parte dos tomo 12

rvariiviarx Der Aufstand, in Indien
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5082 vom 4. August 1857] London, 17. Juli 1857 Am 8. Juni war gerade ein Monat vergangen, seit Delhi in die Hände der revoltierenden Sepoys fiel und durch sie ein Mogul zum Herrscher proklamiert wurde. Auch nur der Gedanke, daß die Meuterer die alte Hauptstadt Indiens gegen die britischen Truppen halten könnten, wäre unsinnig. Delhi ist nur durch einen Wall und einen einfachen Graben befestigt, während die Höhen, die es umgeben und beherrschen, bereits im Besitz der Engländer sind, die die Übergabe der Stadt.in sehr kurzer Zeit erzwingen können, sogar ohne die Mauern zu beschießen, indem sie kurzerhand die Wasserversorgung abschneiden. Überdies ist ein bunt durcheinandergewürfelter Haufen meuternder Soldaten, die ihre eigenen Offiziere umgebracht, die Fesseln der Disziplin zerrissen haben und denen es nicht gelungen ist, einen Mann zu finden, dem sie den Oberbefehl übertragen könnten, gewiß eine Truppe, die wohl kaum imstande ist, einen ernsthaften und anhaltenden Widerstand zu organisieren. Wie um die Verwirrung noch verwirrter zu machen, schwellen die bunt durcheinandergewürfelten Reihen der Verteidiger von Delhi täglich durch frisch ankommende neue Kontingente von Meuterern aus allen Teilen der bengalischen Präsidentschaft12143 an, die sich, wie nach einem vorher verabredeten Plan, in die todgeweihte Stadt werfen. Die beiden Ausfälle, die die Meuterer am 30. und 31. Mai wagten und bei denen sie jedesmal unter schweren Verlusten zurückgeschlagen wurden, scheinen mehr aus Verzweiflung als aus einem Gefühl von Selbstvertrauen oder Stärke unternommen worden zu sein. Das einzige, worüber man sich wundern muß, ist die Schwerfälligkeit der britischen Operationen, die jedoch bis zu einem gewissen Grade durch die Unbilden der Jahreszeit und den Mangel an Transportmitteln erklärt werden können. Französische Meldungen berichten, daß außer General
Anson, dem Oberbefehlshaber, schon etwa 4000 europäische Soldaten der mörderischen Hitze zum Opfer gefallen sind, und selbst die englischen Zeitungen geben zu, daß die Soldaten in den Gefechten vor Delhi mehr unter der Sonne als unter den feindlichen Kugeln zu leiden hatten. ^Infolge der spärlichen Transportmittel brauchten die britischen Hauptstreitkräfte, die in Ambala stationiert waren, etwa siebenundzwanzig Tage für ihren Marsch nach Delhi, so daß sie im Durchschnitt etwa eineinhalb Stunden täglich marschierten. Eine weitere Verzögerung verursachte der Umstand, daß es in Ambala keine schwere Artillerie gab, woraus sich die Notwendigkeit ergab, einen Belagerungstrain vom nächsten Arsenal, das sich erst in Phillaur am anderen Ufer des Satledsch befand, herüberzuschaffen. Überdies kann die Nachricht vom Fall Delhis täglich erwartet werden. Doch was dann? Wenn die Tatsache, daß die Rebellen einen Monat lang das althergebrachte Zentrum des indischen Reiches unangefochten im Besitz hatten, vielleicht als das stärkste Ferment wirkte, wodurch die bengalische Armee völlig auseinanderbrach, sich Meuterei und Fahnenflucht von Kalkutta bis zum Pandschab im Norden und Radschputana im Osten ausbreiteten und die britische Autorität von einem Ende Indiens bis zum anderen erschüttert wurde, so könnte man keinen größeren Fehler begehen, als anzunehmen, daß der Fall Delhis, wenn er auch Bestürzung in den Reihen der Sepoys hervorrufen mag, genügen sollte, um die Rebellion zu ersticken, ihren Fortschritt aufzuhalten oder die britische Herrschaft wiederherzustellen. Aus der ganzen bengalischen Eingeborenenarmee, die etwa 80 000 Mann zählte darunter etwa 28 000Radschputen,23 000Brahmanen1221 13 OOOMohammedaner, 5000 Hindus niederer Kasten, und der Rest Europäer -, sind 30 000 infolge von Meuterei, Fahnenflucht oder Entlassung aus dem Dienst verschwunden. Was den Rest dieser Armee betrifft, so haben mehrere Regimenter öffentlich erklärt, daß sie treu bleiben und die britische Obrigkeit unterstützen werden, außer in der Sache, die die eingeborenen Truppen jetzt verfechten: sie werden die Behörden nicht gegen die meuternden Eingeborenenregimenter unterstützen, sondern werden im Gegenteil ihren „bhaies" (Brüdern) helfen. Daß es so ist, hat sich in fast jedem Standort gezeigt, von Kalkutta angefangen. Eine Weile blieben die Eingeborenenregimenter passiv; doch sobald sie sich stark genug fühlten, meuterten sie. Ein Indienkorrespondent der Londoner „Times" läßt keinen Zweifel an der „Loyalität" der Regimenter, die sich noch nicht offen entschieden haben, und der einheimischen Bevölkerung, die noch nicht gemeinsame Sache mit den Rebellen gemacht hat. „Wenn man liest", schreibt er, „daß alles ruhig ist, muß man es so verstehen, daß die eingeborenen Truppen noch nicht zur offenen Meuterei übergegangen sind, daß
der unzufriedene Teil der Einwohner noch nicht offen rebelliert, daß sie entweder zu schwach sind oder sich zu schwach fühlen, oder daß sie auf einen günstigeren Zeitpunkt warten. Wo man von der .Loyalitätserklärung' in irgendeinem der bengalischen Eingeborenenregimenter, Kavallerie oder Infanterie, liest, muß man es so verstehen, daß nur die Hälfte der erwähnten Regimenter, die uns so gewogen sein sollen, wirklich treu ist; die andere Hälfte spielt nur Theater, um die Europäer um so leichter überrumpeln zu können, wenn der geeignete Moment gekommen ist, oder um ihren Argwohn zu zerstreuen und dann eher den meuternden Kameraden helfen zu können." Im Pandschab ist die offene Rebellion nur durch Auflösung der Eingeborenentruppen verhindert worden. In Audh kann man von den Engländern nur sagen, daß sie Lakhnau, die Residenz1222', halten, während überall sonst die Eingeborenenregimenter revoltierten, mit der Munition entkamen, alle Bungalows niederbrannten und sich mit den Einwohnern vereinigten, die zu den Waffen griffen. Die wirkliche Lage der englischen Armee kommt am besten darin zum Ausdruck, daß man es für notwendig erachtet hat, sowohl im Pandschab wie im Radschputana fliegende Korps zusamm< nzusteilen. Das bedeutet, daß sich die Engländer weder auf ihre Sepoy-Truppen noch auf die Eingeborenen verlassen können, um die Verbindung zwischen ihren zerstreuten Kräften aufrechtzuerhalten. Wie die Franzosen während des SpanienkriegesE22oj haben sie nur den von ihren eigenen Truppen gehaltenen Geländeabschnitt in der Hand und die nächste Umgebung, die von diesem Abschnitt beherrscht wird; was die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen den zertrennten Gliedern ihrer Armee anbetrifft, so sind sie auf fliegende Korps angewiesen, deren Verwendung schon an sich höchst unsicher ist und naturgemäß im gleichen Maße an Wirksamkeit verliert, wie sie sich über ein größeres Gebiet erstreckt. Die augenblickliche Unzulänglichkeit der britischen Streitkräfte ist ferner dadurch erwiesen, daß sie gezwungen waren, den Abtransport der Truppenkassen aus unruhigen Standorten von den Sepoys selbst vornehmen zu lassen, die ohne Ausnahme auf dem Marsch rebellierten und mit den ihnen anvertrauten Schätzen flüchteten. Da die aus England abtransportierten Truppen, selbst im besten Falle, nicht vor November eintreffen werden, und da es noch gefährlicher wäre, europäische Truppen aus den Präsidentschaften12141 Madras und Bombay abzuziehen - beim 10. SepoyRegiment von Madras hat es schon Anzeichen von Unzufriedenheit gegeben muß jeder Gedanke an die Einkassierung der üblichen Steuern in der ganzen Präsidentschaft Bengalen aufgegeben und zugelassen werden, daß der Zersetzungsprozeß weiter fortschreitet. Selbst wenn wir annehmen, die Birmanen werden sich nicht die Gunst der Umstände zunutze machen, der Maharadscha von Gwalior wird weiterhin die Engländer unterstützen und der Herrscher
von Nepal, der die beste indische Armee befehligt, sich ruhig verhalten, das abtrünnige Peschawar wird sich nicht mit den unruhigen Bergstämmen vereinigen und der Schah von Persien nicht so töricht sein, Herat zu räumen, so muß doch die ganze Präsidentschaft Bengalen zurückerobert und die gesamte englisch-indische Armee neu aufgestellt werden. Sämtliche Kosten dieses gewaltigen Unternehmens wird das britische Volk zu tragen haben. Was die Meinung betrifft, die Lord Granville im Oberhaus geäußert hat, die Ostindische Kompanie sei imstande, mit Indienanleihen die notwendigen Mittel aufzubringen, so kann man ihre Richtigkeit nach den Wirkungen beurteilen, die die unruhige Lage in den Nordwestprovinzen auf dem Geldmarkt in Bombay hervorgerufen hat. Plötzliche Panik ergriff die einheimischen Kapitalisten, sehr große Summen wurden von den Banken abgehoben, Staatspapiere erwiesen sich als fast unverkäuflich, und es setzte eine Geldhortung großen Ausmaßes nicht nur in Bombay ein, sondern auch in den umliegenden Gebieten.
AU6 dem Englischen.
Karl Marx Die indische Frage
[„New-York Daily Tribüne" Nr.5091 vom M.August 1857] London, 28. Juli 1857 Die dreistündige Rede, die Herr Disraeli gestern abend im „Toten Haus"[224] gehalten hat, wird eher gewinnen als verlieren, wenn man sie liest, anstatt sie anzuhören. Seit einiger Zeit entwickelt Herr Disraeli eine schrecklich feierliche Redeweise, eine gesuchte Bedächtigkeit des Vortrages und eine leidenschaftslose Art der Förmlichkeit, die wirklich qualvoll für seine gemarterte Zuhörerschaft ist, so sehr sie auch zu seinen eigentümlichen Vorstellungen von der Würde, die einem künftigen Minister geziemt, passen mag. Früher einmal gelang es ihm, sogar Gemeinplätzen die pointierte Form von Epigrammen zu geben. Jetzt bringt er es zuwege, selbst Epigramme in der konventionellen Langweiligkeit der Respektabilität zu begraben. Ein Redner wie Herr Disraeli, der es besser versteht, mit dem Dolch zuzustoßen, als das Schwert zu schwingen, hätte am wenigsten Voltaires Warnung vergessen sollen: „Tous les genres sont bons excepte le genre ennuyeux."1 Außer diesen technischen Eigentümlichkeiten, die Herrn Disraelis augenblickliche Beredsamkeit charakterisieren, hat er, seitdem Palmerston an die Macht kam, sehr darauf geachtet, in seinen parlamentarischen Schaustellungen alles zu vermeiden, was von aktuellem Interesse sein könnte. Seine Reden haben nicht die Absicht, seine Anträge durchzubringen, sondern seine Anträge sollen seine Reden vorbereiten. Man könnte sie selbstverleugnerische Anträge nennen, da sie so abgefaßt sind, daß sie weder den Gegner verletzen, wenn sie angenommen, noch dem Antragsteller schaden, wenn sie abgelehnt werden. In Wirklichkeit sind sie nicht einmal darauf angelegt, angenommen oder abgelehnt zu werden, sondern einfach darauf, fallengelassen zu werden.
1 »Jedes Genre ist gut, außer dem Langweiligen."
Sie gehören weder zu den Säuren noch zu den Basen, sondern kommen neutral zur Welt. Die Rede gibt nicht den Impuls zu einer Tat, sondern die Vortäuschung einer Tat bietet die Gelegenheit zu einer Rede. Dies mag tatsächlich die klassische und endgültige Form parlamentarischer Beredsamkeit sein; doch auf keinen Fall darf dann diese endgültige Form der parlamentarischen Beredsamkeit jemand darüber im Zweifel lassen, daß sie das Schicksal aller endgültigen Formen des Parlamentarismus zu teilen hat - nämlich in die Kategorie des Unfugs eingereiht zu werden. Die Handlung ist, wie Aristoteles gesagt hat, das herrschende Gesetz des Dramas. Das gilt auch von der politischen Rhetorik. Disraelis Rede über den Aufstand in Indien könnte in den Abhandlungen der Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse veröffentlicht werden, oder sie könnte vor einer mechanics' institution[225] gehalten oder der Berliner Akademie als preiswürdiges Essay angeboten werden. Diese sonderbare Gleichgültigkeit seiner Rede in bezug auf Ort und Zeit und den Anlaß, aus dem sie gehalten wurde, beweist weitgehend, daß sie weder zu Ort und Zeit noch zum Anlaß paßte. Es würde sich als ein gewaltiger Mißgriff erweisen, wenn man ein Kapitel vom Niedergang des römischen Weltreiches, das sich sehr gut bei Montesquieu oder Gibbon12261 lesen läßt, einem römischen Senator in den Mund legte, dessen besonderes Anliegen es war, gerade diesen Niedergang aufzuhalten. Es ist richtig, daß man sich in unseren modernen Parlamenten einen unabhängigen Redner in einer Rolle vorstellen könnte, die nicht der Würde noch des Interesses entbehrt, und der, während er nicht imstande ist, den wirklichen Gang der Ereignisse zu beeinflussen, sich selbst damit zufriedengibt, eine Haltung ironischer Neutralität einzunehmen. So eine Rolle hatte mehr oder weniger erfolgreich der verstorbene Herr Garnier-Pages seligen Angedenkens - nicht der Garnier-Pag&s der provisorischen Regierung - in Louis-Philippes Deputiertenkammer gespielt; doch Herr Disraeli, der erklärte Führer einer veralteten Partei12271, würde sogar einen Erfolg auf dieser Grundlage für ein außerordentliches Versagen halten. Die Meuterei der indischen Armee bot sicher eine großartige Gelegenheit für ein rednerisches Schauspiel. Aber was war denn, abgesehen von seiner ermüdenden Art der Behandlung des Gegenstandes, der Hauptpunkt des Antrages, den er zum Vorwand für seine Rede machte? Es war überhaupt kein Antrag. Er gab vor, begierig zu sein, zwei offizielle Dokumente kennenzulernen, wobei er von dem einen nicht ganz sicher war, ob es existierte, und von dem anderen genau wußte, daß es nicht unmittelbar mit dem vorliegenden Gegenstand zu tun hatte. Folglich fehlte seiner Rede und seinem Antrag jeder Kontrastpunkt außer dein, daß der Antrag eine Rede ohne Gegenstand ankündigte und daß der Gegenstand
sich einer Rede nicht würdig erwies. Doch Herrn Disraelis Rede sollte als die in hohem Maße vollendete Meinung des hervorragendsten englischen Staatsmannes außerhalb der Regierung die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich lenken. Ich werde mich damit begnügen, eine kurze Analyse seiner „Betrachtungen zum Niedergang des englisch-indischen Reiches" mit seinen ipsissima verba1 wiederzugeben.
„Zeigt der Aufruhr in Indien eine Truppenmeuterei an, oder ist er ein nationaler Aufstand? Ist das Verhalten der Truppen die Folge eines plötzlichen Impulses oder das Resultat einer organisierten Verschwörung?" Um diese Fragen drehe sich alles, versichert Herr Disraeli. Bis zu den letzten zehn Jahren, stellte er fest, war die britische Herrschaft in Indien auf dem alten Prinzip divide et impera2 begründet, aber es wurde unter Berücksichtigung der verschiedenen Nationalitäten, aus denen Indien besteht, unter Vermeidung der Einmischung in ihre Religion und unter Bewahrung ihres Grundbesitzes durchgeführt. Die Sepoy-Armee diente als Sicherheitsventil, um die aufrührerischen Geister des Landes zu absorbieren. Aber seit einigen Jahren werde in der Beherrschung Indiens ein neues Prinzip angewandt - das Prinzip, den Nationalcharakter zu zerstören. Das Prinzip sei vermittels der gewaltsamen Beseitigung der eingeborenen Fürsten, der Störung der Erbrechtsverhältnisse und der Einmischung in die Religion des Volkes verwirklicht worden. Die finanziellen Schwierigkeiten der Ostindischen Kompanie hatten 1848 den Punkt erreicht, wo es notwendig wurde, ihre Einnahmen auf diese oder jene Weise zu erhöhen. Dann ließ man ein Memorandum des Rates12281 zirkulieren, in dem fast ohne Umschweife das Prinzip aufgestellt wurde, daß die einzige Methode, um höhere Einkünfte zu erlangen, die Vergrößerung des britischen Territoriums auf Kosten der eingeborenen Fürsten wäre. Dementsprechend wurde beim Tode des Radschas von Satara dessen adoptierter Erbe von der Ostindischen Kompanie nicht anerkannt, sondern das Fürstentum ihrem eigenen Herrschaftsgebiete einverleibt. Von diesem Augenblick an wurde das System der Annexion stets angewandt, wenn ein eingeborener Fürst ohne Leibeserben starb. Das Prinzip der Adoption - geradezu der Eckpfeiler der indischen Gesellschaft wurde von der Regierung systematisch ignoriert. So wurden von 1848 bis 1854 die Fürstentümer von über einem Dutzend unabhängiger Fürsten gewaltsam dem britischen Empire angegliedert. 1854 bemächtigte man sich gewaltsam des Fürstentums Berar, das 80 000 Quadratmeilen Land, eine
1 eigenen Worten - 2 teile und herrsche
Bevölkerung von 4000000 bis 5 000 000 und ungeheure Schätze besaß. Herr Disraeli beendet die Aufzählung gewaltsamer Annexionen mit der Annexion von Audh, die die ostindische Regierung nicht nur mit den Hindus, sondern auch mit den Mohammedanern in Konflikt brachte. Herr Disraeli fährt dann fort und zeigt, wie in den letzten zehn Jahren die Erbrechtsverhältnisse in Indien durch das neue Regierungssystem gestört wurden. „Das Prinzip des Adoptionsgesetzes", sagt er, „ist nicht das Vorrecht der Fürsten und Fürstentümer in Indien, es betrifft jeden in Hindustan, der Grundeigentum hat und sich zur Hindu-Religion bekennt." Ich zitiere eine Stelle: „Der große Lehnsmann oder Dschagirdar, der für seine Ländereien zu staatlichem Dienst gegenüber seinem Herrn verpflichtet ist, und der Inamdar, der sein Land ohne jede Bodensteuer besitzt und, wenn nicht genau, so doch in einem volkstümlichen Sinne unserem Freeholder entspricht^229] - diese beiden Klassen - Klassen, die in Indien die zahlreichsten sind - finden, falls ihre Leibeserben ausbleiben, immer in diesem Prinzip das Mittel, Nachfolger für ihre Güter zu erhalten. Diese Klassen waren alle von der Annexion Sataras betroffen, sie waren betroffen von der Annexion der Länder der zehn niedrigeren, aber unabhängigen Fürsten, die ich bereits erwähnt habe, und sie waren nicht nur betroffen, sie waren bis zum Innersten erschrocken, als die Annexion des Fürstentums Berar vor sich ging. Wer war noch sicher? Welcher Lehnsmann, welcher Freeholder, der keinen Leibeserben hatte, war in ganz Indien noch sicher?" („Hört, hört.") „Das waren keine müßigen Befürchtungen; es wurde weitgehend danach gehandelt und verfahren. Man begann zum ersten Mal in Indien, die Belehnungen mit Dschagirs und Inams rückgängig zu machen. Es hat zweifellos schon früher unkluge Versuche gegeben, die Besitzrechte zu untersuchen, doch niemand hätte es sich jemals träumen lassen, das Adoptionsgesetz aufzuheben; deshalb war keine Macht und keine Regierung je imstande gewesen, die Belehnungen mit Dschagirs und Inams rückgängig zu machen, deren Besitzer keine Leibeserben hinterlassen hatten. Hier gab es eine neue Einkommensquelle; doch während alle diese Dinge die Gemüter jener Klassen der Hindus bewegten, Unternahm die Regierung einen weiteren Schritt, die Erbrechtsverhältnisse zu stören, worauf ich jetzt die Aufmerksamkeit des Hauses lenken muß. Aus den Zeugenaussagen vor der Kommission von 1853 ist dem Haus zweifellos bekannt, daß.gs in Indien große Landstriche gibt, die von der Bodensteuer befreit sind. In Indien von der Bodensteuer befreit zu sein ist weit mehr, als wenn man, in unserem Land von der Bodensteuer befreit ist, denn, um es allgemein und verständlich zu sagen, die Bodensteuer in Indien ist die einzige Art der Besteuerung durch den Staat... Der Ursprung dieser Belehnungen ist schwer zu ergründen, aber sie reichen zweifellos sehr weit zurück. Es gibt da verschiedene Arten. Außer den privaten Freigütern, die sehr ausgedehnt sind, gibt es große Lehnsgüter, die von der Bodensteuer befreit sind und mit denen Moscheen und Tempel belehnt wurden..."
Unter dem Vorwand, die Ansprüche auf Steuerbefreiung seien betrügerisch, machte sich der britische Generalgouverneur selbst daran, die Besitzrechte des indischen Grundeigentums zu untersuchen. Unter dem 1848 eingeführten neuen System „wurde dieser Plan zur Untersuchung der Besitzrechte sofort als Beweis für eine mächtige Regierung, eine starke Exekutive und als höchst fruchtbare Quelle für Staatseinkünfte "begrüßt. Deshalb wurden Kommissionen ernannt, um die Besitzrechte auf Grundeigentum in der Präsidentschaft Bengalen und im angrenzenden Gebiet zu erforschen. Sie wurden auch in der Präsidentschaft Bombay ernannt, und genaue Untersuchungen mußten in den neugeschaffenen Provinzen vorgenommen werden, damit die Arbeit dieser Kommissioner. nach Abschluß der Untersuchungen mit der erforderlichen Wirksamkeit erfolgen konnte. Es besteht nun kein Zweifel, daß die Tätigkeit dieser Kommissionen zur Untersuchung des steuerfreien Grundeigentums in Indien in den letzten neun Jahren mit ungeheurer Geschwindigkeit fortgeschritten ist und daß gewaltige Ergebnisse erzielt worden sind." Herr Disraeli schätzt, daß die Zurücknahme der Lehen von ihren Eigentümern jährlich nicht weniger als 500 000 Pfd. St. in der Präsidentschaft Bengalen, 370 000 Pfd. St. in der Präsidentschaft Bombay, 200 000 Pfd. St. im Pandschab usw. beträgt. Nicht zufrieden mit dieser einen Methode, sich den Besitz der Eingeborenen anzueignen, stellte die britische Regierung die Pensionszahlungen an die eingeborenen Würdenträger ein, zu denen sie vertraglich verpflichtet war. „Dies", sagt Herr Disraeli, „ist eine Konfiskation mit neuen Mitteln, aber in einem äußerst breiten, erschreckenden und empörenden Ausmaß." -1331 Herr Disraeli behandelt dann die Einmischung in die Religion der Eingeborenen, ein Punkt, bei dem wir nicht zu verweilen brauchen. Aus all dem Vorerwähnten kommt er zu dem Schluß, daß der augenblickliche Aufruhr in Indien keine Truppenmeuterei ist, sondern ein nationaler Aufstand, in dem die Sepoys nur die handelnden Werkzeuge sind. Er endet seinen Redeschwall, indem er der Regierung den Rat gibt, ihre Aufmerksamkeit der Verbesserung der inneren Lage in Indien zuzuwenden, anstatt ihre augenblickliche aggressive Politik fortzusetzen.
Aus dem Englischen.
Karl Marx Nachrichten aus Indien[230]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5091 vom 14. August 1857] London, 31. Juli 1857 Die letzte Post aus Indien, die Nachrichten aus Delhi bis zum 17. Juni und aus Bombay bis zum 1 .Juli bringt, bestätigt die düstersten Erwartungen. Als Herr Vernon Smith, der Präsident der Kontrollbehörde12311, das Unterhaus zum ersten Mal über den indischen Aufstand informierte, Erklärte er zuversichtlich, die nächste Post würde die Nachricht bringen, Delhi wäre dem Erdboden gleich gemacht. Die Post kam an, aber Delhi war noch nicht „aus den Annalen der Geschichte gestrichen". Dann sagte man, der Artilleriepark könne nicht vor dem 9. Juni herangebracht werden und darum müsse der Angriff auf die dem Untergang geweihte Stadt auf dieses Datum verschoben werden. Der 9. Juni verstrich, ohne daß etwas besonderes passierte. Am 12. und 15. Juni kam es zu einigen Ereignissen, doch eher in entgegengesetzter Richtung, denn Delhi wurde nicht von den Engländern gestürmt, sondern die Engländer wurden von den Insurgenten angegriffen, deren wiederholte Ausfälle allerdings zurückgeschlagen wurden. Der Fall von Delhi ist somit wiederum verschoben, wofür man jetzt nicht mehr allein den Mangel an Belagerungsartillerie als Ursache angibt, sondern auch den Beschluß General Barnards, auf Verstärkungen zu warten, da seine Streitkräfte - etwa 3000 Mann - bei weitem nicht zur Einnahme der alten Hauptstadt ausreichen, die von 30 000 Sepoys verteidigt wird und im Besitz aller Militärmagazine ist. Die Rebellen hatten sogar vor dem Adschmir-Tor ein Lager aufgeschlagen. Bisher stimmten alle Militärschriftsteller darin überein, daß eine englische Truppe von 3000 Mann völlig ausreiche, um eine SepoyArmee von 30 000 oder 40 000 Mann zu vernichten; und wenn dies nicht der Fall wäre, wie könnte dann England - um einen Ausdruck der Londoner „Times" zu gebrauchen - jemals in der Lage sein, Indien „zurückzuerobern"? Die britische Armee in Indien besteht gegenwärtig aus 30 000 Mann.
20 000 bis 25 000 Mann sind das Höchste, was im nächsten halben Jahr aus England hintransportiert werden kann; von diesen müssen 6000 Mann die Reihen der europäischen Truppen in Indien auffüllen, und die restlichen 18 000 oder 19 000 Mann werden durch Verluste auf der Fahrt, Verluste infolge des Klimas und durch andere Todesfälle auf etwa 14 000 Soldaten reduziert, die auf dem Kriegsschauplatz eintreffen können. Die britische Armee muß sich zum Kampf gegen die Meuterer bei einem sehr ungleichen Zahlenverhältnis entschließen oder überhaupt auf einen Zusammenstoß mit ihnen verzichten. Und doch bleibt uns die Schwerfälligkeit ihrer Truppenkonzentration um Delhi unverständlich. Wenn sich zu dieser Jahreszeit die Hitze als unüberwindbares Hindernis erweist, was zur Zeit Sir Charles Napiers nicht der Fall war, so wird einige Monate später, bei Ankunft der europäischen Truppen, die Regenzeit einen noch stichhaltigeren Vorwand für einen Stillstand bieten. Man darf nie vergessen, daß die jetzige Meuterei tatsächlich schon im Januar begonnen hatte, und daß die britische Regierung damit deutlich genug gewarnt worden war, ihr Pulver trocken und ihre Truppen in Bereitschaft zu halten. Daß es den Sepoys gelungen ist, Delhi so lange gegen eine englische Belagerungsarmee zu halten, hat selbstverständlich seine natürliche Auswirkung gehabt. Die Meuterei breitete sich bis unmittelbar vor die Tore Kalkuttas aus. fünfzig bengalische Regimenter haben aufgehört zu bestehen, die bengalische Armee selbst gehört wie eine Sage der Vergangenheit an, und die Europäer, über ein gewaltiges Territorium zerstreut und an isolierten Orten eingeschlossen, waren entweder von den Rebellen umgebracht oder standen in hoffnungsloser Verteidigung. In Kalkutta bildeten die christlichen Einwohner eine Freiwilligentruppe, nachdem man ein Komplott für einen Handstreich auf den Sitz der Regierung entdeckt hatte, der bis in das letzte Detail ausgearbeitet gewesen sein soll, und die dort stationierten Eingeborenentruppen waren aufgelöst worden. In Benares stieß der Versuch, ein Eingeborenenregiment zu entwaffnen, auf den Widerstand einer Abteilung Sikhs[118] und des 13. irregulären Kavallerieregiments. Diese Tatsache ist von sehr großer Bedeutung, da sie zeigt, daß die Sikhs wie die Mohammedaner schon gemeinsame Sache mit den Brahmanen machten, und daß sich somit ein allgemeiner Zusammenschluß der verschiedenen Völkerschaften gegen die britische Herrschaft bereits schnell vollzog. Das englische Volk hatte fest daran geglaubt, daß die Sepoy-Armee seine ganze Stärke in Indien darstelle. Nun auf einmal ist es völlig davon überzeugt, daß gerade diese Armee eine einzige Gefahr darstellt, die es bedroht. Noch während der letzten Indiendebatten erklärte der Präsident der Kontrollbehörde, Herr Vernon Smith, daß
„gar nicht stark genug betont werden kann, daß es überhaupt keine Verbindung zwischen den einheimischen Fürsten und der Revolte gibt". ^1331 Zwei Tage darauf mußte derselbe Vernon Smith eine Depesche bekanntgeben, die den unheilvollen Satz enthielt: „Am 14. Juni wurde der Exkönig von Audh auf Grund abgefangener Papiere, die ihn der Verbindung mit der Verschwörung überführen, in Fort William eingeliefert; seine Anhänger wurden entwaffnet." Nach und nach werden noch andere Tatsachen an den Tag kommen, die sogar John Bull davon überzeugen werden, daß das, was er für eine Truppenmeuterei hält, in Wahrheit ein nationaler Aufstand ist. Die englische Presse gibt vor, große Zuversicht aus der Uberzeugung zu schöpfen, daß der Aufstand sich noch nicht über die Grenzen der Präsidentschaft Bengalen hinaus erstreckt habe und daß nicht der leiseste Zweifel an der Treue der Armeen von Bombay und Madras bestände. Diese optimistische Auffassung der Lage scheint jedoch in merkwürdigem Widerspruch zu der Tatsache zu stehen, die uns die letzte Post mitteilt, daß eine Meuterei der Kavallerie des Nizams in Aurangabad ausgebrochen ist. Da Aürangabad die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks ist, der zur Präsidentschaft Bombay gehört, kündigt die letzte Post in Wahrheit den Beginn des Aufstandes der Armee von Bombay an. Allerdings erklärt man, die Meuterei in Aurangabad soll sofort von General Woodburn niedergeschlagen worden sein. Aber hatte man nicht auch gesagt, daß die Meuterei von Mirat sofort niedergeschlagen worden sei? Erlebte die Meuterei von Lakhnau, nachdem sie von Sir H. Lawrence erstickt worden war, nicht vierzehn Tage später eine furchtbare Wiedergeburt? Erinnert man sich nicht daran, daß die allererste Mitteilung über eine Meuterei in der indischen Armee von der Erklärung begleitet war, daß die Ordnung wiederhergestellt sei? Obwohl das Gros der Armeen von Bombay und Madras aus Angehörigen niederer Kasten besteht, gibt es doch in jedem Regiment einige Hundert Radschputen, eine Anzahl, die völlig genügt, um das Verbindungsglied zu den Rebellen der bengalischen Armee zu bilden, die der oberen Kaste angehören. Der Pandschab wird für ruhig erklärt, doch gleichzeitig erfahren wir, daß „am 13. Juni in Firospur standrechtliche Erschießungen stattgefunden hätten", während Vaughans Korps - das 5. Infanterieregiment des Pandschab - dafür gerühmt wird, „sich bei der Verfolgung des 55.Eingeborenen-Infanterieregiments ausgezeichnet gehalten zu haben". Das ist, muß man gestehen, eine sehr eigentümliche Art der „Ruhe".
Aus dem Englischen.
Karl Marx Der Stand der indischen Insurrektion
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5094 vom 18. August 1857] London, 4. August 1857 Als in London mit der letzten Post aus Indien die ausführlichen Berichte eintrafen, die der elektrische Telegraph bereits in knappen Umrissen vorweggenommen hatte, verbreitete sich sehr schnell das Gerücht über die Einnahme Delhis und hielt sich so hartnäckig, daß es die Transaktionen der Börse beeinflußte. Es war eine Neuauflage der Zeitungsente von der Einnahme Sewastopols12321, in verkleinertem Maßstabe. Schon eine oberflächliche Uberprüfung der Daten und des Inhalts der Zeitungen aus Madras, denen, so hieß es, die angenehme Nachricht entnommen wurde, hätte genügt, diesen Irrtum aufzuklären. Die Meldung aus Madras erklärte, daß sie sich auf Privatbriefe vom 17. Juni aus Agra stütze, aber eine amtliche Verlautbarung vom 17. Juni aus Lahor meldet, daß noch am 16. bis 4 Uhr nachmittags vor Delhi alles ruhig war, während die „Bombay Times"[2331 vom 1 .Juli berichtet, daß „General Barnard am Morgen des 17. auf Verstärkungen wartete, nachdem er mehrere Ausfälle abgewehrt hatte". Soviel zum Datum der Meldung aus Madras. Was ihren Inhalt betrifft, so ist er offenbar aus General Barnards Bulletin vom 8.Juni über die Erstürmung der Höhen von Delhi und aus einigen privaten Berichten über die Ausfälle der Belagerten am 12. und 14. Juni zusammengestellt. Schließlich hat Hauptmann Lawrence aus den nicht veröffentlichten Plenen der Ostindischen Kompanie einen militärischen Lageplan von Delhi und seinen Kantonnements zusammengestoppelt. Darauf erkennen wir, daß Delhi nicht ganz so schwach befestigt ist, wie zuerst versichert wurde, doch auch nicht ganz so stark, wie jetzt behauptet wird. Es besitzt eine Zitadelle, die mit Sturmleitern oder regulären Laufgräben zu nehmen ist. Die Wälle, die sich über mehr als sieben Meilen erstrecken, sind aus festem Mauerwerk,
jedoch nicht sehr hoch. Der Graben ist schmal und nicht sehr tief, und die Flankenbefestigungen bestreichen eigentlich nicht den Zwischenwall. In gewissen Abständen stehen Martello-Türme. Sie sind halbkreisförmig und mit Schießscharten für Handfeuerwaffen versehen. In den Türmen führen Wendeltreppen von der Krone der Wälle zu Kammern hinunter, die auf gleicher Höhe mit dem Graben liegen; diese Kammern haben Schießscharten für Infanteriefeuer, was für eine Sturmtruppe, die den Graben überquert, sehr unangenehm werden kann. Die Bastionen, welche die Zwischenwälle schützen, sind a;uch mit Banketten für Schützen versehen, doch können diese durch Granatbeschuß niedergehalten werden. Als der Aufstand ausbrach, enthielt das Arsenal im Innern der Stadt 900 000 Patronen, zwei vollständige Belagerungstrains, eine große Anzahl Feldgeschütze und 10 000 Musketen. Das Pulvermagazin, das auf Wunsch der Einwohner seit langem aus der Stadt nach den Kantonnements außerhalb Delhis verlegt worden war, enthielt nicht weniger als 10 000 Pulverfässer. Die beherrschenden Höhen, die General Barnard am 8. Juni besetzte, liegen in nordöstlicher Richtung von Delhi, wo auch die Kantonnements außerhalb der Wälle errichtet wurden. Aus dieser Beschreibung, die sich auf authentische Pläne stützt, kann man entnehmen, daß das Bollwerk des Aufstandes einem einzigen coup de main1 erlegen wäre, wenn die britische Streitmacht, die jetzt vor Delhi steht, schon am 26.Mai dort gewesen wäre, und sie hätte dort sein können, wenn sie genügend Fahrzeuge gehabt hätte. Eine Analyse der in der „Bombay Times" veröffentlichten und in den Londoner Zeitungen nachgedruckten Liste der Regimenter, die bis Ende Juni revoltiert hatten, und der Daten, an denen sie revoltierten, beweist überzeugend, daß Delhi noch am 26. Mai von nur 4000 oder 5000 Aufständischen besetzt war, also von einer Streitmacht, die keinen Augenblick daran hätte denken können, einen Wall von sieben Meilen Länge zu verteidigen. Mirat, das nur vierzig Meilen von Delhi entfernt liegt und seit Anfang 1853 stets als Hauptquartier der bengalischen Artillerie gedient hat, verfügte über das Hauptlaboratorium für militärwissenschaftliche Zwecke und bot das schönste Gelände für Übungen an Feld- und Belagerungsgeschützen; um so weniger ist zu verstehen, warum dem britischen Kommandeur die notwendigen Mittel fehlten, um einen jener coups de main durchzuführen, womit die britischen Truppen in Indien stets ihre Überlegenheit über die Eingeborenen zu sichern wissen. Zuerst wurde uns mitgeteilt, daß man auf den Belagerungspark warte2, dann, daß Verstärkungen fehlten, und jetzt erzählt uns „The Press", eines der bestinformierten Londoner Blätter:
1 Handstreich - 2 siehe vorl. Band, S. 247
„Unserer Regierung ist sicher die Tatsache bekannt, daß General Barnard Mangel an Proviant und Munition leidet und daß die Munition auf 24 Schuß pro Mann beschränkt ist." Aus dem vom 8. Juni datierten eigenen Bulletin General Barnards über die Besetzung der Hohen vor Delhi sehen wir, daß er ursprünglich beabsichtigte, Delhi am nächsten Tag zu stürmen. Er konnte jedoch diesen Plan nicht ausführen, sondern mußte sich wegen dieser oder jener Umstände darauf beschränken, gegen die Belagerten in die Verteidigung zu gehen. Augenblicklich ist es äußerst schwierig, die Kräfte beider Seiten abzuschätzen. Die Berichte der indischen Presse sind äußerst widerspruchsvoll; doch man kann unserer Meinung nach einer indischen Korrespondenz der bonapartistischen „Pays"[234], die anscheinend von dem französischen Konsul in Kalkutta stammt, gewissen Glauben schenken. Laut dieser Meldung bestand die Armee des Generals Barnard am 11 .Juni aus etwa 5700 Mann, die durch die am 20. desselben Monats erwarteten Verstärkungen verdoppelt (?) werden sollte. Sein Train bestand aus 30 schweren Belagerungsgeschützen, während die Kräfte der Aufständischen auf 40 000 Mann geschätzt wurden, die schlecht organisiert, doch mit allen Angriffs- und Verteidigungsmitteln reichlich versehen waren. En passant bemerken wir, daß die vor dem Adschmir-Tor, wahrscheinlich in den Gräbern des Ghazi-Chan, verschanzten 3000 Aufständischen nicht, wie einige Londoner Zeitungen annehmen, der englischen Streitmacht gegenüberstehen, sondern im Gegenteil von ihr durch die ganze Breite von Delhi getrennt sind; denn das Adschmir-Tor liegt am'äußersten Ende vom Südwestteil des neuen Delhi nördlich der Ruinen des alten Delhi. Auf jener Seite der Stadt kann nichts die Aufständischen daran hindern, noch einige solcher Lager anzulegen. An der nordöstlichen oder Flußseite der Stadt beherrschen sie die Schiffsbrücke und sind in ständiger Verbindung mit ihren Landsleuten, von denen sie ungehindert Nachschub an'Menschen und Vorräten erhalten. In kleinerem Maßstab bietet Delhi das Bild einer Festung, die (wie Sewastopol) ihre Verbindungslinien mit dem Inneren des eigenen Landes offenhält. Die Verzögerung in den britischen Operationen hat den Belagerten nicht nur gestattet, große Truppenmassen für die Verteidigung zu konzentrieren, sondern auch der Kampfgeist der Sepoys ist gestärkt worden sowohl durch das Bewußtsein, daß sie viele Wochen hindurch Delhi gehalten und die europäischen Streitkräfte durch wiederholte Ausfälle erschöpft haben, als auch dadurch, daß täglich Nachrichten von neuen Aufständen in der ganzen Armee eintrafen. Die Engländer können mit ihren geringen Kräften natürlich nicht daran denken, die Stadt einzuschließen, sondern müssen sie stürmen.
Wenn jedoch die nächste reguläre Post nicht die Nachricht von der Einnahme Delhis bringt, können wir fast sicher sein, daß für die nächsten Monate alle bedeutenderen Operationen der Briten aufgeschoben werden müssen. Die Regenzeit wird in vollem Ausmaß eingesetzt haben und die nordöstliche Seite der Stadt dadurch schützen, daß sie den Graben mit „dem tiefen und reißenden Wasser der Dschamna" füllt, während eine Temperatur von 75 bis 102 Grad1, verbunden mit einer durchschnittlichen Niederschlagsmenge von neun Zoll, die Europäer mit der echten asiatischen Cholera geißeln würde. Dann würden sich die Worte Lord Ellenboroughs bewahrheiten: „ Ich bin der Meinung, Sir H. Barnard kann nicht bleiben, wo er ist - das Klima läßt es nicht zu. Wenn die schweren Regenfälle einsetzen, wird er von Mirat, von Ambala und vom Pandschab abgeschnitten sein; er wird auf einem sehr schmalen Landstreifen gefangen sein, und sich in einer Situation befinden - ich will nicht von einer gefahrvollen Situation sprechen -, aber in einer Situation, die nur mit Ruin und Vernichtung enden kann. Ich hoffe, daß er sich rechtzeitig zurückziehen wird." Somit hängt alles, was Delhi betrifft, davon ab, ob General Barnard hinlänglich mit Soldaten und Munition versehen ist, um den Sturm auf Delhi während der letzten Juniwochen zu unternehmen. Andererseits würde ein Rückzug seinerseits die Moral der Aufständischen gewaltig stärken und vielleicht die Armeen von Bombay und Madras bewegen, sich ihnen offen anzuschließen.
Aus dem Englischen.
1 Fahrenheit (24° bis 31° Celsius)
i/ in* rvari lviarx Die orientalische Frage
[„New-York Daily Tribüne" Nr, 5102 vom 27, August 1857] London, 11 .August 1857 Die orientalische Frage, von der man sagte, sie sei seit ungefähr vierzehn Monaten durch den Frieden von Paris beigelegt, ist jetzt durch einen Diplomatenstreik in Konstantinopel wieder ziemlich akut geworden. Die Botschaften von Frankreich, Rußland, Preußen und Sardinien haben dort ihre Flaggen eingezogen und ihre Beziehungen zur Pforte abgebrochen. Die Botschafter von England und Osterreich, die den Widerstand des Diwans gegen die Forderungen dieser vier Mächte unterstützten, erklärten gleichzeitig, daß sie sich der Verantwortung, nicht entziehen würden, die sich aus diesem Konflikt ergeben könnte. Diese Ereignisse spielten sich am 6.d.M. ab. Das Sujet des Dramas ist das alte, aber die dramatis personae1 haben die Rollen gewechselt, und durch die neue mise en scene2 soll es gewissermaßen ein neuartiges Aussehen erhalten. Jetzt nimmt nicht Rußland, sondern Frankreich den Platz der Avantgarde ein. Herr Thouvenel, Frankreichs Botschafter in Konstantinopel, forderte in einer etwas affektierten Menschikowschen Art herrisch von der Pforte, die Wahlen im Moldaugebiet zu annullieren, weil Vogorides, der Kaimakam der Moldau, durch unfaires Eingreifen und durch Verletzung des Pariser Vertrages dazu beigetragen hätte, daß die Gegner der Vereinigung eine Mehrheit unter den Abgeordneten erhielten1761. Die Pforte wandte sich gegen dieses Diktat, erklärte sich aber bereit, den Kaimakam nach Konstantinopel zu zitieren, damit er sich dort für die gegen seine Verwaltung vorgebrachten Anschuldigungen verantworte. Diesen Vorschlag lehnte Herr Thouvenel hochmütig ab und bestand auf die Untersuchung des Wahl
1 handelnden Personen - 2 Inszenierung
Vorgangs, die der Europäischen Reorganisationskommission in Bukarest zu übergeben sei. Da die Mehrheit dieser Kommission aus Beauftragten Frankreichs, Rußlands, Preußens und Sardiniens besteht, d. h. gerade jener Länder, die für die Vereinigung der Donauprovinzen sind und Vogorides des Verbrechens ungesetzlicher Einmischung anklagen, weigerte sich die von den Botschaftern Großbritanniens und Österreichs aufgewiegelte Pforte, ihre ausgesprochenen Gegner zu Richtern in ihrer eigenen Sache zu machen. Dann brach die Katastrophe herein. Die wirkliche Streitfrage ist augenscheinlich die gleiche, die den russischen Krieg verursachte, nämlich die mögliche Loslösung der Donauprovinzen von der Türkei, diesmal unternommen nicht in Form einer „materiellen Garantie", sondern in Form einer Vereinigung der Fürstentümer unter der Herrschaft eines europäischen Marionettenfürsten. Rußland mit der ihm eigenen Ruhe, Umsicht und Geduld verliert nie sein vorgefaßtes Ziel aus dem Auge. Es ist ihm bereits gelungen, einige seiner Feinde gegen die andern auszuspielen in einer Angelegenheit, an der allein Rußland Interesse hat, und es kann daher hoffen, den einen durch den anderen im Zaum zu halten. Was Bonaparte anbetrifft, so bewegen ihn verschiedene Motive. Er hofft, durch Verwicklungen draußen ein Sicherheitsventil gegen die Unzufriedenheit im Innern zu finden. Er fühlt sich unendlich geschmeichelt, weil Rußland sich herabläßt, in französischer Maskierung aufzutreten, und ihm gestattet, den Reigen anzuführen. Sein Reich der Fiktion muß sich mit theatralischen Triumphen begnügen, und in seinem tiefsten Innern mag er die Hoffnung hegen, mit Rußlands Hilfe einen Bonaparte auf den Scheinthron eines durch diplomatische Protokolle improvisierten Rumäniens zu setzen. Seit der berühmten Warschauer Konferenz von 1850[235] und dem Marsch einer österreichischen Armee an die Nordgrenzen Deutschlands lechzt Preußen danach, kleinliche Rache an Österreich zu nehmen, möchte sich gleichzeitig aber dabei keiner Gefahr aussetzen. Sardinien setzt all seine Hoffnungen auf einen Konflikt mit Österreich, der aber schon nicht mehr durch ein gefahrvolles Bündnis mit der italienischen Revolution, sondern hinter dem Rücken der despotischen Mächte des Kontinents ausgetragen wird. Österreich bekämpft die Vereinigung der Donaufürstentümer ebenso ernsthaft, wie Rußland sie vorantreibt. Österreich begreift sehr gut das Hauptmotiv dieses Pleins, der sich noch mehr gegen seine eigene Mächt richtet als gegen die Macht der Pforte. Palmerston schließlich, dessen Popularität hauptsächlich aus einer vorgetäuschten Rußlandfeindschaft herrührt, muß natürlich so tun, als ob er die wirklichen Ängste von Franz Joseph teilt. Er muß sich auf alle Fälle den Anschein geben, als ob er es mit Österreich und
der Pforte hielte und dem Druck Rußlands nur unter dem Zwang Frankreichs nachgäbe. Das ist die Haltung der einzelnen Parteien. Das rumänische Volk ist nur ein Vorwand und wird überhaupt nicht in Betracht gezogen. Selbst die hoffnungslosesten Enthusiasten werden kaum so viel Leichtgläubigkeit aufbringen können, um Louis-Napoleons aufrichtigen Eifer für echte Volkswahlen ernst zu nehmen oder zu glauben, daß es Rußlands heißer Wunsch sei, die rumänische Nationalität zu stärken, deren Zerstörung seit der Zeit Peters des Großen nie aufgehört hat, das Ziel der Intrigen und Kriege Rußlands zu sein. Eine Zeitung mit dem Namen „L'Etoile du Danube"[236], die in Brüssel gewisse Leute gegründet "haben, die sich selbst als rumänische Patrioten bezeichnen, hat gerade eine Reihe von Dokumenten veröffentlicht, die sich auf die moldauischen Wahlen beziehen; die wichtigsten möchte ich hier für die „Tribüne" übersetzen. Sie enthalten Briefe an Nikolaus Vogorides, Kaimakam der Moldau, von Stefan Vogorides, seinem Vater; Briefe von Musurus, seinem Schwager, türkischer Botschafter in London; von A. Vogorides, seinem Bruder, Sekretär der türkischen Botschaft in London; von M.Fotiades, einem weiteren Schwager, Geschäftsträger der moldauischen Regierung in Konstantinopel; und schließlich von Baron Prokesch, dem österreichischen Internuntius bei der Hohen Pforte. Diese Korrespondenz wurde vor einiger Zeit aus dem Palast des Kaimakam in Jassy gestohlen, und „L'Etoile du Danube" prahlt jetzt mit dem Besitz der Originalbriefe. „L'Etoile du Danube" betrachtet Diebstahl als einen ganz schicklichen Weg zur diplomatischen Information und scheint in dieser Meinung von der gesamten offiziellen europäischen Presse bestärkt zu werden.
