziellen Auskünfte-, doch gerade soviel, wie man von einem Blaubuch erwarten kann, das sorgfältig vorbereitet war und alles verschweigt, was eine Regierung zu verschweigen wünscht. Ich spreche aus Erfahrung" („Hört, hört!" und Gelächter von den Regierungsbänken) „und weiß, wie Blaubücher über auswärtige Angelegenheiten für dieses Haus vorbereitet wurden."^55] Mir ist sehr wohl bekannt, daß Lord Palmerston, als er einmal beschuldigt wurde, die Dokumente über den afghanischen Krieg entstellt, die wichtigsten Stellen aus Berichten unterdrückt und andere sogar willkürlich gefälscht zu haben156folgende scharfsinnige Antwort gab: „Wenn etwas Derartiges geschehen wäre, was hätte dann die beiden auf uns folgenden Regierungen unserer Gegner, deren eine fünf Jahre im Amt war, daran
6 Marx/Engels, Werke, Band 10
hindern können, diese Tatsache bekanntzugeben und die richtigen Dokumente vorzulegen?" Doch ich weiß ebensogut, daß das Geheimnis dieser Blaubuchschliche gerade auf dem Geheimnis der abwechselnden Übernahme der Regierung durch die Whigs und Tories beruht, einem Geheimnis, das jeder Partei in ihrem eigenen Interesse gebietet, lieber dem Gegner die Möglichkeit zu lassen, an ihre Stelle zu treten, als ihren gemeinsamen politischen „Ruf" zu ruinieren und dadurch das System der herrschenden Klassen vollkommen aufs Spiel zu setzen. Und das belieben die Briten das Funktionieren ihrer glorreichen Verfassung zu nennen. Lord Clanricarde hatte für die gestrige Sitzung des Oberhauses angekündigt, daß er eine Diskussion über die orientalische Frage beantragen werde. Demzufolge war die Erwartung groß und das Haus beinahe überfüllt. Herr Urquhart bezeichnete sogar ohne Bedenken in dem gestrigen „Morning Advertiser" Lord Clanricarde als den zukünftigen Führer der nationalen Partei und erinnerte daran, daß dieser 1829 als einziger gegen das Überschreiten des Balkans durch die Russen gewesen sei, wobei er zweifellos vergaß, daß derselbe edle Marquis in der wichtigen Zeit von 1839-1840 Gesandter Lord Palmerstons am St. Petersburger Hof und dessen Hauptwerkzeug beim Zustandebringen des Separatvertrages von 1840 wie auch bei dem Bruch mit Frankreich war.15'1 Die Öffentlichkeit wurde durch die Debatten entschieden enttäuscht, denn der Marquis von Clanricarde erklärte, wie man den Zeitungsberichten entnehmen kann, „es täte ihm, da in Wien noch so etwas wie Verhandlungen zu laufen schienen, außerordentlich leid, eine Diskussion herbeigeführt zu haben, die einen friedlichen Abschluß jener Verhandlungen verhindern könnte". Er kündigte deshalb an, er beabsichtige, in acht Tagen einen Antrag in derselben Sache einzubringen. Der edle Marquis begnügte sich damit, Lord Clarendon zu fragen, „ob man vom Kaiser von Rußland schon eine Antwort auf die Wiener Vorschläge erhalten habe" und „welche Instruktionen dem britischen Gesandten in St.Petersburg gegeben worden seien". Lord Clarendon antwortete, „er habe heute nachmittag aus Wien nur einen offiziellen Bericht über den Stand der Dinge erhalten". Der Kaiser von Rußland hatte die Wiener Note abgelehnt und stattdessen einen Gegenplan unterbreitet. Am 2. d.M. war die Konferenz zusammengetreten und hatte ihrerseits den Gegenplan abgelehnt. „Die neuen Vorschläge Rußlands seien völlig unannehmbar - sie könnten Konstantinopel nicht übergeben werden, und damit seien sie erledigt. Er habe keinen Grund,
anzunehmen, daß neue Verhandlungen darüber stattfinden werden. Für die Erhaltung des Friedens hege er keinerlei Hoffnungen mehr."
Auf die andere Frage Lord Clanricardes antwortete er, „Baron Brunnow habe ihn am Sonnabendabend im Ministerium des Auswärtigen aufgesucht und ihm eine Note ausgehändigt, in der er erklärte, daß die Antwort auf seine Anfrage, die auf Geheiß seiner Regierung erfolgt sei, es ihm nicht erlaube, die diplomatischen Beziehungen weiter aufrechtzuerhalten, und daß deshalb die'diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und England abgebrochen worden wären. Baron Brunnow habe sich am Sonnabendabend von ihm verabschiedet, doch da sei es für eine Abreise aus London schon zu spät gewesen, er nehme aber an, daß er heute früh abreisen werde."
Herr Kisselew hat nach einer telegraphischen Mitteilung Paris gestern verlassen und sich nach Brüssel begeben. Die offiziellen oder Regierungsblätter berichten, daß die Gesandtschaft in London aufgelöst werde und alle Russen England verlassen. Doch zufällig weiß ich aus vortrefflicher Quelle, daß im Gegenteil die Zahl der Russen in England nur um die Person des Gesandten vermindert werden wird und das gesamte personnel1 unter der Leitung des Ersten Gesandtschaftssekretärs, Herrn Berg, in London verbleibt. Zur Stellung des britischen Gesandten am St.Petersburger Hof erklärte Lord Clarendon, „es sei, da ihn Baron Brunnow am Sonnabend erst um einhalb sieben Uhr aufgesucht habe und es notwendig war, sich zuvor mit der französischen Regierung in Verbindung zu setzen, nicht sofort möglich gewesen, den britischen Gesandten in St. Petersburg zu instruieren, doch hätten sie sich wegen dieser Frage mit dem französischen Gesandten bereits ins Vernehmen gesetzt, und Sir G. Seymour wie auch General de Castelbajac gingen morgen Instruktionen zu, die sie dort vor dieselbe Situation stellten, in der sich hier der russische Gesandte befindet, so daß die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern und Rußland abgebrochen würden".
Lord John Russell wiederholte im Unterhaus die Erklärung Lord Clarendons im Oberhaus, und Lord Palmerston kündigte an, daß „er einen Gesetzentwurf zur Vereinigung der Gesetze über die Miliz einbringen werde, in dem er vorzuschlagen beabsichtige, eine Miliztruppe für Schottland und Irland zu organisieren, wobei der Zeitraum für die Anwerbung von der Abstimmung des Hauses abhänge". Die englische Armee soll unverzüglich um 11000 Mann verstärkt werden; außerdem sollen sofort 1500 Mann der Küstenwache eingeschifft werden,
um daraus eine Reserve für die Mannschaften der neu in Dienst gestellten Schiffe zu bilden. Es ist eine königliche Verfügung erlassen worden, die den Export jeglicher Kriegsschiffe, Militärvorräte und Munition nach Rußland verbietet. Die Marinebehörden haben bei einer Durchsuchung der privaten Werften an der Themse zwei Schiffe, die in russischem Auftrag im Bau waren, beschlagnahmt. In Kopenhagen schloß die britische Regierung einen Kontrakt ab über die Lieferung von Kohle für Dampfschiffe mit einer Gesamtleistung von 11000 Pferdestärken. Admiral Sir Charles Napier soll den Oberbefehl über die zu bildende Ostseeflotte erhalten. Die offizielle „Wiener Zeitung"[58] meldet, „die Regierung habe Nachricht erhalten, daß Rußland den vier Mächten ausdrücklich erklärt hat, es betrachte sich als entbunden von dem Olmützer Versprechen, in den Fürstentümern defensiv zu verbleiben".
Über das Ziel der Mission des Grafen Orlow in Wien sind die widersprechendsten Gerüchte im Umlauf, von denen das wohl glaubhafteste die Berliner Korrespondenz der heutigen „Times" bringt: „Rußland", schreibt der Korrespondent, „lädt Österreich und Preußen zum Abschluß eines für alle Fälle gültigen Neutralitätsabkommens ein; es schlägt ihnen vor, ihrer Neutralitätserklärung den Charakter einer Neutralitätserklärung des ganzen Deutschen Bundes zu verleihen, und garantiert dem Bund seinen Beistand, sollte irgendeines seiner Mitglieder angegriffen werden; für den Fall, daß am Ende des Krieges territoriale Veränderungen vorgenommen werden müssen, verpflichtet es sich, keinen Frieden zu schließen, ohne die Interessen der deutschen Mächte bei solchen territorialen Veränderungen gebührend zu beachten. In diesem Vorschlag eines Neutralitätsabkommens wird ausdrücklich auf die Grundsätze und Bestimmungen der Heiligen Allianz von 1815 Bezug genommen." Zu der Frage, welche Entscheidung Österreich und Preußen hierbei wahrscheinlich treffen werden, kann ich nur meine hierzu bereits geäußerte Überzeugung wiederholen.1 Österreich wird, solange es ihm erlaubt ist, mit allen Mitteln in seiner neutralen Stellung zu verharren suchen, und sich zu gegebener Zeit für Rußland erklären. Preußen andrerseits jedoch wird wahrscheinlich wieder den geeigneten Zeitpunkt zur Aufgabe seiner Neutralität verpassen und sich schließlich selbst das Schicksal eines neuen Jena[6] bereiten. Wir erfahren aus Konstantinopel, daß die vereinigte Flotte zu ihrem Ankerplatz bei Beikos zurückgekehrt ist, ungeachtet des folgenden Befehls, der ihr im Namen der Gesandten durch die „Samson" übermittelt wurde:
„Die Gesandten sind von dem plötzlichen Entschluß der Admirale überrascht, besonders im gegenwärtigen Augenblick, da eine türkische Dampfflottille im Begriff ist, mit Munition und anderen Vorräten für die Armee Anatoliens auszulaufen. Die Befehle der französischen und der britischen Regierung sprachen in gehöriger Form und präzis" (das taten sie wirklich, aber nicht die ursprünglichen Befehle an die Admirale, sondern lediglich diese gerade erhaltenen) „von dem Schutz, der der ottomanischen Flagge und ihrem Territorium zu gewähren ist, und es wird beiden AdmiraIen wieder die genaueste Beachtung dieser Anweisungen, die ihnen in gebührender Weise erteilt wurden, nahegelegt. Die Admirale sind anscheinend der Meinung, die ihnen aufgetragenen Maßnahmen könnten durchgeführt werden, ganz gleich, ob die unter ihrem Kommando stehenden Streitkräfte in Beikos oder in Sinope liegen." (Andere könnten in diesem Falle annehmen, daß diese Anweisungen auch ausgeführt werden können, wenn die Flotten ruhig in Malta oder Toulon blieben.) „Diese Angelegenheit hängt völlig von ihrem Ermessen ab, und auf ihnen ruht die Verantwortung." Die russische Flotte befindet sich bekanntlich bei Kaffa, nahe der Meerenge von Jenikale, von wo es nach Batum nur ein Drittel des Wegs ist wie von Batum nach Beikos. Werden die Admirale in der Lage sein, ein Sinope bei Batum zu verhindern, „ganz gleich, ob sie in Beikos oder anderswo liegen"? Sie werden sich erinnern, daß der Zar in seiner ersten Erklärung den Sultan beschuldigte, den revolutionären Abschaum ganz Europas unter seiner Fahne zu sammeln. Während nun Lord Stratford de Redcliffe Lord Dudley Stuart erklärt, er könne ihn nicht darin unterstützen, irgend etwas von diesem Abschaum als Freiwilligenlegion zu organisieren, war gerade der Zar der erste, der einen revolutionären Trupp, die sogenannte griechisch-slawonische Legion, in der direkten Absicht aufstellte, die Untertanen des Sultans zum Aufruhr zu treiben. Dieser Trupp wird in der Walachei gebildet und zählt nach russischen Meldungen bereits über 3000 Mann, die man nicht, wie die Walachen sich selbst, mit bons a perpetuite1 bezahlen wird: den Obersten verspricht man 5 Dukaten pro Tag, Majoren 3, Hauptleuten 2, Subalternoffizieren einen Dukaten und Soldaten 2 Zwanziger; die Waffen soll Rußland stellen. Inzwischen scheinen die Rüstungen Frankreichs nicht länger mehr nur auf dem Papier stehen zu wollen. Wie Sie wissen, wurden die Reserven von 1851 einberufen und in den letzten Tagen gewaltige militärische Vorräte von Arras nach Metz und Straßburg transportiert. General Pelissier hat sich mit dem Befehl nach Algerien begeben, die verschiedenen Korps für die Expedition nach Konstantinopel auszuwählen, wohin sich schon Sir J.Burgoyne und Oberst Ardant zur Vorbereitung der Quartiere begeben haben.
Das Gerücht von der Bewegung einer von Omer Pascha geführten großen Armee bedarf noch der Bestätigung, obwohl ein solches Unternehmen kaum zu einem günstigeren Zeitpunkt ausgeführt werden könnte, da sich die Russen bekanntlich bei Krajowa, zwischen Bukarest und Kalafat, konzentriert haben. Von der Tätigkeit des britischen Parlaments, zu der wir nun zurückkehren wollen, ist natürlich nicht viel zu erwähnen außer der Einbringung einer Bill für eine Beteiligung ausländischer Schiffe am Küstenhandel, ein Vorschlag, der nicht auf den geringsten Protest gestoßen ist. Proteste müssen entschieden außer Gebrauch gekommen sein, da sie dem weltumfassenden Vordringen des modernen Handelsprinzips - alles, was man braucht, auf dem billigsten Markt zu kaufen - nicht im geringsten entgegenwirken können. Wieweit die billigste Mannschaft geeignet ist, Leben und Besitz zu schützen, hat vor kurzem die Katastrophe der „Tayleur"[601 gezeigt. Herr I.Butt kündigte in der gestrigen Sitzung des Unterhauses an,
„er werde morgen den Antrag einbringen, daß der Sekretär vom Tisch des Hauses einen in der heutigen .Times' veröffentlichten Artikel und die vorhergehenden Erklärungen des Dubliner ,Freeman's Journal' verlesen solle, worin die" (irischen) „Mitglieder des Hauses beschuldigt wurden, für Geld einen Handel mit Ämtern zu treiben» Er werde auch die Einsetzung eines Sonderausschusses beantragen, der die Behauptungen dieser Blätter untersucht."
Warum Herr Butt sich nur entrüstet, daß dieser Handel für Geld betrieben wird, werden die verstehen, die sich daran erinnern, daß die Gesetzlichkeit jeder anderen Art des Handels in der vergangenen Session festgelegt wurde. Seit 1830 ist Downing Streek221 der Gnade der Irischen Brigade ausgeliefert Die irischen Mitglieder waren es, die nach ihrem Gutdünken die Minister bestimmt und im Amt gehalten haben. 1834 vertrieben sie Sir J. Graham und Lord Stanley aus dem Kabinett. 1835 zwangen sie Wilhelm IV., das Peel-Ministerium zu entlassen und die Regierung Melbournes wiedereinzusetzen. Von den allgemeinen Wahlen im Jahre 1837 bis zu denen von 1841 waren die Stimmen der Irischen Brigade, obwohl es im Unterhaus eine britische Mehrheit gegen diese Regierung gab, stark genug, um den Ausschlag zu geben und sie im Amt zu belassen. Es war wiederum die Irische Brigade, die das Koalitionskabinett einsetzte. Bei all ihrer Macht, mit der sie Kabinette schafft, hat die Brigade niemals eine Schändlichkeit gegen ihr eigenes Land oder ein Unrecht am englischen Volk verhindert. Die Periode ihrer größten Macht war die Zeit von O'Connell - 1834 bis 1841. In wessen Interesse wurde sie genutzt? Die irische Agitation war immer nur Geschrei für die Whigs gegen die Tories, um von den Whigs Ämter zu erpressen. Jeder
wird dieser Meinung sein, der etwas über den sogenannten Lichfield-HouseVertrag1611 weiß, jenen Vertrag, nach dem O'Connell für die Whigs stimmen sollte - obwohl ihm auch das Recht eingeräumt wurde, sich gegen sie zu erklären - unter der Bedingung, daß er seine eigenen Beamten in Irland einsetzen durfte. Es ist an der Zeit, daß die Irische Brigade ihr patriotisches Gebaren aufgibt. Es ist an der Zeit, daß das irische Volk seinen stummen Haß gegen die Engländer aufgibt und seine eigenen Vertreter für ihre Vergehen zur Rechenschaft zieht. Die Society of Arts and Tricks162 ] hat kürzlich versucht, das Arbeiterparlament mit einem Manöver wegzueskamotieren, mit dem man den zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern Englands herrschenden Kampf zu „schlichten" beabsichtigte. Ein edler Lord präsidierte der einberufenen Versammlung, und Vertreter beider Parteien waren eingeladen worden, um über ihre Beschwerden nach Art der Tagungen im Palais Luxembourg unter Herrn Louis Blanct63] zu diskutieren. Gegen diesen Humbug protestierte Herr Ernest Jones im Namen der Arbeiterklasse, und der alte Robert Owen erzählte den erleuchteten Gentlemen, daß kein Schiedsspruch, keine Erfindung, keine List den Abgrund jemals überbrücken könnte, der die beiden großen fundamentalen Klassen in diesem wie in jedem anderen Lande trennt. Es ist überflüssig hinzuzufügen, daß sich die Versammlung unter großem Gelächter auflöste. Die Chartisten Londons und die Delegierten der Provinz hielten am nächsten Tage ein Meeting ab, auf dem der Vorschlag des Arbeiterparlaments einstimmig angenommen und seine Eröffnung auf den 11. März in Manchester festgesetzt wurde. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Russische Diplomatie Das Blaubuch zur orientalischen Frage Montenegro]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4013 vom 27. Februar 1854] London» Freitag, 10. Februar 1854. Zur Zeit, als der Neutralitätsvertrag zwischen Dänemark und Schweden geschlossen wurde, gab ich meiner Überzeugung Ausdruck, daß dies entgegen der in Frankreich und England verbreiteten Meinung durchaus nicht als ein Triumph der Westmächte anzusehen und daß der angebliche Protest Rußlands gegen diesen Vertrag nur eine Finte sei.1 Die skandinavischen Zeitungen wie auch der Korrespondent der „Times", der aus ihnen zitiert, sind jetzt einmütig derselben Meinung und erklären den ganzen Vertrag für das Werk Rußlands. Die Vorschläge, die Graf Orlow der Wiener Konferenz unterbreitete und die diese verwarf, waren folgende: 1. Erneuerung der alten Verträge; 2. Protektorat Rußlands über die griechisch-orthodoxen Christen in der Türkei; 3. Ausweisung aller politischen Flüchtlinge aus dem Ottomanischen Reich; 4. Weigerung Rußlands, die Vermittlung irgendeiner anderen Macht anzunehmen und anders als direkt mit einem türkischen Bevollmächtigten zu verhandeln, der nach St.Petersburg geschickt werden muß. In letzterem Punkte erklärte Graf Orlow seine Bereitwilligkeit zu einem Kompromiß, aber die Konferenz lehnte dies ab. Warum lehnte die Konferenz ab? Oder warum lehnte der Kaiser von Rußland die letzten Bedingungen der Konferenz ab? Die Vorschläge sind auf beiden Seiten dieselben. Die Erneue
rung der alten Verträge war vereinbart worden, das russische Protektorat nur mit einer formellen Abänderung zugelassen, und da Rußland den letzten Punkt selbst preisgab, so kann Österreichs Forderung nach Ausweisung der politischen Flüchtlinge[64] nicht die Ursache eines Bruchs zwischen Rußland und dem Westen sein. Der Kaiser von Rußland ist daher offenbar jetzt in einer solchen Situation, daß er überhaupt keine Bedingungen von Frankreich und England annehmen kann und daß er die Türkei unterkriegen muß, ob dies nun einen europäischen Krieg zur Folge haben kann oder nicht. In militärischen Kreisen wird der Krieg jetzt schon als unvermeidlich betrachtet, und die Vorbereitungen dazu sind auf der ganzen Linie im Gange. Admiral Bruat ist bereits von Brest nach Algier abgereist, wo er 10000 Mann einschiffen soll, und 16 englische in Irland stationierte Regimenter haben Order, sich zum Abtransport nach Konstantinopel bereitzuhalten. Die Expedition kann nur einen zweifachen Zweck haben: entweder die Türken zur Unterwerfung unter Rußland zu zwingen, wie dies Herr Urquhart ankündigt, oder ernstlich Krieg gegen Rußland zu führen. In beiden Fällen trifft die Türken unfehlbar das gleiche Schicksal. Wieder an Rußland, wenn auch nicht direkt, so doch dessen auflösendem Wirken ausgeliefert, würde die Macht des Ottomanischen Reiches ebenso wie die des Byzantinischen Reiches nur auf die Umgebung der Hauptstadt beschränkt sein. Und ebenso würde unter der absoluten Vormundschaft Frankreichs und Englands die Herrschaft der Ottomanen über ihre europäischen Gebiete ein für allemal zu Ende sein.
„Wenn wir den Krieg in die Hand nehmen sollen", sagt die „Times", „wollen wir auch sämtliche Operationen dirigieren." In diesem Falle würde das türkische Ministerium unter die direkte Administration der westlichen Gesandten, das türkische Kriegsministerium unter die Kriegsministerien Englands und Frankreichs und die türkischen Armeen unter den Befehl französischer und englischer Generale gestellt werden. Das Türkische Reich in seiner alten Form hätte dann zu existieren aufgehört. Nach seinem vollständigen „Mißerfolg" in Wien ist Graf Orlow nach St.Petersburg zurückgekehrt und hat „die Versicherung mit sich genommen, daß Österreich undPreußen unter allen Umständen neutral bleiben wollen". Andrerseits wird aus Wien telegraphisch gemeldet, daß im türkischen Ministerium ein Wechsel stattgefunden hat, da der Seraskier1 und der KapudanPascha2 zurückgetreten sind. Die „Times" kann nicht verstehen, wie die
Kriegspartei gerade in dem Augenblick eine Niederlage erleiden konnte, wo Frankreich und England zum Kriege rüsteten. Ich für meinen Teil kann, falls die Nachricht wahr ist, in diesem „von Gott gesandten" Vorfall nur zu gut das Werk des Vertreters des englischen Koalitionskabinetts in Konstantinopel erblicken, den wir in seinen Blaubuchberichten so häufig bedauern sehen, daß „er mit seinem Druck auf das türkische Kabinett nicht so weit gehen könne, als wünschenswert wäre". Das Blaubuch beginnt mit Depeschen, welche sich auf die Forderungen beziehen, die Frankreich hinsichtlich der Heiligen Stätten stellte - Forderungen, die durch die alten Kapitulationen165 ] nicht genügend gestützt und offensichtlich mit der Absicht aufgestellt sind, der römischen Kirche ein Übergewicht über die griechisch-orthodoxe zu verschaffen. Ich teile durchaus nicht die Ansicht Urquharts, wonach der Zar durch geheime Einflüsse in Paris Bonaparte veranlaßt habe, sich in diesen Streit zu stürzen, damit Rußland einen Vorwand habe, sich zugunsten der Privilegien der griechisch-orthodoxen Katholiken einzumischen. Es ist wohlbekannt, daß Bonaparte coüte que coüte1 die Unterstützung der katholischen Partei zu erkaufen suchte, die er von allem Anfang an als die Hauptbedingung des Erfolges seiner Usurpation betrachtete. Bonaparte kannte den Einflüß der katholischen Kirche auf die Bauernbevölkerung Frankreichs sehr genau; die Bauern aber sollten ihn trotz Bourgeoisie und Proletariat zum Kaiser machen. Herr de Falloux, der Jesuit, war das einflußreichste Mitglied des ersten Ministeriums, das Bonaparte bildete und dessen Haupt dem Namen nach Odilon Barrot, der soidisant2 Voltairianer, war. Der erste Beschluß, den dieses Ministerium einen Tag nach Bonapartes Einsetzung zum Präsidenten faßte, war die berühmte Expedition gegen die Römische Republik. Herr de Montalembert, das Haupt der Jesuitenpartei, war das tätigste Werkzeug Bonapartes bei der Vorbereitung zum Sturz des parlamentarischen Regimes und des coup d'etat vom 2.Dezember. 1850 forderte der „Univers", das offizielle Organ der Jesuitenpartei, Tag für Tag die französische Regierung auf, wirksame Schritte zum Schutze der Interessen der römischen Kirche im Orient zu unternehmen. Bonaparte, begierig, dem Papst zu schmeicheln, ihn zu gewinnen und von ihm gekrönt zu werden, hatte alle Ursache, der Aufforderung nachzukommen und sich als der „allerkatholischste"1661 Kaiser von Frankreich aufzuspielen» Die bonapartistische Usurpation ist daher die wahre Quelle der jetzigen orientalischen Verwicklung. Allerdings zog Bonaparte klugerweise seine Ansprüche zurück, sobald er merkte, daß Kaiser Nikolaus sie zum Vorwand nehmen
wollte, ihn aus dem europäischen Konklave auszuschließen, und Rußland brannte wie gewöhnlich darauf, aus Ereignissen Nutzen zu ziehen, die selbst zu schaffen es nicht die Macht hatte, auch wenn Herr Urquhart dies vermutet. Es bleibt jedoch eine höchst merkwürdige Erscheinung in der Weltgeschichte, daß die jetzige Krisis des Ottomanischen Reiches durch den gleichen Konflikt zwischen der römischen und griechisch-orthodoxen Kirche hervorgerufen wurde, der einst den Anstoß zur Gründung dieses Reiches in Europa gab. Ich beabsichtige nicht, den ganzen Inhalt der „Rights and Privileges of the Latin and Greek Churches"t54] zu untersuchen, ehe ich nicht einen höchst wichtigen Vorfall erwähnt habe, der in diesem Blaubuch vollständig unterdrückt ist: den österreichisch-türkischen Streit wegen Montenegro. Es ist um so dringender nötig, dieses Ereignis vorweg zu behandeln, weil dadurch bewiesen wird, daß zwischen Österreich und Rußland ein verabredeter Plan zum Sturz und zur Teilung des Türkischen Reiches existierte, und weil gerade die Tatsache, daß England die nachträglichen Verhandlungen zwischen dem St. Petersburger Hof und der Pforte in die Hände Österreichs legte, ein merkwürdiges Licht auf das Verhalten des englischen Kabinetts während dieser ganzen orientalischen Frage wirft. Da offizielle Dokumente über den montenegrinischen Vorfall fehlen, so verweise ich auf ein Buch von L. F. Simpson über diesen Gegenstand, das soeben erschien und den Titel „Handbook of the Eastern Question" trägt. Die türkische Festung Zabljak (an der montenegrinisch-albanischen Grenze) wurde durch eine Abteilung Montenegriner im Dezember 1852 gestürmt. Man erinnert sich vielleicht, daß Omer Pascha von der Pforte beauftragt wurde, die Angreifer zurückzuschlagen. Die Hohe Pforte erklärte die ganze albanische Küste für blockiert, eine Maßregel, die sich offenbar nur gegen Österreich und seine Flotte richten konnte und die zeigte, daß das türkische Ministerium überzeugt war, Österreich habe die montenegrinische Revolte provoziert. Folgender Artikel, datiert aus Wien, 29. Dezember 1852, erschien darauf in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung":
„Wollte Österreich Montenegro unterstützen, so fruchtete die Blockade wenig. Wenn die Montenegriner von ihren Felsen herabstiegen, könnte ihnen Österreich in Cattaro Waffen und Kriegsbedarf verkaufen oder verschenken, während die ganze türkische Flotte im Adriatischen Meere kreuzte. Österreich hat im Grunde weder Freude an dem jetzigen Einfall der Montenegriner noch an der Revolution, die in der Herzegowina und in Bosnien unter den Christen ausbrechen soll. Es hat stets gegen die Bedrückung der Christen Einsprüche erhoben aus Rücksichten der Humanität. Öster
reich ist gegenüber der orientalischen Kirche zur Neutralität gezwungen. Die Vorgänge in Jerusalem werden jedermann aufgeklärt haben, wie lebhaft im Orient der konfessionelle Haß die Bevölkerungen trennt. Die österreichischen Staatsmänner müssen daher alle Kunst aufbieten, um im eigenen Lande, wo griechische Christen mit römischen untermischt wohnen, den Frieden aufrechtzuerhalten." Aus dem Artikel entnehmen wir erstens, daß Revolutionen der türkischen Christen mit Sicherheit erwartet wurden, zweitens, daß Österreich es war, das den russischen Beschwerden über die Unterdrückung der griechischorthodoxen Kirche den Weg ebnete, drittens, daß man erwartete, in den religiösen Wirren wegen der Heiligen Stätten werde Österreich „Neutralität" üben. In demselben Monat richtete Rußland eine Note an die Pforte, worin es seine Vermittlung in Montenegro anbot, die aber mit der Begründung abgewiesen wurde, daß der Sultan selbst seine Rechte zu wahren wissen werde. Hier sehen wir Rußland genauso operieren wie zur Zeit der griechischen Revolution- zuerst bietet es dem Sultan Schutz gegen seine Untertanen an, mit der Absicht, später des Sultans Untertanen gegen diesen selbst zu schützen, falls seine Hilfe nicht angenommen würde. Die Tatsache, daß selbst zu einem so frühen Zeitpunkt schon zwischen Rußland und Österreich wegen der Okkupation der Fürstentümer Einvernehmen herrschte, geht aus einem anderen Zitat aus der Augsburger „Allgemeinen Zeitung" vom 30.Dezember 1852 hervor. Es lautet:
„Rußland, das erst vor kurzem die Unabhängigkeit Montenegros anerkannt, kann kaum ein untätiger Beobachter der Ereignisse bleiben. Noch mehr. Briefe von Kaufleuten und Reisende aus der Moldau und der Walachei melden, daß das Land von Wolhynien bis zur Mündung des Pruth von russischen Truppen wimmelt und daß ständig Verstärkungen eintreffen." Gleichzeitig kündigten die Wiener Zeitungen an, daß eine österreichische Observationsarmee an der österreichisch-türkischen Grenze zusammengezogen würde. Lord Stanley interpellierte Lord Malmesbury am 6. Dezember 1852 wegen der montenegrinischen Angelegenheiten, und Bonapartes edler Freund gab folgende Erklärung ab:
„Der edle Lord deutete an, er wünsche zu wissen, ob sich in den politischen Beziehungen jenes wilden, an Albanien grenzenden Landes, Montenegro genannt, vor kurzem Änderungen vollzogen haben. Ich glaube, daß sich in den politischen Beziehungen nichts geändert hat. Das Oberhaupt jenes Landes trägt einen zweifachen Titel: es ist das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche in jenem Lande und auch der weltliche Souverän. In kirchlichen Dingen untersteht er der Gerichtsbarkeit des
russischen Kaisers, der als das Oberhaupt der ganzen griechisch-katholischen Kirche gilt. Das Oberhaupt Montenegros pflegte (wie meines Wissens auch alle seine Vorfahren) mit Sanktion und Anerkennung des Kaisers seine bischöfliche Gerichtsbarkeit und Titel zu erhalten. Was die Unabhängigkeit jenes Landes anbelangt, so bleibt, was auch immer verschiedene Personen zu den Vorteilen einer solchen Stellung meinen mögen, die Tatsache, daß Montenegro fast 150 Jahre hindurch unabhängig war und daß alle Versuche der Pforte, es zu unterjochen, einer nach dem andren fehlschlugen und die Stellung des Landes heute die gleiche wie vor 200 Jahren ist."
In dieser Rede zergliedert Lord Malmesbury, der damalige Minister der auswärtigen Angelegenheiten in der Tory-Regierung, in aller Ruhe das Ottomanische Reich und trennt ein Land davon ab, das immer dazu gehört hat, indem er gleichzeitig die geistlichen Ansprüche des russischen Kaisers auf die Untertanen der Pforte anerkennt. Was soll man von diesen zwei Oligarchencliquen andres sagen, als daß sie beide an Dummheit miteinander wetteifern? Die Pforte war natürlich durch diese Rede eines britischen Ministers ernstlich beunruhigt, und kurz darauf erschien in einem englischen Blatt folgender Brief aus Konstantinopel, datiert vom 5. Januar 1853:
„Die Pforte ist außerordentlich irritiert durch die Erklärung des Lord Malmesbury im Oberhaus, in der er Montenegro als unabhängig bezeichnet. Er spielte damit Rußland und Österreich in die Hände, und England wird dadurch jenen Einfluß und jenes Vertrauen verlieren, das es bis jetzt genoß. Im ersten Artikel des Vertrags von Sistowo, der zwischen der Pforte und Österreich (mit Vermittlung Englands, Rußlands und Hollands) 1791 geschlossen wurde, ist ausdrücklich festgesetzt, daß den Untertanen beider Mächte, die sich gegen ihre rechtmäßigen Herrscher erhoben hatten, eine Amnestie gewährt werden möge, nämlich denSerben, Montenegrinern, Moldauern und Walachen. Die in Konstantinopel lebenden Montenegriner, etwa 2000 bis 3000 an der Zahl, bezahlen den Charadsch oder die Kopfsteuer, und bei Gerichtsverfahren gegen Untertanen anderer Mächte in Konstantinopel werden die Montenegriner immer ohne jeden Einwand als türkische Untertanen betrachtet und behandelt." Anfang Januar 1853 sandte die österreichische Regierung Baron Kellner von Köllenstein, einen Adjutanten des Kaisers, nach Cattaro, um den Gang der Ereignisse zu verfolgen, während Herr Oserow, der russische Geschäftsträger in Konstantinopel, Protest beim Diwan gegen die Konzessionen einlegte, die den Katholiken in der Frage der Heiligen Stätten gemacht worden waren. Ende Januar traf Graf Leiningen in Konstantinopel ein, und am 3. Februar wurde ihm eine Privataudienz beim Sultan gewährt, dem er einen Brief des österreichischen Kaisers überbrachte. Die Pforte weigerte sich, seine Forderungen zu erfüllen, und Graf Leiningen stellte darauf ein Ulti~
matum, das der Pforte vier Tage Zeit zur Antwort ließ. Die Pforte stellte sich sofort unter den Schutz Englands und Frankreichs, die ihr aber keinen Schutz gewährten, während Graf Leiningen deren Vermittlungen ablehnte. Am 15. Februar hatte er alles erreicht, was er verlangt hatte (ausgenommen den Artikel III), und sein Ultimatum war angenommen. Es enthielt die folgenden Artikel: „I. Unverzügliche Räumung Montenegros und Herstellung des Status quo ante bellum1. II. Eine Erklärung, durch welche die Pforte sich verpflichten soll, den Status quo der Gebiete Kleck und Sutorina aufrechtzuerhalten und das mare clausuni2 zugunsten Österreichs anzuerkennen. III. Eine strenge Untersuchung der aus muselmanischem Fanatismus gegen die Christen in Bosnien und der Herzegowina begangenen Taten einzuleiten. IV. Die Entfernung aller politischen Flüchtlinge und Renegaten, die sich jetzt in den an die österreichische Grenze anstoßenden Provinzen aufhalten. V. Eine Entschädigung von 200000 Gulden an jene österreichischen Kaufleute, deren Verträge willkürlich aufgehoben worden waren, und die Einhaltung dieser Verträge für die ganze Zeit, auf die sie vereinbart wurden. VI. Eine Entschädigung von 50000 Gulden an einen Kaufmann, dessen Schiff und Ladung ungerechterweise konfisziert worden war. VII. Errichtung zahlreicher Konsulate in Bosnien, Serbien, der Herzegowina und über ganz Rumelien. VIII. Mißbilligung der Haltung in der Flüchtlingsfrage im Jahre 1850."
Bevor sie in dieses Ultimatum einwilligte, richtete die Ottomanische Pforte, wie Herr Simpson berichtet, eine Note an die Gesandten von England und Frankreich, in der sie von ihnen das Versprechen verlangte, ihr im Falle eines Krieges mit Österreich wirksame Hilfe zu leisten. „Da die beiden Gesandten nicht in der Lage waren, sich in bestimmter Form zu binden", gab die türkische Regierung dem energischen Vorgehen des Grafen Leiningen nach. Am 28. Februar trafen Graf Leiningen in Wien und Fürst Menschikow in Konstantinopel ein. Am 3. März hatte Lord John Russell die Unverschämtheit, als Antwort auf eine Interpellation von Lord Dudley Stuart zu erklären, daß „auf die Vorstellungen bei der österreichischen Regierung mit der Versicherung geantwortet worden sei, letztere vertrete die gleichen Ansichten über diesen Gegenstand wie die englische Regierung; und obgleich er nicht die genauen Punkte des getroffenen Übereinkommens nennen könne, so sei doch die Intervention Frankreichs und Eng»
lands erfolgreich gewesen, und er sei überzeugt, daß die jüngsten Differenzen nun behoben seien. Der von England eingeschlagene Kurs sei darauf gerichtet gewesen, der Türkei solchen Rat zu geben, der ihre Ehre und Unabhängigkeit erhalte... Er für seinen Teil denke, daß aus Gründen der Gerechtigkeit, des internationalen Rechts, der Treue zu unserem Alliierten wie auch aus Gründen der allgemeinen Politik und Zweckdienlichkeit in erster Linie die Erhaltung der Integrität und der Unabhängigkeit der Türkei die Politik Englands beherrsche Karl Marx
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Die Kriegsfrage in Europa
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4019 vom 6. März 1854, Leitartikel] Obwohl uns die Ankunft der „Nashville" nicht in den Besitz wesentlich neuer Nachrichten vom Kriegsschauplatz bringt, setzt sie uns doch von einer Tatsache in Kenntnis, die für den gegenwärtigen Stand der Dinge von großer Bedeutung ist. Jetzt nämlich, in letzter Stunde, da die russischen Gesandten Paris und London verlassen haben, da der britische und der französische Botschafter aus St.Petersburg abberufen wurden, da die See- und Landstreitmacht Frankreichs und Englands bereits für direkte Kriegshandlungen zusammengezogen wird - in diesem letzten Augenblick unterbreiten die beiden westlichen Regierungen neue Verhandlungsvorschläge, in denen sie beinahe allem zustimmen, was Rußland will. Man wird sich erinnern, daß die Hauptforderung Rußlands war, man solle ihm das Recht zuerkennen, den Streit, der, wie es behauptete, nur Rußland und die Türkei etwas angehe, mit der Pforte unmittelbar, ohne die Einmischung anderer Mächte, beizulegen. Dieses Recht wurde jetzt den Russen zugestanden. Die Vorschläge, die der Brief Napoleons[68], den wir an anderer Stelle wiedergeben, enthält, besagen, daß Rußland direkt mit der Türkei verhandeln, der zwischen beiden Parteien abzuschließende Vertrag jedoch von den vier Mächten garantiert werden soll. Diese Garantie ist die Kehrseite der Konzession, da sie den Westmächten einen bequemen Vorwand bietet, sich in jeden zukünftigen Streit gleicher Art einzumischen. Aber dadurch kann Rußlands Lage nicht schlimmer werden, als sie jetzt ist, da Kaiser Nikolaus einsehen muß, daß er keinen Versuch zur Zerstückelung der Türkei unternehmen kann, ohne einen Krieg mit England und Frankreich zu riskieren. Und außerdem wird der tatsächliche Gewinn Rußlands vom Charakter des Vertrages abhängen, der noch nicht abgeschlossen ist; Rußland, das nun gesehen hat, wie feige die West
mächte vor einem Krieg zurückweichen, braucht seine Armeen nur weiter in Bereitschaft zu halten und sein System der Einschüchterung fortzuführen, um jeden Punkt der Verhandlungen zu gewinnen. Außerdem braucht die russische Diplomatie kaum den Kampf mit den vortrefflichen Gesandten zu fürchten, die die berühmte erste Wiener Note1691 zusammenschusterten. Ob jedoch der Zar diesen Vorschlag annehmen oder sich auf seine Armee verlassen wird, bleibt noch abzuwarten. Er kann es sich nicht leisten, alle fünf Jahre einmal solche Rüstungen und Truppenverschiebungen in seinem gewaltigen Reich durchzuführen. Die Vorbereitungen sind in so großem Maßstab getroffen worden, daß nur ein sehr wesentlicher materieller Gewinn die Kosten decken kann. Die russische Bevölkerung ist gründlich in Kriegsbegeisterung versetzt worden. Wir haben die Kopie eines Briefes gesehen, den ein russischer Kaufmann geschrieben hat - nicht einer der vielen deutschen, englischen oder französischen Händler, die sich in Moskau niedergelassen haben, sondern wirklich ein alter Moskauer, ein echter Sohn der Swjataja Rus1, der einige Waren für englische Rechnung in Kommission hat und gefragt worden war, ob im Falle eines Krieges die Gefahr bestünde, daß diese Waren konfisziert werden. Der alte Russe, ganz entrüstet darüber, daß seiner Regierung so etwas zugetraut werde, und mit der offiziellen Phraseologie sehr gut vertraut, wonach Rußland, im Gegensatz zu den revolutionären sozialistischen Ländern des Westens, der große Verfechter von „Ordnung, Eigentum, Familie und Religion" ist, erwidert, daß
„hier in Rußland, Gott sei gelobt, die Unterscheidung zwischen mein und dein noch in voller Kraft und Ihr Besitz hier sicher ist, wie sonst nirgendwo. Ich würde Ihnen sogar raten, soviel wie möglich von Ihrem Eigentum hierherzusenden, denn hier wird es vielleicht sicherer sein als da, wo es sich jetzt befindet. Sie könnten vielleicht Grund zu Befürchtungen für Ihre Landsleute haben, aber keineswegs für Ihr Eigentum." Mittlerweile haben die Kriegsvorbereitungen in England und Frankreich ein äußerst großes Ausmaß erreicht. Das französische Ozeangeschwader wurde von Brest nach Toulon beordert, um Truppen nach der Levante zu transportieren. Unterschiedlichen Berichten zufolge sollen vierzig- oder sechzigtausend Mann abtransportiert werden, von denen ein großer Teil aus der afrikanischen Armee kommt. Die Expedition wird besonders starke Schützenregimenter haben und entweder von Baraguay d'Hilliers oder Saint-Arnaud befehligt werden. Die britische Regierung wird ungefähr 18000 Mann entsenden (22 Regimenter zu je 850 Mann), und an dem Tag, da wir unsere letzten Nachrichten erhielten, war ein Teil davon bereits nach Malta ein
1 Heiligen Rus
7 Marx/Engels, Werke, Band 10
geschifft worden, wo der allgemeine Sammelplatz sein soll. Die Infanterie wird mit Dampfschiffen transportiert, und für den Transport der Kavallerie'sind Segelschiffe eingesetzt. Die Ostseeflotte, die am 6. März auf der Themse, in der Nähe von Sheerness, konzentriert werden soll, wird aus fünfzehn Linienschiffen, acht Fregatten und siebzehn kleineren Schiffen bestehen. Das ist die größte Flotte, die die Briten seit dem letzten Kriege zusammengebracht haben, und da die Hälfte davon aus Rad- oder Schraubendampfern bestehen wird und deren Einsatzkraft und Wasserverdrängung gegenwärtig ungefähr um 50 Prozent höher liegen als vor fünfzig Jahren, ist die Ostseeflotte womöglich die stärkste Seestreitmacht, die je ein Land geschaffen hat. Sir Charles Napier soll sie befehligen; sollte es Krieg geben, ist er der Mann, der seine Kanonen sofort auf den entscheidenden Punkt richten wird. An der Donau hat die Schlacht von Cetate offensichtlich eine Verzögerung des russischen Angriffs auf Kalafat bewirkt. Dieser fünftägige Kampf hat die Russen davon überzeugt, daß es nicht leicht sein wird, ein befestigtes Lager zu nehmen, das solche Ausfälle unternehmen kann. Sogar der ausdrückliche Befehl des Autokraten selber scheint nicht zu genügen, um seine Truppen nach solch einem Vorgeschmack zu einem übereilten Angriff zu zwingen. Die Anwesenheit General Schilders, des Chefs der Genietruppe, der eigens aus Warschau geschickt wurde, scheint sogar ein dem kaiserlichen Befehl entgegengesetztes Ergebnis erbracht zu haben, denn statt den Angriff zu beschleunigen, genügte ihm die Inspizierung der Befestigungen aus einiger Entfernung, um sich zu überzeugen, daß mehr Truppen und schwere Geschütze benötigt würden, als sofort zusammengebracht werden könnten. Deshalb ziehen die Russen seit einiger Zeit soviel Truppen wie möglich um Kalafat zusammen und schaffen ihre Belagerungsgeschütze heran, von denen sie zweiundsiebzig Stück in die Walachei gebracht haben sollen. Die „London Times" schätzt ihre Truppen auf 65000 Mann, was etwas hoch ist, wenn wir die Stärke der gesamten russischen Armee in den Fürstentümern in Betracht ziehen. Diese Armee besteht jetzt aus sechs Divisionen Infanterie, drei Divisionen Kavallerie und ungefähr dreihundert Feldgeschützen neben Kosaken, Schützen und anderen Spezialtruppen in einer vor Beginn des Krieges mit 120000 Mann angegebenen Gesamtstärke. Angenommen, ihre Verluste durch Krankheit und auf dem Schlachtfeld betragen 30000 Mann, dann bleiben ungefähr 90000 Kampffähige. Davon werden mindestens 35000 gebraucht, um die Donaulinie zu schützen, die wichtigsten Städte besetzt zu halten und die Kommunikationen zu sichern. Für einen Angriff auf Kalafat blieben also allerhöchstens 55000 Mann übrig.
Betrachten Sie nun die Positionen der beiden Armeen. Die Russen vernachlässigen die ganze Donaulinie, lassen die Stellung Omer Paschas bei Schumla außer acht und lenken ihre Hauptkräfte und selbst ihre schwere Artillerie auf einen Punkt an ihrem äußersten rechten Flügel, wo sie weiter von Bukarest, ihrer unmittelbaren Operationsbasis, entfernt sind als die Türken. Ihr Rücken ist deshalb so sehr, wie nur denkbar, entblößt. Noch schlimmer ist, daß sie, um überhaupt etwas Rückendeckung zu haben, gezwungen sind, ihre Kräfte zu teilen und mit einer Streitmacht vor Kalafat zu erscheinen, die in keiner Weise so offensichtlich überlegen ist, daß sie einen Sieg garantieren und damit ein solches Manöver rechtfertigen könnte. Sie lassen an dreißig bis vierzig Prozent ihrer Armee verstreut hinter den Hauptkräften, und diese Truppen sind gewiß nicht in der Lage, einen entschlossenen Angriff zurückzuschlagen. Folglich ist weder die Eroberung Kalafats gesichert, noch sind die Kommunikationen der Belagerungsarmee außerhalb des Gefahrenbereichs. Der Schnitzer ist so offenkundig, so kolossal, daß nur die absolute Gewißheit der Tatsache einen Militär zwingen kann, zu glauben, daß er begangen wurde. Wenn Omer Pascha, der immer noch über die stärkeren Kräfte verfügt, die Donau an einem Punkt zwischen Rustschuk und Hirsowa mit, sagen wir, siebzigtausend Mann überschreitet, so muß die russische Armee entweder bis zum letzten Mann vernichtet werden oder in Österreich Zuflucht suchen. Er hatte einen vollen Monat Zeit, solch eine Masse zu konzentrieren. Warum geht er nicht über einen Fluß, der nicht mehr durch Treibeis unpassierbar gemacht wird? Warum nimmt er nicht einmal seinen Brückenkopf bei Oltenitza wieder ein, um sich von hier aus jederzeit in Marsch setzen zu können? Es ist unmöglich, daß Omer Pascha die Möglichkeiten nicht erkennt, die die Russen ihm durch ihren beispiellosen Schnitzer geboten haben. Wie es scheint, müssen ihm die Hände durch die Diplomatie gebunden sein. Seine Untätigkeit muß als Gegenleistung angesehen werden für die Spazierfahrt der vereinigten Flotten im Schwarzen Meer. Die russische Armee darf nicht vernichtet oder gezwungen werden, Zuflucht in Österreich zu suchen, weil sonst ein Frieden durch neue Komplikationen gefährdet würde. Und um dieser Intrigen und gewissenlosen Tätigkeit diplomatischer Spekulanten willen muß es Omer Pascha zulassen, daß die Russen Kalafat bombardieren, daß sie ihre ganze Armee, ihre gesamte Belagerungsartillerie seiner Gnade ausliefern, während ihm nicht erlaubt ist, diese Gelegenheit auszunutzen. In der Tat, der russische Befehlshaber hätte wohl niemals versucht, auf Kalafat zu marschieren, wenn er nicht wirklich die bestimmte Garantie dafür gehabt hätte, daß er in den Flanken und im Rücken nicht angegriffen wird. Andern
falls hätte er es trotz aller strengen Anweisungen verdient, auf der Stelle verurteilt und erschossen zu werden. Und wenn wir nicht durch den jetzt hier fälligen Dampfer oder spätestens in einigen Tage erfahren, daß Omer Pascha die Donau überschritten hat und auf Bukarest marschiert, erscheint die Schlußfolgerung kaum vermeidlich, daß die Westmächte ein regelrechtes Übereinkommen getroffen haben, Kalafat zu opfern, um den militärischen Ehrgeiz der Russen zu befriedigen, ohne den Türken zu erlauben, es auf die einzig wirksame Weise zu verteidigen - durch eine Offensivbewegung weiter unten an der Donau.t?0]
Geschrieben am 13. Februar 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Erklärung des preußischen Kabinetts Napoleons Pläne - Die Politik Preußens]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4022 vom 9. März 1854, Leitartikel] Wir haben aus überaus glaubwürdiger Quelle1713 in London folgende Nachricht erhalten, die, sollte sie sich bestätigen, von größter Bedeutung ist und die in den europäischen Zeitungen nur zu einem Teil, und dabei noch in einseitiger und entstellter Form, erschienen ist: 1. Am 3. Februar wurde folgende Erklärung des preußischen Kabinetts nach Paris und London abgesandt:
„ 1. Da die Erklärungen des Grafen Orlow keinerlei Zweifel übriglassen, daß jeder weitere Vermittlungsversuch beim St. Petersburger Kabinett vergeblich wäre, so zieht Preußen hiermit seine Vermittlung, zu der keine fernere Veranlassung vorliegt, zurück. 2. Da die formellen und bindenden Neutralitätsvorschläge des Grafen Orlow auf absolute Ablehnung gestoßen sind, die ihm in einer Note mitgeteilt wurde, sei Preußen entschlossen, auch ohne die Mitwirkung Österreichs, seinerseits strikteste Neutralität zu beobachten, der es, sowie die geeigneten Umstände eingetreten, durch eine angemessene Bewaffnung Nachdruck zu geben wissen werde. 3. Ob Preußen gemeinschaftlich mit Österreich eine allgemeine Bewaffnung des Deutschen Bundes beantragen wird, hängt von dem Verhalten der Seemächte gegen Deutschland ab."
II. Louis-Napoleon hat einen Bevollmächtigten (Herrn Brenier) mit folgender Botschaft an den König von Piemont1 und Herrn Cavour nach Turin geschickt: Es sollen zu gegebener Zeit in Parma, Piacenza, Guastalla und Modena aufständische Bewegungen ausbrechen. Sardinien möge dann jene Länder besetzen, deren jetzt regierende Fürsten verjagt werden sollen. Napoleon
garantiere dem König die Vereinigung der ersten drei Fürstentümer und vielleicht auch Modenas mit Sardinien; für diese Gebiete sei die Grafschaft Savoyen an Frankreich abzutreten. Man könne sagen, daß England sich mit diesem Plan, obwohl ungern und mit schwerem Herzen, so gut wie einverstanden erklärt hat. Darauf setzte Herr Brenier seine Reise durch Italien fort, bis er Neapel erreichte, wo seine Ankunft einen „höchst peinlichen Eindruck" erweckte. Er hat den Auftrag, einen italienischen Aufstand vorzubereiten, da Napoleon ernsthaft überzeugt ist, daß er der Mann ist, Italien nicht nur in Brand zu setzen, sondern auch genau den Strich zu ziehen, den die Flamme nicht überschreiten darf. & schlägt vor, folgende Armeen zusammenzuziehen: 1. 100000 Mann an der savoyischen Grenze. 2. 60000 Mann zu Metz. 3. 80000 Mann zu Straßburg.
III. Preußen hat gegen die Zusammenziehung einer französischen Armee von 100000 Mann an der Grenze Savoyens nichts einzuwenden, betrachtet aber die Konzentration einer Armee zu Metz und einer zweiten zu Straßburg als eine unmittelbar gegen sich gerichtete Drohung. Es sieht bereits Baden, Hessen, Württemberg etc. in vollem Aufstand und einige 100000 Bauern vom Süden Deutschlands her auf seine eigenen Grenzen marschieren. Es hat deshalb gegen diese zwei Maßnahmen protestiert, und auf diese mögliche Lage bezieht sich denn auch Abschnitt 3 der preußischen Erklärung. Preußen wird jedenfalls seine Armee bis gegen oder vielleicht noch vor Ende März mobil machen. Es beabsichtigt, je nach den Umständen 200000 bis 300000 Mann einzuberufen. Sollte jedoch Napoleon auf seinem Entschluß beharren, die beiden Armeen zu Metz und Straßburg aufzustellen, so hat die preußische Regierung bereits beschlossen, ihre Armee auf 500000 Mann zu erhöhen. Im Berliner Kabinett, wo der König und die meisten seiner Minister die russische Partei ergriffen haben und Manteuffel allein, unterstützt von dem Prinzen von Preußen, die Neutralitätserklärung durchgesetzt hat (Manteuffel schlug ursprünglich eine formelle Allianz mit England vor), sollen Furcht und Verwirrung herrschen. Es liegt bereits ein formeller Kabinettsbeschluß1 vor, wonach unter gewissen Umständen alle bekannteren Demokraten der Monarchie und vor allem Rheinpreußens in einer Nacht verhaftet und nach den östlichen Festungen transportiert werden sollen, um sie daran zu hindern, die Umsturzpläne Napoleons (ü)1 zu begünstigen oder überhaupt Volks
bewegungen zu erzeugen. Es ist beabsichtigt, zu dieser Maßregel sofort zu schreiten, wenn italienische Unruhen ausbrechen sollten oder wenn Napoleon die beiden Armeen in Metz und Straßburg zusammenzieht. Dieser Beschluß ist, wie uns versichert wird, einstimmig gefaßt worden, obgleich nicht alle Eventualitäten bestimmt wurden, unter denen es das Kabinett für angebracht halten könnte, zu seiner Ausführung zu schreiten.
Geschrieben am 17. Februar 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
Parlamentsdebatten[72]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4022 vom 9. März 1854] London, Dienstag, 2I.Februar 1854. Dem Parlament sind die Veranschlagungen für Armee und Flotte vorgelegt worden. Für die Armee wird eine Mannschaftsstärke von insgesamt 112977 Mann für das kommende Jahr gefordert, eine Erhöhung um 10694 Mann gegenüber dem vergangenen Jahr. Die Gesamtausgaben für die Landstreitkräfte im In- und Auslandsdienst betragen für das am 3I.März 1855 endende Jahr, abgesehen von den Kosten für die australischen Kolonien und den der Ostindischen Kompanie übertragenen Kosten, 3 923 288 Pfd. St. Die Gesamtsumme beträgt 4877925 Pfd. St. für 5719 Offiziere, 9956 Unteroffiziere und 126925 Soldaten. Die Ausgaben für die Flotte für das am 3I.März 1855 endende Jahr sind für den aktiven Dienst mit insgesamt 5 979866 Pfd. St. veranschlagt; das bedeutet eine Erhöhung um 1 172446 Pfd. St. gegenüber dem letzten Jahr. Die Kosten für den Transport der Truppen und das Feldzeugamt betragen 225 050 Pfd. St., was eine Erhöhung um 72100 Pfd. St. bedeutet. Die Gesamtsumme für das Jahr beläuft sich auf 7447948 Pfd. St. Die Mannschaften werden aus 41000 Matrosen, 2000 Schiffsjungen und 15500 Marinesoldaten bestehen; das sind insgesamt 58616 Mann einschließlich 116 Mann Hilfspersonal. Herr Layard hatte am Abend des vergangenen Freitag angekündigt, er beabsichtige, die Aufmerksamkeit auf die orientalische Frage zu lenken; er ergriff gerade in dem Augenblick das Wort, als der Speaker seinen Platz verlassen wollte, damit das Haus die Veranschlagungen für die Flotte beraten könne.[73] Kurz nach 4 Uhr waren alle Galerien überfüllt, und um 5 Uhr war das Haus versammelt. Zwei lange Stunden wurden zum offensichtlichen Verdruß der Mitglieder des Hauses und des Publikums mit nichtssagenden
Reden über Kleinigkeiten totgeschlagen. So sehr war die Neugier der ehrenwerten Herren erregt worden, daß sie das Abendessen bis 8 Uhr hinausschoben, um der Eröffnung der großen Debatte beizuwohnen - eine seltene Erscheinung im parlamentarischen Leben der Mitglieder des Unterhauses. Herr Layard, dessen Rede ständig von Beifallsrufen unterbrochen wurde, begann mit der Erklärung, die Regierung habe die Mitglieder des Parlaments in eine so außergewöhnliche Situation gebracht, daß es schwierig für diese sei, ihren Standpunkt festzulegen. Bevor sie über die geforderten Bewilligungen abstimmen könnten, sei es die Pflicht der Regierung, zu erklären, was sie zu tun gedenke. Doch ehe er die Regierung hiernach befrage, möchte er wissen, was sie bereits getan habe. Er habe schon im vergangenen Jahr gesagt, daß die Regierung nicht in den Krieg hineingeraten wäre, hätte sie einen Ton angeschlagen, der dieses Landes würdiger ist; auch nach sorgfältiger Durchsicht der kürzlich herausgegebenen umfangreichen Blaubücher habe er keine Ursache, seine Ansichten zu ändern. Aus dem Vergleich des Inhalts mehrerer Depeschen von verschiedenen Seiten folgerte er, daß das Ministerium sehr hervorstechende Tatsachen übersehen, völlig unmißverständliche Tendenzen mißverstanden und ganz offenkundig trügerischen Versicherungen geglaubt "habe. Er erklärte, die Tragödie von Sinope habe die Ehre Englands befleckt, und forderte eine ausreichende Erklärung, wobei er an Hand der veröffentlichten Dokumente bewies, daß die Admirale der vereinigten Flotten die Katastrophe hätten vermeiden können oder die Türken sie selbst verhindert hätten, wären nicht die ängstlichen und unentschlossenen Instruktionen der britischen Regierung gewesen. Aus ihren jüngsten Erklärungen schließe er, daß sie nach wie vor auf der Grundlage des Status quo ante bellum1 verhandeln wolle; diesen mutmaßlichen Schritt mißbillige er. Er ermahnte die Regierung, ihre Pflicht zu erfüllen in der Gewißheit, daß das englische Volk die seine erfüllen werde. Sir James Graham antwortete ihm mit der bei ihm bekannten Unverschämtheit, sie sollten entweder den Ministern vertrauen oder sie absetzen. Doch „lassen Sie uns inzwischen nicht über Blaubücher müßige Reden führen \ Die Regierung wäre von Rußland, einem alten und treuen Alliierten Großbritanniens, betrogen worden, doch „finsterer, verderblicher Argwohn schlägt nicht so bald Wurzeln in großmütigen Geistern". Dieser alte Fuchs, Sir Robert Peels „gemeiner Laufbursche", der Mörder der BandierasI74J, war wirklich reizend in seinem „großmütigen Geist" und seiner „Abneigung gegen den Argwohn".