Geheime Korrespondenz über die moldauischen Wahlen, Veröffentlicht von „L'Etoile du Danube"
Fragment eines Briefes von M.C. Musurus, dem osmanischen Botschafter in London, an den Kaimakam Vogorides. London, 23. April 1857 „Ich teile Ihnen vertraulich mit, daß Lord Clarendon Ihre Antwort an die Ratgeber Frankreichs und Preußens zur Frage der Presse billigt. Er fand sie ehrenvoll, gerecht und gesetzlich. Ich habe Seiner Exzellenz gegenüber die Weisheit Ihrer Verhaltensweise unter den obwaltenden Umständen gerühmt. Ich werde an die Pforte schreiben und bin bemüht, Ihren Erfolg in der glänzenden Karriere zu sichern, deren Sie sich so würdig erweisen. Sie werden dieses schöne Land vor der Gefahr bewahren, in die es Verräter hineinzuziehen versuchen, die des Namens Moldauer unwürdig sind. Von materiellen Interessen und Belohnungen bewegt, treiben sie ihre Verderbtheit so weit, daß sie dazu beitragen, ihr Vaterland, die Moldau, in ein einfaches Anhängsel
der Walachei zu verwandeln und es von der Karte der sich selbst regierenden Völker zu streichen. Unter dem Vorwand, irgendein sagenhaftes Rumänien zu gründen, wollen sie die Moldau und die Moldauer auf das Niveau Irlands und der Iren herabsetzen, ohne sich dabei um die Flüche der heutigen und künftigen Generationen zu kümmern. Sie erfüllen die Pflicht eines ehrlichen und vortrefflichen Patrioten, wenn Sie solch ein Gesindel mit Verachtung strafen, das die Frechheit besitzt, sich die nationale Partei zu nennen. Die Unionspartei mag sich als die nationale Partei in der Walachei bezeichnen, wo sie die Vergrößerung ihres Vaterlandes anstrebt; aber aus eben diesem Grunde kann sie in der Moldau nicht anders denn als antinationale Partei bezeichnet werden. Dorl isl die einzige nationale Partei die, welche sich der Vereinigung widersetzt.. . Die englische Regierung steht der Vereinigung feindlich gegenüber. Zweifeln Sie nicht daran. Ich teile Ihnen vertraulich mit, daß in diesem Sinne kürzlich Instruktionen an den englischen Bevollmächtigten in Bukarest (der mein Freund ist) gesandt worden sind, und Eure Exzellenz werden bald die Ergebnisse dieser Instruktionen sehen. Sie haben den Konsuln von Frankreich und Rußland zur Frage der Presse die gebührende Antwort gegeben... Ihre Pflicht als Haupt eines sich selbst regierenden Fürstentums war es, die skandalöse und ungesetzliche Einmischung von Ausländern in unsere Angelegenheiten zurückzuweisen. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn diese beiden Konsuln sich in eine schiefe Lage gebracht haben, aus der ihre Regierungen sie nur befreien können, indem sie sie abberufen... Ich fürchte nicht minder, daß die Pforte durch ausländische Einmischung in eine unangenehme Lage Ihnen gegenüber geraten ist und in ihrer Korrespondenz mit Ihnen gezwungen sein wird, Ihnen unfreiwillig vorzuenthalten sowohl die tiefe Genugtuung, die Sie ihr mit Ihrem maßvollen und klugen Verhalten verschafft haben, als auch all den Dank, den sie Ihnen dafür schuldet. Als Kaimakam der Moldau müssen Sie sich natürlich der obersten Regierung fügen, aber gleichzeitig müssen Sie auch als Haupt dieses unabhängigen Fürstentums und als moldauischer Bojare Ihre Pflicht gegenüber Ihrem Lande erfüllen und, wenn nötig, der Pforte erklären, daß das erste Privileg der Fürstentümer ab antiquo1 das Bestehen der Moldau als ein gesondertes, sich selbst regierendes Fürstentum ist."
A. Vogorides, Sekretär der türkischen Botschaft in London, an den Kaimakam Vogorides
„Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Schwager gerade bei Lord Palmerston gewesen ist. Er hat wichtige Nachrichten über die Einstellung Seiner Lordschaft zur Vereinigung der Fürstentümer gebracht. Lord Palmerston ist ein entschiedener Gegner der Vereinigung. Er betrachtet sie als subversiv für die Rechte unseres Souveräns, und demzufolge werden analoge Instruktionen an Sir Henry Bulwer, dem Beauftragten Großbritanniens in den Fürstentümern, abgehen. Deshalb ist es also notwendig, wie ich Ihnen schon vorher schrieb, jeden Nerv anzuspannen, um die Moldauer daran zu hindern, Wünschen zugunsten der Vereinigung Ausdruck zu geben, und sich des
1 von alters her 17 Marx/Engels, Werke, Bd. 12
Wohlwollens der Pforte sowie der Unterstützung Englands und Österreichs würdig zu erweisen. Da die drei Mächte entschlossen sind, die Vereinigung zu verhindern, so brauchen Sie sich nicht darum zu kümmern, was die Franzosen zu tun beabsichtigen oder androhen, deren Journale Sie wie einen Griechen behandeln."
Derselbe an denselben.
London, 15. April 1857 „ Ich rate Ihnen, dem österreichischen Konsul blindlings in allem Folge zu leisten, auch wenn er sich noch so hochmütig zeigen sollte, und trotz all seiner Fehler. Sie müssen bedenken, daß dieser Mann nur den Instruktionen seiner Regierung gemäß handelt. Österreich ist mit den Absichten der Hohen Pforte und Großbritanniens einverstanden, und aus diesem Grunde werden, wenn Österreich zustimmt, auch die Türkei und England zustimmen. Ich wiederhole deshalb, daß Sie sich den Ratschlägen und Wünschen des österreichischen Konsuls fügen und ohne den geringsten Einwand alle Personen verwenden müssen, die er Ihnen vorschlägt, ohne daß er Sie informiert, ob die empfohlenen Personen verderbt sind oder einen schlechten Ruf haben. Es genügt vollkommen, daß diese Leute aufrichtig gegen die Vereinigung sind. Das genügt. Denn sollte die Vereinigung vom moldauischen Diwan proklamiert werden, so würde Österreich Sie dafür verantwortlich machen, weil Sie sich den Ratschlägen seines Konsuls widersetzt haben, der ein so aktiver Gegner der Vereinigung ist. Was nun England anbetrifft, so wird es die Vereinigung niemals zulassen, auch wenn sich alle Diwane dafür aussprächen. Trotzdem wünscht man, daß Sie den moldauischen Diwan davon abbringen, sich für die Vereinigung auszusprechen, weil dann die Schwierigkeiten der drei Mächte mit Frankreich und Rußland geringer sein würden, und sie Ihnen zu Dank verpflichtet wären... Sie hatten ganz recht, die Pressefreiheit nicht zu gestatten, die von den moldauischen Tollköpfen, den Freunden Rußlands in französischer Maskierung, mißbraucht würde, um eine Volksbewegung zugunsten der Vereinigung herbeizuführen... Manöver dieser Art müssen von Ihnen verhindert werden! Ich bin überzeugt davon, wenn „Etoile du Danube" und ähnliche schlechte Publikationen in Frankreich erschienen wären, die Regierung nicht gezaudert hätte, deren Autoren unverzüglich nach Cayenne zu verbannen. Frankreich, das nach Freiheitsklubs und politischen Versammlungen in der Moldau-Walachei verlangt, sollte sie zuerst einmal "bei sich, im eigenen Lande, gestatten, statt gegen alle Journalisten, die es wagen, etwas freiheitlich zu sprechen, Verbannungen und Verfolgungen anzuordnen. Ein französisches Sprichwort sagt: Charite bien ordonnee commence par soimeme,1 Der Pariser Vertrag spricht nicht von der Vereinigung der Fürstentümer. Er besagt nur, daß die Diwane sich für die innere Reorganisation des Landes aussprechen sollen, aber die Tollköpfe, welche die Vereinigung zu ihrer Parole machen, wobei sie völlig diese Klausel des Vertrages vergessen, beschäftigen sich ausschließlich mit einer
1 Jeder ist sich selbst der Nächste
neuen internationalen Organisation und träumen von Unabhängigkeit unter ausländischen Fürsten, statt sich mit inneren Reformen zu befassen... England, das in vollem Einverständnis mit Osterreich handelt, ist entschieden gegen die Vereinigung und wird im Einklang mit der Hohen Pforte niemals zulassen, daß sie verwirklicht wird. Wenn Ihnen der französische Konsul das Gegenteil erzählt, so glauben Sie ihm nicht, denn er lügt."
Aus dem Englischen.
Die indische Insurrektion
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5104 vom 29. August 1857] London, 14. August 1857 Kaum waren die indischen Nachrichten eingetroffen, die der Telegraph am 30.Juli über Triest und die Indien-Post am 1 .August übermittelt hatten, wiesen wir sogleich an Hand ihres Inhalts und ihrer Zeitangaben nach, daß die Einnahme von Delhi eine elende Zeitungsente und eine äußerst schlechte Nachahmung des unvergessenen Falls von Sewastopol war. Doch die Leichtgläubigkeit John Buiis sitzt so unermeßlich tief, daß seine Minister, seine Börsenjobber und seine Presse es tatsächlich fertiggebracht hatten, ihn davon zu überzeugen, daß gerade die Nachricht, die (jeneral Barnards rein defensive Stellung offen darlegte, den Nachweis der vollkommenen Vernichtung seiner Feinde enthalte. Von Tag zu Tag wurde diese Sinnestäuschung stärker, bis sie schließlich solche Hartnäckigkeit annahm, daß sie sogar einen in solchen Dingen erprobten Mann, General Sir de Lacy Evans, dazu verleitete, am Abend des 12.August unter dem Beifallsgeschrei des Unterhauses zu erklären, er glaube an die Wahrheit des Gerüchtes über die Einnahme von Delhi. Nach diesem lächerlichen Schauspiel war jedoch die Blase reif zum Platzen, und der folgende Tag, der 13. August, brachte kurz nacheinander telegraphische Depeschen aus Tnest und Marseille, die der indischen Post Vorgriffen und keinen Zweifel daran ließen, daß am 27. Juni Delhi noch stand, wo es vorher gestanden hatte, und daß General Barnard, noch auf die Defensive beschränkt, aber durch häufige wütende Ausfälle der Belagerten fortwährend beunruhigt, sehr froh darüber war, daß er seine Stellung bis dahin zu halten vermocht hatte. Nach unserer Meinung wird die nächste Post wahrscheinlich Nachrichten vom Rückzug, der englischen Armee oder zum mindesten Tatsachen bringen, die solch eine rückwärtige Bewegung im voraus anzeigen. Zwar wird niemand
bei der Ausdehnung der Wälle von Delhi glauben, daß alles wirklich mit Mannschaften besetzt werden kann; im Gegenteil lädt alles zu einem coup de main1 ein, der durch Truppenkonzentration und Überraschung vollführt wird. Aber General Barnard scheint mehr in europäischen Begriffen befestigter Städte und Belagerungen und Beschießungen befangen zu sein, als zu solch kühnen exzentrischen Maßnahmen zu neigen, mit denen Sir Charles Napier blitzartig asiatische Gemüter zu erschüttern wußte. Seine Kräfte sollen tatsächlich auf ungefähr 12 000 Mann, 7000 Europäer und 5000 „treue Eingeborene", angewachsen sein, aber andererseits wird nicht geleugnet, daß die Aufständischen täglich neue Verstärkungen erhalten, so daß wir durchaus annehmen können, daß das zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen Belagerern und Belagerten dasselbe geblieben ist. Überdies ist die einzige Stelle, an der General Barnard sich durch Überraschung einen gewissen Erfolg sichern könnte, der Palast des Moguls, der eine beherrschende Stellung einnimmt, zu dem aber der Zugang von der Flußseite aus infolge der beginnenden Regenzeit ungangbar werden muß, während ein Angriff auf den Palast zwischen dem Kaschmir-Tor und dem Fluß für die Angreifer die größte Gefahr im Falle eines Fehlschlags mit sich bringen würde. Schließlich macht gewiß das Einsetzen der Regenzeit die Sicherung seiner Verbindungs- und Rückzugslinie zur Hauptaufgabe der Operationen des Generals. In einem Wort, wir |ehen keinen Grund zu glauben, daß er sich mit seinen noch unzulänglichen Kräften zur ungünstigsten Jahreszeit auf ein Wagnis einlassen sollte, vor dem er zu einer günstigeren Jahreszeit zurückschreckte. Daß trotz der notorischen Blindheit, mit der die Londoner Presse es fertigbringt, sich selbst zu betrügen, ernste Befürchtungen an den höchsten Stellen gehegt werden, kann man aus Lord Palmerstons Organ, der „Morning Post", ersehen. Die käuflichen Herren des Blattes teilen uns mit:
„Wir bezweifeln, ob wir bereits mit der nächsten Post von der Einnahme Delhis hören werden; aber wir rechnen damit, daß wir Nachricht von dem Fall des Bollwerks der Aufständischen erhalten werden, sobald die Truppen, die sich jetzt auf dem Marsch befinden, um sich mit den Belagerern zu vereinigen, angekommen sein werden, mit einer ausreichenden Zahl schwerer Geschütze, die anscheinend immer noch fehlen." Offenbar haben es die britischen Generale infolge von Schwäche, . Unentschlossenheit und direkten Fehlern fertiggebracht, Delhi in den Rang des politischen und militärischen Zentrums des indischen Aufstandes zu erheben. Ein Rückzug der englischen Armee nach einer langwährenden Belagerung oder ein bloßes Verharren in der Defensive wird als eine direkte Niederlage
1 Handstreich
angesehen werden und das Signal zu einer allgemeinen Erhebung geben. Es würde überdies die Truppen einem fürchterlichen Sterben aussetzen, vor dem sie bisher durch die große Erregung bewahrt worden sind, mit der eine Belagerung voller Ausfälle, Gefechte und der Hoffnung, bald blutige Rache an den reinaen zu UDen, verDunaen ist. was aas oescnwatz uoer die Gleichgültigkeit der Hindus oder sogar ihrer Sympathie für die britische Herrschaft anbetrifft, so ist das alles Unsinn. Die Fürsten, wie richtige Asiaten, warten auf ihre Gelegenheit. Die Bevölkerung in der ganzen Präsidentschaft Bengalen, wo sie nicht von einer Handvoll Europäer in Schach gehalten wird, erfreut sich einer glückseligen Anarchie; nur ist niemand da, gegen den sie sich erheben könnte. Es ist ein seltsames quid pro quo1, zu erwarten, daß ein indischer Aufstand die Züge einer europäischen Revolution annimmt. In den Präsidentschaften Madras und Bombay rührt sich die Bevölkerung verständlicherweise nicht, weil sich die Armee noch nicht erklärt hat. Der Pandschab schließlich ist bis jetzt der wichtigste zentrale Standort der europäischen Streitkräfte, während die dortige Eingeborenenarmee entwaffnet ist. Um den Pandschab zum Aufruhr zu bringen, müssen die benachbarten halbunabhängigen Fürsten ihr Gewicht in die Waagschale werfen. Aber daß solch eine verzweigte Verschwörung, wie sie sich bei der bengalischen Armee zeigte, nicht in einem so ungeheuren Maßstab ohne die stillschweigende Billigung und Unterstützung seitens der Eingeborenen betrieben werden konnte, scheint ebenso sicher, wie es gewiß ist, daß die großen Schwierigkeiten, auf die die Engländer bei der Erfassung von Lebensmitteln und Transportmitteln stoßen - die hauptsächliche Ursache der langsamen Konzentration ihrer Truppen -, keineswegs von guter Gesinnung der Bauernschaft zeugen. Die anderen Nachrichten, die der Telegraph gebracht hat, sind insoweit wichtig, als sie uns zeigen, daß der Aufstand bereits an den äußersten Grenzen des Pandschab, in Peschawar, aufflammt und sich andererseits schnell von Delhi aus m südlicher Richtung bis zur Präsidentschaft Bombay ausbreitet, indem er die Standorte Dschansi, Saugor, Indor, Mau erfaßt und schließlich Aurangabad, nur 180 Meilen nordöstlich von Bombay, erreicht hat. Im Hinblick auf Dschansi in Bandelkand können wir bemerken, daß es befestigt ist und so ein anderes Zentrum des bewaffneten Aufstandes werden kann. Andererseits wird gemeldet, daß General Van Courtlandt die Meuterer bei Sirsa geschlagen hat, als er sich auf seinem Marsch aus dem Nordwesten befand, um sich mit General Barnards Streitkräften vor Delhi zu vereinigen, von dem er noch 170 Meilen entfernt war. Er hätte Dschansi zu passieren, wo
1 Mißverständnis
er wieder mit den Rebellen zusammenstoßen würde. Was die Maßnahmen anbetrifft, die von der Regierung in der Heimat getroffen werden, so denkt Lord Palmerston anscheinend, daß der umständlichste Weg der kürzeste ist, und sendet folglich seine Truppen um das Kap herum anstatt durch Ägypten. Die Tatsache, daß einige tausend Mann, die für China bestimmt waren, in Ceylon angehalten und nach Kalkutta geleitet würden, wo die 5. Füsiliere wirklich am 2. Juli ankamen, bot ihm die Gelegenheit, einen schlechten Witz über diejenigen seiner gehorsamen Unterhausmitglieder zu machen, die noch daran zu zweifeln wagten, daß sein chinesischer Krieg ein ganz „unerwartetes Geschenk des Schicksals" wäre.
Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die politische Lage in Europa]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5110 vom 5. September 1857, Leitartikel] Die vorletzte Sitzung des Unterhauses vor den Parlamentsferien1237 ] benutzte Lord Palmerston dazu, die Abgeordneten einen flüchtigen Blick auf das Unterhaltungsprogramm werfen zu lassen, das er während des Interregnums zwischen der gerade abgelaufenen und der kommenden Sitzungsperiode für die englische öffentlichkeit auf Lager hält. Die erste Nummer seines Programms ist die Ankündigung vom Wiederaufleben des persischen Krieges, der, wie er einige IVlonate vorher erklärt hatte, endgültig durch einen am 4,März abgeschlossenen Frieden[238] beendet worden sei. Da General Sir de Lacy Lvans die Hoffnung ausgesprochen hatte, Oberst Jacob würde mit seinen Abteilungen, die jetzt am Persischen Golf stationiert sind, nach Indien zurückbeordert, erklärte Lord Palmerston offen, daß Oberst Jacobs Truppen solange nicht zurückgezogen werden könnten, bis Persien die im Vertrag eingegangenen Verpflichtungen eingelöst hätte. Herat wäre jedenfalls noch nicht geräumt worden. Im Gegenteil wären Gerüchte im Umlauf, die behaupten, daß Persien weitere Streitkräfte nach Herat entsandt hätte. Das hätte zwar der persische Botschafter in Paris geleugnet; aber mit Recht beständen starke Zweifel an der Vertragstreue Persiens, und deshalb würden die britischen Truppen unter Oberst Jacob weiterhin Buschir besetzt halten. Am Tag nach der Erklärung Lord Palmerstons brachte der Telegraph die Nachricht, daß Herr Murray der persischen Regierung mit allem Nachdruck die kategorische Forderung auf Räumung Herats gestellt hätte - eine Forderung, die man mit Recht als Vorläufer einer neuen Kriegserklärung betrachten kann. Das ist die erste internationale Auswirkung des indischen Auf standes. Die zweite Nummer aus dem Programm Lord Palmerstons rechtfertigt den Mangel an Einzelheiten mit der weiten Perspektive, die sie eröffnet. Als
er zum ersten Mal den Abzug starker militärischer Kräfte aus England ankündigte, die nach Indien befördert werden sollten, antwortete er seinen Gegnern, die ihn beschuldigten, daß er Großbritannien seiner Defensivkräfte beraube und dadurch fremden Mächten eine günstige Gelegenheit böte, Vorteil aus der geschwächten Lage zu ziehen, „die Bevölkerung Großbritanniens würde etwas Derartiges niemals dulden, und in kürzester Frist ständen für jeden plötzlichen Fall, der eintreten könnte, genügend Männer unter der Fahne". Jetzt, am Vorabend der Parlamentsferien, spricht er in ganz anderer Tonart. Auf den Rat des Generals de Lacy Evans, die Truppen nach Indien auf Linienschiffen mit Schraubenantrieb zu befördern, antwortete er nicht wie vorher, als er die Überlegenheit des Segelschiffes über den Schraubendampfer verteidigt hatte, sondern gab im Gegenteil zu, daß der Plan des Generals im ersten Augenblick sehr vorteilhaft erscheine. Doch das Haus müßte sich daran erinnern, daß „andere Überlegungen anzustellen seien, und zwar im Hinblick darauf, daß es angebracht sei, genügend Land- und Seestreitkräfte in der Heimat zu halten... Gewisse Umstände zeigten, daß es nicht dienlich sei, stärkere Seestreitkräfte als unbedingt nötig außer Landes zu senden. Die Dampf-Linienschiffe wären zwar außer Dienst gestellt und gegenwärtig nicht von großem Nutzen; falls aber irgendwelche Ereignisse einträten, auf die angespielt worden ist, und verlangt würde, daß die Seestreitkräfte auslaufen, wie könnte man der drohenden Gefahr begegnen, wenn man zuließe, daß die Linienschiffe den Transportdienst nach Indien versehen? Man würde einem schwerwiegenden Irrtum verfallen, wenn man nach Indien die Flotte schickte, die möglicherweise wegen in Europa eintretender Uinstände jeden Augenblick für die eigene Verteidigung gefechtsbereit sein muß." Es ist nicht zu leugnen, daß Lord Palmerston John Bull vor ein sehr heikles Dilemma stellt. Wenn er die für eine endgültige Unterdrückung des indischen Aufstandes erforderlichen Mittel einsetzt, wird er in der Heimat angegriffen werden; und wenn er zuläßt, daß sich der indische Aufstand konsolidiert, so wird er, wie Herr Disraeli sagte, „andere Charaktere auf der Bühne vorfinden, mit denen er zu kämpfen hätte, außerdem die Fürsten Indiens". Bevor wir einen Blick auf die „europäischen Umstände" werfen, auf die so geheimnisvoll angespielt wurde, mag es nicht ungelegen sein, die Eingeständnisse während der eben erwähnten Sitzung des Unterhauses in bezug auf die gegenwärtige Lage der britischen Streitkräfte in Indien anzuführen. Erstens also wurden alle zuversichtlichen Hoffnungen auf eine über
raschende Einnahme von Delhi wie durch gegenseitige Verabredung fallengelassen, und die hochfliegenden Erwartungen früherer Tage stiegen zu der vernünftigeren Ansicht hinunter, daß man sich sogar gratulieren dürfe, wenn die Engländer imstande wären, ihre Stellungen bis November zu halten, wo die aus der Heimat gesandten Verstärkungen heranrücken sollen. Zweitens wurden Befürchtungen laut, daß wahrscheinlich die wichtigste dieser Stellungen, Khanpur, verlorengehe, von dessen Schicksal, wie Herr Disraeli sagte, alles abhängen soll und dessen Entsatz er noch größere Bedeutung beimaß als der Einnahme von Delhi. Wegen seiner zentralen Lage am Ganges, seiner Verbindung mit Audh, Rohilkand, Gwalior und Bandelkand und seiner Verwendung als vorgeschobenes Fort für Delhi ist Khanpur tatsächlich unter den gegenwärtigen Umständen ein Ort von erstrangiger Bedeutung. Schließlich lenkte Sir F.Smith, eine der Militärpersonen unter den Mitgliedern des Hauses, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß es gegenwärtig keine Ingenieure und Sappeure bei der indischen Armee gäbe, da alle desertiert wären und wahrscheinlich „Delhi zu einem zweiten Saragossa machen"12391 würden. Andererseits hätte Lord Palmerston es unterlassen, Offiziere oder Mannschaften des Pionierkorps von England abzusenden. Wenn wir nun zu den europäischen Ereignissen zurückkehren, die „in der Zukunft sichtbar" werden sollen, so sind wir erst einmal erstaunt über den Kommentar, den die Londoner „Times" zu Lord Palmerstons Anspielungen gibt. Die französische Verfassung, sagt sie, könnte umgestoßen werden oder Napoleon von der Weltbühne verschwinden, und dann würde es mit der französischen Allianz, auf der die gegenwärtige Sicherheit beruhe, ein Ende haben. Mit anderen Worten, während die „Times", das große Organ des britischen Kabinetts, eine Revolution in Frankreich als ein Ereignis betrachtet, das jeden Tag eintreten kann, erklärt sie gleichzeitig, daß sich die jetzige Allianz nicht auf die Sympathien des französischen Volkes, sondern auf ein bloßes Komplott mit dem französischen Usurpator stütze. Außer einer Revolution in Frankreich gibt es den Donaukonflikt1761. Durch die Annullierung der Wahlen in der Moldau ist er nicht beigelegt worden, sondern nur in eine neue Phase getreten. Da ist vor allem noch der skandinavische Norden, der in nächster Zeit sicherlich zum Schauplatz großer Auseinandersetzungen werden wird und vielleicht das Signal für einen internationalen Konflikt in Europa geben kann. Noch wird der Friede im Norden erhalten, weil zwei Ereignisse mit Bangen erwartet werden - der Tod des Königs von Schweden und die Thronentsagung des jetzigen Königs von Dänemark. Auf einer kürzlichen Tagung der Naturforscher in Christiania erklärte der Erbprinz von Schweden sich nachdrücklich für eine skandinavische Union. Da
er ein Mann im besten Lebensalter und von entschlossenem und energischem Charakter ist, wird die skandinavische Partei, die in ihren Reihen die feurige Jugend Schwedens, Norwegens und Dänemarks zusammenfaßt, seine Thronbesteigung als den günstigen Augenblick betrachten, um die Waffen zu ergreifen. Andererseits soll der schwächliche und geistesgestörte König von Dänemark, Friedrich VII., schließlich von der Gräfin Danner, seiner morganatischen Gemahlin, die Erlaubnis erhalten haben, sich ins Privatleben zurückzuziehen, eine Erlaubnis, die ihm bisher verweigert worden war. Ihretwegen mußte sich Prinz Ferdinand, des Königs Onkel und der mutmaßliche Erbe des dänischen Thrones, von den Staatsangelegenheiten zurückziehen, zu denen er später infolge einer durch die anderen Mitglieder der königlichen Familie zustande gebrachten Regelung zurückkehrte. Im Augenblick soll nun jetzt die Gräfin Danner dazu geneigt sein, ihre Residenz in Kopenhagen mit Paris zu vertauschen, und sogar den König drängen, den Stürmen des politischen Lebens Lebewohl zu sagen, indem er sein Zepter in die Hände des Prinzen Ferdinand legt. Dieser Prinz Ferdinand, ein Mann von ungefähr 65 Jahren, hat stets die gleiche Haltung gegenüber dem Hof in Kopenhagen eingenommen, wie der Graf von Artois - später Karl X. - gegenüber dem Hof der Tuilerien. Hartnäckig, streng und eifrig in seiner konservativen Anschauung, hat er sich nie zu der Heuchelei herabgelassen, als Anhänger des konstitutionellen Systeme zu erscheinen. Doch die erste Bedingung seiner Thronbesteigung würde der Schwur auf eine Verfassung sein, die er offen verabscheut. Daher die Wahrscheinlichkeit internationaler Verwicklungen, die die skandinavische Partei in Schweden und in Dänemark fest entschlossen ist, für sich auszunutzen. Andererseits würde der Konflikt zwischen Dänemark und den deutschen Herzogtümern Holstein und Schleswig, die in ihren Forderungen von Preußen und Österreich unterstützt werdent240], die Dinge noch mehr verwirren und Deutschland in die Auseinandersetzungen des Nordens verstricken, während der Londoner Vertrag von 1852, der den Thron von Dänemark dem Prinzen Ferdinand garantiertt241], Rußland, Frankreich und England darin verwickeln würde.
Geschrieben am 2I.August 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Über die Folterungen in Indien]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5120 vom 17. September 1857, Leitartikel] Wir veröffentlichten gestern über den indischen Aufstand einen Brief unseres Londoner Korrespondenten[242], in dem er sehr richtig auf gewisse Vorgänge in der Vergangenheit hinwies, die diesem gewaltsamen Ausbruch den Weg bereiteten. Heute wollen wir einen Augenblick bei dieser Betrachtungsweise verharren und zeigen, daß die britischen Beherrscher Indiens durchaus nicht so milde und makellose Wohltäter des indischen Volkes sind, wie sie es der Welt weismachen möchten. In dieser Absicht halten wir uns an die offiziellen Blaubücher über die Folter in Ostindien, die dem Unterhaus während der Sitzungsperioden von 1856 und 1857 vorlagen. Wie man sehen wird, ist das Material so beweiskräftig, daß es nicht widerlegt werden kann» Zunächst haben wir den Bericht der Folterkommission von Madrasr243], in dem sie ihre „Uberzeugung" mitteilt, „daß die Folter für Steuerzwecke allgemein existiert". Sie bezweifelt, ob „auch nur annähernd eine gleiche Anzahl Personen jährlich wegen krimineller Delikte Gewalttätigkeiten ausgesetzt ist wie für das Vergehen, die Steuer nicht bezahlt zu haben". Sie erklärt, daß „eine Sache die Kommission noch schmerzlicher berührt hätte als die Uberzeugung, daß die Folter existiert; es sei die Schwierigkeit, Wiedergutmachung zu erhalten, der die geschädigten Parteien gegenüberstehen". Die von den Kommissionsmitgliedern angegebenen Gründe für diese Schwierigkeit sind: 1. Die Entfernungen, die diejenigen zurücklegen müssen, die sich persönlich beim Collector[244] beschweren wollen, was Geldausgaben und Zeitverlust beim Aufsuchen seines Amtes einschließt. 2. Die Furcht,
daß schriftliche Gesuche „mit dem üblichen Vermerk zur Verweisung an den Tahsildar", den Polizei- und Steuerbeamten des Kreises, zurückgeschickt werden, das heißt, gerade an den Mann, der ihm entweder in eigener Person oder durch seine ihm untergebenen Polizeidiener Unrecht zugefügt hat, 3. Die Unzulänglichkeit der Rechtsmittel und Straf maßnahmen, die das Gesetz für Regierungsbeamte vorsieht, selbst wenn diese solcher Vergehen förmlich angeklagt oder überführt worden sind. Es scheint, daß ein Richter nur eine Geldstrafe "von fünfzig Rupien oder eine Gefängnisstrafe von einem Monat verhängen könnte, falls eine derartige Anklage vor ihm bewiesen würde. Die Alternative bestand darin, den Angeklagten entweder „zur Bestrafung dem Strafrichter zu übergeben oder seinen Fall zur Untersuchung dem Kreisgericht zu überweisen". Der Bericht fügt hinzu, „dies scheinen langwierige Verfahren zu sein, nur auf eine Kategorie von Vergehen anwendbar, auf Amtsmißbrauch nämlich, in Polizeidienststellen, und sind völlig unzureichend für die Erfordernisse des Falles". Wird ein Polizei- oder Steuerbeamter, der ein und dieselbe Person darstellt, da die Polizei die Steuer einzieht, unter Anklage wegen Gelderpressung gestellt, so wird er zuerst vom Collector-Assistenten vernommen; er kann dann beim Collector Berufung einlegen und hierauf beim Steueramt. Dieses Amt kann ihn an die Regierung oder an die Zivilgerichtshöfe verweisen. „Bei solch einem Rechtszustand könnte kein armer Raiatt245] etwas gegen einen reichen Steuerbeamten ausrichten; und uns ist nichts bekannt von irgendwelchen Beschwerden, die unter diesen beiden Verordnungen (von 1822 und 1828) von der Bevölkerung vorgebracht worden sind." Überdies liegt nur dann Gelderpressung vor, wenn Aneignung öffentlicher Gelder vorliegt, oder wenn ein Beamter gewaltsam eine zusätzliche Abgabe aus dem Raiat herauspreßt, die er in seine eigene Tasche steckt. Es gibt also keinerlei Rechtsmittel, um die Anwendung von Gewalt bei der Einziehung der öffentlichen Steuer zu bestrafen. Der Bericht,.dem diese angeführten Beispiele entnommen sind, bezieht sich nur auf die Präsidentschaft Madras; doch in einem Schreiben an die Direktoren stellt Lord Dalhousie im September 1855 selbst fest, daß „er längst aufgehört hat, daran zu zweifeln, daß die Folter in der einen oder anderen Form von; den untergeordneten Beamten in jeder britischen Provinz angewendet wird". Die allgemeine Anwendung der Folter als einer Finanzinstitution Britischindiens wird damit offiziell zugegeben, aber dieses Eingeständnis ist in einer
solchen Form gemacht worden, daß sie die britische Regierung selbst deckt. In der Tat lautet die Schlußfolgerung, zu der die Kommission von Madras gelangt, daß die Anwendung der Folter ausschließlich das Vergehen der unteren Hindubeamten sei, während die europäischen Beamten der Regierung, wenn auch erfolglos, stets alles getan hätten, dies zu verhindern. Als Antwort auf diese Behauptung machte die Eingeborenen-Assoziation von Madras im Januar 1856 eine Eingabe an das Parlament, worin sie mit folgenden Gründen Klage über die Folteruntersuchung führte: 1. Es gab überhaupt kaum irgendeine Untersuchung, da die Kommission ihre Sitzungen nur in der Stadt Madras abhielt, und nur drei Monate lang, während es, von sehr wenigen Fällen abgesehen, den Eingeborenen, die Beschwerden hatten, unmöglich war, ihre Wohnorte zu verlassen. 2. Die Kommissionsmitglieder bemühten sich nicht, dem Übel bis zur Wurzel nachzuspüren; hätten sie dies getan, wäre das Übel gerade im System der Steuereinziehung entdeckt worden. 3. Die beschuldigten einheimischen Beamten wurden nicht befragt, inwieweit ihre Vorgesetzten mit der Folterpraxis bekannt waren. „Die letzte Schuld für diese Anwendung von Zwang", schreiben d, 5 Verfasser der Eingabe, „liegt nicht bei denen, die ihn physisch ausüben; auf sie geht sie nur von den unmittelbar vorgesetzten Beamten über, die wiederum für die veranschlagte Höhe der Steuereinnahme ihren europäischen Vorgesetzten gegenüber einstehen müssen, wob « diese in gleicher Weise der höchsten Behörde des Staates verantwortlich sind." Wahrlich, wenige Auszüge aus dem Beweismaterial, auf dem der Bericht aus Madras laut eigener Erklärung beruht, werden genügen, um die darin enthaltene Behauptung zu widerlegen, daß „die Engländer keine Schuld trifft". So schreibt Herr W.D.Kohlhoff, ein Kaufmann: „Die Methoden der verübten Folter sind vielfältig und entsprechen der Erfindungsgabe des Tahsildars oder seiner Untergebenen, doch ob irgendeine Abhilfe von den oberen Amtsstellen erlangt wird, ist für mich schwierig zu sagen, da alle Beschwerden im allgemeinen den Tahsildars zur Untersuchung und Meldung überwiesen werden." Unter den Beschwerdefällen von Eingeborenen finden wir folgenden: „Da im vergangenen Jahr unser Peasanum (Hauptpaddy oder Reisernte) wegen der Trockenheit mißraten war, konnten wir nicht wie gewöhnlich zahlen. Als die Dschamabandi1 gemacht wurde, forderten wir wegen der Verluste eine Ermäßigung entsprechend den Bedingungen des Abkommens von 1837, dem wir zugestimmt hatten, als Herr Eden unser Collector war. Da diese Ermäßigung nicht gewährt wurde, weigerten wir uns, unsere Pattahs2 zu akzeptieren. Darauf begann der Tahsildar, uns mit großer Härte vom Juni bis August zur Zahlung zu zwingen. Man übergab mich und andere in
1 jährliche Veranlagung der Grundsteuer - 2 auferlegten Grundsteuern
Gewahrsam von Leuten, die uns in die Sonne zu stellen pflegten. Dort mußten wir uns niederbeugen. Steine wurden uns auf den Rücken gelegt, und so mußten wir im glühenden Sand verharren. Erst nach 8 Uhr ließ man uns auf unsere Reisfelder gehen. Derartige Mißhandlungen wurden drei Monate lang fortgesetzt, währenddessen wir mehrmals, um unsere Bittschriften abzugeben, zu dem Collector gingen, der sich weigerte, sie anzunehmen. Wir nahmen diese Bittschriften und wandten uns an den Gerichtshof, der sie dem Collector überwies. Doch wir bekamen kein Recht. Im September erhielten wir eine Warnung, und fünfundzwanzig Tage darauf wurde unser Eigentum gepfändet und dann verkauft. Neben allem, was ich erwähnt habe, wurden auch unsere Frauen mißhandelt; der kittee1 wurde ihnen auf die Brüste gesetzt." Ein christlicher Eingeborener stellt als Antwort auf Fragen der Kommissionsmitglieder fest: „Wenn ein Regiment von Europäern oder Eingeborenen durchmarschiert, werden alle Bauern gezwungen, umsonst Proviant usw. zu liefern, und wenn einer von ihnen um die Bezahlung der Waren ersuchen sollte, wird er grausam gefoltert." Es folgt der Fall eines Brahmanen, der zusammen mit anderen aus seinem Dorf und den Nachbardörfern von dem-Tahsildar aufgefordert wurde, Bretter, Holzkohle, Brennholz usw. gratis zu liefern, damit er den Bau der Brücke über den Kolerun durchführen könne; als jener sich weigerte, wurde er von zwölf Mann ergriffen und auf verschiedene Art mißhandelt. Er fügt hinzu: „ Ich übergab dem Subcollector, Herrn W. Cadell, eine Beschwerde, aber er stellte keine Untersuchung an und zerriß meinen Beschwerdebrief. Da er die Brücke über den Kolerun auf Kosten der Armen billig fertigstellen und sich bei der Regierung in ein gutes Licht setzen will, nimmt er keine Kenntnis von dem Mord, wie er sich auch immer zugetragen haben mag, den der Tahsildar verübt hat." In welchem Licht die obersten Behörden ungesetzliche, bis zum äußersten Grad der Erpressung und Gewalttätigkeit gehende Handlungen betrachtet, zeigt am besten der Fall des Herrn Brereton, des Kommissars, der 1855 für den Bezirk Ludhiana im Pandschab eingesetzt war. Nach dem Bericht des Oberkommissars für den Pandschab war es erwiesen, daß „in einer Reihe von Fällen mit Wissen des Vizekommissars, Herrn Brereton selbst, oder unter seiner direkten Leitung die Häuser wohlhabender Bürger grundlos durchsucht worden waren, daß bei solchen Gelegenheiten beschlagnahmtes Eigentum über Gebühr hinaus einbehalten wurde, daß viele Betroffene ins Gefängnis geworfen wurden und dort wochenlang lagen, ohne Kenntnis der gegen sie erhobenen Beschuldigungen, daß die Gesetze, welche Schutzhaft für üble Gesinnung vorsehen, summarisch und unterschiedslos mit blinder Härte angewandt worden waren, daß dem Vizekommissar von
1 ein Folterinstrument zum Knebeln
einem Bezirk in den anderen gewisse Polizeioffiziere und Denunzianten gefolgt waren, die er verwendete, wohin er auch ging, und daß diese Leute die hauptsächlichen Unheilstifter waren". In seinem Protokoll über den Fall sagt Lord Dalbousie: „Wir haben unwiderlegbare Beweise - Beweise, die sogar von Herrn Brereton selbst nicht bestritten werden -, daß dieser Beamte in jedem Punkt des langen Katalogs von Unregelmäßigkeiten und Ungesetzlichkeiten schuldig gewesen ist, deren ihn der Oberkommissar angeklagt hat, und die einem Teil der britischen Verwaltung Schande gebracht und eine große Zahl britischer Untertanen grobem Unrecht, willkürlicher Verhaftung und grausamer Folter ausgesetzt haben." Lord Dalhousie schlägt vor, „ein großes öffentliches Exempel zu statuieren", und ist folglich der Meinung, daß „Herr Brereton zur Zeit nicht gut mit der Würde eines Vizekommissars betraut bleiben kann, sondern von diesem Rang zu dem eines ersten Assistenten degradiert werden sollte". Diese Auszüge aus dem Blaubuch kann man mit der Bittschrift der Einwohner von Taluk in Kanara an der Malabar-Küste abschließen, die nach der Feststellung, daß sie mehrere Bittschriften ergebnislos an die Regierung überreicht hätten, ihre frühere und jetzige Lage in folgender Weise gegenüberstellen: „Während wir feuchte und trockene Ländereien, Hügelzüge, flache Gebiete und Wälder bewirtschafteten, die leichten Abgaben zahlten, die uns auferlegt waren, und hierbei unter der Regierung der ,Rani'1 Ruhe und Glück genossen, erhoben Bahadur und Tippu, die damaligen Circarbeamten2, eine zusätzliche Abgabe, doch wir bezahlten sie nie. Wir waren keinen Ausplünderungen, Unterdrückungen oder Mißhandlungen beim Einziehen der Steuer ausgesetzt. Nach der Übergabe dieses Landes an die Ehrenwerte Kompanie ersann man alle möglichen Pläne, um Geld aus uns herauszupressen. Mit diesem verwerflichen Ziel vor Augen, erfand man Maßnahmen und entwarf Verordnungen und veranlaßte die Collectors und Zivilrichter, sie zu verwirklichen. Doch die damaligen Collectors und ihre untergeordneten eingeborenen Beamten beachteten eine Zeitlang gebührend unsere, Beschwerden und handelten im Einklang mit unseren Wünschen. Im Gegensatz dazu mißachten die jetzigen Collectors und die ihnen unterstellten Beamten, gierig, auf irgendeine Weise Beförderung zu erreichen, das Wohlergehen und die Interessen der Bevölkerung im allgemeinen, stellen sich unseren Nöten gegenüber taub und unterwerfen uns jeder Art Repressalien." Wir haben hier nur ein kurzes und in milden Tönen gehaltenes Kapitel aus der wirklichen Geschichte der britischen Herrschaft in Indien gebracht.
1 .Fürstin' - 2 Hofbeamten
Angesichts solcher Tatsachen mögen unbefangene und nachdenkliche Menschen vielleicht zu der Frage veranlaßt werden, ob ein Volk nicht zu dem Versuch berechtigt ist, die fremden Eroberer, die ihre Untertanen derart mißhandelt haben, hinauszujagen. Und wenn die Engländer diese Dinge kaltblütig tun konnten, ist es da überraschend, daß die aufständischen Hindus in der grimmigen Erregung des- Aufstandes und des Kampfes sich der Verbrechen und Grausamkeiten, die gegen sie vorgebracht werden, schuldig gemacht haben?
Geschrieben am 28. August 1857. Aus dem Englischen.
[Der Aufstand in Indien]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5118 vom 15. September1857, Leitartikel] Die Post der „Baltic" meldet keine neuen Ereignisse in Indien, bringt jedoch eine Menge höchst interessanter Einzelheiten, die wir in gedrängter Form zur Unterrichtung unserer Leser wiedergeben wollen. Der erste bemerkenswerte Punkt ist der, daß die Engländer bis zum 15. Juli noch nicht in Delhi eingedrungen waren. Zur selben Zeit trat in ihrem Lager die Cholera auf, setzten die schweren Regenfälle em, und die Aufhebung der Belagerung und der Rückzug der Belagerer schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die britische Presse möchte uns 'gern weismachen, daß die Seuche, die General Sir H. Barnard hinwegraffte, seine schlechter ernährten und stärker beanspruchten Leute verschont hätte. Wir dürfen daher nicht von den ausführlichen Berichten ausgehen, die der Öffentlichkeit mitgeteilt werden, sondern können nur auf Grund von Schlußfolgerungen aus beglaubigten Tatsachen zu einer annähernden Vorstellung von den Verheerungen dieser schrecklichen Seuche in den Reihen der Belagerungsarmee gelangen. Ein Offizier aus dem Lager vor Delhi schreibt am 14. Juli: „Wir tun nichts zur Einnahme Delhis und verteidigen uns nur gegen Ausfälle des Feindes. Wir verfügen über Truppenteile in Stärke von fünf europäischen Regimentern, aber wir können nur 2000 Europäer für irgendeinen wirksamen Angriff zusammenbringen; denn starke Kommandos aus jedem Regiment mußten zum Schutz von Dschalandhar, Ludhiana, Subathu, Dagschai, Kasauli, Ambala, Mirat und Phillaur zurückgelassen werden. Tatsächlich sind nur kleine Kommandos aus jedem Regiment zu uns gestoßen. Der Feind ist uns an Artillerie weit überlegen." Dieses beweist nun, daß die Truppen, die aus dem Pandschab eintrafen, die große nördliche Verbindungslinie von Dschalandhar nach Mirat im Zustand der Rebellion vorfanden und folglich gezwungen waren» ihre Zahl
dadurch zu verringern, daß sie Kommandos bei den Hauptstützpunkten zurückließen. Dies erklärt, weshalb die Truppen aus dem Pandschab nicht in der vorgesehenen Stärke eingetroffen sind, aber es erklärt nicht, warum die europäische Streitmacht auf2000Mann zusammengeschrumpft ist. Der Korrespondent der Londoner „Times" in Bombay versucht in seinem Bericht vom 30. Juli die passive Haltung der Belagerer auf andere Weise zu erklären. Er schreibt: „Die Verstärkungen haben in der Tat unsere Lager erreicht - eine Abteilung des 8. (königlichen) und eine des 61. Infanterieregiments, eine Kompanie Fußartillerie und zwei Kanonen einer Eingeborenentruppe, das 14. irreguläre Kavallerieregiment (als Eskorte eines großen Munitionstrains), das 2. Pandschab-Kavallerieregiment, das 1. Pandschab-Infanterieregiment und das 4. Sikh-Infanterieregiment; aber der Anteil der Eingeborenen an den Truppen, die auf diese Weise die Belagerungsstreitkräfte verstärkt haben, ist nicht völlig und nicht in gleichem Maße zuverlässig, obwohl sie mit Europäern zu Brigaden vereinigt sind. Die Kavallerieregimenter der PandschabTruppen enthalten viele Muselmanen und Hindus höherer Kasten aus dem eigentlichen Hindustan und Rohilkand, während die bengalische irreguläre Kavallerie fast nur aus solchen Elementen zusammengesetzt ist. Diese Leute sind als Gesamtheit äußerst illoyal, und daß sie bei der Truppe in beliebiger Zahl vorhanden sind, muß zu Komplikationen führen— und das hat sich auch gezeigt. Im 2. Pandschab-Kavallerieregiment erwies es sich als notwendig, ungefähr 70 Leute aus Hindustan zu entwaffnen und drei zu hängen, darunter einen höheren Offizier einheimischer Abstammung. Mehrere Soldaten der 9. Irregulären, die eine Zeitlang bei der Truppe waren, sind desertiert, und die 4. Irregulären haben, glaube ich, ihren Adjutanten beim Wachdienst umgebracht." Hier wird ein weiteres Geheimnis enthüllt. Das Lager vor Delhi scheint eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lager von Agramant[246] zu besitzen, und die Engländer müssen nicht nur mit dem Feind an der Front kämpfen, sondern auch mit dem Bundesgenossen in ihren eigenen Linien. Doch diese Tatsache bietet keinen ausreichenden Grund dafür, daß nur 2000 Europäer für Angriffsoperationen übriggeblieben sind. Ein dritter Berichterstatter, der Bombay-Korrespondent der „Daily News", bringt eine ausführliche Aufzählung der Truppen, die unter General Reed, Barnards Nachfolger, zusammengezogen worden sind. Diese Liste scheint zuverlässig zu sein, da ihr Autor im einzelnen die verschiedenen Elemente aufzählt, aus denen die Truppen zusammengesetzt sind. Seinem Bericht zufolge trafen etwa 1200 Europäer und 1600 Sikhs, irreguläre Reiterei usw., also im ganzen etwa 3000 Mann, unter Führung des Brigadegenerals Chamberlain zwischen dem 23. Juni und dem 3. Juli aus demPandschab im Lager vor Delhi ein. Andererseits schätzt er die gesamten Truppen, die jetzt unter General Reed vereinigt 18*
sind, auf 7000 Mann, einschließlich Artillerie und Belagerungstrain, so daß die Armee von Delhi vor der Ankunft der Verstärkungen aus dem Pandschab nicht mehr als 4000 Mann betragen haben konnte. Die Londoner „Times" vom 13. August meldete, daß Sir H.Barnard eine Armee von 7000 Briten i ennn r<* 1 1 .... /-\i 1 1 1 • rc una !>uuu E-ingeDorenen zusammengezogen narre. UDWoni aas eine otrenkundige Übertreibung war, besteht alle Ursache zu der Annahme, daß sich die europäischen Truppen damals auf ungefähr 4000Mann beliefen, die durch eine etwas kleinere Zahl Eingeborener verstärkt wurden. Die ursprüngliche Streitmacht war also unter General Barnard ebenso stark wie die, die jetzt unter General Reed zusammengezogen ist. Folglich haben die Verstärkungen aus demPandschab nur die Verluste wettgemacht, die die Stärke der Belagerer fast um die Hälfte verminderten, eine ungeheure Einbuße, die teils durch die dauernden Ausfälle der Aufständischen, teils durch die Verheerungen der Cholera verursacht wurde. Somit wird verständlich, warum die Briten nur 2000 Europäer zu „irgendeinem wirksamen Angriff" aufbringen können. Soviel zur Stärke der britischen Streitkräfte vor Delhi. Jetzt zu ihren Operationen. Daß sie nicht sehr glänzender Art waren, kann man ohne Schwierigkeiten der einfachen Tatsache entnehmen, daß seit dem S.Juni, als General Barnard die Einnahme der Höhe gegenüber von Delhi meldete, auch nicht ein einziges Bulletin vom Hauptquartier herausgegeben wurde. Die Operationen bestehen mit einer einzigen Ausnahme aus Ausfällen, die die Belagerten unternehmen und die Belagerer zurückschlagen. Die Belagerer wurden einmal von vorn und dann wieder an den Flanken, aber meistens rechts im Rücken angegriffen. Die Ausfälle fanden am 27. und 30. Juni und am 3., 4., 9. und 14. Juli statt. Am 27. Juni war der Kampf auf Vorpostengefechte beschränkt, die mehrere Stunden andauerten, doch wurde er gegen Nachmittag von einem heftigen Regenguß, dem ersten in der Jahreszeit, unterbrochen. Am 30. Juni erschienen die Insurgenten in großer Zahl innerhalb der Sperren rechts von den Belagerern und beunruhigten ununterbrochen deren Feldwachen und Stützpunkte. Am 3. Juli machten die Belagerten am frühen Morgen einen Scheinangriff rechts in den Rücken der englischen Stellung, gingen dann mehrere Meilen in ihrem Rücken an der Straße nach Karnal bis Alipur vor, um einen Trupp mit Nachschub und Geld, der unter Bedeckung nach dem Lager unterwegs war, abzuschneiden. Unterwegs stießen sie auf einen Vorposten des 2. irregulären Pandschab-Regiments zu Pferde, der sofort zurückwich. Am 4. wurden die Aufständischen während ihres Rückmarsches zur Stadt von einer Abteilung von 1000 Infanteristen und zwei Kavallerieschwadronen angegriffen, die,vom englischen Lager abkommandiert waren, um ihnen den Weg zu verlegen. Es gelang diesen jedoch, ihren
Rückzug mit wenig oder gar keinen Verlusten durchzuführen und all ihre Kanonen zu retten. Am 8.Juli wurde vom britischen Lager aus eine Abteilung abgeschickt, um eine Kanalbrücke bei dem Dorf Bassi etwa 6 Meilen von Delhi zu zerstören, die bei den früheren Ausfällen den Insurgenten die Möglichkeit gegeben hatte, die Briten leichter im Rücken anzugreifen und die britischen Verbindungswege mit Karnal und Mirat zu stören. Die Brücke wurde zerstört. Am 9.Juli machten die Insurgenten wieder einen kräftigen Vorstoß und griffen die britische Stellung rechts im Rücken an. In den offiziellen Berichten, die am selben Tage nach Lahor telegraphiert wurden, werden die Verluste der Angreifer auf etwa tausend Tote geschätzt; aber dies scheint stark übertrieben zu sein, da wir in einem Brief aus dem Lager vom 13. Juli lesen: „Unsere Leute begruben und verbrannten zweihundertundfünfzig Tote des Feindes, und eine große Anzahl wurde von ihnen selbst in die Stadt geschafft." Derselbe Brief, den die „Daily News" veröffentlicht hat, behauptet nicht, daß die Briten die Sepoys zurückgeschlagen hätten, sondern daß im Gegenteil „die Sepoys alle unsere Abteilungen, die Schanzarbeiten durchführten, zurückschlugen und sich dann zurückzogen". Die Verluste der Belagerer waren beträchtlich, denn sie beliefen sich auf zweihundertundzwölf Tote und Verwundete. Am 14. Juli fand infolge eines anderen Ausfalls erneut ein erbittertes Gefecht statt, von dem noch keine Einzelheiten bekannt sind. Die Belagerten hatten inzwischen große Verstärkungen erhalten. Am 1 .Juli hatten es die Rohilkand-Aufständischen von Bareilly, Moradabad und Schahdschahanpur, die aus vier Infanterieregimentern, einem irregulären Kavallerieregiment und einer Batterie Artillerie bestanden, fertiggebracht, sich mit ihren Kameraden in Delhi zu vereinigen.
„Man hatte gehofft", schreibt der Bombay-Korrespondent der Londoner „Times", „daß der Ganges, wenn sie ihn erreichen, nicht passierbar sein würde; aber das erwartete Ansteigen des Flusses blieb aus; er wurde bei Garhmukhtesar durchquert, der Doab wurde durchschritten, und Delhi war erreicht. Zwei Tage lang erlebten unsere Truppen die Demütigung, den langen Zug Soldaten, Geschütze, Pferde und aller Art Lasttiere (denn die Aufständischen führten eine Kasse mit ungefähr 5Ö000Pfd. St. mit sich) über die Schiffsbrücke in die Stadt strömen zu sehen, ohne eine Möglichkeit zu haben, sie daran zu hindern oder sie auf irgendeine Weise zu stören." Dieser erfolgreiche Marsch der Aufständischen durch die ganze Weite von Rohilkand beweist, daß das ganze Land östlich der Dschamna bis zu den Höhen von Rohilkand den britischen Truppen versperrt ist, während der ungestörte Marsch der Aufständischen von Nimatsch nach Agra, wenn er mit
den Aufständen in Indor und Mau in Beziehung steht, die gleiche Tatsache für das Land südwestlich der Dschamna und bis hinauf zum WindhjaGebirge beweist. Die einzige erfolgreiche - tatsächlich die einzige - Operation der Engländer im Hinblick auf Delhi ist die Beruhigung des Landes nördlich und nordwestlich Delhis durch General Van Courtlandts Sikh-Truppen aus dem Pandschab. Im gesamten Bezirk zwischen Ludhiana und Sirsa mußte er hauptsächlich die räuberischen Stämme bekämpfen, die in spärlich über eine öde und sandige Wüste zerstreuten Dörfern leben. Am 11 . Juli soll er Sirsa auf dem Wege nach Futtehabad verlassen haben, von dort nach Hissar marschiert sein und somit das Land im Rücken der Belagerungsarmee geöffnet haben. Neben Delhi waren weitere drei Punkte in den Nordwestprovinzen - Agra, Khanpur und Lakhnau - zu Zentren des Kampfes zwischen den Eingeborenen und den Engländern geworden. Das Gefecht von Agra hat die besondere Bedeutung, daß es zeigt, wie zum ersten Mal die Aufständischen zu einer gut durchdachten Expedition über rund 300 Meilen hin aufbrechen mit der Absicht, einen entfernten englischen Standort anzugreifen. Nach dem „Moffussilite"[247], einem in Agra gedruckten Journal, näherten sich die Sepoy-Regimenter von Nasirabad und Nimatsch, etwa 10 000 Mann stärk (ungefähr 7000 Infanteristen, 1500 Kavalleristen und 8 Kanonen), Ende Juni der Stadt Agra, schlugen Anfang Juli in einer Ebene hinter dem D orf Sassia, ungefähr 20 Meilen von Agra, ihr Lager auf und schienen am 4. Juli einen Angriff auf die Stadt vorzubereiten. Auf diese Nachricht hin suchen die europäischen Einwohner der Kantonnements vor Agra Schutz in dem Fort. Der Kommandant von Agra schickte zuerst das Kotah-Kontingent aus Berittenen, Fußvolk und Artillerie los, um als vorgeschobener Posten gegen den Feind zu dienen, doch als sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten, rissen sie samt und sonders aus, um sich den Aufständischen anzuschließen. Am 5. Juli rückte die Garnison von Agra aus, die aus dem 3. bengalischen Europäer-Regiment, einer Batterie und einem europäischen Freiwilligenkorps bestand, um die Aufständischen anzugreifen, und sie soll sie aus dem Dorf in die dahinterliegende Ebene getrieben haben, wurde aber dann offenbar selbst zurückgeschlagen und mußte sich nach einem Verlust von 49 Toten und 92 Verwundeten, bei einer Gesamtstärke von 500 am Kampf beteiligten Soldaten, zurückziehen, wobei sie durch die Kavallerie des Feindes unablässig beunruhigt und bedroht wurde, und zwar mit solcher Aktivität, daß es ihr unmöglich war, „einen Schuß auf sie abzugeben", wie der .„Moffussilite" schreibt. Mit anderen Worten, die Engländer ergriffen regelrecht die Flucht und schlössen sich in ihr Fort ein, während die Sepoys auf ihrem Vormarsch nach Agra fast alle
Häuser im Kantonnement zerstörten. Am folgenden Tage, dem 6. Juli, zogen sie nach Bhartpur, auf dem Wege nach Delhi. Das wichtige Ergebnis dieses Gefechts ist die Unterbrechung der englischen Verbindungslinie zwischen Agra und Delhi durch die Aufständischen und ihr wahrscheinliches Erscheinen vor der alten Stadt der Moguln. Wie aus der letzten Post bekannt, war in Khanpur eine Truppe von etwa 200 Europäern unter dem Befehl des Generals Wheeler, und mit ihnen die Frauen und Kinder des 32. Infanterieregiments, in einer Befestigungsanlage eingeschlossen und von einer erdrückenden Menge Aufständischer unter Führung des Nana Sahib von Bithur umzingelt worden. Am 17. und zwischen dem 24. und 28. Juni fanden mehrere Angriffe auf das Fort statt; beim letzten erhielt General Wheeler einen Schuß ins Bein und starb an seinen Wunden. Am 28. Juni forderte Nana Sahib die Engländer unter der Bedingung zur Übergabe auf, daß es ihnen gestattet sei, mit Booten auf dem Ganges nach Allahabad abzuziehen. Diese Bedingungen wurden angenommen, aber die Briten waren kaum bis zur Mitte des Flusses gekommen, als Kanonen vom rechten Ufer des Ganges aus auf sie das Feuer eröffneten. Die Menschen in den Booten, die nach dem gegenüberliegenden Ufer zu entkommen versuchten, wurden von einer Abteilung Kavallerie gefaßt und niedergehauen. Die Frauen Und Kinder wurden gefangengenommen. Nachdem mehrmals Kuriere mit der dringenden Forderung nach Entsatz von Khanpur nach Allahabad geschickt worden waren, brach am 1 .Juli eine Kolonne MadrasFüsiliere und Sikhs unter Major Renaud nach Khanpur auf. Am 13.Juli bei Tagesanbruch stieß zu ihr, vier Meilen vor Fatehpur, Brigadegeneral Havelock, der etwa 1300 Europäer des 84. und des 64. Regiments, das 13. irreguläre Regiment zu Pferde und einen Rest von Audh-Irregulären befehligte und am 3. Juli von Benares aus in Allahabad eingetroffen und dann Major Renaud in Eilmärschen gefolgt war. Gerade am Tage seiner Vereinigung mit Renaud war er gezwungen, ein Gefecht anzunehmen vor Fatehpur, wohin Nana Sahib seine Eingeborenentruppen geführt hatte. Nach hartnäckigem Kampf gelang es General Havelock, den Feind durch einen Stoß in die Flanke aus Fatehpur in Richtung Khanpur hinauszuwerfen, wo er noch zweimal, am 15. und am 16. Juli, gegen ihn kämpfen mußte. An diesem Tage wurde Khanpur von den Engländern zurückerobert; Nana Sahib zog sich nach Bithur zurück, das zwölf Meilen von Khanpur entfernt am Ganges liegt und stark befestigt sein soll. Ehe Nana Sahib seine Expedition nach Fatehpur unternahm, hatte er alle gefangenen englischen Frauen und Kinder getötet. Die Wiedereinnahme von Khanpur war von höchster Bedeutung für die Engländer, da es ihre Verbindungslinie am Ganges sicherte.
In Lakhnau, der Hauptstadt von Audh, befand sich die britische Garnison fast in derselben schlimmen Lage, die ihren Kameraden in Khanpur zum Verhängnis geworden war - in einem Fort eingeschlossen, von erdrückender Übermacht umgeben, in Proviantschwierigkeiten und ihres Führers beraubt. rv„ . e-.Tj i A T-i" _ i r :_r_i : l^ieser, oir n. J_awience, siai u am -T. j uli an kjiaiiK.ia.mpi miuige cinci Deinwunde, die er am 2. bei einem Ausfall erhalten hatte. Am 18. und 19. Juli hielt Lakhnau noch immer aus. Seine einzige Hoffnung auf Entsatz beruhte darauf, daß General Havelock seine Truppen aus Khanpur heranwerfen werde. Es ist die Frage, ob er dies mit Nana Sahib im Rücken wagen würde. Jede Verzögerung müßte sich jedoch für Lakhnau verhängnisvoll auswirken, da die Regenzeit Feldoperationen bald unmöglich machen würde. Die Untersuchung dieser Ereignisse zwingt uns die Schlußfolgerung auf, daß die britischen Truppen in den Nordwestprovinzen Bengalens allmählich in die Stellung kleiner Stützpunkte gedrängt worden sind, die auf vereinzelten Felsen inmitten eines Meeres der Revolution liegen. Im unteren Bengalen waren nur Einzelfälle von Widersetzlichkeit in Mirsapur, Dinapur und Patna vorgekommen, abgesehen von einem erfolglosen Versuch der herumziehenden Brahmanen aus der Umgebung von Benares, diese heilige Stadt wieder an sich zu bringen. Im Pandschab wurde der Geist der Rebellion gewaltsam niedergehalten, in Sialkot wurde eine Meuterei unterdrückt, eine weitere in Dschilam, ebenso wurde den l_Jnruhen in Peschawar mit Erfolg Einhalt geboten. Aufstandsversuche hat es bereits in Gudscherat, zu Pandharpur in Satara, zu Nagpur und Saugor im Gebiet Nagpur, in Haidarabad im Gebiet des Nizam und schließlich im weit südlich liegenden Maisur, so daß die Ruhe in den Präsidentschaften Bombay und Madras keineswegs als völlig gesichert angesehen werden kann. Geschrieben am I.September 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Einnahmen der Engländer in Indien]
[„New-York Daily Tribüne" Nr.5123 vom 2I.September 1857, Leitartikel] Der augenblickliche Stand der Dinge in Asien wirft die Frage auf: Was ist der wahre Wert des indischen Dominions für die britische Nation und für das britische Volk? Unmittelbar, d. h. in Form der Tributzahlung oder als Überschuß indischer Einkünfte über indische Ausgaben gelangt auch nicht das geringste an das britische Schatzamt. Im Gegenteil, die jährlichen Ausgaben sind sehr hoch. Von dem Augenblick an, da die Ostindische Kompanie den Weg der Eroberung im Großen beschritt - jetzt gerade vor etwa einem Jahrhundert geriet sie in finanzielle Schwierigkeiten und war wiederholt gezwungen, sich nicht nur um militärische Hilfe an das Parlament zu wenden, damit dieses sie bei der Behauptung der eroberten Territorien unterstütze, sondern auch um finanzielle Hilfe, um sie vor dem Bankrott zu retten. Und so ist es weitergegangen bis zu diesem Augenblick, wo eine so große Forderung nach Truppen an die britische Nation erhoben wird, daß ihr zweifellos entsprechende Geldforderungen folgen werden. Bei der Durchführung ihrer Eroberungen und beim Aufbau ihrer Niederlassungen ist die Ostindische Kompanie bisher eine Schuld von über 50 000 000 Pfd.St. eingegangen, während die britische Regierung seit Jahren den Hin- und Hertransport sowie den Unterhalt einer stehenden Armee von dreißigtausend Mann in Indien bestreiten mußte, einer Armee, die zusätzlich neben den eingeborenen und europäischen Truppen der Ostindischen Kompanie existiert. In solchem Fall ist es offensichtlich, daß der Nutzen für Großbritannien aus seinem indischen Reich auf die Profite und Vorteile beschränkt ist, die einzelnen britischen Staatsbürgern zugute kommen. Man muß zugeben, daß diese Profite und Vorteile sehr beträchtlich sind. Zuerst haben wir die Aktionäre der Ostindischen Kompanie in einer Anzahl von etwa 3000 Personen, denen nach der jüngsten Charta12481 auf ein eingezahltes Kapital von sechs Millionen Pfund Sterling eine Jahresdividende
von zehneinhalb Prozent garantiert wird, die sich auf 630 000 Pfd.St. jährlich beläuft. Da das Grundkapital der Ostindischen Kompanie aus übertragbaren Aktien besteht, kann jeder Aktionär werden, der Geld genug besitzt, um die Aktien zu kaufen, die nach der bestehenden Charta eine Prämie von 125 bis 150 Prozent einbringen. Aktien in Höhe von 500Pfd.St., die etwa 6000 Dollar kosten, berechtigen ihren Besitzer dazu, auf den Aktionärversammlungen zu sprechen, doch um wählen zu können, muß er Aktien in Höhe von 1000 Pfd.St. besitzen. Besitzer von 3000 Pfd.St. haben zwei Stimmen, von 6000 Pfd. St. drei Stimmen und von 10 000 Pfd. St. und darüber vier Stimmen. Die Aktienbesitzer haben jedoch nur wenig zu bestimmen, außer bei der Wahl des Direktoriums, von dessen Mitgliedern sie zwölf wählen, während die Krone sechs ernennt; aber die von der Krone Ernannten müssen sich dadurch auszeichnen, daß sie mindestens zehn Jahre in Indien gelebt haben. In jedem Jahr scheidet ein Drittel der Direktoren aus dem Amt aus, kann jedoch wiedergewählt oder wiedereingesetzt werden. Um Direktor werden zu können, muß man Besitzer von 2000 Pfd. St. in Aktien sein. Die Direktoren haben jeder ein Gehalt von 500 Pfd.St., und ihr Vorsitzender und der stellvertretende Vorsitzende erhalten das Doppelte; der Hauptanreiz aber,, den Posten anzunehmen, ist der mit ihm verbundene große Ämterschacher bei der Ernennung aller indischen Beamten, der Zivil- und der Militärbeamten - ein Ämterschacher jedoch, an dem die Kontrollbehörde stark beteiligt ist und den sie in "bezug auf die bedeutendsten Posten im wesentlichen für sich in Anspruch nimmt. Diese Behörde besteht aus sechs Mitgliedern - alle Geheime Räte, und meist zwei oder drei von ihnen Minister des Kabinetts, der Präsident der Behörde ist dies immer, faktisch ist er also Minister für Indien. Als nächstes kommen die Stellenempfänger in diesem Schacher mit Ämtern, die in fünf Kategorien einzuteilen sind - in Zivilverwaltung, Geistlichkeit, Gesundheitswesen, Militär und Marine. Für den Dienst in Indien, zumindest in der Zivilverwaltung, werden gewisse Kenntnisse der Sprachen, die dort gesprochen werden, benötigt, und um die jungen Leute auf den Eintritt in den Verwaltungsdienst vorzubereiten, hat die Ostindische Kompanie in Haileybury ein College. Ein entsprechendes College für den Militärdienst, in dem jedoch die Anfangsgründe der Militärwissenschaft die Hauptunterrichtsfächer bilden, ist in Addiscerobe bei London eingerichtet worden. Die Zulassung zu diesen Colleges hing früher von der Gunst der Direktoren der Kompanie ab, doch nach den letzten Abänderungen an der Charta ist die Bewerbung auf dem Wege einer öffentlichen Prüfung der Kandidaten ermöglicht worden. Ein Zivilbeamter erhält in der ersten Zeit nach der Ankunft in
Indien ein Gehält von etwa 150 Dollar im Monat, bis er nach Ablegung einer Pflichtprüfung in einer oder mehreren der einheimischen Sprachen (die innerhalb eines Jahres nach seiner Ankunft erfolgen muß) in den Dienst aufgenommen wird und Bezüge erhält, die zwischen 2500 Dollar und nahezu 50 000 Dollar jährlich variieren. Das letztere Gehalt ist das der Mitglieder des Rates von Bengalen; die Mitglieder der Räte von Bombay und Madras12281 erhalten etwa 30 000 Dollar im Jahr. Außer Mitgliedern des Rates kann keiner mehr als etwa 25 000 Dollar jährlich erhalten, und um einen Posten mit 20 000 Dollar oder darüber zu bekommen, muß er zwölf Jahre in Indien gelebt haben. Ein Aufenthalt von neun Jahren berechtigt zu Gehältern von 15 000 bis 20 000 Dollar und ein dreijähriger Aufenthalt zu Gehältern von 7000 bis 15 000 Dollar. Ernennungen im Zivildienst erfolgen angeblich auf Grund von Alter und Verdienst, in Wirklichkeit jedoch vor allem durch Protektion. Da diese Ernennungen zu den höchstbezahlten gehören, gibt es eine große Zahl von Bewerbungen, und Offiziere verlassen zu diesem Zweck ihre Regimenter, wann immer sie eine Gelegenheit erwischen können. Der Durchschnitt aller Gehälter im Zivildienst wird mit rund 8000 Dollar angegeben, doch hierin sind nicht die Nebeneinkünfte und Sondervergütungen mit einbegriffen, die oft sehr beträchtlich sind. Diese Zivilbeamten sind als Gouverneure, Räte, Richter, Gesandte, Sekretäre, Collectors of the Revenue*2441 usw. angestellt - die Gesamtzahl beträgt im allgemeinen etwa 800. Das Gehalt des Generalgouverneurs von Indien beträgt 125 000 Dollar, doch die Sondervergütungen belaufen sich oft auf eine noch höhere Summe. Die Geistlichkeit umfaßt drei Bischöfe und etwa hundertsechzig Kaplane. Der Bischof von Kalkutta bekommt jährlich 25 000 Dollar, die von Madras und von Bombay je die Hälfte, die Kaplane erhalten von 2500 bis 7000 Dollar außer den Gebühren. Der Gesundheitsdienst umfaßt etwa 800 Ärzte und Chirurgen mit Gehältern von 1500 bis 10 000 Dollar. Die europäischen Offiziere, die in Indien im Dienst sind, zählen etwa 8000, einschließlich der in den Kontingenten, die von den abhängigen Fürsten gestellt werden müssen. Der festgesetzte Sold bei der Infanterie ist für Fähnriche 1080, für Leutnante 1344, für Hauptleute 2226, für Majore 3810, für Oberstleutnante 5520 und für Obersten 7680 Dollar. Das ist der Sold im Garnisonsdienst. Beim militärischen Einsatz beträgt er mehr. Der Sold bei der Kavallerie, Artillerie und den Pionieren ist etwas höher. Durch Erlangung von Posten im Stab oder von Anstellungen im Zivildienst verdoppeln viele Offiziere ihr Einkommen. Es gibt also rund zehntausend britische Staatsbürger, die einträgliche Posten in Indien einnehmen und ihre Gehälter aus der indischen Verwaltung
beziehen. Zu ihnen muß eine beträchtliche Anzahl hinzugezählt werden, die in England leben, wohin sie sich auf Pensionen zurückgezogen haben, die in allen Ämtern nach einer gewissen Anzahl von Dienstjahren zu zahlen sind. Diese Pensionen verbrauchen zusammen mit den Dividenden und Zinsen auf in England zu begleichende Schulden etwa fünfzehn bis zwanzig IVliIlionen Dollar, die jährlich aus Indien herausgezogen werden, und die tatsächlich als ein Tribut angesehen werden können, der dem englischen Staat indirekt über seine Staatsbürger zufließt. Diejenigen, die jährlich aus den einzelnen Diensten zurückkehren, bringen sehr beträchtliche Ersparnisse aus ihren Gehältern mit, die man ebenso der Summe hinzurechnen muß, die jährlich Indien entzogen wird. Neben den Europäern, die im Dienst der Regierung stehen, gibt es noch andere in Indien lebende Europäer, an Zahl 6000 oder mehr, die sich mit Handel oder privater Spekulation beschäftigen. Außer einigen Indigo-, Zucker- und Kaffeepflanzern in den Ackerbaugebieten sind es vor allem Kaufleute, Vertreter und Fabrikanten, die in den Städten Kalkutta, Bombay und Madras oder in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen. Der Außenhandel Indiens, der Importe und Exporte in Höhe von je etwa fünfzig Millionen Dollar umfaßt, liegt fast völlig in ihren Händen, und ihre Profite sind zweifellos sehr beträchtlich. Es ist also offensichtlich, daß Einzelpersonen großen Gewinn aus der Verbindung Englands mit Indien ziehen, und ihr Gewinn erhöht natürlich die Summe des Nationalreichtums. Doch all dem muß eine sehr gewichtige Gegenrechnung gegenübergestellt werden. Die Militär-und Marineausgaben, die aus der Tasche des englischen Volkes auf Rechnung Indiens bezahlt werden, haben sich mit der Ausdehnung des indischen Herrschaftsgebietes ständig erhöht. Dazu kommen die Ausgaben der birmesischen[249], afghanischen, chinesischen und persischen Kriege. Ja, man kann die ganzen Kosten des letzten Krieges mit Rußland gut und gern auf die indische Rechnung setzen, da die Angst und Furcht vor Rußland, die zu diesem Krieg führte, ausschließlich aus Mißtrauen gegenüber seinen Absichten auf Indien erwuchs. Fügt man die Folge endloser Eroberungen und ständiger Aggressionen hinzu, in die die Engländer durch den Besitz Indiens verwickelt sind, und man kann sehr wohl bezweifeln, ob dieses Dominion, im ganzen gesehen, nicht genausoviel Kosten zu verursachen droht,wie man jemals ein Einnahmen erwarten kann.1 Geschrieben Anfang September 1857. Aus dem Englischen.
1 Siehe Band 9 unserer Ausgabe, S. 156
Karl Marx Der indische Aufstand
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5119 vom 16. September 1857] London, 4.September 1857 Die von den revoltierenden Sepoys in Indien begangenen Gewalttätigkeiten sind in der Tat entsetzlich, scheußlich, unbeschreiblich - so, wie man sie nur in Insurrektionskriegen, in Kriegen von Völkerstämmen und Geschlechtern und vor allem in Religionskriegen anzutreffen erwartet, mit einem Wort, solche Gewalttätigkeiten, wie sie den Beifall des respektablen Englands zu finden pflegten, wenn sie von den Männern der Vendee an den „Blauen", von den spanischen Guerillas an den ungläubigen Franzosen, von den Serben an ihren deutschen und ungarischen Nachbarn, von den Kroaten an den Wiener Aufständischen, von Cavaignacs Garde mobile oder von Bonapartes Dezemberleuten an den Söhnen und Töchtern des proletarischen Frankreichs verübt wurden.12501 Wie schändlich das Vorgehen der Sepoys auch immer sein mag, es ist nur in konzentrierter Form der Reflex von Englands eigenem Vorgehen in Indien nicht nur während der Zeit der Gründung seines östlichen Reiches, sondern sogar während der letzten zehn Jahre einer lang bestehenden Herrschaft. Um diese Herrschaft zu charakterisieren, genügt die Feststellung, daß die Folter einen organischen Bestandteil ihrer Finanzpolitik bildete. In der Geschichte der Menschheit gibt es so etwas wie Vergeltung; und es ist eine Regel historischer Vergeltung, daß ihre Waffen nicht von den Bedrückten, sondern von den Bedrückern selbst geschmiedet werden. Der erste Schlag, der gegen die französische Monarchie geführt wurde, ging vom Adel aus, nicht von den Bauern. Der indische Aufstand fängt nicht bei den Raiat[245] an, die von den Briten gequält, entehrt und ausgeplündert wurden, sondern bei den von ihnen eingekleideten, ernährten, verhätschelten ,-gemästeten und verwöhnten Sepoys. Um Parallelen zu den Greueltaten
der Sepoys zu finden, brauchen wir nicht, wie einige Londoner Blätter behaupten, ins Mittelalter zurückzugreifen, ja, nicht einmal über die Geschichte des zeitgenössischen Englands hinauszugehen. Wir brauchen nur den ersten chinesischen Krieg1 zu studieren, sozusagen ein Ereignis von gestern. Die englische Soldateska verübte damals Schandtaten zum bloßen Vergnügen; ihre Zügellosigkeit wurde weder durch religiösen Fanatismus geheiligt, noch durch Haß gegen anmaßende Eroberer gesteigert, noch durch den unnachgiebigen Widerstand eines heldenhaften Feindes erregt. Schändung von Frauen, Aufspießen von Kindern, Abbrennen ganzer Dörfer waren damals bloß zügellose Belustigungen, die nicht von den Mandarinen, sondern von den britischen Offizieren selbst bezeugt wurden. Sogar bei der jetzigen Katastrophe wäre es ein völliger Irrtum, anzunehmen, daß die ganze Grausamkeit auf seiten der Sepoys läge und die ganze Milch der frommen Denkungsart bei den Engländern flösse. Die Briefe der britischen Offiziere sind voller Bosheit. Ein Offizier, der aus Peschawar schreibt, schildert die Entwaffnung des 10. irregulären Kavallerieregimentes, weil es nicht das 55. Infanterieregiment der Eingeborenentruppen angegriffen hatte, als es dazu kommandiert wordeil war. Er begeistert sich an der Tatsache, daß die Leute nicht nur entwaffnet, sondern auch ihrer Röcke und Stiefel beraubt wurden, und, nachdem sie 12 Pence pro Mann erhalten hatten, zum Flußufer abgeführt, dort in Boote verladen und den Indus hinuntergeschickt wurden, wo, wie der Verfasser des Briefes freudig erwartet, jeder Mutter Sohn die Chance haben wird, in den Stromschnellen zu ertrinken. Ein anderer Briefschreiber berichtet uns, daß, als einige Einwohner von Peschawar einen nächtlichen Alarm verursachten, indem sie zu einer Hochzeitsfeier kleine Pulverminen explodieren ließen (ein nationaler Brauch), die beteiligten Personen am nächsten Morgen gefesselt und
„derart geprügelt wurden, daß sie dies nicht so leicht vergessen werden". Aus Pindi kam die Nachricht, daß drei eingeborene Häuptlinge auf eine Verschwörung ausgingen. Sir John Lawrence antwortete mit einem schriftlichen Auftrag für einen Spion, an der Versammlung teilzunehmen. Auf den Bericht des Spions hin schickte Sir John eine zweite Order: „Hängt sie." Die Häuptlinge wurden gehängt. Ein Beamter der Zivilverwaltung schreibt aus Allahabad: „Wir haben die Macht über Leben und Tod in unseren Händen, und wir versichern euch, daß wir sie schonungslos gebrauchen."
1 „Opiumkrieg" von 1839-1842
Ein anderer aus derselben Stadt: „Nicht ein Tag verstreicht, an dem wir nicht zehn bis fünfzehn von ihnen" (friedfertige Einwohner) „aufknüpfen." Ein Beamter schreibt begeistert: „Holmes hängt sie zu Dutzenden, er ist ein Mordskerl." Ein anderer schreibt im Hinblick auf das summarische Erhängen einer großen Schar Eingeborener: „Dann ging unser Spaß los." Ein dritter: „Wir halten Kriegsgericht zu Pferde, und jeder Nigger, den wir treffen, wird entweder aufgeknüpft oder erschossen." Aus Benares wird uns berichtet, daß dreißig Samindaref251] auf den bloßen Verdacht hin, mit ihren eigenen Landsleuten zu sympathisieren, gehängt wurden, und ganze Dörfer wurden auf Grund derselben Beschuldigung niedergebrannt. Ein Offizier aus Benares, dessen Brief in der Londoner „Times" abgedruckt ist, schreibt: „Die europäischen Truppen wurden zu Teufeln, wenn sie mit den Eingeborenen zusammenstießen." Und man sollte auch nicht vergessen, daß, während die Greueltaten der Engländer als Zeugnisse militärischer Kraft dargestellt und einfach und schnell erzählt werden, ohne bei abscheulichen Einzelheiten zu verweilen, die Gewalttätigkeiten der Eingeborenen, so entsetzlich sie sind, noch vorsätzlich aufgebauscht werden. Von wem stammte zum Beispiel der eingehende Bericht über die in Delhi und Mirat begangenen Greueltaten, der zuerst in der „Times" erschien und dann in der Londoner Presse die Runde machte? Von einem feigherzigen Pfaffen, der in Bangalor, Maisür, lebt, mehr als tausend Meilen Luftlinie vom Tatort entfernt. Tatsachenberichte aus Delhi beweisen, daß die Vorstellungskraft eines englischen Pfaffen schlimmere Schreckenstaten als selbst die wilde Phantasie eines meuternden Hindus ausbrüten kann. Das Abschneiden von Nasen, Brüsten usw., kurz die grauenhaften Verstümmelungen, die die Sepoys begangen haben, sind für europäisches Empfinden natürlich abstoßender, als wenn da ein Sekretär der Friedensgesellschaft von Manchester1 Brandbomben auf Kantoner Wohnhäuser werfen oder ein französischer Marschall in einer Höhle eingepferchte Araber rösten läßt[252] oder wenn vor einem plötzlich zusammengerufenem Kriegsgericht britischen Soldaten mit der neunschwänzigen Katze die Haut vom Leibe geprügelt wird oder irgendein anderes der philanthropischen Geräte angewendet wird, wie
1 John Bowring
es in britischen Sträflingskolonien üblich ist. Wie alles andere besitzt auch die Grausamkeit ihre Mode, die nach Zeit und Ort wechselt. Cäsar, der vollendete Gelehrte, erzählt freimütig, wie er vielen tausend gallischen Kriegern die rechte Hand'abschlagen ließ[2531. Napoleon hätte sich geschämt, dies zu tun. Er zog es vor, seine eigenen französischen Regimenter, die republikanischer Gesinnung verdächtig waren, nach St. Domingo zu schicken, damit sie dort durch Negerhände und die Pest umkommen. Die schändlichen Verstümmelungen, die die Sepoys vorgenommen haben, erinnern uns an die Methoden im christlich-byzantinischen Reich oder an die Vorschriften des Straf rechts Kaiser Karls V. oder an die englischen Strafen für Hochverrat, wie sie noch vom Richter Blackstone bezeugt worden sind[254]. Den Hindus, die ihre Religion zu Virtuosen der Kunst der Selbstzerfleischung gemacht hat, müssen diese an den Feinden ihres Volkes und ihres Glaubens verübten Martern ganz natürlich erscheinen und noch mehr den Engländern, die noch vor einigen Jahren Einkünfte aus den DschagganatFesten zu ziehen pflegten und die blutigen Riten einer Religion des Grauens schützten und unterstützten*2551. Das wütende Gebrüll „der alten blutrünstigen ,Times'", wie Cobbett sie zu nennen pflegte, ihr Getue in der Rolle jener rasenden Gestalt aus einer der Mozartopern, die in höchst melodischen Tönen in dem Gedanken schwelgt, den Feind zuerst zu hängen, dann zu rösten, dann zu vierteilen, dann zu pfählen und ihm dann bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen[25S1, ihre Rachsucht, die sich zerreißen und zerfetzen möchte - all das würde einem nur dumm vorkommen, wäre nicht unter dem Pathos des Tragischen deutlich die Gaukelei des Komischen wahrnehmbar. Die Londoner „Times" übertreibt ihre Rolle, und nicht nur aus Angst. Sie liefert der Komödie eine Figur, die selbst Moliere fehlte, den Tartuffe der Rache. Sie will einfach die Staatspapiere hochtreiben und die Regierung decken. Da Delhi nicht durch bloße Windstöße gefallen ist wie die Mauern von Jericho, sollen John Bulls Ohren von Rachegeschrei gellen, damit er vergißt, daß seine Regierung verantwortlich ist für das ausgebrütete Unheil und dafür, daß es solche kolossalen Ausmaße annehmen konnte.
Aus dem Englischen.
Karl Marx [Der französische Credit mobiiier]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5128 vom 26. September 1857, Leitartikel] Der Niedergang des Credit" mobilier[321 hat, wie wir es schon vor einigen Monaten voraussahen, als wir seinen schwülstigen Bericht von 1856 untersuchten1, von neuem eingesetzt und erfüllt diesmal die Finanzwelt Europas mit beträchtlicher Unruhe. Innerhalb weniger Tage sind die Aktien des Unternehmens von 950 Francs auf ungefähr 850 gefallen, wobei diese letzte Notierung noch längst nicht der niedrigste Punkt ist, auf den sie wahrscheinlich absinken werden. Der Auf- und Abstieg der Aktien des Credit mobiiier ist für den Politiker von nicht weniger großem Interesse als das Steigen und Sinken der Urgewässer für den Geologen. In den Schwankungen dieser Aktien gilt es verschiedene Perioden zu unterscheiden. Ihre erste Ausgabe im Jahre 1852 hatte die Gesellschaft geschickt organisiert. Die Aktien wurden auf drei Serien verteilt, wobei die Inhaber der ersten Serie berechtigt waren, die zweite und dritte Serie al pari2 zu erwerben. Infolgedessen genossen die glücklichen Besitzer der ersten Serie den ganzen Vorteil, der sich aus einem beschränkten Angebot auf einem höchst belebten Effektenmarkt sowie aus den übertriebenen Erwartungen ergibt, daß das Aktienkapital der Gesellschaft bald ein hohes Agio erreicht. Von 250 Francs, die auf die erste Ausgabe gezahlt wurden, stieg der Marktpreis der Aktien sofort auf 1775 Francs. Ihre Kursschwankungen während der Jahre 1852,1853 und 1854 sind von geringerem politischen Interesse, da sie eher die verschiedenen Phasen, welche die sich bildende Institution durchlaufen mußte, als die Versuche des entwickelten Unternehmens anzeigen. 1855 hatte der Credit mobiiier sein Apogäum erreicht, da die vorübergehende Notierung seiner Aktien mit 1900 Francs seine größte Entfernung vom gewöhnlichen irdischen Geschäft bedeutete. Bei
1 Siehe vorl. Band, S. 202-209 - 2 zum Nennwert 19 Marx/Engels, Werke, Bd. 12
näherer Betrachtung zeigen seit jener Zeit die Kursschwankungen der Aktien des Credit mobiiier, wenn man immer den Durchschnitt von, sagen wir, 4 Monaten nimmt, eine absteigende Linie, die trotz zufälliger Abweichungen von einem ständigen und unerbittlichen Gesetz geregelt wird. Dieses Gesetz besteht darin, daß die Kurse von ihrem höchsten Punkt in jeder dieser Perioden auf den niedrigsten Durchschnittspunkt herabsinken, der seinerseits zum höchsten Ausgangspunkt für die folgende Periode wird. So bezeichnen die Zahlen von 1400, 1300 und 1100 Francs in dieser Reihenfolge jeweils den niedrigsten Durchschnittspunkt der einen Periode und den höchsten Durchschnittspunkt der anderen. Während des ganzen jetzigen Sommers waren die Aktien nicht in der Lage, für längere Zeit die Höhe von 1000 Francs zu erreichen, und die jetzige Krise wird, wenn sie nicht noch schlimmere Folgen zeitigt, den höchsten Durchschnittskurs der Aktien auf ungefähr 800 Francs hinabdrücken, von wo dieser schließlich auf ein noch niedrigeres Durchschnittsniveau absinken wird. Dieser Prozeß kann natürlich nicht ad infinitum weitergehen, wie es ja auch unvereinbar ist mit den inneren Gesetzen des Credit mobiiier, daß seine Aktien auf ihren Nominalkurs von 500 Francs herabsinken. Eine riesige Disproportion zwischen Kapital und Operationen, daraus resultierende Realisierung außerordentlicher Profite und folglich ein ungewöhnliches Steigen des Börsenkurses seiner Aktien über ihren ursprünglichen Wert sind für den Credit mobiiier nicht Bedingungen des Wohlstands, sondern seiner Existenz. Wir brauchen bei diesem Punkt nicht länger zu verweilen, da wir ihn zur Genüge beleuchtet haben, als wir die Verringerung seiner Profite von 40 Prozent 1855 auf 23 Prozent 1856 untersuchten.1 Die gegenwärtige Entwertung der Aktien des Credit mobiiier ist mit Umständen verbunden, die man fälschlich für Ursachen halten kann, obwohl sie nur Wirkungen sind. Herr A.Thurneyssen, einer der höchst „ehrbaren" Direktoren des Credit mobiiier, ist zum Bankrotteur erklärt worden, da er laut Gerichtsbeschluß für eine Schuld von 15 000 000 Francs haftbar ist, die sein Neffe, Herr Charles Thurneyssen, gemacht hat, der im vergangenen Mai in betrügerischer Absicht Frankreich verließ. Daß der einfache Bankrott eines einzelnen Direktors keinesfalls für die gegenwärtige Lage des Credit mobiiier verantwortlich sein kann, wird sofort klar, wenn man sich erinnert, daß auch der Bankrott des Herrn Place vorüberging, ohne dieses bonapartistische Bollwerk merklich zu erschüttern. Die öffentliche Meinung jedoch ist eher geneigt, sich mit dem plötzlichen Sturz eines Einzelnen zu beschäftigen, als den langsamen Niedergang einer Institution zu verfolgen. Panik ergreift
1 Siehe vorl. Band, S. 202
die Massen erst, wenn die Gefahr große und handgreifliche Gestalt annimmt. Die Aktien und Banknoten von Law zum Beispiel erfreuten sich in Frankreich des abergläubischen Vertrauens, solange der Regent1 und seine Ratgeber sich damit begnügten, das Metallgeld zu entwerten, welches die Noten angeblich repräsentierten. Die Öffentlichkeit verstand nicht, daß die Banknote, welche einen bestimmten Betrag an Silberpfunden repräsentierte, auf die Hälfte entwertet wurde, wenn die Münze aus einer Mark Silber doppelt soviel Pfunde schlug wie früher. Aber in dem Moment, da auf Anordnung des Königlichen Rates der offizielle Nominalwert der Note selbst herabgesetzt wurde und eine Note zu 100 Pfund gegen eine Note zu 50 Pfund umgetauscht werden mußte, wurde der Prozeß sofort jedem klar, und der Schwindel platzte i So erregte der Sturz der Profite des Credit mobilier um beinahe 50 Prozent nicht einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Autoren englischer Finanzartikel, während jetzt die gesamte europäische Presse großen Lärm schlägt wegen des Bankrotts des Herrn A.Thurneyssen. Dieser Vorfall wird in der Tat von erschwerenden Umständen begleitet. Als Herr Charles Thurneyssen im vergangenen Mai seinen Verpflichtungen nicht nachkam, entfaltete Herr Isaac Pereire in der Londoner Presse mehr als seine übliche tugendhafte Entrüstung, und leugnete feierlich jede Verbindung des Herrn A.Thurneyssen und des Credit mobilier mit dem schändlichen Bankrotteur. Die jetzige Entscheidung des französischen Gerichts hat daher diesen hochtrabenden Herrn direkt widerlegt. Überdies scheint Panik im Credit mobilier selbst zu herrschen. Herr Erneste Andree, einer der Direktoren, hielt es für angebracht, sich öffentlich von jeder künftigen Haftpflicht zu lösen und alle Verbindungen mit der Institution auf legalem Wege abzubrechen. Andere - darunter das Haus Hottinger - sollen ebenfalls den Rückzug angetreten haben. Wenn selbst der Steuermann zum Rettungsboot greift, dann können die Passagiere das Schiff mit Recht als verloren betrachten. Schließlich bietet die enge Verbindung der Thurneyssens mit dem St.Petersburger Bankhaus Stieglitz und den großen russischen Eisenbahnprojekten für die europäische Finanzwelt bestimmt Stoff zum Nachdenken. Wenn sich die Direktoren des Credit mobilier herablassen, „in Frankreich Kredit zu schaffen", „die Produktivkräfte der Nation zu fördern" und in aller Welt das Börsenspiel zu unterstützen, so wäre es ein großer Irrtum zu glauben, sie täten das umsonst. Über den durchschnittlichen Zinsfuß von jährlich etwa 25 Prozent auf das durch ihre Aktien repräsentierte Kapital
1 Philippe von Orleans
hinaus erhielt jeder von ihnen während der ersten fünf Jahre der Institution regelmäßig einen Bonus von 5 Prozent vom Bruttogewinn, eine Summe etwa von 275 000 Francs oder 55 000 Dollar. Außerdem sind die Eisenbahngesellschaften und andere Unternehmungen öffentlicher Bauten, die sich des besonderen Patronats des Credit mobilier erfreuen, beständig auf die eine oder andere Weise in die Privatgeschäfte der Direktoren verwickelt. So war es kein Geheimnis, daß die Pereires sehr stark an den neuen Aktien der französischen Südbahn beteiligt sind. Jetzt finden wir beim Durchsehen der veröffentlichten Berichte, daß die Gesellschaft in ihrer gesamten Kapazität nicht weniger als 62 300 000 Francs auf die Aktien dieser selben Bahn gezeichnet hat. Aber die fünfzehn Direktoren pflegten nicht nur die Operationen der Gesellschaft nach ihren privaten Interessen zu führen; sie konnten außerdem für ihre privaten Spekulationen den Umstand ausnutzen, daß sie stets schon vorher Kenntnis von den großen coups de bourse1 hatten, die ihre Gesellschaft vorbereitete; und schließlich konnten sie auch ihren eigenen Kredit in gleichem Verhältnis zu den riesigen Summen erweitern, die offiziell durch ihre Hände gingen. Daher die wunderbar schnelle Bereicherung dieser Direktoren; daher die nervöse Unruhe der europäischen Öffentlichkeit im Hinblick auf die finanziellen Rückschläge, von denen diese Direktoren getroffen werden; daher auch die enge Verbindung zwischen ihren privaten Vermögen und dem öffentlichen Kredit der Gesellschaft, wenngleich einige dieser Vermögen sicherlich so angelegt sind, daß sie die Gesellschaft gewiß überdauern werden.