Dann traten Lord Jocelyn und Lord Dudley Stuart auf, deren Reden die Blätter am nächsten Tage füllten, das Haus jedoch an diesem Abend leerten. Es folgte Herr Roebuck, der damit begann, das Verhalten der Minister in einer heiklen Situation zu verteidigen, aber mit der Erklärung endete, daß es nun Zeit für das Ministerium wäre, offen auszusprechen, was es zu tun gedenke. Unter dem Vorwand, auf diese Frage antworten zu wollen, erhob sich Lord John Russell und rekapitulierte in apologetischer Weise die Geschichte der jüngsten Streitigkeiten, und als er sah, daß das nicht genügte, tat er, als wolle er ihnen erzählen, „was das Ministerium zu tun gedenke"; doch darüber war er sich wohl selbst nicht ganz im klaren. Nach seinen Worten wäre es nicht durch den Abschluß eines Vertrags, sondern durch einen Notenaustausch eine Art Allianz mit Frankreich eingegangen. England und Frankreich schlügen der Türkei jetzt auch so etwas wie einen Vertrag vor, wonach die Pforte ohne ihre Einwilligung nicht um Frieden ersuchen dürfe. Die Regierung sei durch die unbeschreibliche Gemeinheit des Zaren grausam überrumpelt worden. Er (Russell) habe die Hoffnung aufgegeben, daß der Frieden erhalten werden könne. Sie müßten wahrscheinlich in den Krieg eintreten. Demzufolge brauche er ungefähr 3 Millionen Pfd. St. mehr als im letzten Jahr. Geheimhaltung sei eine Bedingung für den Erfolg im Kriege, und deshalb könne er ihnen nicht sofort sagen, was die Regierung im Kriegsfalle unternehmen werde. Da der letzte oder besser theatralische Teil seiner Rede mit großer Lautstärke und viel moralischer Entrüstung über den Zaren, „den Schlächter", vorgetragen wurde, gab es gewaltigen Beifall, und das Haus war in seiner Begeisterung nahe dran, den Veranschlagungen zuzustimmen, als Herr Disraeli eingriff und erreichte, daß die Debatte auf Montag abend vertagt wurde. Die Debatten wurden gestern abend wieder aufgenommen und erst um 2 Uhr morgens beendet. Zuerst erhob sich Herr Cobden, wobei er versprach, sich streng auf die vorliegenden praktischen Fragen zu beschränken. Er gab sich viel Mühe, an Hand der Blaubücher zu beweisen, was von niemandem bestritten wurde, daß nämlich die französische Regierung „diesen bedauerlichen Streit" verursacht habe durch die Mission des Herrn Lavalette hinsichtlich der Heiligen Stätten und die Zugeständnisse, die der Pforte abgerungen wurden.1751 Der französische Präsident, der zu jener Zeit einige Aussicht hatte, Kaiser zu werden, hatte vermutlich den Wunsch, aus diesen an die Türkei im Namen der römisch-katholischen Christen gestellten Forderungen ein wenig politisches Kapital zu schlagen. Deshalb können die ersten Schritte Rußlands auf das Vorgehen Frankreichs in dieser Frage zurückgeführt werden. Daß die Wiener
Note nicht unterzeichnet wurde, sei die Schuld der Alliierten, nicht der türkischen Regierung gewesen, denn die Pforte hätte sie sofort unterzeichnet, wenn man ihr mit dem Abzug der Flotte aus Besikabai gedroht hätte. Wir gehen in einen Krieg, weil wir von der Türkei verlangt haben, daß sie es in einer Note an Rußland ablehne, ihm das zuzusichern, was wir für uns selbst von ihr verlangen wollten, nämlich die Garantie für eine bessere Behandlung der Christen. Die riesige Mehrheit der Bevölkerung des Ottomanischen Reiches erwarte begierig den Erfolg gerade jener Politik, die.Rußland jetzt betreibe (wie jetzt zum Beispiel in der Moldau und der Walachei). Er könne gerade an Hand der Blaubücher beweisen, daß die Kränkungen und Repressalien, denen diese christliche Bevölkerung ausgesetzt sei, nicht geduldet werden könnten - wobei er sich hauptsächlich auf Depeschen Lord Ciarendons beziehe, die offenkundig in der Absicht geschrieben wurden, dem Zaren einen Gefallen zu erweisen. In einer dieser Depeschen schreibt Lord Clarendon: „Die Pforte muß sich für die Beibehaltung eines irrigen religiösen Grundsatzes oder den Verlust der Sympathie und Hilfe seiner Alliierten entscheiden." Dies veranlaßte Herrn Cobden zu fragen: „Halte es das Haus für möglich, daß eine Bevölkerung wie die fanatischen Muselmanen ihre Religion aufgebe? Und ohne die vollständige Aufgabe der Gebote des Korans sei es absolut unmöglich, die Christen der Türkei den Türken gleichzustellen." Wir können ebensogut Herrn Cobden fragen, ob es bei der bestehenden Staatskirche und den geltenden Gesetzen Englands möglich sei, die englischen Arbeiter den Cobden und Bright gleichzustellen. Weiter bemühte sich Herr Cobden, an Hand der Briefe Lord Stratford de Redcliffes und der britischen Konsularagenten zu beweisen, daß unter der christlichen Bevölkerung der Türkei allgemeine Unzufriedenheit herrsche, die drohe, in einem allgemeinen Aufstand zu enden. Wir erlauben uns, Herrn Cobden wiederum zu fragen, ob es nicht unter edlen Völkern Europas eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Regierungen und herrschenden Klassen gebe, eine Unzufriedenheit, die bald in einer allgemeinen Revolution zu enden droht? Wenn - wie in der Türkei - in Deutschland, Italien, Frankreich oder gar Großbritannien eine fremde Armee eingefallen wäre, die ihren Regierungen feindlich gesonnen ist und das aufrührerische Verlangen entfesselt -, wäre dann eines dieser Länder so lange ruhig geblieben wie die christliche Bevölkerung der Türkei? England, das in einen Krieg zur Verteidigung der Türkei eintrete, schloß
Herr Cobden, kämpfe für die Herrschaft der türkischen Bevölkerung des Ottomanischen Reiches und gegen die Interessen der Mehrheit des Volkes jenes Landes. Zwischen der russischen Armee einerseits und der türkischen Armee andrerseits herrsche ein rein religiöser Streit. Alle seine Interessen verbänden England mit Rußland. Das Ausmaß seines Handels mit Rußland sei gewaltig. Wenn der Exporthandel nach Rußland lediglich 2 Millionen Pfd. St. betrage, so sei dies nur das vorübergehende Ergebnis dessen, daß Rußland noch den Schutzzollillusionen anhänge. Dennoch betrage der Import aus Rußland 13 Millionen Pfd.St. Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten gäbe es kein anderes Land, mit dem es einen so bedeutenden Handel führe wie mit Rußland. Wenn England sich zum Kriege rüste, warum sende es dann Landstreitkräfte nach der Türkei, anstatt ausschließlich seine Flotte einzusetzen? Wenn die Zeit für den Kampf zwischen Kosakentum und Republikanertum gekommen sei, warum blieben dann Preußen, Österreich, die übrigen deutschen Staaten, Belgien, Holland, Schweden und Dänemark neutral, während Frankreich und England allein kämpfen müßten? Wenn dies eine Frage von europäischer Bedeutung sei, sollte man da nicht annehmen, daß, wer der Gefahr am nächsten wäre, als erster in den Kampf ziehen müßte? Zum Schluß erklärte Herr Cobden, „er sei gegen den Krieg mit Rußland". Seiner Meinung nach „wäre es das beste, auf die Wiener Note zurückzukommen". Lord John Manners war der Meinung, die Regierung sei wegen ihrer Untätigkeit und gefährlichen Sorglosigkeit zu tadeln. Die ursprünglichen Mitteilungen Lord Ciarendons an die Regierungen Rußlands, Frankreichs und der Türkei, in denen dieser, statt mit Frankreich gemeinsam zu handeln, eine solche Zusammenarbeit hartnäckig ablehnte und die russische Regierung wissen ließ, daß England nicht mit Frankreich gehen werde, hätten den Kaiser von Rußland bewogen, Fürst Menschikow Anweisungen zu geben, die zu der ganzen Katastrophe geführt hätten. Kein Wunder, daß die französische Regierung, als England schließlich seine Absicht kundgab, in Konstantinopel tatsächlich etwas zu unternehmen, einige Zweifel an der Aufrichtigkeit der Regierung Ihrer Majestät habe hegen müssen. Nicht England habe der Pforte geraten, das Ultimatum des Fürsten Menschikow abzulehnen, im Gegenteil, die Minister des Sultans handelten auf eigene Gefahr und ohne jede Hoffnung auf die Hilfe Englands. Die anhaltenden diplomatischen Verhandlungen der britischen Regierung nach der Besetzung der Fürstentümer durch die Russen seien den Interessen der Türkei sehr nachteilig und denen der Russen sehr dienlich gewesen. Rußland habe von den Fürstentümern ohne Kriegserklärung Besitz ergriffen, um die Aufhebung jener Verträge zu
vermeiden, die ihm als tatsächliches Instrument zur Unterdrückung der Türkei dienten. Folglich sei es, nachdem die Türkei den Krieg erklärt hatte, unklug gewesen, auf der Erneuerung jener Verträge als Verhandlungsbasis zu bestehen. Die wichtigste und wirklich brennendste Frage sei jetzt, welche Ziele die Regierung mit ihrer Beteiligung an diesem schrecklichen Kampf verfolge. Es werde allgemein verkündet, die Ehre und Unabhängigkeit der Türkei müßten erhalten werden; es sei jedoch erforderlich, in bestimmterer Form zu erklären, was darunter zu verstehen sei. Herr Horsfall bemühte sich, die Trugschlüsse des Herrn Cobden zu widerlegen. Die eigentliche Frage sei nicht, was die Türkei ist, sondern was Rußland werde, wenn es sich die Türkei einverleibe - die Frage also, ob der Kaiser von Rußland auch Kaiser der Türkei sein solle. Rußland strebe nur ein Ziel an, und das sei die Vergrößerung seiner politischen Macht durch Krieg. Sein Ziel sei territoriale Erweiterung. Von der ungeheuerlichen Verlogenheit, mit der der russische Autokrat den ersten Schritt in dieser Sache tat, bis zu dem entsetzlichen Massaker von Sinope sei sein Vorgehen von Grausamkeit und Betrug gezeichnet gewesen, von Verbrechen, die selbst in den Annalen Rußlands, eines Landes, dessen Geschichte nur aus Verbrechen bestehe, bemerkenswert und um so furchtbarer seien, als der Zar es wage, sich lästerlich auf den christlichen Glauben zu berufen, gegen dessen Gebote er so schamlos verstoße. Die Haltung des ausersehenen Opfers dagegen sei bewundernswert gewesen. Danach gab sich Herr Horsfall viel Mühe, den schwankenden Kurs der Regierung mit der schwierigen Lage zu entschuldigen, in der sie sich befinde. Daher ihre zögernde Diplomatie. Selbst das Auftreten aller Kabinette Europas und der erfahrensten Diplomaten gegen den Autokraten hätte diesen in keine schwierigere und verzwicktere, verzweifeltere und gefährlichere Lage bringen können, als dies entweder die Fehler unserer Minister oder des Autokraten eigene Schläue getan haben. Vor sechs Monaten sei Kaiser Nikolaus die Hauptstütze der Ordnung und Legitimität in Europa gewesen; nun habe er die Maske abgelegt und trete als der größte Revolutionär hervor. Es sei wirklich eine Freude, zu sehen, wie schnell doch der Zar seine Positionen verliere, nachdem seine politischen Intrigen gescheitert sind, er ohne militärischen Erfolg in Asien geblieben und von den Türken an der Donau gründlich durchgeprügelt worden ist. Jetzt sei es die Pflicht der Regierung, falls die Feindseligkeiten beginnen sollten, dafür zu sorgen, daß ein Friede nur zu solchen Bedingungen abgeschlossen werde, die ausreichende und sichere Garantien gegen jede Wiederholung eines ähnlichen Überfalls in der Zukunft böten. Er glaube, eine der Bedingungen für die Wiederherstellung des Friedens müsse sein,
daß Rußland die Türkei für die ihr verursachten Ausgaben entschädige und die Türkei als materielle Garantie die ihr geraubten Gebiete wiedererhalte. Herr Drummond nahm an, wir gerieten in einen Religionskrieg und seien drauf und dran, einen neuen Kreuzzug um das Grab Gottfried von Bouillons zu führen, das bereits so sehr verfallen sei, daß man nicht mehr darauf sitzen könne. Wie es scheine, sei der Schuldige an dem Unheil von Anfang an der Papst gewesen. England habe nicht das geringste Interesse an der türkischen Frage, und ein Krieg zwischen ihm und Rußland könne zu keinem erfolgreichen Ende gebracht werden, da sie einander ewig bekriegen und doch nie wehe tun würden. „Der jetzige Krieg wird Ihnen nichts als harte Schläge einbringen." Herr Cobden habe sich vor einiger Zeit erboten, Rußland zu bändigen, und wenn er dies jetzt täte, erspare er England eine Unmenge Kummer. Eigentlich ginge es bei dem gegenwärtigen Streit darum, ob die Putzhändler aus Paris oder aus St. Petersburg die Idole des Heiligen Grabes anputzen sollen. England sei jetzt dahintergekommen, daß die Türkei sein alter Alliierter sei, den es für das europäische Gleichgewicht dringend benötige. Wie in aller Welt habe es aber geschehen können, daß es nicht dahintergekommen ist, bevor es der Türkei das gesamte Königreich Griechenland wegnahm und ehe es die Schlacht bei Navarinot761 schlug, die Lord St. Helens, wie er sich erinnere, als bedeutend bezeichnet habe, nur, daß Englands Schläge dabei den Falschen getroffen hätten. Warum habe es nicht daran gedacht, als die Russen durch den Balkan zogen und es den Türken mit seiner Flotte hätte wirksame Hilfe leisten können? Jetzt aber, nachdem es England dahin gebracht habe, daß das Ottomanische Reich äußerst gebrechlich ist, glaube es, diesen wankenden Staat unter dem Vorwand des Gleichgewichts der Kräfte stützen zu können. Nach einigen sarkastischen Bemerkungen über die plötzliche Begeisterung für Bonaparte fragte Herr Drummond, wer Kriegsminister werden solle? Sie alle hätten genug gesehen Tum zu wissen, daß eine schwache Hand am Ruder sei. Er glaube nicht, daß in den Händen der gegenwärtigen Administration die Ehre eines Generals oder Admirals unbefleckt bleibt. Sie sei imstande, jeden Beliebigen zu opfern, um irgendeiner Partei des Hauses zu gefallen. Wenn England zum Kriege entschlossen sei, dann müsse es seine Schläge gegen das Herz Rußlands führen und nicht seine Kugeln im Schwarzen Meer vergeuden. Es müsse zu allem Anfang die Wiederherstellung des Königreiches Polen proklamieren. Vor allem möchte er erfahren, was die Regierung vorhabe.
„Das Haupt der Regierung", sagte Herr Drummond, „brüste sich mit seiner Fähigkeit, etwas geheimzuhalten, und habe einmal erklärt, daß er denjenigen sehen möchte, der aus ihm Informationen herausholen könne, die er nicht zu geben beabsichtigt habe. Dieser Ausspruch erinnere ihn an eine Anekdote, die er einmal in Schottland gehört habe: Ein Bergschotte, der nach Indien gereist war, brachte bei seiner Rückkehr nach England als Geschenk für sein Weib einen Papagei mit, der ungewöhnlich gut sprechen konnte. Ein Nachbar, der sich nicht ausstechen lassen wollte, reiste nach Edinburgh und brachte seinem Weibe eine große Eule mit. Als ihm bedeutet wurde, daß die Eule nie sprechen lernen werde, antwortete er, ,das ist freilich wahr, aber man bedenke, welche Kraft des Gedankens ihr innewohnt'."
Herr Butt erklärte, dies sei das erste Mal seit der Revolution, daß ein Ministerium vor das Haus trete und Mittel für die Kriegführung beantrage, ohne einen derartigen Antrag klar und ausführlich zu begründen. Im rechtlichen Sinne des Wortes stünden sie noch nicht im Kriege, und wenn das Haus für diese Kredite stimmen solle, habe es ein Recht, zu erfahren, was die Kriegserklärung an Rußland verzögert habe. Wie zweideutig sei doch die Lage der britischen Flotte im Schwarzen Meer! Admiral Dundas habe Befehl, russische Schiffe in einen russischen Hafen zurückzuweisen; und wenn er nun bei der Ausführung dieses Befehls ein russisches Schiff während des Friedenszustandes mit Rußland zerstöre - wären die Minister darauf vorbereitet, einen solchen Vorfall zu rechtfertigen? Er hoffe auf eine Erklärung, ob die Türkei zu jenen erniedrigenden Bedingungen unterstützt werden solle, nach denen sie sich zum Abschluß eines Friedens mit Rußland in die Hände Englands und Frankreichs begeben müsse? Wenn Englands Politik so aussehe, dann fordere man jetzt vom Parlament die Bewilligung zusätzlicher Streitkräfte nicht für die Unabhängigkeit der Türkei, sondern zu ihrer Unterjochung. Herr Butt hegte eine gewisse Besorgnis, daß die Minister mit diesen Kriegsvorbereitungen lediglich paradieren, um zu einem schimpflichen Frieden zu gelangen. Herr S.Herbert, der Kriegsminister, hielt eine derart fade und dumme Rede, wie man sie selbst von einem Koalitionsminister in einer so ernsten Krise kaum erwarten konnte. Die Regierung stehe zwischen zwei Feuern und wisse nicht, wie sie die wirkliche Meinung des Hauses zu der vorliegenden Frage erfahren könne. Die ehrenwerten Herren auf der Gegenseite hätten den Vorteil, mit Tatsachen operieren zu können; sie kritisierten die Vergangenheit; die Regierung aber habe es nicht mit Tatsachen zu tun - sie könne über die Zukunft nur spekulieren. Sie sei nicht so sehr geneigt, in diesen Krieg einzutreten, um die Türkei zu schützen, sondern vielmehr, um Rußland entgegenzutreten. Das war alles, was das Haus von dem armen
Herrn Herbert „über die Zukunft" erfahren konnte. Doch nein, er erzählte ihnen noch etwas ganz Neues. Herrn Herbert zufolge „repräsentiert Herr Cobden die Stimmung der zahlreichsten Klasse dieses Volkes". Als dieser Behauptung von allen Seiten des Hauses widersprochen wurde, fügte Herr Herbert hinzu:
„Wenn nicht die zahlreichste Klasse, so repräsentiere das ehrenwerte Mitglied doch auf jeden Fall einen großen Teil der 'arbeitenden Klassen dieses Landes." Armer Herr Herbert! Es war wirklich erfrischend, als nach ihm Herr Disraeli das Wort ergriff und so ein echter Redner an die Stelle des Schwätzers trat. Herr Disraeli begann mit folgender Erklärung, wobei er auf die theatralischen Deklamationen anspielte, mit denen Lord John Russell am Freitag abend seine Rede beendet hatte:
„Ich war immer der Meinung, jede Nation und besonders diese werde weitaus bereiter und gewillter sein, die Bürde zu tragen, die ein Krieg ihr unvermeidlich auferlegt, wenn sie wirldich wisse, wofür sie Krieg führt, als wenn sie durch flammende Appelle an ihre Leidenschaften in den Kampf getrieben und von einer Erregung fortgerissen werde, die im ersten Moment wohl einem Minister genehm sein könnte, der aber nach einigen Monaten die unvermeidlichen Auswirkungen des Unwissens, oder vielleicht des Unwissens gepaart mit der Katastrophe, folgten."
So sei es mit dem Krieg 1828/29 gewesen, an dem England auf der Seite Rußlands und nicht auf der der Türkei teilnahm. Die gegenwärtig verwickelte Lage und den erschöpften Zustand der Türkei in der letzten Zeit müsse man gänzlich den Geschehnissen jenes Krieges zuschreiben, in dem sich England und Frankreich gegen die Türkei vereint hatten. Zu jener Zeit habe es nicht ein Mitglied des Hauses gegeben, das wirklich eine Ahnung davon gehabt hätte, weshalb England in den Krieg eingetreten war oder welches Ziel es mit einem Schlag gegen den türkischen Staat verfolgte. Deshalb müßte man Ursache und Ziel des jetzigen Krieges klar verstehen können. Dies könne man nur aus den Blaubüchern erfahren. Was zu dem augenblicklichen Stand der Dinge geführt habe, könne man genau den auf diesem Tisch liegenden Depeschen entnehmen. Die darin entwickelte Politik habe jene Zukunft vorbereitet, die nach Ansicht der Minister ihre Aufmerksamkeit vollkommen in Anspruch nehmen sollte. Er protestiere deshalb gegen die Doktrin Sir James Grahams. Herr Herbert habe gerade gegen das Verlesen einzelner Seiten aus diesen Berichten protestiert. Er könne jedoch nicht versprechen, dem Hause diese Blaubücher ganz vorzulesen; wenn aber dem Einwand des sehr ehrenwerten Herrn stattgegeben werde, bleibe ihm wohl
kein anderer Weg. Nach der verbreiteten Meinung all derer, die mit der orientalischen Frage gut vertraut seien, und auch nach seiner eigenen, beabsichtige Rußland nicht im geringsten, das Ottomanische Reich mit Gewalt zu erobern, sondern durch eine geschickte Politik und mit vervollkommneten Methoden einen Einfluß auf die christliche Bevölkerung des Türkischen Reiches zu gewinnen und auszuüben, der ihm womöglich dieselbe Macht verschaffte, wie wenn es den Thron des Sultanreiches besäße. Zu Beginn dieser Verhandlungen habe Graf Nesselrode selbst die Politik Rußlands klar und deutlich in seinen Depeschen vom Januar und Juni 1853 dargelegt. Das Übergewicht im Türkischen Reich solle durch die Ausübung eines besonderen Einflusses auf 12 Millionen Menschen, der großen Mehrheit der Untertanen des Sultans, erzielt werden. In den russischen Depeschen an die britische Regierung werde diese Politik nicht nur erläutert, sondern der britischen Regierung nicht weniger offen auch mitgeteilt, wie sie durchgeführt werden solle - nicht durch Eroberung, sondern indem die bestehenden Verträge aufrechterhalten würden und ihre Auslegung erweitert werde. So habe man von Anbeginn dieses bedeutenden Streits die Grundlage der diplomatischen Kampagne in einem Vertrag erblickt - dem Vertrag von Kainardschi[31]. Dieser Vertrag unterstelle die christlichen Untertanen der Pforte dem besonderen Schutz des Sultans; nach der Auslegung aber, die Rußland diesem Vertrage gebe, seien die christlichen Untertanen des Sultans speziell dem Schutz des Zaren unterstellt. Auf Grund des gleichen Vertrages könne Rußland zum Schutze seiner neuen Kirche - einem Gebäude in der Straße Bey Oglu - vorstellig werden; nach der russischen Auslegung des entsprechenden Artikels im Vertrag sei Rußland berechtigt, zum Schutze jeder Kirche griechisch-orthodoxen Bekenntnisses und natürlich aller Gemeinden dieses Glaubens auf dem Herrschaftsgebiet des Sultans, die auch gleichzeitig die große Mehrheit seiner Untertanen umfassen, einzugreifen. Das sei die offen eingestandene Auslegung des Vertrages von Kainardschi durch Rußland. Andrerseits könne man einer Depesche Sir Hamilton Seymours vom 8.Januar 1853 entnehmen, daß Graf Nesselrode Sir Hamilton und dieser wiederum Lord Clarendon mitgeteilt habe, „es sei notwendig, die Diplomatie Rußlands durch eine Demonstration der bewaffneten Macht zu unterstützen". Der gleichen Depesche zufolge beruhe die Überzeugung Graf Nesselrodes, daß diese Frage zu einem zufriedenstellenden Abschluß gebracht werde, auf den „Bemühungen, die die Gesandten Ihrer Majestät in Paris und Konstantinopel unternehmen würden". Rußland habe daraufhin sofort erklärt, eine Demonstration der bewaffneten Macht bleibe nur eine Demonstration, doch das Ziel müsse auf friedlichem Wege durch die
8 Marx/Engels, Werke, Band 10
Bemühungen der englischen Gesandten in Paris und Konstantinopel erreicht werden. „Nun, Sir", fuhr Herr Disraeli fort, „möchte ich gern wissen, wie diese Gesandten sich - nach dieser Darlegung des Ziels, dieser Aufzählung der Mittel und bei dieser Diplomatie - zu einer solchen Kombination verhielten." Es sei nicht nötig, das Problem der Heiligen Stätten zu berühren. Dies wurde wirklich bald in Konstantinopel geregelt. Selbst Graf Nesselrode habe noch ganz zu Anfang dieser Verhandlungen angesichts der versöhnlichen Haltung Frankreichs seine Überraschung und Befriedigung ausgedrückt und sich anerkennend darüber geäußert. Während dieser ganzen Zeit jedoch habe Rußland seine Streitkräfte an den türkischen Grenzen zusammengezogen und Graf Nesselrode habe Lord Clarendon erzählt, daß seine Regierung eine gleichwertige Entschädigung für die Privilegien verlangen werde, die die griechisch-orthodoxe Kirche in Jerusalem verloren und zu deren Regelung man seine Regierung nicht hinzugezogen hätte. Selbst die Mission des Fürsten Menschikow sei zu jener Zeit erwähnt worden, wie verschiedene Depeschen Sir Hamilton Seymours zeigen. Lord John Russell habe ihnen letztes Mal gesagt, das Benehmen des Grafen Nesselrode sei das eines Betrügers. Andrerseits bekenne Lord John Russell, daß Graf Nesselrode unaufhörlich erkläre, sein kaiserlicher Herr werde eine gleichwertige Entschädigung für die griechisch-orthodoxe Kirche fordern; gleichzeitig aber beklage er sich, daß ihnen Graf Nesselrode niemals gesagt habe, was er wolle.
„Boshafter Graf Nesselrode!" (Gelächter.) „Schurkische Falschheit russischer Staatsmänner!" (Gelächter.) „Warum konnte der edle Lord nicht erfahren, was er zu erfahren wünschte? Wozu sitzt Sir Hamilton Seymour in St. Petersburg, wenn er nicht die nötigen Informationen fordern darf?" Wenn ihm Graf Nesselrode niemals sage, was er wolle, so deshalb, weil der edle Lord sich immer nicht getraue, ihn zu fragen. Bei diesem Stand der Dinge seien die Minister verpflichtet, kategorische Fragen an das St.Petersburger Kabinett zu stellen. Wenn dieses nicht darlegen könne, was es eigentlich wolle, so sei es für die britische Regierung an der Zeit, zu erklären, daß es mit den freundschaftlichen Diensten in Paris und Konstantinopel vorbei sei. Als Lord John Russell von seinem Amt zurückgetreten war und ihn Lord Clarendon ablöste, habe sich der Charakter der diplomatischen Vorgänge zugunsten Rußlands geändert. Als Lord Clarendon Minister des Auswärtigen wurde, habe er Instruktionen für Lord Stratford de Redcliffe, den Gesandten der Königin, abfassen müssen, mit denen dieser sich zum Schauplatz der Handlung begab. Wie aber sahen diese Instruktionen aus? Zu einer Zeit, da
sich die Türkei in höchster Not und Bedrängnis befindet, predige man ihr innere und Handelsreformen. Man gibt ihr zu verstehen, daß sich ihr Tun durch höchste Mäßigung und Klugheit auszeichnen müsse, was bedeutet, daß sie sich mit den Forderungen Rußlands einverstanden erklären müsse. Inzwischen versäume es die Regierung nach wie vor, eine unmißverständliche Erklärung darüber zu verlangen, was man auf russischer Seite eigentlich beabsichtige. Fürst Menschikow traf in Konstantinopel ein. Nachdem Lord Clarendon von Oberst Rose äußerst beunruhigende Sendschreiben und von Sir Hamilton Seymour warnende Mitteilungen empfangen hatte, habe er in einem Brief an Lord Cowley, den britischen Gesandten in Paris, den Befehl des Oberst Rose zur Ausfahrt der britischen Flotte getadelt und den Befehl an den französischen Admiral bedauert, nach den griechischen Gewässern zu segeln, wobei er Frankreich mit der verächtlichen Belehrung beehrte, „daß eine Politik des Mißtrauens weder weise noch sicher sei", und erklärte, daß er den feierlichen Versicherungen des Kaisers von Rußland, das Türkische Reich aufrechtzuerhalten, vollauf vertraue. Dann schreibt Lord Clarendon seinem Gesandten in Konstantinopel, er sei ganz sicher, daß die Ziele der Mission Fürst Menschikows, „welche sie auch immer seien, weder die Macht des Sultans noch die Integrität seines Herrschaftsgebietes gefährdeten". Ja, Lord Clarendon ging so weit, den einzigen Alliierten Englands in Europa zu beschuldigen, der Grund, weshalb England jetzt Verwicklungen im Orient befürchte, sei allein die Haltung, die Frankreich eine Zeitlang den Heiligen Stätten gegenüber eingenommen habe. Dementsprechend habe Graf Nesselrode Lord Aberdeen zu der „beau röle"1 (im Blaubuch übersetzt mit „important rofe"2) beglückwünscht, die er dabei gespielt habe, daß Frankreich „isolde"3 geblieben sei. Am I.April habe England durch Oberst Rose von dem geheimen Abkommen erfahren, das Rußland von der Türkei forderte. Nur zehn Tage später sei Lord Stratford in Konstantinopel eingetroffen und habe die Erklärungen von Oberst Rose bestätigt. Nach alledem schreibt Lord Clarendon am 16. Mai an Sir H. Seymour, „die Erklärungen des Kaisers von Rußland", Erklärungen, die nicht in den Blaubüchern enthalten seien, „entzogen allen Befürchtungen die Grundlage, die ganz Europa wegen des Vorgehens Fürst Menschikows in Verbindung mit den militärischen Vorbereitungen im Süden Rußlands verständlicherweise gehegt habe". Daraufhin glaubte Graf Nesselrode, Lord Clarendon am 20. Juni dreist mitteilen zu können, daß Rußland die Fürstentümer besetzt habe. In diesem Dokument erklärt Graf Nesselrode,
1 „edlen Rolle" - 8 „bedeutende Rolle" - 8 „isoliert"
„daß der Kaiser die Provinzen als Unterpfand besetzen wolle, bis ihm Genugtuung werde; daß er mit diesem Vorgehen seinen Erklärungen gegenüber der englischen Regierung treu geblieben sei; daß er dem Londoner Kabinett, indem er mit ihm Meinungen über die militärischen Vorbereitungen austausche, die mit der Eröffnung der Verhandlungen zusammenfielen, nicht verhehle, daß die Zeit noch kommen könnte, da er sich gezwungen sehen werde, die Hilfe Englands in Anspruch zu nehmen, wobei er die englische Regierung zu den von ihr bewiesenen freundschaftlichen Absichten beglückwünsche, ihre Haltung der Frankreichs entgegenstelle und alle Schuld für kommende Mißerfolge Fürst Menschikows Lord Stratford gebe".
Lord Clarendon verfaßt nach alledem am 4. Juli ein Zirkular, worin er noch immer auf die Gerechtigkeit und Mäßigung des Kaisers hofft und sich dabei auf die wiederholte Erklärung des Kaisers beruft, daß er die Integrität des Türkischen Reiches respektieren werde. Am 18. Juli schreibt er an Lord Stratford, daß
„Frankreich und England Rußland gewiß bezwingen könnten, wenn sie nur ernsthaft wollten, doch könnte die Türkei inzwischen völlig verwüstet werden, und deshalb seien friedliche Verhandlungen der einzig richtige Weg".
Was aber damals ein gutes Argument gewesen sei, sei es auch jetzt. Entweder lasse sich die Regierung von derartigem Vertrauen leiten, das schon krankhafter Leichtgläubigkeit gleiche, oder sie sei der Begünstigung schuldig. Die Ursache des Krieges müsse darin gesehen werden, wie die Regierung Ihrer Majestät die Verhandlungen während der letzten sieben Monate geführt habe. Sei es Leichtgläubigkeit, so könne Rußland durch seine treulose Haltung den Ausbruch eines Kampfes beschleunigt haben, der vielleicht unvermeidbar gewesen wäre, einen Kampf, durch den die Unabhängigkeit Europas, die Sicherheit Englands und der Zivilisation errungen werden könnte. Sei es Begünstigung, so werde es ein ängstlicher, ein unentschlossener Krieg, ein Krieg ohne Ergebnis oder, besser, mit genau den Ergebnissen, die ursprünglich beabsichtigt waren. Am 25. April habe Lord Clarendon vor dem Oberhaus die unwahre Erklärung abgegeben, daß die Mission Menschikows darin bestände, den Streit bezüglich der Heiligen Stätten zu schlichten, obgleich er wußte, daß dies nicht der Wahrheit entsprach. Als Nächstes legte Herr Disraeli kurz die Geschichte der Wiener Note dar, um entweder die völlige Dummheit des Ministeriums oder die Begünstigung des St. Petersburger Hofes durch das Ministerium zu beweisen. Hierauf kam er auf die dritte Periode zu sprechen, auf die Pause, die zwischen dem Mißerfolg der Wiener Note und der Schlacht von Sinope lag. Damals habe der Schatzkanzler, Herr Gladstone, auf einer öffentlichen Versammlung in höchst ver
ächtlichem Tone von der Türkei gesprochen. Das gleiche taten auch die halbamtlichen Zeitungen. Die Energie der Türken selbst sei es gewesen, die die Lage und das Schicksal der Türkei verändert und das Kabinett zu einem anderen Tone veranlaßt habe. Kaum aber sei die Schlacht von Oltenitza ausgetragen worden, als die Politik der Leichtgläubigkeit oder die Politik der Begünstigung wieder ihr schmutziges Werk begonnen habe. Das Gemetzel von Sinope jedoch habe wieder zugunsten der Türken gewirkt. Die Flotten erhielten den Befehl, ins Schwarze Meer einzulaufen. Doch "was taten sie? Sie kehrten zum Bosporus zurück! In bezug auf die Zukunft habe Lord John Russell die Bedingungen der englischen Allianz mit Frankreich nur sehr unklar erläutert. Herr Disraeli ermahnte, man solle die Erhaltung des Gleichgewichts der Kräfte nicht mit der Erhaltung der gegenwärtigen territorialen Gliederung Europas verwechseln. Die Zukunft Italiens hänge hauptsächlich von der Anerkennung dieser Wahrheit ab. Nach der glänzenden Rede des Herrn Disraeli, die ich natürlich nur in den Hauptzügen wiedergegeben habe, nahm Lord Palmerston das Wort und erlitt ein völliges Fiasko. Er wiederholte teilweise die Rede, die er beim Abschluß der letzten Session gehalten hatte, verteidigte in einer wenig überzeugenden Art die Politik des Ministeriums und war äußerst besorgt, kein Wort fallen zu lassen, das neue Informationen enthalten könnte. Auf den Antrag Sir J.Grahams wurden dann einige Posten der Flottenveranschlagungen ohne Diskussion bewilligt. Das Merkwürdigste an diesen erregten Debatten ist schließlich, daß es dem Hause völlig mißlang, den Ministern eine förmliche Kriegserklärung an Rußland oder auch eine Darlegung der Ziele zu entlocken, um deretwillen sie sich in den Krieg stürzen wollen. Das Haus und die Öffentlichkeit wissen jetzt nicht mehr als zuvor. Sie haben überhaupt keine neuen Informationen erhalten. Karl Marx Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Parlamentsdebatten vom 22. Februar Die Depesche Pozzo di Borgos Die Politik der Westmächte]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4025 vom 13. März 1854] London, Freitag, 24. Februar 1854. Die Presse wurde durch viel unnützes Gewäsch über Kossuths „kriegerische Vorbereitungen" und voraussichtliche „Unternehmungen" beunruhigt. Ich erfahre nun zufällig von einem polnischen Offizier, der sich nach Konstantinopel begibt und den Ex-Gouverneur über den von ihm zu gehenden Weg um Rat fragte, daß Kossuth ihm davon abriet, London zu verlassen, und sich keineswegs günstig über die Teilnahme ungarischer und polnischer Offiziere an dem jetzigen türkischen Kriege aussprach, da sie sich entweder unter das Banner Czartoryskis scharen oder ihrem christlichen Glauben abschwören müßten - der eine Schritt widerspreche seiner Politik, der andere seinen Grundsätzen. Der Eindruck, den Disraelis meisterhafte Bloßstellung der Politik des Ministeriums machte, war so tief, daß, um ihn zu vertuschen, das Kabinett aller Talente es für passend hielt, den nachträglichen Versuch einer kleinen Komödie zu unternehmen, die zwischen den Ministern und Herrn Hume arrangiert und in der Mittwochvormittagssitzung des Unterhauses aufgeführt wurde. Lord Palmerston hatte seine lahme Erwiderung auf Disraelis epigrammatische Alternative - krankhafte „Leichtgläubigkeit" oder verräterische „Begünstigung" - damit geschlossen, daß er von den Parteien an das unparteiische Urteil des Landes appellierte, und Herr Hume war dazu ausersehen, im Namen des Landes zu antworten, gerade wie Schnock, der Schreiner, auserwählt war, die Rolle des Löwen in dem „höchst grausamen Tod von Pyramus und Thisbe" zu mimen. Herr Hume hat sein ganzes parlamentarisches Leben damit verbracht, zum Spaß Opposition zu machen, Amendements einzubringen, um sie danach wieder zurückzuziehen - in der Tat also die sogenannte unabhängige Opposition zu bilden, die Nachhut
jedes Whig-Ministeriums, die ihm bei Gefahr bestimmt zu Hilfe kommt, wenn seine eigenen eingeschriebenen Anhänger etwa Zeichen des Wankelmuts geben sollten. Er ist der große parlamentarische „Verdunkler" par exellence. Er ist nicht nur das älteste, sondern auch ein unabhängiges Parlamentsmitglied; und nicht nur ein unabhängiges Mitglied, sondern auch ein Radikaler und nicht nur ein Radikaler, sondern auch der pedantische und wohlbekannte Zerberus des öffentlichen Geldbeutels, der die Mission hat, Pfunde unbeachtet verschwinden zu lassen, während er um den kleinsten Teil eines Penny Streit anfängt. Zum ersten Male in seinem parlamentarischen Leben, wie Herr Hume selbst nachdrücklich feststellte, erhebe er sich, nicht um die Staatsvoranschläge zu verurteilen, sondern um ihnen seine Zustimmung zu geben. Dieses außerordentliche Ereignis sei, wie er nicht verfehlte zu bemerken, der unbestreitbarste Beweis dafür, daß das Ministerium nach den unverdienten Verleumdungen durch die Parteien nicht umsonst an das gesunde Urteil des Landes appelliert habe und feierlich von der Anklage der Leichtgläubigkeit und der Begünstigung freigesprochen sei. Seine Beweisgründe waren charakteristisch. Um die Minister von der Alternative der Leichtgläubigkeit oder der Begünstigung zu retten, bewies er die Leichtgläubigkeit der Minister in ihren Verhandlungen mit Rußland. Er hatte also den wahren Sinn von Lord Palmerstons Appell verstanden. Alles, was das Ministerium verlange, sei die Lossprechung von der Anklage des vorsätzlichen Verrats. Und was die Leichtgläubigkeit anbetreffe - habe da nicht schon der vortreffliche Sir James Graham erklärt, „ein großmütiger Geist entschließe sich nur schwer zum Argwohn"? Da der drohende Krieg durch des Ministeriums eigene diplomatische Mißgriffe verschuldet sei, sei es zweifellos ihr eigener Krieg, und sie seien daher, so dächte Herr Hume, vor allen anderen Männern geeignet, ihn geschickt zu führen. Nach Meinung des Herrn Hume ist die relative Geringfügigkeit des vorgeschlagenen Kriegsbudgets der überzeugendste Beweis für die Ausdehnung des beabsichtigten Krieges. Lord Palmerston dankte Herrn Hume natürlich für seinen im Namen des Volkes abgegebenen Urteilsspruch, und zur Belohnung beglückte er die Zuhörer mit seiner eigenen Lehre über Staatsdokumente, die seiner Ansicht nach dem Haus und dem Land niemals früher vorgelegt werden sollen, ehe die Dinge so sehr verwirrt sind, daß ihre Veröffentlichung überhaupt völlig nutzlos ist. Das war die ganze nachträgliche Weisheit, die die Koalition nach reiflicher Überlegung zum besten geben konnte. Ihrem Führer, Lord Palmerston, fiel es zu, nicht nur den Eindruck der Rede ihres Gegners abzuschwächen, sondern auch seinem eigenen theatralischen Appell vom Haus ans Volk die Wirkung zu nehmen.
Dienstag abend stellte Herr Horsfall, der Vertreter für Liverpool, die Frage: „Werden die Verträge mit fremden Nationen oder die Schritte der Regierung Ihrer Majestät, die sie im Kriegsfalle zu unternehmen beabsichtigt, wirksam verhindern, daß Kaperschiffe in neutralen Häfen zum Angriff gegen britische Schiffe ausgerüstet werden?"
Die Antwort Lord Palmerstons lautete: „Der ehrenwerte Herr und das Haus müßten verstehen, daß dies eine Frage sei, auf die bei dem jetzigen Stand der Dinge keine aufklärende Antwort gegeben werden könne." Die „Morning Post"t77J, Palmerstons Privatmoniteur, bemerkt zu dieser Antwort ihres Herrn: „Der edle Lord hätte keine andere Antwort geben können (was auch der Regierung über den Gegenstand bekannt sein mag), ohne auf eine Erörterung der heikelsten und schwierigsten Fragen einzugehen, die vielleicht im jetzigen Augenblick den Gegenstand von Verhandlungen bilden. Will man aber diese zu einem befriedigenden Ergebnis führen, so sollte man sie dem natürlichen Gerechtigkeitssinn der Mächte überlassen, die nicht wünschen, in diesem zivilisierten Zeitalter ein System der gesetzlichen Piraterie wiederzubeleben." Einerseits erklärt Lord Palmerstons Organ, die „schwierigen Fragen" bildeten den Gegenstand schwebender Verhandlungen, andrerseits, man müsse sie dem „natürlichen Gerechtigkeitssinn" der beteiligten Mächte überlassen. Wenn der vielberühmte Neutralitätsvertrag zwischen Dänemark und Schweden141' nicht vom St. Petersburger Kabinett diktiert wurde, so muß er selbstverständlich das Verbot enthalten, Kaperschiffe in ihren Häfen auszurüsten. In Wirklichkeit aber kann sich die ganze Frage nur auf die Vereinigten Staaten von Amerika beziehen, da die Ostsee von englischen Linienschiffen besetzt werden soll und Holland, Belgien, Spanien, Portugal und die italienischen Mittelmeerhäfen vollständig in englischen und französischen Händen sind. Welche Rolle sollen nun nach Meinung des St. Petersburger Kabinetts die Vereinigten Staaten spielen, falls der türkische Krieg zu einem Krieg zwischen England und Rußland führen sollte? Wir können diese Frage authentisch aus einer Depesche beantworten, die Pozzo di Borgo im Herbst 1825 an den Grafen Nesselrode richtete. Rußland hatte damals beschlossen, in der Türkei einzufallen. Wie jetzt, wollte es auch damals mit einer friedlichen Besetzung der Fürstentümer beginnen. „Vorausgesetzt, dieser Plan würde "angenommen", sagt Pozzo di Borgo, „so wäre erforderlich, sich mit der Pforte auf Erklärungen in maßvollstem Tone einzulassen
und ihr zu versichern, daß, wenn sie sich nicht in einen Krieg stürzen wolle, der Kaiser gewillt sei, diese Differenzen versöhnlich beizulegen."
Nachdem er alle Schritte aufgezählt, die unternommen werden müßten, setzt Pozzo di Borgo fort:
„Es wäre ratsam, alle diese Handlungen den Vereinigten Staaten von Amerika mitzuteilen als Beweis der Ehrerbietung des Kaiserlichen Kabinetts und des Wertes, den es darauf legt, die öffentliche Meinung Amerikas aufzuklären und vielleicht sogar seine Zu~ Stimmung zu bekommen."
Falls England sich mit der Türkei verbinde und Krieg gegen Rußland führe, bemerkt Pozzo di Borgo,
„würde es" (England) „unsere Häfen blockieren und damit seine vorgeblichen Seerechte gegen die Neutralen ausüben. Das würden die Vereinigten Staaten nicht dulden! Daraus würden heftige Zwistigkeiten und gefährliche Situationen entstehen."
Da nun, wie der russische Historiker Karamsin richtig bemerkt, „sich in unserer" (Rußlands) „auswärtigen Politik nichts ändert", so sind wir berechtigt anzunehmen, Rußland habe im gegenwärtigen Augenblick oder vielleicht schon seit Februar 1853 „alle seine Handlungen den Vereinigten Staaten mitgeteilt" und sein Bestes getan, das Washingtoner Kabinett zu einer wenigstens neutralen Haltung zu beschwatzen. Gleichzeitig gründet es seine Hoffnungen im Falle eines Krieges mit England auf eventuelle Streitigkeiten über die „Seerechte der Neutralen", die zu „heftigen Zwistigkeiten und gefährlichen Situationen" führen und die Vereinigten Staaten in ein mehr oder weniger eingestandenes Bündnis mit St. Petersburg verwickeln würden. Da ich schon die bedeutendste Depesche Pozzo di Borgos zitiere, so kann ich auch gleich den Passus über Österreich anführen, der durch die Ereignisse, die seit 1825 in Galizien, Italien und Ungarn geschehen sind, sicher nichts an Aktualität verloren hat.
„Unsere Politik", sagt Pozzo, „gebietet, daß wir diesem Staate gegenüber eine furchterregende Miene aufsetzen und ihn durch unsere Vorbereitungen glauben machen, daß, wenn er gegen uns etwas unternimmt, über ihm sich der wütendste Sturm entladen wird, den er je erlebt hat. Entweder erklärt Fürst Metternich den Türken, unser Einzug in die Fürstentümer sei ein von ihnen selbst provozierter Schritt, oder er wirft sich auf andere, ihm passendere Provinzen des Ottomanischen Reiches. Im ersteren Falle werden wir einig sein, im zweiten werden wir einig werden. Das einzige, was wir zu befürchten haben, wäre eine offene Erklärung gegen uns. Ist Fürst Metternich weise, dann vermeidet er den Krieg, ist er gewalttätig, so wird er bestraft werden. Einem
Ministerium gegenüber, das in eine derartige Lage versetzt ist, wird gegebenenfalls ein Kabinett wie das unsrige tausend Wege zur Beendigung der Schwierigkeiten finden." Lord Johns1 Agitationsrede, das große Trommelgerassel von englischer Ehre, das Theater großer moralischer Entrüstung über russische Treulosigkeit, die Vision von Englands schwimmenden Batterien, die entlang den Wällen von Sewastopol und Kronstadt defilieren, der Waffentumult und die prahlerische Einschiffung von Truppen - all diese dramatischen Umstände führen die öffentliche Meinung ganz irre und benebeln ihr Auge so, daß sie nichts mehr zu sehen vermag als ihre eigenen Wahnbilder. Kann es eine größere Selbsttäuschung geben als die, zu glauben, dieses Ministerium habe sich nach den Enthüllungen der Blaubücher plötzlich gewandelt, und zwar nicht nur in ein kriegerisches, sondern in ein Ministerium, das gegen Rußland irgendeinen anderen Krieg führen könnte als einen Scheinkrieg oder einen, der gerade im Interesse des Feindes läge, gegen den er angeblich geführt wird? Betrachten wir einmal die Verhältnisse, unter denen die Vorbereitungen zum Kriege getroffen werden. Es erfolgt keine förmliche Kriegserklärung an Rußland. Den wahren Zweck des Krieges kann das Ministerium nicht eingestehen. Truppen werden eingeschifft, ohne daß ihr Bestimmungsort genau bezeichnet wird. Die geforderten Veranschlagungen sind zu klein für einen großen, zu groß für einen kleinen Krieg. Die Koalition, berüchtigt geworden durch ihre Findigkeit im Ersinnen von Ausflüchten für ihre nicht gehaltenen feierlichsten Versprechungen und von Gründen für das Aufschieben der dringendsten Reformen, fühlt sich ganz plötzlich zu peinlichstem Einhalten übereilt gegebener Zusagen verpflichtet und kompliziert diese ernste Krisis, indem sie das Land mit einer neuen Reformbill überrascht, die den eifrigsten Reformern als unzeitgemäß erscheint, da sie durch keinen Druck von außen aufgedrängt und von allen Seiten mit größter Gleichgültigkeit und mit Argwohn aufgenommen wird. Was kann also ihr Plan anderes sein, als die öffentliche Aufmerksamkeit von ihrer auswärtigen Politik dadurch abzulenken, daß sie eine Frage von überwältigendem inneren Interesse aufwirft? Die Bemühungen, die Öffentlichkeit über die Stellung Englands zu anderen Staaten irrezuführen, sind recht durchsichtig. Mit Frankreich ist noch kein bindender Vertrag abgeschlossen, aber durch einen „Notenwechsel" dafür Ersatz geschaffen worden. Nun, derartige Noten wurden schon 1839 mit dem Kabinett Louis-Philippes gewechselt, denen zufolge die alliierten Flotten in die Dardanellen einfahren und Rußland daran hindern sollten,
sich - allein oder gemeinsam mit anderen Mächten - in die orientalischen Angelegenheiten einzumischen, und wir alle wissen, was bei diesem Notenwechsel herauskam - eine Heilige Allianz gegen Frankreich1781 und der Dardanellenvertrag[l31. Wie aufrichtig und ernst die englisch-französische Allianz gemeint ist, zeigt ein Vorfall in der gestrigen Unterhaussitzung. Bonaparte bedroht, wie Sie aus dem „Moniteur" ersehen konnten, die griechischen Aufständischen und hat" der Regierung König Ottos entsprechende Vorstellungen gemacht. Als Sir J.Walsh das Kabinett hierüber befragte, erklärte Lord John Russell, daß „ihm von einem Übereinkommen zwischen der französischen und englischen Regierung in der erwähnten Frage nichts bekannt sei, er habe mit dem Minister des Auswärtigen über diesen Gegenstand nicht sprechen können. Er habe jedoch den Eindruck, daß der Regierung von Frankreich keine derartigen Vorstellungen zugegangen seien und bestimmt nicht mit Zustimmung oder im Einvernehmen mit der Regierung dieses Landes."
Beabsichtigt die britische Regierung wirklich einen Krieg mit Rußland, warum scheut sie dann so hartnäckig die internationalen Formen der Kriegserklärung? Beabsichtigt sie wirklich eine Allianz mit Frankreich, warum vermeidet sie dann so sorgfältig die anerkannten Formen internationaler Allianzen? Was die deutschen Mächte betrifft, so erklärt Sir James Graham, sie seien eine Allianz mit England eingegangen, und Lord John Russell widerspricht ihm noch an demselben Abend und behauptet, die Beziehungen zu diesen Mächten seien vielmehr noch dieselben wie zu Beginn der orientalischen Wirren. Die Minister behaupten fest, sie seien eben jetzt im Begriff, mit der Türkei ins reine zu kommen und einen Vertrag mit ihr vorzuschlagen. Sie schiffen Truppen ein, um Konstantinopel zu besetzen, ohne vorher einen Vertrag mit der Türkei geschlossen zu haben. Wir sind daher gar nicht überrascht, durch einen Brief aus Konstantinopel zu erfahren, daß ein Geheimagent der Pforte von Wien nach St.Petersburg geschickt wurde, um dem Zaren ein Geheimabkommen anzubieten. Der Korrespondent schreibt:
„Nachdem die Türkei die Verräterei und die Torheit ihrer angeblichen Freunde eingesehen, wäre es nur vernünftig, wenn sie sich an ihnen zu rächen sucht, indem sie eine Allianz mit einem weisen Feinde schließt. Die Vertragsbedingungen, die die ersteren der Türkei auferlegen wollen, sind zehnmal verderblicher als die Ansprüche Menschikows."
Zu welchen Leistungen zumindest nach Meinung des englischen Ministeriums die eingeschifften Truppen ausersehen sind, kann man aus dem folgern, was die vereinigten Geschwader getan haben und im jetzigen Augen
blick noch tun. Zwanzig Tage nach ihrer Einfahrt ins Schwarze Meer kehrten sie in den Bosporus zurück. Einige Tage zuvor, wird uns mitgeteilt,
„mußten die Minister der Pforte aus Rücksicht gegenüber den Vorstellungen des britischen Gesandten den Herausgeber der griechischen Zeitung ,Telegraphe du Bosphore* ins Gefängnis stecken, weil er in seinem Blatt erklärt hatte, daß sowohl die englische als auch die französische Flotte binnen kurzem vom Schwarzen Meer nach dem Bosporus zurückkehren würden. Der Redakteur des Journal de Constantinople't79^ wurde beauftragt, zu erklären, die beiden Flotten verblieben auch weiterhin im Schwarzen Meer."
Um seine Erkenntlichkeit für den von den englischen und französischen Admiralen erhaltenen Wink zu zeigen, schickte der russische Admiral am 19. v.M. zwei Dampfer aus, um die Türken bei Schefkatil zu bombardieren; russische Schiffe kreuzen auch in Sicht von Trapezunt, während das vereinigte Geschwader keine Fahrzeuge im Schwarzen Meer hat außer einem englischen und einem französischen Dampfer vor Sewastopol. Sinope und das Bombardement von Schefkatil durch russische Dampfschiffe sind also die einzigen Taten, deren sich die vereinigten Geschwader rühmen können. Der Streit zwischen den Gesandten und den Admiralen, die alle Beziehungen untereinander völlig abgebrochen haben - Lord Stratford de Redcliffe weigerte sich, Admiral Dundas zu empfangen, und Baraguay d'Hilliers hat den französischen Admiral und seine Offiziere von einem offiziellen Ball ausgeschlossen -, dieser Streit ist von untergeordneter Bedeutung, da die diplomatischen Schwätzer, durch die Veröffentlichung ihrer Depeschen in London und Paris kompromittiert, wahrscheinlich bestrebt sind, ihr verlorenes Renommee um jeden Preis wiederherzustellen, koste es noch so viele Schiffe und Mannschaften. Die ernsthafte Seite der Frage ist aber, daß man die offenen Instruktionen an die Gesandten durch eine Anzahl geheimer Instruktionen an die Admirale ungültig machte und daß die letzteren wirklich nicht imstande sind, einander widersprechende Instruktionen auszuführen. Und wie könnten die Instruktionen anders sein, da ihnen doch keine Kriegserklärung vorausging? Einerseits wird ihnen befohlen, russische Schiffe anzugreifen, um deren Rückzug aus dem Schwarzen Meer nach Sewastopol zu erzwingen, andrerseits sollen sie aus der bloßen Defensive nicht herausgehen. Schließlich, wenn man einen ernsthaften Krieg beabsichtigte, wie konnte es der britische Gesandte in Konstantinopel als einen bedeutsamen Triumph ansehen, daß es ihm gelungen war, den Führer der Kriegspartei im türkischen Ministerium Mechmed Ali Pascha aus seinem Amt als Kriegsminister zu drängen und durch den
Friedensschacherer Riza Pascha zu ersetzen, während er Mechmed Pascha, eine Kreatur Reschid Paschas, mit dem Amt eines Großadmirals betraute! Wenden wir uns nun einem anderen äußerst wichtigen Punkt zu. Die Einschiffung der britischen und französischen Truppen wird erst fortgesetzt, seitdem die Nachricht London und Paris erreicht hat, daß in Albanien ein griechischer Aufstand ausgebrochen sei und sich über Thessalien und Mazedonien ausgebreitet habe.1801 Wie die Depeschen von Russell, Clarendon und Lord Stratford de Redcliffe beweisen, wurde diese Empörung von Anfang an vom englischen Kabinett mit Ungeduld erwartet. Sie bietet ihm den besten Anlaß, sich in die Angelegenheiten zwischen dem Sultan und seinen eigenen christlichen Untertanen einzumischen unter dem Vorwand, zwischen Russen und Türken einzugreifen. Von dem Augenblick an, da die Katholiken sich in die Angelegenheiten der Griechen (ich gebrauche das Wort hier nur im religiösen Sinne) mischen, kann man mit Sicherheit auf ein Einvernehmen der 11 Millionen Einwohner der europäischen Türkei mit dem Zaren rechnen, der dann wirklich als ihr religiöser Schutzherr dastehen wird. Zwischen den Muselmanen und ihren griechischen Untertanen herrscht kein religiöser Streit, sondern der religiöse Haß gegen die Katholiken, kann man sagen, bildet das einzige gemeinsame Band zwischen den verschiedenen Völker Stämmen, die in der Türkei wohnen und griechischen Glaubens sind. In dieser Hinsicht hat sich nichts geändert, seit Mechmed II. Konstantinopel belagerte, seit der griechische Admiral Lukas Notaras, der einflußreichste Mann im Byzantinischen Reich, öffentlich erklärte, er sähe lieber den türkischen Turban in der Hauptstadt triumphieren als den römischen Hut, während andrerseits eine ungarische Prophezeiung kursierte, die Christen würden nicht eher glücklich sein, bis die verdammten ketzerischen Griechen ausgerottet wären und die Türken Konstantinopel zerstört hätten. Jede Einmischung der westlichen Mächte in die Angelegenheiten zwischen dem Sultan und seinen griechischen Untertanen mußte also diePläne des Zaren begünstigen. Ein ähnliches Resultat ergäbe sich, sollte es Österreich einfallen, wie 1791[813 Serbien unter dem Vorwand zu besetzen, die verräterischen Absichten der russischenPartei in diesem Fürstentum zu vereiteln. Ich will noch hinzufügen, daß in London das Gerücht geht, Griechen von den Ionischen Inseln, denen die englischen Behörden nicht entgegengetreten wären, unterstützten die aufständischen Epiroten und vereinigten sich mitihnen,und daß die Nachricht von dem griechischen Aufstand in der Sonnabendausgabe der „Times", dem Koalitionsorgan, als sehr willkommenes Ereignis verkündet wurde. Ich meinerseits bezweifle absolut nicht, daß hinter den lärmenden Kriegsvorbereitungen der Koalition Verrat lauert. Bonaparte selbstverständlich läßt
sich mit vollem Emst auf diesen Krieg ein. Ihm bleibt keine andere Wahl als die Revolution im Innern oder der Krieg nach außen. Er kann nicht länger fortfahren, den grausamen Despotismus Napoleon I. mit der korrupten Friedenspolitik Louis-Philippes zu vereinen. Er muß aufhören, immer neue Schübe von Gefangenen nach Cayenne zu schicken, wenn er nicht gleichzeitig französische Armeen über die Grenze zu schicken wagt. Der Konflikt aber zwischen den eingestandenen Absichten Bonapartes und den geheimen Plänen der Koalition kann nur dazu beitragen, die Dinge noch weiter zu verwickeln. Ich schließe aus alledem nicht etwa, daß kein Krieg stattfinden, sondern daß er im Gegenteil so entsetzliche und revolutionäre Ausmaße annehmen wird, wie sie die kleinen Männer der Koalition nicht einmal ahnen. Gerade ihr Verrat ist das Mittel, einen lokalen Konflikt in eine europäische Feuersbrunst zu verwandeln. Selbst wenn das britische Ministerium ebenso aufrichtig wäre, wie es falsch ist, beschleunigte seine Einmischung nur den Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches. Es kann nicht eingreifen, ohne Garantien für die christlichen Untertanen der Pforte zu verlangen, und diese Garantien kann es ihr nicht entreißen, ohne sie dem Untergange zu weihen. Selbst der Korrespondent in Konstantinopel, den ich vorhin zitierte, und der eingestandener Türkenfreund ist, muß zugeben, daß
„der Vorschlag der Westmächte, alle Untertanen der Pforte in ihren bürgerlichen und religiösen Rechten völlig auf gleichen Fuß zu stellen, sofort zur Anarchie, zu Bürgerkriegen und zum endgültigen und raschen Untergang des Reiches führen würde".
Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
Österreichs Bankrott
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4033 vom 22. März 1854, Leitartikel] Trotz drohender Kriegsgefahr und drückender Notwendigkeit ist es bisher weder der französischen noch der österreichischen Regierung gelungen, den Nervus belli1 zu stärken, nämlich ihre finanzielle Lage. Obgleich die Diners, die der französische Finanzminister den Obereinnehmern, dem Credit mobiliert82] und den ersten Bankiers von Paris gab, von lukullischer Üppigkeit waren, zeigen sich diese Kapitalisten widerspenstig und neigen zu jener vorsichtigen Sorte von Patriotismus, die möglichst große Vorteile vom Staat herausholt und gewohnt ist, sich auf Kosten der öffentlichen Interessen für ihre privaten schadlos zu halten. So bleiben die Bedingungen, zu denen die beabsichtigte französische Anleihe von zweihundert Millionen Francs erfolgen soll, noch ungewiß. Was Österreich betrifft, so gibt es keinen Zweifel, daß eines der Hauptmotive, die es veranlassen, sich gegenüber den Westmächten freundlich zu gebärden, die Hoffnung ist, auf diese Weise das Zutrauen der Finanzwelt wiederzubeleben und aus seinen finanziellen Schwierigkeiten herauszukommen. In der Tat hatte das Regierungsblatt in Wien kaum ein paar Worte über die Neutralität Österreichs und das gute Einvernehmen mit Frankreich gesagt, als es die Öffentlichkeit mit der Ankündigung überraschte, daß ein beträchtlicher Teil der sechs Millionen Acres umfassenden Kronländereien verkauft werden sollte, und ein vom 23. Februar 1854 datiertes Reskript publizierte, nach dem das gesamte mit Zwangskurs im Umlauf befindliche Staatspapiergeld im Betrage von 150 Millionen Gulden an die Nationalbank übertragen und nach und nach von ihr in Banknoten umgewechselt wird, so
daß nach Ablauf dieser Umwechslung alles von der Schatzkammer ausgegebene Papiergeld eingezogen sein und künftig kein Staatspapiergeld mit Zwangskurs mehr ausgegeben wird. Bei dieser Umwechslung haftet die kaiserliche Regierung der Bank für das an sie übertragene Papiergeld und verpflichtet sich, die Bank für alle mit dem Konvertierungsgeschäft verbundenen Auslagen zu entschädigen, zur Begleichung der so geschaffenen Schuld eine jährliche Rate von wenigstens 10 Millionen Gulden zu bezahlen, die Zolleinnahmen als Sicherheit für die regelmäßige Zahlung dieser Raten an die Bank zu verpfänden und an sie in demselben Verhältnis in Metall zu zahlen, in dem die Zölle in Metallgeld einfließen. Gleichzeitig muß die Regierung kräftig mitwirken, um die Bank in den Stand zu setzen, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen und die Barzahlung wiederaufzunehmen. Inzwischen übernimmt die Bank, um den Besitzern von Banknoten die Möglichkeit zu geben, diese nach Belieben in eine verzinsliche Schuld, zahlbar in Metall, umzuwechseln, die Herausgabe verzinslicher Schuldverschreibungen, die in jeder Hinsicht wie Staatsschuldverschreibungen oder Obligationen behandelt werden können. Auch will die Regierung die sogenannten Einlösungs- und Antizipationsscheine einziehen und ganz außer Umlauf setzen. Die Konvertierung von Staatspapiergeld mit Zwangskurs in nichtkonvertible Banknoten wird weder ihren Betrag vermindern noch ihre Qualität verbessern, sondern bloß die Bezeichnungen des ausgegebenen Papiergeldes vereinfachen. Da der Staat im Besitz der gleichen Mittel ist, die er der Bank zur Einlösung des Papiergeldes gewährt, würde er selbst von ihnen Gebrauch machen, wenn er nicht genau wüßte, daß das Mißtrauen zu ihm so groß ist, daß sein Kredit nur durch die Hilfe einer Bank aufgerichtet werden kann, die nicht Eigentum des Staates ist. So wächst die Abhängigkeit des Kaisers von den Juden der Wiener Bank in demselben Maße wie der militärische Charakterseiner Herrschaft. Im Januar 1852 verpfändete er ihnen die Salinen von Gmunden, Aussee und Hallein. Im Februar 1854 erhalten sie ein Pfandrecht auf die Zolleinnahmen der ganzen Monarchie. Schritt für Schritt wird die Bank der wirkliche und die Regierung nur mehr der nominelle Beherrscher des Reiches. Je mehr Österreich sich den Forderungen der Bourgeoisie nach Teilnahme an der politischen Macht widersetzt hat, um so tiefer muß es sich dem unbeschränkten Despotismus eines Teiles dieser Klasse beugen den Finanziers. Das Dekret, dessen Inhalt wir oben wiedergegeben haben, versteckt einen neuen Anleiheversuch hinter der Form einer Hilfeleistung für die Besitzer von Banknoten, indem diese in eine verzinsliche Schuld umgewandelt werden, wobei die Zinsen in Metall zu zahlen sind. 1852 verpflichtete sich die Regie
rung gleichfalls, verschiedene kleinere Zahlungen und Verbindlichkeiten in Metall zu begleichen, aber da sie die Steuern nur in Staatspapiergeld oder Banknoten erhielt, war sie gezwungen, in London und Frankfurt eine Anleihe von 35 Millionen Gulden aufzunehmen. Die neuen Anleihen vermehren natürlich das alte Defizit, und das erhöhte Defizit führt zu erneuter Ausgabe von Papiergeld, dessen Überfluß und damit verbundene Entwertung man mit ihnen verhindern wollte. Der große Unterschied, den die Regierung zwischen Zahlung in Metallgeld und in Banknoten macht, ist ebensowenig geeignet, die Noten von ihrem üblen Ruf zu befreien, wie die Vermehrung des Zirkulationsmittels der Bank um 150 Millionen sie in den Stand setzen kann, ihren Verpflichtungen nachzukommen und die Barzahlungen wiederaufzunehmen. Die Regierung wird der Bank in demselben Verhältnis in Metall zahlen, wie die Einfuhrzölle in Metall entrichtet werden; aber es ist bekannt, daß nicht nur die österreichischen Bauern, sondern auch die Bürger in den größeren Städten das Horten ebenso lieben wie die Chinesen und Inder; daß 1850 sogar Kupfergeld gehortet wurde und daß 1854 alle Steuern in Papier gezahlt werden, obwohl dies nur mit einem Abzug von vollen 17 Prozent angenommen wird. Wer in der Geschichte der österreichischen Finanzverwaltung bewandert ist, wird weder in den Versprechungen des neuen Dekrets noch in den finanziellen Kunstgriffen, zu denen man seine Zuflucht nahm, etwas Neues entdecken können. Die erste Ausgabe österreichischen Papiergeldes erfolgte unter der Kaiserin Maria Theresia gegen Ende des Siebenjährigen Krieges. Es bestand ursprünglich aus Bankozetteln, austauschbar gegen Silber bei den Staatsbehörden. 1797 wurde infolge der finanziellen Schwierigkeiten der Regierung in den Kriegen gegen Frankreich die Konvertibilität in Silber aufgehoben. Während die erste Ausgabe unter Kaiserin Maria Theresia sich auf 12 Millionen Gulden belief, betrug 1809 die Gesamtsumme der ausgegebenen Bankozettel 1060793653 Gulden, wobei ihre Entwertung gleichzeitig das Maximum erreichte. Am 20. Februar 1811 veröffentlichte die Regierung ein Patent, wodurch die Bankozettel gänzlich aus dem Umlauf gezogen und zum Kurs von 20 für 100 gegen ein neues Papiergeld, Wiener Währung genannt, eingelöst wurden (daher der Name: Einlösungsscheine). Die Regierung erklärte es zum eigentlichen Geld des Landes und versprach, daß es nie über den Betrag vermehrt werden solle, der zum Umtausch der Bankozettel notwendig sei. Im Mai 1811 hatte die Wiener Währung bereits ein Disagio von 8 Prozent, und es wurden Antizipationsscheine ausgegeben, so genannt, weil ein Teil der Steuereinnahmen für zwölf Jahre durch sie antizipiert wurde. Ihre erste Ausgabe betrug tatsächlich nur 45 Millionen
9 Marx Engels, Werke, Band 10
Gulden; zu ihrer Einlösung in zwölf Jahren wurde eine jährliche Summe von 3750000 Gulden bestimmt, die von der Grundsteuer genommen werden sollte. Aber als Folge des Krieges erschien unauffällig eine neue Ausgabe von Antizipationsscheinen nach der andren, jede von einer Entwertung begleitet. 1815 erreichte das Agio für Silber gegenüber der Wiener Währung die Höhe von 400Prozent. Am I.Juni 1816 erschien ein kaiserliches Patent, das erklärte, der Staat werde in Zukunft nicht mehr zu uneinlösbarer Papierwährung seine Zuflucht nehmen; das in Umlauf befindliche Papiergeld sollte allmählich eingezogen werden und Metallgeld als normales Zirkulationsmittel wieder eingeführt werden. Um diese Versprechungen zu erfüllen, wurde die privilegierte Nationalbank am 18. Januar 1818 definitiv errichtet, nachdem der Staat mit ihr eine Vereinbarung getroffen hatte, durch die sie sich verpflichtete, das uneinlösbare Papiergeld einzulösen. Dennoch hören wir noch im Juni 1852 den Finanzminister in dem Regierungsorgan wieder verkünden, daß Zwangsanleihen, außerordentliche Steuern, Verminderung des Geldwertes in Zukunft vollkommen ausgeschlossen sein sollten; österreichisches Papiergeld werde, wenn nicht gerade gegenwärtig, so doch in Zukunft, ohne Verlust gegen Metallgeld eingetauscht werden, und die jetzt beabsichtigten Anleihen sollten zur Einziehung des Staatspapiergeldes und zur Zahlung der Staatsschulden an die Bank verwendet werden. Es kann keinen besseren Beweis für die Hohlheit solcher Versprechungen geben als ihre periodische Wiederkehr. Zur Zeit Maria Theresias war die österreichische Regierung stark genug, ihre eigenen Bankozettel auszugeben, die in Münze eintauschbar waren und sogar ein Agio gegenüber Silber hatten. 1818 mußte der Staat, um sein Papiergeld einzulösen, seine Zuflucht zur Errichtung einer privilegierten Bank, Eigentum privater Kapitalisten, nehmen; diese erhielt Vorteile, welche dem Staat sehr lästig fielen, war aber zur Ausgabe von konvertiblen Noten verpflichtet. 1854 ruft die Regierung eine Bank zu Hilfe, deren eigene Noten ebenso entwertet und uneinlösbar geworden sind wie die des Staates selbst. Obwohl Österreich sich von 1815 bis 1846 fast ununterbrochenen Friedens und innerer Ruhe erfreute, fand der erste Stoß nach dieser langen Periode es doch gänzlich unvorbereitet. Der Krakauer Aufstand und die Unruhen in Galizien Ende Februar 1846[83] steigerten die öffentlichen Ausgaben um mehr als 10 Millionen gegenüber 1845. Hauptursache dieses Ansteigens waren die Ausgaben für das Heer. 1845 betrugen sie 50624120 Gulden, stiegen aber 1846 um 7 Millionen, während die Ausgaben für die Zivilverwaltung in den Provinzen um 2 Millionen wuchsen. 1847 führten die
Handelskrise und die schlechte Ernte zu einer beträchtlichen Verminderung der Steuereinnahmen, während die Ausgaben für das Heer, hauptsächlich infolge der Unruhen in Italien, auf 64 Millionen stiegen. Das Defizit dieses Jahres betrug 7 Millionen. 1848/49 waren die Einnahmen aus ganzen Provinzen verloren, dazu kamen die Kriegskosten in Italien und Ungarn. Das Defizit betrug 1848 45 Millionen Gulden und 1849 121 Millionen. 1849 wurden dreiprozentige Kassenanweisungen mit Zwangskurs im Betrage von 76 Millionen ausgegeben. Lange vorher hatte die Bank die Barzahlungen eingestellt; ihre Emissionen wurden von der Regierung als nichtkonvertibel erklärt. 1850 gab es ein Defizit von 54 Millionen, und die Gefahr eines Krieges mit Preußen ließ den Kurs des Papiergeldes um 60 Prozent fallen. Der Gesamtbetrag des in den Jahren 1849, 1850 und 1851 ausgegebenen Staatspapiergeldes belief sich auf 219 Millionen. 1852 war das Defizit um 8 Millionen größer als 1848 und um 46 Millionen größer als 1847. 1851 betrug das Heeresbudget 126 Millionen, war also fast doppelt so hoch wie 1847. 1852 betrugen die Ausgaben für die Polizei 9 Millionen, das Vierfache von 1848. Auch 1853 stiegen die Ausgaben für Polizei und Heer. Das eigentliche Problem ist jedoch nicht, wie Österreich in diese finanzielle Sackgasse hineingeriet, sondern wie es, derart in Papierwährung und Schulden verstrickt, den offenen Bankrott vermieden hat. Im Jahre 1850 betrugen seine Einnahmen 196 Millionen, 74 Millionen mehr als 1848 und 42 Millionen mehr als 1849. 1851 betrugen die Einnahmen 219 Millionen, 23 Millionen mehr als 1850. 1852 erreichten sie die Summe von 226 Millionen, einen Zuwachs gegenüber 1851 von 6 Millionen. Die Staatseinnahmen stiegen also ständig an, wenn auch 1852 nicht in demselben Verhältnis wie 1851 und 1851 nicht so wie 1850. Woher dieses Steigen der Einnahmen? Wenn man von den außerordentlichen Einnahmen aus der sardinischen Kriegsentschädigung und den lombardisch-venezianischen Konfiskationen184] absieht, so hat die Umwandlung des österreichischen Bauern in einen freien Besitzer seines Grund und Bodens die Steuerkraft des Landes und die Einnahmen aus der Grundsteuer erhöht. Gleichzeitig hat die Abschaffung der Patrimonialgerichte dem Staat das Einkommen zugewendet, dessen sich früher die Aristokratie kraft ihrer Justizgewalt erfreute, und diese Einnahmequelle fließt seit 1849 beständig stärker. Ferner stammte eine beträchtliche Vermehrung aus der Einkommensteuer, die durch das Patent vom 29. Oktober 1849 eingeführt wurde. In den italienischen Provinzen Österreichs hat sich diese Steuer als besonders ergiebig erwiesen. 1852 zum Beispiel betrüg die Steigerung der Einkommensteuer in den deutschen und slawischen Provinzen 601000 Gulden und in den
italienischen allein 639000 Gulden. Die wichtigste Ursache aber, die das österreichische Reich vor dem formellen Bankrott bewahrt hat, ist die Unterwerfung Ungarns und seine Gleichstellung mit den übrigen Provinzen hinsichtlich der Besteuerung. Die Grundlage des ganzen österreichischen Steuersystems bildet wohl die Grundsteuer. Am 23. Dezember 1817 erschien ein kaiserliches Patent, worin Kaiser Franz seinen Entschluß verkündete, die Grundsteuer für alle seine deutschen, slawischen und italienischen Provinzen einheitlich zu gestalten. In einem Paragraphen dieses Patents ist angeordnet, daß in Zukunft keine Befreiungen von der Grundsteuer „nach der persönlichen Eigenschaft der Grund- oder Hausbesitzer" gewährt werden sollten, und im ganzen handelte man nach diesem Grundsatz. Im Erzherzogtum Österreich wurde der neue Kataster 1834 eingeführt, und dies war das erste Erbland, wo das neue System in Kraft trat. Die österreichische Lombardei besaß einen ausgezeichneten Kataster aus der Zeit Karls VI., den Censimento milanese. Ungarn und Transsylvanien aber trugen keineswegs im gleichen Maße wie die übrigen Provinzen des Reiches zur Grundsteuer und zu anderen Steuern bei. Nach der ungarischen Verfassung hatten die ungarischen Grundbesitzer, welche den weitaus größten Teil des Bodens besaßen, keinerlei direkte Steuer zu zahlen, und selbst mehrere der indirekten Steuern, welche den anderen Provinzen auferlegt waren, drückten Ungarn und Transsylvanien nicht schwer. Die Bevölkerung Ungarns, Transsylvaniens und der Militärgrenze[85] betrug 1846 zusammen 14549958, die der anderen Provinzen der Monarchie24 901 675 Personen, so daß die ersteren sieben Achtzehntel der ganzen Einnahmen hätten beisteuern müssen. Aber Ungarn und Transsylvanien brachten 1846 bloß 23 Millionen auf, was von den Gesamteinnahmen jenes Jahres in Höhe von 164 Millionen nur etwas weniger als ein Siebentel der Einnahmen ausmachte. Die ungarischen Provinzen umfassen 5855 von den 12123 deutschen Quadratmeilen, die die Fläche der österreichischen Monarchie mißt, also die Hälfte ihres Gebietes. Kaiser Joseph II., dessen großes Ziel die Zentralisation und völlige Germanisierung der österreichischen Monarchie war, hatte aus eigener Machtvollkommenheit Neuerungen in Ungarn eingeführt, die das Land in gleiche Stellung mit den anderen Provinzen bringen sollten. Aber dies rief eine derartige Wirkung in der öffentlichen Meinung dieses Landes hervor, daß Joseph II. am Ende seines Lebens fürchtete, die Ungarn würden rebellieren gleich den Niederländern1861. Die Kaiser Leopold II., Franz I. und Ferdinand I. wagten es nicht, das gefährliche Experiment zu wiederholen. Die Ursache - die Hindernisse, welche die ungarische Verfassung einer Steuer
liehen Gleichstellung bereitete - hörte zu wirken auf, nachdem die ungarische Revolution mit russischer Hilfe erstickt worden war. Kaiser Franz Joseph, der niemals auf die ungarische Verfassung geschworen hatte und deshalb zum Kaiser an Ferdinands Stelle erhoben wurde, führte sogleich die Grundsteuer ein, so wie sie in den anderen Kronländern bestand. Außerdem wurde durch die Aufhebung der Zollgrenze gegen Ungarn am 1. Oktober 1850 die Monarchie in bezug auf Zölle und Abgaben ein einziges Gebiet. Die Verbrauchssteuer und das Tabakmonopol wurden gleichfalls hier am 1. März 1851 eingeführt. Die Zunahme der direkten Steuern allein in den ungarischen Provinzen betrug 11500000 im Jahre 1851 und ungefähr 8 Millionen Gulden im Jahre 1852. Wir gelangen somit zu dem unwiderleglichen Schluß, daß von dem Besitz Ungarns und der Lombardei nicht bloß die politische, sondern auch die ökonomische Existenz des österreichischen Reiches abhängt und daß mit ihrem Verlust der lang verzögerte Bankrott dieses Staates unvermeidlich wird.