Geschrieben am 8. September 1857. Aus dem Englischen.
1 Börsencoups
Karl Marx [Der Aufstand in Indien]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5134 vom 3. Oktober 1857, Leitartikel] Die Nachrichten aus Indien, die uns gestern erreicht haben, tragen für die Engländer einen sehr unheilvollen und bedrohlichen Charakter, obwohl, wie man in einer anderen Spalte sehen kann, unser kundiger Londoner Korrespondent sie anders betrachtet.12571 Aus Delhi besitzen wir Einzelheiten bis zum 29. Juli und ebenso einen späteren Bericht des Inhalts, daß die Belagerungstruppen infolge der Verheerungen durch die Cholera gezwungen waren, sich von Delhi zurückzuziehen und Quartier in Agra zu beziehen. Zwar läßt kpine der Londoner Zeitungen diesen Bericht gelten, doch wir können ihn höchstens nur als etwas voreilig ansehen. Wie wir aus der gesamten indischen Korrespondenz wissen, hatte die Belagerungsarmee schwere Verluste durch Ausfälle erlitten, die am 14., 18. und 23. Juli erfolgt waren. Bei diesen Gelegenheiten kämpften die Aufständischen mit rücksichtsloserer Leidenschaft als je zuvor und wußten auch einen größeren Vorteil aus der Überlegenheit ihrer Artillerie zu ziehen. „Wir feuern mit 18pfündern und 8zölligen Haubitzen", schreibt ein britischer Offizier, „und die Rebellen antworten mit Vierundzwanzigern und Zweiunddreißigern." „Bei den achtzehn Ausfällen", heißt es in einem anderen Brief, „denen wir zu widerstehen hatten, verloren wir an Toten und Verwundeten ein Drittel unserer Soldaten."!258! Alles, was an Verstärkungen erwartet werden konnte, war eine Abteilung Sikhs unter General Van Courtlandt. Nachdem General Havelock mehrere erfolgreiche Gefechte bestanden hatte, war er gezwungen, sich nach Khanpur zurückzuziehen und zeitweilig den Entsatz Lakhnaus aufzugeben. Gleichzeitig „hatten heftige Regenfälle vor Delhi eingesetzt", die natürlich die Cholera-Epidemie vergrößern mußten. Die Depesche, die den Rückzug nach
Agra und den zumindest zeitweiligen Verzicht auf den Versuch zur Einnahme der Hauptstadt des Großmoguls ankündigt, muß sich also bald als wahr erweisen, wenn es nicht schon so ist. An der Gangeslinie liegt das Hauptinteresse auf den Operationen des Generals Havelock, dessen Heldentaten bei Fatehpur, Khanpur und Bithur natürlich von unseren Berufskollegen der Londoner Presse recht übertrieben herausgestrichen worden sind. Wie wir oben festgestellt haben, sah er sich, nachdem er fünfundzwanzig Meilen von Khanpur aus vorgerückt war, genötigt, sich nach diesem Ort zurückzuziehen, um nicht nur seine Kranken einzuliefern, sondern auch auf Verstärkungen zu warten. Dies gibt Grund zu tiefem Bedauern, denn es deutet an, daß der Versuch zur Rettung Lakhnaus vereitelt worden ist. Die einzige Hoffnung für die britische Garnison dieses Ortes ist jetzt auf die Truppe von 3000 Gurkha[259] gerichtet, die von Dschang Bahadur aus Nepal zu ihrem Entsatz losgeschickt worden sind. Sollte es ihnen nicht gelingen, die Belagerung aufzuheben, wird das Gemetzel von Khanpur in Lakhnau wiederholt werden. Das wird nicht alles sein. Die Einnahme der Festung von Lakhnau durch die Rebellen und die daraus folgende Konsolidierung ihrer Macht in Audh würde alle britischen Operationen gegen Delhi in der Flanke bedrohen und über das Gleichgewicht der im Kampf befindlichen Kräfte in Benares und dem ganzen Bezirk von Bihar entscheiden. Khanpur würde der Hälfte seiner Bedeutung beraubt und in seinen Verbindungslinien mit Delhi einerseits und mit Benares andererseits bedroht sein, wenn die Aufständischen im Besitz der Festung Lakhnau sind. Diese Möglichkeit verstärkt das schmerzliche Interesse, mit dem Nachrichten aus dieser Gegend erwartet werden müssen. Am 16. Juni rechnete die Garnison aus, daß sie mit ihren Kräften bei Hungerrationen sechs Wochen ausharren kann. Bis zum letzten Depeschendatum waren fünf dieser Wochen bereits verstrichen. Jetzt hängt dort alles von den gemeldeten, aber noch nicht sicher eintreffenden Verstärkungen aus Nepal ab. Wenn wir den Ganges entlang von Khanpur nach Benares und nach dem Bezirk Bihar weiter abwärts schreiten, sind die Aussichten für die Briten noch düsterer. Ein Brief in der „Bengal Gazette"[260] vom 3.August aus Benares stellt fest, „daß die Meuterer aus Dinapur auf Arrah marschierten, nachdem sie die Son überschritten hatten. Die mit Recht um ihre Sicherheit besorgten europäischen Einwohner schrieben nach Dinapur um Verstärkungen. Zwei Dampfer wurden daraufhin mit Abteilungen des 5., 10. und 37. Regiments Ihrer Majestät abgeschickt. Mitten in der Nacht lief einer der Dampfer auf Grund und blieb stecken. Die Soldaten wurden hastig an Land gesetzt und genötigt, zu Fuß vorzurücken, ohne jedoch entsprechende
Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Plötzlich erhielten sie von beiden Seiten dichtes und heftiges Feuer, und 150 ihrer kleinen Truppe, darunter mehrere Offiziere, wurden hors de combat1 gesetzt. Man nimmt an, daß alle Europäer des Standortes, etwa 47, niedergemetzelt wurden." Arräh im britischen Bezirk Schahabad in der Präsidentschaft Bengalen ist eine Stadt an der Straße von Dinapur nach Ghasipur, fünfundzwanzig Meilen westlich jener, fünfundsiebzig Meilen östlich dieser Stadt gelegen. Benares selbst war bedroht. Diese Stadt besitzt ein nach europäischen Prinzipien gebautes Fort und würde ein zweites Delhi werden, wenn es den Rebellen in die Hände fiele. In Mirsapur, das südlich Benares und auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges liegt, ist eine Verschwörung der Muselmanen aufgedeckt worden, während in Berhampur am Ganges, etwa achtzehn Meilen von Kalkutta entfernt, das 63.Eingeborenen-Infanterieregiment entwaffnet worden war. Kurz, Unzufriedenheit auf der einen undPanik auf der anderen Seite breiteten sich über die ganze Präsidentschaft Bengalen aus, sogar bis vor die Tore Kalkuttas, wo man starke Befürchtungen wegen des großen Muharram-Fastens[261] hegte, bei dem die Anhänger des Islam, in fanatische Raserei versetzt, mit Schwertern umherlaufen, bereit, beim geringsten Anlaß zu kämpfen, was leicht zu einem allgemeinen Angriff auf die Engländer führen kann, und wo der Generalgouverneur sich genötigt sah, seine eigene Leibgarde zu entwaffnen. Der Leser wird also sofort begreifen, daß die britische Hauptverbindungslinie, die Gangeslinie, in Gefahr ist, unterbrochen, gesperrt und abgeschnitten zu werden. Dies würde das Vorrücken der Verstärkungen in Frage stellen, die im November "ankommen sollen, und die britische Operationslinie an der Dschamna isolieren. In der Präsidentschaft Bombay sehen die Angelegenheiten ebenfalls sehr ernst aus. Die Meuterei des 27.Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments in Kolhapur ist eine Tatsache, ihre Niederschlagung durch die britischen Truppen aber nur ein Gerücht. In der Bombayer Eingeborenenarmee sind nacheinander Meutereien in Nagpur, Aurangabad, Haidarabad und schließlich in Kolhapur ausgebrochen. Die jetzige Stärke der Bombayer Eingeborenenarmee beträgt 43 048 Mann, während es, und das ist Tatsache, nur zwei europäische Regimenter in dieser Präsidentschaft gibt. Die Eingeborenenarmee sollte nicht nur die Ordnung im Bereich der Präsidentschaft Bombay aufrechterhalten, sondern auch Verstärkungen nach Sind im Pandschab entsenden und die Abteilungen bilden, die auf Mau und Indor vorstoßen sollten,
1 außer Gefecht
um diese Orte zurückzuerobern und zu halten, die Verbindung mit Agra herzustellen und die Garnison dieses Ortes abzulösen. Die Kolonne des Brigadegenerals Stuart, die mit dieser Operation beauftragt war, bestand aus 300 Mann des 3.Bombayer Europäer-Regiments, 250 Mann des 5.Bombayer Eingeborenen- Infanterieregiments, 1000 des 25. Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments, 200 des 19. Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments und 800 vom 3. Kavallerieregiment des Kontingents von A In nipspr Truppe, die 2250 eingeborene Soldaten zählt, gibt es etwa 700 Europäer, die sich hauptsächlich aus dem 86. königlichen Infanterieregiment und aus dem 14. Königlichen Leichten Dragonerregiment zusammensetzen. Darüberhinaus hatten die Engländer in Aurangabad eine Kolonne der Eingeborenenarmee zusammengezogen, um die unzufriedenen Territorien Kandesch und Nagpur einzuschüchtern und gleichzeitig den in Zentralindien operierenden fliegenden Kolonnen Unterstützung zu geben. Uns wird berichtet, daß in diesem Teil Indiens „die Ruhe wiederhergestellt ist", aber auf dieses Ergebnis können wir uns durchaus nicht verlassen. Tatsächlich wird diese Frage nicht durch die Besetzung von Mau entschieden, sondern durch den Kurs, den Holkar und Sindhia, die beiden Marathenfürstent262], einschlagen. Dieselbe Depesche, die uns von Stewarts Eintreffen in Man informiert fügt hinzu Holkars Truppen seien bereits widerspenstig geworden, obwohl er selbst noch zuverlässig wäre. Über Sindhias Politik wird öi« \Y7/->»*+• iroyloVArt ief nirirt KöliaKf tmllAV Panav urt^l tiniv*-!a ole laui k ^iii tt vi l vciiuivti» jui ioi MVÜCui) v viiCi * vliva unu Wuiuv uio u^i natürliche Führer und Sammelpunkt für das gesamte Volk der Marathen angesehen werden. Er hat 10000 Mann gut disziplinierte eigene Truppen. Sein Abfall würde die Briten nicht nur Zentralindien kosten, sondern der revolutionären Vereinigung gewaltige Stärke und Festigkeit verleihen. Der Rückzug der Truppen vor Delhi, die Drohungen und Forderungen der Unzufriedenen können Sindhia schließlich dazu bringen, die Partei seiner Landsleute zu ergreifen. Der Haupteinfluß auf Holkar wie auf Sindhia wird indessen von den Marathen des Dekan ausgehen, wo der Aufstand endlich entschlossen sein Haupt erhoben hat, wie wir bereits festgestellt haben. Auch hier ist die Fastenzeit des Muharram besonders gefährlich. Es gibt also einige Gründe dafür, wenn eine allgemeine Revolte der Bombayer Armee erwartet wird. Auch die Madrasarmee, die 60 555 Mann Eingeborenentruppen zählt, und aus Haidarabad, Nagpur und Malwa, den fanatischsten Mohammedanergebieten, rekrutiert ist, würde nicht lange brauchen, um dem Beispiel zu folgen. Wenn man nun in Betracht zieht, daß die Regenzeit im August und September die Bewegungen der britischen Truppen lähmen und ihre Verbindungslinien unterbrechen wird, so scheint die Annahme berechtigt, daß
die aus Europa abtransportierten Verstärkungen, die zu spät und nur in kleinen Abteilungen eintreffen, sich trotz ihrer augenscheinlichen Stärke der ihnen zugewiesenen Aufgabe als nicht gewachsen erweisen werden. Wir können fast sicher darauf gefaßt sein, daß der kommende Feldzug eine Wiederholung der afghanischen Katastrophe[122] wird.
Geschrieben am 18. September 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Der Aufstand in Indien]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5142 vom 13. Oktober 1857, Leitartikel] Die Nachrichten, die gestern mit der „Atlantic" aus Indien eingetroffen sind, enthalten zwei bedeutsame Punkte, nämlich das Scheitern von General Havelocks Vormarsch zum Entsatz Lakhnaus und das Ausharren der Engländer bei Delhi. Die letzte Tatsache findet nur in britischen Annalen eine Parallele, und zwar in der Walcheren-Expedition12631. Das Scheitern dieser Expedition war schon gegen Mitte August 1809 zur Gewißheit geworden, doch verzögerte man die Wiedereinschiffung bis November. Als Napoleon von der Landung einer englischen Armee an jenem Ort erfuhr, empfahl er, sie nicht anzugreifen, und die Franzosen sollten ihre Vernichtung den Krankheiten überlassen, die ihr mit Gewißheit mehr Schaden als die Kanonen zu fügen würden, ohne daß dies Frankreich einen Centime kosten werde. Der jetzige Großmogul befindet sich in einer noch günstigeren Lage als Napoleon und kann die Krankheiten durch seine Ausfälle und seine Ausfälle durch die Krankheiten unterstützen. Eine britische Regierungsdepesche aus Cagliari vom 27. September berichtet uns, daß „zwar die letzten Angaben aus Delhi vom 12.August sind, als diese Stadt noch im Besitz der Rebellen war, daß man aber gewiß in Kürze einen Angriff unternehmen würde, da General'Nicholson mit beträchtlichen Verstärkungen eine«. Tagesmarsch entfernt wäre". Wenn Delhi nicht genommen ist, bis Wilson und Nicholson mit ihren jetzigen Streitkräften angreifen, werden seine Mauern stehen, bis sie von selbst zusammenfallen.[264J Die „beträchtlichen" Streitkräfte Nicholsons belaufen sich auf etwa 4000 Sikhs - eine Verstärkung, die zu den Anforderungen für einen Angriff auf Delhi in einem absurden Mißverhältnis steht, aber gerade
groß genug ist, um einen neuen selbstmörderischen Vorwand dafür zu liefern, das Lager vor der Stadt nicht abzubrechen. Nachdem General Hewitt den Fehler, und vom militärischen Standpunkt aus kann man sogar sagen das Verbrechen, begangen hatte, zuzulassen, daß sich die Aufständischen aus Mirat nach Delhi durchschlagen, und nachdem man die beiden ersten Wochen vergeudet hatte, wobei man einen irregulären Handstreich auf diese Stadt zuließ, erscheint der Plan der Belagerung von Delhi als ein Fehler, der kaum noch zu verstehen ist. Eine Autorität, die wir mit Verlaub noch über die militärischen Orakel der Londoner „Times" stellen, und zwar Napoleon, legt zwei Regeln der Kriegskunst fest, die fast wie Gemeinplätze wirken: 1. „Man sollte nur das unternehmen, was durchgeführt werden kann, und nur das, was die größte Aussicht auf Erfolg bietet", und 2., „die Hauptkräfte sollten nur dort eingesetzt werden, wo das Hauptziel des Krieges, die Vernichtung des Feindes, liegt". Bei der Planung der Belagerung von Delhi sind diese elementaren Regeln verletzt worden. Die Behörden in England mußten Kenntnis davon haben, daß die Indienregierung selbst die Befestigungen Delhis vor kurzem so weit instand gesetzt hatte, daß die Stadt nur durch eine regelrechte Belagerung eingenommen werden könnte, was eine Belagerungstruppe von mindestens 15 000 bis 20 000 Mann erfordert, und weit mehr, falls die Verteidigung in gewöhnlichem Stil durchgeführt werden sollte. Wenn nun 15 000 bis 20 000 Mann für dieses Unternehmen erforderlich sind, wäre es geradezu Torheit, es mit 6000 oder 7000 durchzuführen. Weiterhin wußten die Engländer, daß eine langandauernde Belagerung, mit der man wegen ihrer zahlenmäßigen Schwäche rechnen muß, ihre Truppen in jener Gegend, in jenem Klima und zu jener Jahreszeit den Angriffen eines unverwundbaren und unsichtbaren Feindes aussetzen und somit den Keim des Untergangs in ihre Reihen säen würde. Eine Belagerung Delhis hatte also keinerlei Erfolgsaussichten. Das Ziel des Krieges war zweifellos die Aufrechterhaltung der englischen Herrschaft in Indien. Delhi war ein Punkt, der zur Erlangung dieses Ziels überhaupt keine strategische Bedeutung hatte. Die historische Überlieferung verlieh ihm zwar in den Augen der Eingeborenen eine abergläubische Bedeutung, die übrigens mit seinem wirklichen Einfluß in Widerspruch steht, und dies war Grund genug für die meuternden Sepoys, es als ihren allgemeinen Treffpunkt zu wählen. Doch wenn die Engländer, anstatt ihre militärischen Pläne nach den Vorurteilen der Eingeborenen zu fassen, Delhi liegengelassen und es isoliert hätten, würden sie es seines eingebildeten Einflusses beraubt haben, während sie dadurch, daß sie ihre Zelte davor aufschlagen, sich die Köpfe daran einrennen und ihre Hauptkräfte und die
Aufmerksamkeit der Welt darauf konzentrieren, sich sogar die Möglichkeiten zu einem Rückzug abschneiden, oder eher noch, sie gäben dadurch einem Rückzug alle Auswirkungen einer einzigartigen Niederlage. Sie haben damit ganz einfach den Meuterern in die Hände gearbeitet, die Delhi zum Ziel des Feldzuges machen wollten. Aber das ist noch nicht alles. Es gehörte nicht viel Begabung dazu, die Engländer davon zu überzeugen, daß es für sie von erstrangiger Bedeutung war, eine aktive Feldarmee zu schaffen, deren Operationen die Funken der Unzufriedenheit zu ersticken, die Verbindungslinien zwischen ihren eigenen Militärstützpunkten offenzuhalten, den Feind auf einige wenige Stützpunkte zurückzuwerfen und Delhi zu isolieren vermochten. Anstatt nach diesem einfachen und selbstverständlichen Plan vorzugehen, legen sie die einzige ihnen zur Verfügung stehende aktive Armee lahm, indem sie sie vor Delhi konzentrieren, und überlassen das freie Feld den Meuterern, während ihre eigenen Garnisonen zerstreut liegende Orte halten, die keine Verbindung miteinander haben, weit voneinander entfernt liegen und von überlegenen feindlichen Kräften eingeschlossen sind, die sich Zeit lassen können. Dadurch, daß sich ihre stärkste bewegliche Truppe vor Delhi festgesetzt hat, haben die Engländer nicht etwa die Aufständischen gefesselt, sondern ihre eigenen Garnisonen bewegungsunfähig gemacht. Doch, abgesehen von diesem grundlegenden Fehler vor Delhi, gibt es kaum etwas in den Annalen des Kriegswesens, was der Dummheit gliche, mit der die Operationen dieser Garnisonen gelenkt wurden, die unabhängig voneinander und rücksichtslos gegeneinander operierten, denen jegliche höhere Führung fehlte und die nicht wie die Glieder einer Armee handelten, sondern wie Truppenkörper, die zu verschiedenen, ja, sogar feindlichen Nationen gehören. Man nehme zum Beispiel den Fall Khanpur und Lakhnau. Da gab es zwei benachbarte Orte und zwei getrennte Truppenkörper. Beide Körper waren sehr klein und den Umständen in keiner Weise gewachsen, standen unter getrenntem Kommando, obwohl sie nur vierzig Meilen auseinander lagen, und handelten so wenig einheitlich, als ob sie auf entgegengesetzten Polen gestanden hätten. Nach den Erfordernissen der einfachsten Gesetze der Strategie hätte man Sir Hugh Wheeler, den Militärkommandanten von Khanpur, ermächtigen sollen. Sir H.Lawrence, den Hauptbevollmächtigten von Audh, mit seinen Truppen nach Khanpur zurückzurufen, um so diese Stellung zu verstärken, Während Lakhnau zeitweilig geräumt worden wäre. Diese Operation hätte beide Garnisonen gerettet, und durch ihre darauf folgende Vereinigung mit Havelocks Truppen wäre eine kleine Armee geschaffen worden, die Audh hätte unter Kontrolle halten und Agra entsetzen können. Stattdessen hat das
voneinander unabhängige Handeln der beiden Plätze bereits folgende Ergebnisse: Die Garnison von Khanpur ist abgeschlachtet, die Garnison von Lakhnau steht mitsamt ihrer Festung vor dem Fall, und selbst die erstaunlichen Anstrengungen Havelocks, der mit seinen Truppen 126 Meilen in acht Tagen marschiert ist, der dabei soviel Gefechte bestanden hat, wie sein Marsch Tage zählt, und der all das in einem indischen Klima im Hochsommer bewerkstelligt hat - selbst seine heldenmütigen Anstrengungen sind vereitelt. Da er seine überanstrengten Truppen in vergeblichen Versuchen zur Rettung Lakhnaus noch mehr erschöpft hat und in der Gewißheit lebt, zu neuen nutzlosen Opfern durch wiederholte Expeditionen von Khanpur aus gezwungen zu werden, die in einem sich ständig verkleinernden Umkreis auszuführen sind, wird er sich aller Wahrscheinlichkeit nach schließlich nach Allahabad zurückziehen müssen, wobei er kaum noch irgendwelche Truppen hinter sich haben wird. Die Operationen seiner Truppen zeigen besser als alles andere, was selbst die kleine englische Armee vor Delhi hätte tun können, wäre sie zur Aktion im Felde konzentriert worden, statt in dem verseuchten Lager lebendig gefangen zu sein. Konzentration ist das Geheimnis der Strategie. Dezentralisation ist der Plan, den die Engländer in Indien anwandten. Was sie zu tun hatten, war, ihre Garnisonen auf eine möglichst kleine Zahl zu reduzieren, sie sofort von Frauen und Kindern zu befreien, alle strategisch unbedeutenden Stützpunkte zu evakuieren und so eine möglichst große Armee im Felde zu sammeln. Indessen sind selbst die paar Verstärkungen, die man von Kalkutta den Ganges hinauf geschickt hat, von den zahlreichen isolierten Garnisonen so vollständig aufgesogen worden, daß nicht eine Abteilung Allahabad erreicht hat. Hinsichtlich Lakhnaus sind nun die düstersten Ahnungen auf Grund der allerletzten Post bestätigt worden. Havelock ist wieder gezwungen worden, auf Khanpur zurückzugehen; es besteht keine Aussicht auf Entsatz durch die verbündete nepalesische Streitkraft, und wir müssen uns jetzt darauf gefaßt machen, daß diese Stadt infolge Aushungerung genommen wird und daß ihre tapferen Verteidiger mitsamt ihren Frauen und Kindern niedergemetzelt werden.
Geschrieben am 29. September 1857. Aus dem Englischen.
[Der Aufstand in Indien]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5151 vom 23. Oktober 1857, Leitartikel] In der Besprechung der Lage des indischen Aufstands sind die Londoner Zeitungen vom gleichen Optimismus erfüllt, den sie von Anfang an geübt haben. Man erzählt uns nicht nur, daß ein erfolgreicher Angriff auf Delhi stattfinden sollte, sondern auch, daß er am 20. August stattfinden soll e. Das erste, worüber man sich Gewißheit verschaffen muß, ist selbstverständlich die augenblickliche Stärke der Belagerungsstreitkräfte. Ein Artillerieoffizier gibt am 13. August in einem Bericht aus dem Lager vor Delhi folgende detaillierte Aufstellung 12651 der kampffähigen britischen Truppen am 1 O.August:
Britische Britische Eingebo- Eingebo- Pferde Offiziere Truppen rene rene Offiziere Truppen rene
Stab . . . Artillerie Pioniere . Kavallerie
39 598 26 39 18 570 30
520
/. Brigade Ihrer Majestät 75. Regiment Der Ostindischen Kompanie 2. Füsiliere Kumaon-Bataillon
17 4
16
487
502
13 435
IL Brigade Ihrer Majestät 60. Schützen 15 251
Britische Britische Eingebe- Eingebo- Pferde Offiziere Truppen rene rene Offiziere Truppen
Der Ostindischen Kompanie 2. Füsiliere . 20 493 - — Sirmoor-Bataillon ....... 4 - 9 319
III. Brigade Ihrer Majestät 8. Regiment 15 153 Ihrer Majestät 61. Regiment 12 249 - - 4.Sikhs 4 - 4 365 Guide Corps1 4 - 4 196 Cokes Korps . .......... 5 - 16 709 Insgesamt .............. 229 3342 46 2024 520
Die gesamte kampffähige Streitmacht der Briten im Lager vor Delhi belief sich also am 10. August auf genau 5641 Mann. Hiervon müssen wir 120 Mann (112 Soldaten und 8 Offiziere) abziehen, die nach den englischen Berichten am 12. August während des Angriffs auf eine neue Batterie gefallen sind, die die Aufständischen außerhalb der Wälle vor der linken Flanke der Engländer in Stellung gebracht hatten. Es blieb also die Zahl von 5521 kampffähigen Soldaten, als Brigadegeneral Nicholson mit den Truppen aus FirOspur zu der Belagerungsarmee stieß; sie eskortierten einen zweitrangigen Belagerungstram und bestanden aus dem 52. leichten Infanterieregiment (etwa 900 Mann), einer Abteilung des 61. (etwa 4 Kompanien, 360 Mann), Bourchiers Feldbatterie, einer Abteilung des 6. Pandschab-Regiments (etwa 540 Mann) und einiger Multan-Kavallerie und -Infanterie; insgesamt waren sie eine Streitmacht von etwa 2000 Mann, wovon etwas mehr als 1200 Europäer waren. Wenn wir nun diese Truppe zu den 5521 Kämpfern hinzuzählen, die sich bei der Vereinigimg mit Nicholsons Truppen im Lager befanden, erhalten wir eine Gesamtstärke von 7521 Mann. Sir John Lawrence, der Gouverneur des Pandschab, soll weitere Verstärkungen in Marsch gesetzt haben, die aus dem restlichen Teil des 8. Infanterieregiments, aus drei Kompanien des 24. Regiments, mit drei Geschützen berittener Artillerie der Truppen des Hauptmanns Paton aus Peschawar, aus dem 2. Regiment der Pandschab-Infanterie, aus dem 4. Regiment der Pandschab-Infanterie und aus
1 Kundschaftertruppe
dem anderen Teil des 6. Pandschab-Regiments besteben. Diese Truppe, die wir auf höchstens 3000 Mann schätzen dürfen und deren Hauptmasse gänzlich aus Sikhs besteht, war jedoch noch nicht eingetroffen. Wenn der Leser sich daran erinnern kann, wie vor etwa einem Monat die Pandschab-Verstärkungen unter dem Befehl Chamberlains eintrafen, so wird er verstehen, daß die neuen Verstärkungen ebenfalls nur ausreichen, um die Armee des Brigadegenerals Wilson auf die ursprüngliche Stärke der des Generals Keed zu bringen, so wie die Verstärkungen Chamberlains gerade ausgereicht hatten, um General Reeds Armee auf die ursprüngliche Stärke der Truppen Sir H.Barnards zu bringen. Der einzige wirkliche Gewinn für die Engländer ist, daß endlich ein Belagerungstrain eingetroffen ist. Aber selbst angenommen, die erwarteten 3000 Mann wären im Lager angekommen und die englische Gesamtmacht hätte die Zahl von 10 000 erreicht, wobei die Zuverlässigkeit eines Drittels von ihnen mehr als fraglich ist, was sollten sie tun? Sie werden Delhi einschließen, erzählt man uns. Doch abgesehen von der lächerlichen Idee, mit 10 000 Mann eine starkbefestigte Stadt mit einer Ausdehnung von mehr als sieben Meilen einzuschließen, müßten die Engländer erst den natürlichen Lauf der Dschamna umleiten, bevor sie daran denken können, Delhi einzuschließen. Falls die Engländer am Morgen in Delhi eindringen würden, könnten es die Aufständischen am Abend verlassen, indem sie entweder über die Dschamna gehen und nach Rohilkand und Audh ziehen oder die Dschamna abwärts in Richtung Muttra und Agra marschieren. Auf jeden Fall ist die Einschließung eines Vierecks, dessen eine Seite für die Belagerungstruppen unzugänglich ist, während sie den Belagerten eine Verbindungs- und Rückzugslinie bietet, ein noch nicht gelöstes Problem. „Alle stimmen darin überein", schreibt der Offizier, von dem wir die obige Tabelle entliehen haben, „daß die Einnahme Delhis durch direkten Angriff nicht in Frage kommt." Gleichzeitig teilt er uns mit, was im Lager wirklich erwartet wird, nämlich „mehrere Tage lang die Stadt zu beschießen und eine ausreichende Bresche zu legen". Dieser Offizier fügt nun selbst hinzu, daß „der Feind bei bescheidener Rechnung jetzt fast vierzigtausend Mann außer zahllosen und gutbedienten Kanonen zählen muß; seine Infanterie kämpft ebenfalls gut." Wenn man die verzweifelte Hartnäckigkeit in Betracht zieht, mit der Muselmanen gewöhnlich hinter Mauern kämpfen, wird es in der Tat sehr fraglich, ob es der kleinen britischen Armee, wenn sie durcheine „ausreichende Bresche" eingedrungen wäre, möglich sein würde, wieder hinauszustürzen. In der Tat, es bleibt nur eine günstige Gelegenheit für einen erfolgreichen
Angriff auf Delhi durch die jetzigen britischen Truppen - daß innere Zwistigkeiten unter den Aufständischen ausbrechen, ihre Munition verschossen ist, ihre Truppen demoralisiert sind und ihr Selbstbewußtsein schwindet. Wir müssen aber zugeben, daß ihr ununterbrochener Kampf vom 31 .Juli bis zum 12. August kaum eine solche Annahme zu rechtfertigen scheint. Gleichzeitig gibt uns ein Brief aus Kalkutta einen deutlichen Wink, warum die englischen Generale entgegen allen militärischen Regeln beschlossen hatten, ihre Stellung vor Delhi zu halten. Es heißt darin: „Als vor ein paar Wochen die Frage auftauchte, ob sich unsere Truppen vor Delhi zurückziehen sollten, weil sie vom täglichen Kampf zu sehr mitgenommen wurden, um die überwältigenden Mühsale noch länger ertragen zu können, stieß diese Absicht auf die entschiedene Ablehnung Sir John Lawrences, der den Generalen einfach mitteilte, ihr Rückzug würde das Signal für die Erhebung der Bevölkerung der Umgebung sein, was sie in drohende Gefahr bringen würde. Diese Ansicht setzte sich durch, und Sir John Lawrence versprach, ihnen alle Verstärkungen zu schicken, die er aufbringen könnte." Da es durch Sir John Lawrence so entblößt worden ist, mag sich jetzt das Pandschab selbst zum Aufstand erheben, während die Truppen in den Kantonnements vor Delhi wahrscheinlich durch die Pestdünste, die Ende der Regenzeit vom Boden hochsteigen, niedergeworfen und dezimiert werden. Von General Van Courtlandts Truppen, über die vor vier Wochen berichtet worden ist, sie hätten Hissar erreicht und würden auf ,Delhi vorstoßen, "ist nichts mehr zu hören. Sie müssen also auf ernsthafte Hindernisse gestoßen sein oder sich unterwegs aufgelöst haben. Die Lage der Engländer am oberen Ganges ist in der Tat verzweifelt. General Havelock wird durch die Operationen der Aufständischen aus Audh bedroht, die von Lakhnau über Bithur marschieren und bei Fatehpur, südlich Khan pur, versuchen, ihm den Rückzug abzuschneiden, während gleichzeitig das Kontingent aus Gwalior von Kalpi, einer Stadt am rechten Ufer der Dschamna, auf Khanpur marschiert. Diese konzentrische Bewegung, die vielleicht von Nana Sahib gelenkt wird, der das Oberkommando in Lakhnau ausüben soll, verrät zum ersten Male eine gewisse Vorstellung von Strategie seitens der Aufständischen, während die Engländer anscheinend nur darauf aus sind, sich in ihrer eigenen törichten Methode der zentrifugalen Kriegführung zu übertreffen. So wird uns berichtet, daß das 90. Infanterieregiment und die 5. Füsiliere, die man von Kalkutta aus in Marsch gesetzt hat, um General Havelock zu verstärken, in Dinapur von Sir James Outram abgefangen worden sind, der es sich in den Kopf gesetzt hat, sie über Faisabad nach Lakhnau zu führen. Dieser Operationsplan wird vom Londoner
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„Morning Advertiser" als der Gedankenblitz eines Genies bejubelt, weil, wie die Zeitung behauptet, Lakhnau dadurch zwischen zwei Feuer genommen wird, da es auf seiner rechten Seite von Khanpur und auf seiner linken von Faisabad bedroht wird. Anstatt zu versuchen, ihre zerstreuten Teile zu konzentrieren, spaltet sich die bedeutend schwächere Armee in zwei Teile auf, die durch die ganze Breite der feindlichen Armee getrennt sind, und hat somit nach den üblichen Regeln des Krieges dem Feind die Mühe erspart, sie zu vernichten. In Wirklichkeit ist für General Havelock das Problem nicht mehr, Lakhnau zu retten, sondern den Rest seines eigenen Korps und des kleinen Korps von General Neill zu retten. Sehr wahrscheinlich wird er auf Allahabad zurückgehen müssen. Allahabaa ist in der Tat eine Stellung von entscheidender Bedeutung, da es am Zusammenfluß vom Ganges und der Dschamna liegt und den Schlüssel zu dem zwischen den beiden Flüssen gelegenen Doab bildet. Beim ersten Blick auf die Landkarte wird man feststellen, daß die Hauptoperationslinie einer englischen Armee, die die nordwestlichen Provinzen zurückzuerobern versucht, am Tal des unteren Ganges entlangläuft. Die Stützpunkte Dinapur, Benares, Mirsapur und vor allem Allahabad, wo die tatsächlichen Operationen zu beginnen haben, werden deshalb dadurch verstärkt werden müssen, daß man die Garnisonen aller kleineren und strategisch bedeutungslosen Standorte in der eigentlichen Provinz Bengalen auf sie zurückzieht. Daß diese Hauptoperationslinie selbst in diesem Augenblick ernsthaft bedroht ist, kann aus dem folgenden Auszug eines Briefes aus Bombay an die Londoner „Daily News" entnommen werden: „Die kürzliehe Meuterei von drei Regimentern in Dinapur hat die Verbindungslinien (außer der mittels Dampfschiffen auf dem Fluß) zwischen Allahabad und Kalkutta abgeschnitten. Die Meuterei in Dinapur ist der ernsthafteste Vorfall, der sich in der letzten Zeit ereignet hat, da sich jetzt der gesamte Bezirk Bihar, 200 Meilen im Umkreis von Kalkutta, im Aufruhr befindet. Heute ist ein Bericht eingetroffen, daß sich die SantalU266! wieder erhoben haben, und die Lage in Bengalen, das von 150 000 Wilden über rannt sei die sich an Rlnt. Plünderei und Raub berauschen, wäre wahrhaft schrecklich."" Die unbedeutenderen Operationslinien sind, solange Agra aushält, folgende: für die Bombay-Armee ist es die über Indor und Gwalior nach Agra und für die Madras-Armee die über Saugor und Gwalior nach Agra. Mit diesem Ort muß die Pandschab-Armee ebenso wie das Korps, das Allahabad hält, ihre Verbindungslinien wiederherstellen. Sollten jedoch die unschlüssigen Fürsten Zentralindiens sich offen gegen die Engländer erklären und sollte die Meuterei in der Bombay-Armee einen ernsthaften Charakter annehmen,
so ist alle militärische Berechnung im Augenblick am Ende, und nichts wird gewiß sein, als eine gewaltige Metzelei von Kaschmir bis Kap Komorin. Alles, was getan werden kann, ist im besten Falle, entscheidende Ereignisse bis zum Eintreffen der europäischen Truppen im November hinauszuzögern. Ob selbst dies erreicht werden kann, wird von den geistigen Fähigkeiten Sir Colin Campbeils abhängen, über den bis jetzt nichts als seine persönliche Tapferkeit bekannt ist. Wenn er der rechte Mann an seinem Platz ist, wird er um jeden Preis, ob Delhi fällt oder nicht, eine kampffähige, wenn auch kleine Truppe schaffen, um mit ihr das Feld zu behaupten. Doch wir müssen es wiederholen, die endgültige Entscheidung liegt bei der Bombay-Armee.
Geschrieben am 6. Oktober 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Der Aufstand in Indien]
f %t i TS rp 4t [„New-YorK iJany ifiDime Nr. 5170 vom 14. November 1857, Leitartikel] Die Post der „Arabia" bringt uns die wichtige Nachricht vom Fall Delhis. Soweit wir nach den vorliegenden spärlichen Details urteilen können, scheint sich dieses Ereignis daraus zu erklären, daß eine Reihe von Umständen gleichzeitig eingetreten ist: erbitterte Streitigkeiten unter den Rebellen, eine Veränderung des zahlenmäßigen Verhältnisses der sich bekämpfenden Parteien und am 5.September die Ankunft des Belagerungstrains, der bereits am S.Juni erwartet worden war. Wir hatten die Armee vor Delhi nach Eintreffen von Nicholsons Verstärkungen auf insgesamt 7521 Mann geschätzt, eine Schätzung, die sich inzwischen vollkommen bestätigt hat. Nachdem noch 3000 Kaschmir-Soldaten hinzugekommen sind, die der Radscha Ranbir Singh den Engländern zur Verfügung gestellt hat, erklärt der „Friend of India"I267J, daß die britischen Truppen insgesamt auf etwa 11 000 Mann angestiegen seien. Andererseits versichert der Londoner „Military Spectator"[2681, daß sich die Zahl der aufständischen Truppen auf etwa 17 000 Mann verringert hätte, darunter 5000 Mann Kavallerie, während der „Friend of India" ihre Truppen auf etwa 13 000 schätzt, einschließlich 1000 Mann irregulärer Kavallerie. Da die Reiterei völlig nutzlos wurde, sobald die Bresche einmal geschlagen war und der Kampf innerhalb der Stadt begonnen hatte, und folglich auch schon beim Eindringen der Engländer die Flucht ergriff, könnte die Gesamtstreitmacht der Sepoys, ob .wir die Schätzung des „Military Spectator" oder des „Friend of India" in Betracht ziehen, auf höchstens 11 000 oder 12 000 Mann veranschlagt werden. Die englischen Kräfte waren daher denen der Meuterer fast gleich geworden, und zwar weniger durch Verstärkung ihrerseits als durch Schwächung der Gegenseite; ihre leichte zahlenmäßige Unterlegenheit wurde mehr als aufgewogen durch die moralische Wirkung eines erfolg
reichen Bombardements und durch die Vorteile der Offensive, die ihnen ermöglichte, die Stellen auszusuchen, auf die sie ihre Hauptkraft zu werfen gedachten, während die Verteidiger gezwungen waren, ihre unzureichenden Kräfte auf alle Punkte der bedrohten Umfassungslinie zu verteilen. Die Schwächung auf Seiten der aufständischen Truppen war mehr noch verursacht durch den Rückzug ganzer Abteilungen infolge innerer Streitigkeiten als durch die schweren Verluste, die sie bei ihren unaufhörlichen Ausfällen über einen Zeitraum von etwa zehn Tagen erlitten. Während selbst der schemenhafte Mogul sowie die Kaufleute von Delhi der Herrschaft der Sepoys überdrüssig geworden waren, die sie aller von ihnen angehäuften Rupien beraubten, genügten der religiöse Hader zwischen den hinduistischen und den mohammedanischen Sepoys und die Streitigkeiten zwischen der alten Garnison und den neuen Verstärkungen, um ihre oberflächliche Organisation zu zerstören und ihren Niedergang zu verbürgen. Doch da die Engländer es mit einer Truppe zu tun hatten, die ihrer eigenen nur wenig überlegen war, ohne einheitliches Kommando, geschwächt und entmutigt durch Streitigkeiten in den eigenen Reihen, die aber dennoch, und das nach 84stündigem Bombardement, sechs Tage Kanonade und Straßenkampf innerhalb der Mauern aushielt, um dann ruhig die Schiffsbrücke über die Dschamna zu überschreiten, so muß man zugeben, daß die Aufständischen schließlich mit ihren Hauptkräften das Beste aus einer bösen Lage gemacht haben. Im einzelnen scheint die Einnahme so vor sich gegangen zu sein, daß am 8. September die englischen Batterien weit vor der ursprünglichen Stellung ihrer Truppen und innerhalb 700 Yard von den Wällen entfernt das Feuer eröffneten. Zwischen dem 8. und dem 11. zogen die Briten ihre schweren Geschütze und Mörser noch näher an die Werke heran, errichteten mit geringen Verlusten eine Verschanzung und brachten die Batterien in Stellung, wobei man bedenken muß, daß die Besatzung von Delhi am 10. und 11. zwei Ausfälle machte und wiederholt versuchte, neue Batterien aufzustellen und ein Störfeuer aus Schützenlöchern zu unterhalten. Am 12. erlitten die Engländer einen Verlust an 56 Toten und Verwundeten. Am Morgen des 13. flog das feindliche Vorratsmagazin auf einer Bastion in die Luft, ebenso die Protze einer leichten Kanone, die von den Talwara-Vororten aus die britischen Batterien bestrich, und nahe dem Kaschmir-Tor schlugen die britischen Batterien eine erstürmbare Bresche. Am 14. erfolgte die Erstürmung der Stadt. Ohne ernsthaften Widerstand drangen die Truppen durch die Bresche nahe dem Kaschmir-Tor ein, nahmen die großen Gebäude in seiner Umgebung in Besitz und rückten an den Wällen entlang auf die Mori-Bastion und das Kabul-Tor vor, wo der Widerstand sehr hartnäckig
wurde und die Verluste folglich schwer waren. Man traf Vorbereitungen, die Kanonen von den eroberten Bastionen auf die Stadt zu richten und andere Kanonen und Mörser auf beherrschende Punkte vorzuziehen. Am 15. beschossen die erbeuteten Kanonen von den Mori- und Kabul-Bastionen aus die Bum- und Lahor-Bastionen, gleichzeitig schlug man eine Bresche ms Magazin und begann mit der Beschießung des Palastes. Das Magazin wurde am 16.September bei Tagesanbruch gestürmt, wahrend am 17. die IVIorser von der Magazinverschanzung aus weiterhin den Palast beschossen. Mit diesem Datum brechen die offiziellen Berichte über die Erstürmung der Stadt ab, da, wie der „Bombay Courier"[269] schreibt, die Post aus dem Pandschab und Lahor an der Grenze von Sind geraubt worden ist. In einer privaten Mitteilung an den Gouverneur von Bombay wird festgestellt, daß die gesamte Stadt Delhi am Sonntag, dem 20., besetzt war und daß die Hauptkräfte der Aufständischen die Stadt am selben Tage um 3 Uhr morgens verlassen hatten und über die Schiffsbrücke in Richtung Rohilkand entkommen waren. Da die Engländer erst nach der Besetzung des am Flußufer gelegenen Selimgarh die Verfolgung aufnehmen konnten, hielten augenscheinlich die Aufständischen, indem sie sich langsam vom nördlichsten Punkt der Stadt bis zu ihrer südöstlichen Spitze durchschlugen, bis zum 20. die zur Deckung ihres Rückzuges notwendige Stellung. In bezug auf die wahrscheinliche Wirkung der Einnahme von Delhi bemerkt eine kompetente Autorität, der „Friend of India", „es sei die Lage in Bengalen und nicht der Zustand Delhis, was jetzt die Aufmerksamkeit der Engländer auf sich ziehen müßte. Tatsächlich hat das lange Hinauszögern der Einnahme der Stadt jedes Ansehen zerstört, das uns ein zeitiger Erfolg gebracht hätte; und die Stärke der Aufständischen und ihre Zahl werden ebenso wirksam durch die Aufrechterhaltung der Belagerung vermindert, wie sie es durch die Einnahme der Stadt würden." Inzwischen soll sich der Aufstand nordöstlich von Kalkutta durch Zentralindien bis nach dem Nordwesten ausdehnen, während an der Grenze von Assam zwei starke Regimenter Poorbeahs mit der offenen Forderung nach der Wiedereinsetzung des früheren Radscha Parandur Singh revoltiert hätten; die Meuterer aus Dinadschpur und Rangpur wären unter der Führung von Kuer Singh über Banda und Nagode in Richtung Subbulpur marschiert und hätten den Radscha von Rewah mit Hilfe seiner eigenen Truppen gezwungen, sich ihnen anzuschließen. In Dschabalpur selbst hätte das 52. bengalische Eingeborenenregiment seine Kantonnements verlassen und einen britischen Offizier als Geisel für ihre zurückgelassenen Kameraden mitgenommen. Nach Berichten sollen die Aufständischen aus Gwalior den Tschambal überschritten
haben und irgendwo zwischen dem Fluß und Dholpur verschanzt sein. Die bedenklichsten Nachrichten sind noch zu erwähnen. Anscheinend ist die Dschodhpur-Legion in den Dienst des rebellischen Radscha von Awah getreten, an einem Ort, der 90 Meilen südöstlich von Beawar liegt. Sie hat eine beachtliche Truppe geschlagen, die der Radscha von Dschodhpur gegen sie ausgesandt hatte, dabei wurden der General und Befehlshaber Monck Mason getötet und drei Kanonen erbeutet. General G. St. P. Lawrence ging mit Teilen der Truppe von Nasirabad gegen sie vor und zwang sie, sich in eine Stadt zurückzuziehen, gegen die sich jedoch seine weiteren Angriffe als nutzlos erwiesen. Die Entblößung Sinds von seinen europäischen Truppen hatte zu einer weitverzweigten Verschwörung geführt, wobei an nicht weniger als an fünf verschiedenen Orten Aufstandsversuche stattgefunden haben, unter denen sich Haidarabad, Karatschi und Schikarpur befinden. AuchimPandschab gibt es Symptome der Unzufriedenheit; so war die Verbindung zwischen Multan und Lahor acht Tage lang unterbrochen. An anderer Stelle finden unsere Leser eine Aufstellung der Truppen, die seit dem 18.Juni von England nach Indien transportiert worden sind; die Tage der Ankunft der entsprechenden Schiffe sind von uns an Hand offizieller Erklärungen -also zugunsten der britischen Regierung - errechnet worden.[270] Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich, daß neben den kleinen Abteilungen Artillerie und Pioniere, die auf dem Landwege gesandt worden sind, sich die ganze eingeschiffte Armee auf 30 899 Mann beläuft, wovon 24 884 der Infanterie, 3826 der Kavallerie und 2334 der Artillerie angehören. Man wird aus der Aufstellung ebenfalls ersehen, daß vor Ende Oktober keine beachtenswerten Verstärkungen erwartet werden konnten.