Geschrieben am 3. März 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Kriegspläne Frankreichs und Englands Der griechische Aufstand - Spanien - China]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4030 vom 18. März 1854] London, Freitag, 3. März 1854. In meinem letzten Brief erwähnte ich, Sir Charles Napier verdanke seine Ernennung zum Oberbefehlshaber der Ostseeflotte seinem öffentlich ausgedrückten Mißtrauen gegen die französische Allianz und seiner Anklage, Frankreich habe England 1840 verraten, während in Wirklichkeit die englische Regierung damals mit Nikolaus gegen Louis-Philippe konspirierte. Ich hätte noch hinzufügen sollen, daß der zweite Admiral im Schwarzen Meer, Sir Edmund Lyons, während seines Aufenthalts als englischer Gesandter in Griechenland sich als erklärter Feind Frankreichs zeigte und von diesem Amt auf die Vorstellungen Lord Stratford de Redcliffes hin entfernt wurde. Das Ministerium tat also sein möglichstes, um durch seine Ernennungen Zwietracht nicht nur zwischen dem französischen und englischen Befehlshaber, sondern auch zwischen den Admiralen und dem englischen Gesandten in Konstantinopel zu säen. Diese Tatsachen werden nicht geleugnet und gewiß nicht dadurch widerlegt, daß Bonaparte in der Eröffnungsrede an die Deputierten sich zu seiner engen Allianz mit England gratuliert. Die Entente cordiale[29] ist bestimmt etwas älter als die Wiederherstellung der kaiserlichen Etikette. Das Bemerkenswerteste an der Rede Bonapartes ist weder diese Reminiszenz an LouisPhilippes Ansprachen, noch daß er die ehrgeizigen Pläne des Zaren bloßstellt, sondern vielmehr, daß er sich öffentlich als Beschützer Deutschlands und besonders Österreichs gegen den inneren und äußeren Feind erklärt. Die Ratifikationsurkunden des Vertrags der Pforte mit den Westmächten, der die Klausel enthält, die Pforte dürfe ohne ihre Mitwirkung keinen Frieden mit Rußland schließen, waren am 5. Februar in Konstantinopel kaum ausgetauscht, als schon Verhandlungen zwischen den Vertretern der vier Mächte
Die Kriegspläne Frankreichs und Englands - Der griechische Aufstand III
und der Pforte wegen der künftigen Stellung der Christen in der Türkei begannen. Die „Times" vom Mittwoch verrät den eigentlichen Zweck dieser Unterhandlungen:
„Die Verhältnisse in verschiedenen Teilen des Türkischen Reiches, denen schon durch Fermane und Verträge die vollständige innere Verwaltung ihrer Angelegenheiten zugestanden worden ist, während sie die Oberhoheit der Pforte weiterhin anerkennen, bilden Präzedenzfälle, die ohne Nachteil für beide Seiten weiter ausgedehnt werden können und vielleicht den besten Ausweg bieten, wie man für die Provinzen in ihrer jetzigen Lage Vorsorge treffen kann."
Mit anderen Worten, das Koalitionskabinett beabsichtigt, die Integrität des Türkischen Reiches in Europa durch die Umwandlung Bosniens, Kroatiens, der Herzegowina, Bulgariens, Albaniens, Rumeliens und Thessaliens in ebensoviele Donaufürstentümer zu sichern. Nimmt die Pforte diese Bedingungen an, so muß das, wenn die türkischen Armeen sich als siegreich erweisen, unfehlbar zum Bürgerkrieg unter den Türken selbst führen. Jetzt weiß man, daß die Entdeckung der Verschwörung in Widdin die griechische Explosion nur beschleunigte, die in Bukarest schon vor ihrem Ausbruch als vollendete Tatsache betrachtet wurde. Der Pascha von Skutari konzentriert alle seine Truppen, um die Montenegriner daran zu hindern, sich mit den aufständischen Griechen zu vereinigen. Die englisch-französische Expedition darf man als neuen Schwindel ansehen, soweit es sich um die gegenwärtigen Absichten der britischen Regierung handelt. Als Landungsplatz für die Franzosen ist Rodosto, für die Briten Enos bestimmt. Letztere Stadt liegt auf einer kleinen Halbinsel am Eingang einer sumpfigen Bucht, deren Hintergrund die ausgedehnten Sümpfe des Marizatales bilden, die ohne Zweifel außerordentlich zur Gesundheit des Lagers beitragen werden. Es liegt nicht nur außerhalb des Bosporus, sondern auch der Dardanellen, und die Truppen müssen, um zum Schwarzen Meer zu gelangen, sich entweder nochmals einschiffen und eine Rundfahrt zur See von etwa 250 Meilen gegen die Strömungen der Meerengen auskosten, oder 160 Meilen weit durch wegloses Land marschieren - ein Marsch, der zweifellos in 14 Tagen bewältigt werden könnte. Die Franzosen sind in Rodosto wenigstens am Marmarameer und nur sieben Tagemärsche von Konstantinopel entfernt. Was sollen nun die Truppen in dieser unbegreiflichen Lage tun? Nun, entweder sollen sie nach Adrianopel marschieren, um dort die Hauptstadt zu decken, oder sie sollen sich schlimmstenfalls auf der Landenge des Thrakischen Chersones vereinigen, um die Dardanellen zu verteidigen. So schreibt
die „Times" „mit höherer Erlaubnis" und zitiert sogar Marschall Marmonts strategische Bemerkungen, um die Weisheit dieses Planes zu stützen. Hunderttausend Mann französischer und englischer Truppen, um eine Hauptstadt zu verteidigen, die nicht bedroht ist und in den nächsten zwölf Monaten möglicherweise nicht bedroht werden kann! Da hätten sie wirklich ebensogut zu Hause bleiben können! Sollte dieser Plan zur Ausführung kommen, so ist er sicher der schlechteste, der ersonnen werden konnte. Er gründet sich auf die schlimmste Art der defensiven Kriegführung, nämlich auf eine, die ihre Stärke in absoluter Untätigkeit sucht. Angenommen, die Expedition sollte einen vorwiegend defensiven Charakter tragen, so ist es klar, daß dieser Zweck am besten dadurch erreicht würde, wenn man es den Türken ermöglichte, gestützt auf eine solche Reserve, zur Offensive überzugehen, oder doch eine Stellung einzunehmen, in der eine gelegentliche und teilweise Offensive, wo die Verhältnisse sie gestatten, ergriffen werden könnte. In Enos und Rodosto aber sind die französischen und englischen Truppen vollständig nutzlos. Das schlimmste daran ist, daß eine Armee von 100000 Mann mit einer reichlichen Zahl Transportdampfern und unterstützt durch eine Flotte von zwanzig Linienschiffen in sich selbst eine Macht darstellt, die zu entschiedenster Offensivaktion in jedem beliebigen Teil des Schwarzen Meeres fähig ist. Eine derartige Streitmacht muß entweder die Krim und Sewastopol, Odessa und Cherson nehmen, das Asowsche Meer blockieren, die russischen Befestigungen an der kaukasischen Küste zerstören und die russische Flotte unversehrt in den Bosporus bringen, oder sie hat keine Ahnung von ihrer Stärke und ihrer Pflicht als aktive Armee. Von seiten der Anhänger des Ministeriums wird versichert, daß man solche Operationen unternehmen werde, wenn erst die 100000 Mann in der Türkei konzentriert sind, und daß mit der Landung der ersten Divisionen bei Enos und Rodosto nur beabsichtigt ist, den Feind zu täuschen. Aber selbst in diesem Fall ist es unnötige Zeit- und Kraftverschwendung, die Truppen nicht gleich an irgendeinem Punkt des Schwarzen Meeres landen zu lassen. Der Feind kann nicht irregeführt werden. Sobald Kaiser Nikolaus von dieser großspurig angekündigten Expedition von 100000 Mann hört, muß er jeden Soldaten, den er entbehren kann, nach Sewastopol, Kaffa, Perekop und Jenikale schicken. Man kann seinen Gegner nicht erst durch ungeheure Rüstungen schrecken und ihn nachher glauben machen wollen, daß man damit niemandem Schaden zufügen will. Der Kniff wäre zu durchsichtig, und falls man darauf rechnet, die Russen mit solchen kläglichen Manövern irrezuführen, so hat die britische Diplomatie damit nur einen neuen gewaltigen Schnitzer gemacht.
Ich glaube daher, daß die, die diese Expedition ersonnen haben, den Sultan geradezu betrügen wollen und unter dem Vorwand, Rußland soviel als möglich zu schrecken, sich sehr bemühen werden, ihm auf alle Fälle so wenig Schaden als möglich zuzufügen. Besetzen England und Frankreich Könstantinopel und einen Teil Rumeliens, besetzt Österreich Serbien und vielleicht Bosnien und Montenegro, und ist es Rußland möglich, seine Stellung in der Moldau und in der Walachei zu verstärken, so sieht das einer etwaigen Teilung der Türkei in Europa überaus ähnlich. Die Türkei befindet sich heute in einer schlimmeren Lage als im Jahre 1772. Um die Kaiserin Katharina zum Rückzug aus den Donaufürstentümern zu veranlassen, deren Besetzung zu einem europäischen Konflikt zu führen drohte, schlug damals der König von Preußen1 die erste Teilung Polens vor, um die Kosten des Russisch-Türkischen Krieges zu decken. Man erinnere sich, daß zu jener Zeit die Pforte sich ursprünglich in den Krieg mit Katharina stürzte, um Polen gegen den russischen Angriff zu verteidigen, und daß am Ende Polen auf dem Altar der „Unabhängigkeit und Integrität" des Ottomanischen Reiches geopfert wurde. Die verräterische Zauderpolitik des Koalitionskabinetts hat den moskowitischen Emissären die Möglichkeit gegeben, den griechischen Aufstand auszuhecken und zu nähren, den Lord Clarendon so sehnsüchtig erwartete. Der Aufstand hatte am 28.Januar begonnen und nahm nach den letzten Wiener Depeschen am 13. Februar bedrohlichere Ausmaße an. Die Gebiete von Akarnanien und Ätolien und Teile von Ilbessan und Delonia sollen sich in Aufruhr befinden. In Egripo, der Hauptstadt von Euböa, soll ein Aufstand ausgebrochen sein, der an Ernst dem in Albanien nicht nachsteht. Daß die Städte Arta und Janina von den Türken verlassen und von den Griechen besetzt wurden, ist weniger von Bedeutung, da die beherrschenden Zitadellen in den Händen ottomanischer Truppen bleiben und, wie wir aus den zahlreichen Kriegen zwischen Christen und Türken in Albanien wissen, der endgültige Besitz dieser Städte immer von dem Besitz der Zitadellen abhing. Für die Gebiete von Contessa und Saloniki und die Küsten Albaniens wird der Belagerungszustand erklärt werden. Ich bemerkte in meinem letzten Brief, eines der Ergebnisse des griechischen Aufstandes, das die Pforte am meisten zu fürchten habe, sei, daß er den Westmächten die Gelegenheit biete, sich in die Angelegenheiten zwischen dem Sultan und seinen Untertanen einzumischen, statt die Russen zu bekämpfen, und so die griechischen Christen in ein Bündnis mit dem Zaren hineinzutreiben.2 Wie gierig die Mächte nach dieser
1 Friedrich II. - 8 siehe vorl. Band, S. 101
Gelegenheit greifen, kann man daraus ersehen, daß die gleiche Post die Nachricht bringt, die Pforte habe den von Frankreich und England vorgeschlagenen Vertrag angenommen, und die französischen und englischen Gesandten hätten den Türken zwei Dampfer zu Hilfe geschickt, während der britische Gesandte in Athen dem Kabinett König Ottos mitgeteilt habe, England wolle in den aufständischen Gebieten eingreifen. Das unmittelbare Ergebnis des Aufstandes vom militärischen Standpunkt aus schildert der Wiener Korrespondent in der „Times" ganz klar wie folgt:
„In den letzten Tagen hat sich eine gewisse Entmutigung im Hauptquartier von Widdin bemerkbar gemacht, da die angekündigten Verstärkungen Konterorder bekommen haben und nun auf dem Wege nach den südwestlichen Gebieten der Türkei sind. Die Nachricht von dem Aufstand der Christen in Epirus hat auf die Arnauten und auf die Albanesen an der Donau einen beunruhigenden Eindruck gemacht, und sie haben laut die Erlaubnis zur Heimkehr gefordert. Die Brigadegenerale Hasan Bay und Suleiman Pascha hatten jeden Einfluß über ihre wilden Truppen verloren. Versuchte man sie mit Gewalt zurückzuhalten, so befürchtete man offenen Aufruhr; erlaubte man ihnen die Rückkehr, so würden sie auf ihrem Heimweg christliches Gebiet verwüsten. Falls die feindselige Bewegung der christlichen Bevölkerung im Westen noch bedrohlichere Ausmaße annähme, so wäre der westliche Flügel der türkischen Armee gezwungen, eine rückläufige Bewegung zu machen, die den Schlag, den die Russen durch die Einfahrt der alliierten Flotten ins Schwarze Meer erlitten haben, mehr als aufwiegen würde." Dies sind einige der ersten Ergebnisse der Zauderpolitik, die die Graham, Russell, Clarendon und Palmerston zur Rechtfertigung der Politik des Ministeriums in der orientalischen Frage so schwülstig preisen. Als ihnen Freitag spät abends mitgeteilt wurde, der Zar habe Sir Hamilton Seymour, ohne dessen Abberufung seitens Englands abzuwarten, in schroffster und unhöflichster Weise verabschiedet, hielten sie zwei Kabinettsitzungen ab, eine am Sonnabend und eine am Sonntag nachmittag. Das Resultat ihrer Beratungen besteht darin, daß dem Zaren noch ein weiterer Aufschub von drei bis vier Wochen gewährt wird; dieser Aufschub soll ihm in der Form einer Aufforderung bewilligt werden, in der „vom Zaren verlangt wird, binnen sechs Tagen nach Erhalt dieser Mitteilung feierlich zu versprechen und sich zu verpflichten, daß er seine Truppen veranlassen wolle, am oder vor dem 30. April die Donaufürstentümer zu räumen". Man beachte jedoch, daß dieser Aufforderung nicht die Drohung einer Kriegserklärung folgt, für den Fall, daß der Zar dies ablehnen sollte. Man kann freilich sagen, und die „Times" tut dies auch, daß trotz dieses bewilligten Aufschubs die Kriegsvorbereitungen eifrig fortgesetzt werden. Aber es
ist zu bemerken, daß einerseits durch den von den Westmächten in Aussicht gestellten Entschluß, sich direkt am Krieg zu beteiligen, jede entschiedene Aktion der Pforte an der Donau verhindert wird - und jeder Tag des Aufschubs in diesem Gebiet verschlimmert die Lage der Türken, da er den Russen ermöglicht, sich an der Front zu verstärken, und die griechischen Rebellen im Rücken der Donauarmee immer gefährlicher werden läßt, während andrerseits die Einschiffung der Truppen nach Enos und Rodosto den Sultan in Verlegenheit setzen kann, die Russen aber bestimmt nicht aufhalten wird. Es wurde vereinbart, daß die britische Expeditionsarmee aus etwa 30000 und die französische aus etwa 80000 Mann bestehen soll. Sollte sich etwa im Verlauf der Ereignisse herausstellen, daß Osterreich, während es scheinbar auf der Seite der Westmächte steht, nur sein Einverständnis mit Rußland zu bemänteln versuchte, so hätte Bonaparte diese höchst unbesonnene Zersplitterung seiner Truppen sehr zu bedauern. Es gibt noch einen Aufstand, den man als eine Ablenkung zugunsten Rußlands betrachten kann - den Aufstand in Spanien. Jede Bewegung in Spanien ruft mit Sicherheit Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und England hervor. Die französische Intervention in Spanien von 1823 war, wie wir aus Chateaubriands „Kongreß zu Verona" wissen, von Rußland angestiftet. Daß die englisch-französische Intervention 1834[8'], die schließlich zum Bruch der Entente cordiale zwischen den beiden Staaten führte, sich aus derselben Quelle herleitete, können wir daraus schließen, daß Palmerston ihr Urheber war. Die „spanischen Heiraten"[88] bereiteten den Weg zum Sturz der Dynastie der Orleans vor. Im Augenblick würde eine Entthronung der „unschuldigen" Isabella einem Sohn Louis-Philippes, dem Herzog von Montpensier, dazu verhelfen, seine Ansprüche auf den spanischen Thron geltend zu machen, während andrerseits Bonaparte daran erinnert würde, daß einst einer seiner Onkel in Madrid residiert hat. Die Orleans würden durch die Coburger unterstützt und von den Bonapartes bekämpft werden. Ein spanischer Aufstand, der keineswegs eine Revolution des Volkes bedeutet, müßte sich daher als überaus mächtige Triebkraft erweisen, eine so oberflächliche Verbindung wie die englisch-französische Allianz aufzulösen. Es wird berichtet, daß ein Allianzvertrag zwischen Rußland, Chiwa, Buchara und Kabul geschlossen worden ist. Bei Dost Muhammad Chan, dem Emir von Kabul, wäre es nur ganz natürlich, wenn er sich jetzt an England, seinem treulosen Bundesgenossen, zu rächen versuchte. Hatte er doch England im Jahre 1838 angeboten, Rußland ewige Blutfehde anzusagen, wenn es der englischen Regierung dienlich sei, indem
er den Agenten, den der Zar ihm schickte, töten ließ; und sein Zorn gegen England entbrannte aufs neue über die Rolle, die es 1839 bei der afghanischen Expedition spielte, als er vom Thron gestoßen und sein Land in der grausamsten, skrupellosesten Weise verwüstet wurde.1891 Da aber die Bevölkerung von Chiwa, Buchara und Kabul zum orthodoxen muselmanischen Glauben der Sunniten gehört, während die Perser sich zu den schismatischen Lehrsätzen der Schiiten bekennen, so ist nicht anzunehmen, daß sie sich mit Rußland, dem Bundesgenossen der von ihr verabscheuten und gehaßten Perser, gegen England verbündet, dem scheinbaren Alliierten des Padischah, den sie als den obersten Gebieter aller Gläubigen betrachtet. Mit einiger Wahrscheinlichkeit könnte Rußland an Tibet und an dem Tatarenkaiser von China Bundesgenossen haben, wenn dieser gezwungen wäre, sich in die Mandschurei zurückzuziehen und auf das Zepter des eigentlichen Chinas zu verzichten. Die chinesischen Rebellen haben, wie man weiß, einen regelrechten Kreuzzug gegen den Buddhismus unternommen, dessen Tempel zerstört und seine Bonzen getötet.1901 Die Religion der Tataren ist jedoch der Buddhismus, und Tibet, das die Suzeränität Chinas anerkennt, ist der Sitz des großen Lama und das Allerheiligste für den buddhistischen Glauben. Wenn es also Taiping Tiän-wang gelingt, die Mandschu-Dynastie aus China zu vertreiben, so wird er in einen Religionskrieg mit den buddhistischen Kräften der Tataren verwickelt werden. Da man sich nun auf beiden Seiten des Himalajas zum Buddhismus bekennt und England nicht umhin kann, die neue chinesische Dynastie zu unterstützen, so wird der Zar sicherlich auf die Seite der Tatarenstämme treten, sie gegen England drängen und religiöse Aufstände in Nepal selbst anfachen. Aus der letzten orientalischen Post erfahren wir,
„der Kaiser von China habe in Voraussicht des Verlustes von Peking die Gouverneure der verschiedenen Provinzen angewiesen, die kaiserlichen Einkünfte nach Jehol zu schicken, dem alten Familiensitz und der jetzigen Sommerresidenz in der Mandschurei, etwa achtzig Meilen nordöstlich der Großen Mauer". Folglich kann man den großen Religionskrieg zwischen Chinesen und Tataren, der sich über die Grenzen Indiens ausdehnen wird, in naher Zukunft erwarten. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Eröffnung des Arbeiterparlaments Das englische Kriegsbudget]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4035 vom 24. März 1854] London, Dienstag, 7. März 1854. Die Delegierten des Arbeiterparlaments[91] traten gestern um 10 Uhr vormittags im People's Institute1 in Manchester zusammen. Die erste Sitzung war natürlich vorbereitenden Geschäften gewidmet. James Williams aus Stockport stellte den Antrag, der von James Bligh aus London und Ernest Jones unterstützt wurde, daß Dr. Marx als Ehrendelegierter zum Arbeiterparlament eingeladen werde; der Antrag wurde einstimmig angenommen. Gleiche Beschlüsse faßte man hinsichtlich der Herren Blanc und Nadaud. Welche unmittelbaren Ergebnisse ein solches Parlament auch haben mag, allein seine Zusammenkunft schon zeugt von einer neuen Epoche in der Geschichte der Arbeiter. Man mag vielleicht die Versammlung im Palais Luxembourg zu Paris nach der Februarrevolution[63) als einen Vorläufer auf diesem Wege betrachten, doch schon auf den ersten Blick erkennt man den großen Unterschied - daß nämlich die Luxembourg-Kommission von der Regierung ausging, während das Arbeiterparlament vom Volke selbst ausgeht; daß die Luxembourg-Kommission ersonnen wurde, um die sozialistischen Mitglieder der Provisorischen Regierung von dem Zentrum des Kampfes und von jeder ernsthaften Teilnahme an den eigentlichen Aufgaben des Landes fernzuhalten; schließlich, daß die Delegierten der LuxembourgKommission nur aus Mitgliedern der verschiedenen sogenannten corps d'etats bestanden, Korporationen, die mehr oder weniger den mittelalterlichen Gilden und den jetzigen Trade-Unions entsprechen, während das Arbeiterparlament eine wirkliche Vertretung aller Zweige und Teile der Arbeiter im
1 Volkshaus
nationalen Maßstab ist. Der Erfolg des Arbeiterparlaments wird hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, davon abhängen, ob es von dem Grundsatz ausgeht, daß jetzt die Aufgabe nicht in der sogenannten Organisation der Arbeit, sondern in der Organisation der Arbeiterklasse besteht. Die Privilegien der gegenwärtig herrschenden Klassen wie die Sklaverei der Arbeiterklasse sind gleichermaßen auf die bestehende Organisation der Arbeit gegründet, die natürlich von den herrschenden Klassen verteidigt und mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aufrechterhalten wird, und eins dieser Mittel ist die jetzige Staatsmaschinerie. Um folglich die bestehende Organisation der Arbeit zu ändern und durch eine neue zu ersetzen, braucht man Macht - soziale und politische Macht -, Macht, nicht nur zum Widerstand, sondern auch zum Angriff; um aber zu solcher Macht zu gelangen, muß man sich zu einer Armee organisieren, die moralisch und physisch stark genug ist, um der feindlichen Streitmacht begegnen zu können. Sollte das Arbeiterparlament seine Zeit mit rein theoretischen Erörterungen verbringen, anstatt den Weg für die wirkliche Bildung einer nationalen Partei vorzubereiten, so wird es sich wie die Luxembourg-Kommission als Fehlschlag erweisen. Entsprechend den Statuten der Nationalen Chartisten-Assoziation[92] hat eine Neuwahl des Exekutivkomitees der Chartisten stattgefunden. Es wurde bekanntgegeben, daß Ernest Jones, James Finlen (London) und John Shaw (Leeds) ordnungsgemäß in die Exekutive der NCA für die nächsten sechs Monate gewählt sind. Da Bonapartes Vorhaben, an der Börse eine Anleihe aufzunehmen, am passiven Widerstand der Pariser Kapitalisten gescheitert war, hat sein Finanzminister dem Senat ein Budget vorgelegt, das den folgenden Artikel enthält:
„Der Finanzminister ist ermächtigt, zugunsten der Schatzkammer und der Transaktionen mit der Bank von Frankreich verzinsliche Schatzbons herauszugeben, zahlbar in bestimmten Fristen. Die zirkulierenden Schatzbons sollen die Summe von 250 Millionen Francs (10 Millionen Pfd. St.) nicht übersteigen, doch sind laut Gesetz vom 10. Juni 1833 die dem Tilgungsfonds übertragenen Bons von dieser Beschränkung ausgenommen; und die Schatzbons können auch nicht als Sicherheiten bei der Bank von Frankreich und der Diskontanstalt eingezahlt werden."
Eine Zusatzklausel bestimmt, daß „sich der Kaiser das Recht vorbehält, zusätzliche Emissionen durch einfaches Dekret zu verfügen", mit nachfolgender Sanktion durch den Senat. Wie mir in einem Brief aus Paris mitgeteilt wird, hat dieser Vorschlag die gesamte Bourgeoisie in Schrecken versetzt, da einerseits die Schatzbons die Summe von 250 Millionen Francs nicht über
steigen sollen und andrerseits dieselbe Summe um jeden Betrag gesteigert werden kann, den der Kaiser festzusetzen beliebt, wobei die solcherart ausgegebenen Schatzbons nicht einmal als Sicherheiten bei der Bank von Frankreich und den anderen Diskontanstalten angenommen werden. Sie wissen, daß die Bank auf den Betrag von 60 Millionen Francs, den man von den caisses des depots et consignations1 nahm, bereits Schatzbons vorgeschossen hat. Schon das Gespenst eines Krieges wird von den Dezembristen[43] eifrig genutzt, um die letzten schwachen Schranken, die sie noch vom Staatsschatz trennen, zu beseitigen. Während diese Aussicht auf eine drohende Desorganisation des öffentlichen Kredits, der bereits sehr erschüttert ist, die Bourgeoisie erschreckt, empören die vorgeschlagene Erhöhung der Salzsteuer und ähnliche höchst unpopuläre Steuern die Masse des Volkes. Somit kann dieser Krieg, obwohl er Bonaparte sicherlich eine gewisse Popularität im Ausland verschafft, dennoch seinen Sturz in Frankreich beschleunigen. Daß ich mit meiner Vermutung recht hatte, wonach die gegenwärtigen spanischen Unruhen wahrscheinlich Anlaß zu ernsthaften Mißverständnissen zwischen Frankreich und England gäben, wird durch die folgende Mitteilung eines Londoner Blattes bestätigt:
„Der französische Kaiser hat durch Herrn Walewski bei Lord Clarendon Erkundigungen eingezogen, ob die britische Regierung geneigt wäre, ihm zu helfen, den karlistischen Kronprätendenten auf den spanischen Thron zu bringen, falls Königin Isabella entthront werden sollte. Lord Clarendon soll geantwortet haben, Königin Isabella sitze zum Glück fest auf ihrem Thron, und die Möglichkeit einer Revolution sei in einem Lande, das monarchischen Einrichtungen so ergeben ist, nur gering; doch müsse das britische Kabinett, selbst wenn eine Revolution in Spanien ausbrechen sollte und die Königin entthront werde, davon absehen, irgendwelche Abmachungen zu treffen. Der Vorschlag des Kaisers, den Grafen von Montemolin auf den Thron zu setzen, entspringt seinem ganz natürlichen Wunsche, die Herzogin von Montpensier daran zu hindern, das Diadem ihrer Schwester zu erben; denn er glaubt, daß es unbequem für ihn wäre, einen Sohn Louis-Philippes als Gatten der Königin von Spanien zum Nachbar zu haben."
In der Freitagsitzung des Unterhauses erklärte Lord John Russell, er sei gezwungen, seine Reformbill vorläufig zurückzuziehen; diese werde jedoch am 24. April behandelt, wenn bis dahin die orientalische Frage durch die Annahme der dem russischen Kaiser erneut unterbreiteten Vorschläge
1 Depositenkassen
geregelt sei. Eine solche Regelung ist freilich nach der Veröffentlichung des Manifestes des Zaren an seine Untertanen und seinem Brief an Bonapartet931 unwahrscheinlicher denn je geworden. Nichtsdestoweniger beweist die Erklärung des Ministeriums jedoch, daß die Reformbill nur vorgebracht worden ist, um die öffentliche Meinung abzulenken und zu besänftigen, wenn es der Diplomatie der Koalition gelingen sollte, den russischen Status quo ante bellum1 wiederherzustellen. Welch hervorragende Rolle Lord Palmerston bei dieser Intrige des Ministeriums spielte, schildert der „Morning Advertiser", einer der glühendsten Anhänger Palmerstons, wie folgt:
„Lord Aberdeen ist Premierminister wohl dem Namen nach, doch nicht in Wirklichkeit. Faktisch ist Lord Palmerston der erste Minister der Krone. Er ist der beherrschende Kopf des Kabinetts. Seitdem er wieder im Amt ist, waren seine Amtsgenossen in ständiger Besorgnis, er könnte plötzlich wieder abspringen, und wagten es demzufolge nicht, auch nur einer jener Ansichten zu widersprechen, von denen bekannt ist, daß er ihnen besondere Bedeutung beimißt. Es geht also alles nach seinem Willen. Ein treffendes Beispiel für den bestimmenden Einfluß seiner Lordschaft in dem Rat Ihrer Majestät lieferte die vergangene Woche, als die neue Reformbill dem Kabinett formell zur Beratung unterbreitet wurde und die Frage entstand, ob sie in dieser Session beraten oder zurückgezogen werden sollte. Lord Aberdeen, Lord John Russell, Sir James Graham und Sir William Molesworth waren für die Beratung der Bill. Lord Palmerston schlug vor, sie zurückzuziehen, und gab, wie wir vor einigen Tagen berichteten, offen zu verstehen, daß er für deren Aufgabe im Parlament stimmen werde, sollte er im Kabinett überstimmt werden. Das Ergebnis der Diskussion oder Unterhaltung war, daß Lord Palmerston seinen Standpunkt durchsetzte. Seine Opponenten - unter ihnen der Führer der Regierungspartei im Oberhaus und der Führer derselben im Unterhaus - gaben schließlich nach. Ein weiterer Triumph Lord Palmerstons innerhalb der letzten acht Tage war die Ernennung Sir Charles Napiers zum Befehlshaber der Ostseeflotte. Es ist kein Geheimnis, daß Lord John Russell wie auch Sir James Graham gegen diese Ernennung waren, doch Lord Palmerston war dafür, und somit erfolgte sie. Deshalb wäre es nur angemessen, wenn der edle Lord heute abend den Vorsitz auf dem Bankett übernähme, das der Reformklub zu Ehren des tapferen Admirals geben soll."
Herr Gladstone unterbreitete dem Haus gestern abend eine der heutigen Generation unbekannte Neuigkeit - ein Kriegsbudget. Aus seiner Rede ging hervor, daß die Regierung zu diesem frühen Zeitpunkt ihre Finanzmaßnahmen vor dem Parlament darlegte, um beizeiten von den höchst unheilvollen Auswirkungen eines Krieges auf die privaten Geldbeutel zu berichten und
hierdurch die kriegerischen Leidenschaften des Landes abzukühlen. Ein weiteres wichtiges Merkmal seiner Rede war, daß er nur um die Summe einkam, die nötig wäre, um die 25000 Mann, die die englische Küste gerade verlassen sollen, zurückzubringen, sollte der Krieg jetzt zu einem Ende gebracht werden. Er begann mit der Darlegung des faktischen Standes der Einnahmen und Ausgaben vom letzten Finanzjahr. Da dieses noch nicht abgeschlossen sei, bemerkte er, daß man die Einkünfte für den einen Monat nur schätzen könne. Das Gesamteinkommen des Jahres, das mit dem 18. April 1853 begann, sei auf 52990000 Pfd. St. veranschlagt worden, während die tatsächlichen Einnahmen des Jahres nicht weniger als 54025000 Pfd. St. betragen hätten; das tatsächliche Einkommen übersteige folglich die angenommenen Ausgaben um 1035000 Pfd. St. Andrerseits seien gegenüber den veranschlagten Ausgaben 1012000 Pfd. St. eingespart worden. Deshalb müßte dieses Jahr nach seiner Berechnung, wären nicht die besonderen Umstände, in denen sich das Land zur Zeit befinde, einen Zuwachs von 2854000 Pfd. St. gegenüber den Ausgaben erbringen. Herr Gladstone wies sodann auf die Ergebnisse der von ihm eingeführten Zollherabsetzungen hin. Die Zolleinnahmen hätten 1853/1854 trotz dieser Herabsetzungen 20600000 Pfd. St. betragen, 1852/1853 dagegen nur 20396000 Pfd. St.; das bedeute ein Ansteigen um 204000 Pfd. St. Die Herabsetzung der Teesteuer habe einen Verlust von nur 375 000 Pfd. St. ergeben. Die Herabsetzung der Stempelsteuern von 3 Pence aufwärts bis zu 10 Schilling auf eine einheitliche Steuer von 1 Penny habe statt des erwarteten Verlusts einen Zuwachs von 36000 Pfd. St. aus diesen Gebühren erbracht. Im weiteren berichtete dann Herr Gladstone über die Ergebnisse der in der letzten Session ergriffenen Maßnahmen zur Erhöhung der Steuern. Die Erhebung der Einkommensteuer sei in Irland durch verschiedene Umstände verzögert worden, doch werde sie 20000 Pfd. St. mehr einbringen, als berechnet wurde. Die Ausdehnung der Besteuerung von Einkommen (von 150 auf 100 Pfd. St.) in Großbritannien werde 100000 Pfd. St. über die veranschlagte Summe ergeben, nämlich 250000 Pfd. St. Die Einnahme aus der zusätzlichen Steuer auf geistige Getränke von 1 Schilling per Gallone in Schottland habe er auf 278000 Pfd. St. veranschlagt; sie betrage jedoch nur 209000 Pfd. St. Dafür habe die Steuer auf geistige Getränke in Irland einen Zuwachs von 213000 Pfd. St. ergeben, während er nur mit 198000Pfd. St. gerechnet habe. Die Erbschaftssteuer werde im gesamten Finanzjahr nur eine halbe Million einbringen. Soweit der Bericht des Herrn Gladstone über die Finanzen Großbritanniens im laufenden Jahr, das am 5. April endet.
10 Marx/Engels, Werke, Band 10
Die voraussichtlichen Einnahmen im Jahre 1854/1855 werden wie folgt veranschlagt: Zölle 20175000 Pfd. St. Akzise 14595000 „ „ Stempelsteuer 7090000 „ „ Steuern 3015000 „ „ Einkommensteuer 6275000 „ „ Posteinnahmen 1200000 n n Kronländereien 259000 „ „ Alte Vorräte 420000 „ „ Verschiedenes 320000 „ „ Gesamteinnahmen 53 349000 Pfd. St.
Die voraussichtlichen Ausgaben werden demgegenüber wie folgt veranschlagt: Konsolidierte Schuld 27000000 Pfd. St. Nichtkonsolidierte Schuld 546000 „ „ Konsolidierter Fonds 2460000 „ „ Armee 6857000 „ „ Flotte 7488000 „ „ Feldzeugamt 3846000 „ „ Kommissariat 645000 „ „ Verschiedenes 4775000 „ „ Miliz 530000 „ „ Paketbootdienst 792000 „ „ Orientalischer Dienst = 1 250000 „ „ Gesamtausgaben 56189000 Pfd. St. Defizit 2840000 Pfd. St.
Bevor er sich der Frage zuwandte, wie dieses Defizit gedeckt werden soll, zählte Herr Gladstone die Maßnahmen auf, die die Regierung dem Hause nicht zu ergreifen empfehle. Er werde nicht zur Wiederauflage einiger jener Zölle greifen, deren Herabsetzung, von ihm vergangenes Jahr vorgeschlagen, bereits Gesetzeskraft erlangt habe. Er wolle einer unnötigen Wiederauflage jener Steuern, die frühere Regierungen abgeschafft haben, nicht zustimmen. Sollte jedoch der Kampf, in den sie jetzt einträten, ein Jahr länger dauern, so würden sie wohl kaum in der Lage sein, diese Steuernachlässe beizubehalten. Im allgemeinen wolle er keine Erhöhung der indirekten Besteuerung
vorschlagen. Er werde nicht zu Staatsanleihen greifen, da es kein Land gebe, dessen Mittel bereits so schwer verpfändet seien wie die Englands. Nach all diesen Vorreden bequemte sich Herr Gladstone endlich, zu verkünden, was die Regierung vorzuschlagen gedenke. Dies sei die Verdopplung der Einkommensteuer für sechs Monate und die völlige Beseitigung der bestehenden Trennung zwischen im Inland und im Ausland gezogenen Wechseln. Der durchschnittliche, wenn auch nicht gleichmäßig verteilte Steuersatz auf Wechsel habe bisher 1 sh. 6 d. für je 100 Pfd. St. betragen; er schlug vor, ihn gleichmäßig auf 1 sh. festzusetzen. Diese Änderung würde, wie er berechnete, die Einnahmen um 60000 Pfd. St. steigern. Bei der Einkommensteuer würde eine Erhöhung von 7 auf 101/2 d. für je 1 Pfd. St. bei Einkommen von 150 Pfd. St. aufwärts und von 5 auf 7J/2 d. bei Einkommen zwischen 100 und 150 Pfd. St. erfolgen. Gleichzeitig beantragte er, daß das Haus ihn ermächtige, noch vor Erhebung der Steuer für 1 750000 Pfd. St. Schatzkammerscheine herauszugeben, die mit den eingehenden Beträgen aus der Einkommensteuer eingelöst werden sollen. Abschließend bemühte sich Herr Gladstone nicht sonderlich erfolgreich, seine letzten Maßnahmen zur Verminderung der Staatsschuld zu rechtfertigen, Maßnahmen, die, wie man weiß, mit einem jämmerlichen Fehlschlag endeten. An der Diskussion, die diesem Bericht folgte, beteiligten sich verschiedene Abgeordnete. Erwähnung verdient jedoch nur die Rede des Herrn Disraeli. Er erklärte, daß er keinen Einspruch erheben würde gegen jede Vorlage, die die Regierung auf eigene Verantwortung im Hause einzubringen für notwendig erachtet, um den bevorstehenden Krieg mit aller Energie und, wie er hoffe, mit Erfolg zu führen. Er protestiere jedoch dagegen, daß man, falls der Krieg länger dauere, zur Führung des Krieges ausschließlich auf die direkten Steuern zurückgreife. Der zweite Teil nun des Berichts des Herrn Gladstone, worin sich dieser mit der faktischen finanziellen Lage des Landes und den disponiblen Geldern beschäftigte, erscheine ihm so undurchsichtig, wie es einem Finanzbericht, zumal einem, der unter den gegenwärtigen Umständen abgegeben wird, nicht anstehe. Der gegenwärtige Bestand im Schatzamt sei weder ausreichend noch beruhigend. Als die jetzige Regierung ihr Amt übernahm, betrugen die Bestände im Schatzamt am 3. Januar 1853 9 Millionen Pfd. St., doch ein Jahr später, im Januar 1854, waren sie auf die Hälfte gesunken. Er veranschlage den Bestand im Schatzamt für den 5. April auf 3 Millionen Pfd. St., während die Ausgaben zur Zahlung der Dividenden an die Staatsgläubiger und zur Ausführung des Gladstoneschen Konvertierungsschemas insgesamt 9 bis 10 Millionen Pfd. St. erforderten. Der sehr ehrenwerte Vorredner sägte, es habe keinen Zweck, dem mit den Beständen
im Schatzamt abhelfen zu wollen, er wolle vielmehr die fehlende Summe durch Vorschüsse der Bank von England aufbringen. Er behaupte, daß es überaus wichtig sei, gerade jetzt über einen großen Bestand zu verfügen, doch handle es sich hier nicht darum, ob man mit einem kleinen oder einem großen Bestand abschließen werde, sondern darum, ob man überhaupt einen Bestand oder aber ein großes Defizit habe; und in der Tat hätten sie statt irgendeines Bestandes ein riesiges Defizit, das durch den Schatzkanzler auf zweierlei Weise verursacht worden sei. Erstens durch die Herabsetzung der Zinsen für Schatzkammerscheine auf IV2 Prozent, als Geld teuer war, und zweitens durch seine unglückliche Konvertierung der Südsee-Aktienl94J, eine Maßnahme, die nicht nur seine Bestände aufgezehrt hat, sondern ihm auch das gegenwärtige Defizit von 2 Millionen Pfd. St. einbrachte. Nach einigen unwesentlichen Bemerkungen anderer Abgeordneter wurde die Debatte über die Voranschläge beendet und die Resolution angenommen.
Karl Marx
Aus dem Englischen.
Wfjt Ptnylt TBS CHAMPIOH OF POLITICAL JUSTICE AND UNIVERSAL BIGHT. LOMPOH, UTVMAY, KAMX », UM |MM rNifm)
Karl Marx
Brief an das Arbeiterparlament
[„The People's Paper" Nr. 98 vom 18. März 1854] London, 9. März 1854. Dean Street 28, Soho. Ich bedaure zutiefst, daß ich, wenigstens im Moment, London nicht verlassen kann und somit der Möglichkeit beraubt bin, mündlich auszudrücken, wie sehr mich die Einladung als Ehrendelegierter zum ArbeiterParlament mit Stolz und Dankbarkeit erfüllt. Schon die Einberufung dieses Parlaments zeugt von einer neuen Epoche in der Weltgeschichte. Die Kunde von diesem bedeutsamen Ereignis wird die Hoffnungen der Arbeiterklasse in ganz Europa und Amerika wachrufen. In keinem anderen Lande hat die Despotie des Kapitals und die Arbeitssklaverei einen so hohen Grad der Entwicklung erreicht wie in Großbritannien. Nirgends sind die Zwischengruppen zwischen dem Millionär, der über ganze industrielle Armeen herrscht, und dem Lohnsklaven, der nur von der Hand in den Mund lebt, so gründlich vom Erdboden hinweggefegt worden. Hier existieren nicht mehr, wie in den Ländern des Kontinents, die großen Klassen der Bauern und Handwerker, die fast ebensosehr von ihrem Eigentum wie von ihrer Arbeit abhängen. In Großbritannien hat sich eine vollständige Scheidung des Eigentums von der Arbeit vollzogen. Deshalb hat der Krieg zwischen den beiden Klassen, die die moderne Gesellschaft bilden, in keinem anderen Lande so kolossale Ausmaße und so ausgeprägte und unverhüllte Züge angenommen. Gerade deshalb auch ist niemand so sehr kompetent und berufen wie die britische Arbeiterklasse, Führer der großen Bewegung zu sein, deren Ergebnis schließlich die völlige Emanzipation der Arbeit sein muß. Sie ist dies durch das klare Bewußtsein ihrer Lage, durch ihre gewaltige zahlenmäßige
Überlegenheit, ihre Erfahrung aus den verheerenden Kämpfen der Vergangenheit und ihre moralische Stärke der Gegenwart. Die Millionen Arbeiter Großbritanniens haben als erste die reale Basis für eine neue Gesellschaft gelegt - die moderne Industrie, welche die zerstörenden Kräfte der Natur in die Produktivkräfte des Menschen verwandelte. Die englische Arbeiterklasse hat mit unbezwingbarer Energie, mit ihrem Schweiß und Verstand die materiellen Voraussetzungen dafür geschaffen, die Arbeit selbst zu adeln und ihre Früchte in solchem Maße zu vervielfachen, daß ein allgemeiner Überfluß ermöglicht wird. Indem sie die unerschöpflichen Produktivkräfte der modernen Industrie schuf, hat sie die erste Bedingung für die Befreiung der Arbeit erfüllt. Jetzt muß sie die zweite Bedingung hierfür verwirklichen. Sie muß jene Reichtum produzierenden Kräfte von den schmachvollen Ketten des Monopols befreien und sie der gemeinsamen Kontrolle der Produzenten unterwerfen, die es bis jetzt zuließen, daß gerade die Produkte ihrer Arbeit sich gegen sie wenden und sich in ebensoviele Instrumente ihrer eigenen Unterjochung verwandeln. Die Arbeiterklasse hat die Natur erobert; jetzt muß sie die Menschen erobern. Zum Gelingen dieses Unternehmens mangelt es ihr nicht an Kraft, wohl aber an der Organisation ihrer gemeinsamen Kraft; die Organisation der Arbeiterklasse im nationalen Maßstab - das, denke ich, ist das große und glorreiche Ziel, welches das Arbeiterparlament anstrebt. Wenn das Arbeiterparlament sich treu der Idee zeigt, welche es ins Leben gerufen hat, so werden künftige Geschichtsschreiber zu berichten haben, daß es im Jahre 1854 zwei Parlamente in England gab, ein Parlament in London und ein Parlament in Manchester - ein Parlament der Reichen und ein Parlament der Armen -, daß aber wirkliche Männer nur in dem Parlament der Arbeiter saßen und nicht im Parlament der Herren.
Ihr sehr ergebener Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
Das Arbeiterparlament
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4039 vom 29. März 1854] London, Freitag, 10. März 1854. Großbritannien ist das Land, in dem die Despotie des Kapitals und die Arbeitssklaverei den bisher höchsten Grad ihrer Entwicklung erreicht hat. Nirgends sind die Zwischengruppen zwischen dem Millionär, der über ganze industrielle Armeen herrscht, und dem Lohnsklaven, der nur von der Hand in den Mund lebt, so gründlich vom Erdboden hinweggefegt worden. Es existieren nicht mehr, wie in den Ländern des Kontinents, die großen Klassen der Bauern und Handwerker, die fast ebensosehr von ihrem Eigentum wie von ihrer Arbeit abhängen. In Großbritannien hat sich eine vollständige Scheidung des Eigentums von der Arbeit vollzogen. Deshalb hat der Krieg zwischen den beiden Klassen, die die moderne Gesellschaft bilden, in keinem Lande so kolossale Ausmaße und so ausgeprägte und unverhüllte Züge angenommen. Gerade deshalb auch ist niemand so sehr kompetent und berufen wie die Arbeiterklasse Großbritanniens, Führer der großen Bewegung zu sein, deren Ergebnis schließlich die völlige Emanzipation der Arbeit sein muß. Sie ist dies auch durch das klare Bewußtsein ihrer Lage, durch ihre gewaltige zahlenmäßige Überlegenheit, ihre Erfahrung aus den verheerenden Kämpfen der Vergangenheit und ihre moralische Stärke der Gegenwart. Die Londoner Tagespresse betreibt gegenüber der Tätigkeit des Arbeiterparlaments eine „Politik des Stillschweigens". Sie hofft es durch eine große „conspiration de silence"1 zu ersticken. Nachdem sie das Publikum einige Monate lang mit endlosen Artikeln über das Thema ermüdet hat, ob es überhaupt zur Einberufung eines solchen Parlaments kommen werde, enthält sie
1 „Verschwörung des Schweigens"
sich jetzt jeder Erwähnung der Tatsache, daß es wirklich ins Leben gerufen wurde und seine Arbeit bereits aufgenommen hat. Diese Straußenweisheit, die sich einbildet, der Gefahr zu entgehen, wenn sie so tut, als ob sie diese nicht sieht, vermag heutzutage nichts mehr. Die Presse wird von dem Arbeiterparlament Notiz nehmen müssen, und künftige Geschichtsschreiber werden, ungeachtet dieser geheuchelten Gleichgültigkeit, zu berichten haben, daß es im Jahre 1854 zwei Parlamente in England gab, ein Parlament in London und ein Parlament in Manchester, ein Parlament der Reichen und ein Parlament der Armen, daß aber wirkliche Männer nur in dem Parlament der Arbeiter saßen und nicht im Parlament der Herren. Hier ist nun der Bericht des Komitees, dem der Entwurf eines Aktionsprogramms für das Arbeiterparlament übertragen wurde:
»Euer Komitee hält es für die Pflicht dieses Parlaments, erfolgreich zum Wohle der Arbeiter gegen die gegenwärtig stattfindenden Entlassungen und Aussperrungen zu wirken und Maßnahmen zu treffen, die beides in Zukunft verhindern; der arbeitenden Klasse eine gerechte Behandlung während der Arbeit zu sichern; Frauen und Kinder vor den Fabriken zu bewahren; Bildungsmöglichkeiten zu sichern sowie Lohnabzüge und versteckte Lohnkürzungen zu verhindern. In dem Glauben femer, daß es seine Pflicht ist, danach zu trachten, den Arbeitenden einen gerechten Anteil an dem Ertrag ihrer Arbeit zu sichern und vor allem die Voraussetzungen zu schaffen, damit sie zu Herren ihrer eigenen Arbeit werden, um ihre vollständige Emanzipation von der Lohnsklaverei herbeizuführen; und in der Überzeugung, daß der entscheidende Schritt dazu die Erlangung der zum Handeln notwendigen Geldmittel ist, unterbreitet es zu eurer Beratung: 1. Die Einrichtung eines Systems zur Sammlung von Geldern für einen nationalen Fonds der Arbeit; 2. einen Plan zur Sicherung der dadurch errichteten Fonds; 3. deren Verwendung und die Sicherung der Rechte der arbeitenden Klasse; 4. die Begründung der Massenbewegung.
/. Die Bildung eines nationalen Fonds der Arbeit
a) Ein wöchentlicher Betrag vom Lohn, je nach der Höhe des Preises der Arbeit, und zwar bis 4 sh. pro Woche Va d. bis 8 sh. pro Woche z/i d. bis 12 sh. pro Woche 1 d. bis 15 sh. pro Woche P/a d. bis 20 sh. pro Woche 2 d. bis 30 sh. pro Woche 3 d. bis 40 sh. pro Woche 4 d.
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Teil einer Seite aus „The People's Paper" mit dem Brief von Karl Marx an das Arbeiterparlament

b) Die Beauftragten der verschiedenen Arbeiterorganisationen, die in Übereinstimmung mit der Massenbewegung handeln, übergeben die erhobenen Beträge an deren leitenden Ausschuß. II. Sicherung des Fonds a) Die Beauftragten der lokalen Organisationen Ubergeben alles fUr die Massenbewegung eingehende Geld wöchentlich an die Leitung der Bewegung, wie unten näher angegeben. Die zur Annahme ordnungsgemäß ernannten Beauftragten geben für die erhaltenen Beträge sofort Quittungen aus. b) Die leitenden Personen hinterlegen alle fUr die Massenbewegung eingehenden Gelder (wobei sie das Recht haben, eine Summe nicht Uber 50 Pfd. St. bei sich zu behalten) bei einer Bank auf gemeinsamen Namen. Es dürfen weder diese ganze Summe oder Summen noch ein Teil derselben von der Bank anders abgehoben werden als durch Vorlage des Protokollbuches des genannten leitenden Ausschusses, das eine entsprechende Anweisung zum Abheben des Geldes enthält, die von einer noch festzulegenden Mehrheit der Mitglieder dieses Ausschusses unterzeichnet ist. c) Das somit abgehobene Geld soll Papiergeld sein (wenn es 5 Pfd. St. Ubersteigt). Die Nummern dieser Banknoten sollen in ein Buch, das der Überprüfung zugänglich ist, eingetragen und in den Zeitungen veröffentlicht werden; der Betrag der hierdurch empfangenen Banknoten soll aufgeteilt und jeder Teil einem einzelnen Mitglied des leitenden Ausschusses anvertraut werden. Werden große Summen abgehoben, so werden sie zu gleichen Teilen von jedem Mitglied aufbewahrt. d) Jedes Mitglied, dem auf diese Weise ein Teil des erwähnten Geldes anvertraut wurde, soll einen Schuldschein auf diese Teilsumme des abgehobenen Geldes ausstellen, vorausgesetzt, daß das Geld entsprechend der Anzahl der Mitglieder des leitenden Ausschusses in gleiche Teile geteilt wurde. Sollte sich das Mitglied weigern, den in seiner Verwahrung befindlichen Teil der Noten für den Zweck zu verwenden, für den das Geld abgehoben wurde, soll das Dokument, über das man gegen ihn verfügt, sofort in Kraft treten und erst annulliert werden, wenn er seinen genannten Banknotenanteil zurückzahlt. Die ausgestellten Schuldscheine sollen in einem Kassenschrank oder einem Safe aufbewahrt werden, der in die Obhut einer unparteiischen und zuverlässigen Person (keinem Mitglied des leitenden Ausschusses) gegeben wird, die nur gestatten darf, daraus ein Dokument zu entnehmen, wenn der gesamte leitende Ausschuß hierbei anwesend ist. e) Das für Zahlungen oder Käufe abgehobene Geld darf von den leitenden Personen nur in Gegenwart aller Mitglieder des Ausschusses ausgezahlt werden.
III. Verwendung des Fonds a) Der errichtete Fonds soll wie folgt verwandt werden: Zur Unterstützung aller Städte und Orte, in denen gestreikt wird, und für die Begleichung aller Schulden, die bei den vergangenen und gegenwärtigen Streiks und Aussperrungen entstanden sind. Die gleiche Unterstützung sollen Städte jeweils auch entsprechend der Anzahl ihrer beschäftigungslosen Arbeiter erhalten. Nach demselben Grundsatz, wonach an Bord
eines Schiffes, auf dem Mangel herrscht, jeder den gleichen Teil an Proviant erhält, soll jedem die gleiche Unterstützung gewährt werden, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen hoch oder niedrig bezahlten Beschäftigten handelt. Obwohl alle an den gegenwärtig stattfindenden Streiks Beteiligten und von den Aussperrungen Betroffenen unterstützt werden sollen, wird in Zukunft keinen Gruppen Hilfe geleistet, die die Massenbewegung nicht anerkennen und unterstützen. b) Es soll eine Abteilung zur Regulierung des Preises der Arbeit eingerichtet werden. Zu diesem Zweck soll für alle Gewerke, die mit der Massenbewegung in Verbindung stehen, ein monatlicher Bericht herausgegeben werden über die Preise des Rohmaterials sowie über den Preis der Arbeit, den Verkaufspreis der hergestellten Produkte und die anderen Herstellungskosten. Auf Grund dieser Zeugnisse soll der leitende Ausschuß einen Bericht über die Profite der Unternehmer herausgeben, wobei es ihm freisteht, von den letzteren Erklärungen über irgendwelche besonderen oder zuzüglichen Kosten des Unternehmers entgegenzunehmen. Auf der Grundlage dieser Berechnungen soll der Preis der Arbeit reguliert und damit übereinstimmend der Tarif für die Löhne festgelegt werden. Entsprechend soll auch auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Interessen des Landes verfahren werden. c) Hat nun der Arbeiter das unzweifelhafte Recht, an den Profiten des Unternehmers teilzuhaben, so hat er noch in höherem Maße ein Recht - das Recht, Herr seiner Arbeit zu sein; hierfür wie auch für eine wirksamere Regulierung der Löhne - wozu dem Unternehmer die Macht entzogen werden muß, sich Mehrarbeit anzueignen - soll der Fonds der Massenbewegung außerdem zum Ankauf von Land verwendet werden. Die Ländereien werden auf den Namen von Personen gekauft, die nicht Mitglieder des leitenden Ausschusses sind. Sie werden in Farmen verschiedener Größe aufgeteilt, je nach der Beschaffenheit des Bodens und dem Zweck ihrer Verwendung - nämlich entweder zu persönlichen Pachtbesitzungen oder zu großen genossenschaftlichen Unternehmen. Besagte Ländereien bleiben Eigentum der Massenbewegung und können von ihr niemals verkauft werden. Das Land wird auf kurze Zeiten und gegen eine angemessene und mäßige Pachtsumme verpachtet. Der Pachtvertrag enthält die Klausel, daß jeder Pächter, der seine Pacht schuldig bleibt, sofort sein Pachtrecht verliert. Eine weitere Klausel verpflichtet den Pächter, die Pachtsumme an die Personen zu zahlen, die durch die Übertragungsurkunde, von der unten die Rede sein wird, bestimmt werden. Die Personen, auf deren Namen die Ländereien gekauft wurden, fertigen eine Übertragungsurkunde aus, wonach der Pächter die Pachtsumme nicht an sie, sondern an die Personen zu zahlen hat, welche zu dieser Zeit dem leitenden Ausschuß der Massenbewegung angehören. Die Personen, die zu dieser Zeit der Leitung angehören, sollen eine Urkunde ausfertigen, wonach sie sich zur Zahlung einer Strafe von je 5000 Pfd. St. an zwei Personen verpflichten, die nicht Käufer irgendwelchen Bodenbesitzes sind; eine solche Strafe soll verhängt werden, wenn sie ihr Amt aufgeben und hierbei keine Übertragungsurkunde der genannten Pacht auf ihre Amtsnachfolger ausfertigen; letztere müssen an die gleichen Bedingungen gebunden sein. d) Damit das Recht der Arbeiter, Herren der eigenen Arbeit zu werden und die Befreiung des Arbeitsmarktes von überschüssiger Arbeit noch besser gesichert sei,
empfiehlt euer Komitee fernerhin eine Verwendung des verfügbaren Fonds für die Errichtung genossenschaftlicher Fabriken, Werkstätten und Läden, die Eigentum der Massenbewegung sind. Die dort Beschäftigten erhalten einen Lohn, der nach dem obengenannten Tarif für den Preis der Arbeit festgelegt ist, und die Hälfte des Nettogewinns aus den verkauften Produkten; die andere Hälfte des Gewinns soll in das Einkommen der Massenbewegung eingehen. Der Leiter eines jeden genossenschaftlichen Unternehmens wird von den darin beschäftigten Arbeitern gewählt und unterliegt der Bestätigung durch den leitenden Ausschuß. Der besagte Verwalter des jeweiligen genossenschaftlichen Unternehmens regelt den entsprechenden Ein- und Verkauf und übergibt dem leitenden Ausschuß monatlich einen Bericht über die Einkäufe, Verkäufe, Zahlungen und damit verbundenen Verluste oder Gewinne. Sollte es Anlaß zur Klage über Differenzen zwischen den Arbeitern und dem Verwalter geben, sollen die Beschäftigten das Recht haben, den Verwalter seines Amtes zu entheben und einen anderen mit einer Mehrheit von mindestens dreiviertel ihrer Stimmen zu wählen. Die Hälfte des Nettogewinns eines jeden genossenschaftlichen Unternehmens soll der betreffende Verwalter dem leitenden Ausschuß zusenden. Für das von der Massenbewegung zu genossenschaftlichen Zwecken erworbene Eigentum gelten die gleichen Sicherheitsmaßregeln wie für die Ländereien."
Nach langer Debatte stimmte das Arbeiterparlament auf seiner Mittwochsitzung dem Bericht des Komitees bis Teil II einschließlich zu. Das Komitee, dem der Entwurf dieses Aktionsprogramms für die Massenbewegung übertragen war, bestand aus den Herren Ernest Jones, James Finlen, James Williams, Abraham Robinson und James Bligh. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx Der griechische Aufstand
f» New-York Daily Tribüne" Nr. 4039 vom 29. März 1854, Leitartikel] Der Aufstand unter den griechischen Untertanen des Sultans, der in Paris und in London solche Unruhe erregte, isl nunmehr unterdrückt worden; es wird jedoch nicht für unmöglich gehalten, daß er von neuem auflodert. In dieser Hinsicht können wir erklären, daß wir nach sorgfältiger Untersuchung der Dokumente, die die gesamten bisherigen Vorgänge betreifen, überzeugt sind, daß die Aufständischen ausschließlich unter den Bergbewohnern zu finden waren, die den südlichen Abhang des Pindus bewohnen und bei keinem anderen christlichen Volk der Türkei außer den frommen Freibeutern von Montenegro auf Sympathie gestoßen sind; und daß die Bewohner der Ebenen Thessaliens, welche die einzige zusammenhängende griechische Gemeinschaft bilden, die sich noch unter türkischer Herrschaft befindet, ihre Landsleute mehr fürchten als die Türken. Man darf nicht vergessen, daß dieser träge und feige Bevölkerungsteil sich nicht einmal zur Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges [6'] zu erheben wagte. Der übrige Teil der griechischen Bevölkerung, der ungefähr 300000 Seelen zählt, die sich auf die Städte des Reiches verteilen, wird von den anderen christlichen Völkerschaften so gründlich verabscheut, daß überall, wo Volksbewegungen erfolgreich gewesen sind, wie in Serbien und in der Walachei, alle Pfaffen griechischer Herkunft vertrieben und durch Priester der einheimischen Bevölkerung ersetzt worden sind. Ist auch der gegenwärtige griechische Aufstand, für sich allein betrachtet, im ganzen unbedeutend, so gewinnt er doch dadurch an Bedeutung, daß er den Westmächten einen Anlaß gibt, sich in die Angelegenheiten zwischen der Pforte und der großen Mehrheit ihrer Untertanen in Europa einzumischen, unter denen die Griechen nur eine Million zählen gegenüber zehn Millionen
Vertretern der anderen Völkerschaften, die sich zur griechisch-orthodoxen Religion bekennen. Die Griechen des sogenannten Königreiches wie auch jene, die auf den Ionischen Inseln unter britischer Herrschaft leben, betrachten es natürlich als ihre nationale Mission, die Türken überall dort zu vertreiben, wo immer man die griechische Sprache spricht, und Thessalien und Epirus mit dem griechischen Staat zu vereinigen. Sie mögen sogar von einer byzantinischen Restauration träumen, obwohl sie im ganzen ein zu schlaues Volk sind, um an ein solches Wahngebilde zu glauben. Doch diese Pläne nationaler Ausbreitung und Unabhängigkeit von seiten der Griechen, die gegenwärtig, wie die kürzlich entdeckte Verschwörung des Priesters Athanasius beweist, durch russische Intrigen geschürt werden, und die auch von den Räubern der Berge proklamiert werden, ohne bei der Landbevölkerung der Ebene einen Widerhall zu finden - sie alle haben nichts mit den religiösen Rechten der türkischen Untertanen zu tun, mit denen man sie zu vermengen sucht. Wie wir aus den englischen Zeitungen und einer Mitteilung erfahren, die im Oberhaus Lord Shaftesbury und im Unterhaus Herr Monckton Milnes gaben, soll die britische Regierung aufgefordert werden, wenigstens teilweise in Verbindung mit diesen griechischen Unruhen Schritte zu unternehmen, um die Lage der christlichen Untertanen der Pforte zu verbessern. Es wird in der Tat ausdrücklich gesagt, daß es das große Ziel der Westmächte sei, die Rechte der christlichen Religion in der Türkei auf gleichen Fuß mit denen der mohammedanischen Religion zu stellen. Nun bedeutet das überhaupt nichts, oder es bedeutet die Gewährung politischer und bürgerlicher Rechte Muselmanen wie Christen gegenüber, unabhängig von jeglicher Religionszugehörigkeit und Religion überhaupt. Mit anderen Worten, es bedeutet die vollständige Trennung von Staat und Kirche, von Religion und Politik. Doch der türkische Staat ist wie alle orientalischen Staaten auf die engste Verknüpfung, man kann fast sagen, Identität von Staat und Kirche, Politik und Religion gegründet. Der Koran ist für dieses Reich und seine Herrscher Quelle des Glaubens und des Rechts zugleich. Doch wie sollte es möglich sein, den Gläubigen und den Giaur, den Muselman und den Rajah vor dem Koran gleichzustellen? Um das zu tun, wäre es tatsächlich nötig, den Koran durch einen neuen Zivilkodex zu ersetzen, mit anderen Worten, die Struktur der türkischen Gesellschaft zu zerstören und auf ihren Ruinen eine neue Ordnung der Dinge zu errichten. Andrerseits unterscheidet sich das griechisch-orthodoxe Bekenntnis von allen anderen Abarten des christlichen Glaubens hauptsächlich durch dieselbe Gleichsetzung von Staat und Kirche, von staatlichem und kirchlichem
Leben. Im Byzantinischen Reich waren Staat und Kirche so eng miteinander verwachsen, daß es unmöglich ist, die Geschichte des einen ohne die Geschichte des anderen zu schreiben. In Rußland finden wir die gleiche Identität, obgleich dort, im Unterschied zum Byzantinischen Reich die Kirche in das bloße Werkzeug des Staates verwandelt wurde, in ein Instrument der Unterdrückung im Innern und der Aggression nach außen. Im Ottomanischen Reich hat sich in Übereinstimmung mit den orientalischen Vorstellungen der Türken die byzantinische Theokratie derartig entwickeln können, daß der Priester einer Kirchengemeinde gleichzeitig der Richter, Bürgermeister, Lehrer, Testamentsvollstrecker, Steuereinnehmer - das allgegenwärtige Faktotum des staatlichen Lebens, nicht der Diener, sondern der Herr aller Arbeit ist. Der Hauptvorwurf, den man den Türken hierbei machen kann, ist nicht, daß sie die Privilegien der christlichen Priesterschaft beschnitten hätten, sondern daß es im Gegenteil dieser allumfassenden despotischen Bevormundung, Kontrolle und Einmischung der Kirche unter ihrer Herrschaft möglich gewesen ist, die ganze Sphäre des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen. Herr Fallmerayer schildert uns in seinen „Orientalischen Briefen" recht amüsant, wie sehr ein griechischer Priester erstaunt war, als er ihm erzählte, daß der katholische Klerus keinerlei staatliche Gewalt besäße und keine profanen Pflichten habe. „Wie", rief der Priester, „bringen es denn unsere katholischen Brüder fertig, die Zeit totzuschlagen?" Es ist deshalb klar, daß die Einführung eines neuen Zivilkodex in der Türkei, eines Kodex, der ganz und gar von der Religion abstrahiert und auf eine völlige Trennung von Staat und Kirche gegründet wäre, nicht nur die Aufhebung des Mohammedanismus, sondern auch den Zusammenbruch der griechisch-orthodoxen Kirche, wie sie gegenwärtig in diesem Reiche besteht, bedeuten würde. Kann jemand überhaupt so leichtgläubig sein, allen Ernstes anzunehmen, daß es den ängstlichen und reaktionären Schwächlingen der gegenwärtigen britischen Regierung jemals in den Sinn kommen könnte, eine derart gigantische Aufgabe auf sich zu nehmen, die eine vollkommene soziale Revolution in sich schließt, und das in einem Lande wie der Türkei? Dieser Gedanke ist absurd. Man kann ihn nur zu dem Zweck nähren, dem englischen Volk und Europa Sand in die Augen zu streuen.
Geschrieben am 10. März 1854. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Der Rückzug der Russen von Kalafat1951
[„The People's Paper" Nr. 98 vom 18. März 1854, Leitartikel] Die Russen haben sich von Kalafat zurückgezogen und haben, wie es heißt, ihren ganzen Feldzugsplan geändert. Das ist das glorreiche Ende der Anstrengungen und Gefahren eines dreimonatigen Feldzugs, der die letzten Ressourcen der Walachei vollständig erschöpft hat. Das ist die Frucht jenes unbegreiflichen Marsches in die Kleine Walachei, den man, wie es scheint, mit gänzlicher Außerachtlassung der elementarsten Regeln der Strategie unternahm. Um Kalafat, diesen einzigen Brückenkopf zu nehmen, den die Türken am linken Donauufer besetzt hielten, wurde die Hauptmasse der russischen Armee an ihrer äußersten Rechten konzentriert, in einer Stellung, in der das Zentrum und die Linke, beide geschwächt, jedem Angriff, den der Feind möglicherweise unternimmt, völlig preisgegeben waren; zudem wurde dort eine Gleichgültigkeit gegen alle Kommunikations- und Rückzugslinien an den Tag gelegt, die ohne Beispiel in der Geschichte der Kriegführung ist. Daß Omer Pascha aus diesem Fehler keinen Vorteil gezogen hat, ist nur durch die Einmischung des britischen Gesandten in Konstantinopel zu erklären. Wie es kam, daß die Russen trotz alledem sich schimpflich zurückziehen mußten, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, wollen wir jetzt zeigen. Wir nennen es einen schimpflichen Rückzug, weil ein prahlerisch angekündigter Vormarsch, der durch die Einnahme einer bloß drohenden Stellung gekrönt wurde und der mit einem ruhigen und bescheidenen Rückzug endete, ohne daß es auch nur zu dem Versuch eines ernsthaften Kampfes gekommen wäre - weil ein Unternehmen, das aus einer ununterbrochenen Reihe von Fehlern und Irrtümern bestand, bei dem nichts anderes herauskommt als die Überzeugung des Generals, daß er sich höchst lächerlich gemacht hat, den Gipfel der Schande erreicht.
Nun zur Lage der Dinge. Die Russen hatten gegen Ende 1853 folgende Truppen in der Walachei, Moldau und in Bessarabien: 1.Das 4.Armeekorps (Dannenberg): drei Divisionen Infanterie, eine Division Kavallerie, vier Brigaden Artillerie - insgesamt, nach Abzug der Verluste, etwa 45000 Mann. 2. Vom 5. Armeekorps (Lüders): eine Division Infanterie, eine Division Kavallerie, zwei Brigaden Artillerie - etv/a 15000 Mann. 3. Das 3. Korps (Osten-Sacken): drei Divisionen Infanterie, eine Division Kavallerie, vier Brigaden Artillerie - etwa 55000 Mann. Gesamtsumme etwa 115000 Mann, ungerechnet die Nichtkombattanten und eine Division des Korps von Lüders in der Umgegend Odessas, die für den Garnisondienst erforderlich ist und nicht mitgerechnet werden kann. Bis Anfang Dezember waren die Truppen unter Dannenberg und Lüders die einzigen Streitkräfte in den Fürstentümern. Das Nahen des Korps OstenSackens sollte das Signal zu der großen Konzentration für den Angriff auf Kalafat sein. Sein Platz am Bug und am Pruth sollte durch das 6. Korps (Tscheodajew) ausgefüllt werden, das schon von Moskau her unterwegs war. Nach der Vereinigung mit diesem Korps hätte die Donauarmee aus etwa 170000 Mann bestanden, hätte aber noch verstärkt werden können, wenn die neu ausgehobenen Rekruten aus den südwestlichen Provinzen gleich an den Kriegsschauplatz beordert worden wären. Dem russischen Befehlshaber schienen jedoch 115000 bis 120000 Mann ausreichend, um die ganze Donaulinie von Braila bis Nikopolis zu verteidigen und noch eine genügende Zahl in Reserve zu haben, um sie auf der äußersten Rechten für einen Angriff auf Kalafat zu konzentrieren. Als diese Aktion gegen Ende Dezember begann, konnte Kalafat kaum mehr als 10000 bis 12000 Verteidiger beherbergen, nebst 8000 weiteren in Widdin, deren Unterstützung zweifelhaft war, da sie in der schlechten Jahreszeit einen reißenden Fluß zu überschreiten hätten. Die Langsamkeit der russischen Bewegungen jedoch, die Unentschiedenheit des Fürsten Gortschakow, vor allem aber die Tatkraft und Kühnheit Ismail Paschas, des Kommandanten von Kalafat, erlaubten den Türken, etwa 40000 Mann an dem bedrohten Punkte zusammenzuziehen und Kalafat aus einem einfachen Brückenkopf, der dem Ansturm einer zweifachen Übermacht hätte erliegen müssen, in eine Befestigung zu verwandeln, die mindestens 30000 Mann beherbergen und jedem Angriff außer einer förmlichen Belagerung trotzen konnte. Man hat mit Recht behauptet, es sei der höchste Triumph für den Erbauer einer Feldbefestigung, wenn der Feind seine Laufgräben gegen sie
eröffnen müsse. Wenn die Russen das nicht taten, so nur deshalb, weil sie selbst in der Anwendung dieses äußersten Mittels keine Möglichkeit sahen, Kalafat in der Zeit zu nehmen, die sie für diese Operation ansetzen konnten. Kalafat wird von nun an in einer Reihe stehen mit Friedrichs II. Lager von Bunzelwitz, mit den Linien von Torres-Vedras und mit den Verschanzungen des Erzherzogs Karl hinter Verona als eine jener Leistungen der Feldbefestigungen, die als klassische Beispiele der Kriegskunst in die Geschichte eingehen wer den.196 ] Betrachten wir nun die Mittel, über die die Russen für den Angriff verfügten. Daß sie allen Ernstes Kalafat nehmen wollten, zeigt der Park von Festungsartillerie, den sie bis Krajowa transportierten. Daß Omer Pascha diese Kanonen unbehelligt kommen und gehen ließ, ist, nebenbei bemerkt, eine der vielen militärischen Unbegreiflichkeiten dieses Krieges, die nur durch diplomatische Einflüsse zu erklären sind. Das einzige, was die Russen jetzt brauchten, war eine genügende Menge Truppen, um die Türken zurückzudrängen, die Laufgräben und Batterien zu schützen und, sobald Breschen geschaffen waren, diese zu erstürmen. Auch hier handelte Ismail Pascha als energischer und geschickter Befehlshaber. Sein Ausfall auf Cetate am 6. Januar, sein kraftvoller Angriff, der mit der Niederlage einer überlegenen russischen Streitmacht endete, die wiederholten Angriffe ähnlicher Art, die er fortsetzte, solange die russische Konzentration noch vor sich ging, bis er von einer überlegenen Streitmacht auf seiner kleinen Donauhalbinsel gänzlich blockiert war - kurz, sein System, sich durch konzentrierte Offensivstöße gegen einzelne Punkte der russischen Linie zu verteidigen und dabei den Feind in einzelnen Abteilungen, soweit er konnte, aufzureiben, war genau das, was ein Befehlshaber in seiner Lage tun mußte, und bildet einen erfreulichen Gegensatz zu Omer Paschas passiver Verteidigung bei Oltenitza oder zu dessen träger Untätigkeit während der ganzen Zeit an der unteren Donau. Denn wenn dieser auch hier und dort kleine Angriffe unternahm, die, wie es scheint, nie im richtigen Moment abgebrochen, sondern mehrere Tage lang an demselben Punkt mit blinder Hartnäckigkeit fortgesetzt wurden, selbst wenn sie kein Ergebnis versprachen, so zählen diese kleinen Angriffe nicht, wo es doch erforderlich gewesen wäre, 40000 bis 60000 Mann über die Donau zu werfen. Gegen Ende Januar vollendeten die Russen schließlich doch ihre Konzentration um Kalafat. Augenscheinlich waren sie im offenen Felde die Überlegenen; sie müssen daher dort etwa 30000 oder 40000 Mann gehabt haben. Zieht man nun diese von 115000 ab und dann noch einmal etwa 20000 oder 25000 für die Verteidigung der Linie von Braila bis an die See, so bleiben
)1 Marx Engels, Werke, Band 10
für die ganze Große Walachei einschließlich der Garnisonen 50000 bis 65000 Mann, eine Armee, die bei weitem nicht zur Verteidigung einer so langen Angriffslinie und zu einer Kommunikationslinie ausreicht, die in einer kurzen Entfernung hinter ihr mit der Angriffslinie parallel läuft. Ein kräftiger Angriff an irgendeinem Punkt, selbst mit einer Streitmacht, die diesen 65000 Mann insgesamt unterlegen ist, hätte nur mit einer gänzlichen Vernichtung aller dieser verstreuten russischen Truppen im einzelnen und mit der Eroberung der gesamten russischen Magazine enden können. Omer Pascha wird sich früher oder später rechtfertigen müssen, aus welchen Gründen er eine solche Gelegenheit nicht nutzte. Trotz aller ihrer Bemühungen konnten also die Russen vor Kalafat nur so viel Truppen konzentrieren, um die türkischen Vorposten zurückzutreiben, nicht aber das Bollwerk selbst anzugreifen. Sogar für diesen momentanen und trügerischen Erfolg brauchten sie nahezu fünf Wochen. General Schilder von der Genietruppe wurde mit dem ausdrücklichen Befehl nach Kalafat beordert, dieses einzunehmen. Er kam, sah und beschloß, nichts zu tun, ehe nicht die Ankunft Tscheodajews eine Heranziehung frischer Truppen aus dem Zentrum und dem linken Flügel gestattete. Fünf Wochen standen die Russen in dieser gefährlichen Position, Rücken und Flanke ungedeckt, als provozierten sie förmlich den Angriff, dem sie keinen Augenblick hätten standhalten können; und fünf Wochen stand Omer Pascha, ihre Flanke und ihren Rücken bedrohend, in einer Position, in der er ohne Brille oder Fernrohr ihre Schwäche sehen konnte - und tat nichts. Dieses System der modernen Kriegführung unter der Protektion der alliierten Mächte, wahrhaftig, das begreife, wer kann! Ganz plötzlich erreicht London die Nachricht, die Russen seien in vollem Rückzug von Kalafat begriffen. Oh! ruft die „Times" aus, das ist ein Erfolg unserer Alliierten, der Österreicher, die in Transsylvanien, im Rücken der Russen, eine Armee konzentriert haben; das ist ein Erfolg der glorreichen österreichischen Allianz, die wiederum ein Erfolg der glorreichen Politik Aberdeens ist. Ein dreifach Hoch auf Aberdeen! Doch am folgenden Tag zeigt eine authentische österreichische Erklärung, daß gar keine österreichische Allianz existiert und daß die Österreicher bis jetzt nichts gesagt haben und selbst noch nicht zu wissen scheinen, wozu sie diese Armee dorthin geschickt haben. Und folglich herrseht große Ungewißheit über die Ursache des russischen Rückzugs. Man berichtet uns jetzt, daß die Russen versuchen wollen, auf dem gegenüberliegenden Punkt, zwischen Braila und Galatz, über die Donau zu setzen wie 1828/1829 und sich so auf Adrianopel zu bewegen. Sollte dies ohne ein
völliges Einvernehmen zwischen den Russen einerseits und dem englischfranzösischen Geschwader andrerseits geschehen, so ist dieser Marsch strategisch unmöglich. Uns ist noch eine weitere Ursache für diesen Rückzug bekannt. Tscheodajews Marsch soll unterbrochen worden sein, damit er oberhalb Odessas ein Lager von 30000 oder 40000 Mann errichte. Ist dies wahr, so kann er weder mit Truppen am Pruth und Sereth helfen, noch Gortschakow vor Kalafat verstärken. Folglich muß sich Fürst Gortschakow in ebenso guter Ordnung zurückziehen, wie er kam, und damit würde die große Tragikomödie des russischen Marsches gegen Kalafat enden.1
Geschrieben am 13. März 1854. Aus dem Englischen.
1 In der „New-York Daily Tribüne" Nr. 4040 vom 30. März 1854 lautet der letzte Abschnitt des Artikels wie folgt: „Und folglich sind unsere britischen Zeitgenossen in höchster Ungewißheit über die Ursache des russischen Rückzugs. Was aber ist seine Ursache? Nun, einfach folgendes: Französische und britische Truppen sollen nach Konstantinopel gehen. Nichts leichter oder einfacher, als sie von dort nach Odessa oder Bessarabien zu schicken und die Kommunikationen der Russen abzuschneiden. Wie harmlos auch die wirklichen Absichten der Koalition sein mögen, der Druck von außen kann sie zu ernstlichem Handeln zwingen. Gortschakow traut offenbar der rein diplomatischen Mission der westlichen Armeen nicht. Wäre er auch Englands ganz sicher, Frankreichs könnte er es nicht sein. Wäre er auch aller Kabinette sicher, der Generale könnte er es nicht sein. Er könnte Flankenmärsche riskieren, solange nur die Türken da sind; er glaubt aber, daß die Angelegenheit ernsthafter wird, sobald französische und britische Truppen ankommen und drohen, ihm in die Flanke zu fallen. Folglich wurde Tscheodajews Marsch unterbrochen, damit er oberhalb Odessas ein Lager von 30000 oder 40000 Mann errichte. Folglich kann er keine Truppen zum Pruth oder Sereth entsenden. Folglich können keine Truppen kommen, um Gortschakow vor Kalafat zu verstärken. Folglich wird der Angriff auf diesen Platz zur Unmöglichkeit. Folglich muß sich Fürst Gortschakow in ebenso guter Ordnung zurückziehen, wie er kam. Und so endet die große Tragikomödie des russischen Marsches gegen Kalafat."
Karl Marx
Die Dokumente über die Teilung der Türkei
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4045 vom 5.April 1854] London, Dienstag, 21. März 1854. Ein sehr wichtiges Ereignis ist die erzwungene Veröffentlichung der geheimen Korrespondenz der Minister die sie während der ersten drei Monate ihrer Amtszeit mit dem Kaiser von Rußland führten, wie auch des Memorandums über die Unterredung zwischen dem Zaren und Lord Aberdeen im Jahre 1844, die letzterer als Antwort auf eine Herausforderung des „Journal de Saint-Petersbourg"[98] veröffentlichte. Ich beginne mit einer Analyse des „Memorandums" des Grafen Nesselrode an die britische Regierung, gegründet auf Mitteilungen des Kaisers von Rußland nach dessen Besuch in England im Juni 1844. Der gegenwärtige Status quo des Ottomanischen Reiches ,,verträgt sich am besten mit dem allgemeinen Interesse der Erhaltung des Friedens". England und Rußland sind in bezug auf dieses Prinzip der gleichen Meinung und vereinigen daher ihre Anstrengungen, diesen Status quo zu erhalten. . „Zu diesem Behuf ist es wesentlich, die Pforte in Frieden leben zu lassen, ohne sie durch diplomatische Plackereien nutzlos aufzuregen, und sich ohne absolute Notwendigkeit nicht in ihre inneren Angelegenheiten zu mischen."
Wie soll nun dieses „System der Schonung" erfolgreich ausgeübt werden? Erstens soll Großbritannien sich der Auslegung nicht widersetzen, die Rußland für geeignet findet, seinen Verträgen mit der Pforte zu geben, sondern soll die letztere im Gegenteil zwingen, in Übereinstimmung mit jenen Verträgen so zu handeln, wie Rußland sie auslegt; zweitens soll es Rußland gestattet sein, sich „unablässig" in die Angelegenheiten zwischen dem Sultan und seinen christlichen Untertanen einzumischen. Mit einem Wort, das System der Schonung gegenüber der Pforte bedeutet ein System des Einverständnisses
mit Rußland. Man hütet sich natürlich, diesen seltsamen Vorschlag in nackten Worten auszudrücken. Das Memorandum tut so, als ob es von „allen Großmächten" spräche, gibt aber gleichzeitig deutlich zu verstehen, daß außer Rußland und England keine Großmächte existieren. Von Frankreich heißt es, daß es „sich wird in die Notwendigkeit finden müssen, sich dem zwischen St. Petersburg und London verabredeten Verfahren anzubequemen". Österreich wird als bloßes Anhängsel Rußlands dargestellt, das kein selbständiges Leben, keine eigene Politik hat, sondern „durch das Prinzip der vollkommenen Solidarität" mit der Rußlands „eng verbunden ist". Preußen wird als Null behandelt, die keiner Beachtung wert ist, und wird als solche gar nicht erst erwähnt. „Alle Großmächte" ist also lediglich eine rhetorische Floskel für die Kabinette von St. Petersburg und London, und die Verhaltungsmaßregeln, auf die sich alle Großmächte einigen sollen, sind nichts anderes als das, was St. Petersburg vorschreibt und London befolgen soll. Das Memorandum sagt:
„Die Pforte hat ein beständiges Streben, sich von den Verbindlichkeiten loszumachen, welche ihr die mit den anderen Mächten geschlossenen Verträge auferlegen. Sie hofft es ungestraft zu tun, weil sie auf die gegenseitige Eifersucht der Kabinette zählt. Sie glaubt, wenn sie ihren Verbindlichkeiten gegen eines derselben nicht nachkommt, daß die anderen für ihre Zänkerei Partei nehmen und sie gegen jede Verantwortlichkeit decken werden. Es ist wesentlich, die Pforte nicht in dieser Täuschung zu bestärken. Sooft sie ihren Verbindlichkeiten gegen eine der Großmächte nicht nachkommt, ist es im Interesse aller arideren, sie ihren Irrtum fühlen zu lassen und sie ernstlich zu ermahnen, dem Kabinett, das eine gerechte Genugtuung verlangt, sein Recht angedeihen zu lassen. Sowie die Pforte sich nicht durch die anderen Kabinette unterstützt sieht, wird sie nachgeben, und die entstandenen Zwistigkeiten werden sich auf dem Wege der Versöhnung ausgleichen, ohne daß ein Zusammenstoß daraus entspringt." Das ist die Formel, mit der man sich an England wendet, damit es Rußland in seiner Politik beistehe, der Türkei auf Grund seiner alten Verträge neue Konzessionen zu entreißen. „Bei der gegenwärtigen Lage der Stimmung in Europa können die Kabinette nicht mit Gleichgültigkeit zusehen, daß die christlichen Völkerschaften in der Türkei auffallenden Handlungen der Plackerei und religiöser Unduldsamkeit ausgesetzt werden. Diese Wahrheit muß man die ottomanischen Minister unablässig fühlen lassen und sie überzeugen, daß sie auf die Freundschaft und den Beistand der Großmächte zählen können nur unter der Bedingung, daß sie die christlichen Untertanen der Pforte mit Duldsamkeit und Milde behandeln. Geleitet durch diese Prinzipien müssen die fremden Vertreter in einem vollkommenen Geist der Eintracht untereinander handeln. Wenn sie bei der Pforte
Vorstellungen erheben, so muß ihnen das Gepräge eines echten Charakters von Einmütigkeit aufgedrückt sein, ohne das einer exklusiven Ubermacht an sich zu tragen." In dieser milden Form wird England gelehrt, wie es Rußlands Ansprüche auf ein religiöses Protektorat über die Christen in der Türkei zu unterstützen habe. Nachdem es so die Prämissen für seine „Politik der Schonung" entwickelt hat, kann Rußland seinem Vertrauten nicht verhehlen, daß gerade diese Schonung sich als verhängnisvoller erweisen könnte als jede Angriffspolitik und schrecklich dazu beitragen könnte, alle „Elemente der Zersetzung" zu entwickeln, die das Ottomanische Reich enthält; so daß eines schönen Morgens »unvorhergesehene Umstände seinen Sturz beschleunigen können, ohne daß es in der Macht der befreundeten Kabinette steht, ihn zu verhindern". Dann wird die Frage aufgeworfen, was getan werden müßte, falls solche unvorhergesehenen Umstände eine endgültige Katastrophe in der Türkei herbeiführten. Da heißt es nun, falls der Zusammenbruch der Türkei unmittelbar bevorstände, sei das einzig Erforderliche, daß England und Rußland „sich Vorher Verständigen, ehe sie zu Taten schreiten". „Diese Idee", so versichert uns das Memorandum, „wurde während des letzten Aufenthalts des Kaisers in London im Prinzip vereinbart" (in den langen Besprechungen des Autokraten mit dem Herzog von Wellington, Sir Robert Peel und dem Earl of Aberdeen). Das Resultat war „die eventuelle Verbindlichkeit, daß, wenn etwas Unvorhergesehenes in der Türkei sich ereignete, Rußland und England voraus Abrede träfen, was sie in Gemeinschaft tun wollten". Was bedeutet nun diese eventuelle Verbindlichkeit? Erstens, daß Rußland und England schon im vorhinein über die Teilung der Türkei zu einer gemeinsamen Verständigung gelangen sollen, und zweitens, daß in einem solchen Fall England sich verpflichten soll, eine Heilige Allianz mit Rußland und Österreich - das als das alter ego1 Rußlands dargestellt wird - gegen Frankreich einzugehen, das „genötigt", d. h. gezwungen wäre, ihren Zielen gemäß zu handeln. Das natürliche Ergebnis einer solchen gemeinsamen Verständigung wäre die Verwicklung Englands in einen mörderischen Krieg mit Frankreich, so daß Rußland vollkommen freie Hand hätte, seine eigene Politik in der Türkei zu verfolgen.
1 das andere Ich
Immer und immer wieder wird großer Nachdruck auf die „unvorhergesehenen Umstände" gelegt, die den Zusammenbruch der Türkei beschleunigen können. Am Ende des Memorandums verschwindet jedoch diese mysteriöse Phrase, um einer deutlicheren Wendung Platz zu machen: „Wenn wir voraussehen, daß das Ottomanische Reich zusammenstürzen muß, so müssen England und Rußland sich voraus verabreden" etc. Der einzige unvorhergesehene Umstand war also die unvorhergesehene Erklärung Rußlands, daß das Ottomanische Reich jetzt zusammenbrechen müsse. Die Hauptsache, die durch diese eventuelle Verpflichtung erreicht wird, ist die Rußland gewährte Freiheit, im gegebenen Moment den plötzlichen Zusammenbruch der Türkei vorauszusehen und England zum Eintritt in Verhandlungen über die gemeinsame Verständigung darüber zu zwingen, daß eine solche Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Demgemäß wird jetzt, etwa zehn Jahre nach der Abfassung des Memorandums, England gebührend davon in Kenntnis gesetzt, daß die Lebensfähigkeit des Ottomanischen Reiches dahin ist, und daß es sich nunmehr des früher gegebenen Einverständnisses zur Ausschließung Frankreichs zu erinnern habe, d. h. daß es hinter dem Rücken der Türkei und Frankreichs konspirieren soll. Mit dieser Eröffnung beginnt die Reihe der zwischen St. Petersburg und dem Koalitionskabinett ausgetauschten geheimen und vertraulichen Dokumente. Sir G. H. Seymour, der britische Gesandte in St. Petersburg, sendet am 11.Januar 1853 seine erste geheime und vertrauliche Depesche an Lord J.Russell, den damaligen Minister des Auswärtigen. Am Abend des 9. Januar hatte er die „Ehre", den Kaiser im Palast der Großfürstin Jelena zu sehen, die geruht hatte, Lady Seymour und ihn einzuladen, damit er mit der kaiserlichen Familie zusammenträfe. Der Kaiser trat huldvollst auf ihn zu und drückte seine große Freude über die Nachricht von der Bildung des Koalitionskabinetts aus, dem er ein langes Leben wünsche; er bat den Gesandten, dem alten Aberdeen seine Gratulation zu übermitteln und Lord John Russell einzuschärfen, „es sei sehr wesentlich, daß die zwei Regierungen - die englische Regierung und ich, und ich und die englische Regierung-im besten Vernehmen sind, und nie sei die Notwendigkeit größer gewesen als in diesem Augenblick". Man bedenke, diese Worte wurden im Januar 1853 gesprochen, gerade zu der Zeit, als Österreich, „zwischen dem und Rußland" gemäß dem Memorandum „in bezug auf die Angelegenheiten der Türkei eine vollkommene Gleichmäßigkeit der Prinzipien vorhanden ist", offenkundig in Montenegro Unruhe zu stiften suchte.
„Wenn wir einig sind", sagte der Zar, „so ist es von wenig Wichtigkeit, was die anderen denken oder tun... Die Türkei", fuhr er in heuchlerisch-teilnahmsvoller Weise fort, „ist in einem sehr kritischen Zustand und kann uns allen noch sehr viel zu schaffen geben."
Nachdem der Zar das gesagt hatte, schüttelte er Sir Hamilton Seymour sehr gnädig die Hand, als ob er Abschied nehmen wollte. Aber Sir Hamilton, „dem sogleich der Gedanke kam, daß die Unterredung unvollständig sei", nahm sich „die große Freiheit", den Autokraten untertänigst zu bitten, „sich etwas bestimmter wegen der Angelegenheiten der Türkei zu äußern".
„Die Worte und die Gebärde des Kaisers, obgleich immer sehr gnädig", bemerkt der Beobachter, „bezeugten, daß Seine Majestät keine Absicht habe, mit mir von der Demonstration zu sprechen, welche im Süden zu machen er im Begriff steht."
Es sei erwähnt, daß Sir Hamilton schon in seiner Depesche vom 7. Januar 1853 die britische Regierung davon verständigt hatte, daß
„dem 5. corps d'armee1 Order gegeben sei, an die Grenze der Donauprovinzen vorzurücken, und daß das 4. Korps Befehl erhalten werde, für den Bedarfsfall sich marschbereit zu halten". Und in einer vom S.Januar 1853 datierten Depesche teilte er mit, daß Nesselrode ihm gegenüber seine Meinung ausgesprochen habe über „die Notwendigkeit, daß die Diplomatie Rußlands durch eine Demonstration der bewaffneten Macht unterstützt würde". Sir Hamilton fährt dann in seiner Depesche fort:
„Der Kaiser sagte zunächst mit einigem Zaudern, dann aber in einem offenen und unbedenklichen Tone: ,Die Angelegenheiten der Türkei sind in einem Zustand großer Zerrüttung. Das Land droht eine Ruine zu werden (menace ruine). Der Einsturz wird ein großes Unglück sein, und es ist sehr wichtig, daß England und Rußland zu einem vollkommenen Einverständnis in diesen Angelegenheiten kommen und daß keiner ohne Vorwissen des anderen einen entscheidenden Schritt tue.' .Sehen Sie', rief er aus, ,wir haben einen kranken Mann auf unseren Armen, einen schwerkranken Mann. Es wäre, ich sage es Ihnen frei heraus, ein großes Unglück, wenn er uns eines Tages entfallen sollte, zumal ehe alle notwendigen Vorkehrungen genommen wären. Doch ist es jetzt nicht an der Zeit, über diese Sache mit Ihnen zu sprechen.'"
Dieser Bär hält den Patienten für so schwach, daß er ihn auffressen muß. Sir Hamilton, etwas erschrocken über diese „unerwartete" Diagnose des
1 Armeekorps
moskowitischen Arztes, antwortet in einem wahren Ausbruch von Höflichkeit: „Eure Majestät sind so gnädig, daß Sie mir erlauben werden, noch eine Bemerkung zu machen. Eure Majestät sagen, daß der Mann ein Kranker ist; das ist sehr wahr. Aber Eure Majestät werden geruhen, mich zu entschuldigen, wenn ich Ihnen bemerklich mache, daß es Sache des großmütigen und starken Menschen ist, den kranken und schwachen zu schonen." Der britische Gesandte tröstet sich mit dem Gedanken, daß seine Übereinstimmung mit der Ansicht des Zaren über die Türkei und die Krankheit und sein Appell um Nachsicht mit dem kranken Mann den Kaiser „wenigstens nicht verletzt habe". So endet Sir H.Seymours Bericht über seine erste vertrauliche Unterredung mit dem Zaren; obgleich er sich ihm gegenüber als vollendeter Höfling zeigt, ist er doch vernünftig genug, sein Kabinett zu warnen und ihm folgendes zu sagen: „Jede derartige Eröffnung zielt nur dahin ab, ein Dilemma zu stellen. Das Dilemma scheint mir dieses zu sein: Wenn die Regierung Ihrer Majestät sich mit Rußland nicht über das verständigt, was in der Voraussetzung der plötzlichen Auflösung der Türkei geschehen soll, so wird sie um so weniger Ursache haben, sich zu beklagen, im Fall die Folgen für England unangenehm wären. Wenn dagegen die Regierung Ihrer Majestät auf die Prüfung dieser Eventualitäten einginge, so würde sie bis auf einen gewissen Grad zustimmender Teil sein zu einer Katastrophe, die so lange als möglich zu entfernen von großer Wichtigkeit ist." Sir Hamilton schließt seine Depesche mit folgendem epigrammatischem Ausspruch: „Das Ganze läßt sich vermutlich in diesen Worten zusammenfassen: England muß ein inniges Einverständnis mit Rußland wünschen zum Zweck, den Sturz der Türkei zu verhindern, während es Rußland lieber wäre, daß dieses Einverständnis Ereignissen gälte, von welchen der Sturz der Türkei die Folge wäre." Wie Sir G.H. Seymour in seiner vom 22. Januar 1853 datierten Depesche an Lord J.Russell mitteilt, hatte er am 14.Januar eine weitere vertrauliche Unterredung mit dem Zaren, den „er allein fand". Der Autokrat geruhte, dem englischen Gesandten eine Lektion in orientalischen Angelegenheiten zu erteilen. Die Träume und Pläne der Kaiserin Katharina II. wären bekannt, aber er teile sie nicht. Seiner Meinung nach gäbe es im Gegenteil vielleicht nur eine Gefahr für Rußland, nämlich die einer weiteren Ausdehnung seiner bereits zu großen Besitzungen. (Ihre Leser werden sich erinnern, daß ich darauf anspielte, als ich einen Auszug aus den Depeschen des Grafen Pozzo di Borgo gab.1) Der Status quo der Türkei sei den russischen Interessen am
besten angepaßt. Einerseits hätten die Türken ihren militärischen Unternehmungsgeist verloren, andrerseits aber „sei dies Land noch stark genug oder war bis jetzt stark genug, seine Unabhängigkeit zu bewahren und sich eine achtungsvolle Behandlung von anderen Ländern zu sichern". In diesem Reich aber befänden sich zufällig mehrere Millionen Christen, deren er sich annehmen müsse, so hart und „unbequem" diese Aufgabe auch sei. Dazu verpflichte ihn gleichzeitig sein Recht, seine Pflicht und seine Religion. Dann kam der Zar ganz plötzlich auf seine Parabel von dem kranken Mann, dem sehr kranken Mann zurück, dem sie keinesfalls gestatten dürften, „plötzlich in ihren Armen zu sterben" (de leur echapper1). „Chaos, Verwirrung und die Gewißheit eines europäischen Kriegs müssen die Katastrophe begleiten, wenn sie unerwartet kommt und bevor ein weiterer Plan entworfen ist." Nachdem er somit abermals das drohende Ableben des Ottomanischen Reiches angekündigt hat, folgt die Aufforderung an England, gemäß der „eventuellen Verabredung" die Erbschaft gemeinsam mit Rußland zu berechnen. Er vermied jedoch, seinen eigenen „weiteren Plan" zu entwerfen, und begnügte sich, in parlamentarischen Wendungen den Hauptpunkt hervorzuheben,, der im Falle einer Teilung im Auge behalten werden müßte:
„Ich wünsche mit Ihnen als Freund und Gentleman zu sprechen. Wenn es gelingt, daß wir, England und ich, uns über diese Sache verständigen, so ist mir an dem übrigen wenig gelegen. Es ist mir gleichgültig, was die anderen tun oder davon denken. Indem ich also freimütig bin, sage ich Ihnen bestimmt, daß, wenn England beabsichtigt, sich eines Tages in Konstantinopel festzusetzen, ich es nicht erlauben werde. Ich schreibe Ihnen diese Absicht nicht zu, aber es ist besser, bei diesen Gelegenheiten deutlich zu sprechen. Meinerseits bin ich gleichfalls geneigt, die Verbindlichkeit zu übernehmen, mich nicht daselbst festzusetzen, als Eigentümer, wohlverstanden; denn als Depositar würde ich es nicht ablehnen. Es könnte geschehen, daß die Umstände mich in den Fall brächten, Konstantinopel zu besetzen, wenn nichts vorgesehen ist, wenn man alles nach dem Zufall gehen läßt."
England also wird es verboten, sich in Konstantinopel festzusetzen. Der Zar wird es tun, wenn nicht als Eigentümer, so doch wenigstens in der Eigenschaft eines zeitweiligen Depositars. Der britische Gesandte dankte Seiner Majestät für die Freimut seiner Erklärung. Nikolaus spielte dann auf seine früheren Unterredungen mit dem Herzog von Wellington an, die in dem Memorandum von 1844 wiedergegeben oder eigentlich resümiert sind. Zu der Tagesfrage - zu seinen Ansprüchen auf die Heiligen Stätten - übergehend, äußerte der britische Gesandte die folgenden Befürchtungen:
1 ihnen zu entwischen
„Zwei Folgen seien aus dem Erscheinen eines russischen Heeres voraus zu entnehmen: die eine - eine Gegendemonstration, die von Seiten Frankreichs hervorgerufen werden könnte; die andere, noch ernstere, von seiten der christlichen Bevölkerung eine Erhebung gegen das bereits durch Empörungen und schwere Finanzkrisen so sehr geschwächte Ansehen des Sultans. Der Kaiser versicherte mich, es habe noch keine Bewegung seiner Streitkräfte stattgefunden (n'ont pas bouge), und drückte die Hoffnung aus, daß das Vorrücken nicht erforderlich sein dürfte. In bezug auf eine französische Expedition nach des Sultans Staaten gab Seine Majestät zu verstehen, ein solcher Schritt würde die Sachen zu einer unmittelbaren Krisis bringen; ein Gefühl der Ehre würde ihn antreiben, ohne Verweilen und Zögern seine Streitkräfte in die Türkei zu senden; und wenn das Resultat eines solchen Vorgehens der Sturz des Großtürken (le Grand Türe) wäre, so würde er das Ereignis bedauern, aber fühlen, daß er nicht anders gehandelt habe, als wie er gezwungen war zu handeln." Der Zar hat jetzt England die Aufgabe gestellt, die es nun zu lösen hat, nämlich einen „weiteren Plan" zu entwerfen zur Abschaffung des Ottomanischen Reichs und „sich voraus zu verabreden über alles, was die Errichtung einer neuen Ordnung der Dinge betrifft, die bestimmt ist, die heute bestehende zu ersetzen". Er ermutigt seinen Zögling, indem er ihm den Preis vor Augen hält, der durch eine erfolgreiche Lösung dieses Problems zu gewinnen wäre, und entläßt ihn mit dem väterlichen Rat:
„Die Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts würde einen edlen Triumph erlangen, wenn die durch das Erlöschen der mohammedanischen Herrschaft in Europa gelassene Lücke ausgefüllt werden könnte ohne eine Unterbrechung des allgemeinen Friedens infolge der Vorsichtsmaßregeln, welche die bei den Geschicken der Türkei am meisten beteiligten zwei Hauptregierungen getroffen hätten."
Nachdem England in dieser Weise aufgerufen ist, erscheint Lord John Russell auf dem Plan und sendet seine Antwort in einer geheimen und vertraulichen Depesche vom 9. Februar 1853. Hätte Lord John den heimtückischen Plan des Zaren vollständig begriffen, England schon allein dadurch in eine hinterhältige Position zu drängen, daß es mit ihm in geheime Verhandlungen zum Zwecke der künftigen Aufteilung eines alliierten Staates eintritt, so hätte er ebenso gehandelt wie der Zar und sich auf eine mündliche Antwort an Baron Brunnow beschränkt, statt ein offizielles Staatsdokument nach St. Petersburg zu senden. Ehe die geheimen Dokumente dem Hause vorgelegt wurden, hatte die „Times" Lord Johns Depesche eine überaus kraftvolle und „empörte Zurückweisung" der Vorschläge des Zaren genannt. In ihrer gestrigen Nummer zieht sie ihre Lobsprüche auf Lord John zurück und erklärt, daß „das Dokument nicht das Lob verdiene, das ihm infolge ungenügender Information gespendet worden sei". Lord John hat sich den
Zorn der „Times" durch seine in der Freitagssitzung des Unterhauses,abgegebene Erklärung zugezogen, daß er gewiß nicht die Gewohnheit habe, diesem Blatte Mitteilungen zu machen, und daß er den Artikel, der auf seine Antwort an Sir G.H. Seymour anspielt, sogar erst drei Tage nach dessen Erscheinen gelesen habe. Wer den demütigen und unterwürfigen Ton kennt, den jeder englische Minister, nicht einmal Canning ausgenommen, seit 1814 Rußland gegenüber anschlug, der wird zugeben müssen, daß die Depesche Lord Johns als eine heroische Tat dieses kleinen Erdenwurms anzusehen ist. Da dieses Dokument den Charakter eines wichtigen Beitrags zur Geschichte hat und geeignet ist, die Entwicklung der Verhandlungen zu illustrieren, so werden Ihre Leser nichts dagegen haben, es in extenso1 kennenzulernen.
„LORD JOHN RUSSELL AN SIR G.H. SEYMOUR. (Geheim und vertraulich.) Auswärtiges Amt, 9. Februar 1853. Mein Herr! Ich habe Ihre geheime und vertrauliche Depesche vom 22. Januar der Königin vorgelegt. Ihre Majestät erkennt mit Vergnügen bei dieser wie bei früheren Gelegenheiten die Mäßigung, den Freimut und die freundliche Gesinnung Seiner Kaiserlichen Majestät an. Ihre Majestät hat mich angewiesen, in demselben Geist gemäßigter, aufrichtiger und freundschaftlicher Erörterung zu antworten. Die von Seiner Kaiserlichen Majestät angeregte Frage ist eine sehr ernste. Die Auflösung des Türkischen Reiches als wahrscheinlich oder sogar nahe bevorstehend annehmend, geht sie dahin: ob es nicht besser sei, im voraus für einen solchen Fall Vorkehrung zu treffen, als das Chaos, die Wirrnis und die Gewißheit eines europäischen Kriegs herankommen zu lassen, welches alles die Katastrophe begleiten müßte, wenn sie unerwartet und ehe ein künftiges System vorgezeichnet wäre, eintreten sollte. ,Dies ist der Punkt', sagte Seine Kaiserliche Majestät, ,auf welchen ich wünsche, daß Sie das Augenmerk Ihrer Regierung lenken.' Bei Betrachtung dieser gewichtigen Frage ist die erste Reflexion, die Ihrer Majestät Regierung beifällt, diese: daß keine wirkliche Krisis sich ereignet hat, welche eine Lösung dieses ungeheuren europäischen Problems notwendig macht. Streitigkeiten haben sich erhoben über die Heiligen Stätten; aber diese liegen außerhalb der Sphäre der inneren Verwaltung der Türkei und berühren mehr Rußland und Frankreich als die Hohe Pforte. Einige Störung der Verhältnisse zwischen Österreich und der Pforte ist verursacht worden durch den türkischen Angriff auf Montenegro; aber auch das betrifft mehr Gefahren, welche die Grenze Österreichs berühren, als die Autorität und Sicherheit des Sultans; so daß kein zureichender Grund vqrliegt, dem Sultan zu bedeuten, daß er unvermögend sei, die Ruhe im Innern zu wahren oder freundliche Beziehungen zu seinen Nachbarn aufrechtzuhalten. Es fällt Ihrer Majestät Regierung
1 vollständig
ferner die Bemerkung bei, daß die jenseits ins Auge gefaßte Eventualität in bezug auf den Zeitpunkt nicht bestimmt festgestellt ist. Als Wilhelm III. und Ludwig XIV. durch Vertrag über die Erbfolge Karls II. von Spanien verfügten, trafen sie Vorsorge für ein Ereignis, das nicht mehr weit entfernt sein konnte. Die Gebrechlichkeiten des Souveräns von Spanien und das gewisse Ende jedes menschlichen Lebens ließen den voraussichtlichen Fall als sicher und nahe erscheinen. Der Tod des spanischen Königs wurde durch den Teilungsvertrag keiner Wege beschleunigt. Das gleiche läßt sich sagen von der im vorigen Jahrhundert vorausgetroffenen Verfügung über Toskana bei dem Tod des letzten Fürsten aus dem Hause Medici. Aber die Eventualität der Auflösung des Ottomanischen Reichs ist anderer Art. Sie mag sich in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren von jetzt an ereignen. Unter diesen Umständen lüiirde es mit der freundlichen Gesinnung für den Sultan, die den Kaiser von Rußland nicht Weniger als die Königin von Großbritannien beseelt, £aum verträglich sein, im voraus über die Provinzen seines Reichs zu verfügen. Außer dieser Erwägung jedoch muß bemerkt werden, daß eine in einem solchen Fall getroffene Ubereinkunft sehr sicherlich dahin abzweckt, die Eventualität, gegen welche sie vorsehen soll, zu beschleunigen. Österreich und Frankreich könnten billigerweise nicht in Ungewißheit über die Transaktion erhalten werden, noch wäre eine solche Verheimlichung vereinbar mit dem Zweck, einen europäischen Krieg zu verhüten. In der Tat, eine solche Verheimlichung kann von Seiner Kaiserlichen Majestät nicht beabsichtigt sein. Man darf schließen, daß, sobald Großbritannien und Rußland sich über das einzuschlagende Verfahren geeinigt und ihm Kraft zu geben beschlossen hätten, sie ihre Absichten den übrigen Großmächten Europas mitteilen würden. Eine so getroffene und so mitgeteilte Übereinkunft würde nicht sehr lange ein Geheimnis bleiben; und während sie den Sultan beunruhigen und entfremden müßte, würde die Kenntnis von ihrer Existenz alle seine Feinde zu vermehrter Gewaltsamkeit und hartnäckigerem Kampfe anstacheln. Sie würden mit der Überzeugung fechten, daß sie am Ende triumphieren müssen, während des Sultans Generale und Truppen fühlen würden, daß kein augenblicklicher Erfolg ihre Sache vor dem schließlichen Untergang retten könnte. So würde eben jene Anarchie, die man jetzt fürchtet, hervorgebracht und verstärkt, und die Vorsicht der Freunde des Patienten würde sich als die Ursache seines Todes erweisen. Ihrer Majestät Regierung braucht sich kaum über die Gefahren zu verbreiten, welche die Ausführung jeder ähnlichen Übereinkunft begleiten würden. Das Beispiel des Erbfolgekriegs genügt, zu zeigen, wie wenig solche Übereinkünfte geachtet werden, wenn eine dringende Lockung zu ihrer Verletzung antreibt. Die Stellung des Kaisers von Rußland als Depositar, aber nicht als Eigentümer von Konstantinopel wäre zahllosen Gefahren ausgesetzt sowohl durch den langgehegten Ehrgeiz seiner eigenen Nation als durch die Eifersucht Europas. Der endliche Eigentümer, wer er auch sein möchte, würde sich mit der untätigen, trägen Haltung der Erben Mechmeds II. kaum begnügen. Ein großer Einfluß des Beherrschers von Konstantinopel, der die Tore des Mittelmeers und des Schwarzen Meers in seiner Gewalt hat, auf die Angelegenheiten Europas liegt, scheint es, in der Natur der Sache. Dieser Einfluß würde vielleicht zugunsten Rußlands gebraucht werden, vielleicht auch zur Kontrollierung und Hemmung seiner Macht. Seine Kaiser
liehe Majestät hat richtig und weise gesagt: .Mein Reich ist so groß, in jeder Hinsicht in einer so glücklichen Lage, daß es unvernünftig von mir wäre, mehr Gebiet oder mehr Macht zu wünschen, als ich schon besitze. Im Gegenteil', bemerkte er weiter, »unsere große, vielleicht unsere einzige Gefahr läge in einer noch weiteren Ausdehnung eines Reichs, das bereits zu groß ist. Ein kräftiger und ehrgeiziger Staat, der an die Stelle der Hohen Pforte träte, könnte jedoch den Krieg auf Seite Rußlands zu einer Notwendigkeit für den Kaiser oder seine Nachfolger machen.' Also würde der europäische Krieg gerade aus dem Mittel entspringen, womit man ihn zu verhüten gesucht hätte; denn weder England noch Frankreich und wahrscheinlich auch Österreich nicht würden damit zufrieden sein, Konstantinopel auf die Dauer in den Händen Rußlands zu sehen. Was Großbritannien betrifft, so erklärt Ihrer Majestät Regierung ein für allemal, daß sie auf jede Absicht oder jeden Wunsch, Konstantinopel zu besitzen, verzichtet. Seine Kaiserliche Majestät darf über diesen Punkt ganz sicher sein. Wir sind gleicherweise bereit, die Versicherung zu geben, daß wir auf keine Übereinkunft eingehen wollen, für die Eventualität des Falls der Türkei vorzusehen ohne vorherige Kommunikation darüber mit dem Kaiser von Rußland. Im ganzen also ist Ihrer Majestät Regierung überzeugt, daß keine weisere, uneigennützigere, für Europa wohltätigere Politik adoptiert werden kann als die, welche Seine Kaiserliche Majestät bisher befolgt hat und welche seinen Nansen glänzender machen wird als den der berühmtesten Fürsten, die durch unveranlaßten Eroberungskrieg und ephemere Glorie die Unsterblichkeit gesucht haben. Zum Erfolg dieser Politik ist es wünschenswert, daß die äußerste Nachsicht gegen die Türkei geübt werde; daß irgendwelche Forderungen, welche die Großmächte Europas an sie zu stellen haben, mehr zum Gegenstand freundlicher Unterhandlung als peremtorischen Auftretens gemacht werden; daß militärische und Marine-Zwangsdemonstrationen gegen den Sultan soviel möglich vermieden werden; daß Differenzen in die Türkei berührenden und innerhalb der Kompetenz der Hohen Pforte liegenden Dingen nach gemeinsamer Vereinbarung unter den großen Mächten entschieden werden und nicht der Schwäche der türkischen Regierung dabei Gewalt geschehe. Diesen Vorsichtsmaßregeln wünscht Ihrer Majestät Regierung hinzuzufügen, daß es nach ihrer Ansicht wesentlich ist, dem Sultan anzuraten, daß er seine christlichen Untertanen im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und Glaubensfreiheit behandle, die im allgemeinen unter den aufgeklärten Nationen Europas gelten. Je mehr die türkische Regierung die Regeln unparteiischen Gesetzes und gleichheitlicher Verwaltung annimmt, desto weniger wird es der Kaiser von Rußland nötig finden, jenen exzeptionellen Schutz anzuwenden, den Seine Kaiserliche Majestät so lästig und unbequem gefunden hat, wiewohl er ohne Zweifel durch die Pflicht vorgeschrieben und durch Vertrag sanktioniert ist.
Sie mögen diese Depesche dem Grafen Nesselrode vorlesen und, wenn es gewünscht wird, selbst eine Abschrift davon in die Hände des Kaisers übergeben. In diesem Falle werden Sie deren Überreichung mit Versicherungen der Freundschaft und des Vertrauens von Seiten Ihrer Majestät unserer Königin begleiten, welche das Verfahren Seiner Kaiserlichen Majestät so gewiß einflößen mußte. Ich bin etc. J. Russell"
Ich muß den Abschluß meiner Analyse auf den nächsten Brief verschieben. Bevor ich jedoch schließe, will ich in Ergänzung meiner früheren Mitteilungen über die Haltung und die Pläne Preußens die jüngsten Nachrichten mitteilen, die ich hierüber aus einer dem Publikum sonst nicht zugänglichen Quelle erhielt. Als der Konflikt zwischen Rußland auf der einen und der englischfranzösischen Allianz auf der anderen Seite schon einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, sandte Kaiser Nikolaus einen eigenhändigen Brief an seinen Schwager1 in Berlin, worin er erklärte, daß er England und Frankreich zu Lande nicht fürchte, wenn sie ihm auch zu Wasser etwas Schaden zufügen könnten, da er Ende April 600000 Soldaten marschbereit hätte. Von diesen wolle er 200000 zur Disposition Friedrich Wilhelms stellen, wenn dieser sich verpflichte, auf Paris zu marschieren und Louis-Napoleon zu entthronen. Der schwachsinnige König war so geblendet von diesem Vorschlag, daß Manteuffel drei Tage brauchte, um ihn von der Annahme dieses Anerbietens abzubringen. Soviel über den König. Was Herrn von Man teuffei selbst anbelangt, auf dessen „großen Charakter" die preußische Bourgeoisie so stolz ist, so sehen wir den ganzen Mann vor uns wie auf dem Präsentierbrett, wenn wir seine Geheiminstruktionen betrachten, die er an Herrn Bunsen, seinen Gesandten in London, zu derselben Zeit schickte, als der obenerwähnte russische Brief einging, und die in meinen Besitz gelangten, wenn auch auf ganz andere Art, als Bunsen sich in den Besitz meiner Privatbriefe setzteDer Inhalt dieser Instruktionen, die in der unverfrorenen Zweideutigkeit ihres Stils den Schulmeister und den Unteroffizier zugleich verraten, ist ungefähr folgender: „Passen Sie genau auf, woher der Wind weht. Wenn Sie bemerken, daß England sich ernstlich in Allianz mit Frankreich befindet und entschlossen ist, zum Krieg zu drängen, dann bestehen Sie auf der «Integrität und Unabhängigkeit* der Türkei. Wenn Sie jedoch bemerken, daß es in seiner Politik schwankend ist und dem Krieg abgeneigt, dann heraus mit Ihrer Lanze, und brechen Sie sie wohlgemut fUr die Ehre und Würde Ihres Königs, meines und Ihres Herrn!"
Hat denn der Autokrat nicht recht, wenn er Preußen wie eine Null behandelt? Karl Marx
Aus dem Englischen,
1 Friedrich Wilhelm IV.
Karl Marx
Die geheime diplomatische Korrespondenz
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4050 vom 11.April 1854] London, Freitag, 24. März 1854. Kann man auch die Depesche Lord John Russells im ganzen als eine höfliche Ablehnung des Vorschlags des Zaren bezeichnen, schon im voraus ein Abkommen über die eventuelle Teilung der Türkei zu treffen, so enthält sie doch einige sehr merkwürdige Stellen, auf die ich die Aufmerksamkeit Ihrer Leser lenke. Lord John sagt: „Es liegt kein ausreichender Grund vor, dem Sultan zu bedeuten, daß er unvermögend sei, die Ruhe im Innern zu wahren oder freundliche Beziehungen zu seinen Nachbarn aufrechtzuhalten."
Nun stoßen wir nirgends in den vertraulichen Mitteilungen Sir Hamilton Seymours auf eine Andeutung davon, daß der Zar vorgeschlagen habe, dem Sultan etwas Derartiges zu bedeuten. Wir müssen daher entweder annehmen, daß Lord Russell, während er zum Widerstand gegen einen solchen Schritt reizte, ihn selbst betreiben wollte, oder daß einige der vertraulichen Mitteilungen Sir Hamiltons in den dem Hause vorgelegten Akten verheimlicht sind. Die Sache ist um so verdächtiger, als nur sechzehn Tage später, am 25. Februar 1853, Lord Clarendon bei seinem Eintritt ins Ministerium des Auswärtigen Lord Stratford de Redcliffe folgende Instruktionen erteilte:
„Eure Exzellenz werden mit der ganzen Freimütigkeit und Offenheit, die mit der Klugheit und der Würde des Sultans vereinbar sind, die Gründe erklären, welche die Regierung Ihrer Majestät befürchten lassen, daß sich das Ottomanische Reich gegenwärtig in einer sehr gefährlichen Lage befinde. Die sich häufenden Beschwerden der fremden Nationen, denen zu entsprechen die Pforte unfähig oder nicht gewillt ist, die schlechte Führung ihrer eigenen Geschäfte und die zunehmende Schwäche der Exekutivgewalt in der Türkei haben die Alliierten der Pforte neuerdings veranlaßt, einen neuen
und beunruhigenden Ton anzuschlagen. Sollte diese Lage andauern, so kann sie zu einer allgemeinen Empörung der christlichen Untertanen der Pforte führen und sich als verhängnisvoll für die Unabhängigkeit und Integrität des Reiches erweisen - eine Katastrophe, die die Regierung Ihrer Majestät tief bedauern würde, die aber, worauf die Pforte hinzuweisen die britische Regierung verpflichtet ist, von einigen europäischen Großmächten als wahrscheinlich und nahe bevorstehend betrachtet wird." (Siehe Blaubuch über die Rechte und Privilegien der römisch-katholischen und griechischorthodoxen Kirche. Bd. I, S. 81 und 82.)[54]
Hieß das nicht, dem Sultan von Seiten Englands in dürren Worten „bedeuten", „daß er unvermögend sei, die Ruhe im Innern zu wahren oder freundliche Beziehungen zu seinen Nachbarn aufrechtzuhalten"? Der Zar hatte Sir Hamilton in sehr ungenierter Weise gesagt, daß er es England nicht erlauben würde, sich in Konstantinopel festzusetzen, daß aber er seinerseits beabsichtige, sich daselbst festzusetzen, wenn auch nicht als Eigentümer, so doch wenigstens als Depositar. Was erwidert nun Lord John auf diese unverschämte Ankündigung? Im Namen Großbritanniens verzichtet er „auf jede Absicht oder jeden Wunsch, Konstantinopel zu besetzen". Vom Zaren verlangt er keine solche Zusage.
„Die Stellung des Kaisers von Rußland"', sagt er, „als Depositar, aber nicht als Eigentümer von Konstantinopel, wäre zahllosen Gefahren ausgesetzt sowohl durch den langgehegten Ehrgeiz seiner eigenen Nation als durch die Eifersucht Europas."
Die Eifersucht Europas und nicht die Opposition Englands! Was England betrifft, so würde es nicht erlauben - aber ein Lord John Russell wagt mit Rußland doch nicht in demselben Ton zu sprechen, in dem Rußland mit England spricht -, England würde „nicht damit zufrieden sein, Konstantinopel auf die Dauer in den Händen Rußlands zu sehen". Es wäre also zufrieden, Rußland vorübergehend dort zu sehen. Mit anderen Worten, es stimmt dem Vorschlag vollständig zu, den der Zar selbst macht. Es wird das nicht erlauben, worauf er selbst verzichtet, aber es ist bereit zu dulden, was er zu tun beabsichtigt. Nicht „zufrieden" damit, den Zaren als den eventuellen Depositar Konstantinopels einzusetzen, erklärt Lord John Russell im Namen der englischen Regierung, daß sie „auf keine Übereinkunft eingehen will, für die Eventualität des Falls der Türkei vorzusehen ohne vorherige Kommunikation darüber" mit Rußland. Das heißt, obgleich der Zar Sir H. Seymour mitteilte, daß er mit Österreich eine Vereinbarung getroffen habe ohne vorherige Verständigung Englands, verpflichtet sich England seinerseits, mit Rußland Rücksprache zu nehmen, ehe es eine Vereinbarung mit Frankreich trifft.
12 Marx Engels, Werke, Band 10
„Im ganzen", sagt Lord John, „kann keine weisere, uneigennützigere, für Europa wohltätigere Politik adoptiert werden als die, welche Seine Kaiserliche Majestät bisher befolgt hat." Seine kosakische Majestät hat zufällig, ohne je davon abzuweichen, die bei ihrer Thronbesteigung verkündete Politik verfolgt, die der liberale Lord John als eine so uneigennützige und für Europa so wohltätige erklärt. Der angebliche und wichtigste Streitpunkt in den jetzigen orientalischen Wirren ist Rußlands Anspruch auf ein religiöses Protektorat über die griechisch-orthodoxen Christen im Ottomanischen Reich. Der Zar, weit entfernt davon, seine Ansprüche zu verbergen, sagte Lord Hamilton geradeheraus, daß „ihm das Recht durch Vertrag gesichert sei, jene mehrere Millionen Christen zu beschützen", daß „er von seinem Recht einen mäßigen und schonenden Gebrauch mache" und daß es „zuweilen mit sehr unbequemen Verbindlichkeiten verknüpft sei". Gibt ihm nun Lord John Russell zu verstehen, daß ein solcher Vertrag nicht existiere und daß der Zar ein solches Recht nicht habe? Daß er nicht mehr Recht besitze, sich in die Angelegenheiten der griechisch-orthodoxen Untertanen der Türkei einzumischen, als England in diejenigen der protestantischen Untertanen Rußlands oder Frankreich in die der Iren Großbritanniens? Lassen wir ihn selbst antworten:
„Ihrer Majestät Regierung wünscht hinzuzufügen, daß es nach ihrer Ansicht wesentlich ist, dem Sultan anzuraten, daß er seine christlichen Untertanen im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und Glaubensfreiheit behandle... Je mehr die türkische Regierung die Regeln unparteiischen Gesetzes und gleichheitlicher Verwaltung annimmt, desto weniger wird es der Kaiser von Rußland nötig finden, jenen exzeptionellen Schutz anzuwenden, den Seine Kaiserliche Majestät so lästig gefunden hat, wiewohl er ohne Zweifel durch die Pflicht vorgeschrieben und durch Vertrag sanktioniert ist." Rußlands „exzeptioneller Schutz" über die Untertanen der Pforte durch Vertrag sanktioniert! Kein Zweifel daran, sagt Lord John; und Lord John ist ein ehrenwerter Mann; und Lord John spricht im Namen der Regierung Ihrer Majestät; und Lord John wendet sich an den Autokraten selbst. Worüber streitet also England mit Rußland? Und warum verdoppelt es seine Einkommensteuer und beunruhigt die Welt mit seinen kriegerischen Vorbereitungen? Wie kam Lord John dazu, vor einigen Wochen im Parlament mit der Miene und dem Ton einer Kassandra aufzutreten, zu kreischen, zu prahlen und sich in bombastischen Verwünschungen gegen den treulosen und arglistigen Zaren zu ergehen? Hat nicht er selbst dem Cäsaren erklärt, des Cäsars Ansprüche auf das ausschließliche Protektorat seien durch „die Pflicht vorgeschrieben und durch Verträge sanktioniert"?