Nach Indien entsandte Truppen Nachstehende Aufstellung gibt eine Übersicht über die seit dem 18. Juni 1857 aus England nach Indien entsandten Truppen: Zeit der Ankunft Gesamtzahl Kalkutta Ceylon Bombay Karatschi Madras
20. September... 214 214 . I.Oktober 300 300 _ _ _ _ 15. Oktober 1906 124 1782 - - 17. Oktober : 288 288 _ 20. Oktober 4235 3845 390 30. Oktober 2028 479 1549 • _ _ _ Im Oktober insgesamt ... 8757 5036 3721
Zeit der Ankunft Gesamtzahl Kalkutta Ceylon Bombay Karatschi Madras I.November ... 3495 1234 1629 _ 632 5. November ... 879 879 - - - _ 10. November 27QQ 904 340 400 1056 _ 12. November ... 1633 1633 - - - _ 15, November ... 2610 2132 478 - _ 19. November ... 234 - - - 234 20. November ... 1216 - 278 938 - 24. Npvember ... 406 - 406 - - 25. November ... 1276 - - - - 1276 30. November ... 666 - 462 204. - Im November insgesamt ... 15 115 6 782 3 593 1542 1 922 1 276
1. Dezember ... 354 _ 354 _ . 5.Dezember ... 459 - - 201 - 258 10. Dezember ... 1758 - 607 - 1151 14. Dezember ... 1057 - - 1057 - 15.Dezember ... 948 - - . 647 301 20. Dezember ... 693 185 - 300 208 25. Dezember ... 624 - - - 624 Im Dezember insgesamt ... 5893 185 607 2559 2284 258
340
220 140 220
340 - 580
Von September bis 20.Januar ... 30899 12217 7921 4441 4206 2114
Auf dem Landwege 2.0ktober Pioniere 12. Oktober Artilleristen..
I.Januar 340 5. Januar 220 15. Januar 140 20. Januar 220 Im Januar insgesamt ... 920
entsandte Truppen:
235 117 - - 118
221 221
Zeit der Ankunft Gesamtzahl Kalkutta Ceylon Bombay Karatschi Madras
H.Oktober Pioniere 244 122 122 Im Oktober insgesamt ... 700 460 - - 240 Insgesamt 31 599 Um das Kap der Guten Hoffnung transportierte und teilweise eingetroffene Truppen 4 000 Gesamtzahl 35 599
Geschrieben am 30. Oktober 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Der Bankakt von 1844 und die Geldkrise in England]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5176 vom 21. November 1857, Leitartikel] Am 5. d. M. erhöhte die Bank von England den Mindestsatz ihrer Diskontorate von 8 Prozent, auf die er am 19. Oktober festgelegt worden war, auf 9 Prozent. Wie wir annehmen, hat diese Erhöhung, die in der Geschichte der Bank seit der Wiederaufnahme ihrer Barzahlungen beispiellos ist, ihren Gipfelpunkt noch nicht erreicht. Sie ist durch den Abfluß von Edelmetall und den Rückgang der sogenannten Notenreserve herbeigeführt worden. Der Abfluß von Edelmetall geht in entgegengesetzten Richtungen vor sich - in unser Land1 geht Gold als Folge unseres Bankrotts und nach dem Osten Silber als Folge des Rückgangs im Exporthandel mit China und Indien und der direkten Geldsendungen der Regierung für Rechnung der Ostindischen Kompanie. Im Austausch für das daher so begehrte Silber muß Gold nach dem europäischen Kontinent geschickt werden. Was die Notenreserve angeht und die maßgebliche Rolle, die sie auf dem Londoner Geldmarkt spielt, so muß man kurz auf Sir Robert Peels Bankakt von 1844 hinweisen, der nicht nur England, sondern auch die Vereinigten Staaten und den gesamten Weltmarkt beeinflußt. Unterstützt von dem Bankier Loyd, dem jetzigen Lord Overstone, und einer Anzahl weiterer einflußreicher Männer, beabsichtigte Sir Robert Peel mit seinem Act, ein selbsttätiges Prinzip für die Papiergeldzirkulation einzuführen, wodurch sich diese genau wie nach den Gesetzen einer reinen Metallgeldzirkulation ausdehnen und zusammenziehen müßte; und alle Geldkrisen würden somit, wie er und seine Anhänger behaupteten, für alle kommenden Zeiten abgewendet werden. Die Bank von England ist in zwei Departments geteilt, das Noten
1 Vereinigte Staaten von Nordamerika
ausgabe- und das Bank-Department, wobei jenes eine bloße Notenmanufaktur und dieses die eigentliche Bank darstellt. Das Notenausgabe-Department ist gesetzlich ermächtigt, Noten im Werte von vierzehn Millionen Pfund Sterling auszugeben, eine Summe, die den tiefsten Stand angeben soll, unter den die tatsächliche Zirkulation niemals fallen wird, und deren Deckung in der Schuldverpflichtung erkannt wird, die die britische Regierung gegenüber der Bank übernimmt. Über diese vierzehn Millionen hinaus darf keine Note ausgegeben werden, die nicht in den Gewölben des Notenausgabe-Departments durch Edelmetall von gleichem Betrag gedeckt ist. Die gesamte Masse an Banknoten, die auf diese Weise begrenzt ist, wird dem Bank-Department übergeben, das diese in Umlauf bringt. Folglich kann das Bank-Department, wenn die Edelmetallreserve in dem Notenausgabe-Department zehn Millionen beträgt, Noten in Höhe von vierundzwanzig Millionen ausgeben, die dem Bank-Department übergeben werden. Wenn die tatsächliche Zirkulation nur zwanzig Millionen beträgt, bilden die vier in der Kasse des BankDepartments verbleibenden Millionen ihre Notenreserve, welche in der Tat die einzige Sicherheit für die Depositen bildet, die dem Bank-Department von Privatpersonen und vom Staat anvertraut werden. Nehmen wir nun an, daß ein Abfluß von Edelmetall einsetzt und nach und nach verschiedene Mengen Edelmetall aus dem Notenausgabe-Department fließen, zum Beispiel die Summe von vier Millionen in Gold. In diesem Fall werden vier Millionen in Noten ungültig gemacht; die Summe der vom Notenausgabe-Department gelieferten Noten wird dann genau der Summe der in Umlauf befindlichen Noten entsprechen, und die Reserve der disponiblen Noten in der Kasse des Bank-Departments wird gänzlich verschwunden sein. Das Bank-Department wird daher keinen einzigen Heller übrig haben, um den Forderungen seiner Deponenten zu begegnen, und folglich gezwungen sein, sich für zahlungsunfähig zu erklären, ein Schritt, der sowohl ihre öffentlichen als auch ihre privaten Depositen berührt und deshalb dazu führen wird, daß man die Auszahlung der Quartalsdividenden einstellt, auf die die Besitzer von Staatspapieren Anspruch haben. Das Bank-Department könnte also Bankrott gehen, während noch sechs Millionen an Edelmetall in den Gewölben des Notenausgabe-Departments lägen. Das ist keine bloße Annahme. Am 30. Oktober 1847 war die Reserve des BankDepartments auf 1 600 000 Pfd. St. gesunken, während die Depositen 13 000 000 Pfd. St. betrugen. Hätte die herrschende Bestürzung, die nur durch einen finanziellen coup d'etat seitens der Regierung abgeschwächt wurde, noch einige Tage angedauert, dann wäre die Bankreserve erschöpft und das Bank-Department gezwungen gewesen, die Zahlungen einzustellen,
während noch mehr als sechs Millionen an Edelmetall in den Gewölben des Notenausgabe-Departments lagen. Es ist danach augenscheinlich, daß der Abfluß von Edelmetall und die Abnahme der Notenreserve wechselseitig aufeinander einwirken. Während der Abzug von Edelmetall aus den Gewölben des Notenausgabe-Departments unmittelbar ein Sinken der Reserve des Bank-Departments herbeiführt, ziehen die Direktoren die Schraube an aus Furcht, das Bank-Department könnte zur Zahlungsunfähigkeit getrieben werden, und erhöhen die Diskontorate. Aber die Erhöhung der Diskontorate veranlaßt einen Teil der Deponenten, ihre Depositen vom Bank-Department abzuziehen und sie zum allgemein gültigen hohen Zinssatz auszuleihen, während die stetige Abnahme der Reserve andere Deponenten unsicher macht und sie dazu bringt, ihre Noten aus demselben Department abzuziehen. So führen gerade die Maßnahmen, die die Reserve erhalten sollten, dazu, sie zu erschöpfen. Nach dieser Darlegung wird der Leser die Besorgnis begreifen, mit der man in England den Rückgang der Bankreserve beobachtet, und auch den groben Trugschluß verstehen, der im Finanzartikel einer der letzten Nummern der Londoner „Times" gezogen wird. Da heißt es:
„Die alten Gegner des Bank Charter Act beginnen in der allgemeinen Erregung rührig zu werden und man kann sich so gut wie auf nichts mehr verlassen. Eine ihrer beliebten Methoden in der Verbreitung von Furcht besieht darin, auf den niedrigen Stand der ungenutzten Notenreserve hinzuweisen; als wäre die Bank gezwungen, wenn diese Reserve erschöpft ist, jegliche Diskontierung einzustellen." (Wie ein Bankrotteur wäre sie nach dem geltenden Gesetz wirklich dazu gezwungen.) „Tatsächlich aber könnte die Bank die Diskontierung unter solchen Umständen in gleich großem Maße wie bisher fortsetzen, weil ihre Rimessen ja jeden Tag im Durchschnitt ebensoviel einbringen, wie gewöhnlich für die Ausgabe verlangt wird. Die Bank könnte das Ausmaß nicht vergrößern, aber niemand wird annehmen, daß bei einer Einschränkung des Geschäfts auf allen Gebieten eine Vergrößerung überhaupt notwendig werden kann. Es gibt folglich nicht die Spur eines Vorwandes für Regierungsmaßnahmen." Der Taschenspielertrick, auf den sich dieses Argument stützt, besteht darin: Die Deponenten sind absichtlich unberücksichtigt geblieben. Es bedarf keiner besonderen Denkleistung, um zu verstehen, daß das BankDepartment, wenn es sich eines Tages seinen Gläubigern gegenüber für bankrott erklärt hätte, nicht weiterhin seinen Schuldnern Darlehen in Form von Wechseldiskontierungen oder Anleihen gewähren dürfte. Alles in allem genommen hat Sir Robert Peels vielgepriesener Bankakt in normalen Zeiten überhaupt keine Wirkung; in schwierigen Zeiten fügt er der aus der kommerziellen Krise herrührenden Geldpanik eine durch Gesetz erzeugte Geld
panik hinzu; und gerade dann, wenn nach seinem Prinzip seine heilsamen Wirkungen einsetzen sollen, muß es durch Intervention der Regierung aufgehoben werden. In normalen Zeiten wird der Höchstsatz der Noten, die die Bank legal ausgeben darf, niemals von der tatsächlichen Zirkulation absorbiert - eine Tatsache, die hinreichend durch die fortlaufende Existenz einer Notenreserve in der Kasse des Bank-Departments während solcher Perioden bewiesen ist. Man kann diese Wahrheit bestätigt finden, indem man die Berichte der Bank von England von 1847 bis 1857 vergleicht, oder sogar, indem man den Betrag der Noten, die von 1819 bis 1847 tatsächlich zirkulierten, mit dem vergleicht, der nach dem legal festgelegten Höchstsatz eigentlich hätte umlaufen können. In schwierigen Zeiten, wie 1847 und jetzt, werden die Auswirkungen eines Abflusses von Edelmetallen durch die willkürliche und absolute Trennung zwischen den beiden Departments desselben Unternehmens künstlich verschlimmert, wird das Ansteigen der Zinsen künstlich beschleunigt, droht die Aussicht auf Zahlungsunfähigkeit nicht als Folge der wirklichen Zahlungsunfähigkeit der Bank, sondern der fiktiven Zahlungsunfähigkeit eines ihrer Departments. Wenn die wirkliche Geldnot somit durch eine künstliche Panik verschärft worden ist und in ihrem Gefolge eine genügende Anzahl Opfer gefallen sind, dann wird der Druck der Öffentlichkeit auf die Regierung zu stark, und das Gesetz wird gerade in der Periode aufgehoben, zu deren Überwindung es geschaffen worden ist und in deren Verlauf es überhaupt nur irgendeine Wirkung hervorbringen kann. So begaben sich am 23.Oktober 1847 die führenden Bankiers aus London zur Downing Street, um dort Abhilfe durch Aufhebung des Peelschen Akts zu verlangen. Lord John Russell und Sir Charles Wood richteten daraufhin an den Gouverneur und an den Stellvertretenden Gouverneur der Bank von England einen Brief, in dem sie ihnen empfahlen, die Ausgabe der Noten zu erhöhen und somit das legale Zirkulationsmaximum zu überschreiten, während sie selbst die Verantwortung für die Verletzung des Gesetzes von 1844 auf sich nahmen und sich bereit erklärten, beim Zusammentreten des Parlaments eine Indemnitäts-Bill einzureichen. Dieselbe Farce wird diesmal wieder aufgeführt werden, nachdem die Verhältnisse dasselbe Niveau erreicht haben, auf dem sie in der am 23. Oktober 1847 endenden Woche standen, als eine gänzliche Einstellung jeglicher Geschäftstätigkeit und aller Zahlungen unmittelbar bevorzustehen schien. Der einzige Vorteil, der also aus dem Peelschen Akt entspringt, ist der, daß er die ganze Gesellschaft völlig von einer aristokratischen Regierung abhängig macht - von der Gnade eines rücksichtslosen Individuums, wie es zum Beispiel Palmerston ist. Daher die Vorliebe des Ministeriums für den
Akt von 1844, der ihm einen Einfluß auf private Vermögen verleiht, den er niemals zuvor besessen hat. Wir haben uns so ausführlich bei dem Peelschen Akt aufgehalten, weil er gegenwärtig einen Einfluß auf unser Land1 ausübt, und auch deshalb, weil er in England wahrscheinlich außer Kraft gesetzt wird. w7enn aber die britische Regierung die Macht hat, der britischen Öffentlichkeit die Bürde der Schwierigkeiten von den Schultern zu nehmen, die ihr diese Regierung selbst auferlegt hat, dann könnte nichts unrichtiger sein als die Anneihme, daß die Erscheinung* die wir auf dem Londoner Geldmarkt erleben werden - das Ansteigen und clcs Nachlassen der Geldpanik - einen echten Gradmesser für die Intensität der Krise darstellen wird, weiche die britische Geschäftswelt durchmachen muß. Diese Krise befindet sich außerhalb jeder Regierungsgewalt. Als die ersten Nachrichten von der amerikanischen Krise die Küsten Englands erreichten, stellten die englischen Ökonomen eine Theorie auf, die zwar keinen Anspruch auf Genialität, aber doch wenigstens auf Originalität erheben darf. Man sagte, der englische Handel wäre gesund, aber - o weh! seine Kunden und vor allem die Yankees wären ungesund. Der gesunde Zustand eines Handels, dessen Gesundheit nur auf einer Seite existiert - das ist ein Gedanke, der eines britischen Ökonomen würdig ist. Man werfe einen Blick auf den letzten vom englischen Handelsministerium herausgegebenen Halbjahresbericht, und man wird finden, daß von dem Gesamtexport britischer Erzeugnisse und Industriewaren 30 Prozent nach den Vereinigten Staaten, 11 Prozent nach Ostindien und 10 Prozent nach Australien gegangen sind. Während nun der amerikanische Markt auf lange Zeit hinaus geschlossen ist, wird der indische, der in den vergangenen zwei Jahren übersättigt worden ist, durch die Erschütterungen des Aufstands weitgehend abgeschnitten, und der australische Markt ist so überschwemmt, daß britische Waren aller Art jetzt in Adelaide, Sydney und Melbourne billiger als in London, Manchester oder Glasgow verkauft werden. Die allgemeine Stabilität der britischen Industriellen, die infolge des plötzlichen Versagens ihrer Kunden für bankrott erklärt worden sind, mag aus zwei Beispielen gefolgert werden. Auf einer Versammlung der Gläubiger eines Glasgower Kattunfabrikanten wies die Schuldenliste eine Gesamtsumme von 116 000Pfd. St. auf, während die Guthaben nicht einmal den bescheidenen Betrag von 7000 Pfd. St. erreichten. Ebenso konnte ein Glasgower Spediteur seinen Passiva von 11 800 Pfd. St. nur Aktiva von 789 Pfd. St. gegenüberstellen. Das aber sind nur Einzelfälle;
1 die Vereinigten Staaten von Nordamerika
worauf es ankommt ist, daß die britische Produktion in einem Maße ausgeweitet worden ist, daß das Ergebnis bei den verengten Auslandsmärkten ein allgemeiner Krach sein muß, dem ein Rückschlag im gesellschaftlichen und politischen Leben Großbritanniens folgen wird. Die amerikanische Krise von 1837 bis 1839 führte zu einem Absinken der britischen Exporte von 12 425 601 Pfd. St. im Jahre 1836 auf 4 695 225 Pfd. St. im Jahre 1837, auf 7 585 760 Pfd. St. im Jahre 1838 und auf 3 562 000 Pfd. St. im Jahre 1842. Eine ähnliche Lähmung setzt bereits in England ein. Sie wird unfehlbar höchst bedeutsame Wirkungen hervorrufen, ehe sie vorbei ist.
Geschrieben am 6. November 1857. Aus dem Englischen.
IV .1 T\ /T __ rvan marx Die Erschütterung des britischen Handels12711
[„New-York Daily Tribüne" Nr.5183 vom 30.November 1857] Die gewaltige Erschütterung des britischen Handels hat im ganzen Verlauf ihrer Entwicklung dem Anschein nach drei klar unterscheidbare Formen gezeigt: die eines Drucks auf die Geld- und Warenmärkte Londons und Liverpools, die einer Bankpanik in Schottland und die eines industriellen Zusammenbruchs in den Fabrikbezirken. Die Tatsachen sind in unserem Blatt am Freitag in Gestalt umfangreicher Auszüge aus den britischen Zeitungen weitläufig dargelegt worden, doch ihre Bedeutung und ihre voraussichtlichen Folgen erfordern noch eine weitere Ausführung. Obwohl die Regierung, wie wir in einem früheren Artikel voraussahen1, schließlich gezwungen war, den Bankakt von 1844 aufzuheben, tat sie das erst dann, als die Bank in dem Bemühen, sich selbst zu retten, mutig eine Anzahl ihrer Kunden ruiniert hatte. Endlich aber, am Abend des 11 .November, hielten die Leiter der Bank einen Kriegsrat ab mit dem Ergebnis, die Regierung um Hilfe anzurufen, was mit der Aufhebung der Bestimmungen des Akts beantwortet wurde. Diese Regierungsverfügung wird demParlament sogleich zur Billigung vorgelegt werden, da diese Körperschaft für Ende des Monats zur Sitzung einberufen worden ist. Wie wir früher gezeigt haben, muß sich die Aufhebung als eine relative Erleichterung auswirken. Sie beseitigt eine künstliche Geldknappheit, die der Bankakt der natürlichen Anspannung des Geldmarktes in Zeiten eines kommerziellen Rückschlags hinzufügt.[272] In der vergeblichen Hoffnung, die Gewalt der Strömung aufzuhalten, die alles mit sich riß, hatte die Bank im Verlauf der gegenwärtigen Krise fünfmal ihre Diskontorate erhöht. Am 8. des letzten Monats wurde der Satz auf
1 Siehe vorl. Band, S. 317
6 Prozent erhöht, am 12. auf 7 Prozent, am 22. auf 8 Prozent, am 5. d. M. auf 9 Prozent und am 9. auf 10 Prozent. Die Schnelligkeit dieser Bewegung zeigt einen bemerkenswerten Gegensatz gegenüber derjenigen, die die Krise von 1847 begleitete. Damals war der Mindestsatz der Diskontorate im April auf 5 Prozent erhöht worden, im Juli auf 51/2 Prozent, und am 23. Oktober auf seinen höchsten Punkt, nämlich 8 Prozent. Von da an sank er am 20. November auf 7 Prozent, am 4.Dezember auf 6 Prozent und am 25. Dezember auf 5 Prozent. Die fünf darauffolgenden Jahre bilden eine Zeit, in der die Rate beständig fiel, in der Tat so regelmäßig, als wäre sie von einer gleitenden Skala gelenkt worden. Hierdurch hatte sie am 26. Juni 1852 ihren tiefsten Punkt erreicht - nämlich 2 Prozent. Die nächsten fünf Jahre, von 1852 bis 1857, weisen eine entgegengesetzte Bewegung auf. Am 8. Januar 1853 stand die Rate auf 21/2 Prozent, am 1 .Oktober 1853 betrug sie 5 Prozent, worauf sie nach vielen aufeinanderfolgenden Veränderungen endlich ihre jetzige Höhe erreicht hat. Bisher haben die Schwankungen des Zinsfußes während der zehnjährigen Periode, die jetzt beendet ist, nur die Erscheinungen gezeigt, die für die wiederkehrenden Phasen des modernen Handels üblich sind. Kurz zusammengefaßt sind diese Phasen: äußerste Einschränkung des Kredits im Jahr der Panik; dieser Einschränkung folgt eine allmähliche Ausweitung, die ihren Höhepunkt erreicht, wenn der Zinsfuß auf seinen tiefsten Punkt fällt; dann folgt wieder eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung, eine allmähliche Kürzung, die ihren höchsten Punkt erreicht, wenn der Zinsfuß auf sein Maximum gestiegen ist, und schon hat erneut das Jahr der Panik eingesetzt. Doch bei einer näheren Untersuchung wird man im zweiten Teil der gegenwärtigen Periode einige Erscheinungen entdecken, die sie allgemein von allen vorhergegangenen unterscheiden. Während der Prosperitätsjähre von 1844 bis 1847 schwankte der Zinsfuß in London zwischen 3 und 4 Prozent, so daß die ganze Periode durch einen verhältnismäßig wohlfeilen Kredit gekennzeichnet war. Als am 10.April 1847 der Zinsfuß 5 Prozent erreichte, hatte die Krise bereits eingesetzt, und ihr allgemeiner Ausbruch wurde nur um wenige Monate durch eine Reihe von Kunstgriffen hinausgeschoben. Andererseits ging der Zinsfuß, der am 6. Mai 1854 bereits auf 5V2 Prozent angestiegen war, nacheinander wieder auf 5 Prozent, 4% Prozent, 4 Prozent und 31j2 Prozent herunter, auf diesem letzten Stand blieb er dann vom 16. Juni 1855 bis zum 8.September 1855. Dann machte er wieder dieselben Veränderungen in entgegengesetzter Richtung durch, indem er auf 4 Prozent, 4x/2 Prozent und 5 Prozent anstieg, bis er im Oktober 1855 den gleichen Stand erreicht hatte, von dem er im Mai 1854 ausgegangen war, nämlich 5V2 Prozent. Zwei Wochen danach, am 20.Oktober 1855, stieg er
21 Marx/Engels, Werke. Bd. 1 2
für kurzfristige Wechsel auf 6 Prozent und für langfristige auf 7 Prozent. Doch wieder setzte eine Gegenbewegung ein. Im Verlauf des Jahres 1856 ging der Zinsfuß auf und nieder, bis er im Oktober 1856 erneut 6 und 7 Prozent erreicht hatte, die Werte, von denen er im Oktober des vergangenen Jahres ausgegangen war. Am 15.November 1856 stieg er auf 7 Prozent, aber mit unregelmäßigen und oft unterbrochenen Abstiegsschwankungen, die ihn in drei Monaten bis auf 51/2 Prozent herunterbrachten. Erst am 12. Oktober dieses Jahres, als die amerikanische Krise begonnen hatte, auf England einzuwirken, erlangte er wieder die ursprüngliche Höhe von 7 Prozent. Von diesem Augenblick an war seine Aufwärtsbewegung schnell und anhaltend, und führte schließlich zu einer beinahe völligen Einstellung des Diskontogeschäfts. Mit anderen Worten, in der zweiten Hälfte der Periode von 1848 bis 1857 wurde die Unbeständigkeit des Zinsfußes in viel häufiger wiederkehrenden Abständen intensiviert, und vom Oktober 1855 bis zum Oktober 1857 vergingen zwei Jahre, wo das Geld teuer war und die Schwankungen des Zinsfußes zwischen 5V2 und 7 Prozent lagen. Gleichzeitig gingen trotz dieses hohen Zinsfußes Produktion und Austausch unvermindert mit einer Geschwindigkeit voran, die man vorher nicht für möglich gehalten. Einerseits kann man diese außergewöhnlichen Erscheinungen auf die zur rechten Zeit eintreffenden Goldlieferungen aus Australien und den Vereinigten Staaten zurückführen, die es der Bank von England gestatteten, ihren Griff von Zeit zu Zeit zu lockern, während es andererseits offensichtlich ist, daß die Krise schon im Oktober 1855 fällig war, daß sie durch eine Reihe von vorübergehenden Verzögerungen aufgeschoben wurde, und daß darum ihr endgültiger Ausbruch jede zuvor erlebte Krise hinsichtlich der Stärke der Symptome wie auch des Umfangs der Verbreitung übertreffen wird. Die merkwürdige Tatsache, daß der Zinsfuß vom 20. Oktober 1855 in Höhe von 7 Prozent am 4. Oktober 1856 und am 12. Oktober 1857 wiederkehrte, würde diese Behauptung schon weitgehend beweisen, wenn wir nicht außerdem wüßten, daß schon 1854 ein warnender Schock England geschüttelt hatte, und daß auf dem Festland alle Symptome der Panik sich schon im Oktober 1855 und 1856 wiederholt hatten. Wenn wir diese erschwerenden Umstände außer acht lassen, dann besitzt jedoch die Periode von 1848 bis 1857, insgesamt gesehen, eine auffallende Ähnlichkeit mit der von 1826 bis 1836 und der von 1837 bis 1847. Zwar hat man uns erzählt, der britische Freihandel würde dies alles ändern, doch wenn nichts anderes bewiesen ist, so ist wenigstens eins klar die Freihandelsdoktoren sind nichts weiter als Quacksalber. Wie in früheren
Zeiten folgte auf eine Reihe von guten Ernten eine Reihe von schlechten. Ungeachtet des allseligmachenden Freihandels haben in England von 1853 bis 1857 sogar höhere Durchschnittspreise für Weizen und alle anderen Rohprodukte geherrscht als von 1820 bis 1853; und was noch bemerkenswerter ist: während die Industrie trotz der hohen Getreidepreise einen beispiellosen Aufschwung nahm, hat sie jetzt, wie um jede mögliche Ausflucht zu durchkreuzen, trotz einer reichen Ernte einen beispiellosen Zusammenbruch erlitten. .Unsere Leser werden natürlich verstehen, daß diese lOprozentige Diskontorate der Bank von England lediglich eine nominelle Zinsrate ist, und daß die Zinsen, die in London wirklich auf erstrangige Papiere gezahlt werden, diese Ziffer bei weitem überschreiten. „Die Zinsraten, die auf dem freien Markt gefordert werden", schreibt die „Daily News", „liegen beträchtlich über denen der Bank." „Selbst die Bank von England", schreibt der „Morning Chronicle", „diskontiert nicht zum Zinsfuß von 10 Prozent, sehr wenige Fälle ausgenommen, die die Ausnahmen und nicht die Regel darstellen, während draußen die Forderungen bekanntlich von der angegebenen Notierung abweichen." „Die Unmöglichkeit, auf zweit- und drittrangige Papiere zu beliebigen Bedingungen Geld zu erhalten", schreibt der „Morning Herald", „richtet bereits gewaltigen Schaden an." „Infolgedessen geraten", wie „The Globe"f273J meint, „die Geschäfte ins Stocken; Firmen brechen zusammen, deren Aktiva die Passiva überschreiten, und der Handel scheint sich in einer allgemeinen Revolution zu befinden." Teils durch diesen Druck auf dem Geldmarkt, teils durch das Einströmen amerikanischer Waren sind alle Artikel auf dem Warenmarkt im Preis gesunken. Im Verlauf weniger Wochen ist Baumwolle in Liverpool um 20 bis 25 Prozent gefallen, Zucker um 25 Prozent, Getreide um 25 Prozent, und Kaffee, Salpeter, Talg, Leder und dergleichen sind ihnen unmittelbar gefolgt. „Es ist fast unmöglich", schreibt die „Morning Post", „Wechsel diskontiert und aufWaren Darlehen zu bekommen." „In Mincing Lane", schreibt der „Standard" t274l, „ist der Handel völlig zerrüttet. Es ist nicht mehr möglich, irgendwelche Waren zu verkaufen, es sei denn auf dem Wege des Tauschhandels, da Geld nicht in Betracht kommt." Dieses ganze Unglück würde jedoch die Bank von England nicht so bald auf die Knie gezwungen haben, wenn nicht die Bankpanik in Schottland eingetreten wäre. In Glasgow folgte auf den Zusammenbruch der Western Bank der Zusammenbruch der City of Glasgow Bank, was wiederum einen allgemeinen Run der Deponenten aus der Bourgeoisie und der Banknotenbesitzer aus den arbeitenden Klassen hervorrief, und schließlich in lärmenden
Tumulten endete, die den Bürgermeister von Glasgow sogar nötigten, die Hilfe von Bajonetten in Anspruch zu nehmen. Die City of Glasgow Bank, die die Ehre hatte, von keiner geringeren Persönlichkeit als dem Herzog von Argyll geleitet zu werden, besaß ein eingezahltes Kapital von einer Million Pfund Sterling, einen Reservefonds von 90 595 Pfd. St. und sechsundneunzig im Lande verstreute Zweigstellen. Ihre genehmigten Emissionen betrugen 72 921 Pfd. St., während die der Western Bank of Scotland 225 292 Pfd. St. betrugen, was zusammengenommen 298 213 Pfd. St. oder fast ein Zehntel der gesamten gesetzlich zugelassenen Zirkulationsmittel von Schottland ergibt. Das Kapital dieser Banken war vor allem in kleinen Summen von der Landbevölkerung aufgebracht worden. Die schottische Panik wirkte natürlich auf die Bank von England zurück, und aus ihren Gewölben wurden 300 000 Pfd. St. am 11. November und 600 000 bis 700 000 Pfd. St. am 12.November nach Schottland überwiesen. Auch wurden andere Summen zugunsten der irischen Banken aufgekündigt, wahrend hohe Depositen von den englischen Provinzialbanken eingezogen wurden, so daß sich das Bank-Department der Bank von England unmittelbar an den Rand des Bankrotts getrieben sah. Es ist wahrscheinlich, daß die generelle Krise den beiden obengenannten schottischen Banken nur einen Vorwand bot, einen schicklichen Abgang zu vollziehen, denn sie waren schon lange bis ins Innerste verrottet. Doch es bleibt die Tatsache, daß das gepriesene schottische Banksystem, - das 1825/1826, 1836/1837 und 1847 die Wirbelstürme überstand, die die englischen und irischen Banken hinwegfegten, - unter der Herrschaft des Peelschen Bankakts, die 1845 Schottland aufgezwungen worden war, zum ersten Mal einen allgemeinen Run erlebte; daß dort zum ersten Mal der Ruf „Gold gegen Papier" zu hören war, und daß in Edinburgh zum ersten Mal sogar Noten der Bank von England zurückgewiesen wurden. Die Vorstellung der Verteidiger des Peelschen Akts, daß der Akt wenigstens die Konvertierbarkeit der im Umlauf befindlichen Noten sichern würde, wenn er schon nicht imstande wäre, Geldkrisen überhaupt abzuwehren, ist nun über den Haufen geworfen; die Banknotenbesitzer teilen das Schicksal der Deponenten. Der allgemeine Zustand der britischen Manufakturbezirke kann nicht besser beschrieben werden als durch zwei Zeitungsauszüge, von denen der eine aus einem Handelszirkular aus Manchester stammt und im „Economist" abgedruckt wurde, und der andere aus einem Privatbrief aus Macclesfield in der Londoner „Free Press"[275]. Nachdem das Zirkular aus Manchester eine vergleichende Aufstellung des Baumwollhandels der letzten fünf Jahre gibt, fährt es wie folgt fort:
„Die Preise sind in dieser Woche mit einer Tag für Tag zunehmenden Beschleunigung gefallen. Für zahlreiche Warenarten können keine Preise angegeben werden, weil sie keinen Käufer finden konnten, und wo Preise angegeben werden, hängen sie im allgemeinen mehr von der Position oder den Vorstellungen des Besitzers ab als von der Nachfrage. Es gibt keine laufende Nachfrage. Der Binnenhandel hat mehr Vorräte aufgestapelt, als man nach den Aussichten für den Winter zu verkaufen hoffen kann." (Daß die ausländischen Märkte übersättigt worden sind, sagt das Zirkular natürlich nicht.) „Kurzarbeit ist nun allgemein als Notwendigkeit eingeführt worden; man schätzt, daß ihr Umfang gegenwärtig ein Fünftel der gesamten Produktion übersteigt. Die Einwände gegen ihre Einführung werden täglich weniger, und es wird jetzt darüber debattiert, ob es nicht zweckdienlich sei, die Fabriken lieber zeitweilig ganz zu schließen." Der Briefscbreiber aus Macclesfield berichtet uns: „Mindestens 5000 Personen, qualifizierte Handwerker und ihre Familien, die jeden Morgen aufstehen und nicht wissen, woher sie Nahrungsmittel nehmen sollen to break their fast1, haben sich an die Armenbehörde um Unterstützung gewandt, und da sie unter die Kategorie der körperlich gesunden Armen gehören, bleibt ihnen nur die Alternative, entweder für etwa vier Pence pro Tag Steine zu brechen oder ins Armenhaus zu gehen, wo sie wie Häftlinge behandelt werden und wo ihnen ein minderwertiges und karges Essen durch ein Loch in der Wand gegeben wird; und was das Steinebrechen angeht, so ist das für Menschen, deren Hände nur zur Bearbeitung feinsten Materials, nämlich Seide, fähig sind, gleichbedeutend mit völliger Verweigerung einer Hilfe." Was englische Autoren als einen Vorzug ihrer jetzigen Krise gegenüber der von 1847 betrachten - daß es kein unumschränktes Feld der Spekulation gibt, wie z. B. die Eisenbahnen, die ihr Kapital absorbieren -, trifft auf keinen Fall zu. Die Wahrheit ist, daß sich die Engländer sehr weitgehend an Spekulationen im Ausland beteiligt haben, sowohl auf dem europäischen Festland als auch in Amerika, während im Inland ihr überschüssiges Kapital hauptsächlich in Fabriken investiert worden ist, so daß die gegenwärtige Erschütterung mehr denn je den Charakter einer industriellen Krise trägt und daher unmittelbar an die Wurzeln der nationalen Prosperität rührt. Auf dem europäischen Festland hat sich die Seuche in der einen Richtung von Schweden nach Italien und in der anderen von Madrid nach Pest verbreitet. Hamburg, das den großen kommerziellen Mittelpunkt der Exporte und Importe des Zollvereins[276] und des allgemeinen Geldmarkts von Norddeutschland bildet, mußte natürlich den ersten Schock aushalten. Was Frankreich betrifft, so hat die Bank von Frankreich ihre Diskontorate auf den englischen Stand heraufgeschraubt; die Dekrete über das Verbot des Getreideexports sind widerrufen worden[2771; alle Pariser Blätter haben die vertrau
1 um das Fasten zu brechen; Wortspiel mit breakfast (frühstücken)
liehe Warnung erhalten, sich davor zu hüten, düstere Betrachtungen anzustellen; die Edelmetallhändler werden durch Gendarmen geschreckt, und Louis Bonaparte selbst läßt sich in einem ziemlich albernen Brief herab, seine Untertanen darüber zu informieren, daß er sich nicht auf einen finan— _ 1 J T'lU.l ;_ z.iexxcx x i.uu[j UcLai vuiuciciici xuiiic, unu uau luiguui „uaa v_>Dci nux in UCI Einbildung existiere".[278]
Geschrieben am 13. November 1857. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels [Die Einnahme Delhis]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5188 vom 5. Dezember 1857, Leitartikel] Wir wollen nicht in den lärmenden Chor einstimmen, der jetzt in Großbritannien die Tapferkeit der Truppen, die Delhi erstürmt haben, in den Himmel hebt. Kein Volk, nicht einmal das französische, kann es den Engländern in Selbstlob gleichtun, besonders wenn von Tapferkeit die Rede ist. Die Untersuchung der Tatsachen reduziert jedoch in neunundneunzig von hundert Fällen die Größe dieses Heldenmuts sehr bald auf ganz alltägliche Ausmaße; und jedermann mit gesundem Menschenverstand muß von dieser überlauten Geschäftigkeit angewidert sein, womit aus dem Mut anderer Kapital geschlagen wird und wodurch der englische Paterfamilias1 sich den Anschein zu geben versucht, als habe er Anteil an der unbestrittenen, aber durchaus nicht so außergewöhnlichen Tapferkeit, die sich beim Sturm auf Delhi gezeigt hat, derselbe Paterfamilias, der geruhsam daheim sitzt und allem mit unüberwindlicher Abneigung begegnet, was auch nur entfernt mit der Möglichkeit droht, selbst kriegerischen Ruhm zu erwerben. Wenn wir Delhi mit Sewastopol vergleichen, müssen wir natürlich zugeben, daß die Sepoys keine Russen waren, daß keiner ihrer Ausfälle gegen das britische Kantonnement mit Inkerman[124] verglichen werden kann, daß es in Delhi keinen Todtieben gab, und daß die Sepoys, so tapfer jeder einzelne Mann und jede einzelne Kompanie in den meisten Fällen auch kämpfte, gänzlich ohne Führung waren, nicht nur ihre Brigaden und Divisionen, sondern auch fast alle ihre Bataillone, daß tlaher ihr Zusammenhalt nicht über den Bereich der Kompanien hinausging, daß ihnen das wissenschaftliche Element völlig fehlte, ohne das eine Armee heutzutage hilflos und die Verteidigung-einer Stadt ganz und gar aussichtslos ist. Doch das Mißverhältnis
1 Haus- und Familienvater
von Kräften und Kampfmitteln, die Widerstandskraft der Sepoys gegenüber dem Klima, worin sie den Europäern überlegen sind, der Zustand äußerster Schwäche, in den die Truppen vor Delhi zeitweilig gebracht worden sind alles das wiegt die genannten Unterschiede auf und macht es möglich, beide Belagerungen (soweit man diese Operationen Belagerungen nennen kann) m angemessener Weise zu vergleichen. Um zu wiederholen, wir sehen die Erstürmung Delhis nicht als einen Akt ungewöhnlicher oder besonders heldenmütiger Tapferkeit an, obwohl wie in jeder Schlacht einzelne kühne Taten zweifellos auf beiden Seiten vollbracht wurden, doch behaupten wir, daß die englisch-indische Armee vor Delhi mehr Ausdauer, Charakterstärke, Urteilsfähigkeit und Geschick bewiesen hat als die englische Armee bei ihrer Bewährungsprobe zwischen Sewastopol und Balaklawal279]. Diese war nach Inkerman bereit und willens, sich wieder einzuschiffen, und hätte dies zweifellos getan, wenn die Franzosen nicht gewesen wären. Erstere erwog in der Tat auch, ob es nicht ratsam sei, sich zurückzuziehen, als die Jahreszeit, die damit verbundenen todbringenden Krankheiten, die Unterbrechung der Verbindungslinien, das Fehlen jeder Möglichkeit rascher Verstärkungen und die Lage in ganz Oberindien zu einem Rückzug aufforderten, hielt jedoch trotz alledem auf ihrem Posten aus. Als der Aufstand seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde als erstes eine bewegliche Kolonne in Oberindien benötigt. Es gab nur zwei Truppenkörper, die so verwendet werden konnten - die kleine Truppe Havelocks, die sich bald als unzureichend erwies, und die Truppe vor Delhi. Daß es unter diesen Umständen militärisch gesehen ein Fehler war, vor Delhi zu bleiben und die verfügbaren Kräfte in nutzlosen Kämpfen mit einem unangreifbaren Feind aufzureiben; daß die Armee in Bewegung viermal so wertvoll gewesen wäre wie in Ruhe; daß die Säuberung Oberindiens mit Ausnahme Delhis, die Wiederherstellung der Verbindungslinien sowie die Zerschlagung jedes Versuchs der Aufständischen, eine Streitmacht zu konzentrieren, erreicht worden wäre, und damit der Fall Delhis als natürliche und einfache Folge - das sind unbestreitbare Tatsachen. Doch politische Erwägungen führten dazu, das Lager vor Delhi nicht aufzuheben. Zu tadeln sind die Neunmalklugen im Hauptquartier, die die Armee nach Delhi schickten - nicht die Beharrlichkeit der Armee beim Durchhalten, nachdem sie nun einmal da war. Gleichzeitig dürfen wir nicht unterlassen festzustellen, daß die Auswirkung der Regenzeit auf diese Armee weit geringer war, als man hatte erwarten müssen, und daß bei einem auch nur durchschnittlichen Krankheitsstand, den gewöhnlich aktive Operationen in solcher Jahreszeit zur Folge haben, der Rückzug oder die Auflösung der Armee unausbleiblich gewesen wäre. Die gefährliche Lage der
Armee hielt bis Ende August an. Die Verstärkungen begannen einzutreffen, während Zwistigkeiten das Lager der Aufständischen weiterhin schwächten. Anfang September traf der Belagerungspark ein, und die Verteidigungsstellung verwandelte sich in eine Angriffsstellung. Am 7. September eröffnete die erste Batterie das Feuer, und am Abend des 13. September waren zwei erstürmbare Breschen geschlagen. Untersuchen wir nun, was sich in der Zwischenzeit ereignete. Wenn wir uns zu diesem Zweck auf die offizielle Depesche General Wilsons verlassen müßten, wären wir allerdings sehr übel dran. Dieser Bericht ist genauso verworren wie es immer die Berichte waren, die vom englischen Hauptquartier auf der Krim herausgegeben wurden. Kein Mensch auf der Welt konnte sich nach diesem Bericht ein Bild über die Lage der beiden Breschen machen oder über die entsprechende Position und Ordnung, in der die Sturmkolonnen aufgestellt waren. Was die nichtamtlichen Berichte angeht, so sind diese natürlich noch hoffnungsloser verwirrt. Glücklicherweise hat einer jener befähigten, wissenschaftlich gebildeten Offiziere, denen nahezu das ganze Verdienst des Erfolgs gebührt, ein Angehöriger der bengalischen Genie- und Artillerietruppen, in der „Bombay Gazette"t280] einen Bericht über die Ereignisse gegeben, der ebenso klar und sachlich wie einfach und bescheiden ist. Während des gesamten Krimkrieges fand sich nicht ein einziger englischer Offizier, der in der Lage'gewesen wäre, einen so vernünftigen Bericht wie diesen zu schreiben. Leider ist jener Offizier am ersten Tage des Sturms verwundet worden, und damit endet sein Brief. Über die späteren Aktionen sind wir daher noch ganz im Dunkeln. Die Engländer hatten die Verteidigungsanlagen von Delhi so weit verstärkt, daß sie einer Belagerung durch eine asiatische Armee standhalten konnten. Nach unseren heutigen Begriffen war Delhi kaum als Festung zu bezeichnen, sondern nur als ein Ort, der gegen den Ansturm einer Feldtruppe gesichert war. Von seinem Steinwall, 16 Fuß hoch und 12 Fuß stark, gekrönt von einer 3 Fuß starken und 8 Fuß hohen Brustwehr, waren außer der Brustwehr 6 Fuß Mauerwerk durch das Glacis nicht gedeckt, und dem direkten Feuer der Angreifer ausgesetzt. Die geringe Breite dieses Steinwalls ließ es nicht zu, irgendwo, außer in den Bastionen und den Martello-Türmen, Geschütze aufzustellen. Diese Türme flankierten die Kurtine nur sehr ungenügend, und eine gemauerte Brustwehr von drei Fuß Stärke war von Belagerungsgeschützen (Feldartillerie könnte es auch tun) leicht zusammenzuschießen, um das Feuer der Verteidigung und besonders die den Graben flankierenden Geschütze zum Schweigen zu bringen. Zwischen Wall und Graben lag eine breite Berme oder ein ebener Weg, der das Schlagen einer
erstürmbaren Bresche erleichterte, und unter diesen Umständen wurde der Graben, statt ein coupe-george1 für jede da hineingeratene Truppe zu sein, zu einem Rastplatz, um die Kolonnen neu zu formieren, die beim Vordringen auf dem Glacis in Unordnung geraten waren. Gegen einen solchen Ort nach den Regeln der Belagerung mit regulären Laufgräben vorzugehen, würde Wahnsinn gewesen sein, selbst wenn die erste \J . i 1 .. i* i ... i 17 ..r. i Voraussetzung vomanueu gewesen wäre, namiicn genügend r^raite, um den Ort von allen Seiten einzuschließen. Der Zustand der Verteidigungsanlagen, die'Desorganisation und der sinkende Mut der Verteidiger hätten jede andere Angriffsart als die angewandte zu einem absoluten Fehlgriff werden lassen. Diese Art ist Militärfachleuten unter der Bezeichnung durchdringender Angriff (attaque de vive force) gut bekannt. Die Verteidigungsanlagen, die so beschaffen sind, daß sie nur einen direkten Angriff ohne schwere Geschütze vereiteln können, werden ohne Umstände von der Artillerie erledigt; das Innere des Ortes wird während der ganzen Zeit mit Granaten belegt, und sobald die Breschen erstürmbar sind, gehen die Truppen zum Sturmangriff vor. Die angegriffene Front war die nördliche, direkt gegenüber dem englischen Lager. Diese Front besteht aus zwei Kurtinen und drei Bastionen, die einen leicht einspringenden Winkel bei der zentralen (der Kaschmir-)Bastion bilden. Die östliche Position, von der Kaschmir- bis zur Water-Bastion, ist kürzer und springt im Vergleich zur westlichen Position, zwischen der Kaschmir» und Mori-Bastion, etwas vor. Das Gelände vor der Kaschmir- und der Water-Bastion war von den Sepoys nicht eingeebnet worden, sondern mit niedrigem Dschungel, mit Gärten, Häusern etc. bedeckt und bot dem Angriff Schutz. (Dieser Umstand erklärt, wie es möglich war, daß die Engländer den Sepoys so oft bis direkt unter deren Festungsgeschütze folgen konnten, was damals als äußerst heldenhaft angesehen wurde, in Wirklichkeit jedoch mit wenig Gefahr verbunden war, solange sie diese Deckung hatten.) Außerdem verlief etwa 400 bis 500 Yard von dieser Front entfernt eine tiefe Schlucht in gleicher Richtung mit dem Wall und bildete so eine natürliche Parallele für den Angriff. Da ferner der Fluß eine ausgezeichnete Basis für den linken Flügel der Engländer darstellte, wurde der durch dieKaschmir- und die WaterBastion gebildete leichte Vorsprung sehr richtig als Hauptangriffspunkt gewählt. Auf die westliche Kurtine und die westlichen Bastionen wurde gleichzeitig ein Scheinangriff unternommen, und dieses Manöver gelang so gut, daß. die Hauptkräfte der Sepoys ihm entgegengestellt wurden. Sie zogen ein 1 eine Mördergrube


starkes Korps in den Vorstädten außerhalb des Kabul-Tores zusammen, um den rechten Flügel der Engländer zu bedrohen. Dieses Manöver wäre völlig richtig und sehr wirksam gewesen, wenn die westliche Kurtine zwischen der Mori- und der Kaschmir-Bastion am meisten gefährdet gewesen wäre. Die flankierende Stellung der Sepoys hätte sich ausgezeichnet als ein Mittel der aktiven Verteidigung geeignet, da jede Sturmkolonne durch einen Vorstoß dieses Korps sofort in die Flanke genommen worden wäre. Doch die Wirksamkeit dieser Stellung konnte nicht weiter östlich reichen als bis zur Kurtine zwischen der Kaschmir- und der Water-Bastion, und so wurden durch die Besetzung dieser Stellung die besten Kräfte der Verteidiger vom entscheidenden Punkt abgezogen. Die Wahl, der Bau und die Bestückung der Batteriestellungen sowie die Art der Bedienung verdienen höchstes/Lob. Die Engländer hatten etwa 50 Kanonen und Mörser in starken Batterien hinter ordentlichen, festen Brustwehren konzentriert. Die Sepoys hatten nach offiziellen Angaben an der angegriffenen Front 55 Kanonen, die jedoch über kleine Bastionen und Martello-Türme verstreut und zu konzentriertem Feuer unfähig waren und die durch die jämmerliche, drei Fuß starke Brustwehr kaum gedeckt wurden. Zweifellos müssen ein paar Stunden genügt haben, das Feuer der Verteidigung zum Schweigen zu bringen, und dann blieb nur noch wenig zu tun übrig. Am 8. eröffnete die Batterie Nr.l, 10 Kanonen, 700 Yard vom Wall entfernt das Feuer. In der folgenden Nacht baute man die erwähnte Schlucht zu einer Art Laufgraben aus. Am 9. wurden das unebene Gelände und die Häuser vor dieser Schlucht ohne Widerstand genommen; und am 10. nahm die Batterie Nr.2 mit 8 Kanonen das Feuer auf. Diese stand 500 bis 600 Yard vom Wall entfernt. Am 11. begann die Batterie Nr. 3, die sehr kühn und geschickt 200 Yard vor der Water-Bastion auf unebenem Gelände errichtet worden war, mit sechs Kanonen zu feuern, während zehn schwere Mörser die Stadt mit Granaten belegten. Am Abend des 13. wurde gemeldet, daß die Breschen - die eine in der an die rechte Flanke der Kaschmir-Bastion anschließenden Kurtine, die andere in der linken Face und Flanke der WaterBastion - für die Erstürmung breit genug seien, und der Angriff würde befohlen. Die Sepoys hatten am 11. einen Gegenlaufgraben auf dem Glacis zwischen den beiden bedrohten Bastionen angelegt und hoben nun in etwa -•dreihundertfünfzig Yard Entfernung vor den englischen Batterien einen Schützengraben aus. Von dieser Stellung außerhalb des Kabul-Tores gingen sie auch zu Flankenangriffen vor. Dbch diese Ansätze einer aktiven Verteidigung wurden ohne Einheit, Zusammenhalt oder Begeisterung ausgeführt und blieben ergebnislos.
Am 14. gingen fünf britische Kolonnen bei Tagesanbruch zum Angriff vor. Eine Kolonne sollte auf dem rechten Flügel die Kräfte außerhalb des Kabul-Tores beschäftigen und im Erfolgsfalle das Lahor-Tor angreifen, je eine war gegen die beiden Breschen eingesetzt, eine weitere gegen das Kaschmir-Tor, das gesprengt werden sollte, und die letzte blieb als Reserve. Mit Ausnahme der ersten waren alle diese Kolonnen erfolgreich. Die Breschen wurden nur schwach verteidigt, doch der Widerstand in den Häusern nahe des Walls war sehr hartnäckig. Durch den Heldenmut eines Offiziers und dreier Sergeanten der Genietruppen (denn hier gäbes Heldenmut) gelang es, das Kaschmir-Tor aufzusprengen, und so drang auch diese Kolonne in das Innere vor. Gegen Abend war die gesamte nördliche Front im Besitz der Engländer . Hier machte General Wilson jedoch halt. Dem Angriff aufs Geratewohl wurde Einhalt geboten, es wurden Kanonen aufgefahren und gegen alle starken Positionen in der Stadt gerichtet. Mit Ausnahme der Erstürmung des Arsenals scheint es sehr wenig wirklichen Kampf gegeben zu haben. Die Aufständischen waren entmutigt und verließen die Stadt in Scharen. Wilson rückte vorsichtig in die Stadt ein, fand nach dem 17. kaum noch irgendwelchen Widerstand und besetzte sie am 20. vollends. Unsere Meinung über die Angriffsführung haben wir schon dargelegt. Was die Verteidigung angeht, so zeigen der Versuch zu offensiven Gegenbewegungen, die Flankenstellung am Kabul-Tor, die Gegenlaufgräben und die Schützenlöcher, daß sich gewisse Vorstellungen einer wissenschaftlichen Kriegführung unter den Sepoys durchgesetzt hatten; doch waren sie entweder nicht klar oder nicht stark genug, um mit Erfolg in die Tat umgesetzt zu werden. Ob sie von Indern stammten oder von einigen Europäern, die es mit den Sepoys halten, ist natürlich schwer zu entscheiden; doch eins steht mit Sicherheit fest: Diese Versuche, wenn auch unvollkommen in der Ausführung, sind in ihrer Grundlage der aktiven Verteidigung Sewastopols sehr ähnlich; und die Ausführung erweckt den Anschein, als hätte irgendein europäischer Offizier einen genauen Plan für die Sepoys entworfen, sie jedoch waren nicht imstande gewesen, die Idee völlig zu begreifen, oder aber Desorganisation und mangelhafte Führung verwandelten brauchbare Entwürfe in schwache und kraftlose Versuche.
Geschrieben am 16. November 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Handelskrise in England]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5196 vom 15. Dezember 1857, Leitartikel] Während wir auf dieser Seite des Ozeans1 uns an unserem kleinen Präludium zu dem großen symphonischen Getöse der Bankrotte erfreuten, das inzwischen über die Welt hereingebrochen ist, spielte unser exzentrischer Zeitgenosse, die Londoner „Times", triumphale rhetorische Variationen über das Thema der „Gesundheit" des britischen Handels. Jetzt allerdings schlägt sie andere und traurigere Seiten an. In einer ihrer letzten Ausgaben, der vom 26. November, die gestern von der „Europe" an diese glücklichen Gestade gebracht wurde, erklärt jenes Blatt, daß „die Handelskreise Englands bis ins Mark ungesund seien". Indem es dann fortfährt und sich vor moralischer Entrüstung überschlägt, ruft es aus: „Das, was den größten Ruin bewirkt, ist die demoralisierende Karriere, der man acht oder zehn Prosperitätsjahre nachgejagt ist, ehe das Ende kommt. Das Gift wird eingeflößt, indem man Banden hemmungsloser Spekulanten und Wechselfälscher züchtet und sie zu Musterexemplaren erfolgreichen britischen Unternehmergeistes erhebt, so daß das Vertrauen in das langsame Reichwerden vermöge ehrlichen Fleißes erschüttert wird. Jeder so geschaffene Herd der Korruption bildet einen Kreis, der immer weitere Kreise zieht." Wir werden jetzt nicht danach fragen, ob die englischen Journalisten, die ein Jahrzehnt lang die Doktrin verbreiteten, die Ära kommerzieller Zuckungen wäre mit Einführung des Freihandels endgültig vorbei, jetzt das Recht haben, sich ganz plötzlich aus kriecherischen Lobrednern in römische Sittenrichter des modernen Gelderwerbs zu verwandeln. Folgende Aufstellungen, die vor kurzem auf Gläubigerversammlungen in Schottland vorgelegt wurden,
1 in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
dürften jedoch als nüchterner Kommentar zu der „Gesundheit" des britischen Handels dienen. John Monteith & Co., Passiva, die über die Aktiva hinausgehen ... 430 000 Pfd.St. D. &T. Macdonald 334000 „ „ Godfrey, Pattison & Co 240 000 „ „ William Smith & Co......... 104 000 „ „ T.Trehes, Robinson & Co. 75 000 „ „ Insgesamt 1 183 000 Pfd.St.
„Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich", so schreibt die „North British Mail" l2810, „daß nach eigener Aussage der Bankrotteure den Gläubigern von fünf Firmen 1 183 000 Pfd. St. verlorengegangen sind." Gerade das wiederholte Auftreten von Krisen in regelmäßigen Abständen trotz aller Warnungen der Vergangenheit schließt indessen die Vorstellung aus, ihre letzten Gründe in der Rücksichtslosigkeit einzelner zu suchen. Wenn die Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch die Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansahen. Bisher ist das Zentrum der europäischen Krise in England geblieben, und wie wir vorhersahen, hat sie in England selbst ihr Erscheinungsbild geändert. Wenn sich die erste Auswirkung unserer amerikanischen Erschütterung auf Großbritannien in einer Geldpanik äußerte, die von einer allgemeinen Depression auf dem Warenmarkt begleitet wurde und der etwas später Elend und Not in der Industrie folgten, so steht jetzt die industrielle Krise an erster Stelle und die Geldschwierigkeiten an letzter. Wenn für einen Augenblick London der Herd der Feuersbrunst war, so ist das jetzt Manchester. Die schwerwiegendste Erschütterung, der die englische Industrie je ausgesetzt war, und die einzige, die große soziale Veränderungen hervorbrachte, nämlich die industrielle Krise von 1838 bis 1843, wurde eine kurze Zeit lang 1839 von einer Einengung des Geldmarktes begleitet, während in der längeren Zeit dieser Periode der Zinsfuß niedrig stand und sogar auf 2V2 Prozent und 2 Prozent sank. Diese Bemerkung machen wir nicht deshalb, weil wir die relative Besserung des Londoner Geldmarktes als Symptomseiner endgültigen Erholung ansehen, sondern nur, um die Tatsache zu verzeichnen,
daß in einem solchen Industrielande wie England die Schwankungen des Geldmarktes bei weitem nicht die Intensität noch das Ausmaß einer Handelskrise andeuten. Man vergleiche z. B. die Zeitungen gleichen Datums aus London und Manchester. Jene, die nur das Aus- und Einströmen von Edelmetall beobachten, sind voller Heiterkeit, wenn die Bank von England durch einen neuen Goldankauf „ihre Position gestärkt" hat. Die Zeitungen von Manchester sind voller Trübsinn in dem Gefühl, daß diese Stärke auf ihre Kosten mit einer Erhöhung des Zinsfußes und einer Senkung ihrer Warenpreise erkauft worden ist. Daher hat sich sogar Herr Tooke, der Verfasser der „History of Prices", so gut er auch die Erscheinungen des Londoner Geldmarktes und der Kolonialmärkte behandelt, nicht nur als unfähig erwiesen, die Verengungen im Herzen der englischen Produktion darzustellen, sondern auch, sie zu verstehen. Was den englischen Geldmarkt anbetrifft, so zeigt seine Geschichte während der Woche, die mit dem 27. November endete, einerseits einen ständigen Wechsel von Tagen mit Bankrotten und von Tagen ohne Bankrotte, andererseits die Besserung der Lage der Bank von England und den Zusammenbruch der Northumberland and Durham District Bank. Diese Bank, die vor 21 Jahren gegründet wurde, 408 Aktionäre zählt, und über ein eingezahltes Kapital von 562 891 Pfd.St. verfügt, hatte ihre Hauptgeschäftsstelle in Newcastle und ihre Filialen in Alnwick, Berwick, Hexham, Morpeth, North und South Shields, Sunderland und Durham. Ihre Passiva werden mit drei Millionen Pfund Sterling angegeben und allein die Wochenlöhne, die durch ihre Vermittlung gezahlt wurden, auf 35 000 Pfd.St. Die erste Folge ihres Zusammenbruchs wird natürlich die Stillegung der großen Kohlengruben und Eisenhütten sein, die mit den Darlehen dieser Bank betrieben wurden. Viele Tausend Arbeiter wird man also arbeitslos machen. Die Bank von England soll ihre Edelmetallreserve um etwa 700 000 Pfd. St. vergrößert haben, wobei der Zufluß von Edelmetall teils auf die Beendigung des Abflusses nach Schottland, teils auf die Sendungen aus diesem Lande1 und aus Rußland, und schließlich auf die Ankunft von Gold aus Australien zurückzuführen ist. An dieser Entwicklung gibt es nichts Bemerkenswertes, da es völlig klar ist, daß die Bank von England durch Heraufschrauben des Zinsfußes den Import beschneiden, den Export forcieren, einen Teil des im Ausland investierten britischen Kapitals zurückziehen und folglich die Handelsbilanz umkehren und ein Einströmen einer gewissen Menge von Edelmetall bewirken wird. Nicht weniger gewiß ist, daß bei der geringsten
1 den Vereinigten Staaten von Nordamerika 22 Marx/Engels Werke, Bd. 12
Lockerung der Diskontobedingungen das Gold wieder anfangen wird, ins Ausland zu fließen. Die einzige Frage ist, wie lange die Bank imstande sein wird, diese Bedingungen aufrechtzuerhalten. Der offizielle Bericht des Handelsministeriums für den Monat Oktober, den Monat, in dem der Mindestsatz der Diskontorate nacheinander auf 6, 7 und 8 Prozent erhöht wurde, beweist augenfällig, daß die erste Auswirkung dieser Operation nicht in der Einstellung der Produktion bestanden hat, sondern darin, ihre Waren den ausländischen Märkten aufzudrängen und den Import ausländischer Waren zu kürzen. Trotz der amerikanischen Krise weist der Export vom Oktober 1857 im Vergleich zum Oktober 1856 einen Uberschuß von 318 838 Pfd. St. auf, doch zeugt der im gleichen Bericht sich widerspiegelnde beträchtliche Rückgang der Konsumtion an allen Nahrungsmitteln und Luxusgütern, daß dieser Überschuß keineswegs rentabel oder die natürliche Folge einer blühenden Industrie gewesen ist. Der Rückschlag der Krise auf die englische Industrie wird in den nächsten Berichten des Handelministeriums sichtbar werden. Ein Vergleich der Berichte für die einzelnen Monate von Januar bis Oktober 1857 zeigt, daß die englische Produktion ihren Höchststand im Mai erreichte, als der Export den von Mai 1856 um 2648904 Pfd. St. überwog. Auf die ersten Meldungen vom indischen Aufstand hin fiel die Gesamtproduktion im Juni unter den Stand des entsprechenden Monats im Jahre 1856 und zeigte einen relativen Rückgang des Exports in Höhe von 30247Pfd.St. Trotz der Schrumpfung des indischen Marktes hatte die Produktion im Juli nicht nur den Stand des entsprechenden Monats von 1856 wieder erreicht, sondern übertraf ihn sogar um eine Summe von nicht weniger als 2233 306 Pfd.St. Es ist daher klar, daß in diesem Monat die anderen Märkte über ihren normalen Verbrauch an Waren hinaus nicht nur den Exportanteil aufnehmen mußten, der gewöhnlich nach Indien ging, sondern auch einen großen Überschuß dessen, was England üblicherweise produzierte. In diesem Monat scheinen daher die Auslandsmärkte soweit übersättigt worden zu sein, daß die Exportzunahme nach und nach von etwa zweieindrittel Millionen auf 885 513 Pfd.St. im August, auf 852 203 Pfd.St. im September und auf 318 838 Pfd.St. im Oktober heruntergehen mußte. Das Studium der englischen Handelsberichte bietet den einzig zuverlässigen Schlüssel zu dem Geheimnis der gegenwärtigen Erschütterung in diesem Lande.
Geschrieben am 27. November 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Finanzkrise in Europa]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5202 vom 22. Dezember 1857, Leitartikel] Durch die Post, die gestern früh mit der „Canada" und der „Adriatic" eingetroffen ist, sind wir in den Besitz einer Wochenchronik der europäischen Finanzkrise gelangt. Diese Geschichte kann in wenigen Worten zusammengefaßt werden. Hamburg bildete immer noch das Zentrum des Krisenfiebers, das sich mehr oder weniger heftig auf Preußen auswirkte und allmählich den englischen Geldmarkt in den unsicheren Zustand zurückversetzte, von dem er sich gerade zu erholen schien. Ein ferner Widerhall des Sturmes kam von Spanien und Italien. Die Lähmung der industriellen Aktivität und das sich daraus ergebende Elend der Arbeiterklasse griff in ganz Europa schnell um sich. Andererseits gab der gewisse Widerstand, den Frankreich der Anstekkung bis jetzt entgegensetzte, jenen, die sich mit politischer Ökonomie beschäftigen, ein Rätsel auf, das schwerer zu lösen sein soll als die generelle Krise selbst. Man hatte gedacht, daß die Hamburger Krise mit dem 21. Novemberihren Höhenpunkt überschritten habe, als der Garantie-Disconto-Verein, für den man insgesamt 12 000 000 Mark Banko gezeichnet hatte, mit der Bestimmung gegründet worden war, die Zirkulation solcher Wechsel und Noten zu sichern, die den Stempel des Vereins tragen sollten. Einige Bankrotte und Ereignisse, wie der Selbstmord des Wechselmaklers Gowa, zeigten jedoch etliche Tage später neues Unheil an. Am 26. November war die Panik wieder in vollem Gange, und wie zuerst der Disconto-Verein, so trat jetzt die Regierung in Erscheinung, um ihren Lauf aufzuhalten. Am 27. machte der Senat den Vorschlag und erhielt auch von der Erbgesessenen Bürgerschaft12821 der Stadt die Zustimmung, verzinsliche Wertpapiere (Noten der Kämmerei) zu einem Betrage von 15 000 000 Mark Banko herauszugeben, um Vorschüsse
auf Waren dauerhafter Art oder auf Staatspapiere zu gewähren, wobei sich diese Vorschüsse auf 50 bis 662/3 Prozent des entsprechenden Werts der verpfändeten Waren belaufen sollen. Diese zweite Bemühung, den Handel wieder zu normalisieren, scheiterte wie die erste - beide ähnelten den vergeblichen Hilferufen, die dem Untergang eines Schiffes vorausgehen. Die Garantie des Disconto-Vereins selbst bedurfte, wie sich herausstellte, seinerseits einer neuen Garantie; überdies wurden die Vorschüsse des Staates, die in ihrer Höhe und auch in den Warengattungen, auf die sie gewährt wurden, begrenzt waren, eben gerade infolge der Bedingungen, unter denen sie gegeben wurden, relativ nutzlos, und zwar in dem Maße, wie die Preise fielen. Um die Preise zu nahen, und so die eigentliche Ursache des Unheils abzuwehren, mußte der Staat diePreise zahlen, die vor demAusbruch der Handelspanik galten, und Wechsel diskontieren, die nichts anderes mehr repräsentieren als ausländische Bankrotte. Mit anderen Worten, das Vermögen der gesamten Gesellschaft, welche die Regierung vertritt, hätte die Verluste der privaten Kapitalisten zu vergüten. Diese Art Kommunismus, wo die Gegenseitigkeit völlig einseitig ist, erscheint den europäischen Kapitalisten ziemlich anziehend. Am 29. November brachen zwanzig große Hamburger Handelsfirmen sowie zahlreiche Altonaer Geschäftshäuser zusammen; die Diskontierung der Wechsel wurde eingestellt, die Preise der Waren und Wertpapiere wurden nominell, und das Geschäftsleben geriet in eine Sackgasse. Aus der Liste der Bankrotte ist ersichtlich, daß sich fünf von ihnen bei Bankoperationen mit Schweden und Norwegen ereigneten, wobei sich die Schulden der Firma Ulberg & Gramer auf 12 000 000 Mark Banko beliefen; fünf Bankrotte gab es im Kolonialwarenhandel, vier im Ostseehandel, zwei im Industriewaren-Export, zwei bei Versicherungsgesellschaften, einen an der Börse, einen im Schiffsbau. Schweden hängt so gänzlich von Hamburg als seinem Exporteur, Wechselmakler und Bankier ab, daß die Geschichte des Hamburger Marktes auch die des Stockholmer Marktes ist. Dementsprechend verkündete ein Telegramm zwei Tage nach dem Krach, daß die Bankrotte in Hamburg zu Bankrotten in Stockholm geführt hatten und daß sich auch dort eine Unterstützung seitens der Regierung als nutzlos erwiesen hatte. Was in dieser Beziehung für Schweden gilt, gilt um so mehr für Dänemark, dessen Handelszentrum, Altona, nur ein Vorort von Hamburg ist. Am 1 .Dezember erfolgten zahlreiche Zahlungseinstellungen, darunter von zwei sehr alten Firmen, nämlich der Firma Conrad Warneke im Kolonialhandel, besonders mit Zucker, die ein Kapital von 2 000 000 Mark Banko aufwies und ausgedehnte Verbindungen zu Deutschland, Dänemark und Schweden hatte, und der Firma Lorent am Ende & Co, die mit Schweden und Norwegen Handel
führte. Ein Schiffsbesitzer und Großkaufmann verübte infolge seiner Geldschwierigkeiten Selbstmord. Das allgemeine Ausmaß des Hamburger Handels kann man aus der Tatsache ersehen, daß augenblicklich ungefähr für 500 000 000 Mark Banko Waren aller Art in Lagerhäusern und im Hafen auf Rechnung der Hamburger Kaufleute lagern. Die Republik greift nun zum einzigen Mittel gegen die Krise, indem sie ihren Bürgern die Pflicht der Schuldenzahlung erläßt. Wahrscheinlich wird ein Gesetz erlassen werden, das allen fälligen Wechseln einen Monat Aufschub gewährt. Was Preußen anbelangt, so nehmen die Zeitungen von der schweren Lage der rheinischen und westfälischen Fabrikbezirke kaum Notiz, da sie noch nicht zu zahlreichen Bankrotten geführt hat; diese sind auf die Getreideexporteure in Stettin und Danzig und auf ungefähr vierzig Fabrikanten in Berlin beschränkt geblieben. Die preußische Regierung hat sich eingemischt, indem sie die Berliner Bank ermächtigte, Vorschüsse für gelagerte Waren zu gewähren, und die Wuchergesetze aufhob. Die erste Maßnahme wird sich in Berlin als ebenso vergeblich erweisen wie in StockholmundHamburg.und die zweite bringtPreußen nur auf gleiche Ebene mit anderen Handelsländern. Der Hamburger Krach gibt jenen phantasiereichen Geistern eine beweiskräftige Antwort, die annehmen, daß die gegenwärtige Krise den durch Papierwährung künstlich erhöhten Preisen entspringt. Was den Geldumlauf betrifft, so bildet Hamburg den entgegengesetzten Pol zu diesem Lande. Dort gibt es nämlich nur Silbergeld. Es gibt dort gar keinen Papiergeldumlauf, sondern man brüstet sich damit, nur rein metallisches Geld als Zirkulationsmittel zu haben. Nichtsdestoweniger wütet dort die gegenwärtige Panik sehr stark; mehr noch, Hamburg ist seit dem Auftreten der generellen Handelskrisen, deren Entdeckung nicht so alt ist wie die der Kometen, ihr Lieblingsschauplatz gewesen. Während des letzten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts bot es zweimal das gleiche Schauspiel wie jetzt, und wenn es sich durch irgendein charakteristisches Merkmal von anderen großen Handelszentren der Welt unterscheidet, dann ist es die Häufigkeit und Heftigkeit der Schwankungen im Zinssatz. Wenden wir uns von Hamburg nach England, so stellen wir fest, daß sich die Stimmung des Londoner Geldmarkts vom 27. November ab fortlaufend verbesserte bis I.Dezember, als wieder eine Gegenströmung einsetzte. Am 28. November war der Preis des Silbers tatsächlich gefallen, aber nach dem 1 .Dezember hob er sich wieder und wird wahrscheinlich weiterhin steigen, da für Hamburg große Mengen gebraucht werden. Mit anderen Worten, von London wird wieder Gold abgezogen werden, um kontinentales Silber zu
kaufen, und dieser wiederholte Goldabfluß wird eine erneute Anziehung der Schraube seitens der Bank von England erfordern. Neben der plötzlichen Nachfrage in Hamburg steht in nicht allzuferner Zukunft die indische Anleihe bevor, zu der die Regierung notwendigerweise Zuflucht nehmen muß, <mq ni/»l> mi/>l> Kor« 11 l>ort rv>5r» Jort oWoolrl 1 n Tor» 1-»IMOIIPTIIP1 a u ociii 01C oiwii aucti uv/inuii^ii inag) uun ov.ni JL dg iiiiiauoA.uoviii^u^n* Die Tatsache, daß sich neue Bankrotte seit dem 1. dieses Monats ereignet hatten, trug dazu bei, den Irrtum zu zerstreuen, der Geldmarkt hätte das Schlimmste überwunden. Lord Overstone (der Bankier Loyd) bemerkte in der Eröffnungssitzung des Oberhauses: „Der nächste Druck auf die Bank von England wird wahrscheinlich erfolgen, bevor die Wechselkurse bereinigt sind, und dann wird die Krise größer sein als die, vor der wir jetzt ausgewichen sind. Unserem Lande drohen ernste und gefährliche Schwierigkeiten."[i33] Die Hamburger Katastrophe ist in London noch nicht fühlbar geworden. Die Verbesserung der Lage des Kreditmarktes hatte den Warenmarkt günstig beeinflußt, aber ungeachtet der eventuellen neuen Verminderung der Geldmasse ist es offenbar, daß der große Preissturz der Waren in Stettin, Danzig und Hamburg unbedingt die Londoner Preisnotierungen senken wird. Das französische Dekret, das das Ausfuhrverbot für Getreide und Mehl aufhob, zwang die Londoner Mühlenbesitzer sofort, ihre Preise pro 280 Pfund \im drei Schilling zu senken, um die Einfuhr von Mehl aus Frankreich einzudämmen. Es wurde über einige Bankrotte im Getreidehandel berichtet, sie blieben jedoch auf kleinere Firmen und Getreidespekulanten mit langfristigen Lieferungen beschränkt. Die englischen Industriebezirke bringen nichts Neues außer der Tatsache, daß die dem indischen Bedarf angepaßten Baum woll waren, wie brauner Shirting, Jaconet, Madapolam, sowie die für den gleichen Markt geeigneten Garne zum ersten Mal seit 1847 günstige Preise in Indien erzielt haben. Seit 1847 stammten die Profite, die die Fabrikanten von Manchester in diesem Handel realisierten, nicht aus dem Verkauf ihrer Waren in Ostindien, sondern nur aus dem Verkauf ihrer aus Ostindien eingeführten Waren in England. Die seit Juni 1857 erfolgte fast völlige Abdrosselung des Exports nach Indien, verursacht durch den Aufstand, gestattete dem indischen Markt, die angehäuften englischen Waren aufzubrauchen, und machte ihn sogar für neue Lieferungen zu erhöhten Preisen aufnahmefähig. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ein solches Ereignis außerordentlich belebend auf den Handel von Manchester gewirkt. Gegenwärtig hat es, wie wir aus privaten Briefen erfahren, die Preise der meist gefragten Artikel kaum erhöht, dagegen aber
eine solche Menge Anwendung suchender Produktivkraft auf die Fabrikation dieser besonderen Artikel gelenkt, daß sie ausreichen würde, drei Indien in kürzester Frist mit Waren zu überschwemmen. Die allgemeine Vermehrung der Produktivkraft in den britischen Industriebezirken während der letzten zehn Jahre ist derart gewesen, daß sogar die auf weniger als zwei Drittel ihres bisherigen Umfangs reduzierte Arbeit von den Fabrikbesitzern nur aufrechterhalten werden kann, indem sie in ihren Lagerhäusern einen großen Überschuß an Waren anhäufen. Die Firma Du Fay & Co schreibt in ihrem monatlichen Manchester Handelsbericht, daß „es in diesem Monat eine Pause im Handel gab, sehr wenig Geschäfte getätigt wurden und die Preise allgemein niedrig waren. Niemals vorher war die Gesamthöhe der monatlich getätigten Geschäfte so niedrig wie im November." Es ist vielleicht hier am Platze, auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß 1858 zum ersten Mal die Aufhebung der britischen Korngesetze einer ernsthaften Prüfung unterzogen wird. Sowohl durch den Einfluß des australischen Goldes und die industrielle Prosperität als auch durch die natürlichen Ergebnisse schlechter Ernten war der Durchschnittspreis des Weizens in der Zeit von 1847 bis 1857 höher als in der Zeit von 1826 bis 1836. Eine scharfe Konkurrenz der ausländischen Landwirtschaft und ihrer Erzeugnisse wird nun gleichzeitig mit einem Absinken der inneren Nachfrage ertragen werden müssen, und eine Agrarkrise, welche in den Annalen der britischen Geschichte von 1815 bis 1832 begraben zu sein schien, wird wahrscheinlich wieder auftreten. Eis ist wahr, daß die Erhöhung der Preise für französischen Weizen und französisches Mehl, die auf die kaiserlichen Dekrete folgte, sich nur als zeitweilig erwies und sogar verschwand, ehe ein ausgedehnter Export nach England einsetzte. Aber bei einem weiteren Druck auf den französischen Geldmarkt wird Frankreich gezwungen sein, sein Getreide und Mehl nach England zu werfen, welches gleichzeitig durch verstärkten Verkauf deutscher Erzeugnisse bestürmt wird. Dann werden im Frühjahr Schiffsladungen aus den Vereinigten Staaten kommen und dem britischen Getreidemarkt einen endgültigen Schlag versetzen. Wenn, wie die ganze Geschichte der Preise uns vermuten läßt, mehrere gute Ernten jetzt aufeinanderfolgen, werden wir die wirklichen Folgen der Aufhebung der Korngesetze bis ins Letzte erkennen, und zwar in erster Linie für die Landarbeiter, in zweiter für die Farmer und schließlich für das ganze System des britischen Grundbesitzes.
Geschrieben am 4. Dezember 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Krise in Europa]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5213 vom 5. Januar 1858, Leitartikel] Die Post der „Niagara" erreichte uns gestern, und eine sorgfältige Prüfung unserer Stöße britischer Zeitungen bestätigt nur die Ansichten, die wir kürzlich über den wahrscheinlichen Verlauf der Krise in England äußerten1. Der Londoner Geldmarkt bessert sich entschieden, d.h. Gold häuft sich in den Kellergewölben der Bank von England, die Nachfrage nach Diskontierung von Wechseln nimmt an der Bank ab, erstklassige Wechsel können in der Lombard Street[283] zu 91/2 bis 93/4 Prozent diskontiert werden, die Staatspapiere bleiben stabil, und der Aktienmarkt nimmt in gewissem Grad an dieser Bewegung teil. Dieser angenehme Aspekt der Dinge wird jedoch sehr getrübt durch große Bankrotte, die sich alle zwei oder drei Tage in London ereignen, durch tägliche Depeschen, Hiobsbotschaften über Katastrophen in der Provinz und durch den Donner der Londoner „Times", die mehr denn je gegen die allgemeine und hoffnungslose Korruption der britischen Handelskreise loswettert. Tatsächlich scheint die relative Leichtigkeit, mit der unanfechtbare Wechsel diskontiert werden, mehr als aufgewogen zu sein durch die wachsende Schwierigkeit, Wechsel zu finden, die als unanfechtbar gelten können. Demzufolge erfahren wir aus den neuesten Londoner Artikeln über Finanzfragen, daß die Aktivität in der Threadneedle Street[73J außerordentlich „begrenzt" ist und daß in der Lombard Street nur wenig Geschäfte getätigt werden. Da jedoch das Angebot seitens der Bank von England und der Diskontohäuser zunimmt, während der Druck auf dieselben, die Nachfrage seitens ihrer Kunden, abnimmt, muß man sagen, daß der Geldmarkt verhältnismäßig ruhig ist. Nichtsdestoweniger haben die Direktoren der Bank
1 Siehe vorl. Band, S. 339-343
von England noch nicht gewagt, den Diskontosatz zu senken, allem Anschein nach davon überzeugt, daß die Wiederauflebung der Geldkrise keine Frage der Zeit ist, sondern des Prozentsatzes und daß folglich die Geldkrise, sobald der Diskontosatz sinkt, sich sicherlich wieder verschärfen wird. Während der Londoner Geldmarkt also auf die eine oder andere Weise ruhiger geworden ist, verschärft sich fühlbar die gespannte Lage auf dem englischen Warenmarkt, da ein ständiges Sinken der Preise nicht imstande ist, die wachsende Zurückhaltung der Käufer zu überwinden. Sogar solche Artikel wie z.B. Talg, die vorher eine Ausnahme der allgemeinen Regel bildeten, mußten jetzt, infolge der Zwangsverkäufe, billiger werden. Wenn man die Preisliste der Woche, die am 18. Dezember endete, mit den wöchentlichen Preislisten vom November vergleicht, so sieht man, daß der äußerste Tiefpunkt der Preise, der im letztgenannten Monat bestimmend war, wieder erreicht worden ist; diesmal jedoch nicht in Gestalt einer Panik, sondern in der methodischen Form einer gleitenden Skala. Was die Fertigwarenmärkte anbetrifft, so erhielt man einen Vorgeschmack der von uns vorausgesagten industriellen Krise1 mit den Bankrotten eines halben Dutzend Spinnereien und Webereien in Lancashire, drei führender Fabriken der Wollindustrie in West Riding und einer bedeutenden Firma des Teppichgewerbes von Worcester. Da die Erscheinungen dieser doppelten Krise auf dem Warenmarkt und innerhalb der Fabrikantenkreise nach und nach spürbarer werden, begnügen, wir uns gegenwärtig damit, folgenden Auszug aus einem unserer Zeitung zugeleiteten Privatbrief aus Manchester zu zitieren: „Von dem stetigen Druck auf den Markt und seinen furchtbaren Auswirkungen können Sie sich kaum eine Vorstellung machen. Kein Mensch kann verkaufen. Jeden Tag hört man von niedrigeren Preisnotierungen. Es ist so weit gekommen, daß respektable Leute es vorziehen, ihre Waren gar nicht mehr anzubieten. Spinner und Weber werden von völliger Verzweiflung erdrückt. Kein Garnhändler verkauft an die Weber Garn, außer gegen Bargeld oder doppelte Sicherheit. Dieser Zustand der Dinge kann nicht fortdauern, ohne in einem furchtbaren Zusammenbruch zu enden."t284] Die Hamburger Krise hat kaum nachgelassen. Sie bietet das beste und klassischste Beispiel einer Geldkrise, die es je gegeben hat. Alles außer Silber und Gold ist wertlos geworden. Alte Firmen haben falliert, weil sie nicht in der Lage waren, auch nur einen einzigen fälligen Wechsel bar zu bezahlen, obwohl in ihren Pulten Wechsel auf den hundertfachen Wert liegen, die
1 Siehe vorl. Band, S. 325 und 336/337
jedoch momentan wertlos waren, nicht weil sie nicht honoriert wurden, sondern weil sie nicht diskontiert werden konnten. So erfahren wir, daß vor dem Bankrott der alten und reichen Firma Ch. M. Schröder der Bruder in London, L.H.Schröder, zwei Millionen in Silber angeboten hatte, doch lPriPf tclpoi'anliiprtp 7iii"iirl" Dr Mill lonen oder nichts. Die drei IVTiIIiGncn kamen nicht, und Ch. M. Schröder machte Bänkrott. Ein anderes Beispiel :„t j ttii . c:-, J J 1 r> ist das vuii uiucig ut v_>u, cinci 1 mim, vun uci in uci euiupaiscnen rresse viel gesprochen wird; sie hatte Verbindlichkeiten von 12000000 Mark Banko einschließlich Wechsel auf 7000000 Mark und besaß, wie es sich herausstellte, ein Kapital von nur 300000 Mark Banko als Grundlage solch enormer Transaktionen. In Schweden und besonders in Dänemark hat die Krise an Heftigkeit ziemlich zugenommen. Das Wiederaufleben des Obels, nachdem es schon vorüber zu sein schien, ist aus den Terminen zu erklären, zu denen die großen Forderungen an Hamburg, Stockholm und Kopenhagen fällig werden. Im Dezember z. B. gingen für neun Millionen fällige Wechsel, die von Kaffeefirmen aus Rio de Janeiro auf Hamburg gezogen waren, zu Protest, und diese Menge Proteste schuf eine neue Panik. Im Januar werden die Wechsel für die Zuckerfrachten aus Bahia und Pernambuco wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal erleiden und eine ähnliche Wiederbelebung der Krise verursachen. Geschrieben am 18. Dezember 1857. Aus dem Englischen.
Karl Marx Französische Krisis[2301
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5219 vom 12. Januar 1858, Leitartikel] Die durch die Bank von Frankreich sukzessiv vorgenommene Herabsetzung des Diskontosatzes, der nach dem 12. November 10 Prozent betrug, auf 9 Prozent am 26.November, 8 Prozent am 5.Dezember und 6 Prozent am 17. Dezember, wird natürlich von den kaiserlichenPresseorganen als unwiderlegbarer Beweis dafür bezeichnet, daß die kommerzielle Erschütterung im Abklingen ist, und daß „Frankreich die schwere Prüfung überstehen wird, ohne eine" Katastrophe zu erleiden". Das Finanzsystem Napoleons III. soll „diese augenscheinliche Überlegenheit der Handelslage Frankreichs gegenüber der Handelslage aller anderen Nationen" geschaffen haben und die Gewähr geben, daß Frankreich jetzt und auch zukünftig „in einer Zeit der Krise weniger betroffen sein wird als die mit ihm konkurrierenden Länder". Nun sind 6 Prozent ein Bankdiskontosatz, den es in Frankreich seit dem Beginn des jetzigen Jahrhunderts - wenn man vom Februar 1800, einige Tage nach der Gründung der Bank durch den Onkel1, absieht - bis zur kritischen Periode von 1855 und 1856 unter dem Neffen2 niemals gegeben hat. Wenn die Bank von Frankreich aber fortfährt, ihren Zinssatz zu verringern, sagen wir auf 4Prozent, was dann? Der Diskontosatz wurde am 27.Dezember 1847 auf 4 Prozent gesenkt, als die generelle Krise noch andauerte und die französische Krise noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte. Damals wie jetzt beglückwünschte die Regierung Frankreich zu seinem Privileg, bei generellen Krisen nur mit Schrammen davonzukommen, die noch dazu bloß oberflächlich wären. Zwei Monate darauf hatte das finanzielle Erdbeben den Thron und den weisen Mann3, der auf ihm saß, gestürzt.