Gewiß nicht über Verstellung oder Zurückhaltung des Zaren hatte das Koalitionskabinett sich zu beklagen, sondern im Gegenteil über die unverschämte Vertraulichkeit, mit der er es wagte, sein Herz vor ihm auszuschütten und es zum Vertrauten seiner geheimsten Pläne zu machen, wodurch er das Kabinett von Downing Street[221 in ein Privatkabinett am Alexander-Newski-Prospekt verwandelte. Jemand vertraut euch seine Absicht an, euren Freund zu ermorden. Er bittet euch, sich schon vorher mit ihm über den Raub zu einigen. Ist dieser Jemand nun Kaiser von Rußland, und ihr seid ein englischer Minister, so werdet ihr ihn nicht vor Gericht zerren, sondern ihm in unterwürfigen Worten für das große Vertrauen danken, daß er in euch setzte, und euch glücklich schätzen, „seine Mäßigung, seinen Freimut und seine freundliche Gesinnung anzuerkennen", wie es Lord John Russell tat. Kehren wir nach St. Petersburg zurück. Am Abend des 20. Februar - nur eine Woche vor der Ankunft Fürst Menschikows in Konstantinopel - kam auf der Soiree der Erb-Großherzogin1 der Autokrat auf Sir Hamilton Seymour zu, und es entspinnt sich folgende Unterredung zwischen diesen beiden „Gentlemen":
Der Zar: „Wohlan, so haben Sie denn Ihre Antwort erhalten und werden sie mir morgen bringen." Sir Hamilton: „Ich werde die Ehre haben, Sire, aber Eure Majestät wissen, daß der Inhalt der Antwort sehr genau das ist, was ich Eure Majestät erwarten ließ." Der Zar: „Das habe ich mit Bedauern vernommen; aber Ihre Regierung, scheint mir, hat meine Pläne nicht richtig aufgefaßt. Es ist mir weniger darum zu tun, was geschehen soll, wenn der kranke Mann stirbt, als mit England festzusetzen, was in jenem Falle nicht geschehen soll." Sir Hamilton: „Aber, Sire, erlauben Sie mir zu bemerken, wir haben keinen Grund anzunehmen, daß der kranke Mann im Sterben liegt. Länder sterben nicht so schnell dahin. Die Türkei wird noch manches Jahr bestehen, es müßte sich denn eine unvorhergesehene Krisis ereignen. Gerade, Sire, zur Vermeidung aller Umstände, die geeignet sind, eine solche Krisis hervorzubringen, rechnet die Regierung Ihrer Majestät auf Ihren großmütigen Beistand." Der Zar: „Ich will Ihnen sagen, daß, wenn Ihre Regierung sich zu dem Glauben hat verleiten lassen, daß die Türkei noch irgendwelche Elemente des Daseins in sich trage, Ihre Regierung unrichtige Kunde darüber erhalten haben muß. Ich wiederhole Ihnen, der kranke Mann liegt im Sterben; und wir dürfen nimmermehr gestatten, daß uns ein solches Ereignis überrascht. Wir müssen zu irgendeiner Verständigung kommen. Und bemerken Sie wohl, ich verlange keinen Vertrag, kein Protokoll; ein allgemeines
1 Maria Alexandrowna
Einverständnis ist alles, was ich verlange - das ist unter Ehrenmännern genug. Also nicht mehr für jetzt; Sie kommen morgen zu mir."
Sir Hamilton „dankte Seiner Majestät herzlichst", aber kaum hat er den kaiserlichen Salon verlassen und ist nach Hause zurückgekehrt, als ihn Zweifel überkommen. Er setzt sich an sein Pult, berichtet über die Unterredung an Lord John und faßt seinen Brief mit den folgenden bemerkenswerten Randbemerkungen zusammen: „Es kann kaum anders sein, als daß der Souverän, der mit solcher Hartnäckigkeit auf den bevorstehenden Fall eines Nachbarstaats wartet, in seiner Seele beschlossen haben muß, daß die Stunde, wenn nicht der Auflösung, jedenfalls zu seiner Auflösung nahe ist... Diese Annahme würde kaum gewagt werden, wenn nicht ein vielleicht allgemeines, aber jedenfalls inniges Einvernehmen darüber zwischen Rußland und Österreich bestände. Vorausgesetzt, daß mein Verdacht begründet ist, so hat der Kaiser die Absicht, die Regierung Ihrer Majestät im Verein mit seinem eigenen und dem Wiener Kabinett für einen Plan zur endlichen Teilung der Türkei, aber mit Ausschließung Frankreichs von dem Arrangement, zu gewinnen."
Diese Depesche kam in London am 6. März an, als Lord Russell im Ministerium des Auswärtigen schon durch Lord Clarendon abgelöst war. Der Eindruck, den die ängstlichen Warnungen des Gesandten auf das Gemüt dieses jammernden Verehrers der Türkei machten, ist ganz erstaunlich. In voller Kenntnis des verräterischen Plans des Zaren, die Türkei unter Ausschluß Frankreichs aufzuteilen, sagt er dem Grafen Walewski, dem französischen Gesandten in London, daß er im Gegensatz zu Frankreich
„geneigt wäre, Vertrauen auf den Kaiser von Rußland zu setzen", daß „eine Politik des Mißtrauens weder weise noch sicher sei" und daß, „obwohl er hoffe, die Regierungen Englands und Frankreichs würden immer zusammen vorgehen, wenn ihre Politik und ihre Interessen übereinstimmten, er doch frei heraus sagen müsse, daß das jüngste Verhalten der französischen Regierung nicht gerade darauf berechnet sei, dieses wünschenswerte Resultat zu sichern". (Siehe Blaubuch, Bd. I, S. 93 und 98.)
En passant1 will ich noch bemerken, daß zu derselben Zeit, da der Zai" den britischen Gesandten in St. Petersburg belehrte, die „Times" in London tagtäglich wiederholte, der Zustand der Türkei sei ein verzweifelter, das Ottomanische Reich zerfiele in Stücke, und nichts bleibe davon übrig als das Gespenst „eines Türkenkopfs mit einem Turban". Am Morgen nach der Unterredung auf der kaiserlichen Soiree leistet Sir G. H. Seymour der Einladung Folge und macht seine Aufwartung
1 Beiläufig
beim Zaren. Ein „Dialog, der eine Stunde und zwölf Minuten währte", findet zwischen ihnen statt, über den er in seiner Depesche an Lord John Russell vom 22. Februar 1853 berichtet. Der Kaiser begann damit, daß er Sir Hamilton ersuchte, ihm Lord Johns geheime und vertrauliche Depesche vom 9. Februar laut vorzulesen. Über die in dieser Depesche enthaltnen Erklärungen zeigte er sich natürlich sehr befriedigt; „er könne nur wünschen, daß sie etwas erweitert würden". Er wiederholte, daß eine türkische Katastrophe fortwährend bevorstehe und
„jeden Augenblick herbeigeführt werden könne entweder durch einen auswärtigen Krieg oder durch eine Fehde zwischen der alttürkischen Partei und jener der »neuen oberflächlichen französischen Reformen' oder aber durch eine Erhebung der Christen, welche, wie man wisse, bereits sehr ungeduldig seien, das muselmanische Joch abzuschütteln".
Er läßt die Gelegenheit nicht vorübergehen, ohne seine abgedroschene Prahlerei vom Stapel zu lassen, daß, „wenn er nicht dem siegreichenVormarsch des Generals Diebitsch im Jahre 1829 Einhalt geboten hätte, die Autorität des Sultans schon zu Ende wäre". Dabei ist es eine allgemein bekannte Tatsache, daß von den 200000 Mann, die er damals in die Türkei geschickt hatte, nur 50000 nach Hause zurückkehrten und der Rest der Armee Diebitschs in der Ebene von Adrianopel vernichtet worden wäre, wenn nicht türkische Paschas im Verein mit fremden Gesandten Verrat geübt hätten. Er betonte, daß er keinen zwischen England und Rußland ganz und gar verabredeten Plan fordere, nach dem im voraus über die vom Sultan regierten Provinzen Verfügung getroffen würde, und noch weniger ein förmliches Abkommen zwischen den beiden Kabinetten, sondern nur irgendein allgemein gehaltenes Übereinkommen oder einen Meinungsaustausch, wobei jede Seite im Vertrauen erklärt, was sie nicht wünsche,
„was den englischen, was den russischen Interessen widerstreben würde, damit, wenn einst der Fall einträte, es jeder Teil vermeiden könnte, in Widerspruch zu dem anderen zu handeln". Durch solch ein negatives Übereinkommen würde der Zar alles erreichen, wonach er strebt: Erstens den Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches, der zwischen England und Rußland als fait accompli1, wenn auch in negativer und bedingter Form, verabredet war; es läge dann bei ihm, die Dinge so weit zu verwirren, daß es möglich ist, England mit einem gewissen Schein von Glaubwürdigkeit zu erklären, der vorhergesehene Fall sei bereits eingetreten.
1 vollendete Tatsache
Zweitens einen geheimen Aktionsplan zwischen England und Rußland, der, auch wenn er unbestimmt und negativ wäre, doch England und Frankreich notwendig gegeneinanderhetzen würde, da er hinter Frankreichs Rücken und mit seinem Ausschluß zustande gekommen wäre. Drittens, da England durch seine negativen Zusagen hinsichtlich dessen, was es nicht tun werde, gebunden wäre, so hätte der Zar volle Freiheit, seinen eigenen positiven Aktionsplan in aller Ruhe auszuarbeiten. Außerdem ist es offensichtlich, daß zwei Parteien, die übereinkommen, was sie in einem gegebenen Falle einander nicht zu tun erlauben wollen, nur in versteckter Form vereinbaren, was sie tun wollen. Diese negative Art des Übereinkommens bietet nur dem Abgefeimteren der beiden Parteien die besseren Möglichkeiten. „Vielleicht hätten Eure Majestät", stammelte der verwirrte Sir Hamilton, „die Güte, mir Ihre eigenen Ideen über diese negative Politik zu eröffnen." Der Zar schien erst bescheiden zu widerstreben, tat dann aber so, als ob er unter dem sanften Druck nachgäbe, und machte folgende höchst bemerkenswerte Erklärung:
„Ich will nicht die bleibende Besetzung Konstantinopels durch die Russen dulden, womit ich auch gesagt haben will, daß es niemals im Besitz der Engländer, Franzosen oder einer anderen großen Nation sein darf. Hinwieder will ich nimmermehr erlauben einen Versuch zum Wiederaufbau des Byzantinischen Reiches oder eine solche Ausdehnung Griechenlands, die es zu einem mächtigen Staate machen würde; noch weniger würde ich erlauben die Zerstückelung der Türkei in kleine Republiken, Asyle für die Kossuth und Mazzini und andere Revolutionäre Europas. Ehe ich mich einem dieser Arrangements bequemte, würde ich Krieg anfangen und ihn so lange führen, als mir noch eine Muskete bliebe und ein Mann, sie zu tragen."
Kein Byzantinisches Reich, keine mächtige Ausdehnung Griechenlands, keine Konföderation von kleinen Republiken - nichts dergleichen. Was also will er? Der britische Gesandte brauchte nicht lange zu raten. Der Kaiser selbst platzte im Laufe der Unterredungen seinem Gesprächspartner gegenüber mit folgendem Vorschlag heraus:
„Die Fürstentümer sind in der Tat ein unabhängiger Staat unter meinem Schutz. Dies könnte so bleiben. Serbien könnte dieselbe Regierungsform erhalten; auch Bulgarien. Es scheint kein Grund vorhanden, weshalb diese Provinz nicht einen unabhängigen Staat bilden sollte. Was Ägypten betrifft, so begreife ich die Wichtigkeit dieses Gebiets für England vollkommen. Ich kann daher nur sagen, daß, wenn Sie bei einer Teilung des Ottomanischen Reiches bei dessen Fall von Ägypten Besitz nähmen, ich nichts dagegen haben werde. Ich sage dasselbe von Candia1; diese Insel würde Ihnen
1 Kreta
zusagen, und ich sehe nicht ein, weshalb sie nicht eine englische Besitzung werden sollte." So beweist er, daß „im Falle der Auflösung des Ottomanischen Reiches eine befriedigende Territorialanordnung weniger schwierig sein würde, als man gewöhnlich glaubt". Er erklärt offen, was er will - dieTeilung der Türkei-, und gibt höchst klar die Umrisse dieser Teilung an, klar sowohl durch das, was er eröffnet, als auch durch das, was er verschweigt. Ägypten und Candia an England; die Fürstentümer, Serbien, Bulgarien Vasallenstaaten Rußlands; Türkisch-Kroatien, Bosnien und die Herzegowina sollen Österreich einverleibt werden, was er zu erwähnen verheimlicht; Griechenland „nicht zu mächtig" erweitert - etwa durch Unterthessalien und einen Teil Albaniens. Konstantinopel soll vorübergehend vom Zaren besetzt und dann die Hauptstadt eines Staates werden, der Mazedonien, Thrazien und den Rest der Europäischen Türkei umfaßt. Wer aber soll der endgültige Besitzer jenes kleinen Reiches sein, das vielleicht noch durch einige Teile Anatoliens vergrößert werden mag? Er schweigt über diesen Punkt, aber es ist kein Geheimnis, daß er für diesen Posten jemanden in Reserve hat, nämlich seinen jüngsten Sohn1, der nach einem eigenen Reich schmachtet. Und Frankreich? Soll es überhaupt nichts abbekommen? Vielleicht. Doch nein, es soll abgefunden werden mit - wer würde es glauben? - mit Tunis. „Eines seiner Ziele ist der Besitz von Tunis", sagt er zu Sir Hamilton, und im Falle einer Teilung des Ottomanischen Reiches könnte er vielleicht wirklich so großmütig sein, Frankreichs Appetit auf Tunis zu stillen. Von Frankreich spricht der Zar immerfort in einem affektierten Tone hochmütiger Verachtung. „Es sieht gerade so aus", sagt er, „als trachte die französische Regierung dahin, uns alle im Orient in Streit zu verwickeln." Er für seinen Teil kümmere sich nicht um Frankreich. „Er für seine Person kümmere sich sehr wenig darum, welche Bahn die Franzosen in orientalischen Angelegenheiten einzuschlagen für geeignet erachten möchten, und vor wenig mehr als einem Monat habe er dem Sultan eröffnen lassen, daß, wenn er seines Beistands zum Widerstand gegen die Drohungen der Franzosen bedürfe, er ganz zum Dienste des Sultans sei. ,Mit einem Wort', fuhr der Kaiser fort, ,wie ich Ihnen vorhin sagte, alles, was ich wünsche, ist ein gutes Verständnis mit England, und dies nicht darüber, was geschehen, sondern darüber, was nicht geschehen soll.'" „Aber Eure Majestät haben Österreich vergessen!" ruft Sir Hamilton aus. „Oh!" erwiderte der Kaiser zu seinem großen Erstaunen, „Sie müssen wissen, wenn ich von Rußland spreche, spreche ich ebensogut von Österreich; was dem einen
1 Michail
ansteht, steht auch dem anderen an; unsere Interessen in Hinsicht auf die Türkei sind vollkommen identisch."
Wenn er also Rußland sagt, so sagt er auch Österreich. Von Montenegro bemerkte er ausdrücklich, „er billige die vom österreichischen Kabinett angenommene Haltung". Wenn er bei einer früheren Unterredung den Sultan als den „Grand Türe"1 aus dem Vaudeville behandelt hatte, bezeichnet er ihn nun nach der Manier Paul de Kocks als „ce monsieur' *2. Und wie nachsichtig benimmt er sich gegen ce monsieur! Er hat bloß einen Menschikow nach Konstantinopel geschickt. „Ich hätte doch eine Armee dahin schicken können, wenn es mir beliebt hätte - nichts hätte sie aufgehalten", wie er es nachher bei Oltenitza und Cetate bewiesen hat und durch den glorreichen Rückzug seiner Armee von Kalafat. Seine kosakische Majestät entließ Sir Hamilton mit den Worten: „Wohlan, bewegen Sie Ihre Regierung, wieder über diese Gegenstände zu schreiben - ausführlicher zu schreiben, und zwar ohne Verzug."
Am 7. März, kurz nach diesem merkwürdigen Dialog oder eigentlich Monolog, wird der britische Gesandte zum Grafen Nesselrode gebeten; der überreicht ihm „den Befehlen des Kaisers gemäß ein sehr vertrauliches Memorandum, welches Seine Kaiserliche Majestät hatte redigieren lassen und das die Bestimmung habe, als Antwort oder Kommentar auf die Mitteilung Lord John Russells zu dienen". Graf Nesselrode bittet ihn, das Dokument zu lesen, „das für seinen Gebrauch bestimmt sei". Sir Hamilton studiert also das Dokument, und er, der kein einziges Wort des Protestes gegen des Moskowiten wohlüberlegte Beleidigungen gegen Frankreich gefunden hatte, zittert nun plötzlich, als er entdeckt, daß „der Eindruck, unter welchem es redigiert worden, ein vollkommen falscher gewesen sei; der Eindruck nämlich, daß bei den zwischen Rußland und Frankreich vorgekommenen Differenzen die Regierung Ihrer Majestät sich auf die Seite dieser letzteren Macht geneigt hätte". Am nächsten Morgen schon sendet er dem Grafen Nesselrode eilig ein Billetdoux, in dem er versichert, daß
„weit entfernt, sich im Verlauf der neulichen kritischen Verhandlungen zu Frankreich hingeneigt zu haben, wie behauptet wird, es der Wunsch der Räte der Konigin war - in dem vollen Maß, als es nur einer Regierung gestattet war (!), die eine neutrale Haltung zu beobachten hatte (!!) -, daß den Forderungen, die Seiner Kaiserlichen Majestät Regierung zu stellen das Recht hatte, volle Genugtuung werde".
* „Großtürken" - a „diesen Herrn"
Als Folge dieses Bettelbriefes hatte Sir Hamilton natürlich noch „eine sehr freundschaftliche und befriedigende Unterredung mit dem Kanzler", der den britischen Gesandten mit der Versicherung tröstet, daß er eine Stelle im Memorandum des Kaisers mißverstanden habe, in der England keineswegs Parteinahme für Frankreich vorgeworfen werden sollte.
„Alles, was hier gewünscht werde", sagte Graf Nesselrode, „sei, daß mit Berufung auf des Kaisers Großmut und Gerechtigkeitsgefühl die britische Regierung einige Anstrengungen mache, den französischen Ministern die Augen zu öffnen."
Man wünscht „hier" also nichts anderes, als daß England vor dem Kalmücken krieche und sich beuge und gegen die Franzosen einen diktatorisch strengen Ton anschlage. Um den Kanzler zu überzeugen, wie gewissenhaft die britische Regierung den letzteren Teil ihrer Aufgabe erfüllt, liest Sir Hamilton ihm einen Auszug aus einer Depesche Lord John Russells vor, „als eine Probe von der Sprache, die ein englischer Minister gegen die französische Regierung geführt hat". Graf Nesselrode sieht seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Er beklagte nur, „daß er nicht schon lange in den Besitz eines so hiindigen Beweises gesetzt worden sei". Das russische Memorandum zur Beantwortung von Lord Johns Depesche wird von Sir Hamilton „als eines der bemerkenswertesten Dokumente" beschrieben, „welches hervorgegangen sei nicht aus der russischen Staatskanzlei, sondern aus dem Geheimkabinett des Kaisers". So verhält es sich auch. Doch ist es überflüssig, sich dabei aufzuhalten, da es nur die Ansichten resümiert, die der Zar in seinem „Dialog" entwickelte. Es schärft der britischen Regierung ein, „daß das wie immer geartete Resultat dieser Unterredungen ein Geheimnis zwischen den beiden Souveränen bleiben solle". Des Zaren System, so bemerkt es, hat gegenüber der Pforte „stets Langmut geübt; das englische Kabinett selbst gesteht dies zu". Frankreich hatte ein anderes System befolgt und dadurch Rußland und Österreich gezwungen, ihrerseits durch Einschüchterung zu wirken. In dem ganzen Memorandum werden Rußland und Österreich gleichgesetzt. Als eine der Ursachen, die zu dem unmittelbaren Zusammenbruch der Türkei führen könnte, wird ausdrücklich die Frage der Heiligen Stätten genannt „und die religiösen Gefühle der orthodoxen Griechen, welche durch die den Katholiken gemachten Konzessionen beleidigt seien". Zum Schluß des Memorandums wird erklärt, „nicht weniger wertvoll" als die Versicherungen in der Depesche Lord John Russells seien „die Beweise von Freundschaft und persönlichem Vertrauen von Seiten Ihrer Majestät der Königin, welche Sir Hamilton Seymour bei dieser Gelegenheit dem Kaiser zu übermitteln beauftragt war". Diese „Beweise" der Ergebenheit
Königin Victorias gegen den Zaren sind dem britischen Publikum sorgsam vorenthalten worden, werden aber vielleicht nächstens im „Journal de SaintPetersbourg" erscheinen. Als Sir Hamilton seinen Dialog mit dem Kaiser und das Memorandum des Moskowiters kommentiert, lenkt er noch einmal die Aufmerksamkeit seines Kabinetts auf die Stellung Österreichs: „Nimmt man es als ein feststehendes und anerkanntes Faktum an, daß zwischen den beiden Kaisern eine Übereinkunft oder ein Pakt hinsichtlich der türkischen Angelegenheiten besteht, so wird es von der höchsten Wichtigkeit, zu erfahren, wieweit die von ihnen wechselseitig übernommenen Verpflichtungen sich erstrecken. Was die Art betrifft, in der jenes Arrangement abgeschlossen worden ist, so scheint sie mir kaum den Gegenstand eines Zweifels bilden zu können. Seine Basis dürfte in einer jener Zusammenkünfte gelegt worden sein, die zwischen den beiden Kaisern im Herbst stattfanden, und später dürfte Baron Meyendorff, der Gesandte Rußlands am österreichischen Hof, der den Winter zu St. Petersburg zugebracht hat und sich in diesem Augenblicke noch dort befindet, den Plan weiter ausgearbeitet haben." Zieht die britische Regierung nun nach diesen Eröffnungen Österreich zur Verantwortung? Nein, sie tadelt nur Frankreich. Nach der russischen Invasion in die Fürstentümer bestimmt sie Österreich zum Vermittler, wählt von allen Städten Wien zum Sitz der Konferenz, überträgt Graf Buol die Leitung der Verhandlungen und hält noch bis zu diesem Augenblick Frankreich in dem törichten Glauben, daß Österreich ein ehrlicher Verbündeter in einem Krieg gegen den Moskowiter für die Integrität und Unabhängigkeit des Ottomanischen Reiches sei, obgleich sie seit mehr als einem Jahre weiß, daß Österreich in die Zerstückelung dieses Reiches eingewilligt hat. Am 19. März kam Sir Hamiltons Bericht über seinen Dialog mit dem Zaren in London an. Lord Clarendon nimmt nun das Amt Lord Johns ein und bemüht sich, seinen Vorgänger noch zu übertreffen. Vier Tage nach dem Eintreffen jener aufsehenerregenden Mitteilung, worin der Zar seine Verschwörung gegen die Türkei und Frankreich nicht mehr zu verbergen für nötig hält, sondern sie offen eingesteht, sendet der edle Graf folgende Depesche an Sir Hamilton: „Die Regierung Ihrer Majestät bedauert, daß die Unruhe und Aufregung, welche in Paris herrscht, die französische Regierung veranlaßt hat, ihrer Flotte Order zu geben, sich nach den griechischen Gewässern zu begeben. Die Stellung der französischen Regierung unterscheidet sich jedoch in vielerlei Hinsicht von jener der britischen Regierung. Die erstere hat, soweit der britischen Regierung bekannt ist, keine Zusicherungen vom Kaiser hinsichtlich seiner Politik erhalten, die er betreffs der Türkei zu verfolgen entschlossen sei." (Siehe Blaubuch Bd. I, S. 90.)
Hätte der Zar auch Frankreich mitgeteilt, daß „der kranke Mann im Sterben liege", und einen vollständigen Plan der Verteilung der Erbschaft entworfen, so wäre Frankreich natürlich weder in Unruhe noch im Zweifel gewesen über das Schicksal der Türkei, die wahren Ziele der Mission Fürst Menschikows und den unabänderlichen Entschluß des Kaisers von Rußland, die Integrität und Unabhängigkeit des Reiches zu erhalten, das, wie er behauptete, „keine Elemente des Daseins" mehr enthalte. An demselben 23. März sendet Earl of Clarendon eine zweite Depesche an Sir Hamilton Seymour, die zwar nicht für die Blaubücher „präpariert" ist, aber die geheime Antwort auf die geheime Mitteilung von St. Petersburg enthält. Sir Hamilton hatte seinen Bericht über den Dialog mit dem sehr schlauen Vorschlag geschlossen: „Ich wage zu empfehlen, daß in die nächste an mich zu richtende Depesche einige Ausdrücke einfließen möchten, welche die Wirkung hätten, der weiteren Betrachtung oder wenigstens Diskussion der Punkte ein Ende zu machen, die, wie höchst wünschenswert ist, nicht als verfänglicher Gegenstand der Diskussion betrachtet werden sollten."
Earl of Clarendon, der sich als der richtige Mann fühlt, heiße Eisen anzufassen, handelt genau nach der Aufforderung des Zaren und im direkten Gegensatz zur Warnung seines eigenen Gesandten. Er beginnt seine Depesche mit der Erklärung, daß „die Regierung Ihrer Majestät gerne dem Wunsche des Kaisers willfahre, daß der Gegenstand noch weiter und freimütig diskutiert werde". Der Kaiser hat ein „Anrecht" auf „die herzlichste Meinungserklärung" von Seiten der britischen Regierung durch sein in diese gesetztes „edelmütiges Vertrauen", daß sie ihm helfen werde, die Türkei zu zerstükkeln, Frankreich zu verraten und im Falle des Zusammenbruchs der ottomanischen Herrschaft alle möglichen Versuche der christlichen Bevölkerung, freie und unabhängige Staaten zu bilden, zu unterdrücken.
„Die Regierung Ihrer Majestät", so fährt der freigeborene Brite fort, „ist vollkommen überzeugt, daß, falls ein Einverständnis in bezug auf künftige Eventualitäten zweckmäßig oder in der Tat möglich wäre, das Wort Seiner Kaiserlichen Majestät jedem irgend zu schließenden Vertrag vorzuziehen sein würde." Auf alle Fälle muß sein Wort jeden Vertrag aufwiegen, den man mit ihm schließen könnte; denn die Räte der britischen Krone haben schon längst erklärt, daß alle Verträge mit Rußland wegen der Verletzungen dieser Verträge durch Rußland hinfällig seien. „Die Regierung Ihrer Majestät beharrt bei dem Glauben, daß die Türkei noch immer die Elemente des Daseins besitzt." Um die Aufrichtigkeit dieses Glaubens zu beweisen, fügt der Earl milde hinzu:
„Wenn die Ansicht des Kaisers, die Tage des Türkischen Reiches seien gezählt, offenkundig würde, müßte sein Sturz sogar noch früher eintreten, als Seine Kaiserliche Majestät jetzt zu erwarten scheint."
Der Kalmücke braucht also nur seine Ansicht auszusprechen, daß der kranke Mann im Sterben liegt, und der'Mann ist auch schon tot. Eine beneidenswerte Lebenskraft ist das! Da bedarf es keiner Posaunen von Jericho. Ein Hauch aus des Kaisers erhabenem Munde, und das Ottomanische Reich zerfällt.
„Die Regierung Ihrer Majestät teilt ganz die Meinung des Kaisers, daß die Besetzung Konstantinopels durch eine der Großmächte mit dem jetzigen Gleichgewicht der Kräfte und der Aufrechterhaltung des Friedens in Europa unverträglich sein würde und ein für allemal als unmöglich betrachtet werden muß; daß keine Elemente zum Wiederaufbau eines Byzantinischen Reiches vorhanden sind; daß die systematische Mißregierung Griechenlands keine Aufmunterung zur Ausdehnung seines Territoriums darbietet; und daß, da die Voraussetzungen zur Provinzial- oder Kommunalregierung fehlen, Anarchie die Folge sein würde, wenn man die Provinzen der Türkei sich selbst überließe oder sie selbständige Republiken bilden ließe."
Man beachte, daß der britische Minister, der seinem tatarischen Herrn anbetend zu Füßen liegt und demutsvoll seine Worte nachspricht, sich nicht schämt, sogar die ungeheuerliche Lüge zu wiederholen, daß es in der Türkei „keine Elemente zur Provinzial- oder Kommunalregierung" gibt, während doch gerade die breite Entfaltung des kommunalen und provinzialen Lebens die Türkei in den Stand gesetzt hat, bis jetzt den härtesten Stößen von außen und innen zu widerstehen. Indem das britische Ministerium allen Prämissen des Zaren beipflichtet, rechtfertigt es alle Schlüsse, die er aus ihnen zu ziehen wünscht. Im Falle der Auflösung des Türkischen Reiches, sagte der tapfere Earl, „wäre der einzige Modus, wie eine friedliche Lösung versucht werden könnte, ein europäischer Kongreß". Aber er fürchtet die Folgen eines solchen Kongresses nicht wegen der Gaunereien Rußlands, das England auf demWiener Kongreß dermaßen betrog, daß Napoleon auf Sankt Helena ausrief: „Wäre ich bei Waterloo Sieger geblieben, so hätte ich England keine demütigenderen Bedingungen diktieren können" - sondern aus Furcht vor Frankreich.
„Die Verträge von 1815 müßten dann der Revision geöffnet werden, wo sofort Frankreich bereit sein dürfte, die Chancen eines europäischen Krieges zu wagen, um die Verbindlichkeiten loszuwerden, die es als nachteilig für seine Nationalehre betrachtet und welche, von siegreichen Feinden aufgelegt, für dasselbe eine beständige Quelle der Erbitterung sind."
Die Regierung Ihrer Majestät „wünscht das Türkische Reich zu erhalten" nicht als ein Bollwerk gegen Rußland und nicht, weil sein Zusammenbruch England zwingen würde, mit Rußland seine diametral entgegengesetzten Interessen im Orient auszufechten. 0 nein, sagt der Earl, „die Interessen Rußlands und Englands im Orient sind völlig identisch". England will das Türkische Reich erhalten, nicht aus irgendwelchen Erwägungen, die mit der orientalischen Frage verknüpft sind, sondern „in der Überzeugung, daß keine große Frage im Orient angeregt werden kann, ohne eine Quelle der Zwietracht im Westen zu werden". Eine orientalische Frage wird daher nicht einen Krieg der Westmächte gegen Rußland im Gefolge haben, sondern einen Krieg der Westmächte untereinander, einen Krieg Englands gegen Frankreich. Und derselbe Minister, der dies schrieb, und seine Kollegen, die es sanktionierten, möchten uns glauben machen, daß sie sich anschicken, im Verein mit Frankreich gegen Rußland ernsthaft Krieg zu führen, und zwar „wegen einer im Orient angeregten Frage" und obgleich „die Interessen Englands und Rußlands im Orient völlig identisch sind". Der wackere Earl geht noch weiter. Warum fürchtet er einen Krieg mit Frankreich, der nach seiner Erklärung das „notwendige Resultat" der Auflösung und Zerstückelung des Türkischen Reiches sein muß? Ein Krieg mit Frankreich wäre, an sich betrachtet, eine ganz vergnügliche Sache. Aber es gibt dabei einen bedenklichen Umstand, nämlich „daß jede große Frage im Westen einen revolutionären Charakter annehmen und eine Revision des ganzen gesellschaftlichen Systems in sich fassen wird, wofür die festländischen Regierungen sicherlich in keinem Zustand der Bereitschaft sind. Der Kaiser kennt vollkommen die Stoffe, die unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft in beständiger Gärung sind, und er weiß, wie leicht sie selbst in Friedenszeiten hervorbrechen. Seine Kaiserliche Majestät wird daher wohl nicht der Meinung widersprechen, daß der erste Kanonenschuß das Signal werden kann zu einem sogar noch unheilvolleren Zustand der Dinge, als es die Trübsale sind, die der Krieg unvermeidlich in seinem Gefolge mit sich bringt." „Und daher", ruft der aufrichtige Friedensstifter aus, „das ängstliche Verlangen der Regierung Ihrer Majestät, die Katastrophe abzuwenden." Wenn hinter der Teilung der Türkei nicht der Krieg mit Frankreich lauerte und hinter diesem nicht das Gespenst der Revolution, so wäre die Regierung Ihrer Majestät ebenso bereit, den Grand Türe zu verschlucken, wie es Seine Kosakische Majestät ist. Getreu den aus der russischen Kanzlei durch Sir H.Seymours Vermittlung empfangenen Instruktionen schließt der tapfere Clarendon seine Depesche mit einem Appell an „des Kaisers Großmut und Gerechtigkeitsgefühl".
In einer zweiten Depesche unseres Earls vom 5. April 1853 wird Sir Hamilton angewiesen, den russischen Kanzler davon zu unterrichten, daß
„Viscount Stratford de Redcliffe beauftragt worden ist, auf seinen Posten zurückzukehren, und daß seiner Mission durch einen eigenhändigen Brief Ihrer Majestät ein besonderer Charakter beigelegt würde, weil man von der Ansicht ausging, die Pforte werde einem gemäßigten Rate eher Gehör geben, wenn er von einem Manne wie von Viscount Stratford de Redcliffes hoher Stellung, großer Kenntnis und Erfahrung in türkischen Angelegenheiten kommt. Er soll der Pforte raten, ihre christlichen Untertanen mit der äußersten Milde zu behandeln."
Derselbe Clarendon, der diese ausführlichen Instruktionen gab, hatte in seiner geheimen Depesche vom 23.März 1853 geschrieben: „Die Behandlung der Christen ist nicht hart, und die von der Pforte gegen diesen Teil ihrer Untertanen bezeigte Toleranz könnte wohl gewissen Regierungen, die auf die Türkei als eine barbarische Macht mit Verachtung herabsehen, als Muster dienen."
In dieser geheimen Depesche wird zugegeben, daß Lord Stratford nach Konstantinopel geschickt wurde, weil er das geschickteste und willigste Werkzeug zur Einschüchterung des Sultans sei. In den ministeriellen Blättern aus jener Zeit wurde seine Entsendung als starke Demonstration gegen den Zaren dargestellt, da dieser Edelmann von jeher die Rolle eines persönlichen Gegners von Rußland gespielt hat. Die Reihe der geheimen Dokumente, die dem Haus vorgelegt wurden, schließt mit dem russischen Memorandum, worin Nikolaus sich dazu beglückwünscht, daß seine Ansichten ganz mit denen des englischen Kabinetts übereinstimmen hinsichtlich der politischen Kombinationen, die hauptsächlich vermieden werden müßten, wenn im äußersten Falle das zufällige Ereignis im Orient einträte. Das Memorandum ist datiert vom 15. April 1853. Es versichert,
„daß das beste Mittel, der türkischen Regierung Dauer zu verleihen, darin bestünde, sie durch keine das gerechte Maß überschreitenden, in einer ihrer Würde und ihrer Unabhängigkeit gleich schädlichen Weise gestellten Forderungen ferner zu belästigen".
Genau in dieser Zeit spielte Menschikow seine Komödie, indem er am 19. April seine unverschämte „Verbalnote" überbrachte, worin er eine Sprache führte, die „glücklicherweise in der Diplomatie sehr selten vorkommt", wie Earl of Clarendon im Oberhaus erklärte. Um so fester war Seine Lordschaft dafür von der Entschlossenheit des Zaren überzeugt, den kranken Mann schonend zu behandeln. Seine Überzeugung wurde noch fester, als der Kosak in die Fürstentümer eindrang.
Das Koalitionskabinett hat nur ein Loch entdeckt, um sich vor diesen anprangernden Dokumenten zu verkriechen. Es behauptet, der offenkundige Zweck der Mission des Fürsten Menschikow sei die Frage der Heiligen Stätten, während sich die Mitteilungen über die Zerstückelung der Türkei nur auf eine ungewisse, entfernte Zeit bezogen. Der Zar aber hatte ihm in seinem ersten Memorandum klar und deutlich gesagt, daß die Frage des Zusammenbruchs der Türkei „durchaus keine müßige und phantastische Frage, keine allzuferne Eventualität wäre"; daß das englische Ministerium irre, „wenn es in den beiden Fragen, Montenegro und die Heiligen Stätten, nur einfache Streitpunkte sähe, mit welchen die Diplomatie sich gewöhnlich zu beschäftigen hat", und daß die Frage der Heiligen Stätten „eine sehr ernste Wendung nehmen" und zur „Katastrophe" führen könne. Das englische Ministerium selbst habe nicht nur zugegeben, daß ihm in der Angelegenheit der Heiligen Stätten Unrecht geschehen sei, sondern auch, daß er „durch Vertrag das Recht habe, einen ekzeptionellen Schutz" über elf Millionen Untertanen des Sultans auszuüben. Wenn es also versäumte, die Pforte zur Annahme der Forderungen Menschikows zu drängen, so handle der Zar nur im Geiste des Memorandums von 1844, des vom englischen Ministerium selbst mit ihm getroffenen Übereinkommens und getreu seiner mündlichen Erklärung gegenüber Sir G, Hamilton Seymour, „daß er nicht mit sich spaßen lassen werde", und wenn er sich anschicke, ce monsieur sterben zu lassen. Es dreht sich nicht darum, ob er dem Ministerium gegenüber im Recht ist; die einzige Frage ist, ob es sich ihm gegenüber selbst in diesem Augenblick so verhält, „wie es sich ziemt". Jedem, der diese Dokumente aufmerksam liest, muß klarwerden, daß, wenn dieses skandalöse Ministerium im Amt bleibt, das englische Volk allein durch den Einfluß äußerer Komplikationen zu einer schrecklichen Revolution getrieben werden kann, die Thron, Parlament und herrschende Klassen hinwegfegt, denen Fähigkeit und Willen verlorengingen, Englands Stellung in der Welt zu erhalten. Indem Nikolaus das Koalitionsministerium im „Journal de Saint-Petersbourg" herausforderte, die geheimen Beweise seiner eigenen Infamie zu veröffentlichen, hat er getreu seinem Ausspruch gehandelt: „Je hais ceux qui me resistent; je meprise ceux qui me servent."1
Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 „Ich hasse die, die sich mir widersetzen; ich verachte die, die mir dienen."
Karl Marx
[Die Kriegserklärung Zur Geschichte der orientalischen Frage]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4054 vom 15. April 1854] London, Dienstag, 28.März 1854.[100J Endlich ist der Krieg erklärt worden. Die königliche Botschaft wurde gestern beiden Häusern des Parlaments verlesen - im Oberhaus durch Lord Aberdeen, im Unterhaus durch Lord J. Russell. Sie erläutert die Maßnahmen, die getroffen werden sollen, „um den Übergriffen Rußlands gegen die Türkei aktiv entgegenzutreten". Morgen wird die „London Gazette"[101] die offizielle Kriegserklärung veröffentlichen, und am Freitag wird die Antwortadresse auf diese Botschaft Gegenstand der Parlamentsdebatte sein. Gleichzeitig mit der englischen Erklärung erfolgte eine entsprechende Botschaft Louis-Napoleons an seinen Senat und an das Corps L^gislatif. Die Kriegserklärung an Rußland konnte nicht länger hinausgeschoben werden, nachdem Hauptmann Blackwood, der Überbringer des englischfranzösischen Ultimatissimums an den Zaren, vergangenen Sonnabend mit der Antwort zurückgekehrt war, Rußland wolle dieses Dokument überhaupt nicht beantworten. Ganz vergebens war indessen die Mission Hauptmann Blackwoods nicht. Rußland hat durch sie den Monat März gewonnen, diese für die russischen Streitkräfte gefährlichste Jahreszeit. Die Veröffentlichung der Geheimkorrespondenz zwischen dem Zaren und der englischen Regierung hat incredibile dictu1, anstatt einen Ausbruch öffentlicher Entrüstung gegen letztere hervorzurufen, die gesamte Tagesund Wochenpresse veranlaßt, England zu seinem wahrhaft nationalen Ministerium zu beglückwünschen. Mir ist jedoch bekannt, daß man eine Versammlung einberufen will, um der verblendeten britischen Öffentlichkeit die Augen zu öffnen über die wirkliche Haltung der Regierung. Sie soll nächsten
1 unglaublicherweise
Die Kriegserklärung - Zur Geschichte der orientalischen Frage 169
Donnerstag in der Music-Hall, Store Street, stattfinden, und man erwartet, daß Lord Ponsonby, Herr Layard, Herr Urquhart etc. an ihr teilnehmen. Der „Hamburger Correspondent"11021 bringt folgende Nachricht: „Nach Berichten aus St. Petersburg, die am 16. d. M. hier eintrafen, wird die russische Regierung mit Veröffentlichung der die orientalische Frage betreffenden Aktenstücke fortfahren. Unter den zur Veröffentlichung bestimmten Dokumenten sollen sich auch einige Briefe, die Prinz Albert geschrieben, befinden." Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Regierung am gleichen Abend, an dem im Unterhaus die königliche Botschaft verlesen wurde, ihre erste Niederlage in der gegenwärtigen Session erlitt; die zweite Lesung der PoorSettlement and Removal Bill11031 wurde trotz der Bemühungen der Regierung mit 209 gegen 183 Stimmen auf den 28. April vertagt. Diese Niederlage verdankt die Regierung keinem andern als Mylord Palmerston.
„Seine Lordschaft", schreibt die heutige „Times", „hat es fertiggebracht, sich und seine Kollegen zwischen zwei Feuer zu bringen" (die Tories und die Irische Partei), „und es besteht nicht viel Aussicht, daß diese das unter sich allein austragen können." Man teilt uns mit, daß am 12. d.M. der Vertrag einer Tripleallianz zwischen Frankreich, England und der Türkei unterzeichnet wurde£1041, daß aber der Großmufti, obwohl sich der Sultan persönlich an ihn wandte, unterstützt von dem Korps der Ulemas, sich weigerte, sein Fetwa11051 abzugeben, das die Bestimmung über die Veränderungen der Lage der Christen in der Türkei sanktioniert, da diese im Gegensatz zu den Vorschriften des Koran ständen. Dieser Nachricht muß anscheinend um so größere Bedeutung beigelegt werden, als sie Lord Derby zu folgender Bemerkung veranlaßte:
„ Ich möchte nur meine tiefsten Hoffnungen ausdrücken, daß die Regierung erklärt, ob etwas Wahres an der in den letzten Tagen verbreiteten Meldung ist, daß in diesem Übereinkommen zwischen England, Frankreich und der Türkei sich Artikel finden über die Errichtung eines Protektorats von unserer Seite aus, welches wenigstens ebenso zu verurteilen wäre wie ein russisches Protektorat, dem wir uns widersetzen." Die heutige „Times" erklärt, daß die Politik der Regierung derjenigen Lord Derbys gerade entgegengesetzt sei, und fügt hinzu: „Wir würden sehr bedauern, wenn die Bigotterie des Mufti oder der Ulemas den Erfolg hätte, einen ernsthaften Widerstand gegen diese Politik hervorzurufen." Um sowohl das Wesen der Beziehungen zwischen der türlaschen Regierung und den geistlichen Gewalten der Türkei zu begreifen als auch die Schwierigkeiten, in die die erstere gegenwärtig verwickelt ist, wo es sich um das Protektorat über die christlichen Untertanen der Pforte handelt, um die
13 Marx Engels, Werke, Band 10
Frage also, die den gegenwärtigen Wirren im Orient offenkundig zugrunde liegt, muß man einen Rückblick auf die frühere Geschichte und Entwicklung der Pforte werfen. Der Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige. Der Ungläubige ist „harby", d.h. der Feind. Der Islam ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen. In diesem Sinne waren die Seeräuberschiffe der Berberstaatentl06] die heilige Flotte des Islam. Wie läßt sich nun das Vorhandensein christlicher Untertanen im Reiche der Pforte mit dem Koran vereinbaren?
„Wenn sich eine Stadt durch Kapitulation ergibt", sagt die muselmanische Gesetzgebung, „und ihre Bewohner einwilligen, Rajahs zu werden, das heißt Untertanen eines muselmanischen Herrschers, ohne ihren Glauben aufzugeben, so zahlen sie den Charadsch" (die Kopfsteuer); „damit erlangen sie einen Waffenstillstand mit den Gläubigen, und niemand mehr darf ihre Güter konfiszieren oder ihnen ihre Häuser wegnehmen... In diesem Falle sind ihre alten Kirchen Bestandteil ihres Besitzes; sie dürfen darin Andachten verrichten. Es ist ihnen jedoch nicht erlaubt, neue Kirchen zu bauen. Sie haben nur das Recht, sie wiederherzustellen und verfallende Teile der Gebäude wiederaufzubauen. Zu bestimmten Zeiten sollen von den Gouverneuren der Provinzen abgesandte Kommissare die Kirchen und Heiligtümer der Christen überprüfen, um festzustellen, ob nicht unter dem Vorwand von Ausbesserungsarbeiten neue Gebäude errichtet wurden. Wird eine Stadt gewaltsam erobert, so können die Bewohner ihre Kirchen weiterhin benutzen, jedoch nur als Wohnstätten oder Zufluchtsorte, nicht aber zur Verrichtung von Andachten, "t107]
Da Konstantinopel sich durch Kapitulation ergab, wie überhaupt der größte Teil der Europäischen Türkei, so genießen die Christen daselbst das Privileg, als Rajahs unter der türkischen Regierung zu leben. Sie besitzen dieses Privileg ausschließlich deshalb, weil sie einwilligten, sich unter muselmanischen Schutz zu stellen. Nur aus diesem Grunde lassen sich die Christen von den Muselmanen nach muselmanischem Gesetz regieren, so daß ihr kirchliches Oberhaupt, der Patriarch von Konstantinopel, gleichzeitig ihr politischer Vertreter und ihr höchster Gerichtsherr ist. Wo wir auch im Ottomanischen Reich eine Ansammlung griechisch-orthodoxer Rajahs finden, sind die Erzbischöfe und Bischöfe gesetzlich auch Mitglieder der Munizipalräte und regeln unter der Leitung des Patriarchen die Verteilung der Steuern, die den Griechisch-Orthodoxen auferlegt werden. Der Patriarch ist der Pforte für das Betragen seiner Glaubensgenossen verantwortlich. Er hat das Recht,
über die Rajahs seiner Kirche zu richten, und überträgt dieses Recht den Metropoliten und Bischöfen innerhalb ihrer Diözesen; deren Rechtsprüche müssen von den Exekutivbeamten der Pforte, den Kadis etc., ausgeführt werden. Sie haben das Recht, Strafen zu verhängen, und zwar Geldstrafen, Gefängnisstrafen, Bastonaden und Verbannung. Außerdem verleiht ihnen ihre eigene Kirche die Macht der Exkommunikation. Unabhängig von dem Betrag der Geldstrafen erheben sie noch verschiedene Gebühren für Zivilund Handelsprozesse.. Jede Stufe der geistlichen Hierarchie hat ihren Kaufpreis. Der Patriarch zahlt an den Diwan einen hohen Tribut, um seine Investitur zu erlangen; seinerseits aber verkauft er wieder die Erzbischofsund Bischofswürde an die Geistlichkeit seines Glaubens. Diese letztere hält sich durch den Verkauf von subalternen Stellen und durch den von den Popen eingetriebenen Tribut schadlos. Diese wiederum verkaufen stückweis die Macht, die sie von ihren Vorgesetzten erkauft haben, und treiben Handel mit jedem Akt ihres geistlichen Amtes, so mit Taufen, Heiraten, Ehescheidungen und Testamenten. Aus diesem Expose ist klar ersichtlich, daß Dreh- und Angelpunkt des Systems der Priesterherrschaft über die griechisch-orthodoxen Christen in der Türkei und der gesamten Struktur der türkischen Gesellschaft die Unterwerfung der Rajahs unter den Koran ist, der seinerseits, indem er diese als Ungläubige behandelt - das heißt als eine Nation nur im religiösen Sinne -, die vereinigte geistliche und weltliche Macht ihrer Priester sanktioniert. Schafft man also ihre Unterwerfung unter den Koran durch eine zivile Emanzipation ab, so hebt man gleichzeitig ihre Unterwerfung unter die Geistlichkeit auf und ruft eine Revolution in ihren sozialen, politischen und religiösen Verhältnissen hervor, die sie zunächst unvermeidlich an Rußland ausliefern muß. Wer den Koran durch einen code civil1 ersetzt, der muß die ganze Struktur der byzantinischen Gesellschaft nach abendländischem Muster verändern. Nach der Schilderung der Beziehungen zwischen den Muselmanen und ihren christlichen Untertanen taucht die Frage auf nach den Beziehungen zwischen Muselmanen und ungläubigen Ausländern. Da der Koran jeden Ausländer zum Feind erklärt, so wird niemand wagen, in einem muselmanischen Land aufzutreten, ohne seine Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben. Die ersten europäischen Kaufleute, die das Risiko des Handels mit solch einem Volk auf sich nahmen, gedachten deshalb, sich anfänglich für ihre Person Ausnahmebedingungen und Privilegien
1 ein Zivilgesetzbuch
zu sichern, die sich aber später auf ihre ganze Nation ausdehnten. Daher rührt der Ursprung der Kapitulationen. Kapitulationen sind kaiserliche Diplome, Privilegiumsurkunden, die von der Pforte an verschiedene europäische Nationen verliehen werden und deren Untertanen berechtigen, ungehindert mohammedanische Länder zu betreten, in Ruhe dort ihre Geschäfte zu betreiben und ihren Gottesdienst abzuhalten. Von Verträgen unterscheiden sie sich durch den wichtigen Umstand, daß sie nicht auf Gegenseitigkeit beruhen, von den abschließenden Parteien nicht gemeinsam debattiert werden und nicht auf der Grundlage gegenseitiger Vorteile und Konzessionen von ihnen angenommen sind. Die Kapitulationen sind im Gegenteil einseitige Konzessionen von Seiten der Regierung, die sie gewährt, weshalb sie auch von dieser nach Belieben wieder zurückgenommen werden können. Die Pforte hat tatsächlich zu verschiedenen Zeiten die Privilegien, die sie einer Nation zugestand, dadurch aufgehoben, daß sie sie auch anderen verlieh oder sie gänzlich zurückzog, indem sie deren ferneren Gebrauch untersagte. Dieser unsichere Charakter der Kapitulationen machte sie zu einer nie versiegenden Quelle von Streitigkeiten, von Klagen seitens der Gesandten und von einem endlosen Austausch sich widersprechender Noten und Fermane, die bei jedem Regierungswechsel erneuert wurden. Diese Kapitulationen sind es, aus denen sich das Recht eines Protektorats ausländischer Mächte herleitet, nicht über die christlichen Untertanen der Pforte - die Rajahs -,. sondern über deren Glaubensgenossen, die die Türkei besuchen oder dort als Ausländer wohnen. Die erste Macht, die ein solches Protektorat erlangte, war Frankreich. Die Kapitulationen, abgeschlossen zwischen Frankreich und der Ottomanischen Pforte 1535 unter Suleiman dem Großen und Franz I., 1604 unter Achmed I. und Heinrich IV. und 1673 unter Mechmed IV. und Ludwig XIV., wurden 1740 in einer Sammlung erneuert, bestätigt, rekapituliert und vermehrt, die den Titel trug „Alte und neue Kapitulationen und Verträge zwischen dem Hofe von Frankreich und der Ottomanischen Pforte, erneuert und vermehrt im Jahre 1740 A. D. und 1153 der Hedschra, übersetzt" (die erste offizielle, von der Pforte sanktionierte Übersetzung) „zu Konstantinopel durch Herrn Deval, Sekretär-Dolmetsch des Königs und dessen erster Dragoman bei der Ottomanischen Pforte". Artikel 32 dieses Übereinkommens legt das Recht Frankreichs zu einem Protektorat über alle Klöster fest, in denen man sich zur fränkischen Religion bekennt, welcher Nation sie auch angehören mögen, und über alle fränkischen Besucher der Heiligen Stätten. Rußland war die erste Macht, die 1774 eine nach dem Beispiel Frankreichs abgefaßte Kapitulation in einen Vertrag einfügte - in den Vertrag von
Kainardschi. Auch Napoleon hielt es 1802 für zweckmäßig, Bestand und Fortdauer der Kapitulation zum Gegenstand eines Vertragsartikels zu machen und ihr den Charakter eines gegenseitig bindenden Vertrags zu verleihen. In welcher Beziehung steht nun die Frage der Heiligen Stätten zu dem Protektorat? Die Frage der Heiligen Stätten ist nichts anderes als die Frage eines Protektorats über die in Jerusalem angesiedelten Religionsgemeinden der griechisch-orthodoxen Christen und über die Gebäude, die sie auf dem heiligen Boden besitzen, insbesondere über die Kirche des Heiligen Grabes. Es versteht sich, daß Besitz in diesem Falle nicht Eigentum bedeutet, das den Christen durch den Koran untersagt ist, sondern nur das Recht der Nutznießung. Dieses Recht der Nutznießung schließt die anderen Gemeinden keineswegs davon aus, ihre Andacht an demselben Ort zu verrichten; die Besitzer haben keine weiteren Privilegien als das Recht, die Schlüssel zu behalten, die Gebäude instand zu halten und zu betreten, die Heilige Lampe zu entzünden, die Räume mit dem Besen zu fegen und die Teppiche auszubreiten, was im Orient ein Symbol des Besitzes ist. Ebenso wie die Christenheit an den Heiligen Stätten ihren Höhepunkt erreicht, hat auch die Frage des Protektorats daselbst ihren höchsten Ausdruck gefunden. Teile der Heiligen Stätten und der Kirche des Heiligen Grabes sind im Besitze der Katholiken, Griechisch-Orthodoxen, Armenier, Abessinier, Syrier und Kopten. Zwischen all diesen verschiedenen Prätendenten kam es nun zu einem Konflikt. Die Souveräne Europas, die in diesem religiösen Streit eine Frage ihres Einflusses im Orient sahen, wandten sich zuerst an die Herren des Grund und Bodens, fanatische und gierige Paschas, die ihre Stellung mißbrauchten. Die Ottomanische Pforte und ihre Agenten befolgten ein höchst ermüdendes systeme de bascule1, gaben abwechselnd den Katholiken, Griechisch-Orthodoxen und Armeniern recht, forderten und erhielten Gold von allen Seiten und machten sich über sie alle lustig. Kaum hatten die Türken einen Ferman zugestanden, der das Recht der Katholiken auf den Besitz eines strittigen Ortes anerkannte, als sich die Armenier mit einer noch volleren Börse einstellten und sogleich einen entgegengesetzten Ferman durchsetzten. Dieselbe Taktik wurde den Griechisch-Orthodoxen gegenüber befolgt, die es überdies verstanden, wie offiziell in verschiedenen Fermanen der Pforte und in „hudjets" (Gutachten) ihrer Agenten bezeugt wird, sich rechtswidrige und unechte Anrechte zu verschaffen. Bei anderen Gelegen
1 Schaukelsystem
heiten wurden die Entscheidungen der Regierung des Sultans durch die Habgier und das Übelwollen der Paschas und Subalternagenten in Syrien vereitelt. Dann mußten neue Verhandlungen gepflogen, neue Kommissare ernannt und neue Geldopfer gebracht werden. Was die Pforte in früheren Zeiten aus pekuniären Beweggründen tat, tut sie heutzutage aus Furcht, um Schutz und Begünstigung zu erhalten. Nachdem sie den Forderungen Frankreichs und den Ansprüchen der Katholiken gerecht geworden ist, beeilte sie sich, Rußland und den Griechisch-Orthodoxen dieselben Bedingungen einzuräumen, um auf diese Weise einem Sturm zu entgehen, dem zu begegnen sie sich ohnmächtig fühlt. Es gibt kein Heiligtum, keine Kapelle, keinen Stein von der Kirche des Heiligen Grabes, bei denen man nicht den Versuch gemacht hätte, sie zur Entfachung eines Streits zwischen den verschiedenen christlichen Gemeinden auszunutzen. Alle die verschiedenen christlichen Sekten, die sich um das Heilige Grab gruppieren, verbergen hinter ihren religiösen Forderungen ebenso viele politische und nationale Nebenbuhlerschaften. Jerusalem und die Heiligen Stätten bewohnen Nationen, die sich nach ihrem religiösen Bekenntnis unterteilen in Katholiken, Griechisch-Orthodoxe, Armenier, Kopten, Abessinier und Syrier. Es gibt 2000 GriechischOrthodoxe, 1000 Katholiken, 350 Armenier, 100 Kopten, 20 Syrier und 20 Abessinier - im ganzen 3490. Im Ottomanischen Reich zählt man 13730000 Griechisch-Orthodoxe, 2400000 Armenier und 900000 Katholiken. Diese sind alle wiederum unterteilt. Die griechisch-orthodoxe Kirche, von der ich oben sprach, die den Patriarchen von Konstantinopel anerkennt, unterscheidet sich wesentlich von der russisch-orthodoxen, deren geistliches Oberhaupt der Zar ist, und von den Hellenen, deren Oberhäupter der König und die Synode von Athen sind. Ähnlich unterteilen sich die Katholiken in Römisch'Katholische, Griechisch-Unierte und Maroniten; die Armenier in Gregorianische und Armenisch-Katholische; denselben Teilungen unterliegen Kopten und Abessinier. Die drei an den Heiligen Stätten vorherrschenden Religionen sind die griechisch-orthodoxe, die katholische und die armenische. Die katholische Kirche, kann man sagen, repräsentiert vorwiegend lateinische Völker, die griechisch-orthodoxe Kirche Slawen, Turkoslawen und Hellenen, und die anderen Kirchen Asiaten und Afrikaner. Man stelle sich vor, daß alle diese streitenden Völkerschaften das Heilige Grab belagern, daß die Mönche sich bekriegen und der scheinbare Gegenstand ihrer Kämpfe ein Stern aus der Grotte Bethlehems, ein Teppich, der Schlüssel zu einem Heiligtum, ein Altar, ein Schrein, ein Stuhl, ein Kissen irgendein lächerlicher Vorteil ist!
Um einen solchen Mönchskreuzzug zu verstehen, ist es unerläßlich, erstens ihre Lebensweise und zweitens die Art ihrer Behausungen ins Auge zu fassen. „Alle diese religiösen Abfälle verschiedener Nationen", erzählte vor kurzem ein Reisender1, „leben in Jerusalem voneinander abgesondert, feindlich und mißtrauisch, eine nomadische Bevölkerung, die sich ständig aus Pilgern rekrutiert und durch Pest und Elend dezimiert wird. Der Europäer stirbt oder kehrt nach einigen Jahren nach Europa zurück, die Paschas und ihre Garde gehen nach Damaskus oder Konstantinopel, und die Araber fliehen in die Wüste. Jerusalem ist ein Ort, wohin jeder einmal reist, doch wo niemand bleibt. Jeder in der heiligen Stadt erwirbt seinen Unterhalt durch seine Religion - die Griechisch-Orthodoxen oder die Armenier von den 12000 oder 13 000 Pilgern, die jährlich Jerusalem besuchen, die Katholiken von den Subsidien und Almosen, die sie von ihren Glaubensgenossen in Frankreich, Italien etc. bekommen." Außer ihren Klöstern und Heiligtümern besitzen die christlichen Nationen in Jerusalem kleine Wohnräume oder Zellen, die an die Kirche des Heiligen Grabes angebaut sind und von den Mönchen bewohnt werden, die Tag und Nacht diesen heiligen Ort bewachen müssen. Zu bestimmten Zeiten werden diese Mönche in ihren Pflichten durch ihre Brüder abgelöst. Diese Zellen haben nur eine Tür, die sich nach dem Inneren des Tempels öffnet; ihre Nahrung erhalten diese geistlichen Wächter durch ein Pförtchen von außen. Die Türen der Kirche sind verschlossen und werden von Türken bewacht, die sie nur gegen Bezahlung öffnen und je nach ihrer Laune oder Habgier schließen. Die Streitigkeiten zwischen Geistlichen sind die giftigsten, sagt Mazarin. Nun denke man sich diese Geistlichen, die nicht nur von, sondern auch in diesen Heiligtümern miteinander leben müssen! Um das Bild zu vollenden, sei daran erinnert, daß die Väter der katholischen Kirche, die sich fast ausschließlich aus Römern, Sardiniern, Neapolitanern, Spaniern und Österreichern zusammensetzen, alle gleich eifersüchtig sind auf das französische Protektorat und es gern durch ein österreichisches, sardinisches oder neapolitanisches ersetzen möchten; die Könige von Sardinien und Neapel führen beide schon den Titel König von Jerusalem. Dazu kommt noch, daß die ansässige Bevölkerung Jerusalems etwa 15 500 Seelen zählt, worunter 4000 Muselmanen und 8000 Juden sind. Die Muselmanen, die etwa ein Viertel der ganzen Bevölkerung bilden und aus Türken, Arabern und Mauren bestehen, sind selbstverständlich in jeder Hinsicht die Herren, denn bei der Schwäche ihrer Regierung in Konstantinopel sind sie in keiner
Weise beengt. Nichts gleicht aber dem Elend und den Leiden der Juden in Jerusalem, die den schmutzigsten Flecken der Stadt bewohnen, genannt Hareth-el-Yahud, im Viertel des Schmutzes zwischen Zion und Moria, wo ihre Synagogen liegen; sie sind unausgesetzt Gegenstand muselmanischer Unterdrückung und Unduldsamkeit, von den Griechisch-Orthodoxen beschimpft, von den Katholiken verfolgt und nur von den spärlichen Almosen lebend, die ihnen von ihren europäischen Brüdern zufließen. Die Juden sind jedoch keine Ureinwohner, sondern kommen aus verschiedenen entfernten Ländern und werden nach Jerusalem nur durch den Wunsch gezogen, das Tal Josaphat zu bewohnen und an denselben Stellen zu sterben, wo der Erlöser erscheinen soll.
„In Erwartung des Todes", sagt ein franzosischer Schriftsteller1, „leiden sie und beten. Ihre Blicke auf den Berg Moria gerichtet, wo sich einst der Tempel Salomos erhob und dem sie sich nicht nähern dürfen, vergießen sie Tränen über das Unglück Zions und ihre Zerstreuung in der ganzen Welt."
Um das Maß der Leiden dieser Juden voll zu machen, ernannten England und Preußen 1840 einen anglikanischen Bischof in Jerusalem, dessen offen zugegebene Aufgabe ihre Bekehrung ist. 1845 wurde er fürchterlich durchgeprügelt und von Juden, Christen und Türken gleicherweise verhöhnt. Von ihm kann man tatsächlich sagen, er habe den ersten und einzigen Anlaß zu einer Einigung zwischen sämtlichen Religionen in Jerusalem gegeben. Man wird nun begreifen, weshalb der gemeinsame Gottesdienst der Christen an den Heiligen Stätten sich auflöst in eine Folge wüster Prügeleien zwischen den verschiedenen Sekten der Gläubigen; daß sich andrerseits hinter diesen religiösen Prügeleien nur ein weltlicher Kampf nicht nur von Nationen, sondern von Völkerschaften verbirgt, und daß das Protektorat über die Heiligen Stätten, das dem Westeuropäer so lächerlich, dem Orientalen aber so überaus wichtig erscheint, nur eine der Phasen der orientalischen Frage ist, die sich unaufhörlich erneuert, die stets vertuscht, aber nie gelöst wird. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Kriegsdebatte im Parlament]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4055 vom 17. April 1854] London, Dienstag, 4, April 1854. Eine der Eigentümlichkeiten der englischen Tragödie, die das Gefühl des Franzosen so abstößt, daß Voltaire sogar Shakespeare als einen betrunkenen Wilden bezeichnete11081, besteht in der eigenartigen Mischung des Erhabenen und des Niedrigen, des Schrecklichen und des Lächerlichen, des Heroischen und des Burlesken. Nirgends aber überträgt Shakespeare dem Narren die Aufgabe, den Prolog zu einem Heldendrama zu sprechen. Diese Erfindung blieb dem Koalitionsministerium vorbehalten. Mylord Aberdeen hat, wenn auch nicht den englischen Narren, so doch den italienischen Pantalone gespielt. Dem oberflächlichen Beschauer scheint es, als ob alle großen historischen Bewegungen letztlich zur Farce oder wenigstens zum Gemeinplatz herabsinken. Damit aber begonnen zu haben, ist das besondere Merkmal der Tragödie, die den Titel Krieg mit Rußland trägt und deren Prolog Freitag abend in beiden Häusern des Parlaments gesprochen wurde, wo die Antwortadresse des Ministeriums auf die Botschaft der Königin gleichzeitig diskutiert und einstimmig angenommen wurde, so daß sie gestern nachmittag der auf ihrem Thron im Buckingham Palace sitzenden Königin übergeben werden konnte. Der Vorgang im Oberhaus kann sehr kurz geschildert werden. Lord Clarendon legte den Standpunkt des Ministeriums dar, Lord Derby den der Opposition. Der eine sprach als der Mann, der im Amt, der andere als derjenige, der draußen ist. Lord Aberdeen, der edle Earl an der Spitze der Regierung, der „scharfsinnige" Vertraute des Zaren, der „liebe, gute, vortreffliche" Aberdeen Louis-Philippes, der „schätzenswerte Gentleman" Pius IX., schloß zwar seinen Sermon mit dem üblichen Gewinsel um Frieden, rief jedoch während des größten Teils seiner Rede Lachstürme
bei den Lords hervor, weil er nicht Rußland, sondern der „Press", einem Londoner Wochenblatt, den Krieg erklärte. Lord Malmesbury erwiderte dem edlen Earl, Lord Brougham—dieses „närrische alte Weib", wie er von William Cobbett betitelt wurde-offenbarte, daß der Kampf, den man ausfechten wolle, kein „leichter" sei. Earl Grey, der es in seinem christlichen Gemüt fertiggebracht hat, die britischen Kolonien zum elendsten Aufenthalt der Welt zu machen, erinnerte das britische Volk daran, daß der Ton und die Stimmung, in denen man von dem Krieg spreche, und das Gefühl der Feindseligkeit gegen den Zaren und seine Kosaken nicht dem Geist entsprächen, mit dem eine christliche Nation einen Krieg beginnen solle. Der Earl of Hardwicke war der Meinung, daß die Mittel, über die England verfüge, zu schwach seien für den Kampf mit der russischen Flotte. Englands Kriegsmacht in der Ostsee dürfe nicht weniger als zwanzig wohlbewaffnete und wohlbemannte Linienschiffe mit einer wohldisziplinierten Mannschaft betragen; man dürfe nicht, wie es geschehen sei, mit einem Haufen neuangeworbener Leute beginnen; denn solcher Mob auf einem Linienschiff während eines Gefechts sei der schlimmste aller Mobs. Der Marquis of Lansdowne verteidigte die Regierung und sprach die Hoffnung aus, daß der Krieg kurz und erfolgreich verlaufen werde, denn (und dies ist bezeichnend für das Begriffsvermögen des edlen Lords) „es sei kein dynastischer Krieg, welcher gewöhnlich die schwersten Folgen nach sich ziehe und am schwierigsten zu beenden sei". Nach dieser angenehmen conversazione1, bei der jedermann sein Sprüchlein hergesagt hatte, wurde der Adresse nemine contradicente2 zugestimmt. Alles, was man an Neuem aus dieser conversazione erfuhr, beschränkt sich auf einige offizielle Erklärungen Lord Ciarendons und auf die Geschichte des geheimen Memorandums von 1844. Lord Clarendon erklärte, daß „gegenwärtig das Übereinkommen mit Frank" reich einzig und allein in einem Austausch von Noten bestehe, die Vereinbarungen über militärische Operationen enthielten". Folglich existiert in diesem Augenblick ^ein Vertrag zwischen England und Frankreich. Von Österreich und Preußen bemerkte er, daß ersteres eine bewaffnete, letzteres eine einfache Neutralität bewahren werde, daß es aber „bei einem derartigen Krieg, wie er sich jetzt an den Grenzen der beiden Länder abspielen werde, beiden Mächten unmöglich sein werde, Neutralität zu bewahren". Schließlich erklärte er, daß der Friede, der den drohenden Krieg beenden sollte, nur dann ein glorreicher Friede sein werde, „wenn den christlichen Untertanen der Türkei gleiche Rechte und Freiheiten gesichert würden".
1 Abendunterhaltung - 2 widerspruchslos
Nun wissen wir jedoch bereits, daß der Scheich ul-Islam schon abgesetzt worden ist, weil er sich geweigert hat, durch einen Fetwa den Vertrag zu sanktionieren, der diese Gleichheit der Rechte verbürgt; daß die alttürkische Bevölkerung Konstantinopels aufs höchste erregt ist; und erfahren heute durch eine telegraphische Depesche, daß der Zar Preußen gegenüber seine Bereitwilligkeit erklärt hat, seine Truppen aus den Fürstentümern zurückzuziehen, wenn es den Westmächten gelänge, der Pforte einen solchen Vertrag aufzuzwingen. Alles, was er will, ist, die osmanische Herrschaft stürzen. Wenn die Westmächte dies an seiner Statt zu tun beabsichtigen, so ist er natürlich nicht der Narr, mit ihnen Krieg zu führen. Nun zur Geschichte des geheimen Memorandums, wie ich sie mir aus den Reden Derbys, Aberdeens, Malmesburys und Granvilles zusammentrage. Das Memorandum „sollte ein provisorisches, bedingtes und geheimes Übereinkommen zwischen Rußland, Österreich und England sein, um bezüglich der Türkei verschiedene Vereinbarungen zu treffen, an denen sich Frankreich, auch ohne seine Einwilligung gegeben zu haben, beteiligen müsse". Dieses Memorandum, so geschildert in den Worten Lord Malmesburys, war das Resultat geheimer Besprechungen zwischen dem Zaren, dem Earl of Aberdeen, dem Herzog von Wellington und Sir Robert Peel. Gerade auf den Rat Aberdeens hin wandte der Zar sich an den Herzog und an Sir Robert Peel. Es bleibt Gegenstand des Streites zwischen Lord Aberdeen und seinen Gegnern, ob das Memorandum bei der Rückkehr des Zaren nach St.Petersburg nach seinem Besuch in England im Jahre 1844 von Graf Nesselrode aufgesetzt wurde, oder ob es die englischen Minister selbst als Protokoll über die Mitteilungen des Kaisers abfaßten. Die Beziehung des Earls of Aberdeen zu diesem Dokument unterschied sich von der gewöhnlichen Beziehung eines Ministers zu einem offiziellen Dokument, wie dies nach der Behauptung Malmesburys durch ein anderes Schriftstück, das dem Hause nicht vorgelegt wurde, bewiesen wird. Das Dokument wurde als äußerst wichtig betrachtet und als ein Dokument, das den anderen Mächten nicht mitgeteilt werden durfte, obgleich Aberdeen versicherte, er habe Frankreich den „wesentlichen Inhalt" mitgeteilt. Auf alle Fälle wußte der Zar nichts davon, daß eine solche Mitteilung erfolgt sei. Das Dokument wurde vom Herzog von Wellington und von Sir Robert Peel sanktioniert und gebilligt. Dem Kabinett Peel, dessen Mitglied damals Lord Derby war, wurde es jedoch weder bekanntgegeben noch zur Begutachtung vorgelegt. Es wurde nicht mit den gewöhnlichen Schriftstücken des Ministeriums des Auswärtigen aufbewahrt, sondern jedem nachfolgenden Minister
des Auswärtigen zur geheimen Aufbewahrung übergeben, und im Ministerium des Auswärtigen befand sich keine wie immer geartete Kopie davon. Obgleich nun Lord Derby 1844 selbst ein Mitglied des Kabinetts Peel war, erfuhr er bei seinem Amtsantritt nichts von dem Dokument. Als Earl of Aberdeen aus dem Amte schied, übergab er es in einer Kassette an Lord Palmerston, der die Büchse der Pandora seinem Nachfolger Earl Granville übergab, der sie wieder, wie er selbst berichtet, auf Verlangen Baron Brunnows, des russischen Gesandten, an Earl of Malmesbury bei seinem Eintritt ins Ministerium des Auswärtigen aushändigte. Doch scheint in der Zwischenzeit eine Änderung oder, richtiger gesagt, eine Fälschung in der Originalüberschrift des Dokuments vorgenommen worden zu sein, denn Earl of Granville sandte es an Earl of Malmesbury mit der Bemerkung, es sei ein Memorandum, das Baron Brunnow als das Ergebnis der Konferenzen zwischen dem Kaiser von Rußland, Sir Robert Peel und Lord Aberdeen abgefaßt habe, wobei der Name des Herzogs von Wellington überhaupt nicht erwähnt wurde. Es kann kein anderes Motiv für diese falsche Bezeichnung angenommen werden als das eifrige Bestreben, die Wichtigkeit des Memorandums zu verschleiern, indem man es als bloße Aufzeichnung des Gesandten darstellte und nicht als offizielles Dokument der Hofkanzlei in St. Petersburg. Rußland maß diesem Dokument solche Wichtigkeit bei, daß Baron Brunnow 48 Stunden nach Lord Malmesburys Amtsantritt erschien und ihn fragte, ob er es schon gelesen habe,1 aber Malmesbury hatte es damals noch nicht gelesen, denn es wurde ihm erst einige Tage später übergeben. Baron Brunnow wies ihn nachdrücklich darauf hin, daß es notwendig sei, dieses Dokument zu lesen, das, wie er behauptete, den Schlüssel zu allen Verhandlungen mit Rußland bilde. Von diesem Augenblick an jedoch erwähnte er den Derbyiten gegenüber das Dokument nicht mehr, da er offenbar die ToryRegierung für zu machtlos oder zu vergänglich hielt, die russische Politik auszuführen. Im Dezember 1852 dankte die Regierung Derby ab, und kurz nachdem die Nachricht von der Bildung des Koalitionsministeriums St.Petersburg erreicht hatte, am 11. Januar, schnitt der Zar die Frage von neuem an - ein genügender Beweis dafür, daß er dem Kabinett aller Talentet9] zutraute, auf der Basis dieses Memorandums zu wirken. Hier also haben wir die kompromittierendsten Enthüllungen, gemacht im Oberhaus von den unw iderleeb arsten Zeugen, deren jeder einzelne Premier oder Minister des Auswärtigen von Großbritannien gewesen ist. Ein „eventuelles Abkommen" - wie es im Memorandum heißt - wird von einem englischen Minister des Auswärtigen insgeheim mit Rußland getroffen, und zwar nicht nur ohne die Einwilligung des Parlaments, sondern hinter dem
Rücken seiner eigenen Kollegen, von denen nur zwei in das Geheimnis eingeweiht worden sind. Das Dokument wird dem Ministerium des Auswärtigen zehn Jahre lang vorenthalten und von jedem Minister des Auswärtigen der Reihe nach in geheimer Obhut bewahrt. Sooft ein Ministerium vom Schauplatz abtritt, erscheint der russische Gesandte in DowningStreet[22] und bedeutet dem Neuankömmling, daß er sich den Vertrag, den Geheimvertrag, genau anzusehen habe, den nicht die gesetzliche Vertretung der Nation, sondern irgendein Kabinettsminister mit dem Zaren abgeschlossen hat, und daß er sich genau so zu verhalten habe, wie ihm ein russisches Memorandum vorschreibt, das in der Hofkanzlei von St. Petersburg abgefaßt wurde. Wenn das nicht offener Verfassungsbruch, Verschwörung und Hochverrat ist und ein geheimes Einverständnis mit Rußland bedeutet, dann wissen wir nicht, was man unter solchen Ausdrücken verstehen soll. Gleichzeitig erfahren wir aus diesen Enthüllungen, warum die Schuldigen, die sich vollkommen sicher fühlen, am Staatsruder bleiben dürfen, und zumal zur Zeit eines offensichtlichen Krieges mit Rußland, mit dem sie doch fortwährend konspiriert haben, wie ihnen nachgewiesen wurde; und warum die parlamentarische Opposition ein bloßer Schwindel ist, nur in Szene gesetzt, um die Schuldigen zu beunruhigen, nicht aber, um sie anzuklagen. Alle Minister des Auswärtigen und folglich auch alle aufeinanderfolgenden Regierungen seit 1844 sind Mitschuldige; jeder wurde es von dem Augenblick an, wo er verabsäumte, seinen Vorgänger anzuklagen, und schweigend die geheimnisvolle Kassette übernahm. Schon durch das Streben nach Verheimlichung wurde jeder von ihnen zum Schuldigen. Jeder von ihnen wurde zum Beteiligten an der Verschwörung, indem er sie vor dem Parlament verheimlichte. Das Gesetz sieht in dem Hehler des gestohlenen Guts ebenso einen Verbrecher wie in dem Dieb selbst. Jedes gerichtliche Verfahren würde nicht nur die Koalition, sondern auch ihre Nebenbuhler, und nicht nur diese Minister, sondern auch die parlamentarischen Parteien, die sie vertreten, und nicht nur diese Parteien, sondern auch die herrschenden Klassen Englands zu Fall bringen. En passant will ich bemerken, daß die einzige erwähnenswerte Rede im Oberhaus vom Earl of Derby gehalten wurde. Jedoch enthält seine Kritik des Memorandums und der geheimen Korrespondenz - und von der Debatte im Unterhaus kann ich dasselbe sagen - nichts, was ich nicht schon in der ausführlichen Darlegung gesagt hätte, die ich Ihnen von diesem verhängnisvollen Memorandum und dieser außergewöhnlichen Korrespondenz gab. „Das Recht, einen Krieg zu erklären, ist das Vorrecht der Krone; und wenn Ihre Majestät ihr Parlament beruft und ihm mitteilt, daß sie es für notwendig befunden
habe, sich in einen Krieg einzulassen, so ist dies kein Anlaß für das Unterhaus, sich darüber zu äußern, ob der Krieg eine Klugheit oder eine Unklugheit sei. Unter solchen Umständen ist es seine Pflicht, sich um den Thron zu scharen und bei einer passenden späteren, verfassungsmäßigen Gelegenheit die Politik zu diskutieren, die zum Kriege geführt haben mag."
So sprach Herr Disraeli in der Sitzung des Unterhauses, und so sprachen alle Mitglieder des Unterhauses, und dennoch füllte die „Times" siebzehn Spalten mit Erklärungen zu jener Politik. Warum dies? Gerade deshalb, weil dies nicht die „Gelegenheit" war und ihr Geschwätz resultatlos bleiben würde. Man muß jedoch Herrn Layard ausnehmen, der rundheraus erklärte:
„Wenn das Haus nach dem, was er ihm sagen würde, der Meinung sein sollte, daß das Verhalten der Minister Anlaß zu einer parlamentarischen Interpellation gäbe, so würde er vor der ihm dadurch auferlegten Pflicht nicht zurückschrecken und bereit sein, die Minister zu ersuchen, bald einen Tag zu bestimmen, an dem die Sache vorgebracht werden könnte."
Man wird nun verstehen, weshalb die „Times" an der Richtigkeit der assyrischen Entdeckungen des Herrn Layard zu zweifeln beginnt.[109] Lord J. Russell, der die Adresse im Unterhaus einbrachte, unterschied sich von Lord Clarendon nur durch die Betonung der Worte Integrität, Freiheit, Unabhängigkeit, Zivilisation, was ihm den Beifall seines mehr gemeinen Publikums eintrug. Herr Layard, der sich erhob, um ihm zu entgegnen, beging zwei grobe Schnitzer, die seine sonst bemerkenswerte Rede entstellten. Erstens suchte er die Existenz von gegensätzlichen Elementen im Koalitionsministerium nachzuweisen - das russische und das englische Element, die Fraktion Aberdeen und die Fraktion Palmerston, während sich doch diese beiden Fraktionen durch nichts weiter unterscheiden als durch ihre Sprache und die Art ihrer Unterwürfigkeit gegen Rußland. Der eine ist ein Parteigänger Rußlands, weil er es nicht versteht, und der andere, obgleich er es versteht. Der erstere ist daher ein offener Parteigänger und der letztere ein geheimer Agent. Der erstere dient ihm umsonst, und der letztere wird dafür bezahlt. Der erstere ist weniger gefährlich, da er im offenen Gegensatz zu den Gefühlen des englischen Volkes steht; der letztere ist verhängnisvoll, weil er sich als die Verkörperung der nationalen Erbitterung gegen Rußland ausgibt. Wir dürfen bei Herrn Layard annehmen, daß er den Mann nicht kennt, den er in Gegensatz zu Aberdeen bringt. Für Herrn Disraeli, der denselben Gegensatz konstruierte, gibt es keine Entschuldigung. Kein Mensch kennt Lord Palmerston besser als dieser Führer der Opposition, der schon 1844 erklärte, daß keine
auswärtige Politik eines Ministers Je so verhängnisvoll für die britischen Interessen gewesen sei wie die des edlen Lords. Der zweite Schnitzer, den Herr Layard beging, war die Behauptung, daß die „Times" das direkte Organ der Partei Aberdeens sei, denn die geheime und vertrauliche Korrespondenz lieferte schon zwei bis drei Tage nach ihrem Eintreffen das Material zu den Leitartikeln dieser Zeitung. Mit diesen Artikeln werde versucht, das Land dazu zu bewegen, der schändlichen Übereinkunft, die man in St.Petersburg anstrebe, zuzustimmen, wie dies besonders in den Artikeln vom Februar und März letzten Jahres der Fall gewesen sei. Layard hätte besser daran getan, gleich Lord Palmerston zu folgern, daß jenes Material durch die russische Gesandtschaft in London geliefert worden sei; das hätte ihm ermöglicht, sowohl die „Times" als auch das Ministerium des Auswärtigen zu bezichtigen, Organe des St.Petersburger Kabinetts zu sein. Da ich der Meinung bin, daß die „Times" tatsächlich eine größere Macht darstellt als die Koalition, nicht wegen ihrer Anschauungen, sondern wegen der Tatsachen, die den verräterischen Charakter dieser geheimen Korrespondenz enthüllen, so füge ich die gesamte Erklärung des Herrn Layard gegen dieses Blatt hinzu:
„Die erste dieser geheimen Depeschen traf am 23. Januar 1853 in England ein, und am 26. des gleichen Monats erschien in der »Times' der erste von jenen Artikeln, auf die er Bezug genommen habe. Die nächste Depesche traf am 6. Februar 1853 ein, und am 11. des gleichen Monats, vier Tage später, erschien in der ,Times' ein außerordentlicher Artikel, aus dem er jetzt zitieren werde. In einem Teil des Artikels wird erklärt: ,Wir glauben nicht, daß es das Ziel der Politik Rußlands ist, eine Katastrophe im Orient zu beschleunigen; abermals wird man die guten Dienste dieses Landes in Anspruch nehmen, um die Gefahren einer Situation zu verringern, die kritisch zu werden beginnt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß der Versuch, die brutale und gebrechliche Macht der Türken in Europa zu verlängern, durch die Auslieferung fruchtbarer Provinzen und einer großen christlichen Bevölkerung an eine barbarische Mißregierung erkauft wird, und wir werden uns freuen, wenn Zivilisation und Christentum imstande sind, das durch die ottomanische Eroberung widerfahrene Unrecht zu beseitigen.' Die »Times* erklärte am 23. Februar 1853 erneut nach verschiedenen Bemerkungen über den erschöpften Zustand der Türkei: »Äußerste politische Hinfälligkeit, das Fehlen jeglicher Fähigkeit und Redlichkeit bei jenen Männern, von denen die Pforte noch regiert wird, Verminderung der muselmanischen Bevölkerung und einen erschöpften Staatsschatz vereint die Pforte wie in einem höhnischen Kontrast hierzu mit der Herrschaft über einige der fruchtbarsten Gebiete, die besten Häfen und das kühnste und talentvollste Volk Südeuropas ... Es ist schwer zu begreifen, wie ein so unzweifelhaft großes Übel so lange von Politikern
als verhältnismäßig gut hat verteidigt werden können; und obwohl wir uns der Schwierigkeiten bewußt sind, die jede Veränderung auf dem Territorium eines so riesigen Reiches begleiten, neigen wir dazu, dem Herannahen einer Zeit eher mit Befriedigung als mit Beunruhigung entgegenzusehen* - woher wußte die .Times', daß diese Zeit herannahte? - ,wo es unmöglich sein wird, die Herrschaft einer solchen Regierung, wie der der Pforte, über ein solches Land zu verlängern wie das, welches jetzt ihrer Gewalt unterworfen ist. Vielleicht ist jene Zeit weniger weit entfernt, als man gemeinhin annimmt, und es mag die Angelegenheit weiser Staatsmänner sein, Vorbereitungen für den Fall eines solchen Ausganges zu treffen, den weiterhin auf unbestimmte Zeit zu verschieben außerhalb ihrer Macht liegt. Wir glauben nicht, und wir beabsichtigen nicht, zu unterstellen, daß gegenwärtig irgendwelche Pläne Österreichs und Rußlands existieren oder vielleicht ohne Wissen der anderen europäischen Mächte ausgearbeitet werden, die den territorialen Ansprüchen des Ottomanischen Reiches feindlich gegenüberstehen. Wir haben genügend Grund zur Annahme' wenn die .Times' das sagt, wissen wir, was das bedeutet -, ,daß Fürst Menschikow als außerordentlicher Gesandter aus St. Petersburg nach Konstantinopel zu dem ausdrücklichen Zweck entsandt worden ist, im Namen von Kaiser Nikolaus zu erklären, daß dieser als Oberhaupt der orthodoxen Kirche weder sich selbst mit den Bedingungen des jüngst durch den französischen Gesandten erhaltenen Fermans bezüglich der Heiligen Stätten im Heiligen Lande einverstanden erklären könne, noch den orientalischen Kirchen erlauben könne, dies zu tun.' Nun, die erste Mitteilung von der Mission Fürst Menschikows war in den am 14. und am 2I.Februar eingegangenen Depeschen Sir H.Seymours enthalten. Es sei wichtig zu erwähnen, daß am 6. März 1853 die Depesche eintraf, die den vollständigen Plan des Kaisers von Rußland zur Aufteilung der Türkei wiedergab. Die Antwort darauf wurde, wie bereits gesagt, erst am 23. März abgesandt, und bis zum 13. März fand keine Beratung des Kabinetts statt, obgleich einige Mitglieder der Regierung sieben Tage zuvor den Vorschlag des Kaisers erhalten hatten. Ihren Kollegen wurde dieser Vorschlag erst am 13. März vorgelegt; zuvor aber war er der .Times' mitgeteilt worden, denn am 7. März, am Morgen nach dem Empfang der Depesche, die zu dieser Zeit nicht mehr als zwei oder drei Mitgliedern des Kabinetts bekannt gewesen sein konnte und auch von keinem einzigen Beamten des Ministerium des Auswärtigen gesehen worden sein konnte, erschien ein ausführlicher Artikel in der .Times'" („Hört, hört!") „worin es unter anderem hieß: .Der Zustand des Türkischen Reiches und die Beziehungen der europäischen Mächte zum Orient sind Gegenstände, worüber sich eine Meinung zu bilden und sie auszudrücken für Politiker und die unabhängige Presse nützlich sein könnte, obgleich die Verwirklichung der Pläne, worauf diese Meinungen abzielen, noch unzeitig und fern ist. Staatsmänner, die gezwungen sind, die Tagesgeschäfte zu erledigen und in jedem Fall die Verpflichtungen der sogenannten Staatsnotwendigkeit zu erkennen, sind auf engere Bereiche beschränkt und wären wahrscheinlich nicht imstande, irgendeiner neuen oder originellen Idee zur Geltung zu verhelfen, wenn diese nicht vorher Gegenstand der Aufmerksamkeit und derÜberlegungen deröff entlichkeit gewesen wäre.'
Er ersuche den edlen Lord, auf die nun folgenden Worte zu achten, da sie sich auf die von ihm erhobenen Einwände bezögen. ,Wir wären daher keineswegs überrascht, wenn Lord John Russell in Anspielung auf die Differenzen, die neuerlich in der Türkei und besonders an ihren europäischen Grenzen entstanden sind, seine Ablehnung gegenüber den Ansichten ausgedrückt hätte, die in jüngster Zeit über diesen Gegenstand vorgebracht worden sind, und seinerseits im Parlament mit dem ganzen Gewicht offizieller Verantwortlichkeit die alte Geschichte von der Integrität und Unabhängigkeit des Ottomanischen Reiches wiederholt hätte. Wir jedoch sind nicht von ähnlichen Erwägungen beeinflußt.' Woher wußte der Schreiber, daß der edle Lord ablehnte?" („Hört!") „Der Artikel fährt fort: ,Wir stimmen daher nicht mit der Meinung Lord J. Russells überein, daß gegenwärtig kein größeres Unglück in Europa eintreten könne als die Notwendigkeit, zu überlegen, was getan werden müsse in solch einem Fall wie der Zerstückelung jenes Reiches/ Möge das Haus die folgenden Worte beachten, die fast identisch sind mit denen des Kaisers von Rußland: ,Wir glauben, es wäre ein weit größeres Unglück, wenn die Zerstückelung begänne, bevor irgendwelche Überlegungen dieser Art angestellt worden sind.'" („Hört, hört!") „Das waren die gleichen Worte. Der Schreiber fährt fort: ,Und hier sei uns gestattet, unser Erstaunen darüber auszudrücken, daß ein Staatsmann für einen Augenblick die Politik, die im Falle einer Auflösung des Türkischen Reiches richtigerweise zu verfolgen wäre, verwechseln könnte mit jener, die zur Teilung Polens führte. Kein Zweifel, das Argument der Staatsnotwendigkeit bleibt noch zur Unterstützung der Integrität und Unabhängigkeit des Türkischen Reiches; aber dieses Argument steht allein einer Menge von Ubelständen gegenüber, und in Wirklichkeit bedeutet es nichts anderes als die Furcht, sich mit einer folgenschweren und unsicheren Frage zu beschäftigen. Die Vorurteile gegenüber diesem Gegenstand, die besonders in vergangenen Jahren genährt wurden, sitzen wahrhaftig so fest, daß ein Versuch, diese Frage ihrer eigentlichen Bedeutung nach zu erörtern, in gewissen Kreisen als ein Akt politischer Verderbtheit angesehen wird und als eine Verletzung aller Gesetze, durch die die Nationen miteinander verbunden werden.' Der nächste Artikel erschien am 10. März. Das Haus könnte vielleicht der Meinung sein, er habe bisher noch nicht bewiesen, daß der Schreiber in der .Times' die gleichen Worte verwandte, die in den Depeschen gebraucht wurden; der Artikel aber, den er jetzt zitiere, werde alle Zweifel hierüber beseitigen. Am 10. März erschien ein Artikel in der .Times', der mit folgenden Worten begann: »Fürst Menschikow kommt mit genauerem diplomatischem Auftrag, und wir haben Grund zur Annahme, daß seine Instruktionen einen versöhnlicheren Charakter tragen als die des Grafen Leiningen.' Eine Ähnlichkeit des Ausdrucks läßt sich in Sir H. Seymours Depesche vom 2I.Februar feststellen: .Seine Exzellenz (Graf Nesselrode) wünschte mir zu versichern, daß die Instruktionen, mit denen Fürst Menschikow versehen sei, eine versöhnliche Natur trügen.'
14 Marx/Engels, Werke, Band 10
Der Artikel fährt fort: ,Wir wagen es auszusprechen, daß sich bei modernen Staatsmännern eine Dürftigkeit der Mittel zeigt, wenn sie sich mit einer Frage zu beschäftigen haben, welche die Zivilisation großer Provinzen beinhaltet, die Wiederherstellung des Christentums selbst zu jener Vorherrschaft, deren es sich einst in allen Teilen Europas erfreute, und das fortschreitende Wohlergehen von Millionen Menschen. Der einzige Ausweg, zu dem sie sich verstehen können, ist, einen Türkenkopf mit einem Turban zu zieren und ihn so zu behandeln, als wäre er noch ein Symbol von Stärke und Macht.' Am 19. März fand eine Beratung des Kabinetts statt, auf der die am 6. dieses Monats eingegangene Depesche erörtert wurde, und am 23. März wurde eine Antwort abgesandt, die folgende Stelle enthielt: »Wiewohl die Regierung Ihrer Majestät sich gemüßigt fühlt, an den Grundsätzen und der Politik festzuhalten, die in Lord John Russells Depesche vom 9. Februar aufgestellt sind, so willfährt sie doch gerne dem Wunsche des Kaisers, daß der Gegenstand noch weiter und freimütig diskutiert werde.' Am gleichen Tage erschien ein Artikel in der .Times', worin man einige der in Lord Ciarendons Depesche gebrauchten Sätze finden konnte. Der Artikel begann wie folgt: .Unsere Meinung über die gegenwärtige Lage und die künftigen Aussichten des Ottomanischen Reiches stimmt nicht mit dem Standpunkt überein, den Lord J. Russell vertritt und den er dem Unterhaus mitgeteilt hat. Sie weicht erheblich von der Politik ab, die dieses Land zu früheren Zeiten und bei verschiedenen Gelegenheiten verfolgt hat; und sie weicht völlig von dem System ab, das ein zahlenmäßig starker Teil der Londoner Presse weder sehr brillant noch erfolgreich zu verteidigen sucht.' Ehre der britischen Presse, die, obgleich es ihr an der brillanten scharfen Feder fehlte, die einen Kolonialminister erschüttert und beinahe ein Kabinett gestürzt hatte, nicht die Ansichten der .Times' unterstützte. Die .Times' fügte fernerhin gegen Ende ihres Artikels hinzu: ,Er' (der Kaiser) ,hat gesagt, es sei Gegenstand seines Bestrebens, sich mit diesem Lande gut zu stehen und sein Vertrauen zu verdienen. Sein Vorgehen in dieser Frage wird zeigen, ob seine Versicherung aufrichtig gemeint ist, und er kann uns keinen größeren Beweis von Mäßigung und Wohlwollen gegenüber der Türkei und dem übrigen Europa geben als die Bereitschaft, auch weiterhin in diesen Fragen mit der britischen Regierung zusammenzuarbeiten.' Am gleichen Tage, an dem die .Times' bekanntgab, daß ihre Bemühungen, die britische Öffentlichkeit für die Teilung der Türkei zu gewinnen, fehlgeschlagen waren, wurde die Antwort auf die Depesche, die 16 Tage verzögert worden war, nach St. Petersburg gesandt." („Hört, hört!") „Er brauche das Haus nicht mit weiteren Auszügen aus der »Times' zu behelligen." Herr Bright unterstützte Herrn Cobden, um Lord Palmerston neuerlich Gelegenheit zu geben, sich durch eine Schimpfrede gegen Rußland und eine heuchlerisch-energische Verteidigung der Kriegspolitik populär zu machen. Unter anderem erklärte Palmerston:
„Nun, ich glaube, jenen, welche die europäischen Angelegenheiten seit beträchtlicher Zeit aufmerksam verfolgen, ist bekannt, daß die Ansichten Rußlands über die Türkei nicht von gestern oder schon gar nicht aus der jüngsten Zeit datieren." („Hört!") „Es ist bekannt, daß Rußland schon seit langem beständig und unablässig die Politik verfolgt, zumindest von dem europäischen Teil der Türkei Besitz zu ergreifen und danach von der asiatischen Türkei. Diese Politik ist mit unbeirrbarer und systematischer Beharrlichkeit verfolgt worden. Es hat sie immer im Auge behalten. Wenn die Umstände günstig waren, wurde ein Schritt vorwärts getan, und zeigten sich Hindernisse, dann wurde dieser Schritt zurückgenommen, doch nur, um aus der nächsten sich bietenden Gelegenheit Vorteil zu ziehen." („Hört, hört!") „Verzögerung ist nie ein Mittel gewesen, Rußland zu besänftigen oder zu veranlassen, seine Pläne aufzugeben. Seine Politik hat darin bestanden, sein Ziel im Auge zu behalten - sich nicht zu übereilen, den Gegenstand seines Strebens nicht durch voreiliges Zugreifen zu verlieren, sondern den Kurs der anderen Regierungen Europas zu beobachten und jede nur mögliche Gelegenheit auszunutzen, die ihm auch nur das geringste Vorrücken auf das endgültige Ziel seines Strebens ermöglicht."
Vergleicht man nun diese Erklärung Lord Palmerstons mit jenen aus den Jahren 1829,1830,1831,1833,1836,1840,1841,1842,1843,1846,1848 und 1849, so zeigt sich, daß das obenstehende weniger eine Antwort auf Herrn Bright als auf seine eigene frühere Politik bildet.11101 Aber während dieser hinterlistige Feind durch solche Angriffe auf Rußland die Sympathien der Öffentlichkeit zu gewinnen sucht, sichert er sich auf der anderen Seite die Gunst des Zaren durch folgende Bemerkung: „Tadle ich etwa die russische Regierung dafür, daß sie eine solche Politik betreibt? Eine Politik der Expansion, mit rechtmäßigen Mitteln verfolgt, ist eine Politik, die man als gefährlich für sich selbst ablehnen mag, der man sich als unheilbringend für die Unabhängigkeit und Freiheit anderer Staaten widersetzen mag, die aber durchaus kein Anlaß zur Verurteilung der Regierung ist, welche sie verfolgt, wenn sie diese Politik nur mit offenen, aufrichtigen und allgemein anerkannten Mitteln verfolgt, ohne Geheimhaltung, ohne Vorwand und ohne Betrug. Der Weg jedoch, ich bedaure, das feststellen zu müssen, den die russische Regierung im Verlauf der jüngsten Ereignisse eingeschlagen hat, war nicht der offene und gerade Weg, welcher ihre offen zugegebene und kühn verkündete Politik rechtfertigen könnte." Doch der einzige Vorwurf, welcher der russischen Regierung gemacht werden müsse, sei, wie es Herr Disraeli ausdrückte, der der verhängnisvollen Freimütigkeit. Wenn also Palmerston das tadelt, was Rußland nicht tat, rechtfertigt er vollkommen das, was es wirklich getan hat. Herrn Disraelis Kritik der geheimen Dokumente war wie immer geschickt, verfehlte jedoch ihre Wirkung wegen seiner Erklärung, Kritik sei jetzt nicht am Platze, und seine einzige Absicht, wenn er sich an das Haus
wende, sei, die Adresse zu unterstützen. Es ist bedauerlich zu sehen, wie ein so talentvoller Mann einem Palmerston nicht nur im Parlament, sondern auch in seinem angesehenen Organ „The Press" aus niedriger Ämter- und Parteipolitik schmeichelt. In der gestrigen Sitzung des Hauses meldete Sir J. Graham, er habe Nachricht erhalten, daß die Flotte ins Schwarze Meer eingefahren sei und sich in der Nähe von Varna befinde. Im Oberhaus teilte Lord Aberdeen mit, daß er am Dienstag, dem 11., die Vertagung des Hauses auf Donnerstag, den 27. d.M., beantragen werde.
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Rußland und die deutschen Mächte Die Kornpreise]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4059 vom 21. April 1854] London, Freitag, 7. April 1854. Im Oberhaus erklärte gestern abend Lord Clarendon, ^er habe Ursache anzunehmen44, daß die Nachricht von der Landung von 4000 Russen in der Dobrudscha durch Transportschiffe aus Odessa unrichtig sei. Es sei ihm unbekannt, daß die russische Flotte Sewastopol verlassen habe, welches fast ständig von englischen und französischen Dampfern beobachtet worden sei. Über die angebliche Untätigkeit der Flotten müsse er sagen, daß es zu einer Belagerung von Sewastopol und Odessa des gesamten vereinigten Geschwaders bedurft hätte, was während der schlechten Jahreszeit ein gefährliches Unternehmen gewesen wäre. Er glaube daher, daß es klug gewesen sei, sie in Beikos zurückzuheilten. Der Wiener Korrespondent der „Times44 schließt sich dieser Ansicht Lord Ciarendons an und legt außerdem die wahren Gründe seiner Politik dar. Die Furcht vor Aufständen in Konstantinopel sei nie gerechtfertigter gewesen, als seit dem Zeitpunkt, da die Verhandlungen wegen der „Emanzipation der Christen44 bekannt geworden seien, und es wäre höchst „unklug44 gewesen, die Flotten vom Bosporus zu entfernen, ehe eine ausreichende Landstreitmacht angelangt war, d.h. ausreichend stark, um die Türken niederzuhalten. Lord John Russell erklärte im Unterhaus, die Verantwortung für die griechischen Aufstände trage der Hof von Athen, der sie zuerst im geheimen und dann offen begünstigt habe. Die Debatten dieser Woche bieten nichts von Interesse, mit Ausnahme der Debatte über den Antrag des Herrn Moore, einen Sonderausschuß zu bilden, der sich mit der Ernennung H.Stonors zum Richter in der Kolonie Victoria beschäftigen sollte; besagter Stonor hat sich, wie ein Komitee des Hauses feststellte, während der Wahlen in dem Wahlflecken Sligo 1853 der Bestechung schuldig gemacht. Die Einsetzung des Sonderausschusses
wurde bewilligt. Die gerichtliche Verfolgung gegen Herrn Stonor ist jedoch nur ein Vorwand, um auf neuer Grundlage den Kampf der beiden Teile der gespaltenen Irischen Brigade[1111 wieder anzufachen. In welchem Maße die scheinheilige Clique des Herrn Gladstone und seiner Peeliten-Anhänger in diese irischen Skandale verwickelt und durch sie kompromittiert ist, kann man nach der folgenden Bemerkung der „Morning Post" beurteilen: „In den vorgelegten Briefen, dem verbreiteten Klatsch und den innerhalb der allerletzten Wochen an die Parlamentskomitees gegebenen Dokumenten ist vieles geeignet, den Verdacht zu stärken, daß die Fraktion der Peeliten in der Koalition seit einiger Zeit systematisch Agenten benutzt, um Einfluß auf die irischen Wahlen zu nehmen, und daß sie diese Agenten für diesen Zweck reichlich mit Geld versehen hat. Besonders kompromittiert ist der Herzog von Newcastle... Es gilt als sicher, daß - offenbar in seinem Auftrage - eine Beratung stattgefunden hat über die Personen, denen für die Leitung der Wahlgeschäfte der Vorzug zu geben ist." Die heutige „Daily News" veröffentlicht den Vertrag zwischen Frankreich, England und der Türkei, der jedoch nur Vereinbarungen über die militärischen Aktionen enthält. Die Westmächte hüten sich wohl, die wahren Bedingungen ihrer „Hilfe für den Sultan" in einem Vertrag zu formulieren. Diese Bedingungen werden von Lord Stratford de Redcliffe und seinem Vorrat an Drohungen in loco1 aufgezwungen und dann als ein freiwilliger Akt der türkischen Regierung dargestellt. Die Friedensmission des Fürsten von Mecklenburg in Berlin bezweckte nichts anderes, als dem König von Preußen einen neuen Vorwand zu liefern, sich von der westlichen Allianz fernzuhalten. Man teilt mir aus Berlin mit, Rußland wolle nur dann die schwedische Neutralitätserklärung anerkennen, wenn der König sich verpflichte, an die Kommandanten der schwedischen Häfen die alten Bestimmungen wieder zu erlassen, wonach nicht mehr als vier fremde Kriegsschiffe innerhalb der Schußweite der Geschütze eines Hafens Anker werfen dürften. Da dieser Erlaß sich wesentlich von den Neutralitätsbestimmungen entfernt, die zwischen Schweden und Dänemark vereinbart sind, so sind neue Verhandlungen zwischen den skandinavischen Mächten einerseits und den westlichen andrerseits zu erwarten. In Stockholm nimmt man allgemein an, daß die Russen die Besetzung Alands aufgeben und ihre Befestigungen auf dieser Insel schleifen sowie Geschütze und anderes Kriegsmaterial mit sich fortnehmen werden. Eine heute eingetroffene telegraphische Depesche meldet, daß dieser Schritt bereits getan sei. Das österreichische corps d'observation2 in den südöstlichen Teilen Ungarns steht jetzt in völliger Kriegsbereitschaft und hat die verschiedenen
1 an Ort und Stelle - 2 Beobachtungskorps
Stellungen bezogen, die ihm zugewiesen wurden. Die Konzentration erforderte zehn bis zwölf Tage. Die deutschen Zeitungen nehmen allgemein an, diese Armee sei dazu bestimmt, das türkische Heer in der Flanke zu packen, falls Österreich sich Rußland aktiv anschließt, und daß sich dabei keinerlei Schwierigkeiten ergeben würden. Aber die Österreicher können nur über Mehädia, wo sie die türkische Armee vor sich hätten, oder über Belgrad in die Türkei gelangen, wo sie sich in einer Linie mit dem verlängerten linken Flügel der Türken befänden. Es ist daher viel wahrscheinlicher, daß die Österreicher, wenn sie die Türkei in feindlicher Absicht betreten, von Belgrad über Kruschevac und Nisch nach Sofia marschieren werden; aber auch dann hätten die Türken einen kürzeren Weg nach Sofia, wenn sie von Widdin in direkter Linie nach Süden marschierten. Der Bericht der preußischen Kreditkommissxon der Zweiten Kammer enthält eine Darlegung der Politik Preußens in der orientalischen Frage und veröffentlicht einige diplomatische Dokumente, die ihren Weg noch nicht in die englische Presse gefunden haben. Ich will daher einige wichtige Auszüge aus diesem Bericht geben. Ende Januar, während Graf Orlow dem österreichischen Hof Vorschläge überbrachte, wurde gleichzeitig vom russischen Gesandten in Berlin der preußischen Regierung eine Proposition übergeben, welche dahin ging, zwischen den drei Höfen von Preußen, Österreich und Rußland ein gemeinsames Protokoll zu unterzeichnen. Die Einleitung des Entwurfs zu diesem Protokoll bezeichnete als Beweggrund dieses gemeinsamen Übereinkommens den Wunsch, die Allianz der drei Mächte angesichts der den Frieden Europas bedrohenden Gefahren enger zu schließen und die Beziehungen sowohl unter sich als auch den Westmächten gegenüber in den bevorstehenden Zeitumständen zu regeln. Dieser Entwurf enthielt folgende drei Punkte: 1. Die beiden deutschen Mächte verpflichten sich förmlich für den Fall einer aktiven Beteiligung Englands und Frankreichs am Russisch-Türkischen Kriege, die strengste Neutralität zu beobachten und im Fall erneuerten Drängens oder Drohens von Seiten der Westmächte zu erklären, daß sie entschlossen seien, ihre Neutralität nötigenfalls mit den Waffen zu verteidigen. 2. Die drei Mächte werden jeden Angriff Frankreichs oder Englands gegen das Gebiet Österreichs, Preußens oder eines anderen deutschen Staats wie einen Angriff auf ihr eigenes Gebiet betrachten und sich zur Abwehr gegenseitig nach Erfordernis der Umstände und einem gemeinsamen militärischen Übereinkommen entsprechend Beistand leisten (gegenwärtig vereinbart zu Berlin zwischen General Heß und dem preußischen Kriegsminister).
3. Der Kaiser von Rußland wiederholt die Versicherung, den Krieg beendigen zu wollen, sobald es seine Würde und das wohlverstandene Interesse seines Reiches gestatten würden. In Erwägung jedoch, daß die weitere Entwicklung der Ereignisse den Zustand der Dinge in der Türkei verändern könnte, verpflichtet sich Seine Majestät, bei Vereinbarungen mit den Seemächten in dieser Beziehung keinen Entschluß ohne vorherige Verständigung mit seinen deutschen Verbündeten zu fassen. Dieser Entwurf war von einer Depesche des Grafen Nesselrode begleitet, worin der Kanzler Preußen und Österreich an die Wichtigkeit der Tripleallianz erinnert, welche so lange der Schirm Europas gewesen sei. Angesichts des bevorstehenden Krieges halte sich sein kaiserlicher Gebieter für verpflichtet, an seine Freunde und Verbündeten einen ernsthaften Ruf ergehen zu lassen. Ihr gemeinsames Interesse mache es notwendig, die Stellung zu bezeichnen, welche sie in diesen bedeutenden Eventualitäten beobachten sollten. Indem er das einseitige Vorgehen der Westmächte unterstreicht, weist er auf ihre Nichtachtung der Interessen der deutschen Mächte hin. Rußland handle anders. Es sei bereit, die Last des Krieges allein zu tragen, und verlange von seinen Freunden und Verbündeten weder Opfer noch Hilfe. Das Heil beider Mächte und Deutschlands hänge von ihrer Einigkeit ab. Auf diesem Wege würde es ihnen gelingen, die Krise sich nicht weiterentwickeln zu lassen und sie vielleicht abzukürzen. Die russische Depesche betrachtet dann die drei möglichen Stellungen, die sich den deutschen Mächten bieten: Gemeinschaftliches Auftreten mit Rußland gegen die Seemächte; Allianz mit den letzteren gegen Rußland; endlich strenge Neutralität. Was eine Allianz mit Rußland betrifft, so mache der Zar keinen Anspruch darauf, und ein Auftreten gegen ihn sei unmöglich, wenn die deutschen Mächte nicht den Drohungen der Westmächte nachgäben. Es hieße dies, sich einer schimpflichen Notwendigkeit unterwerfen und einer bejammernswerten Zukunft entgegengehen. Rußland, in seinem Lande unangreifbar, fürchte weder militärische Invasionen noch die verderblicheren Invasionen des revolutionären Geistes. Wenn seine Alliierten es verließen, so würde es sich auf seine eigenen Kräfte beschränken und sich so einrichten, ihrer in Zukunft entbehren zu können. (Herr Nesselrode schreibt seine Noten deutsch, da ihm daran liegt, daß ihre Übersetzung in eine andere Sprache zu einer verzweifelt schwierigen Sache wird. Als Probe seiner deutschen Exerzitien gebe ich Ihnen den letzten Satz im originalen Wortlaut:
„Wenn seine Alliierten es verließen, so würde es sich gesagt sein lassen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, und sich so einrichten, ihrer in Zukunft entbehren zu können.")
Der Zar vertraue aber auf die bekannten Gesinnungen seiner Freunde und Verbündeten und auf ihre tapferen Armeen, welche mit denen Rußlands seit so langer Zeit durch die Bluttaufe und durch eine unleugbare Identität der Grundsätze verbunden seien. Nur die dritte Alternative hält das russische Kabinett der deutschen Höfe für würdig, als ihren Interessen entsprechend, sowie für geeignet, durch Fortsetzung ihrer Vermittlerrolle die besonderen Wünsche Rußlands zu verwirklichen. Doch dürfe diese Neutralität keine unbestimmte und schwebende, auch keine abwartende seinv denn eine solche Haltung würde von beiden kriegführenden Teilen, namentlich von Rußland, als feindlich angesehen werden. Diese Haltung müsse vielmehr auf den Prinzipien (der Heiligen Allianz) beruhen, die während vieler Proben die allgemeine Ruhe und den Weltfrieden erhalten hätten. Die deutschen Mächte müßten diese Grundlage ihrer Politik nötigenfalls durch die Waffen zur Geltung zu bringen wissen. Sollte eine der beiden Seemächte (Frankreich) einen Angriff auf Deutschland planen oder wagen, so würde die andere (England) sogleich ihre Stellung ändern. Eintretendenfalls sei Rußland bereit, Deutschland mit allen Kräften, über die es verfüge, zu Hilfe zu kommen. Dieser Vorschlag wurde in Berlin und einige Tage später auch in Wien abgelehnt. Manteuffel spielte damals noch den unabhängigen Staatsmann und erklärte in einer Depesche nach St. Petersburg, daß Rußland, welches vorgebe, Preußens Hilfe nicht zu brauchen, durch das Verlangen nach einer erneuerten Tripleallianz dennoch, obgleich in indirekter Form, sich darum bewerbe. „Den revolutionären Geist", möchte er bemerken, „den Rußland nicht zu fürchten habe, hätte auch Preußen ohne fremde Hilfe überwunden." Der unabhängige Minister, der Preußen „rettete", indem er sich an die Spitze der Konterrevolution stellte, kann seine Erbitterung darüber nicht verhehlen, daß Preußen, bei dem es kein Ungarn gab, auf eine Stufe mit Österreich gestellt wird. Indes Preußen sich so seiner Sicherheit rühmt, beweisen die anderen Dokumente, auf die in dem Bericht angespielt wird, daß in den letzten Tagen des Februar Österreich an Preußen den Entwurf einer Konvention übergab, die zwischen den vier Mächten abgeschlossen werden sollte. Preußen lehnte sie in einer Depesche vom 5. März ab. Doch ist es für diese Macht charakteristisch, daß sie gleichzeitig erklärte, die Regierung Friedrich Wilhelms IV. betrachte noch immer die Übereinstimmung der vier Mächte als das beste Mittel, um zu einer befriedigenden Lösung der Komplikation zu gelangen. Infolgedessen war auch Österreich genötigt, die Konvention fallenzulassen, die der zweideutigen Position der beiden deutschen Mächte ein Ende gesetzt hätte.
Eine preußische Depesche vom 16.März enthält folgende wichtige Stelle: „Das preußische Kabinett habe von den Maßregeln Kenntnis genommen, welche Österreich zur Wahrung seiner Interessen an der südöstlichen Grenze getroffen habe. Zwar werde Preußen gleich den übrigen deutschen Staaten seine besonderen Interessen zu wahren haben. Darin solle aber kein Hindernis der Verständigung mit Österreich liegen. Vielmehr sei Preußen zu einer solchen Verständigung bereit, soweit es sich um die Wahrung deutscher Interessen handle. Es erwarte daher Mitteilungen darüber: 1. Ob Österreich im Interesse der Ruhe seiner eigenen Grenzprovinzen erforderlichenfalls die anstoßenden türkischen Lande besetzen wolle? 2. Ob es letztere als Pfand bis zur Herstellung des Friedens in Besitz nehmen wolle? 3. Ob es sich aktiv am Krieg beteiligen wolle?" Es würde für Preußen ganz von der Antwort auf diese verschiedenen Fragen abhängen, um sich darüber schlüssig zu werden, was die Wahrung der deutschen Interessen erfordere, und ob es etwas tun könnte, um den Druck zu mildern, den die Westmächte (nicht Rußland!) auf Österreich ausübten. Am 14. März sandte die preußische Regierung an die deutschen Höfe eine Zirkularnote in dem einen und die österreichische Regierung eine solche im entgegengesetzten Sinne. Das preußische Zirkular erklärt, der bevorstehende Krieg werde rein lokalen Charakter haben. Österreich hingegen behauptet, daß der Kampf eine Wendung nehmen könne, die seine eigenen Beziehungen nahe berührte. Solange es die Verhältnisse gestatteten, werde es an dem Krieg nicht teilnehmen; es müsse aber auch den Fall einer Beteiligung ins Auge fassen. Die Interessen, um die es sich bei dieser Frage handle, seien auch diejenigen der deutschen Staaten. Daher rechne das Kaiserliche Kabinett darauf, daß in einem solchen Falle Preußen und die übrigen deutschen Höfe ihre Kräfte mit denen Österreichs vereinigen würden. Es würde alsdann der Deutsche Bund[59] berufen sein, zu beweisen, daß er über seine jetzige defensive Stellung hinaus auch eine aktive Rolle in dieser Frage auszufüllen wissen werde. Österreich werde eine weitere Erklärung abgeben, sobald der Krieg zwischen den Westmächten und Rußland tatsächlich erklärt sei. Gäbe es noch irgendein Mittel, der Zunahme jener Gefahren zu begegnen, die jetzt Europa bedrohten, so liege es in dem gemeinschaftlichen Auftreten Österreichs und Preußens in Verbindung mit ihren deutschen Bundesgenossen. Als letzte, doch nicht weniger bemerkenswerte Information enthält der Bericht die melancholische Antwort Herrn von Manteuffels auf eine Frage der Mitglieder der Kommission: Rußland habe der preußischen Regierung keine wie immer geartete Mitteilung von seinen Teilungsprojekten gemacht.
Schließlich erfahren wir aus diesem Dokument, daß die Gaukeleien der Wiener Konferenzen11121 noch immer kein Ende nehmen. Es konstatiert im Gegenteil, gestützt auf die Autorität des preußischen Ministerpräsidenten, daß man im Begriff sei, ein neues Protokoll aufzusetzen, welches das fortdauernde Einverständnis der vier Mächte festlegen werde. Die Preise auf dem Kornmarkt steigen wieder. Die Ursache ihres letzten Sinkens in Frankreich und England waren die Schwierigkeiten der Spekulanten, die aus Mangel an Kapital und bei einem angespannten Geldmarkt zu Zwangsverkäufen getrieben wurden, die die Märkte überfüllten. Eine weitere Ursache war die Tatsache, daß die Händler, Müller und Bäcker ihre Vorräte zu Ende gehen ließen, in dem Glauben, daß enorme Schiffsladungen nach den europäischen Häfen unterwegs wären. Ich bin daher nach wie vor der Meinung, daß die Preise noch weit davon entfernt sind, ihr Maximum erreicht zu haben. Zweifellos gab es in keinem der vergangenen Jahre solche falschen und trügerischen Spekulationen über die wahrscheinlichen und möglichen Vorräte des Kornmarktes wie in diesem Jahr, Illusionen, die in großem Maße durch das heuchlerische Geschwätz der Freihandelsblätter gefördert wurden. Karl Marx
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Die Lage der Armeen in der Türkei
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4065 vom 28. April 1854, Leitartikel] Als die ersten Nachrichten von der russischen Besetzung der Dobrudscha bekannt wurden, und noch lange bevor der eigentliche Sinn des Donauüberganges der Russen aus ihrem Vorgehen gedeutet werden konnte, erklärten wir, daß diese Operation nichts anderes bezwecken könne als die Festigung der russischen Defensivstellung. Daß dies tatsächlich der Fall war, beweisen alle ihre seitdem unternommenen Schritte und auch die ihrer Gegner. Die Russen entsandten 40000 bis 50000 Mann in die Dobrudscha, welche, wie zuverlässigen Nachrichten zu entnehmen ist, die Linie von Cernavoda nach Kustendje nicht überschritten haben. Ebenso viele, wenn nicht noch mehr Truppen scheinen sie nach Kalarasch, gegenüber Silistria, geschickt zu haben, in der Absicht, diese Festung zu bedrohen oder unter günstigen Umständen auch anzugreifen. Sie haben alle ihre westlich Bukarests gelegenen Truppen zurückgezogen mit Ausnahme einer Nachhut, die, außerstande, sich noch länger vor Kalafat zu behaupten, anscheinend einen Abstecher auf das gegenüberliegende serbische Donauufer unternommen hat, um offensichtlich die Nichtachtung der Russen gegenüber der serbischen Neutralität zu beweisen und die Wirkung von ein paar russischen Uniformen auf die serbischen Bauern zu erproben - oder vielleicht sogar, um Österreich einen Anlaß zur Besetzung dieses Landes zu liefern. Zweifellos werden wir sehr bald davon hören, daß die gesamte Kleine Walachei von den Russen geräumt worden ist. Was wird dann ihre Stellung sein? Ihre Linie wird von Tirgovischte über Oltenitza und Kalarasch nach Cernavoda über die Donau bis nach dem Schwarzen Meer, bei Kustendje, verlaufen. Diese Stellung kostet ihnen allerdings mehr Boden, als sie damit gewinnen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß diese Verkürzung der Front für die Russen an sich von Vorteil ist. Gleichzeitig be
deutet dies eine Verschiebung nach ihrer Linken, wodurch ihre Rückzugslinie, früher in Richtung einer verlängerten Linie dieser Front, jetzt hinter der Front und senkrecht zu ihr liegt. Zwei Monate zuvor hätte Omer Pascha ihren Rückzugsweg abschneiden können, indem er einfach irgendwo zwischen Silistria und Hirsowa über die Donau gesetzt hätte, doch jetzt ist das nicht mehr möglich, es sei denn, daß er vielleicht in der Nähe der Dnestrmündung Truppen landet. Und gerade darin liegt der große Vorteil dieser Operation ein Vorteil, den nicht einmal das Risiko aufwiegt, welches durch die 'Aufstellung des Korps in der Dobrudscha in einem länglichen Rechteck eingegangen wird, dessen eine Seite von der starken Stellung des Feindes und eine andere vom Meer begrenzt wird, während die übrigen beiden von zwei Biegungen der Donau abgeschlossen werden mit nicht mehr als drei Brücken für die Kommunikation, Verstärkung oder den Rückzug. Doch hierin erschöpfen sich die Vorteile, die die Russen gewonnen haben. Sie haben eine Stellung erlangt, aus der sie sich zurückziehen, von der aus sie aber nicht vorrücken können. Vor ihrer Front ist die Donau von Oltenitza bis Cernavoda nur an wenigen Punkten passierbar, und diese werden entweder durch starke Batterien auf einem beherrschenden Ufer verteidigt oder wie bei Silistria durch eine reguläre Festung. Des weiteren befinden sich zwischen Cernavoda und dem Meer der See und die Sümpfe des Karasu, der Trajanswall (an den Durchgangsstellen wieder für die Verteidigung instand gesetzt), die Festung Kustendje und an ihrer Flanke im Schwarzen Meer die alliierten Flotten. Hinter der Donau wie auch hinter dem Trajanswall erstreckt sich ein verhältnismäßig unfruchtbares Gebiet, vorwiegend hochgelegen, in allen Richtungen von tiefen Schluchten durchschnitten, die durch zahlreiche Flüsse gebildet sind, über die keine Brücken führen. Dieses Gebiet ist für eine Armee gewiß nicht unpassierbar, doch kann es nur von einer Streitmacht durchquert werden, die sicher ist, eine gute Stellung, einen schwachen Feind und reichlich Proviant und Pferdefutter auf der anderen Seite vorzufinden. Doch hier ist gerade das Gegenteil der Fall. Wenn die Russen vom Trajanswall und von Oltenitza oder Turtukai in Richtung auf Basardschik und Rasgrad vorrücken, müssen sie Truppen zurücklassen, um Silistria abzuriegeln und Rustschuk zu beobachten. So geschwächt, würden sie das schwierige Gelände nach Rasgrad und Basardschik passieren, und wo stehen sie dann? Nun, vor dem ersten Gebirgszug des Balkans, der quer durch ihre Operationslinie verläuft und auf verschiedenen und auseinanderlaufenden Straßen in detachierten Korps passiert werden muß. Nehmen wir an, sie versuchten dies, dann riskieren ihre getrennten Korps, einzeln von einer konzentrierten Streitmacht geschlagen zu werden, die plötzlich aus
Schumla auftaucht und der sie in keinem Fall die Rückzugswege abschneiden können. Aber selbst angenommen, sie würden alle diese Schwierigkeiten überwinden und mit etwa 100000 Mann in der Nähe von Schumla und Varna erscheinen - was dann? Schumla ist eine Stellung, die nicht nur von 40000 Mann gegen 100000 Mann gehalten werden kann, die größere Streitmacht ist hier nicht einmal in der Lage, die kleinere in Schach zu halten. Gleichzeitig deckt es Varna, das an der anderen Flanke durch die alliierten Flotten gedeckt ist. Varna und Schumla zusammen bilden aber eine weitaus stärkere Stellung als Verona und Legnago 1848 an der Etsch für Feldmarschall Radetzky, als dieser durch die piemontesischen und aufständischen italienischen Truppen von allen Seiten bedrängt wurde. Überdies haben Schumla und Varna zu ihrer Ergänzung Rustschuk und Silistria, die beide an der feindlichen Flanke liegen und die, so schwach sie allein genommen erscheinen mögen, nicht mit Erfolg angegriffen werden können, solange die Hauptstreitmacht der türkischen Armee in der Lage ist, von Schumla aus in jede beliebige Richtung einen Ausfall zu unternehmen. Beide Festungen sind an der Donau gelegen, Silistria gegenüber dem rechten Zentrum der augenblicklichen russischen Stellung, Rustschuk an ihrer rechten Flanke. Sie müssen am rechten Ufer des Flusses abgeriegelt werden; das bedeutet, daß die Belagerungstruppen ihre Stellung direkt zwischen den Festungen und Schumla beziehen müssen, wo Omer Pascha allem Anschein nach die Hauptmasse seiner Truppen konzentriert. Eine Streitmacht, die Rustschuk und Silistria absperrt, muß deshalb stark genug sein, um sich nicht nur gegen die Garnisonen dieser Festungen, sondern auch gegen wenigstens zwei Drittel der in Schumla konzentrierten türkischen Armee zu behaupten. Andrerseits müssen die Russen, wenn sie über Basardschik vorrücken, ebenfalls stark genug sein, um sich gegen zwei Drittel der Armee aus Schumla in offener Schlacht zu behaupten. Außerdem müssen Truppen detachiert werden, um Varna zumindest an der Nordseite und wenn möglich auch an der Südseite abzuriegeln; denn wenn Varna nicht abgeriegelt ist, kann es nicht genommen werden, und wenn es nicht genommen wird, können die Russen nicht den Balkan überschreiten. Wenn wir zu alledem noch die Detachements in Betracht ziehen, die erforderlich sind, um die Verbindung zwischen den verschiedenen Korps auf der langen Strecke von Rustschuk nach Varna aufrechtzuerhalten und den Nachschub zu sichern, so besteht kein Zweifel, daß die Russen zu einem erfolgreichen Vormarsch auf Schumla und Varna, die beiden entscheidenden Punkte der Verteidigung im östlichen Balkan, eine Streitmacht brauchen, die mehr als doppelt so stark sein muß wie die Kräfte, welche die Türken in Schumla zusammenziehen können.
Diese Tatsachen zeigen, daß die Türken sehr klug gehandelt haben. Das Aufgeben der Dobrudscha ist der erste feste und unbestreitbare Beweis hoher Feldherrnkunst von Omer Pascha. Es lohnt nicht, dieses Gebiet und seine Festungen zu halten. Anstatt Niederlagen und Verluste an Menschen und Material zu riskieren, befahl der türkische General seinen Truppen sofort, alle Punkte aufzugeben, sobald dies ohne Gefahr für den Rückzug überhaupt geschehen konnte, und sich auf den Trajanswall zurückzuziehen. So erzielten die Russen mühelos einen scheinbaren Sieg, während ihnen die Türken dabei bedeutenden Schaden zufügten und ihre eigentliche Verteidigungsstellung bezogen, bevor der Gegner entsprechend reagieren konnte. Die Türken haben nur in wichtigen Orten Garnisonen und dort, wo die Hauptarmee oder die Flotten im Schwarzen Meer sie unterstützen können. Dadurch werden sie nötigenfalls wenigstens 80000 oder 90000 Mann zwischen Schumla und Varna zusammenbringen können, eine Streitmacht, die leicht verstärkt werden könnte durch die schleunige Zurückrufung einiger der Truppen, die eine politische Panik ohne jeden wirklichen Grund nach Kalafat gesandt hat. Daß aber die Russen zweimal soviel oder gar noch mehr Truppen über die Donau bringen sollten, ist zumindest während dieses Feldzuges unmöglich. Wenn wir das sagen, setzen wir voraus, daß sie tatsächlich die Absicht haben, eine energische Offensive vorzutragen, und lassen das Eintreffen der englischfranzösischen Hilfstruppen außer Betracht, deren Anwesenheit jegliches Überschreiten des Balkans zur Torheit werden ließe. Wir haben die Frage in diesem Lichte betrachtet, weil es gerade geeignet ist, die wirkliche Lage der gegenwärtig kämpfenden Seiten zu zeigen. Ohne Zweifel wäre Konstantinopel wenigstens für dieses Jahr vor einem russischen Einfall hinreichend sicher, falls die Russen und Türken die Sache allein auszufechten hätten, selbst nachdem die Türken durch diplomatische Verzögerungen die für eine Offensivaktion erforderliche Überlegenheit eingebüßt haben.
Geschrieben am 13. April 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Die Note Reschid Paschas Eine italienische Zeitung über die orientalische Frage]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4068 vom 2. Mai 1854] London, Dienstag, 18. April 1854. Die Regierungen Englands und Frankreichs sollen endlich Exemplare eines Offensiv- und Defensivabkommens, bestehend aus fünf Artikeln, ausgetauscht haben. Über seinen Inhalt ist noch nichts bekannt. Der Vertrag zwischen Österreich und Preußen ist noch nicht abgeschlossen worden; der strittige Punkt ist die Okkupation der Grenzen zu RussischPolen, die von einem Teil des preußischen Hofes abgelehnt wird. Am 6. April wurde in Athen ein Tedeum zu Ehren des Jahrestages der griechischen Unabhängigkeit zelebriert. Die Gesandten der Westmächte nahmen nicht daran teil. Am selben Tage veröffentlichte der Athener „Beobachter" sechzehn königliche ordonnances1, worin der Rücktritt von einundzwanzig Generalen, Obersten und anderen Offizieren angenommen wurde, die sich den Aufständischen anschließen wollten. Am folgenden Tage traf in Athen die Nachricht ein, daß die Aufständischen bei Arta eine fürchterliche Niederlage erlitten haben. Schon der Ort, an dem die Schlacht geschlagen wurde, zeigt, daß der Aufstand nicht den geringsten Fortschritt gemacht hat und seine einzigen Opfer bisher die griechischen Bauern selbst gewesen sind, welche die Grenzbezirke des griechischen Königreiches bewohnen. Sie werden sich erinnern, daß 1827 die Gesandten Rußlands, Englands und Frankreichs von der Hohen Pforte verlangten, sie solle alle Türken aus Griechenland zurückrufen, gleich, ob diese dort ansässig seien oder nicht. Als dies die Türken ablehnten, wurden sie in der Schlacht von Navarino zum Gehorsam gezwungen. Jetzt hat die Hohe Pforte einen ähnlichen Befehl
1 Anordnungen
gegenüber den Griechen erlassen; und da weder der Brief Reschid Paschas an Herrn Metaxas, den griechischen Gesandten, noch das Zirkular Lord Stratford de Redcliffes an die britischen Konsuln in den Londoner Zeitungen bisher veröffentlicht wurden, bringe ich eine Ubersetzung von beiden aus dem „Journal de Constantinople" vom 5. April:
„Antwort Reschid Paschas, Minister der auswärtigen Angelegenheiten, auf die Note des Herrn Metaxas
Konstantinopel, 3.Redscheb 1270 (I.April 1854). Ich habe von Ihrer Note Kenntnis genommen, die Sie am 26. März an mich richteten mit Bezug auf Ihren Entschluß, diese Hauptstadt zu verlassen. Da die Regierung der Hohen Pforte von der griechischen Regierung nicht die gebührende Genugtuung für ihre gerechten Reklamationen betreffs der gegenwärtigen Ereignisse erhalten hat und da der Geschäftsträger der Hohen Pforte gezwungen ist, gemäß den erhaltenen Anweisungen Athen zu verlassen, ist es angebracht, mein Herr, daß auch Sie diese Stadt verlassen. Deshalb übersende ich Ihnen, Ihrem Wunsche entsprechend, Ihre Pässe. Da mit dem heutigen Tage sowohl die diplomatischen wie auch die merkantilen Beziehungen zwischen beiden Ländern abgebrochen werden, sind wir zu dem Entschluß gelangt, daß die in den verschiedenen Provinzen unseres Reiches errichteten hellenischen Kanzleien wie auch die griechischen Konsuln unverzüglich in ihr Land zurückkehren müssen. Die Kaufleute und andere in der Türkei wohnende hellenische Untertanen müssen gleichfalls Konstantinopel verlassen; doch gewähren wir ihnen, um die Interessen des griechischen Handels zu schützen, eine Frist von fünfzehn Tagen. Für diejenigen, die in den Provinzen ansässig sind, wird diese Frist erst von dem Tage an gerechnet werden, da sie den Befehl zur Abreise empfangen. Es ist unwiderleglich erwiesen, daß unsere Grenzprovinzen nicht infolge Unachtsamkeit, sondern eher infolge der Duldung seitens der griechischen Regierung überfallen worden sind. Obgleich die kaiserliche Regierung unfraglich das Recht hat, alle in unseren Häfen befindlichen Schiffe als Pfand für die uns verursachten sehr beträchtlichen Verluste zurückzuhalten und zu beschlagnahmen, denkt mein erlauchter Gebieter, daß es mit seinem Sinn für Mäßigung besser übereinstimme, den griechischen Untertanen nicht Schaden zuzufügen in einer Frage, die nur die griechische Regierung betrifft. Wenn jene Regierung zu einem Geist größerer Gerechtigkeit zurückgekehrt sein wird und internationale Rechte sowie die Regeln des jus gentium1 berücksichtigt, dann wird die Gelegenheit gekommen sein, die Frage der durch diesen Aufstand verursachten Kosten zu untersuchen. Deshalb wird allen hellenischen Schiffen gestattet, in der ihnen gesetzten Frist ungehindert in ihr Land zurückzukehren. Die entsprechenden Behörden sind angewiesen, die Abreise besonders bedürftiger griechischer Untertanen zu erleichtern und die Kranken und Schwachen so schonend wie möglich zu behandeln."