1 Napoleon I. - 2 Napoleon III - 8 Louis-Philippe
Wir bestreiten gewiß nicht die Tatsache, daß die Krise bisher auf den französischen Handel einen geringeren Einfluß gehabt hat als erwartet. Der Grund dafür ist einfach der, daß die Handelsbilanz mit den Vereinigten Staaten, Großbritannien und den Hansestädten für Frankreich günstig ist und seit langem war, Wenn daher die in jenen Ländern auftretenden Krisen sich direkt auf Frankreich hätten auswirken sollen, dann hätte es ihnen große Kredite einräumen oder Exportwaren für sie spekulativ anhäufen müssen. Nichts dergleichen ist geschehen. Deshalb konnten die amerikanischen, englischen und hanseatischen Ereignisse kein Abfließen des Goldes aus Frankreich hervorrufen, und wenn die Bank von Frankreich einige Wochen lang den Zinssatz auf den Stand des englischen erhöhte, so tat sie das nur aus Furcht davor, das französische Kapital könnte im Ausland gewinnbringendere Anlage suchen. Es kann aber nicht geleugnet werden, daß die generelle Krise sich sogar in ihrer jetzigen Phase in Frankreich bemerkbar gemacht hat in einer den Handelsbeziehungen dieses Landes mit den Vereinigten Staaten, England und den Hansestädten angemessenen Form, nämlich in der chronischen Flaute. Sie hat Bonaparte, der in seinem Brief vom 11. November erklärte, „das Übel existiere nur in der Einbildung", dazu gezwungen, mit einer anderen offiziellen Botschaft hervorzutreten, wonach
„trotz der Vorsicht des französischen Handels und der Wachsamkeit der Regierung die Handelskrise viele Zweige der Industrie genötigt hat, wenn auch nicht die Produktion einzustellen, so doch jedenfalls die Arbeitszeit zu verkürzen oder die Löhne zu senken", so daß „viele Arbeiter unter erzwungenem Müßiggang leiden".'-28^ Deshalb hat er einen Kredit von einer Million Francs zur Unterstützung der Bedürftigen und zur Beschaffung von Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, militärische Vorsichtsmaßnahmen in Lyon angeordnet und durch seine Zeitungen an die private Wohltätigkeit appelliert. Die Abhebungen bei den Sparkassen haben begonnen, die Einlagen bei weitem zu übersteigen. Viele Fabrikanten haben schwere Verluste durch Bankrotte in Amerika und England erlitten: die Produktion verringert sich in Paris, Lyon, Mülhausen, Roubaix, Rouen, Lille, Nantes, Saint Etienne und anderen Industriezentren in erschreckendem Maße, während ernsthafte Schwierigkeiten in Marseille, Le Ha vre und Bordeaux herrschen. Die allgemeine Stagnation des Handels im ganzen Lande geht besonders klar aus dem letzten Monatsbericht der Bank von Frankreich hervor, der im Dezember gegenüber dem Oktober eine Verringerung des Geldumlaufs um 73040000 Francs und gegenüber dem November eine Verringerung um
48955900 Francs aufweist, während die Gesamtzahl der diskontierten Wechsel ungefähr um 100000000 Francs im Vergleich zum Oktober und um 77 067 059 Francs im Vergleich zum November gesunken ist. Bei dem jetzigen Zustand der französischen Presse ist es natürlich nicht möglich, den genauen Stand der Bankrotte in den Provinzstädten festzustellen, aber die Pariser Bankrotte weisen, wenn auch gewiß noch nicht bedrohlich, die Tendenz auf, nicht nur quantitativ, sondern auch, was die Qualität der betroffenen Unternehmen anbetrifft, zu wachsen. In den zwei Wochen vom 17. November bis I.Dezember gab es vierunddreißig Bankrotte in Paris, von denen nicht weniger als vierundzwanzig Altkleiderhändler, Milchhändler, Schneider, Hersteller von künstlichen Blumen, Möbeltischler, Täschner, Vergolder, Lederhändler, Juweliere, Saummacher, Hersteller von Essig, Mützenmacher, Obsthändler usw. waren. Vom 1. bis 8. Dezember gab es nicht weniger als einunddreißig Bankrotte, und vom.9. bis 15. stieg die Zahl auf vierunddreißig, darunter etliche von größerer Bedeutung wie z.B. der Bankrott des Bankhauses Bourdon, Dubuch & Co, der Allgemeinen Gesellschaft der voitures de remise1, einer Gesellschaft für Jacquard-Webstühle, einer ölgesellschaft usw. Andererseits ist Bonapartes Versuch, den verderblichen Preissturz für Weizen und Mehl durch die Widerrufung der Verbotsdekrete aufzuhalten, mißglückt, denn die Preise sind vom 26.November bis zum 21 .Dezember fortwährend gesunken, und trotz einer angemessenen Profitspanne, die bei Verkäufen in London erzielt wird, sind nicht mehr als 3000 Säcke (zu je 110 kg) bis zum 22.Dezember dorthin eingeschifft worden. Wenn die Handelsbilanz mit den Vereinigten Staaten, England und den Hansestädten für Frankreich auch günstig ist, so ist sie ungünstig in seinem Handel mit Südrußland, dem Zollverein, Holland, Belgien, der Levante und Italien. Was die Schweiz anbetrifft, so ist ihre Handelsbilanz in der Gegenwart unverändert passiv, jedoch ist Frankreich ihr gegenüber so verschuldet da die Mehrzahl der elsässischen Fabriken mit Schweizer Kapital betrieben wird -, daß die Schweiz in Zeiten der Geldknappheit immer einen starken Druck auf den französischen Geldmarkt ausüben kann. In dieser Periode, wie in jeder früheren, wird es zu keiner scharfen französischen Krise kommen, bevor nicht die Handelsschwierigkeiten in den obenerwähnten Ländern einen bestimmten Grad erreicht haben. Die Tatsache, daß Holland über den gegenwärtigen Sturm nicht hinwegkommen kann, wird aus der einfachen Erwägung verständlich, daß sein immerhin noch umfangreicher Handel fast nur auf solche Warenarten beschränkt ist, deren Preise in Verhängnisvollster Weise
1 Mietswagen
gefallen sind und noch weiterhin fallen. In den Industriezentren des Zollvereins werden schon die warnenden Symptome der Krise sichtbar. In den Triester Zeitungen werden Befürchtungen hinsichtlich eines Krachs im Schwarzmeer- und Levantehandel laut, und die ersten Blitze, die ihn ankündigen, haben genügt, um einige große Firmen in Marseille bankrott zu machen. In Italien schließlich ist die Geldpanik gerade in dem Moment hell ausgebrochen, als sie in Nordeuropa bereits abzuflauen schien, wie man folgendem Auszug aus der Mailänder „Opinione"[286] vom 18. Dezember entnehmen kann. „Die heutigen Schwierigkeiten sind sehr, sehr groß. Die Bankrotte treten in einem erschreckenden Ausmaß auf, und nach den Bankrotten der Palleari, Ballabio & Co, Cighera, Redaelli, Wechler und Mazzola, nach dem contrecoup1 der ausländischen Städte, nach der Einstellung der Zahlungen seitens der besten Häuser von Verona, Venedig, Udine und Bergamo beginnen auch unsere stärksten Firmen zu schwanken und ihre Bilanzen zu ziehen. Und diese Bilanzen sind sehr traurig. Die Bemerkung sollte genügen, daß es unter unseren großen Seidenfirmen nicht eine gibt, die weniger als 50000 Pfund Seide am Lager hat, woraus man leicht errechnen kann, daß jede von ihnen bei den jetzigen Preisen eine halbe bis zwei Millionen Francs verlieren muß, da bei einigen von ihnen der Vorrat 150 000 Pfund übersteigt. Die Firma Gebrüder Brambilla wurde durch ein Darlehen von anderthalb Millionen Francs unterstützt; Battista Gavazzi geht in Liquidation, und andere tun das gleiche. Jedermann fragt sich, was ihm wohl bevorstehe; so viele Vermögen sind verloren gegangen, und viele auf die Hälfte reduziert; so viele Familien, noch vor kurzem in guten Verhältnissen, sind vollends ruiniert; so viele Arbeiter ohne Arbeit, Brot oder irgendwelche Existenzmittel." Wenn die französische Krise infolge des wachsenden Drucks dieser Länder herangereift ist, so wird sie es mit einer Nation von Spielern, wenn nicht gar kommerziellen Abenteurern, zutun haben, und mit einer Regierung, die in Frankreich die gleiche Rolle gespielt hat wie der private Handel in unserem Lande2, in England und Hamburg. Sie wird den Aktienmarkt schwer treffen und dessen Hauptstütze gefährden - den Staat selbst. Das natürliche Ergebnis der Einschränkung des französischen Handels und der Industrie ist, der Börse Geld zur Verfügung zu stellen, besonders, da die Bank von Frankreich gezwungen ist, Vorschüsse auf Staatspapiere und Eisenbahnaktien zu geben. Statt das Börsenspiel aufzuhalten, hat die gegenwärtige Stagnation des französischen Handels und der Industrie dieses gefördert. So ersehen wir aus dem letzten Monatsbericht der Bank von Frankreich, daß ihre Vorschüsse auf Eisenbahnaktien sich gleichzeitig mit der Abnahme der Wechseldiskon
1 Gegenschlag — 2 den Vereinigten Staaten von Nordamerika
tierung und des Geldumlaufs vermehrt haben. Daher steigen bei den meisten französischen Eisenbahnen trotz großer Verringerung der Einnahmen ihre Notierungen; z.B. haben sich die Einnahmen der Orleans-Linie im Verhältnis zur entsprechenden Periode des Vorjahres gegen Ende November um 22V2 Prozent verringert; trotzdem wurden ihre Aktien am 22.Dezember mit 1355 Francs notiert, während sie am 23.Oktober nur auf 1310 Francs standen. Als die Handelsdepression in Frankreich einsetzte, waren einige Eisenbahngesellschaften sofort gezwungen, ihre Arbeiten zu unterbrechen, und fast allen übrigen drohte ein ähnliches Schicksal. Um dem abzuhelfen, zwang der Kaiser die Bank von Frankreich zu einem Vertrag mit den Gesellschaften, wodurch die Bank praktisch zu einem richtigen Eisenbahn-Kontrahenten geworden ist. Sie muß das Geld auf die neuen Schuldverschreibungen vorschießen, zu deren Emission die Gesellschaften laut der Vereinbarung vom 30. November 1856 für 1858 berechtigt sind, und auch auf die Schuldverschreibungen, die bereits 1857 emittiert werden sollten, wobei die genehmigte Emission für 1858 zweiundvierzigeinhalb Millionen beträgt. Der Credit mobilier[32] schien auch dazu bestimmt, dem ersten Schock zu unterliegen, und mußte am 3. Dezember einen Teil seines riesigen Bestandes an Wertpapieren mit enormem Verlust verkaufen. Jetzt kursiert ein Projekt, ihn mit dem Credit foncier und dem Comptoir d'escomptef2871 zu verschmelzen, damit er an dem diesen Institutionen gewährten Privileg teilhat, deren Wechsel von der Bank von Frankreich diskontiert und deren Wertpapiere von ihr angenommen werden. So dient der Plan offensichtlich dazu, den Sturm dadurch zu überstehen, daß man die Bank von Frankreich für all diese Unternehmen verantwortlich macht - ein Manöver, welches die Bank natürlich selbst dem Schiffbruch aussetzt. Aber woran sogar Napoleon III. nicht denken kann, ist, die Bank zur Zahlung der calls1 zu veranlassen, denen die privaten Aktienbesitzer der verschiedenen Aktiengesellschaften nachzukommen haben. Von kleineren Geschäften abgesehen, waren folgende calls gegen Ende Dezember fällig: Handels- und Industriegesellschaft zu Madrid (Firma Rothschild) 30 Dollar pro Aktie; Französisch-Amerikanische Schiffahrtsgesellschaft 10 Dollar pro Aktie; Viktor-Emanuel-Eisenbahngesellschaft - 30 Dollar pro Aktie; Gesellschaft der Eisenwerke von Herserange - 20 Dollar pro Aktie; die Mittelmeer-Eisenbahngesellschaft - 30 Dollar pro Aktie; die Österreichische Eisenbahn - 15 Dollar; die Saragossa-Eisenbahn - 10 Dollar; die FranzösischSchweizerische Eisenbahn - 10 Dollar; die Societe generale de Tanneries2
1 Raten auf noch nicht voll bezahlte Aktien - 2 Generalgesellschaft der Gerbereien
10 Dollar; die Compagnie de la Carbonisation de Houilles1 - 10 Dollar, etc. Zu Jahresbeginn ist eine Zahlung von 20 Dollar pro Aktie auf die ChimayMarienbourg-Eisenbahn, von 121/2 Dollar auf die Lombardisch-Venetianischen Eisenbahnen und von 20 Dollar auf die Belgischen und Südamerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaften fällig. Entsprechend der Vereinbarung vom 30. November 1856 werden allein die calls der französischen Eisenbahnen 1858 ungefähr 50000000 Dollar betragen. Es besteht gewiß eine große Gefahr, daß Frankreich an diesen schweren Verpflichtungen im Jahre 1858 ebenso scheitern wird wie England in der Zeit von 1846/47. Überdies besitzen Kapitalisten in Deutschland, in der Schweiz und in den Niederlanden große TV/T f .. • i \vt . • j ,.n. T -II I-1 . 1 mengen französischer w eripapiere, wovon uer grouie i en oeim rorrscnreiten der Krise in diesen Ländern auf den Pariser Börsenmarkt geworfen wird, um auf jeden Fall zu Geld gemacht zu werden. Geschrieben am 25. Dezember 1857. Aus dem Englischen.
1 Gesellschaft zur Verkokung von Kohle
Friedrich Engels [Die Belagerung und Erstürmung Lakhnaus]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5235 vom 30. Januar 1858, Leitartikel] Die letzte Post aus Kalkutta brachte einige Einzelheiten, die ihren Weg hierher durch die Londoner Blätter gefunden haben; aus ihnen kann man sich ein Urteil über Sir Colin Campbeils Leistung in Lakhnau bilden. Da die britische Presse behauptet, diese Waffentat rage im Glänze beispiellosen Ruhmes in der Kriegsgeschichte hervor, mag es ganz angebracht sein, diese Angelegenheit ein wenig näher zu untersuchen. Die Stadt Lakhnau liegt auf dem rechten Ufer des Gumti, der an dieser Stelle in südöstlicher Richtung fließt. Zwei bis drei Meilen von diesem Fluß entfernt verläuft nahezu parallel dazu ein Kanal, durchschneidet die Stadt und nähert sich unterhalb von ihr dem Fluß, in den er dann etwa eine Meile weiter einmündet. Die Ufer des Flusses werden nicht vdn belebten Straßen umsäumt, sondern von einer Reihe von Palästen mit Gärten und vereinzelten öffentlichen Gebäuden. Wo sich Kanal und Fluß vereinigen, jedoch am rechten oder südlichen Ufer von beiden, befinden sich dicht beieinander eine Schule, die sogenannte La Martiniere, und ein Jagdschloß mit Park, Dilkuscha genannt. Der erste Palast und Garten jenseits des Kanals, doch noch auf der Südseite des Flusses und dicht an seinem Ufer, ist der Sikandar Bagh; weiter westlich folgen Kasernen und Offiziers- und Mannschaftsmessen und dann der Moti Mahal (Perlenpalast), der nur wenige hundert Yard von der Residenz entfernt ist. Das letztgenannte Bauwerk ist auf der einzigen Erhöhung, die es in der Umgebung gibt, errichtet; es beherrscht die Stadt und besteht aus mehreren Palästen und Nebengebäuden, welche von einer ansehnlichen Schutzwehr umgeben sind. Südlich dieser Gebäudereihe liegt der dichtbesiedelte Teil der Stadt, und zwei Meilen südlich hiervon befinden sich der Park und Palast von Alam Bagh. Die natürliche Stärke der Residenz erklärt sofort, wie die Engländer in ihr gegen weit überlegene Kräfte aushalten konnten; doch gleichzeitig zeigt 23 Marx/Engels Werke, Bd. 12
gerade diese Tatsache, welcher Art Kämpfer die Audh-Leute sind. In der Tat, wenn Soldaten, die zum Teil von europäischen Offizieren ausgebildet worden und reichlich mit Artillerie versehen sind, es bisher nicht einpnal fertiggebracht haben, eine einzige elende Schutzwehr, die von Europäern verteidigt wird, zu überwinden, dann sind solche Soldaten in militärischer Hinsicht nicht mehr als Wilde, und ein Sieg über sie kann nicht viel zum Ruhm einer Armee beitragen, so groß die zahlenmäßige Überlegenheit der Eingeborenen auch sein mag. Eine weitere Tatsache, die die Audh-Leute zu den erbärmlichsten Gegnern stempelt, denen man begegnen kann, ist die Art, in der Havelock sich trotz Barrikaden, verschanzter Häuser und dergleichen den Weg durch den am dichtesten besiedelten Teil der Stadt erzwungen hat. Er hat tatsächlich hohe Verluste erlitten, aber man vergleiche dieses Unternehmen auch nur mit dem erbärmlichsten Straßenkampf von 1848! Nicht ein einziger Mann seiner schwachen Truppe hätte sich durchschlagen können, wenn es wirklich Kampf gegeben hätte. Die Häuser können überhaupt nicht verteidigt worden sein; es hätte Wochen bedurft, so viel von ihnen einzunehmen, um einen sicheren Durchmarsch zu gewährleisten. Über den Scharfsinn, den Havelock bewiesen haben soll, indem er also den Stier bei den Hörnern gepackt hat, können wir uns keine Meinung bilden; er soll dazu durch die große Notlage, in die die Residenz geraten war, gezwungen worden sein; auch andere Beweggründe werden erwähnt, jedoch ist nichts Authentisches bekannt. Als Sir Colin Campbell ankam, verfügte er über etwa 2000 europäische und 1000 Sikh-Infanteristen, 350 europäische und 600 Sikh-Kavalleristen, 18 Kanonen reitender Artillerie, 4 Belagerungsgeschütze und 300 Matrosen mit ihren schweren Schiffsgeschützen, insgesamt 5000 Mann, darunter 3000Europäer. DieseTruppe war zahlenmäßig etwa so stark, wie es so ziemlich ein guter Durchschnitt der meisten englisch-indischen Armeen war, die große Taten vollbracht haben; ja, die Feldtruppe, mit der Sind von Sir C.Napier erobert wurde, war kaum halb so stark und oft schwächer gewesen. Andererseits erhielt sie durch die starke Beimischung des europäischen Elements und den Umstand, daß der ganze Eingeborenenanteil aus der kampffähigsten Völkerschaft Indiens, den Sikhs, bestand, eine weit größere innere Kraft und Geschlossenheit, als die Gesamtheit der englisch-indischen Armeen. Wie wir gesehen haben, waren ihre Gegner erbärmlicher Art - zum größten Teil ungeübte Miliz statt ausgebildeter Soldaten. Die Bewohner von Audh gelten zwar für das kriegerischste Volk des Unteren Hindustans, doch das trifft lediglich im Vergleich zu den feigen Bengalesen zu, deren moralische Haltung durch das erschlaffendste Klima der Welt und durch jahrhundertelange Unterdrückung völlig zerrüttet ist. Die Art, in der sie sich der „filibuster haften"
LAKHNAU im Jahre 1857-1858 m* Verteidigungslinie der Aufständischen Rtoitung der vorrückenden englischen Truppen — Havelocks und Outrams im September 1857 — Campbells im November 1857 •••• Campbells im März 1858

Einverleibung ihres Landes in den Herrschaftsbereich der Ostindischen Kompanie fügten, und ihr gesamtes Verhalten während des Aufstandes stellen sie sicherlich, was Mut und Intelligenz betrifft, unter das Niveau der Sepoys. Es wird freilich berichtet, daß die Quantität die Qualität ersetzt habe. Einige Briefschreiber melden, in der Stadt hätten sich 100000 Mann befunden. Sie waren den Briten zweifellos im Verhältnis vier oder sechs zu eins überlegen, vielleicht war das Verhältnis sogar noch höher; doch bei solchen Feinden spielt das keine Rolle. Eine Stellung kann nür von einer bestimmten Zahl verteidigt werden, und wenn diese entschlossen ist davonzulaufen, macht es wenig aus, ob sich die vier- oder fünffache Zahl solcher Helden im Bereich einer halben Meile befindet. Ohne Zweifel hat es viele Beispiele persönlicher Tapferkeit gegeben, auch unter diesen Audh-Leuten. Einige von ihnen mögen wie die Löwen gekämpft haben; doch was nutzten sie in einer Stellung, zu deren Verteidigung sie zu schwach waren, nachdem das in der Garnison befindliche Gesindel davongelaufen war? Es scheint, als sei bei ihnen keinerlei Versuch unternommen worden, das Ganze unter einheitlichem Kommando zusammenzufassen; ihre örtlichen Häuptlinge besaßen nur über ihre eigenen Leute Gewalt und Wollten sich niemand anderem fügen. Sir Colin Campbell ging zuerst gegen den Alam Bagh vor; statt wie Havelock seinen Weg durch die Stadt zu erzwingen, nützte er die Erfahrung aus, die dieser General gemacht hatte, und wandte sich Dilkuscha und La Martiniere zu. Das Gelände vor diesen Schutzwehren ließ er am 13.November von den Audh-Schützen säubern. Am 15. begann der Angriff. Der Feind war so nachlässig gewesen, daß selbst zu dieser Zeit die Vorbereitungen für den Bau der Verschanzung um Dilkuscha noch nicht fertig waren; Dilkuscha wurde sofort und ohne viel Gegenwehr genommen und desgleichen La Martiniere. Diese beiden Positionen sicherten den Engländern die Kanallinie. Der Feind ging noch einmal über dieses Hindernis vor, um die beiden am Morgen verlorenen Stellungen zurückzugewinnen, wurde jedoch bald unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Am 16. überschritten die Briten den Kanal und griffen den Sikandar-Bagh-Palast an. Hier waren die Verschanzungen in etwas besserem Zustand, daher griff General Campbell die Stellung klugerweise mit Artillerie an. Nachdem die Verteidigungsanlagen zerstört waren, stürmte die Infanterie und nahm den Platz ein. Als nächstes wurde der Samuck, eine weitere befestigte Stellung, drei Stunden lang beschössen und dann, wie Sir Colin Campbell sagt, „nach einem der schwersten Kämpfe, die man jemals erlebt hat", genommen; ein geschickter Korrespondent vom Kriegsschauplatz fügt hinzu, „wenige Leute haben derart harte Kämpfe erlebt wie er": Wir würden gern wissen, wo er sie erlebt hat. Sicher nicht auf
der Krim, wo er nach der Schlacht an der Alma ein sehr ruhiges Leben in Balaklawa12881 geführt hat, denn nur eines seiner Regimenter ist in der Schlacht von Balaklawa und keines bei Inkerman11241 eingesetzt worden. Am 17. wurde die Artillerie auf die Kasernen und Offiziers- und Mannschaftsmessen gerichtet, die die nächste Stellung in Richtung auf die Residenz bildeten. Diese Kanonade dauerte bis 3 Uhr, worauf die Infanterie die Stellung im Sturm nahm. Der fliehende Feind wurde energisch verfolgt. Zwischen der vorrückenden Armee und der Residenz lag noch eine Stellung, der Moti Mahal. Vor Einbruch der Dunkelheit wurde auch diese genommen, und die Verbindung mit der Garnison war vollauf hergestellt. Campbell verdient Lob für den Scharfsinn, mit dem er die leichtere Route wählte und mit dem er seine schwere Artillerie verwendete, um die verschanzten Stellungen niederzuringen, bevor er seine Kolonnen vorschickte» Doch die Briten kämpften mit all den Vorteilen, die gut ausgebildete Soldaten, welche auf den Befehl eines Kommandeur hören, über Halbwilde besitzen, die von niemandem befehligt werden; und, wie wir sehen, machten sie von diesen Vorteilen vollen Gebrauch, Sie setzten ihre Leute nicht mehr als absolut notwendig der Gefahr aus. Sie verwendeten die Artillerie, solange es nur etwas gab, was noch zusammenzuschießen war. Zweifellos kämpften sie mit Tapferkeit; wofür sie jedoch gewürdigt werden müssen, ist ihre Umsicht. Der beste Beweis hierfür ist die Zahl der Toten und Verwundeten. Hinsichtlich der Mannschaften ist sie noch nicht veröffentlicht worden, doch an Offizieren wurden fünf getötet und zweiunddreißig verwundet. Die Armee muß bei 5000 Mann wenigstens 250 bis 300 Offiziere gehabt haben. Sicherlich scheuen sich die englischen Offiziere niemals, ihr Leben einzusetzeil. Ihren Leuten ein Beispiel der Tapferkeit zu geben, ist nur allzuoft der einzige Teil ihrer Pflicht, den sie kennen. Und wenn in einem drei Tage währenden Kampfe unter Bedingungen und in Stellungen, deren Eroberung erfahrungsgemäß mehr Menschenleben kostet, als die irgendwelcher anderer, <Jie Verr luste einen Mann auf acht oder neun betragen, dann ist es ausgeschlossen, hier von schwerem Kampf zu sprechen. Um nur aus der britischen Geschichte ein Beispiel zu nehmen: was ist schon dieser ganze Kampf in Indien, insgesamt genommen, allein im Vergleich zu der Verteidigung von Hougomont und La Haye-Sainte bei Waterloo?12891 Was würden diese Zeitungsschreiber, die jetzt jedes kleine Scharmützel in eine regelrechte Schlacht verwandeln, zu Kämpfen wie bei Borodino12901 sagen, wo die eine Armee die Hälfte und die aridere ein Drittel ihrer Kämpfer verlor? Geschrieben am 4. Januar 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx Der britische Handel
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5238 vom 3. Februar 1858] Während der kürzlichen außerordentlichen Sitzung des britischer^ Parlaments erklärte Lord Derby im Oberhaus, daß im Laufe der vergangenen drei Jahre der Wert des britischen Imports den des britischen Exports um 160000000 Pfd.St. überschritten habe. Diese Erklärung gab Anlaß zu einer Diskussion außerhalb des Parlaments, da sich einige Privatpersonen an Lord Stanley of Alderley, den Präsidenten des Board of Trade1, wandten, um Aufschluß über die Richtigkeit der Behauptung des Lord Derby zu erlangen. Der Präsident des Board of Trade antwortete in einem Brief, den er an seine Fragesteller richtete, folgendermaßen: „Die von Lord Derby im Oberhaus getroffene Feststellung, daß der Wert unseres Imports während der vergangenen drei Jahre den Wert unseres Exports um 160000000 Pfd. St. übertroffen habe, ist unrichtig und rührt daher, daß Lord Derby den Gesamtwert unseres Imports einschließlich des Imports aus den Kolonien und dem Ausland berechnet, dagegen die Wiederausfuhr von Waren, die aus den Kolonien und dem Ausland eingegangen waren, nicht berücksichtigt hat. So zeigt Lord Derbys Berechnung: Import ......... 468000000 Pfd.St. Export .... 308000000 ,, „ Differenz " 160 000000 Pfd. St.
wohingegen es heißen müßte:
Import ......... 468000000Pfd.St. Export 371000000 „ „ Differenz........ 97000000 Pfd. St."
1 Handels- und Verkehrsministeriums
Der Präsident des Board of Trade bekräftigt diese Feststellung, indem er ihr eine Vergleichstabelle über den Wert des Exports und Imports des Vereinigten Königreichs von 1855, 1856 und 1857 beifügt. Dieses hochinteressante Dokument, das nicht in den Londoner Zeitungen stand, drucken wir nachstehend ab.1 Man wird vorerst daraus ersehen, daß der ganzen Angelegenheit eine Form gegeben werden kann, die Lord Derbys Feststellung bestätigt, nämlich:
Gesamtimport 468 000 000 Pfd. Stbritischer Export 308000000 „ „ Überschuß des Imports gegenüber dem britischen Export 160 000 000 Pfd. St Wiederausfuhr von Äuslandsprodukten 63000000 „ „ Handelsbilanz zuungunsten Großbritanniens 97000000 Pfd. St, So besteht tatsächlich ein Überschuß an ausländischem Import gegenüber dem britischen Export von 160000000 Pfd.St.; und nach der Wiederausfuhr von Waren ausländischer Produktion in Höhe von 63000000 Pfd.St. bleibt eine, wie der Präsident des Board of Trade selbst feststellt, für Großbritannien ungünstige Bilanz Von 97000000 Pfd.St., d.h. für den Durchschnitt der drei Jahre 1855, 1856 und 1857 von mehr als 32000000 Pfd.St. Daher die kürzliche Klage der Londoner „Times":
„Die wirklichen von der Nation erlittenen Verluste sind während der letzten fünf oder sechs Jahre vor sich gegangen, und erst jetzt haben wir sie herausgefunden." Diese Verluste rühren jedoch nicht von dem Überschuß des Imports über den Export her, sondern von dem besonderen Charakter eines großen Teils des Exports. Tatsache ist, daß die Hälfte der Wiederausfuhr aus ausländischen Rohstoffen besteht, welche zu Fabrikaten verarbeitet werden, die dazu beitragen, die ausländische Konkurrenz gegen die industriellen Interessen Britanniens zu verstärken, und die in gewissem Umfang den Briten in Form von Fertigwaren für ihren eigenen Verbrauch zurückgeliefert werden. Ais entscheidender Punkt ist jedoch zu beachten, daß die umfangreiche Wiederausfuhr von Rohstoffen, die sich aus der Konkurrenz der Industrie auf dem Festlande ergibt, den Preis für Rohstoffe dermaßen erhöhte, daß er beinahe den dem britischen Fabrikanten verbliebenen Profit schluckte. Bei einer früheren Gelegenheit machten wir in diesem Sinne einige Feststellungen hinsichtlich der britischen Baumwollindustrie. Da die industrielle Krise gegenwärtig besonders heftig
1 Siehe vorl. Band, S. 363
in den britischen Wollverarbeitungsgebieten wütet, wo ein Bankrott dem anderen folgt, was die Londoner Presse sorgfältig der breiten Öffentlichkeit vorenthält, dürfte es angebracht sein, an dieser Stelle einige Zahlen anzuführen, die beweisen, was für eine wirksame Konkurrenz die Fabrikate des europäischen Festlandes den britischen Fabrikanten in Rohwolle machen eine Konkurrenz, die zu einer beispiellosen Preissteigerung bei diesem Rohstoff geführt hat, wodurch der Fabrikant zugrunde gerichtet und die nunmehr geplatzte Spekulation mit diesem Artikel gefördert worden ist. Folgende Aufstellung umfaßt jeweils die ersten neun Monate der vergangenen fünf Jahre:
Import
Jahre Aus dem Ausland Aus den Kolonien Insgesamt
185 3 37586199 lbs. 46277276 lbs. 83863475 Ibs. 1854 27006173 „ 50187692 » 77193 865 „ 185 5 17293842 „ 53896173 „ 71190015 „ 185 6 22377714 „ 62148467 „ 84526181 „ 1857.... 26604364 „ 63053100 „ . 90657464 „
Export
Jahre Ins Ausland In die Kolonien Insgesamt
1853......... 2480410 lbs. 5343166 lbs. 7823576 lbs. 1854......... 5993366 „ 13117102 „ 19110468 „ 1855......... 8860904 „ 12948561 „ 21809465 „ 1856 5523345 „ 14433958 » 19967303 » 1857......... 4561000 „ 25068787 „ 29629787 „
Demzufolge scheint die Menge ausländischer und kolonialer Wolle, die für den britischen Eigenverbrauch verblieben war, folgende Höhe erreicht zu haben: 1853 76039899 lbs. 1854 58083397 „ 185 5 49380550 „ 1856 64568878 „ 185 7 61027677 „
Andererseits betrug der Export der in England erzeugten Wolle:
1853........ 4755443 lbs. 1854........ 9477396 „ 1855.. 13592756,, 1856... 11539201 „ 1857.. 13492386 „
Wenn wir von der in das Vereinigte Königreich importierten ausländischen Wolle zuerst die wiederausgeführte Menge und dann die der exportierten englischen Wolle abziehen, erhalten wir folgende reale Mengen ausländischer Wolle, die für den britischen Eigenverbrauch zur Verfügung steht:
1853 71284456 lbs. 1854,.,..... 48606001 „ 1855... 35787794 „ 1856.. 53029677 „ 1857........ 47535291 „
Während also der Import kolonialer Wolle in das Vereinigte Königreich von 46277276 lbs. in den ersten neun Monaten von 1853 auf 63053100 lbs. in der gleichen Periode von 1857 und der Gesamtimport im gleichen Zeitraum von 83863475 lbs. auf 90657464 lbs, anstieg, war in der Zwischenzeit die Nachfrage auf dem europäischen Festland so gewachsen, daß die für den britischen Verbrauch verbleibende Menge ausländischer und kolonialer Wolle in den fünf Jahren von 76039899 lbs. im Jahre1853auf 61027677 lbs. im Jahre 1857 zurückging; und wenn man die Menge der exportierten einheimischen Wolle berücksichtigt, so fand von 1853 bis 1857 eine Gesamtverminderung von 71 284 456 lbs. auf 47535291 lbs. statt. Die Bedeutung dieser Feststellungen kann man noch besser ermessen, wenn man die von der Londoner „Times" in einem Finanzartikel zugegebene Tatsache beachtet, daß gleichzeitig mit dieser Vergrößerung des Wollexports aus dem Vereinigten Königreich auch der Import kontinentaler Wollfabrikate, besonders französischer, im Ansteigen begriffen war. Aus den von Lord Stanley of Alderley gelieferten Zahlen haben wir folgende Tabelle zusammengestellt, die zeigt, in welchem Grade die Handelsbilanz mit Großbritannien für verschiedene Länder günstig oder ungünstig ausfiel:
Handelsbilanz zuungunsten Englands in den Jahren 1855,1856 und 1857 1. Vereinigte Staaten .................. 28 571 764 Pfd.St. 2. China . ... 22 675 433 „ „ 3. Ostindien ......................... 19605 742 „ „ 4. Rußland . ....................... 16 642 167 „ „ 5. Preußen ............................ 12 842 488 6.Ägypten ....... 8214 941 „ „ 7. Spanien 7 146 917 „ „ 8. Britisch-Westindien 6 906 314 „ „ 9.Peru 6 282382 „ „ 10.Schweden........... 5027934 „ „ 11. Kuba und Puerto Rico 4 853 484 „ „ 12. Mauritius 1...... 4 672 090 „ „ 13. Neu-Braunschweig 3 431 303 „ „ 14. Dänemark 3 391 144 „ „ 15.Ceylo n 3 134 575 „ „ 16. Frankreich 2696291 „ „ 17. Kanada 1 808 454 „ „ 18.Norwegen ......................... 1686 962 „ „ 19. Afrika (West)..... .. 1432195 20.Portuga l ; 1 283 075 „ „ 21. Königreich beider Sizilien 1 030 139 „ „ 22.Chile 693 155 „ „ 23. Buenos Aires 107 676 „ „
Handelsbilanz zugunsten Englands in den Jahren 1855,1856 und 1857 1.Hansestädte 18 883 428Pfd.St. 2.Australien 17761 889 „ „ 3.Türkei 6947220 „ „ 4.Brasilie n 7 131 160 „ „ 5.Belgien 2214207 „ „ 6. Holland 1 600904 „ „ • 7. Kap der Guten Hoffnung 59 661 » »
Die einfache Tatsache, daß der britische Import den Export in drei Jahren um 97000000 Pfd.St. übertroffen hat, würde keineswegs das jetzt von den Briten erhobene Geschrei rechtfertigen, „daß sie ihren Handel mit einem jährlichen Verlust von 33000 000Pf d. St. führen" und daß von diesem Handel nur fremde Länder profitieren. Der gewaltige und stetig wachsende umfang des in allen Teilen der Welt investierten britischen Kapitals muß mit Zinsen, Dividenden und Profiten bezahlt werden, die aiie in großem Maße in Form von ausländischen Produkten abzutragen sind, und folglich die Liste britischer Importe anschwellen lassen. Über den dem Export entsprechenden Import hinaus muß es einen Importüberschuß geben, der nicht als Bezahlung für Waren, sondern als Kapitalrente erstattet wird. Die sogenannte Handelsbilanz muß daher, allgemein gesagt, immer zugunsten der übrigen Welt und zuungunsten Englands ausfallen, weil die übrige Welt an England jährlich nicht nur die Waren zu bezahlen hat, die sie von ihm kauft, sondern auch die Zinsen der Schulden, die sie bei ihm aufgenommen hat. Ein für England wirklich beunruhigender Faktor, der aus den vorher genannten Feststellungen hervorgeht, ist jener, daß England anscheinend nicht in der Lage ist, im Inland ein ausreichendes Betätigungsfeld für sein riesiges Kapital zu finden; daher muß es in zunehmendem Maße Geld verleihen und, in dieser Beziehung, ähnlich Holland, Venedig und Genua zur Zeit ihres Niedergangs, selbst die Waffen für seine Konkurrenten schmieden. Es ist gezwungen, durch die Gewährung großer Kredite die Spekulation in anderen Ländern zu fördern, um für sein überschüssiges Kapital ein Betätigungsfeld zu finden und muß so seinen erworbenen Wohlstand aufs Spiel setzen, um das Kapital zu vermehren und zu erhalten. Indem es gezwungen ist, anderen Industrieländern große Kredite zu geben, wie etwa dem europäischen Festland, streckt es selbst seinen industriellen Rivalen die Mittel dazu vor, mit ihm um die Rohstoffe zu konkurrieren und ist somit selbst dabei behilflich, die Rohstoffe für seine eigenen Fabrikate zu verteuern. Die kleine Profitrate, die somit für den britischen Fabrikanten übrigbleibt und die noch dadurch vermindert wird, daß ständig für ein Land, dessen bloßer Bestand von seinem Monopol als Werkstatt der Welt abhängt, die Notwendigkeit besteht, alle übrige Welt zu unterbieten - diese so verminderte Profitrate wird nun durch Kürzung der Löhne der Arbeiterklasse und rapid fortschreitende Verelendung im Inland kompensiert. Dies ist der natürliche Preis, den England für seine kommerzielle und industrielle Überlegenheit zahlt.
Eine vergleichende Aufstellung des Werts der Importe und Exporte des Vereinigten Königreichs aus und nach den wichtigsten Ländern des Auslands und den britischen Besitzungen in den Jahren 1854,1855 und 1856
Ausland
Import Geschätzter Realwert des Imports
Erklärter Geschätzter Wert der Realwert der Produkte des ausländischen Vereinigten und koloniaKönigreichs len Produkte Wert des Exports Insgesamt
Jahre in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd. St.
( 1854 4252 288 54301 19 738 74 039 Rußland. 1855 473 169 — . — — 1 1856 11 561924 1595 237 1 775 617 3370 854 r 1854 2 509539 334518 249 792 584310 Schweden ...... ... { 1855 2 825 171 545 384 279 515 824 899 [ 1856 2031 861 629 697 300 795 930 492 { 1854 1 369 440 402 290 106 244 508534 Norwegen ...... . \ 1855 1 099 642 487 400 102 551 589 951 1 1856 947 934 488 489 143080 631 569 ( 1854 2706 186 758 228 230 010 988238 Dänemark .. { 1855 3 086979 756967 260 624 1017 591 1 1856 2201831 1 033 142 352 173 1 385 315 r 1854 9055 503 798 434 1 717285 2515719 Preußen .. \ 1855 10242 862 1 100 021 2016650 3116 671 1 1856 4534815 933 715 624 908 1 558 623 ( 1854 6221 524 7 413 715 2 720 274 10133 989 Hansestädte ..] 1855 4816 298 8350 228 3 344416 11 694644 1 1856 5302 739 10)34813 3 260 543 13 395 356 ( 1854 6 731 141 4 573 034 2 320 877 6 893 911 Holland .. 11855 6 460 932 4 558210 2 611 767 7 169 977 1 1856 7433 442 5 728 253 2 434 278 8162 531 r 1854 3 631 161 1 406 932 1 948 740 3355 672 Belgien . \ 1855 2533732 1 707 693 2239 514 3 947207 1 1856 2 936 796 1 689 975 2 323 042 4013017 ( 1854 10447 774 3 175 290 3216175 6 391 465 Frankreich .. \ 1855 9 146 418 6012 658 4409 223 10 421 881 l 1856 10386 522 6 432 650 4038427 10471077
Import Weit des Exports
Geschätzter Erklärter Geschätzter Insgesamt Realwert Wert der Realwert der Insgesamt des Imports Produkte des ausländischen Vereinigten und koloniaKönigreichs len Produkte Ausland Jahre in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd. St.
{ 1854 3 594501 1 270 464 165 642 1 436 106 Spanien { 1855 4 799 728 1 158 800 135 192 1 293 992 l 1856 3645 083 1 734 483 377 820 2 112 303 Kuba und Puerto < 1854 3 369 444 1 073 861 4 727 1 078 588 Rico .. \ 1855 2332 753 1 077 745 22 933 1 100 678 V 1856 2 654 580 1 398 837 25 190 1 424 027 < 1854 2 101 126 1 370 603 148 997 1 519 600 Portugal \ 1855 1 962 044 1350 791 184580 1 535 371 1 1856 2 164 090 1 455 754 433 470 1889 224 Königreich beider 1 1854 1411457 563 033 109 258 672 291 Sizilien.. = \ 1855 1 281 940 921 220 175 221 10% 44! 1 1856 1 505 582 1 202 183 197 925 1 400 108 1854 2 219 298 L* B S\J VV^ 317 476 3 076 081 Eigentliche Türkei . 1855 2294 571 5 639 898 419119 6 059 017 i 1856 2 383 029 4 416 029 291 991 4 708 020 ( 1854 3355 928 1 253 353 113 895 1 367 248 Ägypten \ 1855 3 674 682 1 454 371 117235 1 571 606 1 1856 5 753 518 1 587682 43151 1 630 833 Vereinigte Staaten ( 1854 29 795 302 21 410 369 923 034 22 333 403 (einschließlich \ 1855 25 741 752 17 318 086 744517 18 062 603 Kalifornien) ...... 1 1856 36 047 773 21 918105 698 772 22 616 877 r 1854 2 083 589 2891 840 119 982 3 011822 Brasilien A 1855 2 273 819 3 312 728 128550 3 441 278 .1 1856 2 229 048 4084537 179 979 4264516 ( 1854 1 285 186 1 267125 32 565 1 299 690 Buenos Aires A 1855 1052 033 742442 26383 768 825 1 1856 981 193 998 329 43 892 1 042221 ( 1854 1 380 563 1 421 855 43589 1 465 444 Chile..... , \ 1855 1 925 271 1 330 385 56 688 1387073 1 1856 1 700 776 1 396446 64 492 1 460 938
Import Wert des Exports Geschätzter Erklärter Geschätzter Insgesamt Realwert Wert der Realwert der Insgesamt des Imports Produkte des ausländischen Vereinigten und koloniaKönigreichs len Produkte
Ausland Jahre in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd.St. in Pfd. St.
< 1854 3 138 527 949289 22 236 971525 Peru < 1855 3 484 288 1 285 160 60 278 1 345 438 1 1856 3 048 694 1 046 010 26 154 1072 164 China (einschließ- r 1854 9 125 040 1 000 716 26 400 1027 116 lich Hongkong).... < 1855 8 746 590 1 277 944 26 052 1 303 996 l 1856 9 421 648 2 216123 70 611 2 286 734 Westküste von Afrika (außer den r 1854 1 528 896 646 868 174073 820941 britischen und 1855 1 516 729 839 831 219 827 1 059 658 französischen Besit- 1 1856 1 657 375 666 374 223 842 890 216 zungen)
1 r 1854 118239 554 63 800 605 15 645 612 79 446217 Gesamtes Ausland .. j 1855 109 959 539 69 524 475 18 710 749 88235 224 1 l 1856 129 517 568 83 327 154 20035 442 103 362 596
Britische Besitzungen
1 r 1854 4 007 052 3957 085 180 569 4 137 654 Kanada i 1855 2 296 277 1 515823 90 298 1 606121 1 1 1856 3 779 741 2 418 250 123 591 2 541 841 1 r 1854 2 079 674 863 704 40 273 903 977 Neu-Braunschweig. i 1855 1379 041 370 560 27 718 398 278 1 1 1856 1891707 572 542 34322 606 864 Britisch- | r 1854 3 977 271 1870 674* 166 690 2037 364 Westindische Inseln \ 1855 3 978278 1 389 992 136 022 1 526014 I L 1856 4 157 098 1 462 156 180 799 1 642 955
J r 1854 1 636267 ** 31 779 31 779 Britisch-Guayana .. i 1855 1 491 934 421 398 35 189 456 587 1 L 1856 1 418264 411 241 41 248 452 489
* einschließlich Britisch-Guayana ** in Westindien miteinbegriffen
Import Wert des Exports Geschätzter Erklärter Geschätzter Insgesamt Realwert Wert der Realwert der des Imports Produkte des ausländischen Vereinigten und koloniaKönigreichs len Produkte Jahre in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd. St. in Pfd. St.