1 Völkerrechts
15 Marx/Engels, Werke, Band 10
(Die höchst christliche und zivilisierte Regierung Österreichs handhabt diese Dinge auf andere Weise - man denke nur an die Ausweisung der Tessinerf113 J.) „Ich halte es für angebracht, nochmals zu wiederholen, daß allein die hellenische Regierung uns diese Entscheidung aufgezwungen hat und alle Verantwortlichkeit für die sich hieraus ergebenden Folgen ausschließlich Griechenland zu tragen hat. Reschid Pascha"
Diesem Befehl zufolge haben sich am 5. April 3000 Griechen in Konstantinopel eingeschifft, und der Pascha von Smyrna hat, wie wir hören, bereits den Befehl für die griechischen Einwohner dieser Stadt veröffentlicht. Das Zirkular Lord Stratford de Redcliffes an die britischen Konsuln in der Türkei und Griechenland lautet wie folgt:
„Konstantinopel, Sonnabend, 1.April 1854. Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, daß die Hellenen, welche in die Grenzprovinzen der Türkei eingefallen, die griechischen Untertanen des Sultans zur Empörung verleiten, indem sie erklären, daß die Regierungen Frankreichs und Englands bereit seien, ihnen bei dem Umsturz der Herrschaft des Sultans zu helfen. Auch werde ich benachrichtigt, daß ähnliche Kunstgriffe angewendet werden, den Glauben zu verbreiten, daß der französische und der englische Gesandte allen hellenischen Untertanen in der Türkei ihren Schutz erteilen würden, sobald die Pforte - infolge des Abbruchs der diplomatischen und merkantilen Beziehungen mit Griechenland - ihre Absicht, sie aus den Staaten des Sultans zu verbannen, anzeigen würde. Da Erfindungen dieser Art falsche Hoffnungen ermutigen, wohlgesinnte Menschen verführen und auf sträfliche Art die Leiden des Kriegs steigern sollen, so beeile ich mich, Ihnen die Versicherung zu geben, daß diese Behauptungen völlig grundlos sind. In der Tat gehört große Unwissenheit und Leichtgläubigkeit dazu, um nur einen Augenblick Hoffnungen auf einen Wahn zu gründen, der ebensosehr mit dem gesunden Menschenverstand wie mit den Tatsachen im Widerspruch steht. Aber leider findet sich ähnliches überall in Ländern, wo die Wege und Mittel noch so unvollkommen ausgebildet sind. Sie wissen so gut wie ich, daß England und Frankreich gänzlich sich mit dem edlen Widerstand des Sultans vereinigt haben, welchen dieser einem gewaltsamen und widerrechtlichen Angriff entgegensetzt. Es folgt daraus notwendig, daß die beiden alliierten Regierungen nur mit dem peinlichen Gefühl der Entrüstung und des Tadels auf eine Bewegung blicken, die, nur zugunsten Rußlands unternommen, nicht einmal das Verdienst der Freiwilligkeit besitzt, welche die Pforte und ihre Alliierten schließlich in ihrer Tätigkeit hindern muß, und keine andere Aussicht bietet als Elend für die, welche ihr Leben für einen abenteuerlichen Wahn preisgeben. Man fühlt sich zwar von Mitleid für die unschuldigen Familien ergriffen, die unglücklicherweise in die Folgen einer brutalen und grundsatzlosen Politik verflochten werden; von unserer Seite aber dürfen keine Beziehungen zu den Anstiftern bestehen und müssen die Empfindungen unterdrückt werden, welche das Benehmen einer unbesonnenen Partei zu erwecken nicht verfehlt. Ich muß Ihnen empfehlen, keine Gelegenheit zu versäumen,
um den Inhalt dieses Zirkulars allen bekanntzumachen, welche geneigt wären, sich durch lügenhafte Versicherungen, wie sie hierin als solche bezeichnet, verführen zu lassen. Stratford de Redcliffe" Die an dem Ausgang der orientalischen Wirren unmittelbar am stärksten Interessierten sind neben den Deutschen die Ungarn und Italiener. Deshalb ist es nicht uninteressant, die Absichten der verschiedenen Parteien dieser Nationen hinsichtlich ihrer Beziehungen zueinander zu kennen. Der folgende Artikel aus der Turiner Zeitung „L'Unione", den ich zu diesem Zweck übersetze, wird Ihnen die Ansichten der konstitutionellen Partei in Italien[1141 zeigen, die ganz bereit zu sein scheint, Ungarn zu opfern, um die Unabhängigkeit Italiens wiederzuerlangen. Das Geheimnis der Langlebigkeit des Osterreichischen Reiches ist gerade dieser provinzielle Egoismus, der jedes Volk mit der Illusion blendet, es könne seine Freiheit erringen, wenn es die Unabhängigkeit des anderen Volkes opfere. „Die englischen Zeitungen scheuen keine Mühe, dem bevorstehenden Krieg mit Rußland den Anschein eines Kampfes für Freiheit und europäische Unabhängigkeit zu geben, während sie tatsächlich nur die kommerziellen Interessen Englands im Auge haben; zum Beweise dessen rät Lord John Russell uns Italienern, ruhig zu bleiben, und gibt uns zu verstehen, daß Österreich ja eines Tages humaner werden kann. Damit erkennt er zumindest an, daß es gegenwärtig überhaupt nichts Humanes an sich hat. Nichtsdestoweniger versucht das philanthropische England, sich dessen Bündnis für den ,Sieg der Freiheit und Unabhängigkeit Europas' zu sichern. Weis die französische Presse betrifft, so ist sie nicht frei, und da sie fürchten muß, zunächst verwarnt und beim zweiten Male verboten zu werden, bleibt ihr nichts anderes übrig, als nachzubeten, was der Regierung paßt. Außerdem pflegen die französischen Blätter die Tagesfragen nicht in großem Maßstab zu behandeln und unterliegen zu sehr dem Impuls der Mode. Die deutschen liberalen Blätter schreiben unter dem Druck einer ungeheuren Furcht, die Rußland ihnen verursacht, und dies ist verständlich, wenn wir den Einfluß berücksichtigen, den es bereits über die zwei bedeutendsten Mächte Deutschlands erlangt hat. Was aber wollen wir? Die Unabhängigkeit Italiens. Solange man jedoch von der territorialen Integrität der Türkei spricht und vom europäischen Gleichgewicht auf der Grundlage des Wiener Vertrages, ist es ganz natürlich, daß wir den gleichen Status quo weiterhin genießen sollen, der unseren Wünschen völlig widerspricht. Wonach strebt Rußland? Mit dem Ottomanischen Reich Schluß zu machen und damit das Gleichgewicht des Status quo und die Karte von Europa zu ändern. Gerade das ist es, was wir wollen. Man wird jedoch sagen, daß Rußland dies nach seiner Art ändern will. Genau das aber kann uns von Nutzen sein, weil weder Frankreich noch England oder Deutschland diese neue Vergrößerung des Territoriums oder des Einflusses eines Reiches dulden kann, das von beiden bereits zuviel besitzt; deshalb werden sie gezwungen sein, nach einem Bollwerk gegen Rußland zu suchen. Dieses Bollwerk kann nur Österreich sein, dem gegenüber die Westmächte sich großzügig zeigen müssen,
indem sie ihm das ganze Donautal von Orsova bis zum Schwarzen Meer und an der unteren Donau die Dobrudscha und die Schlüssel zum Balkan geben. Dann besäße Österreich: 1. Ein gewaltiges Territorium mit einer Bevölkerung, die einander verwandt ist. 2. Den ganzen Lauf eines großen Flusses, der für den Handel Deutschlands so notwendig ist. In einem solchen Falle würde Österreich, wenigstens was seine Verteidigung anbelangt, Italien nicht mehr brauchen und ungefähr sechs Millionen Südslawen und vier Millionen Dacorumänen konzentrieren, zu denen weitere drei Millionen der ersteren und etwa nochmals vier Millionen der letzteren kämen, die bereits seiner Herrschaft unterstehen. Integrität und Unabhängigkeit der Türkei! Zwei hochtrabende Paradoxa. Wenn man unter Unabhängigkeit die Freiheit einer Nation versteht, sich selbst entsprechend ihren eigenen Prinzipien regieren zu können, ohne daß irgendein Fremder das Recht hat, sich einzumischen, so wurde diese Unabhängigkeit durch den Vertrag von Kainardschi schon sehr gefährdet, und durch den jüngsten Vertrag mit den Westmächten erhielt sie den Gnadenstoß (colpo di grazia). Folglich regiert nicht länger der Sultan die Türkei, sondern die europäischen Mächte regieren sie, und wenn erst Muselmanen und Christen, Sieger und Besiegte vor dem Gesetz gleichgestellt sind, wenn die Rajahs - die vier Fünftel der Bevölkerung bilden - Waffen tragen können, existiert die Türkei nicht mehr und bricht eine Umformung an, die sich nicht ohne Gewalt und emsteste Wirren, nicht ohne offene Zusammenstöße der beiden Sekten verwirklichen läßt, die es vier Jahrhunderte lang gewohnt sind, sich gegenseitig zu verabscheuen. Laßt uns von der Unabhängigkeit der Türkei also nichts anderes mehr hören, als daß sie eine Fabel sei. Und die territoriale Integrität! Waren es denn nicht Frankreich und England, die der Türkei im Einverständnis mit Rußland das griechische Königreich, d. h. den Peloponnes, Attika, Böotien, Phokis, Akarnanien, Atolien, die Insel Negroponte etc., mit einer Million Einwohner entrissen? Waren sie es denn nicht? War es denn nicht Frankreich, das Algerien an sich riß? Waren es denn nicht Frankreich, England und Rußland, die Ägypten eine halbe Unabhängigkeit gewährten? War es denn nicht der Engländer, der sich vor fünfzehn Jahren Adens am Roten Meer bemächtigte? Sind es nicht wiederum die Engländer, dieAgypten begehren? Und gelüstet es Österreich denn nicht nach Bosnien und Serbien? Warum dann von der Erhaltung eines Zustandes reden, gegen den sich alle verschwören und der von selbst nicht mehr fortbestehen kann? Wir kommen deshalb zu dem Schluß, daß Rußlands Absicht, die Türkei zu vernichten, eine gute Absicht ist; daß auch die Westmächte völlig im Recht sind, wenn sie beabsichtigen, den Übergriffen Rußlands entgegenzutreten; doch wenn diese Mächte ihr Ziel erreichen wollen, müssen sie die diplomatische Heuchelei aufgeben, in die sie sich gehüllt haben, und entschlossen sein, die Türkei zu vernichten und die Karte Europas zu ändern. Zu diesem Entschluß müssen sie gelangen." Karl Marx Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Griechenland und die Türkei Die Türkei und die Westmächte Der Rückgang des Getreidehandels in England]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4072 vom 6. Mai 1854] London, Freitag, 21. April 1854. Aus der „Preußischen Correspondenz" erfahren wir, daß der berüchtigte Ritter Bunsen nicht abberufen worden ist, sondern auf eigenes Ansuchen einen längeren Urlaub erhalten hat. Man hat Graf Alvensleben zu seinem vorübergehenden locum tenens1 ernannt. Die Verfassungskommission des schwedischen Reichstages hat mit einer Mehrheit von 12 gegen 11 Stimmen beschlossen, daß die Minister vor dem Obersten Gericht des Königreiches angeklagt werden sollen wegen ihrer Haltung zur Vereinfachung des Besteuerungssystems, die vor kurzem beraten wurde. Einem Bericht Herrn Meronis zufolge, des Konsuls in Belgrad, müssen die Österreicher vorbereitet sein, auf den bewaffneten Widerstand der Serben zu stoßen, falls sie ihre Armeen in Serbien einmarschieren lassen. Am 3. d.M. verließ Herr Metaxas Konstantinopel; innerhalb von weniger als 14 Tagen folgten ihm 40000 bis 50000 seiner Landsleute. Keine Gesandtschaft war willens, ihn zur Fortführung der laufenden Geschäfte vorübergehend zu vertreten. Der österreichische Gesandte lehnte mit der Begründung ab, da England und Frankreich die Schutzmächte Griechenlands seien, hätten ihre Kanzleien die Pflicht, Griechenland in der Zwischenzeit zu vertreten. Preußen wollte nicht annehmen, weil Österreich abgelehnt hatte. Die Gesandten Englands und Frankreichs erklärten den Zeitpunkt für zu unpassend, um selbst als Vertreter von Herrn Metaxas aufzutreten. Die Geschäftsträger der kleineren Mächte hielten es für das beste, jede Sympathie- wie*auch Antipathiekundgebung sorgfältig zu vermeiden. Daher war Herr Metaxas gezwungen, einen eigenen Attache zurückzulassen. Doch bald
1 Stellvertreter
entdeckte man, daß dieser die ihm von der Pforte gewährten Rechte mißbrauchte und fleißig Pässe unter den griechischen Rajahs austeilte, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich den Aufständischen in Albanien anzuschließen. Infolgedessen ist die Tätigkeit der griechischen Kanzlei vollständig eingestellt worden; die Ausgabe von Pässen wurde jetzt einer Kommission übertragen, die aus zwei Türken und zwei Rajahs besteht. Gleichzeitig wurde bekanntgegeben, daß jedem Untertanen des Königreiches Griechenland, der Untertan des Sultans zu werden wünsche, dies gestattet werden könne, wenn er zwei vertrauenswürdige Personen findet, die für seine Zuverlässigkeit bürgen. Da die hellenischen Einwohner Konstantinopels laut gedroht hatten, daß sie Konstantinopel vor ihrem Abzug in Brand setzen und plündern würden, sind von der Regierung außerordentliche Maßnahmen getroffen worden. Die Türken patrouillieren Tag und Nacht, und auf der Promenade von Pera sind fünfzig Kanonen aufgestellt worden. Von Sonnenuntergang bis Mitternacht muß jeder, der auf der Straße oder dem Feld geht oder reitet,eine Laterne bei sich tragen; nach Mitternacht ist jeder Verkehr verboten. Eine andere Verordnung verbietet die Ausfuhr von Getreide. Den Griechen römisch-katholischen Glaubens wurde gestattet, auf Verantwortung der katholischen Bischöfe von Pera zu bleiben. Diese aus Tenos, Andros und Syros stammenden Griechen gehören größtenteils zur Kategorie der Bediensteten. Die Bewohner der Insel Kythera haben eine Petition an die Pforte gerichtet, worin sie den griechischen Aufstand scharf verurteilen und die Regierung anflehen, sie von den allgemeinen Maßnahmen auszunehmen. Auch eine Abordnung griechischer Untertanen der Pforte aus Trikkala in Thessalien ist eingetroffen mit der Bitte um energischen Schutz vor den hellenischen Räubern, die ganze Dörfer in Asche gelegt und ihre Einwohner, ohne Unterschied des Geschlechts oder Alters, zur Grenze getrieben haben, wo sie aufs grausamste gepeinigt wurden. Zweifel, Mißtrauen und Feindseligkeit gegenüber den westlichen Alliierten bemächtigen sich der Türken. Sie sehen nun allmählich in Frankreich und England gefährlichere Feinde, als es der Zar selbst ist, und die allgemeine Meinung lautet: „Sie wollen den Sultan entthronen und das Reich aufteilen; sie wollen uns zu Sklaven der christlichen Bevölkerung machen!" Indem sie südlich von Konstantinopel gelandet sind statt nördlich von Varna, befestigen die Alliierten Gallipoli gegen die Türken selbst. Der Landstrich, in dem das Dorf liegt, ist eine lange Halbinsel, durch eine schmale Landenge mit dem Festland verbunden und vortrefflich als Stützpunkt für Eindringlinge geeignet. Von hier aus sagten eihst die Genuesen den griechischen Kaisern Konstantinopels den Kampf an. Außerdem empört die Ernennung des
Die Türkei und die Westmächte - Der Rückgang des Getreidehandels in England 207
neuen Scheichs ul-Islam die orthodoxen Muselmanen, da er in ihren Augen kaum etwas anderes ist als ein Werkzeug der griechischen Geistlichkeit; und die Türken gelangen allmählich zu der festen Ansicht, daß es besser gewesen wäre, der einzigen Forderung von Nikolaus nachzugeben, als zum Spielball einer Bande gieriger Mächte zu werden. Die Unzufriedenheit mit dem Koalitionsministerium und die Entrüstung, die die Art seiner Kriegführung im Volke hervorruft, sind so sehr gewachsen, daß selbst die „Times" sich vor die Wahl gestellt sieht, entweder ihre Auflage zu riskieren oder aufzuhören, vor dem Kabinett aller Talente zu dienern, und es für angebracht hielt, in ihrer Mittwochausgabe wütend über dieses herzufallen. Der Quebecker Korrespondent der „Morning Post" schreibt: „Unsere Flotte im Pazifik ist stark genug, alle russischen Forts und Posten entlang der Küste Russisch-Amerikas einzunehmen (im Innern des Landes gibt es keine) sowie auch jene, die es hier und da auf den Fuchsinseln, Aleuten und Kurilen besitzt und die zusammen eine Kette von der amerikanischen Küste bis nach Japan bilden. Mit der Einnahme dieser Inseln - die sehr wertvoll sind wegen der Pelze, des Kupfers, der Milde ihres Klimas und wegen der ausgezeichneten Häfen, die es auf einigen der Inseln in der Nähe des asiatischen Festlandes gibt, wo keine guten Häfen liegen - und mit der Eroberung Russisch-Amerikas würde unser Einfluß im Pazifik wesentlich steigen, und dies zu einer Zeit, da die Länder dieses Ozeans jene Bedeutung zu erlangen beginnen, die ihnen längst gebührt. Der größte Widerstand würde unserer Flotte von Neu-Archangelsk auf der Insel Sitka geboten werden, das nicht nur durch seine natürliche Lage stark ist, sondern auch vollständig befestigt und jetzt mit 60 oder 70 Kanonen ausgerüstet ist. Dort leben ungefähr 1500 Menschen, die Garnison mit ungefähr 500 Mann eingerechnet, und es gibt auch eine Werft, wo schon viele Kriegsschiffe gebaut worden sind. Auf den meisten anderen Posten gibt es nicht mehr als etwa 50 bis 300 Menschen, und nur wenige dieser Posten haben Befestigungswerke von einigermaßen Bedeutung. Wenn wir diese Eroberung unternähmen und Frankreich hierfür als Ausgleich Territorium zu erlangen wünschte, so könnte man ihm erlauben, sich Kamtschatkas und der anliegenden Küste zu bemächtigen." Die Berichte der „Gazette" über den Weizenverkauf in den Marktstädten von England und Wales zeigen ein beträchtliches Absinken im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum des Jahres 1853, und das kann als ein Kennzeichen angesehen werden für die in den vorangegangenen Ernten eingebrachte Menge. Es wurden verkauft:
1853 1854
Januar Februar März qrs. 582282 345329 358886 qrs. 266477 256061 227556
Der Umsatz der letzten Woche betrug 36628 Quarter gegenüber 88343 Quarter in der entsprechenden Woche des Jahres 1853. Diese Zahlen zeigen also für die drei Monate ein Absinken um ungefähr eine halbe Million Quarter, verglichen mit den entsprechenden Monaten des Jahres 1853, und sind der schlagendste Beweis für die Dürftigkeit der letzten Ernte. Der „Mark Lane Express"tn5] schreibt: „Die reichlichen Lieferungen aus dem Ausland haben bisher verhindert, daß man den Mangel an inländischen Lieferungen ernsthaft gespürt hat, und es befinden sich noch beträchtliche Mengen Weizen und Mehl aus verschiedenen Ländern auf dem Weg nach England; können wir aber erwarten, daß der Import während der Zeit, die bis zur nächsten Ernte notwendig verstreichen muß, in dem gleichen großen Maßstab andauern wird? Amerika hat uns schon alles geschickt, was sich in seinen Seehäfen befunden hat; und obgleich wir nicht daran zweifeln, daß es im fernen Westen noch beträchtliche Vorräte hat, wird es doch hohe Preise verlangen müssen, um die Ausgaben für deren Transport an die Ostküste und von dort nach England zu decken. Die nördlichen Häfen Europas haben ihre alten Vorräte fast erschöpft, und der Krieg mit Rußland schneidet weitere Lieferungen vom Schwarzen Meer und aus Asow ab. Vorstehendes legen wir ohne weiteren Kommentar unseren Lesern zur Betrachtung vor."
Karl Marx
Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Der griechische Aufstand - Polnische Emigration Das österreichisch-preußische Bündnis Dokumente über die russischen Kriegsrüstungen]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4079 vom 15. Mai 1854] London, Freitag, 28. April 1854. Die letzten authentischen Nachrichten aus der Türkei bestätigen vollkommen die Ansichten der „Tribüne" über den Rückzug der Russen von Kalafat, die Besetzung der Dobrudscha durch die Russen und den Charakter des griechischen Aufstands. Der „Lloyd"lu6] bestätigt das Gerücht, daß die Russen die Einschließung Kalafat s aufgehoben haben und die Räumung der Kleinen Walachei jetzt beendet ist. Die letzten in Konstantinopel eingelaufenen Nachrichten besagen, daß die Russen nicht weiter vorrücken, sondern im Gegenteil die Dobrudscha befestigen. Über den griechischen Aufstand erschien im gestrigen „Moniteur" folgender Brief aus Wien vom 25. April: „Der griechische Aufstand macht in Epirus keinerlei Fortschritte, sondern beginnt, seinen eigentlichen Charakter zu offenbaren. Wenn noch irgend jemand glauben konnte, daß die Interessen von Christentum und Nation mehr als nur ein nichtiger Vorwand seien, so muß d j Vorgehen der Anführer der hellenischen Banden aus dem Königreich Griechenland alle derartigen Zweifel zerstreuen. Die Streitereien zwischen Grivas und Zavellas seit Anbeginn des Kampfes um das Oberkommando über die Aufständischen sind bekannt. Beide Anführer handeln weiterhin getrennt voneinander und nehmen ohne Bedenken jede Gelegenheit wahr, sich gegenseitig zu schaden. Besonders Grivas hat den christlichen Rajahs, deren Befreier zu sein er vorgibt, nur Plünderung und Brandschatzung gebracht. Die Sulioten, die zu dem Entschluß gekommen sind, verschiedenen hellenischen Anführern den Zutritt auf ihr Territorium zu untersagen, klagen besonders Grivas an. Zu Beginn des vorigen Monats bat dieser Anführer den griechischen Primas Derventzista um Obdach und verließ ihn
am nächsten Tag wieder, jedoch nicht ohne sein Haus geplündert und seine Gattin gewaltsam entführt zu haben. Der Primas hat sich an Abdi Pascha gewandt und um Erlaubnis gebeten, sich unter seine Weisung begeben zu dürfen, um sich für diese rohe Tat zu rächen. In Mezzovo jedoch zeichnete sich Grivas durch sein Geschick im Plündern erst richtig aus. Jene Stadt öffnete, durch die russische Propaganda dazu verleitet, dem »Generalissimus* Grivas freiwillig ihre Tore. Seine erste Tat bestand darin, der christlichen Bevölkerung eine .patriotische' Kontribution von 200000 Piaster aufzuerlegen. Die nicht übermäßige Summe wurde gezahlt. Aber Grivas ließ es nicht dabei bewenden. Er wandte sich abwechselnd entweder an einzelne oder an alle bedeutendsten Einwohner sowie an alle wohlhabenden Personen in der Stadt, und forderte sie auf, ebenfalls als Spende alle Luxusgegenstände aus Gold oder Silber, die sich in ihrem Besitz befanden, abzuliefern. Diese Erpressungsmethode erregte Unwillen und erwies sich weder als zweckmäßig noch als sehr ergiebig. Daraufhin kam Grivas ein Gedanke, der uns als Meisterstück der Räuberei erscheint. Er benutzte das Herannahen der ottomanischen Truppen, die auf Mezzovo marschierten, als Vorwand und erklärte, daß es zur Verteidigung des Ortes erforderlich sei, fast die ganze Stadt niederzubrennen, und forderte daher die Einwohner auf, sich mit ihren Familien in der Hauptkirche von Mezzovo zu versammeln, wo sich bald darauf fast 4000 Menschen einfanden. Grivas hatte damit gerechnet, daß sie ihr Geld und auch ihre Juwelen und ihre wertvollsten Dinge mitbringen würden und auf diese Weise der gesamte Reichtum Mezzovos in seine Hände fiele. Er ließ sie dann in kleinen Gruppen heraus und übergab sie seinen Anhängern, die sie ohne weitere Umstände ausraubten. So sehen die Heldentaten des griechischen Anführers aus, der bis jetzt die bedeutendste Rolle im Aufstand von Epirus gespielt hat. Den Türken leistete Grivas danach nur geringen Widerstand. Nachdem er die Stadt in Brand gesteckt hatte, zog er sich auf Achelous, in Richtung Radovitz, zurück. Mezzovo, einst nach Janina und Berat die blühendste Stadt von Epirus, ist jetzt nur noch ein Ruinenfeld, und seine Einwohner sind ins Elend gestürzt worden. Nur ungefähr hundert Häuser sind stehengeblieben."
Reschid Pascha erklärte auf das unbegründete Gerücht hin, daß Kossuth und Mazzini beabsichtigten, nach Konstantinopel zu kommen, er werde ihnen nicht gestatten, türkischen Boden zu betreten. Es heißt, daß die Bildung einer polnischen Legion bei den Gesandten Frankreichs und Englands keinen Widerstand gehenden habe, jedoch auf Hindemisse anderer Art gestoßen sei. General Wysocki übergab der Pforte und Lord Redcliffe ein mit mehreren tausend Unterschriften versehenes Dokument, daß ihn ermächtigt, im Namen eines großen Teils der polnischen Emigration zu handeln. Andrerseits legte Oberst Graf Zamoyski, ein Neffe des Fürsten Czartoryski, ein ähnliches Dokument mit ebenfalls vielen Unterschriften vor, durch das ihn eine andere Gruppe derselben Emigration ermächtigte, in ihrem Namen zu handeln. In Anbetracht ihrer Uneinigkeit und um die Ansprüche der Rivalen auszusöhnen und sowohl Wysockis als
auch Zamoyskis Dienste zu nutzen, empfahl der englische Gesandte die Bildung von zwei polnischen Legionen statt einer. Marschall Paskewitsch traf am 17. April in Jassy ein und setzte am gleichen Tag seine Reise nach Bukarest fort. Der „Hannoverschen Zeitung" zufolge enthält das Schutz- und Trutzbündnis, das zwischen Österreich und Preußen abgeschlossen ist[11,], die folgenden Hauptpunkte: „ 1. Österreich undPreußen garantieren sich gegenseitig ihren deutschen und außerdeutschen Besitzstand, so daß eine jede Verletzung auf dem Landesgebiete des einen einem Angriff auf eigenem Gebiete gleichgeachtet wird. 2. Österreich und Preußen verpflichten sich zu gegenseitiger Unterstützung, und zwar zu nötigenfalls aggressiver, sobald der eine oder der andere deutsche Interessen gefährdet glaubt und der andere diese Anschauung teilt. Bestimmte Fälle, wo diese Unterstützung erfolgen muß, sind in einem besonderen, einen integrierenden Teil der Konvention bildenden Vertrage vorgesehen. Um der Vereinbarung Nachdruck zu geben, werden in gewissen Epochen angemessene Kriegsmittel in Bereitschaft gestellt. Zeit, Umfang und Art der Aufstellung der Truppen sind besonderen Feststellungen vorbehalten. 3. Sämtliche deutsche Bundesgenossen werden aufgefordert, diesem die gemeinsamen Interessen Deutschlands wahrenden Schutz- und Trutzbündnis beizutreten und dasselbe gemäß den ihnen laut Bundesakte obliegenden Verpflichtungen zu unterstützen." Bei einem Vergleich dieser Bestimmungen mit den Bedingungen der Neutralitätsvorschläge, die Graf Nesselrode dem preußischen Hof unterbreitete, fällt auf, daß beide einander ganz ähnlich sind. Man muß ferner bemerken, daß der Vertrag praktisch nur den Erfordernissen einer Defensivpolitik angepaßt ist, während hinsichtlich einer eventuellen Offensivpolitik alles den einzelnen Höfen überlassen bleibt. Die preußische Erste Kammer nahm am 25. d.M. eine Kreditvorlage über dreißig Millionen Taler gemäß den Empfehlungen ihrer Kommission an. Die ministeriellen Erklärungen, die Herr von Manteuffel aus diesem Anlaß abgab, sind so bezeichnend für jene preußische Diplomatie, die ihr inneres Unvermögen gern hinter patriotischen Phrasen und unsinniger Erhabenheit verbirgt, daß ich das Dokument in extenso1 wiedergeben will. Herr von Manteuffel sagt: „Die Verwicklungen zwischen Rußland-und der Türkei und in weiterer Ausdehnung derselben zwischen Rußland und den Westmächten sind allgemein bekannt. Die preußische Regierung hat geglaubt, daß es in Preußens Stellung und Interesse
1 vollständig
liege, diese Verwicklungen zu entwirren und die entstandenen Differenzen auszugleichen. Alle ihre Bestrebungen und Bemühungen sind jedoch gescheitert. Es hat ein eigener Unstern über diesen Angelegenheiten geschwebt. Vieles, was zum friedlichen Austrag der Differenzen wohl geeignet gewesen ist, hat kein Resultat gehabt, teils weil es nicht in geeigneter Weise, teils weil es nicht zur rechten Zeit geschehen ist, und so haben sich die Mißhelligkeiten bis zum Kriege gesteigert und erweitert. Aus den Bemühungen Preußens und Österreichs, den Frieden zu erhalten, hat sich von selbst ein leitender Faden herausgebildet, an den immer wieder angeknüpft wird. Dies war das große Ziel der Wiener Konferenz. In dieser Konferenz hat die Regierung stets und unablässig zum Frieden hingewirkt. Sie ist, wenn auch versöhnlich" (als der „Friedensengel" des Kaisers Nikolaus), „doch ernst und entschieden und im Bewußtsein ihrer Stellung als Großmacht bei diesen Bemühungen aufgetreten" (genau so, wie es der Kaiser von Rußland in seiner geheimen Korrespondenz ausgedrückt hat). „Gerade, weil sie uninteressiert ist" (eine russische Provinz zu werden und die Kulissen zu wechseln) „und weil dies von den anderen Mächten anerkannt wird, hat sie eine kräftige und offene Sprache führen können. Ihre Bemühungen und Leistungen wurden von beiden Teilen bald mit Dank, bald mit Unzufriedenheit aufgenommen. Dies hat die Regierung aber nicht beirrt. Die erste Bedingung einer Großmacht besteht in der Selbständigkeit. Diese Selbständigkeit hat die preußische Regierung aber dadurch betätigt, daß sie die Schritte, die zum Frieden führen konnten, getan, unbekümmert darum, ob sie dieser oder jener Macht gerade genehm seien oder nicht" (alles in allem eine hübsche Definition dessen, was unter der Unabhängigkeit einer Großmacht zu verstehen ist). „Nachdem sich jedoch die Verhältnisse drohender gestaltet hatten, hat die Regierung geglaubt, neben ihren allgemeinen Friedensbemühungen die preußischen und deutschen Interessen insbesondere in das Auge fassen zu müssen. Zu diesem Zweck ist eine Vereinigung mit Österreich angebahnt. Dieser Einigung werden auch die übrigen deutschen Bundesstaaten beitreten, so daß auf ein Zusammengehen mit Österreich und dem übrigen Deutschland zu rechnen ist. Hierin ruht nach Ansicht der Regierung zunächst der sicherste und wirksamste Schutz der vereinigten deutschen Mächte. Neben dieser engeren Vereinigung bleibt die weitere Gemeinschaft Preußens und Österreichs mit den Westmächten auf Grund der Wiener Konferenz fortbestehen. Preußen hat sich von den Westmächten nicht entfernt. Was auch die englische Presse Gegenteiliges behauptet, das Konzert mit diesen Mächten ist noch vorhanden. Das dieses Konzert manifestierende Protokoll ist bereits von dem Gesandten Preußens unterzeichnet, kann jedoch der Kammer noch nicht vorgelegt werden. Es ist darin die bisherige Stellung der vier Mächte zueinander festgehalten, und die Bemühungen zur Herbeiführung des Friedens werden fortgesetzt, obwohl zwei dieser Mächte schon zu kriegerischen Mitteln geschritten sind" (ein Beweis dafür, daß der Krieg nur ein Scheinmanöver ist und Friedensverhandlungen die wirkliche Beschäftigung der westlichen Kabinette bilden). „Was Rußland anbetrifft, so sind in neuster Zeit von dem Kabinett in St. Petersburg versöhnlichere und eingehende Erklärungen abgegeben, die, wenn sie auch zur Zeit nur schwache Friedenshoffnungen darbieten, doch Anknüpfungspunkte für neue Friedensunterhandlungen abgeben können. Die preußische
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Regierung wird sich den Friedenshoffnungen bis zum letzten Moment geneigt zeigen. Preußen wird, solange noch ein Schimmer von Hoffnung zum Frieden bleibt, seine Bemühungen und Bestrebungen fortsetzen. Wenn der entscheidende Moment für Preußen gekommen ist" (Trema Byzantium!1), „dann wird die Regierung ohne Verzug und mit aller Entschiedenheit handeln. Auf diesen Moment muß Preußen schon jetzt gefaßt sein. Sein Wort wird am gewichtigsten sein, wenn es gerüstet ist, sein Schwert zu ziehen. Als der Konflikt zwischen Rußland und der Türkei ausbrach, sind die Westmächte ganz entschieden aufgetreten und haben die Ottomanische Pforte gestärkt. Preußen hat bei diesem Konflikt kein Richteramt zu üben. Es hat außer dem verletzten Recht einer dritten Macht vor allem das Wohl seines eigenen Landes in Erwägung zu nehmen. Sein Interesse in der orientalischen Frage ist ein entfernteres; Österreich hat ein viel näheres Interesse und hat Preußen dringend ersucht, seine Mitwirkung nicht zu versagen. Preußen und Österreich haben den Zweck verfolgt, nach beiden Seiten hin zu weitgehende und das Friedenswerk erschwerende Anstrebungen zu mäßigen. Aus diesen Bemühungen ist die Wiener Konferenz hervorgegangen, die damals mit Recht als ein Glück betrachtet wurde. Die Regierung ist noch immer bemüht, nicht aus einem Verhältnis herauszutreten, welches noch einen" (für Rußland) „günstigen Einfluß auf die Westmächte gestattet. Es ist damit ein Mittelglied für jene Mächte vorhanden, welches als ein Träger der Friedenshoffnungen gelten kann. Was den der russischen Regierung von den vier Mächten mitgeteilten Notenentwurf anbelangt, so muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß einerseits Rußland die Konferenz nicht anerkennt, andrerseits dieser Notenentwurf infolge hinzugetretener anderweitiger Umstände für die Türkei nicht annehmbar geworden ist. Durch das neueste Wiener Protokoll" (und das ist eine sehr wichtige Enthüllung Herrn von Manteuffels) „ist von neuem eine Verständigung angebahnt und die Fernhaltung des Krieges von Preußen und Deutschland möglich gemacht. Anlangend die frühere Forderung Österreichs, dem Bundestag die Wahrung einer strengen, Preußen ebenfalls bindenden Neutralität vorzuschlagen, so hat selbstredend die Regierung darauf nicht eingehen können,wenn Preußen seine selbständige Stellung als Großmacht und die Freiheit seiner Entschließung nicht aufgeben will. Außerdem bietet man durch eine solche Neutralität den anderen Mächten einen Vorwand zu einer feindlichen Haltung, wenn sie solche ihren Zwecken für entsprechend erachten. Die Sache ist heute durch das Engagement" (Wiener Protokoll^1181) „der Westmächte eine wesentlich andere wie damals. Im ungünstigen Falle wird freilich der Frieden nicht erreicht werden; im günstigeren Falle werden aber alle die großen Kalamitäten, die der Krieg mit sich führt, von unserem Vater lande abgewendet, und dies ist ein großer und unschätzbarer Vorteil." (Sollte jemand etwas mit dieser Alternative anzufangen wissen, gratuliere ich ihm zu seinem Scharfsinn.) „Infolge der zwischen Rußland und den Westmächten in der Ostsee wie im Schwarzen Meere in Aussicht stehenden kriegerischen Eventualitäten muß Preußen bei seiner Stellung als Großmacht" (eher lang als groß) „und bei seiner geographischen Lage darauf Bedacht nehmen, sich die Mittel bereitzuhalten, um seine Interessen
1 Erzittre, Byzanz!
nötigenfalls durch die Gewalt der Waffen zu wahren. Die Staatsregierung hat jedoch die Vergangenheit nicht zu scheuen" (worunter vielleicht zu verstehen ist, wenn überhaupt etwas darunter zu verstehen ist, daß sie sich ihrer Vergangenheit nicht schämt) „und erkennt es für einen Vorteil, daß sie sich darüber offen aussprechen kann." Es ist überflüssig zu sagen, daß die Kommission diese Erklärungen äußerst zufriedenstellend fand. Im „Journal de Saint-Peter sbourg" sind folgende neue Dokumente veröffentlicht worden:
„Ordre du Jour1 an das Polizeidepartement
15. April 1854 Seine Majestät, der Kaiser, hat geruht, die Ausdehnung der Vorzüge, die den pensionierten Rängen der Garde und der Armee gewährt werden, auf diejenigen pensionierten Soldaten der Marine und des Trains der Garden zu befehlen, welche, da sie sich noch gesund und kräftig fühlen, eine nochmalige Dienstzeit zu leisten wünschen. Generaladjutant Galachou) Ukas an den Dirigierenden Senat Um die Verteidigungsmittel der Küsten des Finnischen Meerbusens zu vermehren, haben Wir für gut erachtet, eine Reserve-Ruderflottille zu bilden und befehlen: 1. Es sind vier Druschiny Ruderer zu bilden. 2. Diese Druschiny sind durch den Aufruf von Freiwilligen in den Gouvernements Petersburg, Nowgorod, Olonez und Twer zusammenzubringen. 3. Die zur Errichtung dieser Seewehr zu treffenden Maßnahmen werden einem Komitee übertragen, bestehend aus dem Vorsitzenden des Ministeriums der Marine, Seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten Konstantin, und den Ministern der Reichsdomänen, der kaiserlichen Güter und des Innern.
H.April 1854 Nik°laUS
Reglement für die Seewehr I. Zweck der Einrichtung und Bildung der Seewehr. I. Die Seewehr wird gebildet, um die Reserve-Ruderflottille, die zum Schutz der Küsten des Finnischen Meerbusens bestimmt ist, zu vervollständigen. 2. Die Seewehr besteht aus vier Druschiny, deren Bildung und Einrichtung dem Minister der Marine übertragen wird. 3. Der Seewehr können Personen jedes Standes beitreten. iL Bedingungen der Aufnahme: 4. Personen, die der Seewehr beitreten wollen, müssen im Besitz von gültigen Pässen sein, und Leibeigene benötigen eine besondere Genehmigung ihrer Grundherren.
1 Tagesbefehl
5. In St. Petersburg müssen sich die Freiwilligen im Inspektionsdepartement des Ministeriums der Marine persönlich einfinden, in Gouvernementsstädten bei den Gouverneuren und in Kreisstädten bei den Polizeibehörden. 6. Die Pässe werden gegen Ausgabe eines einheitlichen Ausweises eingezogen. Die Pässe werden dem Inspektionsdepartement zugesandt, wo sich deren Inhaber persönlich einzufinden haben. Gleichzeitig erhalten sie, wenn sie dies wünschen, einen Monatssold, was im Ausweis zu vermerken ist. 7. Die Polizei hat die Abreise der Freiwilligen nach St. Petersburg zu überwachen und ihnen jegliche Hilfe und Schutz zu gewähren, um ihren Transport zu ermöglichen. Im Falle der Erkrankung eines Freiwilligen ist für ihn Sorge zu tragen." (Punkt 8 und 9 sind nicht von Interesse.) „III. Bedingungen des Dienstes: 10. Wer in die Seewehr eintreten möchte, erhält vom Tage seiner Anmeldung im Inspektionsdepartement a) Acht Silberrubel per Monat. b) Proviant und Marineprovision gleich den regulären Militärs der Marine. c) Kleider nach dem Zuschnitt der Bauerntracht. Den Freiwilligen ist das Tragen des Bartes und des Haares a la paysanne1 gestattet. 11. Die Dienstzeit ist bis zum I.November 1854 festgesetzt. 12. Nach Ablauf derselben wird kein Freiwilliger im Dienst zurückgehalten. 13. Diejenigen, welche mit Auszeichnung dienen, werden in gleicher Weise wie die regulären Truppen belohnt. 14. Wird eine Prise gemacht unter Mitwirkung von Kanonierschaluppen, so nehmen die auf diesen letzteren dienenden Freiwilligen teil an der Prisenbelohnung. 15. Werden die Freiwilligen verwundet, so genießen sie die gleichen Rechte wie die Militärs. 16. Ihre Familien werden der Fürsorge der Ortsbehörden und Gemeinden empfohlen. Konstantin Graf Kisseleu) Graf Perowskij Dirutrij Bibtkow"
Man hätte keinen besseren Überblick in so gedrängter Form über Rußland geben können, als ihn die vorstehenden Dokumente bieten: der Kaiser, die Beamten, die Leibeigenen, die Bärte ä la paysanne, die Polizei, die Seewehr, die Gemeinden, die Länder und Meere - „alle Reußen". Karl Marx
Aus dem Englischen.
1 nach Bauernart
Karl Marx [Das Bombardement Odessas - Griechenland Die Proklamation des Fürsten Danilo Die Rede Manteuffels[119]]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4080 vom 16. Mai 1854] London, Dienstag, 2. Mai 1854. Das so oft in prahlerischer Einbildung durchgeführte Bombardement Odessas ist endlich Tatsache geworden» Doch die bisher erhaltenen telegraphischen Depeschen sind zu kärglich und im Detail zu ungenügend, als daß sie einen Kommentar verdienten. Den glaubwürdigsten Nachrichten zufolge begann das Bombardement am 22., wurde am 23. unterbrochen (als dem Gouverneur des Ortes eine Aufforderung zur Übergabe übermittelt wurde) und begann wieder am 24. April. Einerseits wird behauptet, ein großer Teil der Stadt sei vernichtet, andrerseits, nur die Forts seien durch Raketen und Bomben zerstört worden. In einigen Kreisen behauptet man sogar, das Bombardement sei überhaupt ohne jede Wirkung geblieben» Einige Depeschen melden die Zerstörung von acht russischen Schiffen Handelsschiffen natürlich, da es in Odessa keine russischen Kriegsschiffe gab. Die letzte Depesche - datiert aus Odessa vom 26. April - berichtet, die gesamte vereinigte Flotte habe sich an jenem Morgen entfernt. Um die öffentliche Meinung auf dieses Ereignis vorzubereiten, hat die französische Regierung im „Moniteur" gerade einen Auszug aus dem letzten Bericht Admiral Hamelins an den Minister der Marine veröffentlicht, worin er erklärt: „Die englische Dampffregatte .Furious' war am 6. April nach Odessa ausgelaufen, um die Konsuln und jene französischen und englischen Untertanen anzufordern und aft Bord zu nehmen, die diese Stadt bei einem bevorstehenden Ausbruch von Feindseligkeiten zu verlassen wünschen... Obwohl sie dieParlamentarfiagge gehißt hatte, die auch ihr Landungsboot trug, feuerten die russischen Batterien treubrüchig sieben Schüsse auf dieses Boot ab, wenige Augenblicke, nachdem es den Pier verlassen hatte. Admiral Dundas und er selbst würden über die Maßnahmen zur Vergeltung eines derart barbarischen Vorgehens beraten."
Die Russen geben eine andere Version des Vorfalls. Sie behaupten, daß die Parlamentärflagge nur ein Vorwand war, um ihre Verteidigungswerke zu erkunden. Daß die „Retribution" vor einiger Zeit in den Hafen von Sewastopol eingelaufen sei unter dem Vorwand, Depeschen zu überbringen, doch mit dem eigentlichen Ziel, von den Batterien im Innern des Hafens Zeichnungen anzufertigen, habe den Zaren äußerst befremdet - um so mehr, als der Lärm, den die englische Presse über diese Heldentat vollführte, diesen Verdacht bestätigt habe. Es sei deshalb Befehl gegeben worden, künftighin alle Schiffe, die sich vor einem russischen Hafen zeigen, mit Kanonenschüssen zu empfangen. Die „Ind£pendance Beige"11201 veröffentlicht einen Brief, der diese Ereignisse erläutert und angeblich von einem russischen Offizier in Odessa, doch wahrscheinlich von keinem andren als Herrn von Kisselew selbst geschrieben ist. „Am 27. März (8. April) um 6 Uhr morgens näherte sich die ,Furious\ ein Dampfer der englischen königlichen Flotte, dem Pier des Quarantänehafens von Odessa, ohne die Parlamentärflagge zu hissen. Obwohl der Hafenkapitän Befehl hatte, auf jedes englische Kriegsschiff eine Rakete abzufeuern, beschloß er nichtsdestoweniger, von der sofortigen Ausführung dieses Befehls abzusehen, da er annahm, daß der Dampfer vielleicht noch nicht von der englischen Kriegserklärung unterrichtet sei. Die .Furious4 ging vor Anker, setzte ihr Boot aus und sandte es mit einer Parlamentärflagge an Land. Der Hafenkapitän entsandte sofort seinen Adjutanten zu dem Bootsoffizier. Dieser Offizier erklärte, er käme mit dem Auftrag, den französischen und den englischen Konsul an Bord zu holen. Ihm würde geantwortet, daß diese Herren Odessa längst verlassen hätten; er wurde deshalb gebeten, sich sofort zu entfernen, woraufhin das Boot an Bord des Dampfschiffes geholt und die Parlamentärflagge entfernt wurde. Doch anstatt die Anker zu lichten, begannen die Offiziere des Dampfers, Zeichnungen von den Batterien anzufertigen. Um die ,Furious' daran zu hindern, wurden daraufhin Warnschüsse auf sie abgegeben. Da die ,Furious' dem keine Beachtung schenkte, wurde eine Kugel auf eines ihrer Räder abgeschossen. Die .Furious' entfernte sich sofort." Es ist natürlich lächerlich,' daß die englische und französische Flotte warten mußten, bis ihnen die Russen „Gründe" lieferten, ehe sie die jetzigen Feindseligkeiten gegen einen russischen Hafen eröffnen konnten, und daß sie selbst dann den Hafen nicht einnahmen, sondern lediglich einige Breitseiten auf ihn abfeuerten. Ungefähr zu der gleichen Zeit, da die „Furious" zu ihrer Mission ausgeschickt wurde, behaupteten in Konstantinopel angekommene Briefe aus Odessa, die russische Regierung habe alles in den Speichern lagernde Getreide beschlagnahmt, ohne auf den Privatbesitz ausländischer Kaufleute Rücksicht zu nehmen. Die beschlagnahmte Menge belaufe sich auf
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800000 Tschetwerti1. Außerdem habe die russische Regierung den ausländischen Kaufleuten befohlen, 150000 Säcke und 15000 Wagen bereitzustellen, um das beschlagnahmte Getreide ins Innere des Landes zu befördern. Auf alle Beschwerden antwortete der Gouverneur mit der Erklärung, daß die Politik der Westmächte die russische Regierung zu solch extremen Maßnahmen veranlaßt habe und daß sie mit der Beschlagnahme ihres Eigentums dieses nur vor den Plünderungen einer empörten Bevölkerung schütze. Auf den Einspruch der in Odessa gebliebenen Konsuln der neutralen Staaten willigte der Gouverneur schließlich ein - nicht für die beschlagnahmten Waren zu zahlen, aber doch einfache Quittungen an die Eigentümer auszugeben. Im folgenden ein Auszug aus einem Stockholmer Blatt: „In der ganzen Stadt wimmelt es von Flüchtlingen aus Finnland; viele kommen auch von Aland" (das noch immer von den Russen besetzt zu sein scheint), „um dem russischen Preßgang zu entgehen. Die russische Flotte hat großen Mangel an Matrosen, und die Behörden ergreifen jung und alt. Mitten in der Nacht werden Familienväter ohne jede Gewährung eines Aufschubs eilig fortgebracht. Um sich vor dieser Tyrannei zu retten, fliehen ganze Familien mit Sack und Pack nach Schweden." Das „Journal de Saint-Petersbourg" vom 23. v.M. enthält eine Proklamation des Zaren an seine Untertanen, worin der Krieg gegen die Westmächte dargestellt wird als ein Krieg der orthodoxen Kirche gegen die Ketzer zur Befreiung ihrer unterdrückten Brüder im Ottomanischen Reich. Die heutige Pariser „PresseM[121] bringt folgenden Artikel: „Einer unserer Korrespondenten in Konstantinopel hat uns wichtige Einzelheiten über das russische Komplott mitgeteilt, das vor einiger Zeit aufgedeckt wurde und dessen Untersuchung gerade abgeschlossen ist. Diese Untersuchung beweist klar, daß Rußland die Krise seit langem vorbereitet hat, die den kranken Mann direkt unter den Händen seiner Ärzte sterben lassen sollte. Die Untersuchung beweist, daß Baron Oelsner nur in die Dienste der türkischen Polizei getreten ist, um seine surveillants2 besser betrügen zu können. Er bekam 1000 Piaster per Moi^at. Trotz seiner Schlauheit wurde sein doppeltes Spiel auf folgende Weise auf gedickt: Er hatte Beziehungen angeknüpft zu Herrn Aspa, einem Arzt in türkischem Dienst; und da er glaubte, ihm vertrauen zu können, gestand er ihm, daß er niemals aufgehört habe, Rußland zu dienen, wenngleich er von der türkischen Polizei bezahlt werde. Herrn Oelsner zufolge beabsichtigte Rußland, aus den Griechen und Slawen der Türkei eine Armee von 60000 Verschwörern aufzustellen, die bereit sind, sich auf ein Signal hin zu erheben. Der entscheidende Schlag sollte in Konstantinopel geführt werden. Das Haupt des Komplotts in dieser Stadt sei ein Engländer, ein gewisser Plantagenet Harrison. Herr Aspa tat, als schlösse er sich den Ansichten Oelsners an, und gab der türkischen Polizei
1 Russisches Trockenmaß = 2,099 hl - 2 Aufpasser
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einen Wink. Die Polizei, die Oelsner schon seit längerer Zeit in Verdacht hatte, ließ ihn nun mit erhöhter Sorgfalt überwachen und entdeckte, daß er regelmäßig Berichte an Fürst Gortschakow zu senden pflegte. Schließlich gelang es ihnen, einen dieser Berichte abzufangen. Oelsner, obwohl im allgemeinen äußerst vorsichtig, war so unvorsichtig gewesen, obigen Bericht Herrn Aspa zu zeigen - der sofort Herrn Palamari, den Geheimagenten der türkischen Polizei, informierte - und ihn in dessen Beisein Radschic, einem österreichischen Slawonier, zu übergeben, der mit Oelsner und seinen Komplizen in Verbindung stand. Der Brief wurde dieser Person abgenommen und bildet eines der Beweisstücke. Es wurde auch festgestellt, daß Oelsner sich mit Constantinos, dem Kapitän eines griechischen Handelsschiffes, ins Einvernehmen gesetzt hatte, und daß sie die Heranziehung von weiteren vierzig Kapitänen griechischer Schiffe vereinbart hatten, die an einem bestimmten Tag in Konstantinopel ankommen sollten, mit Munition und allem Notwendigen versehen, um den Aufstand unter der griechischen Bevölkerung der Metropole zu entfachen. Constantinos stand nicht nur mit Oelsner in ständiger Verbindung, sondern auch mit Herrn Metaxas, dem griechischen Gesandten bei der Pforte. Bodinarow, ein russischer Oberst, besorgte die Verbindung zwischen Oelsner und Fürst Gortschakow." In der „Augsburger Zeitung" ist eine Reihe außerordentlich feindseliger Artikel gegen Rußland erschienen, die großes Aufsehen in Deutschland erregt haben, da diese Zeitung bis jetzt überaus eifrig russische Interessen vertrat und, wie außerdem bekannt ist, ihre Anregungen vom österreichischen Kabinett erhält. Österreich, wird in diesen Artikeln erklärt, sei infolge der Enthüllungen, die die vertrauliche Korrespondenz Sir H.Seymours enthalte, seiner Verpflichtungen gegenüber Rußland enthoben. In einem dieser Artikel heißt es: „Als das Vorgehen Rußlands österreichische Vorstellungen in St.Petersburg nötig machte, wurde dort in einem so peremtorischen Tone geantwortet - man machte so wenig Umstände mit dem Wiener Ministerium, daß jede neue Depesche aus Konstantinopel bittere Ahnungen hervorrief. Dieselbe auffallende Rücksichtslosigkeit vermochte den Grafen Mensdorff zu der Bitte, lieber wieder eine Brigade kommandieren zu dürfen, als länger in St. Petersburg zu bleiben, obgleich er für seine Person sich seiner Stellung dort nur zu beloben hatte." Er wurde demzufolge von Graf Esterhazy abgelöst. In einem andren Artikel findet sich folgende Stelle: „Als der Kaiser von Rußland nach Olmütz kam, war sein Benehmen gegen den Grafen Buol-Schauenstein so unverbindlich, um nicht zu sagen verletzend, daß es allgemein auffiel und Nesselrode und Meyendorff in Verlegenheit kamen." (Es sei erlaubt, Ihre Leser daran zu erinnern, daß es zu den Gepflogenheiten Nesselrodes gehört, ein solches arrogantes Benehmen seines erlauchten Gebieters zu provozieren, um es nachher zu bedauern.) „Der junge Kaiser, Zeuge dieser Dinge gegen seinen Minister, hat jene Vorgänge nicht vergessen. Die Seymourschen Berichte konnten den gefaßten Ent
Schluß Seiner Majestät" (den Anmaßungen Rußlands gegenüber Österreich entgegenzutreten) „nur bekräftigen... Während seines Aufenthaltes in Wien lehnte es Graf Orlow ab, im Namen seines Herrschers die Verpflichtung einzugehen, die Integrität des Ottomanischen Reiches unter allen Umständen zu respektieren." Der Korrespondent der „Times" in Konstantinopel weist mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß der griechische Aufstand unweigerlich zu einer Revolution in Griechenland führen werde, das heißt zu einem Kampf zwischen der nationalen Partei und den Anhängern Rußlands. Andrerseits scheint sich durch die Greueltaten der Truppen des Paschas in Bulgarien die Stimmung der Bevölkerung zugunsten Rußlands zu neigen. Lassen Sie mich einige Tatsachen anführen, die das Verhältnis Griechenlands zu den Westmächten charakterisieren. Im „Nouvelliste de Marseille" ist aus Konstantinopel vom 17. April folgendes zu lesen: „Die europäischen Einwohner Athens müssen alle möglichen Beleidigungen erdulden. Sie werden sogar mit Stöcken überfallen, wogegen die griechische Gendarmerie jedoch in keiner Weise einschreitet. Am 15.v.M. erhielt Herr Gaspari, Mitglied der französischen Gesandtschaft, der Sohn eines alten französischen Konsuls in Athen, Schläge und wurde in Gegenwart dreier Gendarmen niedergeschlagen, die sich bei dieser Szene gleichgültig verhielten. Am gleichen Tage erhielten andere Franzosen Warnungen, daß eine Liste von sechsundneunzig,Franken' aufgestellt worden sei, die für eine .Züchtigung' vorgesehen wären. Auf Grund dieser Ausschreitungen richteten der französische und der englische Vertreter eine gemeinsame Note an die Regierung König Ottos, worin sie ihm mitteilten, daß für jede Gewalttätigkeit gegen französische und englische Untertanen sofort eine Entschädigung von 25000 Drachmen gefordert werde. Am 12. April wurde der griechischen Regierung ein neues Ultimatum übersandt, worin ein Aufschub von nur fünf Tagen gewährt wurde, das heißt bis zum 17. April. Dieses Ultimatum verlangt von König Otto die Entschädigung für das Unrecht, das den Franzosen zuteil wurde, kategorisches Auftreten gegen den Aufstand und Wiedergutmachung für die verübten und geduldeten Übeltaten. Es wurde keine befriedigende Antwort vom König erwartet. Für den Fall einer ablehnenden Antwort waren die Gesandten entschlossen, alle Beziehungen mit der Regierung abzubrechen und außerdem im Namen Frankreichs und Englands zugleich als die Verwalter Griechenlands aufzutreten, gemäß dem Protokoll, wodurch dieses Königreich begründet worden ist." Die griechische Regierung hat an ihre ausländischen Agenten ein Zirkular gerichtet, worin sie ihr Verhalten während ihres jüngsten Streits mit der Pforte entschuldigt, deren letzte Maßnahmen gegen griechische Untertanen, wie Herr Paikos bemerkt, aus dem Groll der Türkei herrühren, nicht länger mehr das Privileg zu besitzen, Griechenland als türkische Provinz betrachten zu können; und das allein ist auch die Ursache der zwanzig Jahre währenden Intrigen gegen Griechenland, wofür die Aufstände in Thessalien und Epirus nur als Vorwand dienten.
Die Wiener „Presse"[l22] vom 28.April bringt folgenden Aufruf des Fürsten Danilo an die Hauptleute der montenegrinischen Stämme: „ Ich wünsche, daß auch wir Cemagoren (Montenegriner) jetzt wie auch sonst immer uns tapfer und heldenmütig zeigen, gleich den Griechen und anderen Nationen, gleich unsern stets siegreichen Groß- und Urgroßvätern, die uns als ihr Vermächtnis die Freiheit hinterließen, auf welche wir jetzt vor der Welt so stolz sind. Darum will ich jene Soldaten kennen, welche früher konskribiert wurden, daß ich weiß, ob ich mich auf sie verlassen kann, und befehle Euch Kapitänen, daß jeder seinen Stamm versammle. Jeder Soldat sage freiwillig, ob er mit mir kämpfen will gegen den Türken, den gemeinsamen Feind unseres Glaubens und unserer Gesetze. Du, Kapitän, verzeichne jeden solchen Freiwilligen und berichte mir schriftlich darüber nach Cettinje. Das aber sage ich jedem im voraus, wer nicht beabsichtigt, des Todes gewärtig zu sein, der möge zu Hause bleiben. Wer mit mir dann ziehen will, der vergesse Weib, Kind und alles, was er auf dieser Welt besitzt. Ich sage Dir, meine wackere Nation, und Euch, meine lieben Brüder, der nicht mit mir sterben will, bleibe unbehindert zu Hause, denn ich weiß gut, daß ein einziger, der mit mir ins Feld zieht, besser ist als fünfzig, welche furchtsam vor mir herziehen. Darum fordere ich jeden wackeren Mann, der ein mutiges Herz hat und welcher nicht ansteht, für das heilige Kreuz, die rechtgläubige Kirche und das Vaterland sein Blut zu vergießen, auf, daß er mit mir teile Ruhm und Ehre. Sind wir denn nicht Söhne jener alten Montenegriner, welche drei türkische Wesire auf einmal bewältigten, welche französische Truppen schlugen und des Sultans Festungen mit Sturm nahmen? Sind wir keine Landesverächter, mißachten wir nicht den Ruhm unserer alten Helden, so versammeln wir uns und schlagen los im Namen Gottes. Danilo Cettinje, 16. März 1854."
Wir lesen in der „Agramer Zeitung"[123], daß entsprechend diesem Aufruf an die frommen Freibeuter Montenegros die Hauptleute jedes der montenegrinischen Stämme ihre jungen Krieger zusammenriefen und ihnen diese Proklamation mitteilten, wonach 4000 Mann am Altar schworen, unter der Fahne „Für Glauben und Vaterland" zu siegen oder zu sterben. Es ist unmöglich, die interessante Ähnlichkeit dieser Bewegung mit den Losungen und Hoffnungen des preußischen Unabhängigkeitskrieges zu übersehen, der von General Dohna in Königsberg und dem preußischen Treubundtl24] überhaupt in so heiligem Andenken gehalten wird. Der Angriff der Montenegriner auf die Herzegowina über Niksic wird von Fürst Danilo selbst befehligt werden. Der Angriff im Süden (in Richtung Albanien) über Zabljak wird von dem Wojewoden Georgij Petrowitsch geführt werden.
„Die Bergbewohner", schreibt die „Agramer Zeitung", „sind gut mit Munition versehen, und jedes der beiden Korps wird zwölf Dreieinhalbpfünder zur Verfügung haben."
Das Signal zur Eröffnung der Feindseligkeiten wird von Oberst Kowalewskij gegeben werden, der seine Instruktionen direkt aus Petersburg erhält. Nachdem Herr von Manteuffel seine 30000000 Taler bekommen hatte, schickte er die Kammern nach Hause mit einer Rede, der ich folgende äußerst charakteristische Stelle entnehme: »Meine Herren! Sie haben den Kredit bewilligt und dadurch der Regierung die Mittel gewährt, auf dem bisher von ihr verfolgten Wege in voller Einigkeit1 mit Österreich und ganz Deutschland und im Einvernehmen mit den anderen Großmächten fortzuschreiten und Preußen die Stellung zu wahren, die ihm bei der Losung der großen europäischen Frage der Gegenwart gebührt." Lassen Sie mich bemerken, daß in dem telegraphischen Bericht dieser Rede, den die englischen Blätter bringen, das „Einvernehmen mit allen anderen Großmächten" fälschlich in „Einvernehmen mit den Westmächten84 übersetzt wurde. Preußen hat sich ein höheres Ziel gesteckt. Es will im Einvernehmen mit beiden scheinbar im Kriege liegenden Parteien Friedensmaßnahmen vereinbaren - mit wem wohl? Herr von Manteuffel hatte am selben Tage, da er die Kammern entließ, das Glück, eine zweite Rede auf einer Reunion seiner Partei zu halten, eine Rede, die weit genauer und aufschlußreicher war als der obige offizielle Jargon. Diese Rede ist das charakteristischste preußische Produkt unserer Tage. Sie ist in ihrer Art preußische Staatsweisheit in nuce2: „Meine Herren", sagte er, „es gibt ein Wort, mit dem ist viel Mißbrauch getrieben worden: das Wort heißt Freiheit. Ich verleugne dieses Wort nicht; mein Wahlspruch aber ist ein anderer, mein Wahlspruch ist das Wort: Dienst3. Meine Herren, wir alle, die wir hier versammelt sind, wir haben die Pflicht, Gott und dem Könige zu dienen, und das ist mein Stolz, daß ich diesem Könige dienen kann. Das Wort Dienst hält den preußischen Staat, der zerrissen ist in deutsche Gaue4, zusammen. Dieses Wort muß uns alle einigen in den verschiedenen Stellungen, die wir einnehmen. DM Wort Dienst des Königs, das ist das, welches mein Panier ist, es ist das Panier aller derer, die hier versammelt sind, und darin liegt unser Heil für diese Zeit. Meine Herren, der Dienst des Königs, er lebe hoch!" Manteuffel hat recht: Es gibt kein andres Preußen als das, welches für den Dienst des Königs lebt. Karl Marx Geschrieben vom 2. bis 5. Mai. Aus dem Englischen.
1 „in voller Einigkeit" in der „New-York Daily Tribüne" deutsch - 2 in knappster Form - 9 „Dienst" in der „New-York Daily Tribüne" deutsch - 4 ebenso: „in deutsche Gaue*
Karl Marx
Britische Finanzen
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4086 vom 23. Mai 1854] London, Dienstag, 9. Mai 1854. Obwohl das Bombardement von Odessa, das übrigens keine sehr erhebliche Sache gewesen zu sein scheint, die öffentliche Meinung in hohem Grade erregt, gibt es augenblicklich ein anderes Bombardement, welches sie noch viel stärker erhitzt - nämlich das Bombardement auf den Staatssäckel. Bevor wir uns einer Analyse des von Herrn Gladstone in der gestrigen Sitzung des Unterhauses erstatteten Finanzberichts zuwenden, müssen wir einen Rückblick auf seine bisherigen offiziellen Transaktionen werfen. Herr Disraeli hatte während seiner Amtszeit den Zins der Schatzkammerscheine auf den bisher niedrigsten Stand gesenkt, auf IV4 Penny pro Tag; Herr Gladstone jedoch, der darauf brannte, seinen Vorgänger zu übertreffen, ging noch weiter und setzte ihn auf einen Penny herab, wobei er es allerdings verabsäumte, die Umstände zu beachten, daß Geld reichlich vorhanden und billig war, als Herr Disraeli den Zins der Schatzkammerscheine senkte, während es knapp und teuer war, als Herr Gladstone sich anschickte, seinen Rivalen zu übertreffen. Folglich mußte der große Mann drei Millionen für Schatzkammerscheine bezahlen, welche sonst zu der von ihm vorgefundenen Zinsrate weitergelaufen wären. Das war noch nicht alles. Kaum hatte er die Schatzkammerscheine zum großen Nachteil für den Staat eingelöst, mußten sie zu einer höheren Zinsrate wieder ausgegeben werden. Dies war die erste Probe für den erhabenen Genius des Oxforder Kasuisten, von dem man annahm, daß er gleichsam alle Talente in seiner Person vereinigte, nachdem die Koalition aller Talente191 die Tory-Regierung wegen ihres Finanzplans davongejagt und dadurch die Finanzen zum Schwerpunkt ihrer Politik verkündet hatte.
Herrn Gladstone genügte es nicht, sich mit der schwebenden Schuld zu befassen; er machte ein noch seltsameres Experiment mit der konsolidierten Staatsschuld. Im April 1853 trat er im Unterhaus mit einem recht kompliziertenPlan für die Konvertierung der Südsee-Aktien[941sowiean derer Effekten auf, mit einer Regelung, die ihn zwingen könnte, nach Ablauf von sechs und zwölf Monaten neunundeinehalbe Million auszuzahlen. Es ist mit Recht bemerkt worden, daß Gladstone, als er das tat, die geheimen Informationen Sir Hamilton Seymours und die Warnungen Oberst Roses und Konsul Cunninghams vor sich hatte, Mitteilungen, die keinen Zweifel an der feindseligen Absicht der russischen Regierung und dem Herannahen eines europäischen Krieges lassen konnten. Ihre Leser werden sich wohl erinnern, daß ich zur gleichen Zeit, da Herr Gladstone seinen Plan vorbrachte, voraussagte, daß er scheitern und die Regierung am Ende des Finanzjahres genötigt sein werde, eine Anleihe von fünf oder sechs Millionen aufzunehmen.1 Ich traf diese Feststellung, ohne die Verwicklung im Osten irgendwie in Betracht zu ziehen. Überdies ist das scholastische Äußere des Gladstoneschen Plans nicht gerade dazu angetan, die Meute der Börsenjobber zu verlocken; es bedurfte keines großen Scharfsinns, um vorauszusagen, daß es eine Mißernte geben muß, weil wegen der sehr nassen Jahreszeit die Aussaatfläche weit unter dem Durchschnitt lag, daß eine schlechte Ernte auch einen Goldabfluß verursachen würde, daß ein Goldabfluß der bereits vorhandenen Tendenz einer Erhöhung des Zinses auf dem Geldmarkt bestimmt nicht entgegenwirken könnte, und daß es angesichts des allgemeinen Anziehens des Geldmarktes lächerlich wäre, anzunehmen, der Staatsgläubiger werde eine Herabsetzung des Zinses seines Anleihekapitals erlauben und nicht eifrig nach der ihm durch Herrn Gladstones Experiment gebotenen Gelegenheit greifen und auf Auszahlung seines Anleiheanteils zum Nennwert bestehen, um ihn am folgenden Tag mit einem Reingewinn anzulegen. In der Tat, am Ende des Finanzjahrs war Herr Gladstone gezwungen, sechs Millionen der Südsee-Annuitäten zum Nennwert auszuzahlen, die ohne seine Einmischung augenblicklich an der Börse nur für 85 Pfd. St. je 100 Pfd. St. Anleiheänteil Absatz finden würden. So hat er nicht nur unnötigerweise sechs Millionen an Staatsmitteln vergeudet; der Staat erlitt durch diese glänzende Operation einen tatsächlichen Verlust von mindestens einer Million, während der Bestand im Schatzamt, der sich im April 1853 auf 7800000 Pfd.St. belief, im April 1854, während des Krieges, auf nur 2 778000 Pfd. St. reduziert wurde, was eine Einbuße von mehr als 5 Millionen Pfd. St. bedeutet. Das mißlungene Konvertierungs
Schema des Herrn Gladstone liegt allen Geldschwierigkeiten zugrunde, gegen die die Regierung nun ankämpfen muß. Noch 24 Tage vor der Kriegserklärung, am 6. März, bezeichnete Herr Gladstone es als Grundlage aller seiner Operationen, daß die Mittel zur Bezahlung der laufenden Ausgaben im gegenwärtigen Finanzjahr beschafft werden sollten, und erklärte, daß er Maßnahmen ergriffen habe, um die Kriegslasten nur mit den verfügbaren Mitteln zu bestreiten, und daß die Zuflucht zu einer Anleihe auf dem Geldmarkt nicht in Frage käme. Diese Erklärung wiederholte er am 21 .März und sogar noch am 1 I.April. Doch am 2I.April, als das Parlament nicht tagte, erschien eine offizielle Mitteilung, daß eine Anleihe erforderlich wäre und demzufolge Schatzkammerbonds in Höhe von 6 Millionen herausgegeben würden. Wie erinnerlich, sind die Schatzkammerbonds eine Erfindung des Herrn Gladstone, der sie gleichzeitig mit seinem Konvertierungsschema einführte. Der gewöhnliche Schatzkammerschein ist ein Wertpapier mit einer Jahresfrist und wird im allgemeinen am Ende dieser Zeit umgewechselt oder ausgezahlt; seine Zinsrate schwankt um die Marktrate des Zinses. Im Gegensatz dazu tragen die Schatzkammerbonds eine auf Jahre feste Zinsrate und sind eine befristete Annuität, die durch ein einfaches Indossament ohne irgendwelche Kosten für Käufer oder Verkäufer übertragen werden kann. Alles in allem kann man sie als Nachahmungen der Eisenbahn-Obligationen bezeichnen. Als Herr Gladstone sie 1853 zuerst erfand, maßte er sich an, 30 Millionen herauszugeben. Er war auf seine Erfindung so stolz, daß er glaubte, die 30 Millionen würden nicht ausreichen, um die Nachfrage des Publikums zu befriedigen, und daß sie ein hohes Agio abwerfen würden. Jedoch „das Publikum wurde schon mit wenig mehr als 400000 Pfd. St. oder ungefähr einem Siebzigstel der Summe, die nach seiner Erwartung erforderlich sein würde, gesättigt". Um seine Anleihe von 6 Millionen aufzubringen, gab Herr Gladstone drei Sorten von Schatzkammerbonds heraus, eine mit einer vierjährigen, eine mit einer fünfjährigen und eine mit einer sechsjährigen Laufzeit. Um sie für die Börse akzeptabler zu machen, beschloß er, Zinsen auf noch nicht bezahlte Raten zu gewähren. Er gab vor, sie zum Nennwert mit einer Zinsrate von 31l2 Prozent herauszugeben, in Anbetracht der außerordentlichen Vorteile dieser neuen Art der Wertpapiere entspricht das einer Dividende in Höhe von 10 bis 16 Prozent. Nachdem die Ausschreibungen erfolgt waren, stellte es sich heraus, daß nur 800000 Pfd. St. für Schatzkammerbonds der ersten Serie angeboten wurden, die 1858 ausgezahlt werden müssen, während für die anderen Serien der Schatzkammerbonds von 1859 und 1860 überhaupt keine Angebote gemacht
wurden. Das ist noch nicht alles. Gladstone war gezwungen, seine Ware zu herabgesetzten Preisen herauszugeben; er verkauft sie zum Minimum von 983/4 und gibt dazu noch einige Monate Zinsen, so daß er einfach eine Anleihe zu vier Prozent aufnimmt im Austausch für die Südsee-Aktien, die eine dreiprozentige Annuität waren, womit er am Kapital fünfzehn Prozent und an den Zinsen fünfundzwanzig Prozent verliert. Trotz aller Zugeständnisse erlitt er ein völliges Fiasko; er war gezwungen, den Ausschreibungstermin bis zum 8. d.M. zu verlängern und von seiner Forderung in Höhe von 6 Millionen auf die „lächerlich geringe Summe" von 2 Millionen herunterzugehen. Der Mißerfolg war unvermeidlich, weil seine Ware sich weder für eine dauernde Anlage noch für den zeitweiligen Gebrauch gut eignet und weil die Rückzahlung in den Jahren 1858 und 1860 unter den derzeitigen Umständen sehr problematisch erscheint, und schließlich, weil bei einem Anziehen des Marktes Schatzkammerbonds mit einer auf Jahre festen Zinsrate nicht so akzeptabel sein können wie Schatzkammerscheine, deren Zinsen mit dem Steigen des Geldwertes bestimmt erhöht werden. Herr Gladstone begnügte sich nicht damit, drei verschiedene Sorten von Schatzamtpapieren auf den Markt zu werfen; er fühlte sich auch verpflichtet, dem Unterhaus nicht nur ein, sondern zwei und vielleicht sogar drei oder vier Budgets vorzulegen. Im Gegensatz zu früheren Schatzkanzlern erstattete er seinen Finanzbericht vor dem Abschluß des Finanzjahres, am 6. März, damit das Land, wie er sagte, seine Lage klar erkenne. Dem Haus wurde damals mitgeteilt, daß es einen Überschuß von 3 Millionen Pfd. St. gäbe, aber infolge der gefährlichen Lage, in der sie sich befänden, müßte man erhöhte Ausgaben von 6 Millionen Pfd. St. auf sich nehmen, so daß man sich in diesem Jahr auf ein Defizit von 3 Millionen gefaßt machen müßte. Kaum waren acht Wochen vergangen, da beantragte er im Parlament noch ungefähr sieben Millionen, obwohl er gewiß im März genauere Veranschlagungen über den Bedarf an öffentlichen Mitteln gemacht haben sollte. Die neuen, zusätzlich von ihm beantragten Veranschlagungen, sind folgende: Flotte 4550000 Pfd. St. Armee 300000 „ „ Feldzeugamt 640000 „ „ Miliz 500000 „ „ Sonstige Kosten 2100000 „ „ Summa 8090000 Pfd. St.
Die Veranschlagungen für Flotte, Armee und Feldzeugamt wurden bereits am Freitag abend einstimmig beschlossen. Ich gebe Ihnen im folgen
den ein kurzes Resümee der verschiedenen Posten, für die sie verlangt wurden, nämlich: 300000 Pfd.St. wurden bewilligt für eine Verstärkung der Armee um 14799 Mann aller Rangstufen, die die Landstreitkräfte um 40493 Mann über die im vergangenen Jahr bewilligte Zahl hinaus erhöhen würde, d.h. auf 142000Mann. Die zusätzlichen Veranschlagungen für das Feldzeugamt belaufen sich im ganzen auf 742132 Pfd. St. Die Zusatzveranschlagungen für die Flotte betragen 4553731 Pfd.St. und schließen einen Teil des zusätzlichen Etats für das Feldzeugamt ein, die unter folgende Titel klassifiziert werden können:11251
1. Ausgaben für Sold an 11000 Matrosen und Seesoldaten, um die die Flotte verstärkt wurde - 2500 von der Küstenwache und 8500 durch ein Freiwilligenaufgebot 461700 Pfd. St. a) für Soldzahlungen in dem am 3I.März 1855 endenden Jahr an 5000 Matrosen, die weitere 6 Monate im Dienst bleiben 110000 Pfd. St. b) für den Extrasold über den Sold der Matrosen hinaus an 2500Angehörige der Küstenwache und der Deckmannschaft, die jetzt auf See Dienst tun 51700 „ „ c) für die Aufstellung von 5000 Reservematrosen 220000 „ » d) [für die Matrosen der Arktisexpedition auf den Schiffen „Erebus" und „Terror" 8 Jahre doppelter Sold] 80000 „ „ [2. Für die Lebensmittelversorgung der zusätzlich in Dienst gestellten Seesoldaten und Matrosen 200000 „ „] a) für die Versorgung von 5000 Mann für zusätzlich 6 Monate bis zum 31. März 1855 [50000 Pfd. St.] b) zur Zahlung der erhöhten Preise für mehrere Arten von Waren und Proviant 50000 „ „ c) für Proviant, Lebensmittel, Vorräte etc. für zusätzliche 5000 Mann, die für ein Jahr in der Flotte Dienst tun 100000 „ „ 3. Um zusätzliche Angestellte zu beschäftigen, die infolge des Krieges in den Amtern von Whitehall und Somerset House gebraucht werden 5000 „ „ 4. für zusätzliche Ausgaben für Gehälter in den verschiedenen Flotten-, Versorgungs-und Gesundheitseinrichtungen im Lande 2000 „ „ [5. für Lohne von Militärarbeitem etc., die in den verschiedenen Flotten-, Versorgungs- und Gesundheitseinrichtungen des Inlands beschäftigt sind 47000 » >]
6. für zusätzliche Lohne an Militärarbeiter etc. in den Flotteneinrichtungen im Ausland 1 (XX) Pfd. St. 7. für Flottenvorräte 697331 „ „ a) für die Anschaffung von Kohle und anderem Heizmaterial für Dampfschiffe 160000 Pfd. St. b) für die Anschaffung der erforderlichen Vorräte» um die an die Flotte herausgegebenen zu ersetzen 40000 „ „ c) für die Anschaffung und Reparatur von Dampfmaschinerie, da beschlossen wurde, die Reserveflotte mit Dampf auszurüsten 252674 „ „ d) für die Anschaffung von Dampfschiffen, Kanonenbooten etc. 244657 „ „ 8. für neue Anlagen, Verbesserungen und Reparaturen auf den Werften 7000 „ „ 9. für Medikamente und Sanitätsvorräte 30000 „ 10. für diverse Dienstleistungen 6000 „ „ Summa 7457031 Pfd. St.
II. Posten, die, obwohl im Flottenbudget enthalten, sich eher auf die Armee als auf die Flotte beziehen Frachtkosten 3096700 Pfd. St Unter diesen Titel fallen u.a.: a) für monatlich zahlbare Transportkosten einschließlich Dampfschiffen, für die Anschaffung derselben, einschließlich der Heuer von 18 neuen Dampfschiffen und 86 Segeltransportern, davon 75 Fregatten mit Kavallerie 2610200 Pfd. St. b) Frachtgeld für die Schiffe, die für den Truppentransport einschließlich der Zuteilungen gemietet wurden, da die Regierung 18 Dampfschiffe und 86 Segeltransporter für das ganze Jahr übernommen hat 108000 „ „ Gesamtsumme 4553 731 Pfd. St.
Herr Gladstone beantragt die Erhebung neuer Steuern; so soll die doppelte Einkommensteuer bis Kriegsende beibehalten werden, die Malzsteuer von 2 sh. 9 d. auf 4 sh. erhöht, die Steuer auf geistige Getränke um 1 sh. per Gallone in Schottland und 8 d. per Gallone in Irland heraufgesetzt und die Senkung der Zuckersteuer, die am 5. des kommenden Juli in Kraft
treten sollte, aufgeschoben werden. Die Beschlüsse hinsichtlich der geistigen Getränke, des Malzes und des Zuckers wurden unverzüglich gefaßt. Die Steuer auf geistige Getränke wird sich selbst aufheben, da sie den Konsum beträchtlich senken wird. Die Malzsteuer ist eine den konzessionierten Schankwirten und deren Kunden auferlegte Strafe, weil deren offizielles Organ, der „Morning Advertiser", sich durch das Blasen der Kriegstrompete hervorgetan hatte. Die Zuckersteuer ist darauf angelegt, die Marinaden und Konserven dieses Jahres bitterer zu machen. Was die Einkommensteuer betrifft, so ist wohlbekannt, daß Herr Gladstone am 6. März ihr Ende nach sieben Jahren verkündete, nachdem er gerade drei Tage zuvor die Meldungen von Oberst Rose und Konsul Cunningham über die russischen Kriegsvorbereitungen erhalten hatte. Nicht weniger bekannt ist seine Erklärung vom 18. April, wonach es genügen würde, die Einkommensteuer nur für ein halbes Jahr zu verdoppeln. Entweder ist Herr Gladstone der unbekümmertste und kurzsichtigste Schatzkanzler, den es je gegeben hat, oder es war seine bewußte Absicht, im dunkeln zu tappen, um die Öffentlichkeit irrezuführen, zu verwirren und zu täuschen. Die britische Öffentlichkeit hat nicht nur für den Krieg gegen Rußland und für die Quacksalberei und den haarspaltenden Scharfsinn des Herrn Gladstone zu zahlen, sie muß außerdem den Zaren mit den Mitteln für die Kriegführung gegen England versorgen, da, wie Lord John Russell am Freitagabend erklärte, die britische Regierung weiterhin das Kapital und die Zinsen der Schuld, genannt die russisch-niederländische Anleihetl26J, die in dem Vertrag von Wien enthalten ist, zahlen würde. Nach einem der wesentlichsten Übereinkommen dieses Vertrags soll Polen ein unabhängiges, konstitutionelles Königreich bleiben, Krakau den Schutz als freie Stadt erhalten und die Schiffahrt auf allen europäischen Flüssen, also auch auf der Donau, frei sein. Das Mißtrauen in die irische Loyalität muß sehr groß sein, da Lord Palmerston erklärte, die Regierung Ihrer Majestät beabsichtige nicht, in diesem Jahr die irische Miliz einzuberufen; der gleiche Palmerston hatte das Kabinett Russell unter dem Vorwand gestürzt, Lord John habe Irland durch seinen Ausschluß vom Milizgesetz erzürnt. Die Minister haben mit ihrer Eisenbahnbill eine faktische Niederlage erlitten. Sie enthielt nur einige Verordnungen, die von einer Parlamentskommission, welche sich mit diesem Gegenstand beschäftigt hatte, empfohlen worden waren. Da der Eisenbahnbesitz machtvoll organisiert ist, zog es der tapfere Herr Cardwefl im Namen des Ministeriums vor, seine ursprüngliche Bill zurückzuziehen und durch eine zu ersetzen, die die Eisenbahndirektoren selbst entworfen haben, die
weder etwas auferlegt noch den Vorschriften der bereits bestehenden Verordnungen etwas hinzufügt. Als die Bill behandelt wurde, war außer den Eisenbahndirektoren, die Abgeordnete sind, niemand im Parlament anwesend. „Es scheint", schrieb eine Wochenzeitung, „daß die Minister und das Parlament weder stark genug sind, das Eigentum der Anteilbesitzer und die Geldbörsen der Reisenden, noch das Leben und die Gesundheit der Öffentlichkeit gegen die Eisenbahngesellschaften zu schützen, welche sich anmaßen, über diese Werte nach Belieben zu verfügen." Karl Marx
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels
Ein berühmter Sieg
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4098 vom 6. Juni 1854, Leitartikel] Die englischen Zeitungen ergehen sich in zügellosen Ausbrüchen des Spottes über die Tatsache, daß General Osten-Sacken vom Zaren für seine Teilnahme im letzten Gefecht zwischen den alliierten Flotten und den Befestigungen zur Verteidigung des Odessaer Hafens ausgezeichnet wurde. Sie beanspruchen den Sieg in diesem Gefecht durchaus für die Alliierten und stellen das Frohlocken ihres Feindes nur als eine neue Abart moskowitischer Aufschneiderei und kaiserlicher Verlogenheit dar. Da wir weder für den Zaren noch für Osten-Sacken besondere Sympathie hegen, obwohl letzterer zweifellos ein kluger und entschlossener Mann ist (er ist der Bruder des gleichnamigen Generals11271, der in den Fürstentümern ein Armeekorps kommandiert), mag es vielleicht der Mühe wert sein, die Verdienste seines Sieges bei Odessa etwas sorgfältiger in Augenschein zu nehmen und sich, soweit möglich, zu vergewissern, auf welcher Seite die Aufschneiderei und der Schwindel wirklich zu finden sind, besonders da dies der erste und einzige Kampf zwischen den Alliierten und den Russen ist, von dem wir bisher überhaupt einen Bericht haben. Wie aus den offiziellen Dokumenten beider Seiten hervorgeht, war das Ziel des Erscheinens der alliierten Flotte vor Odessa, den Gouverneur aufzufordern, als Genugtuung für die auf eine britische Parlamentärflagge abgefeuerte Salve alle im Hafen befindlichen britischen, französischen und russischen Schiffe auszuliefern. Sie hätten jedoch wissen müssen, daß er eine solche Aufforderung nicht beachten würde, und hätten deshalb darauf vorbereitet sein müssen, das mit Gewalt zu nehmen, was sie vergebens gefordert hatten; falls ihnen das nicht gelänge, erlitten sie eine wirkliche Niederlage, welchen Verlust sie dem Feind auch immer zugefügt hätten. Worum ging es also? Schon das Dekret der russischen Regierung, das Osten-Sacken zum Befehlshaber des von ihm beherrschten gewaltigen, direkt
im Rücken der Donauarmee gelegenen Gebietes ernannte, und die Tatsache, daß er die Stadt Odessa zu seinem Aufenthaltsort wählte, zeigt die Bedeutung, die die Russen diesem Punkt natürlicher- und richtigerweise beimaßen. Odessa ist der Ort, wo ihnen eine feindliche Landung den größten Schaden zufügen könnte. Dort würde der Feind nicht nur alle Ressourcen einer großen Stadt, sondern auch die der Kornkammer ganz Europas finden, dort würde er auch der Kommunikations- und Rückzugslinie der russischen Armee in der Türkei am nächsten sein. Unter diesen Umständen müssen die beiden Admirale gewußt haben, daß die Stadt von einer starken Garnison verteidigt wird und daß jeder Landungsversuch, soviel Matrosen und Seesoldaten sie auch für diesen Zweck aufbringen könnten, sofort zurückgeschlagen werden würde. Aber ohne Landung und die zumindest vorübergehende Besetzung des Hafens, wenn nicht der Stadt, konnten sie nicht erwarten, die dort jetzt festgehaltenen britischen und französischen Schiffe zu befreien. Die einzige ihnen verbliebene Aussicht, ihr Ziel zu erreichen, wäre gewesen, die Stadt selbst aufs heftigste zu bombardieren, um das Verbleiben für jeden Truppenkörper äußerst unsicher zu machen und dann die Befreiung der Schiffe zu versuchen. Doch es ist zweifelhaft, ob dieses Ziel durch eine Bombardierung einer großen Stadt mit sehr breiten Straßen und ausgedehnten Plätzen erreicht worden wäre, wo verhältnismäßig wenig Raum von brennbaren Gebäuden eingenommen wird. Deshalb mußten die Admirale gewußt haben, daß sie, wenn ihre Forderung an Osten-Sacken abgelehnt würde, keine Mittel hätten, sie zu erzwingen. Sie glaubten jedoch, daß nach dem Beschuß einer Parlamentärflagge etwas gegen Odessa unternommen werden müsse, und so führten sie ihren Auftrag aus. Der Zugang nach Odessa von der Seeseite wurde durch sechs Batterien verteidigt, die mit vierzig oder fünfzig Geschützen mit einem Kaliber von 24 und 48 Pfund ausgerüstet gewesen sein müssen. Von diesen Batterien wurden nur zwei oder drei in das Gefecht einbezogen, da sich die Angreifer außer Reichweite der übrigen hielten. Gegen diese Batterien wurden acht Dampffregatten mit ungefähr 100 Kanonen zum Einsatz gebracht; da jedoch bei dieser Art des Manövrierens die Kanonen nur auf einer Seite der Schiffe benutzt werden konnten, wurde die zahlenmäßige Überlegenheit der Geschütze der Alliierten bedeutend vermindert. In bezug auf das Kaliber müssen sie ungefähr gleich gewesen sein, denn wenn ein 24-Pfund-Geschütz einem langen 32pfünder unterlegen ist, müßte eine 48pfünder aus schwerem Metall sicher den 56- oder 68pfündigen Bombenkanonen gleich sein, die keine vollen Pulverladungen aushalten können. Schließlich ist die Verwundbarkeit von Schiffen, verglichen mit Brustwehren und die durch die Schiffsbewegung
verursachte Treffunsicherheit dermaßen, daß selbst eine noch größere zahlenmäßige Überlegenheit der Artillerie einer Flotte über diejenige der Strandbatterien zugunsten der letzteren einige Vorteile läßt. Das beweist der Kampf bei Eckernförde in Schleswig (1849), wo zwei Batterien mit 20 Geschützen ein Schiff mit 84 Geschützen zerstörten, eine Fregatte mit 44 Geschützen kampfunfähig machten und eroberten und zwei schwer bestückte Dampfer zurückschlugen. Solange sich das Gefecht auf die Artillerie und die acht Dampfer beschränkte, kann es als ein ziemlich ebenbürtiges bezeichnet werden, selbst wenn man die Überlegenheit in bezug auf Reichweite und Treffsicherheit der englisch-französischen Geschütze, die sich im Kampf herausgestellt hat, in Betracht zieht. Die Folge davon war, daß das Zerstörungswerk sehr langsam vonstatten ging. Zwei demontierte russische Geschütze waren das einzige Ergebnis eines mehrstündigen Feuers. Schließlich kamen die Alliierten näher und änderten ihre Taktik. Sie gaben das System auf, die Steinwälle der Batterien zu beschießen, und warfen Bomben und Raketen auf die russischen Schiffe und Kriegsanlagen des Hafens und dessen Umkreis. Das wirkte. Das beschossene Ziel war groß genug, daß jede Bombe einen brennbaren Teil treffen konnte, und so brannte bald alles. Das Pulvermagazin hinter jener Batterie am Molenkopf, die den wirksamsten Widerstand geleistet hatte und hauptsächlich angegriffen worden war, flog in die Luft; das und die allgemeine Ausbreitung des Feuers zwangen ihre Besatzung schließlich, sich zurückzuziehen. Die russischen Artilleristen haben an diesem Punkt, wie gewöhnlich, sehr wenig Gewandtheit, aber außerordentliche Tapferkeit bewiesen. Ihre Geschütze und Geschosse müssen sehr mangelhaft gewesen sein und ihr Pulver äußerst schwach. Das war das einzige Ergebnis des ganzen Kampfes. Vier russische Geschütze der Batterie am Molenkopf waren zum Schweigen gebracht worden; all die anderen Batterien hatten kaum Schaden erlitten. Die Explosion des Pulvermagazins kann nicht sehr heftig gewesen sein; aus dessen Lage dicht hinter der Batterie ist ersichtlich, daß es das Magazin nur dieser Batterie war, das lediglich die Munition für einen einzigen Tag enthielt, ungefähr 60 oder 100 Geschosse für jedes der vier Geschütze; wenn wir nun die wahrscheinliche Anzahl der Geschosse abziehen, die im Verlaufe des Tages bereits verbraucht wurden, können kaum mehr als 3 Zentner Pulver verblieben sein. Wie groß der den anderen Anlagen zugefügte Schaden ist, können wir nicht beurteilen; die Alliierten konnten es natürlich nicht feststellen, während die Russen die allerniedrigste Zahl angeben. Den russischen Berichten zufolge scheinen jedoch die niedergebrannten Schiffe kßine Kriegsschiffe gewesen zu
17 Marx/Engels, Werke, Band 10
sein, wie es die englisch-französischen Berichte behaupten; außer einigen Handelsschiffen waren es wahrscheinlich Transportschiffe und Passagierdampfer der Regierung. Wir erhielten übrigens vorher nie eine Nachricht, daß überhaupt russische Kriegsschiffe in Odessa seien. Während des Kampfes gelang es zwei französischen und einem oder zwei englischen Handelsschiffen, aus dem Hafen zu entkommen; sieben britische Handelsschiffe werden dort bis auf den heutigen Tag festgehalten. Damit haben die „tapferen" Admirale ihre Forderung nicht durchgesetzt, und da sie ohne jedes positive Ergebnis den Rückzug antreten mußten, ohne auch nur mehr als eine von sechs Batterien zum Schweigen gebracht zu haben, können sie sich als regelrecht zurückgeschlagen betrachten. Sie haben nur sehr wenig Leute verloren, doch wurden mehrere Schiffsrümpfe beschädigt, und der französische Dampfer „Vauban" wurde einmal durch eine rotglühende Kugel in Brand gesetzt und mußte sich eine Zeitlang aus dem Kampf zurückziehen. Das ist das Fazit dessen, was die britische Presse „glorreiche Nachrichten aus Odessa" nennt und was in den Augen der Briten alle früheren Schwächen des Admirals Dundas wettgemacht hat. Dieser Kampf hat die Erwartungen der englischen Öffentlichkeit soweit erregt, daß uns ernsthaft erzählt wird, die Admirale hätten sich von der außerordentlichen Überlegenheit der Reichweite ihrer Geschütze über die russischen überzeugt, und sich daraufhin endgültig zu dem Versuch entschlossen, Sewastopol zu bombardieren; sie seien in der Tat dorthin gefahren und hätten ein paar Schüsse abgefeuert. Doch das ist der reinste Humbug, denn wer sich je eine Karte Sewastopols angesehen hat, weiß, daß ein Angriff auf jene Stadt und den Hafen, ob Bombardement oder nicht, wenn es sich nicht um ein reines Scheingefecht außerhalb der Bucht handelt, in engen Gewässern und im Bereich von Feldgeschützen stattfinden muß. Wir könnten dieser simplen Darstellung mit Recht hinzufügen, daß die Aufschneiderei unserer englischen Freunde über diesen Kampf - in dem sie völlig zurückgeschlagen wurden und ihr Ziel gänzlich verfehlten — sich nicht sehr von dem allgemeinen Ton ihrer früheren Erörterungen und Erklärungen über den Krieg unterscheiden. Wie auch immer das Ergebnis des Kampfes sein sollte, ein unvoreingenommener Historiker muß, so denken wir, in seinen Berichten aufzeichnen, daß seine frühen Stadien durch ebensoviel Humbug, Verdrehung, Täuschung, diplomatische Tricks, militärische Prahlerei und Lügen von Seiten Englands wie von Seiten Rußlands gekennzeichnet waren.
Geschrieben am 15. Mai 1854. Aus dem Englischen.
Karl Marx
[Der Angriff auf Sewastopol Die Lichtung der Güter in Schottland]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4095 vom 2. Juni 1854] London, Freitag, 19. Mai 1854. Der „erste Angriff auf Sewastopol", von dem die heutigen Zeitungen eine telegraphische Meldung bringen, scheint ungefähr die gleiche glorreiche Heldentat zu sein wie das Bombardement von Odessa, wo beide Seiten den Sieg für sich beanspruchten. Der Angriff soll mit Granaten aus „Ferngeschützen" durchgeführt und gegen die äußeren Befestigungen gerichtet worden sein. Ein Blick auf die Karte beweist, was überdies von jeder militärischen Autorität anerkannt wird, daß man mit Kanonen, gleich welchen Kalibers, weder den Hafen noch die Stadt Sewastopol angreifen kann, ohne in die Bucht hineinzufahren und sich den Verteidigungsbatterien zu nähern, und daß man sie ohne Unterstützung einer ansehnlichen Landungsarmee überhaupt nicht nehmen kann. Deshalb muß die Operation, wenn sie wirklich stattgefunden hat, als Scheinkampf betrachtet werden, der zur Erbauung derselben gobemouches1 unternommen wurde, deren Patriotismus durch die Lorbeeren von Odessa aufgebläht wurde. Die französische Regierung hat Herrn Bourr^e in außergewöhnlicher Mission nach Griechenland gesandt. Er wird von einer Brigade unter dem Kommando von General Foray begleitet und hat den Auftrag, von König Otto die sofortige Zahlung der gesamten Zinsen der einhundert Millionen Francs zu fordern, die Frankreich der griechischen Regierung 1828 als Anleihe gegeben hat. Im Weigerungsfall sollen die Franzosen Athen und diverse andere Punkte des Königreichs besetzen. Ihre Leser werden sich an meine Schilderung des Prozesses der Lichtung der Güter in Irland und Schottland erinnern, durch die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts so viele Tausend Menschen vom väterlichen Boden
1 Einfaltspinsel
gejagt wurden.1 Der Prozeß dauert noch an, und zwar mit einer Energie, die der tugendhaften, vornehmen, religiösen und philanthropischen Aristokratie dieses Musterlandes völlig angemessen ist. Häuser werden über den Köpfen der hilflosen Insassen entweder in Brand gesteckt oder in Stücke geschlagen. Auf dem Landgut Neagaat in Knoydart wurde im vorigen Herbst im Auftrag des Landlords das Haus Donald Macdonalds, eines angesehenen, ehrlichen und hart arbeitenden Mannes, angegriffen. Seine Frau war ans Bett gefesselt und konnte nicht transportiert werden, doch der Faktor und seine Schurken warfen Macdonalds Familie mit sechs Kindern, alle unter 15 Jahren, hinaus und zerstörten das Haus bis auf ein kleines Stück Dach über dem Bett seiner Frau. Der Mann war so erschüttert, daß er den Verstand verlor. Er wurde von Ärzten für geisteskrank erklärt und wandert jetzt umher, seine Kinder zwischen den Ruinen der verbrannten und zerstörten Hütten suchend. Um ihn herum weinen seine hungernden Kinder, doch er erkennt sie nicht, und man läßt ihn ohne Hilfe und Fürsorge frei umherlaufen, da seine Geistesstörung harmlos ist. Zwei verheirateten, hochschwangeren Frauen wurden die Häuser über ihren Köpfen niedergerissen. Sie mußten viele Nächte im Freien schlafen und trugen als Folge davon unter fürchterlichen Qualen Frühgeburten aus, ihr Verstand trübte sich; sie wandern mit ihren großen Familien umher, hilflose und unheilbare Schwachsinnige, furchtbare Zeugen gegen die Klasse von Personen, die britische Aristokratie genannt wird. Selbst Kinder werden durch Schrecken und Verfolgung zum Irrsinn getrieben. In Doune in Knoydart wurden die Häusler vertrieben und suchten in einem alten Lagerhaus Zuflucht. Die Agenten des Gutsbesitzers umstellten dieses Lagerhaus mitten in der Nacht und zündeten es an, weil die armen Ausgestoßenen unter seinem Dach Schutz gesucht hatten. Wie von Sinnen rasten sie vor den Flammen davon, und einige wurden vor Schreck wahnsinnig. Die Zeitung „The Northern Ensign" schreibt:
„Ein Junge wurde geistesgestört; man wird ihn in Gewahrsam nehmen müssen; er springt aus dem Bett und schreit:,Feuer, Feuer!' und versichert den Umstehenden, daß sich in dem brennenden Lagerhaus Männer und Kinder befinden. Wenn es Abend wird, versetzt ihn der Anblick von Feuer in Schrecken. Das furchtbare Bild von Doune. als das Lagerhaus in Flammen stand und den ganzen Bezirk erhellte ~ als Männer, Frauen und Kinder, halb wahnsinnig vor Angst, umherliefen, löste bei ihm einen derartigen Schock aus."
1 Siehe Band 8 unserer Ausgabe, S. 499-505, und Band 9 unserer Ausgabe, S. 157-163
Das ist das Verhalten der Aristokratie gegenüber den arbeitsfähigen Armen, die sie reich machen. Hören Sie nun einiges über ihre Armenfürsorge. Die folgenden Fälle entnehme ich der Arbeit von Herrn Donald Ross aus Glasgow und dem „Northern Ensign".
„ 1. Witwe Matherson, 96 Jahre alt, erhält von der Pfarrei Strath, Skye, monatlich nur 2 sh. 6 d. 2. Murdo Mackintosh, 36 Jahre alt, ist völlig arbeitsunfähig, weil er vor 14 Monaten von einem Wagen gequetscht wurde. Er hat Frau und sieben Kinder; das älteste ist 11, das jüngste 1 Jahr alt. Alles, was die Pfarrei Strath ihm gibt, sind 5 sh. im Monat. 3. Witwe Samuel Campbell, 77 Jahre alt, wohnt in Broadford, Skye, in einem verfallenen Haus, erhielt von der Pfarrei Strath I sh. 6 d. monatlich. Sie beklagte sich, daß es nicht ausreiche, woraufhin die Pfarreibehörden den Betrag nach vielem Murren auf 2 sh. pro Monat erhöhten. 4. Witwe M'Kinnon, 72 Jahre alt, Pfarrei Strath, Skye, hat 2 sh. 6 d. pro Monat. 5. Donald McDagald, 102 Jahre alt, wohnt in Kraydatt. Seine Frau ist 77 Jahre alt, und beide sind sehr gebrechlich. Sie erhalten von der Pfarrei Glenelg jeder nur 3 sh. 4 d. monatlich. 6. Mary McDonald, eine Witwe, 93 Jahre alt und ans Bett gefesselt. Ihr Mann war in der Armee und verlor dort einen Arm. Er starb vor 20 Jahren. Sie erhält von der Pfarrei Glenelg 4 sh. 4 d. monatlich. 7. Alexander Mc Isaak, 53 Jahre alt, völlig arbeitsunfähig, hat eine Frau von 40 Jahren, einen blinden Sohn von 18 Jahren und vier Kinder unter 14 Jahren. Die Pfarrei Glenelg bewilligt dieser unglücklichen Familie insgesamt 6 sh. 6 d. monatlich, knapp 1 sh. monatlich für jeden. 8. Angus McKinnon, 72 Jahre alt, hat eine kranke Frau von 66 Jahren. Sie erhalten jeder 2 sh. 1 d. monatlich. 9. Mary M'Isaak, 80 Jahre alt, gebrechlich und stockblind, erhält von der Pfarrei Glenelg 3 sh. 3 d. monatlich. Als sie um mehr bat, sagte der Inspektor: ,Sie sollten sich schämen, mehr zu fordern, wenn andere weniger haben' und weigerte sich, sie anzuhören. 10. Janet M'Donald oder M'Gillioray, 77 Jahre alt und völlig arbeitsunfähig, erhält nur 3 sh. 3 d. monatlich. 11. Catherine Gillies, 78 Jahre alt und völlig arbeitsunfähig, erhält nur 3 sh. 3 d. monatlich von der Pfarrei Glenelg. 12. Mary Gillies oder Grant, 82 Jahre alt und in den letzten acht Jahren ans Bett gefesselt, erhält achtundzwanzig Pfund Grütze und 8 d. monatlich von der Pfarrei Adnamurchon. Der Armeninspektor hat sie in den letzten zwei Jahren nicht besucht; sie erhält keine medizinische Hilfe, keine Kleidung, keine Nahrung. 13. John M'Eachan, 86 Jahre alt und bettlägerig, wohnt in Auehachraig, Pfarrei Adnamurchon; er erhält gerade ein Pfund Grütze pro Tag und 8 d. monatlich von der erwähnten Gemeinde. Er erhält weder Kleidung noch irgend etwas anderes. 14. Ewan M'Callum, 93 Jahre alt und mit kranken Augen, fand ich bettelnd am Ufer des Crinan-Kanals in der Pfarrei Knapdale, Argyleshire. Er erhält nur 4 sh. 8 d.
monatlich, absolut nichts an Kleidung, medizinischer Hilfe, Brennmaterial oder Unterkunft. Er ist jetzt ein wandelndes Lumpenbündel und ein höchst jämmerlich aussehender Pauper. 15. Kate Macarthur, 74 Jahre alt und bettlägerig, lebt allein in Dunardy, Pfarrei Knapdale. Sie erhält von der Pfarrei 4 sh. 8 d. monatlich, jedoch sonst nichts. Kein Arzt besucht sie. 16. Janet Kerr oder M'Callum, eine Witwe, 78 Jahre alt, in schlechtem Gesundheitszustand, erhält 6 sh. monatlich von der Pfarrei Glassary. Sie besitzt keine Wohnung und erhält keine andere Hilfe als diese Geldunterstützung. 17. Archibald M'Laurin, 73 Jahre alt, Pfarrei Appin, völlig arbeitsunfähig, seine Frau ebenfalls arbeitsunfähig; sie erhalten von der Pfarreihilfe eine Unterstützung von je 3 sh. 4 d. monatlich - kein Brennmaterial, keine Kleidung oder Wohnung. Sie leben in einem elenden, menschenunwürdigen Schuppen. 18. Witwe Margaret M'Leod, 81 Jahre alt, lebt in Lasgach, Pfarrei Lochbroom, erhält 3 sh. monatlich. 19. Witwe John Makenzie, 81 Jahre alt, lebt in Ullapool, Pfarrei Lochbroom. Sie ist stockblind und in sehr schlechtem Gesundheitszustand; sie erhält nur 2 sh. im Monat. 20. Witwe Catherine M'Donald, 87 Jahre alt, Insel Luing, Pfarrei Kilbrandon, stockblind und ans Bett gefesselt. Sie bekommt für den Unterhalt 7 sh. im Monat, von denen sie eine Krankenpflegerin bezahlen muß. Ihr Haus fiel zusammen, und doch lehnte die Pfarrei ab, ihr eine Unterkunft zu beschaffen. Sie liegt in einem offenen Nebengebäude auf der kahlen Erde. Der Inspektor weigert sich, irgend etwas für sie zu tun." Doch hiermit ist die Roheit noch nicht zu Ende. In Strathcarron fand ein Gemetzel statt. Durch die Grausamkeit der durchgeführten und der noch zu erwartenden Austreibungen zur Raserei gebracht, sammelten sich eine Anzahl Frauen auf den Straßen, als sie hörten, daß mehrere Beamte des Sheriffs kämen, um die Pächter hinauszuwerfen. Die letzteren waren jedoch Steuereinnehmer und keine Beamten des Sheriffs; doch als sie hörten, daß eine solche Verwechslung vorlag, amüsierten sie sich darüber. Anstatt den Irrtum aufzuklären, gaben sie sich für Beamte des Sheriffs aus und sagten, sie kämen, um die Leute hinauszuwerfen, und wären entschlossen, dies auch durchzuführen. Als die Gruppe Frauen darüber sehr erregt wurde, hielten die Beamten ihnen eine geladene Pistole vor. Was dann folgte, entnehmen wir dem Brief von Herrn Donald Ross, der von Glasgow nach Strathcarron fuhr und zwei Tage in dem Bezirk damit verbrachte, Informationen zu sammeln und die Verwundeten zu untersuchen. Sein Brief trägt das Datum Royal Hotel, Oain, den 15.April 1854, und hat folgenden Inhalt: „Mein Bericht soll das schändliche Verhalten des Sheriffs beweisen. Er warnte die Leute nicht vor seiner Absicht, die Polizei auf sie loszulassen. Er hat das Aufruhrgesetz nicht verlesen. Er ließ ihnen keine Zeit, auseinanderzugehen, sondern rief im gleichen Augenblick, als er mit seinen mit Knüppeln versehenen Leuten nahte: .Platz da!' und
im nächsten Augenblick sagte er: »Schlagt sie nieder!' und augenblicklich folgte eine Szene, die jeder Beschreibung spottet. Die Polizisten schlugen mit ihren schweren Knüppeln auf die Köpfe der unglücklichen Frauen und warfen sie zu Boden; als sie unten lagen, sprangen und trampelten sie auf ihnen herum und traten sie mit unbändiger Brutalität in jeden Körperteil. Der Platz war bald mit Blut bedeckt. Die Schreie der Frauen, der Jungen und Mädchen, die sich in ihrem Blute wälzten, waren herzzerreißend. Einige der Frauen, die von den Polizisten verfolgt wurden, sprangen in den tiefen und reißenden Carron, sich lieber seiner Gnade als der der Polizisten oder des Sheriffs anvertrauend. Es gab Frauen, denen durch die Knüppel der Polizisten Haarbüschel ausgerissen wurden, und einem Mädchen wurde ein Stück Fleisch, ungefähr sieben Zoll lang und eineinviertel Zoll breit, mehr als ein Viertel Zoll dick, durch einen heftigen Schlag mit dem Knüppel aus ihrer Schulter herausgeschlagen. Ein junges Mädchen, das Jediglich zugesehen hatte, wurde von drei Polizisten verfolgt. Sie schlugen sie auf die Stirn, verletzten sie am Kopf schwer und traten sie, als sie hingefallen war. Der Doktor trennte aus der Wunde ein Stück der Kappe, die der Stock des rasenden Polizisten in den Schädel hineingetrieben hatte. Die Spuren der Schuhnägel sind noch immer auf ihrem Rücken zu sehen. Infolge der brutalen Schläge der Polizisten befinden sich noch immer dreizehn Frauen in Strathcarron in einem schrecklichen Zustand. Dreien von ihnen geht es so schlecht, daß ihr behandelnder Arzt keine Hoffnung auf eine Genesung hat. Es ist meine eigene, feste Überzeugung, die ich durch das Aussehen dieser Frauen und die gefährliche Natur ihrer Wunden in Verbindung mit den von mir durchgearbeiteten medizinischen Berichten gewonnen habe, daß nicht die Hälfte der verwundeten Personen wieder genesen wird, und daß alle jene, die noch eine Weile dahinsiechen, an ihrem Körper traurige Zeugnisse der schrecklichen Brutalität aufweisen werden, der sie zum Opfer fielen. Unter den Schwerverwundeten befindet sich eine hochschwangere Frau. Sie war nicht in der Menge, die mit dem Sheriff zusammenstieß, sondern sah aus beträchtlicher Entfernung nur zu; dennoch wurde sie von den Polizisten heftig geschlagen und gestoßen, und ihr Zustand ist sehr ernst."
Wir können außerdem hinzufügen, daß die Zahl der Überfallenen Frauen achtzehn betrug. Der Name des Sheriffs ist Taylor. Solch ein Bild bietet die britische Aristokratie im Jahre 1854. Die Behörden und die Regierung haben vereinbart, daß die gerichtliche Verfolgung Gowells, Grimshaws und der anderen Streikführer von Preston eingestellt werden soll, wenn die Untersuchung gegen die Polizeirichter und die Baumwoll-Lords Prestons11281 ebenfalls eingestellt wird. Diese Vereinbarung wurde durchgeführt. Es heißt, daß die vierzehntägige Vertagung des Antrages von Herrn Duncombe auf Ernennung eines Untersuchungskomitees wegen des Verhaltens der Prestoner Polizeirichter eine Folge der obigen Vereinbarung ist. Karl Marx Au8 dem Englischen.
Friedrich Engels
Die Kriegstaten in der Ostsee und im Schwarzen Meer Englisch-französisches Operationssystem11201
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 4101 vom 9. Juni 1854] London, Dienstag, 23. Mai 1854. Endlich haben wir über eine Heldentat der „britischen Teerjacken" zu berichten. Die Flotte des Admirals Napier hat nach achtstündigem Bombardement das Fort Gustavsvärn (aus dem Schwedischen übersetzt „Gustavs Verteidigung oder Feste", „Gustavswehr") zerstört und die Besatzung, 1500 Mann stark, gefangengenommen. Dies ist der erste ernstliche Angriff auf kaiserlichrussischen Besitz und beweist zumindest, im Vergleich zu der schläfrigen und wirkungslosen Odessaer Affäre1, daß Charles Napier nicht gewillt ist, seinen eigenen Ruf und den seiner Familie zu opfern, wenn er es verhindern kann. Das Fort Gustavsvärn liegt an der äußersten Spitze der Halbinsel, die die südwestliche Ecke Finnlands bildet, nahe dem Leuchtturm von Hangöudd, der allen Schiffern, die den Finnischen Meerbusen aufwärts fahren, als Wahrzeichen bekannt ist. Die militärische Bedeutung des Forts ist nicht sehr groß, es sichert einen sehr kleinen Land- und Seeabschnitt, und die angreifende Flotte hätte es ohne jedes Risiko hinter sich lassen können. Das Fort selbst kann nicht groß gewesen sein, wie aus der Zahl der Besatzung hervorgeht. Man möge uns jedoch verzeihen, wenn wir die taktische Würdigung der Affäre so lange verschieben, bis uns ausführlichere Einzelheiten vorliegen, herrscht doch selbst in der britischen Admiralität und im Kriegsministerium eine gesegnete Unwissenheit über die wahre Stärke und Bedeutung der baltischen Küstenverteidigungen Rußlands. Vorläufig können wir nur soviel sagen: Der achtstündige Beschuß beweist eine tapfere, wenn nicht sehr geschickte Verteidigung durch die
Russen und kündigt eine größere Hartnäckigkeit bei der Verteidigung der Festungen ersten Ranges in diesem Meerbusen an, als vorauszusehen war. Andrerseits bedeuten die 1500 Kriegsgefangenen für Rußland überhaupt keinen nennenswerten Verlust (sie kommen etwa einem zweitägigen Durchschnittsverlust durch Krankheit an der Donau gleich), während sie Napier ernsthafte Verlegenheiten bereiten müssen. Was in aller Welt soll er mit ihnen anfangen? Er kann sie weder auf Ehrenwort noch ohne Ehrenwort freilassen, und er kann sie nach keinem näher gelegenen Ort bringen als nach England. Um diese 1500 Mann sicher zu transportieren, würde er mindestens drei Linienschiffe oder doppelt so viele Dampffregatten brauchen. Gerade die Folgen seines Sieges würden ihn also für zwei oder drei Wochen lahmlegen. Wie kann er schließlich, da er keine Landungstruppen hat, das eroberte Gebiet besetzen? Ich sehe keinen Weg, ohne seine schwachbemannte Flotte erneut kampfunfähig zu machen, indem er von jeder Schiffsbesatzung Matrosen und Seesoldaten abzieht. Dieser Umstand bringt uns auf ein Thema, das augenblicklich mit großer Heftigkeit in der britischen Presse erörtert wird, obwohl, wie gewöhnlich, viel zu spät. Plötzlich hat die britische Presse herausgefunden, daß eine Flotte, und wäre sie noch so mächtig, ziemlich wertlos ist, wenn sie nicht Truppen an Bord hat, stark genug, um an Land gehen und dort den Sieg vollenden zu können, den Schiffsgeschütze selbst im günstigsten Falle nur unvollständig über Landbefestigungen davontragen können. Es scheint, als sei bis Ende des letzten Monats keinem Menschen in England, weder in offiziellen militärischen Kreisen noch in offiziellen Kreisen, die die öffentliche Meinung lenken, jemals diese Idee gekommen. Nun sind alle verfügbaren Truppen und Transportmittel nach dem Schwarzen Meer dirigiert worden, und die gesamte Landmacht, die Order für die Ostsee hat, besteht aus einer Brigade von 2500 Mann, von denen noch nicht ein einziger eingeschifft wurde, und nicht einmal der Stab ist bis jetzt organisiert. Die Franzosen ihrerseits hinken jämmerlich hinterdrein. Ihre Ostseeflotte - man erinnere sich des großsprecherischen Berichts des Ministers Ducos: „Eure Majestät haben die Ausrüstung einer dritten Flotte angeordnet; Eurer Majestät Befehle sind ausgeführt worden" -, diese großartige Armada, die bis Mitte März zum Auslaufen bereit sein und zehn Linienschiffe haben sollte, hat niemals mehr als fünf Linienschiffe umfaßt, die nun mit einer Fregatte und einer Anzahl kleinerer Schiffe langsam den Großen Belt entlangkriechen; sie brauchten von Brest aus volle drei Wochen, um ihn zu erreichen, obwohl fortwährend westliche Winde wehten. Das große Feldlager von Saint Omer, das 150000, im Bedarfsfalle sogar 200000 Mann
für eine baltische Expedition aufnehmen sollte, war auf dem Papier schon vor drei oder vier Wochen gebildet, jedoch ist bis heute noch keine einzige Brigade zusammengezogen worden. Dabei könnten die Franzosen mit Leichtigkeit 10000 bis 15000 Mann Infanterie und Feldartillerie aus ihren Küstengarnisonen entbehren, ohne erst durch übertriebene theatralische FeldlagerDemonstrationen großes Aufheben zu machen; wo aber sind die Transportmittel? Man müßte britische Handelsschiffe mieten, und diese würden entsprechend der Geschwindigkeit der französischen Flotte vier bis sechs Wochen brauchen, bis eines nach dem andern den Kriegsschauplatz erreicht; und wo könnten die Truppen landen, wo die Brigaden und Divisionen zusammengezogen, wo die Stäbe und die Kommissariate organisiert werden? In diesem fehlerhaften Kreislauf bewegen sich die Alliierten. Um in der Ostsee landen zu können, müssen sie erst eine Insel oder Halbinsel erobern, wo sie die Truppen für den Angriff konzentrieren und organisieren können; und um diese unerläßliche Vorbedingung zu schaffen, müssen sie zuerst eine Landstreitmacht an Ort und Stelle haben. Sobald sie einen guten Admiral haben, der so viel vom Festlandskrieg versteht, wie notwendig ist, um eine Landstreitmacht zu befehligen, können sie sich leicht aus dieser Klemme ziehen; Charles Napier ist diesen Dingen zweifellos gewachsen, denn er hat schon viel zu Lande gekämpft. Aber wie kann man so etwas wie Einigkeit im Handeln erwarten, wo ein Aberdeen und ein Palmerston die Herrschaft in Händen haben, wo sich vier verschiedene Ministerien in die Angelegenheiten der Armee mischen, wo Heer und Flotte ewig in Streit liegen und wo die französischen und die englischen Streitkräfte verbündet sind, die sich gegenseitig Ruhm und Erfolg neiden. Auch kann jetzt vor Ende Juni keine kampffähige Landstreitmacht zur Ostsee gebracht werden; und wenn binnen vier Monaten der Krieg nicht entschieden und der Friede nicht geschlossen ist, so werden sämtliche Eroberungen preisgegeben werden müssen; Truppen, Geschütze, Schiffe, Proviant, alles wird zurückgezogen oder im Stich gelassen werden müssen, und während der sieben Wintermonate werden die Russen wieder im Besitz ihres gesamten Ostseegebiets sein. Daraus geht klar genug hervor, daß für das laufende Jahr keine ernstlichen und entscheidenden Angriffe auf das baltische Rußland in Frage kommen; es ist zu spät. Nur wenn sich Schweden den Westmächten anschließt, haben sie eine Operationsbasis in der Ostsee, die ihnen gestattet, einen Winterfeldzug in Finnland zu führen. Hier haben wir also wieder einen fehlerhaften Kreislauf, allerdings fehlerhaft, ebenso wie der frühere, nur für den Kleinmütigen. Wie kann man von Schweden erwarten, daß es sich den Mächten anschließt, wenn es nicht von deren ernsten Absichten dadurch überzeugt wird, daß sie eine Landstreitmacht
schicken und einen Teil Finnlands besetzen? Wie aber kann man andrerseits diese Streitkräfte dorthin senden, wenn man sich nicht Schwedens als Operationsbasis versichert hat? Wahrlich, Napoleon der Große, der „Schlächter" so vieler Millionen Menschen, war mit seiner kühnen, entschiedenen und niederschmetternden Kriegführung ein Muster an Menschlichkeit im Vergleich zu den unschlüssigen „staatsmännischen" Leitern dieses russischen Krieges, denen schließlich nichts übrigbleiben wird, als in noch weit größerem Umfang Menschenleben und bares Geld zu opfern, wenn sie weiter so verfahren wie bisher. Wenden wir uns nach dem Schwarzen Meer, so sehen wir, daß sich die vereinigten Flotten vor Sewastopol mit einer kleinen harmlosen Schießübung auf eine weite Distanz gegen ein paar armselige Außenwerke dieser Festung vergnügen. Dieses harmlose Spiel wurde, wie man uns berichtet, vier Tage lang von der Mehrzahl der Schiffe fortgeführt, und da die Russen nur zwölf Linienschiffe seeklar hatten, ließen sie sich während dieser ganzen Zeit nicht außerhalb des Hafens blicken, zum großen Erstaunen des Admirals Hamelin (siehe seine Berichte vom l.und 5.Mai)[130). Dieser heldenmütige Seemann ist freilich alt genug, sich der Zeit zu erinnern, da französische Geschwader durch weit schwächere englische nicht nur blockiert, sondern sogar in den Häfen angegriffen wurden; und es wäre wirklich ein wenig zuviel verlangt, daß das schwächere russische Geschwader Sewastopol verlassen sollte, um von einer zweimal so großen Anzahl von Schiffen zerstört und versenkt zu werden und sich so selbst zur Sühne des „abscheulichen Verbrechens von Sinope" aufzuopfern. Mittlerweile sind zwei Linienschiffe (Schraubendampfer) und sieben Dampffregatten auf dem Wege nach Tscherkessien. Sie sollten die Küsten der Krim genau erkunden und dann die Forts an der tscherkessischen Küste zerstören. Doch sollten an diesem Angriff nur drei Dampffregatten teilnehmen, während die übrigen vier die Weisung hatten, zur Flotte zurückzukehren, sobald die Krim gründlich rekognosziert war. Nun sind, soweit wir wissen, die drei Forts, die die Russen an der tscherkessischen Küste noch besetzt halten - Anapa, Suchum Kaie und Redut Kaie -, von beträchtlicher Stärke und auf Höhen erbaut, die die offene See beherrschen (ausgenommen Redut Kaie), und es ist zweifelhaft, ob die ausgeschickten Kräfte ausreichen werden, ihre Absichten auszuführen, um so mehr, da sie nicht von Landungstruppen begleitet werden. Das Geschwader, das von Konteradmiral Lyons befehligt wird, soll gleichzeitig mit den Tscherkessen, besonders mit ihrem Anführer Schamyl, in Verbindung treten. Was Lyons mit Schamyl verhandeln soll, ist nicht bekannt; aber das eine ist gewiß, er kann ihm nicht das bringen, was
er am notwendigsten braucht, nämlich Waffen und Munition; denn Kriegsschiffe im Einsatz haben keinen freien Raum, um Fracht an Bord zu nehmen. Zwei lumpige Handelsbriggs oder Schoner, die mit solchen wertvollen Gütern beladen wären, würden weit bessere Dienste leisten als die moralische, aber völlig wertlose Unterstützung durch fünf Kriegsschiffe. Wir erfahren gleichzeitig, daß die türkische Flotte demselben Ziele entgegensegelt und die zur Bewaffnung der Tscherkessen notwendigen Dinge mit sich führt. So haben also die zwei verbündeten Flotten denselben Auftrag - aber die eine weiß nichts von der anderen. Verteufelt noch einmal, das ist Einheit des Planes und der Aktion! Schließlich wird eine die andere noch für Russen halten, und es wird ein famoses Schauspiel für die Tscherkessen werden, wenn sich die beiden Geschwader gegenseitig beschießen! Die alliierten Landtruppen verbrüdern sich mittlerweile in Gallipoli und Skutari auf ihre Art, indem sie ungeheure Mengen des dortigen schweren und süßen Weines vertilgen. Die zufällig nüchtern gebliebenen beschäftigen sich mit dem Bau von Feldschanzen, die so gelegen und so gebaut sind, daß man sie weder jemals angreifen noch jemals verteidigen wird. Bedürfte es noch eines Beweises dafür, daß weder die britische noch die französische Regierung die Absicht hatten, Freund Nikolaus ernstlich Schaden zuzufügen, so wird er auch dem Blindesten geliefert durch die Art, wie die Truppen ihre Zeit verbringen. Um einen Vorwand für das Fernhalten ihrer Truppen vom Kriegsschauplatz zu haben, lassen die alliierten Befehlshaber sie eine fortlaufende Linie von Feldschanzen über die Landenge des Thrakischen Chersones errichten. Jedermann und besonders jeder französische Ingenieur weiß, daß fortlaufende Verteidigungslinien bei Feldbefestigungen fast unter allen Umständen zu verwerfen sind; es war jedoch der englisch-französischen Armee von Gallipoli vorbehalten, fortlaufende Verschanzungen auf einem Gebiet anzulegen, das zu zwei Dritteln von Höhen beherrscht wird, die nach jener Seite zu liegen, von der der Feind erwartet wird. Da aber trotz aller Bemühungen, möglichst langsam vorwärtszukommen, dennoch selbst bei diesem Schneckentempo eine Art Fortschritt gemacht werden muß, so sollen, wie wir erfahren, 15000 Franzosen nach Varna gehen - in welcher Eigenschaft? - als Besatzung der Festung um was dort zu tun? - um an Wechselfieber und Seuchen zu sterben. Nun, wenn diese Kriegführung irgendeinen Sinn haben soll, so müßten die Befehlshaber doch wissen, daß die Türken gerade die Kunst des Manövrierens in freiem Felde nicht verstehen, in der die englisch-französischen Truppen Meister sind; daß aber andrerseits die Türken die Verteidigung von Wällen, Schanzen und sogar Breschen gegen anstürmende Truppen so
meisterhaft beherrschen, daß sich weder Engländer noch Franzosen darin mit ihnen messen können. Darum und weil Varna mit einer türkischen Besatzung das zustande brachte, was noch keiner Festung je vorher gelang, das heißt, daß es sich neunundzwanzig Tage lang hielt, nachdem drei sturmreife Breschen in die Wälle gelegt worden waren, darum nimmt man die halbdisziplinierten Türken aus Varna fort und schickt sie den Russen in freiem Felde entgegen, während man die gutgedrillten Franzosen, die zum Angriff ausgezeichnet geeignet, zur längeren Verteidigung jedoch nicht ausdauernd genug sind, nach Varna zur Bewachung der Wälle schickt. Aus anderen Berichten geht hervor, daß alle diese Bewegungen nur Ablenkungsmanöver sind. Es heißt, daß sich große Dinge vorbereiten. Man beabsichtige gar nicht, die verbündeten Truppen in der Ostsee operieren zu lassen, sondern sie sollen mit Hilfe der Flotten im Rücken der Russen großartige Heldentaten vollbringen. Sie sollen in Odessa landen, den Rückzug des Feindes abschneiden und sich in seinem Rücken mit den Österreichern in Transsylvanien vereinigen. Außerdem sollen sie Detachements nach Tscherkessien senden. Schließlich sollen sie 15000 bis 20000 Mann für den Angriff auf Sewastopol von der Landseite her stellen, während die Flotten den Hafen bezwingen sollen. Werfen wir nur einen Blick auf den bisherigen Verlauf des Krieges und die ihm vorangegangenen diplomatischen Verhandlungen, so haben sich diese Gerüchte zweifellos sehr bald für uns erledigt. Sie kamen aus Konstantinopel gleich nach der Ankunft des Marschalls Leroy, gewöhnlich Saint-Arnaud genannt. Wer die ehemalige Geschichte dieses würdigen Herrn kennt (ich werde sie Ihnen in den nächsten Tagen schicken), der erkennt auch in dieser Prahlerei den Mann wieder, der sich zu seinem hohen Rang hinaufgeprahlt hat, obwohl er als Armeeoffizier dreimal kassiert wurde. Fassen wir die Kriegslage kurz zusammen: England und besonders Frankreich werden „unvermeidlich, wenn auch widerstrebend" dahin gedrängt, den größten Teil ihrer Kräfte im Orient und in der Ostsee einzusetzen, das heißt an zwei vorgeschobenen Flügeln einer militärischen Position, die kein näheres Zentrum hat als Frankreich. Rußland gibt seine Küsten, seine Flotte und einen Teil seiner Truppen preis, um die Westmächte zu verleiten, sich vollständig in dieser in Widerspruch zu jeder Strategie stehenden Maßnahme zu engagieren. Sobald dies geschehen ist, sobald die nötige Zahl der französischen Truppen nach weit entlegenen Ländern geschickt ist, werden sich Österreich und Preußen für Rußland erklären und mit überlegenen Kräften auf Paris marschieren. Gelingt dieser Plan, so hat LouisNapoleon keine Truppen mehr, um dem Stoß zu widerstehen. Aber eine
Macht gibt es, die sich bei jedem plötzlichen Ereignis „in Bewegung setzen" kann und die auch Louis Bonaparte und seine feilen Knechte „in Bewegung setzen" kann, wie sie vordem schon manch einen Herrscher in Bewegung gesetzt hat. Diese Macht vermag allen diesen Invasionen Trotz zu bieten, sie hat dies dem vereinigten Europa schon einmal bewiesen. Und diese Macht, die Revolution, seid versichert» wird an dem Tage nicht fehlen, wo man ihrer Aktion bedarf. Karl Marx
Geschrieben am 22. Mai 1854. Aus dem Englischen.

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