Britische Siedlungen / 1854 4 301 868 11 931 352 1 474 634 13 405 986 in Australien 4 1855 4 500 200 6 278 966 942 659 7 221 625 I 1QC£ « o Ol? 1 7HQ Ol/t 11 t^tt 3QO • i j i J O \i-tj V Sit, Jt J i un • i ö# JU / f 1854 10 672862 9 127 556 493 154 9 620 710 Britisch-Ostindien . M855 12 668 732 9 949 154 404 321 10 353 475 11856 17 262 851 10 546 190 478 328 11 024 518 / 1854 1 506 646 382 276 31 228 413 504 Ceylon A 1855 1 474 251 305 576 20 321 325 897 1 1856 1 304174 388 435 22 660 411095 r 1854 1 677 533 383 210 17 936 401146 Mauritius <1855 1 723 807 303 173 14 772 317 945 ' 1856 2 427 007 420 180 16 977 437 157 Kap der Guten Hoffnung und r 1854 69 309 985 266 britische Besitzun- \ 1855 949 640 791 313 45 437 836 750 gen in Südafrika .. 1 1856 1 502 828 1 344 338 73 127 1 417 465
britische ( 1854 34 149 499 33 384 121 2 990 754 36 374 875 Besitzungen \ 1855 33 583 311 26 163 610 2 292 466 28 456 076 insgesamt 1 1856 43 026 586 32 499 794 3 357 963 35 857 757
Ausland und briti- ( 1854 152 389 053 97 184 726 18 636 366 115 821 092 sehe Besitzungen ^ 1855 143 542 850 95 688 085 21 003 215 116 691 300 insgesamt 1 1856 172 544 154 115 826 948 23 393 405 139 220 353
Geschrieben um den 7. Januar 1858. Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Der Entsatz Lakhnaus
[„New-York Daily Tribüne" Nr.5236 vom I.Februar 18581 Endlich liegt uns die offizielle Depesche von Sir Colin Campbell über den Entsatz Lakhnaus vor. Sie bestätigt in jeder Hinsicht die Schlußfolgerungen, die wir aus den ersten inoffiziellen Berichten über dieses Unternehmen gezogen haben1. Die jämmerliche Art des Widerstandes, den die Bewohner von Audh geleistet haben, geht aus diesem Dokument noch klarer hervor, während es andererseits scheint, daß Campbell mehr auf seine Fähigkeiten als General, als auf irgendeine von ihm oder seinen Soldaten bewiesene ungewöhnliche Tapferkeit stolz ist. In der Depesche wird die Stärke der britischen Truppen mit etwa 5000 Mann angegeben, von denen ungefähr 3200 Infanteristen und 700 Kavalleristen, das übrige Artilleristen, Marinetruppen, Pioniere usw. waren. Nach den Angaben begannen die Kämpfe mit dem Angriff auf Dilkuscha. Dieses Parkgelände wurde nach kurzem Kampf genommen. „Die Verluste waren ganz unbedeutend; infolge des hastigen Rückzuges waren die Verluste des Feindes ebenfalls gering." Unter diesen Umständen gab es wahrlich keine Möglichkeit, Heldentaten zu vollbringen. Die Audh-Leute zogen sich in solcher Hast zurück, daß sie sogar das Terrain von La Martiniere hinter sich ließen, ohne sich die neue Verteidigungslinie, die dieser Stützpunkt bot, zunutze zu machen. Das erste Anzeichen eines zäheren Widerstands machte sich am Sikandar Bagh bemerkbar, einer Befestigung, die 120 Yard lang und ebenso breit, von hohen, mit Schießscharten versehenen Mauern umgeben und von einem verbarrikadierten, etwa 100 Yard entfernten Dorf, flankiert war. Dort wandte Campbell sogleich seine weniger schneidige, aber dafür vernünftigere Art der Kriegführung an. Die schwere Artillerie und die Feldgeschütze konzentrierten ihr Feuer auf die Haupt
1 Siehe vorl. Band, S. 353-358 24 Mars/Engels, Werke, Bd. 12
befestigung, während eine Brigade das verbarrikadierte Dorf angriff und eine andere alle feindlichen Gruppen zurücktrieb» die den Kampf auf offenem Felde wagten. Die Verteidigung war jämmerlich. Wollte man zwei befestigte Stellungen wie die eben beschriebenen nehmen, Stellungen, die sich gegenseitig durch Flankenfeuer decken und von mittelmäßigen Soldaten oder auch nur von herzhaften undisziplinierten Aufständischen besetzt sind, würde es v £i ,1. _i i_r L j__.iv/T__j. i_ v vi einige n ivauipi is.usi.cii, auci inci si_uciiii es wcuci iviui nucn ^.usainmenWirKen und nicht einmal eine Spur von Verstand gegeben zu haben. Wir hören von keinerlei Einsatz der Artillerie bei der Verteidigung. Das Dorf (offenbar eine kleine Häusergruppe) wurde beim ersten Ansturm genommen. Die Truppen „tf ....——1 1\/T;;L : ] :—c„ . c:i. J-_. in i uiiciicn i uue vyL4iu.cn uuue iTiuitc auscmaiiucigcjagi. uu Wal U.C1 Oltuuiucll Bagh im Handumdrehen völlig isoliert, und als nach einstündiger Kanonade die Mauern an einer Stelle nachgaben, stürmten die Schotten durch die Bresche und machten alles nieder; nach Sir Colin Campbell sollen dort 2000 tote Eingeborene gezählt worden sein. Das Schah Nadschif war die nächste Stellung - ein zur Verteidigung eingerichteter ummauerter Platz mit einer Moschee als kleine Redoute; wieder eine von solchen Stellungen, wie sie sich ein Kommandeur tapferer, wenn auch wenig disziplinierter Truppen nur wünschen könnte. Diese Stellung wurde gestürmt, nachdem eine dreistündige Kanonade die Mauern durchbrochen hatte. Am nächsten Tage, dem 17.November, wurde die Offiziersund Mannschaftsmesse angegriffen. Dies war eine Gebäudegruppe, die von einem Erdwall und einem steilen, zwölf Fuß breiten Graben umgeben war, mit anderen Worten, eine gewöhnliche Feldbefestigung mit einem unbedeutenden Graben und einer Brustwehr von problematischer Breite und Höhe. Aus diesem oder jenem Grunde erschien General Campbell diese Befestigung recht gefährlich, denn er entschied sich sofort, seiner Artillerie genügend Zeit zu lassen, sie zusammenzuschießen, bevor er sie stürmte. Demzufolge hielt die Kanonade den ganzen Vormittag bis um 3 Uhr nachmittags an, als die Infanterie vorging und die Stellung im Sturm nahm. Hier jedenfalls kein harter Kampf. Der Moti Mahal, der letzte Stii tz^unkt. der Audh-Leute auf dem Wege zur Residenz, wurde eine Stunde lang beschossen; nachdem verschiedene Breschen geschlagen worden waren, wurde er ohne Schwierigkeit eingenommen; somit war der Kampf zum Entsatz der Garnison zu Ende. Das ganze Unternehmen trägt den Charakter eines Angriffs gut disziplinierter europäischer Truppen, mit einer genügenden Anzahl von Offizieren, kriegserfahren und von durchschnittlicher Tapferkeit, gegen einen asiatischen Kriegshaufen, der weder Disziplin noch Offiziere, keine Kriegserfahrung und nicht einmal geeignete Waffen besaß und dessen Mut schon durch das
Bewußtsein der doppelten Überlegenheit gebrochen war, die seine Gegner als Soldaten über Zivilisten und als Europäer über Asiaten besaßen. Wir haben gesehen, daß Sir Colin Campbell anscheinend nirgends auf Artillerie gestoßen ist. Wir werden weiter sehen, daß der Bericht von Brigadegeneral Inglis zu dem Schluß führt, daß die große Masse der Aufständischen keine Feuerwaffen besessen haben konnte; und wenn es stimmt, daß 2000 Eingeborene im Sikandar Bagh niedergemetzelt worden sind, ist es offensichtlich, daß sie sehr kümmerlich bewaffnet gewesen sein mußten, da sonst die größten Feiglinge diese Stellung gegen eine angreifende Kolonne behauptet haben würden. Andererseits verdient die Führung des Kampfes durch General Campbell höchste Anerkennung seines taktischen Könnens. Da seine Gegner über keine Artillerie verfügten, mußte er gewußt haben, daß sein Vormarsch nicht aufzuhalten war; daher machte er von dieser Waffe vollen Gebrauch, indem er seinen Kolonnen erst den Weg frei machte, ehe er sie zum Angriff schickte. Der Angriff auf Sikandar Bagh und seine Flankenbefestigungen ist ein ganz ausgezeichnetes Beispiel, wie eine solche Aufgabe gelöst werden muß. Nachdem er einmal den jämmerlichen Charakter der Verteidigung erkannt hatte, machte er auch keine großen Umstände mit solchen Gegnern; sobald eine Bresche in der Mauer war, ging die Infanterie: vor. Alles in allem nimmt Sir Colin Campbell seit Lakhnau den Rang eines Generals ein; bis dahin war er nur als Soldat bekannt. Durch den Entsatz Lakhnaus sind wir endlich in den Besitz eines Dokuments gelangt, das die Vorgänge schildert, die sich während der Belagerung der Residenz abgespielt hatten. Brigadegeneral Inglis, der Sir Henry Lawrence im Kommando folgte, hat an den Generalgouverneur seinen Bericht erstattet; und nach General Outram und der mit ihm im unisono1 stehenden britischen Presse liege hier ein hervorragender Beweis von Heldenmut vor; in der Tat - so viel Tapferkeit, so viel Standhaftigkeit, solche Ausdauer in Mühsal und Beschwerden habe man noch niemals erlebt, und die Verteidigung Lakhnaus kenne keine Parallele in der Geschichte von Belagerungen. Der Bericht von Brigadegeneral Inglis erzählt uns, daß die Briten am 30. Juni einen Ausfall gegen die Eingeborenen unternommen hatten, die sich zu der Zeit gerade sammelten, daß sie jedoch unter so schweren Verlusten zurückgeschlagen wurden, daß sie sich von Anfang an auf die Verteidigung der Residenz beschränken und sogar eine andere Häusergruppe in der Nachbarschaft, in der sich 240 Faß Pulver und 6 000 000 Patronen für Musketen
1 Einklang
befanden, aufgeben und sprengen mußten. Der Feind schloß die Residenz sofort ein, wobei er die Gebäude in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft besetzte und befestigte, von denen einige weniger als 50 Yard von den Verteidigungsanlagen entfernt waren und die niederzulegen Sir Henry Lawrence entgegen dem Rat der Pioniere sich geweigert hatte» Die britischen Brustwehren waren zum Teil noch nicht fertig, und nur zwei Batterien waren einsatz1—J l. JA„ 3 —L„U J„„ J„„ öftfift K/T ucicii, uuui itui^ uco luiuiiuaicn uiiu aiinuiitliuüii i cuuo) uao wuv 1T1U1111 „führten", indem sie „gleichzeitig die Stellung" beschossen, vermochten es die Briten, diese Brustwehren sehr bald fertigzustellen und 30 Geschütze in Stellung zu bringen. Das furchtbare Feuer muß eine sehr wilde und ungezielte Schießerei gewesen sein, die keineswegs die Bezeichnung Scharfschießen verdient, mit der es General Inglis würdigt; wie hätte sonst auch nur ein Mann in der Stellung am Leben bleiben können, welche doch nur von vielleicht 1200 Mann verteidigt wurde? Die Beispiele, an Hand deren man die fürchterliche Wirkung dieses Feuers zu beweisen suchte, weil es Frauen und Kinder getötet und Männer an solchen Orten verwundet hatte, die man für gut gedeckt hielt, sind äußerst dürftige Beweise, da sie nur dann zutreffen, wenn das feindliche Feuer, anstatt auf bestimmte Objekte gerichtet zu sein, sich gegen die Befestigung allgemein wendet und daher nie die eigentlichen Verteidiger trifft. Am 1 .Juli wurde Lawrence tödlich verwundet, und Inglis übernahm das Kommando. Zu dieser Zeit hatte der Gegner 20 bis 25 Geschütze in Stellung, „rmgs um unseren Stützpunkt verteilt". Sehr zum Glück für die Verteidigung, denn falls die Gegner ihr Feuer auf ein oder zwei Stellen der Schutzwälle konzentriert hätten, wäre die Stellung aller Wahrscheinlichkeit nach genommen worden. Einige dieser Geschütze waren an Punkten aufgestellt, „wo unsere eigenen schweren Geschütze ihr Feuer nicht erwidern konnten". Da nun die Residenz in beherrschender Position liegt, können diese Punkte nur so gelegen haben, daß die Belagerungsgeschütze nicht den Schutzwall, sondern nur die Dächer der innenliegenden Gebäude treffen konnten; dies war für die Verteidiger sehr günstig, da dies keinen großen Schaden anrichtete, und die gleichen Geschütze zum Beschießen der Schutzwehr oder der Barrikaden weit wirksamer hätten verwendet werden können. Insgesamt muß die Bedienung der Artillerie auf beiden Seiten erbärmlich gewesen sein, denn sonst hätte eine Kanonade auf so kurze Entfernung sehr bald ein Ende finden müssen, da die Batterien sich gegenseitig außer Gefecht gesetzt hätten; und warum dies nicht geschah, bleibt immer noch ein Geheimnis. Am 20. Juli brachten die Audh-Leute eine Mine unter der Schutzwehr zur Explosion, die jedoch keinen Schaden anrichtete. Zwei starke Kolonnen
traten sofort zum Angriff an, während an anderen Stellen Scheinangriffe unternommen wurden; doch schon 'die Wirkung des Feuers der Garnison trieb sie zurück. Am 10. August ging eine weitere Mine hoch und sprengte eine Bresche,
„durch die ein Regiment in voller Ordnung hätte vorgehen können. Eine Kolonne stürmte auf diese Bresche, wobei sie durch Angriffe an den Flanken unterstützt wurde, doch an der Bresche selbst gingen nur wenige Feinde mit äußerster Entschlossenheit vor." Diese wenigen wurden schnell durch das Flankenfeuer der Garnison vernichtet, während bei den Flankenangriffen Handgranaten und einige Schüsse die disziplinlosen Massen zurücktrieben. Die dritte Mine wurde am 18. August gesprengt; eine neue Bresche war entstanden, doch der Angriff war noch kraftloser als zuvor und wurde leicht zurückgeschlagen. Die letzte Sprengung und der letzte Angriff fanden am 5. September statt, doch wiederum trieben Handgranaten und Gewehrfeuer sie zurück. Von da an bis zum Eintreffen des Entsatzes scheint sich die Belagerung in eine bloße Blockade mit mehr oder weniger regelmäßigem Gewehr- und Artilleriefeuer verwandelt zu haben. Dies ist in der Tat ein ungewöhnliches Unternehmen. Eine Menge von 50 000 oder mehr Menschen, zusammengesetzt aus den Einwohnern Lakhnaus und seiner Umgebung, darunter vielleicht 5000 oder 6000 ausgebildeten Soldaten, blockiert eine Truppe von etwa 1200 bis 1500 Europäern in der Residenz von Lakhnau und sucht sie zu vernichten. So wenig Ordnung herrschte unter der Belagerungstruppe, daß der Nachschub der Garnison mit Ausnahme ihrer Verbindungslinien mit Khanpur anscheinend nie ganz abgeschnitten war. Die Vorgänge, die sich unter dem Namen „Belagerung" abspielten, zeichnen sich durch eine Mischung von asiatischer Unwissenheit und Wildheit aus, mit hier und da einem Schimmer gewisser militärischer Kenntnisse, die durch das Beispiel und die Herrschaft der Europäer eingeführt worden waren. Offensichtlich gab es unter den Audh-Leuten einige Artilleristen und Sappeure, die wußten, wie man Batterien anlegt; doch ihr Einsatz scheint auf den Bau von Deckungen gegen das feindliche Feuer beschränkt gewesen zu sein. Sie scheinen diese Kunst, sich zu schützen, sogar zu großer Vollendung gebracht zu haben, und zwar so sehr, daß ihre Batterien nicht nur für die Kanoniere, sondern auch für die Belagerten sehr sicher gewesen sein müssen; bei solch einer Deckung konnte kein Geschütz mit einigermaßen Erfolg eingesetzt worden sein; dies war auch nicht der Fall. Wie ist sonst die unerhörte Tatsache zu erklären, daß 30 Geschütze von
innen und 25 von außen sich gegenseitig aus äußerst kurzer Distanz beschossen haben, einige nicht mehr als 50 Yard voneinander entfernt, wir aber trotzdem nichts von vernichteten Geschützen hören, oder davon, daß die eine Seite die Artillerie der anderen zum Schweigen gebracht hätte? Was das Gewehrfeuer anbetrifft, müssen wir uns zunächst fragen, wie es möglich war, daß achttausend Eingeborene in Gewehr Schußweite von den britischen Batterien Stellung beziehen konnten, ohne von der Artillerie verjagt zu werden? Und wenn sie diese Stellung bezogen haben, wie war es möglich, daß sie nicht alles auf der Stelle getötet oder verwundet haben? Dennoch wird uns berichtet, daß die Eingeborenen standgehalten und sowohl am Tage als auch nachts geschossen haben, daß aber trotz alledem das 32. Regiment, das nach dem 30. Juni allerhöchstens 500 Mann zählen konnte und die Hauptlast der ganzen Belagerung zu ertragen hatte, bei ihrer Beendigung noch 300 Mann stark war? Wenn dies nicht ein genaues Gegenstück zu den „letzten zehn Überlebenden des vierten (polnischen) Regiments" ist[291], das in Stärke von 88 Offizieren und 1815 Soldaten in Preußen einmarschiert war, was ist es dann? Die Briten haben vollkommen recht, daß es solch einen Kampf wie bei Lakhnau noch nicht gegeben habe - nein, ganz gewiß nicht. Trotz des bescheidenen, scheinbar einfachen Tons, in dem der Bericht von Inglis gehalten ist, zwingen uns seine seltsamen Bemerkungen über Geschütze, die so aufgestellt waren, daß sie nicht beschossen werden konnten, über 8000 Mann, die erfolglos Tag und Nacht geschossen und über 50 000 Aufständische, die ihn blockiert hatten, über eine Plage von Kugeln, die solche Stellen trafen, wo sie nichts zu suchen hatten, und über Angriffe, die mit äußerster Entschlossenheit vorgetragen, jedoch ohne irgendeine Anstrengung abgewehrt wurden, zu der Feststellung, daß dieser ganze Bericht von haarsträubenden Übertreibungen strotzt und einer nüchternen Kritik keinen Augenblick standhalten kann. Doch gewiß hatten die Belagerten außerordentliche Leiden zu erdulden? Man höre:
„Der Mangel an eingeborenen Dienstboten ist ebenfalls eine Ursache großer Entbehrungen gewesen. Mehrere Damen sahen sich genötigt, ihre Kinder zu hüten, ja, sie mußten sogar ihre eigenen Kleider waschen und ihre dürftigen Mahlzeiten ohne jegliche Hilfe zubereiten." Erbarmen über die Leiden einer bedauernswerten Lakhnauer Dame! Wahrhaftig, in diesen Zeiten des Aufstiegs und Niedergangs, da Dynastien an einem Tage errichtet und gestürzt werden, da Revolutionen und kommerzielle Zusammenbrüche sich vereinen, um die Beständigkeit allen mensch
liehen Glücks aufs glänzendste ins Wanken zu bringen, wird man von uns kein großes Mitgefühl erwarten, wenn wir hören, daß irgendeine Exkönigin ihre Strümpfe selbst stopfen und sogar waschen muß, ganz davon zu schweigen, daß sie ihr Hammelkotelett selbst zu braten hat. Aber eine englischindische Dame, eine jener zahllosen Schwestern, Kusinen oder Nichten von auf Halbsold stehenden Offizieren, Schreibern bei der indischen Regierung, Kaufleuten, Büroangestellten oder Abenteurern, eine dieser Damen, die Jahr für Jahr direkt vom Pensionat auf den großen Heiratsmarkt in Indien geschickt werden oder richtiger vor dem Aufstand geschickt worden sind, keine von ihnen mit mehr oder weniger Zeremoniell und oft weit weniger willig als die schönen Tscherkessinnen, die auf den Markt in Konstantinopel gehen - allein die Vorstellung, daß eine dieser Damen ihre Kleider selbst waschen und ihre dürftigen Mahlzeiten ohne jegliche Hilfe zubereiten muß, ohne jegliche Hilfe! Das Blut gerät einem dabei in Wallung! Völlig ohne „eingeborene Dienstboten" - ja, sogar gezwungen, die eigenen Kinder zu hüten! Es ist empörend, Khanpur wäre vorzuziehen gewesen!1 Der Haufen, der die Residenz einschloß, mag 50 000 Mann gezählt haben; doch dann kann die überwiegende Mehrheit keine Feuerwaffen gehabt haben. Die 8000 „Scharfschützen" mögen welche besessen haben, doch welcherart Waffen und Männer das waren, kann man aus der Wirkung ihres Feuers ermessen. Die fünfundzwanzig Geschütze in der Batterie sind erwiesenermaßen höchst erbärmlich bedient worden. Das Minieren geschah genauso blindlings wie das Schießen. Die Angriffe verdienen nicht einmal die Bezeichnung Rekognoszierung. Soweit die Belagerer. Die Belagerten verdienen volle Anerkennung für die große Charakterfestigkeit, mit der sie nahezu fünf Monate ausgeharrt haben, während welcher Zeit sie zum größten Teil ohne jede Nachricht von den britischen Truppen waren. Sie kämpften und hofften trotz alledem, wie es Männern geziemt, wenn sie ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen und Frauen und Kinder gegen asiatische Grausamkeit verteidigen müssen. Noch einmal, wir zollen ihnen unsere volle Anerkennung für ihre Wachsamkeit und Standhaftigkeit. Doch wer hätte nicht dasselbe getan nach den Erfahrungen der Übergabe von Khanpur durch Wheeler? Was den Versuch anbetrifft, die Verteidigung Lakhnaus als eine Tat beispiellosen Heldentums darzustellen, so ist das lächerlich, besonders nach dem plumpen Bericht von General Inglis. Die Entbehrungen der Garnison beschränkten sich auf dürftige Deckung und darauf, daß man dem Wetter aus
1 Siehe vorl. Band, S. 279
gesetzt war (was jedoch keine ernstlichen Krankheiten hervorrief); und was den Proviant betrifft, bestand der schlechteste, den sie hatten, aus „schlechtem Rindfleisch und noch schlechterem Mehl", ein weitaus angenehmerer Speisezettel, als belagerte Soldaten in Europa gewohnt sind! Man vergleiche die Verteidigung Lakhnaus gegen einen stumpfen und unwissenden Haufen Barbaren mit der Antwerpens 1831 und des Forts Malghera bei Venedig 1848 und 1849izvz], ganz zu schweigen von Todtieben bei Sewastopol, der mit weit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als General Inglis. Malghera wurde von den besten Pionieren und Artilleristen Österreichs angegriffen und von einer schwachen, aus ungeübten Rekruten bestehenden Garnison verteidigt; vier Fünftel von ihnen hatten keine bombensicheren Unterstände; in der Niederung trat die Malaria auf, die noch schlimmer war, als das indische Klima; etwa hundert Geschütze hielten die Belagerten unter Beschuß, und während der letzten drei Tage des Bombardements wurden in jeder Minute vierzig Schuß abgefeuert; und doch hielt das Fort einen Monat lang aus und hätte noch länger ausgehalten, wenn die Österreicher nicht eine Stellung erobert hätten, die den Rückzug unumgänglich machte. Oder nehmen wir Danzig, wo Rapp mit den kranken Überlebenden der aus Rußland zurückgekehrten Regimenter elf Monate lang ausgehalten hat.[293] Man nehme tatsächlich jede beliebige bedeutende Belagerung in der neueren Zeit, und wir werden sehen, daß die Belagerten mehr Geschick, mehr Geist und genausoviel Kühnheit und Ausdauer gegen eine ebenso große Übermacht wie bei dieser Lakhnau-Episode bewiesen haben. Obwohl die Aufständischen aus Audh im offenen Feld erbärmlich waren, bewiesen sie dennoch unmittelbar nach dem Eintreffen Campbells die Macht einer nationalen Erhebung. Campbell sah sofort, daß er mit seinen Truppen weder die Stadt Lakhnau angreifen noch sich behaupten konnte. Das ist ganz natürlich und wird auch jedem so erscheinen, der aufmerksam die französische Invasion in Spanien unter Napoleon studiert hat. Die Stärke einer nationalen Erhebung liegt nicht in regelrechten Schlachten, sondern im Kleinkrieg, in der Verteidigung von Städten und in der Unterbrechung der feindlichen Verbindungslinien. Dementsprechend traf Campbell die Vorbereitung für den Rückzug mit demselben Geschick, mit dem er den Angriff angeordnet hatte. Noch einige Stellungen um die Residenz wurden genommen. Sie dienten dazu, den Feind über Campbells Absichten zu täuschen und die Vorbereitungen zum Rückzug zu decken. Mit einem Wagemut, der einem solchen Feind gegenüber völlig gerechtfertigt ist, wurde die ganze Armee mit Ausnahme einer kleinen Reserve zur Bildung einer ausgedehnten Linie von Vorposten und Feldwachen eingesetzt, hinter der die Frauen, die
Kranken und Verwundeten und das Gepäck evakuiert wurden. Sobald diese einleitende Operation durchgeführt war, zogen sich die vorgeschobenen Posten zurück, wobei sie sich allmählich zu stärkeren Verbänden konzentrierten, von denen die vordersten jeweils hinter die nächste Linie zurückgingen, um wieder als Reserve für die Nachhut zu dienen. Ohne angegriffen zu werden, wurde das ganze Manöver in voller Ordnung durchgeführt; mit Ausnahme von Outram und einer kleinen Garnison, die im Alam Bagh zurückgelassen worden war (wir wissen im Augenblick nicht, zu welchem Zweck), marschierte die ganze Armee nach Khanpur und räumte somit das Königreich Audh. Mittlerweile hatten sich in Khanpur unangenehme Ereignisse zugetragen. Windham, der „Held vom Redan"[294], ein weiterer von jenen Offizieren, von denen uns erzählt wird, sie hätten ihr Können durch große Tapferkeit bewiesen, besiegte am 26. die Vorhut des Gwalior-Kontingents, wurde aber am 27. selbst von ihm schwer geschlagen; sein Lager wurde genommen und in Brand gesteckt, und er war gezwungen, sich in Wheelers alte Verschanzung bei Khanpur zurückzuziehen. Am 28. griffen die Aufständischen diese Stellung an, wurden aber zurückgeschlagen, und am 6. besiegte sie Campbell fast ohne eigene Verluste, nahm ihnen alle Geschütze und den ganzen Troß ab und verfolgte sie noch vierzehn Meilen. Es sind bisher nur wenige Einzelheiten über diese Ereignisse bekannt, doch so viel ist sicher, daß die indische Rebellion noch weit davon entfernt ist, unterdrückt worden zu sein, und daß, obwohl die meisten oder alle britischen Verstärkungen inzwischen gelandet sind, sie doch auf fast unbegreifliche Weise verschwinden. Etwa 20 000 Mann sind in Bengalen gelandet, und noch immer ist die aktive Armee nicht größer als zur Zeit der Einnahme Delhis. Irgend etwas stimmt hier nicht. Das Klima muß furchtbare Verheerungen unter den Neuankömmlingen anrichten.
Geschrieben am 14. Januar 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx Die bevorstehende Indienanleihe
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5243 vom 9. Februar 1858] London, 22. Januar 1858 Die steigende Tendenz auf dem Londoner Geldmarkt, die durch den Abzug einer enormen Masse von Kapital aus der gewöhnlichen produktiven Anlagensphäre und dessen folgerichtige Uberführung auf den Wertpapiermarkt bedingt ist, hat in den letzten vierzehn Tagen wegen der Aussichten auf eine unmittelbar bevorstehende Indienanleihe in Höhe von acht bis zehn Millionen Pfund Sterling etwas nachgelassen. Diese Anleihe, die in England aufgenommen und vom Parlament unverzüglich bei seinem Zusammentritt im Februar bestätigt werden soll, wird gebraucht, um sowohl die Ansprüche der englischen Gläubiger an die Ostindische Kompanie als auch die Sonderausgaben für Kriegsmaterial, Proviant, Truppentransporte usw. zu decken, die durch den indischen Aufstand notwendig geworden waren. Im August 1857, vor der Vertagung des Parlaments, hatte die britische Regierung feierlich im Unterhaus erklärt, daß keine derartige Anleihe beabsichtigt sei, da die finanziellen Mittel der Kompanie völlig ausreichend wären, um der Krise zu begegnen. Die angenehme Illusion, in der man auf diese Weise John Bull befangen hielt, verflog jedoch bald, als herauskam, daß sich die Ostindische Kompanie durch ein Verfahren höchst fragwürdiger Art eine Summe von 3 500 000 Pfd. St. angeeignet hatte, die ihr von verschiedenen Firmen für den Bau von Eisenbahnen "in Indien anvertraut worden war, und daß sie sich darüber hinaus insgeheim 1 000 000 Pfd. St. von der Bank von England und eine weitere Million von den Londoner Aktienbanken geliehen hatte. Nachdem die Öffentlichkeit so auf das Schlimmste vorbereitet war, zögerte die Regierung nicht länger, die Maske fallenzulassen und in halbamtlichen Artikeln in der „Times", im „Globe" und in anderen Regierungsorganen die Notwendigkeit einer Anleihe einzugestehen.
Man könnte sich fragen, warum ein besonderes Gesetz seitens der legislativen Gewalt notwendig ist, um solch eine Anleihe auszuschreiben, und weiterhin, warum so ein Ereignis überhaupt Besorgnis hervorrufen kann, da ja im Gegenteil jede Ausweichmöglichkeit für britisches Kapital, das jetzt vergebens nach profitabler Anlage sucht, unter den gegebenen Umständen als unerwarteter Glücksfall und als höchst begrüßenswertes Mittel gegen die schnelle Entwertung des Kapitals betrachtet werden müßte. Es ist allgemein bekannt, daß die Handelstätigkeit der Ostindischen Kompanie 1834 beendet war, als die ihr noch verbliebene Hauptquelle kommerzieller Profite, das Handelsmonopol mit China genommen wurde .[2951 Da die Besitzer von Ostindienaktien ihre Dividenden, zumindest nominell, aus den Handelsprofiten der Kompanie gezogen hatten, war hinsichtlich dieser Dividenden eine finanzielle Neuregelung notwendig geworden. Die Zahlung der Dividenden, die man bis zu dieser Zeit aus den kommerziellen Einkünften der Kompanie bestritten hatte, mußte nunmehr auf Kosten ihrer politischen Einkünfte erfolgen. Die Besitzer von Ostindienaktien sollten ihre Dividenden künftig aus jenen Einkünften ausgezahlt bekommen, deren sich die Ostindische Kompanie kraft ihrer Regierungsbefugnisse erfreute; und durch Gesetz des Parlaments wurde das Kapital der Kompanie, das sich auf 6 000 000Pfd. St. belief und zehn Prozent Zinsen trug, in ein Kapital umgewandelt, das nur zum Preis von 200Pfd. St. für je 100Pfd. St. Aktien liquidiert werden kann. Mit anderen Worten, das ursprünglich 6 000 000 Pfd. St. betragende Kapital der Ostindischen Kompanie wurde in ein Kapital von 12 000 000 Pfd. St. umgewandelt, das fünf Prozent Zinsen trägt und jene Einkünfte belastet, die aus den Steuern des indischen Volkes herrühren. Die Schuld der Ostindischen Kompanie wurde somit durch einen parlamentarischen Taschenspielertrick in eine Schuld des indischen Volkes verwandelt. Nebenbei gibt es noch eine Schuld von mehr als 50 000 000 Pfd. St., die von der Ostindischen Kompanie in Indien aufgenommen wurde und ausschließlich die Staatseinkünfte jenes Landes belastet; solche von der Kompanie in Indien selbst aufgenommene Anleihen sind stets als außerhalb des Bereichs der parlamentarischen Gesetzgebung liegend betrachtet worden und haben diese sowenig betroffen wie die Schulden, welche z. B. die Kolonialregierungen Kanadas oder Australiens eingegangen sind. Andererseits war es der Ostindischen Kompanie ohne die ausdrückliche Genehmigung des Parlaments untersagt, zinspflichtige Schulden in Großbritannien selbst aufzunehmen. Als die Kompanie vor einigen Jahren begann, Eisenbahnen und elektrische Telegraphenlinien in Indien anzulegen, bemühte sie sich um die Zulassung indischer Obligationen auf dem Londoner
Markt; diesem Gesuch wurde bis zu einer Höhe von 7 000 000 Pfd. St. stattgegeben; die Obligationen sollten 4 Prozent Zinsen tragen und nur aus den indischen Staatseinkünften gedeckt werden. Zu Beginn des Aufruhrs in Indien belief sich diese Schuld auf 3 894 400 Pfd. St., und eben die Notwendigkeit? sich erneut an das Parlament zu wenden, zeigt, daß die Ostindische Kompanie während des indischen Aufstandes ihre gesetzlichen Möglichkeiten, im Mutterland Geld aufzunehmen, erschöpft hat. Nun ist es kein Geheimnis, daß die Ostindische Kompanie, bevor sie sich zu diesem Schritt entschloß, in Kalkutta eine Anleihe ausgeschrieben hatte, die sich jedoch als völliger Fehlschlag erwies. Das beweist einmal, daß die indischen Kapitalisten weit davon entfernt sind, die Zukunftsaussichten der britischen Herrschaft in Indien mit der gleichen Zuversicht zu betrachten, wie es die Londoner Presse tut; und zum anderen erbittert es die Empfindungen John Bulls ungemein, seitdem er weiß; welche gewaltige Kapitalhortung in den letzten sieben Jahren in Indien vor sich gegangen ist, wohin nach einem kürzlich von der Firma Haggard &Pixley veröffentlichten Bericht allein aus dem Londoner Hafen 1856und 1857Edelmetall in Höhe von 21000000 Pfd.St. verschifft worden ist. Die Londoner „Times" hat ihre Leser in höchst überzeugender Weise davon unterrichtet, daß
„von allen Mitteln, die Eingeborenen zur Loyalität anzuspornen, jenes am wenigsten bedenklich war, sie zu unseren Gläubigem zu machen; während andererseits bei einem reizbaren, verschwiegenen und habsüchtigen Volk kein Anlaß zu Unzufriedenheit oder Verrat stärker sein konnte als die Vorstellung, daß es Jahr für Jahr Steuern zahlen müsse, um reichen Gläubigern in anderen Ländern Dividenden zu liefern". Die Inder jedoch scheinen die Schönheit eines Plans nicht zu erfassen, der auf Kosten des indischen Kapitals die englische Herrschaft nicht nur wiederherstellen, sondern gleichzeitig auf einem Umweg die Geldtruhen der Eingeborenen dem britischen Handel öffnen würde. Wenn tatsächlich den indischen Kapitalisten die britische Herrschaft so angenehm wäre, wie jeder wahre Engländer hoch und heilig versichert, hätte ihnen keine bessere Gelegenheit geboten werden können, ihre Loyalität zu zeigen und ihr Silber loszuwerden. Da die indischen Kapitalisten ihre Truhen verschließen, muß John Bull sein Herz erschließen, und zwar der bitteren Wahrheit, daß er, zumindest in der ersten Zeit, die Kosten der indischen Erhebung selbst zu tragen hat, ohne irgendwelche Unterstützung seitens der Eingeborenen. Außerdem schafft die bevorstehende Anleihe erst einen Präzedenzfall, sie sieht aus wie das erste Blatt in einem Buch, das den Titel trägt: „Die englischindischen inneren Schulden." Es ist kein Geheimnis, daß die Ostindische
Kompanie nicht acht Millionen oder zehn Millionen, sondern fünfundzwanzig bis dreißig Millionen Pfund Sterling braucht, und auch diese nur als erste Rate, nicht für künftige Ausgaben, sondern für bereits fällige Schulden. Das Defizit in den Einkünften der letzten drei Jahre belief sich auf 5 000 000Pfd. St.; das von den Aufständischen bis zum 15.0ktober vorigen Jahres geraubte Schatzgeld betrug nach Angaben des „Phoenix"[296], eines indischen Regierungsblattes, 10 000 000 Pfd. St.; die Einbuße an Einkünften infolge des Aufstandes betrug in den Nordostprovinzen 5 000 000 Pfd. St., und die Kriegsausgaben betrugen mindestens 10 000 000 Pfd. St. Zwar würden aufeinanderfolgende Anleihen der Ostindischen Kompanie auf dem Londoner Geldmarkt den Wert des Geldes heben und die steigende Entwertung von Kapital, d. h. das weitere Sinken des Zinsfußes verhindern; doch dieses Sinken ist gerade für das Wiederaufleben der britischen Industrie und des britischen Handels erforderlich. Jeder künstliche Hemmschuh, der das Sinken der Diskontorate verhindern soll, ist gleichbedeutend mit einer Erhöhung der Produktionskosten und der Kreditsätze, die zu tragen die englische Industrie und der englische Handel bei ihrem derzeitigen schwachen Zustand sich nicht in der Lage fühlen. Daher der allgemeine Notschrei bei der Ankündigung der indischen Anleihe. Obwohl die Sanktion durch das Parlament der Anleihe der Kompanie keine Reichsgarantie verleiht, muß auch diese Garantie gewährt werden, wenn zu anderen Bedingungen kein Geld zu bekommen ist; und trotz aller feinen Unterschiede wird die Schuld der Ostindischen Kompanie, sobald ihre Stelle von der britischen Regierung eingenommen wird, sich mit der britischen Schuld verschmelzen. Eine weitere Erhöhung der großen nationalen Schuld scheint deshalb eine der ersten finanziellen Folgen des indischen Aufstandes zu sein.
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Niederlage Windhams12301
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5253 vom 20. Februar 1858, Leitartikel] Als zur Zeit des Krimkrieges ganz England nach einem Mann rief, der fähig wäre, seine Armeen zu organisieren und zu führen, und während unfähige Leute wie Raglan, Simpson und Codrington mit diesem Amt betraut waren, gab es einen Soldaten auf der Krim, der die Eigenschaften besaß, die von einem General verlangt werden. Wir meinen Sir Colin Campbell, der jetzt in Indien täglich beweist, daß er ein Meister seines Faches ist. Nachdem er auf der Krim seine Brigade in der Schlacht an der Alma führen durfte, wo er wegen der starren Lineartaktik der britischen Armee keine Gelegenheit hatte- seine Fähigkeiten zu beweisen, wurde er in Balaklawa festgesetzt und durfte kein einziges Mal mehr an den folgenden Operationen teilnehmen.12883 Und doch waren seine militärischen Fähigkeiten lange zuvor in Indien klar erkannt worden, und zwar von keiner geringeren Autorität als dem größten General, den England seit Marlborough hervorgebracht hat, nämlich von Sir Charles James Napier. Doch Napier war ein eigenwilliger Mann, zu stolz, sich der herrschenden Oligarchie zu beugen - und seine Empfehlung genügte, daß Campbell gezeichnet war und mit Mißtrauen beobachtet wurde. Andere Leute jedoch erwarben Auszeichnungen und Ehrungen in jenem Krieg. Da war Sir William Fenwick Williams von Kars, der es jetzt für angemessen hält, auf seinen Lorbeeren auszuruhen, die er durch Unverschämtheit und Eigenlob erntete sowie dadurch, daß er General Kmety um seinen wohlverdienten Ruhm brachte. Der Titel eines Barons, tausend Pfund im Jahr, ein bequemes Amt in Woolwich und ein Sitz im Parlament sind völlig ausreichend, um zu verhindern, daß er seinen guten Ruf in Indien aufs Spiel setzt. Im Unterschied zu ihm hat sich General Windham, „der Held vom Redan"1294', aufgemacht, um eine Division gegen die Sepoys zu führen, und
schon seine erste Tat hat ihn für immer erledigt. Dieser selbe Windham kommandierte seinerzeit als unbekannter Oberst aus einflußreicher Familie eine Brigade bei der Erstürmung des Redan, wobei er sich äußerst phlegmatisch verhielt und schließlich, als keine Verstärkungen eintrafen, seine Truppen zweimal ihrem Schicksal überließ, während er sich persönlich nach dem Verbleib der Verstärkungen erkundigte. Für diese höchst fragwürdige Tat, mit der sich in anderen Armeen ein Kriegsgericht befaßt hätte, wurde er umgehend zum General befördert und auf den Posten des Stabschefs berufen. Als Colin Campbell auf Lakhnau vorrückte, übergab er die alten Stellungen, das Lager und die Stadt Khanpur mitsamt der Brücke über den Ganges an General Windham und eine für diesen Zweck ausreichende Truppe. Es waren fünf Infanterieregimenter, vollständig oder Teile davon, viele Festungskanonen, 10 Feldgeschütze und zwei Schiffsgeschütze, außerdem 100 Berittene, die ganze Truppe mehr als 2000 Mann stark. Während Campbell bei Lakhnau gebunden war, zogen sich die verschiedenen um den Doab umherstreifenden Scharen der Aufständischen zu einem Angriff auf Khanpur zusammen. Außer einem zusammengewürfelten Haufen, der von aufständischen Semindaren zusammengestellt worden war, bestand die angreifende Streitmacht an gedrillten Truppen (diszipliniert kann man sie nicht nennen) aus dem Rest der Sepoys von Dinapur und einem Teil des Kontingents von Gwalior. Diese letzteren waren die einzigen Truppen der Aufständischen, von denen man sagen kann, daß ihre Formation über Kompaniestärke hinausging, da sie fast ausschließlich eingeborene Offiziere hatten und so mit ihren Feldoffizieren und Hauptleuten den Anschein organisierter Bataillone behielten. Die Briten zollten ihnen folglich einen gewissen Respekt. Windham hatte strikte Anweisungen, in der Defensive zu bleiben, doch da er auf seine Depeschen keine Antworten von Campbell erhielt, weil die Verbindungslinien unterbrochen waren, entschloß er sich, auf eigene Verantwortung zu handeln. Am 26. November ging er mit 1200 Infanteristen, 100 Reitern und 8 Kanonen vor, um den heranrückenden Aufständischen entgegenzutreten. Nachdem er ihre Vorhut mühelos geschlagen hatte, sah er die Hauptkolonne sich nähern und zog sich bis dicht vor Khanpur zurück. Hier bezog er vor der Stadt Stellung, das 34. Regiment zur Linken, die Schützen (5 Kompanien) und zwei Kompanien des 82. Regiments zur Rechten. Die Rückzugsstraße führte durch die Stadt, und hinter dem linken Flügel standen einige Ziegelöfen. Vierhundert Yard von der Front entfernt und an verschiedenen noch näher gelegenen Punkten an den Flanken waren Wald und Dschungel, die dem angreifenden Feind ausgezeichnet Schutz boten. In der Tat, eine schlechtere Stellung hätte nicht gut gewählt werden können - die Briten
ungeschützt auf freiem Feld, während die Inder unter Deckung bis auf dreioder vierhundert Yard herankommen konnten! Wie um Windhams „Heldentum" in noch stärkerem Licht erscheinen zu lassen, gab es ganz in der Nähe eine sehr günstige Stellung mit freiem Gelände vor der Front und im Rücken und mit dem Kanal als Hindernis vor der Front; doch er beharrte natürlich auf der schlechteren Stellung. Am 27.November eröffnete der Feind eine Kanonade, wobei er seine Kanonen bis an den Rand der Deckung brachte, die der Dschungel gewährte. Windham, der dies mit der Bescheidenheit, die einen Helden auszeichnet, ein Bombardement nennt, sagt, seine Truppen hielten fünf Stunden lang stand; doch dann geschah etwas, was weder Windham noch sonst jemand, der dabei gewesen ist, noch irgendeine indische oder britische Zeitung bisher zu berichten gewagt hat. Von dem Augenblick an, als die Kanonade in eine Schlacht überging, schweigen alle unsere direkten Informationsquellen, und uns bleibt nichts anderes übrig, als unsere eigenen Schlußfolgerungen zu ziehen aus den zurückhaltenden, entstellenden und unvollständigen Berichten, die uns vorliegen. Windham beschränkt sich auf folgende verworrene Erklärung: „Trotz des schweren Bombardements des Feindes hielten meine Truppen dem Angriff" (etwas ungewöhnlich, eine Kanonade auf Feldtruppen einen Angriff zu nennen) „fünf Stunden lang stand und wichen nicht vom Fleck, bis ich aus der Zahl der durch das 88. Regiment Niedergemachten bemerkte, daß die Meuterer völlig in die Stadt eingedrungen waren. Als mir gemeldet wurde, daß sie das Fort angriffen, befahl ich General Dupuis, sich zurückzuziehen. Kurz vor Dunkelheit zog sich die ganze Truppe mit all unseren Vorräten und Kanonen in das Fort zurück. Der Troß ergriff die Flucht und ich konnte meine Lagerausrüstung und einige Bagage nicht mehr fortschaffen. Ich bin der Meinung, wäre nicht ein Irrtum bei der Überbringung eines von mir erteilten Befehls unterlaufen, hätte ich meine Stellung auf alle Fälle bis zur Dunkelheit halten können."[297] Mit jenem Instinkt, den er schon am Redan bewiesen hat, setzt sich General Windham zur Reserve ab (das 88. Regiment hält die Stadt besetzt, wie wir folgern müssen) und findet - nicht den Feind am Leben und im Kampf, sondern eine große Zahl vom 88. Regiment niedergemachter Feinde. Diese Tatsache führt ihn zu dem Schluß, daß der Feind (er sagt nicht, ob tot oder lebendig) völlig in die Stadt eingedrungen ist! So bestürzend diese Schlußfolgerung ist, sowohl für den Leser wie für ihn selbst, unser Held macht hier noch nicht halt. Ihm wird gemeldet, das Fort werde angegriffen. Ein gewöhnlicher General hätte diese Geschichte nachgeprüft, die sich natürlich als falsch herausstellte. Nicht so Windham. Er ordnet den Rückzug an, obwohl seine Truppen die Stellung zumindest bis zur Dunkelheit hätten
halten können, wäre nicht ein Irrtum bei der Überbringung einer der Befehle Windhams unterlaufen! Somit haben wir erstens Windhams heroische Schlußfolgerung, daß, wo viele tote Sepoys sind, auch sehr viel lebende sein müssen; zweitens den falschen Alarm hinsichtlich des Angriffs auf das Fort; und drittens den Irrtum, der bei der Überbringung eines Befehls unterlief; Mißgeschicke, welche alle zusammengenommen einen sehr zahlreichen Haufen Eingeborener in die Lage versetzten, den Helden vom Redan zu schlagen und die britische Kaltblütigkeit seiner Soldaten zu besiegen. Ein anderer Berichterstatter, ein Offizier, der selbst dabei war, schreibt:
„ Ich glaube nicht, daß irgend jemand den Kampf und den Rückzug an diesem Vormittag genau beschreiben kann. Ein Rückzug wurde angeordnet, und das 34. Infanterieregiment Ihrer Majestät wurde angewiesen, hinter den Ziegelofen zurückzugehen, während weder Offiziere noch Mannschaften wußten, wo sie ihn finden sollten! Die Nachricht verbreitete sich schnell in den Kantonnements, daß unsere Truppe geschlagen und auf dem Rückzug war, und ein hemmungsloser Ansturm auf die inneren Befestigungen begann, so unwiderstehlich wie die Wassermassen der Niagarafälle. Soldaten und Burschen, Europäer und Eingeborene, Männer, Frauen und Kinder, Pferde, Kamele und Ochsen strömten in zahlloser Menge von zwei Uhr nachmittags an herein. Bei Einbruch der Nacht wetteiferte das befestigte Lager mit seiner kunterbunten Ansammlung von Menschen und Tieren, von Bagage, Gepäck und zehntausend undefinierbaren hinderlichen Gegenständen mit dem Chaos, das existierte, bevor das fiat1 der Schöpfung vor sich ging." Schließlich stellt der Kalkutta-Korrespondent der „Times" fest, daß die Briten offensichtlich am 27. „fast so etwas wie eine Niederlage" erlitten hätten, daß die englisch-indische Presse aus patriotischen Beweggründen die Schande jedoch in den undurchdringlichen Schleier christlicher Nächstenliebe hüllt. So viel immerhin wird noch zugegeben, daß eines der Regimenter Ihrer Majestät, das vorwiegend aus Rekruten zusammengesetzt war, einen Augenblick lang in Unordnung geriet, ohne jedoch zurückzuweichen, und daß die Verwirrung beim Fort außerordentlich war, da Windham jede Kontrolle über seine Leute verloren hatte, bis am Abend des 28. Campbell eintraf und „mit ein paar stolzen Worten" jeden wieder an seinen Platz zurückbrachte. Welches sind nun die augenfälligen Schlußfolgerungen aus all diesen verwirrten und entstellenden Berichten? Keine anderen als die, daß die britischen Truppen unter der unfähigen Leitung Windhams vollständig, wenn auch ganz unnötigerweise, geschlagen wurden; daß, als der Rückzug angeordnet wurde, die Offiziere des 34. Regiments, die sich nicht einmal die
1 Geschehen 25 M arx/Engels, Werke, Bd. 12
Mühe genommen hatten, sich mit dem Gelände vertraut zu machen, auf dem sie gekämpft, die Stelle nicht finden konnten, wohin sie sich zurückziehen sollten; daß das Regiment in Unordnung geriet und schließlich die Flucht ergriff; daß dies zu einer Panik im Lager führte, die alle Schranken der Ordnung und Disziplin niederriß und den Verlust der Lagerausrüstung und eines Teils der Bagage verursachte; daß schließlich - trotz Windhams Versicherung in bezug auf die Vorräte - i 5 000 Minie-Fatronen, die Kisten des Zahlmeisters sowie Schuhe und Bekleidung für viele Regimenter und neue Aushebungen in die Hand des Feindes fielen. Wenn Soldaten der englischen Infanterie sich in Linie oder in Kolonne befinden, laufen sie selten davon. Wie die Russen besitzen sie ein natürliches Zusammengehörigkeitsgefühl, das man im allgemeinen nur bei alten Soldaten findet und das zum Teil durch die starke Beimischung von alten Soldaten in beiden Armeen zu erklären ist, aber zum Teil gehört es offensichtlich auch zum Nationalcharakter. Diese Eigenschaft, die durchaus nichts mit „Schneid" zu tun hat, sondern im Gegenteil eher eine besondere Form des Selbsterhaltungstriebes darstellt, ist jedoch sehr wertvoll, besonders bei Defensivstellungen. Zusammen mit der trägen Natur des Engländers verhindert sie auch Panik; aber man muß dazu bemerken, daß, wenn irische Truppen einmal in Unordnung und in Panik geraten sind, sie nicht so leicht wieder gesammelt werden können. Genau das passierte'Windham am 27. November. Er wird hinfort zu der nicht sehr großen, aber glänzenden Reihe englischer Generale zählen, die es fertiggebracht haben, ihre Truppen in panischem Schrecken davonlaufen zu lassen. Am 28. wurde das Kontingent von Gwalior durch eine starke Abteilung aus Bithur verstärkt und rückte bis auf weniger als vierhundert Yard an die britischen befestigten Vorpostenstellungen heran. Es kam zu einem weiteren Gefecht, das die Angreifer ohne jeglichen Nachdruck führten. In seinem Verlauf ereignete sich ein Beispiel von wirklichem Schneid seitens der Soldaten und Offiziere des 64. Regiments, von dem wir gern berichten, obwohl das Unternehmen selbst so unsinnig war wie der vielgerühmte Angriff auf Balaklawa[2981. Die Verantwortung dafür wird ebenfalls auf einen Toten abgewälzt - auf Oberst Wilson aus diesem Regiment. Anscheinend ist Wilson mit hundertundachtzig Mann gegen vier Kanonen des Feindes vorgegangen, die von weit überlegenen Kräften verteidigt wurden. Uns wird nicht berichtet, wer sie waren; doch das Resultat läßt darauf schließen, daß sie zu den Truppen von Gwalior gehörten. Die Briten nahmen die Kanonen im Sturm, vernagelten drei davon und hielten sich einige Zeit, bis sie sich, da keine Verstärkung kam, unter Verlust von sechzig Mann und den meisten ihrer Offi
ziere zurückziehen mußten. Den Beweis für den schweren Kampf liefern die Verluste. Hier hat also eine kleine Truppe, die, nach den erlittenen Verlusten zu urteilen, gehörig angegriffen worden sein muß, eine Batterie verteidigt, bis ein Drittel ihrer Männer gefallen ist. Hier ist wirklich gekämpft worden, und seit der Erstürmung Delhis haben wir so etwas nicht mehr erlebt. Der Mann jedoch, der diesen Angriff plante, verdient es, vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen zu werden. Windham sagt, es war Wilson. Er ist dabei gefallen und kann sich nicht verantworten. Am Abend war die ganze britische Truppe im Fort eingepfercht, wo weiterhin Durcheinander herrschte, und die Stellung bei der Brücke war offensichtlich in Gefahr. Doch dann traf Campbell ein. Er stellte die Ordnung wieder her, zog am nächsten Morgen frische Truppen heran und schlug den Feind so weit zurück, daß die Brücke und das Fort gesichert waren. Dann ließ er alle Verwundeten, Frauen und Kinder und die Bagage den Fluß überqueren und nahm eine Verteidigungsstellung ein, bis sie alle einen ausreichenden Vorsprung auf der Straße nach Allahabad gewonnen hatten. Sobald dies geschehen war, griff er die Sepoys am 6. Dezember an und schlug sie, und seine Kavallerie und Artillerie verfolgten sie am gleichen Tage noch vierzehn Meilen weit. Daß wenig Widerstand geleistet wurde, geht aus Campbells Bericht hervor; er beschreibt nur das Vorgehen seiner eigenen Truppen und erwähnt nirgends einen Widerstand oder irgendwelche Manöver des Feindes; es gab kein Hindernis, und es war keine bataille1, sondern eine battue2. Brigadegeneral Hope Grant verfolgte mit einer leichten Abteilung die Fliehenden und holte sie am 8. ein, als sie dabei waren, einen Fluß zu überschreiten. So in die Enge getrieben, machten sie kehrt und erlitten schwere Verluste. Mit diesem Ereignis ist Campbells erster Feldzug von Lakhnau und Khanpur zum Abschluß gebracht, und eine neue Serie von Operationen muß beginnen, von deren Anfängen wir wohl in zwei bis drei Wochen hören werden.
Geschrieben um den 2. Februar 1858. Aus dem Englischen.
1 Schlacht - 2 Treibjagd
Karl Marx Das Attentat auf Bonapartet2991
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5254 vom 22. Februar 1858, Leitartikel] Quos deus vult perdere prius dementat1 - so scheint das Urteil zu sein, das ziemlich allgemein in Europa über den französischen Usurpator geäußert wird, während noch vor wenigen Wochen die zahllosen Schmarotzer und Anbeter des Erfolges in allen Ländern und in allen Sprachen miteinander wetteiferten, um ihn zu einer Art irdischer Vorsehung zu erheben. Jetzt plötzlich, beim ersten Anrücken wirklicher Gefahr, soll der Halbgott verrückt geworden sein. Jenen jedoch, die sich nicht von ersten Eindrücken betören lassen, wird nichts klarer erscheinen, als daß der Held von Boulogne13001 heute das gleiche ist, was er gestern war - einfach ein Spieler. Wenn er die letzte Karte einsetzt und alles riskiert, so hat sich nicht der Mann geändert, sondern die Chancen des Spiels sind andere geworden. Es hatte schon vorher Anschläge auf Bonapartes Leben gegeben, ohne sichtbare Wirkung auf die Wirtschaft des Kaiserreichs. Warum tötete also das Quecksilber, das am 14. Januar explodierte13011, nicht nur Menschen, sondern einen Zustand? Mit den Handgranaten aus der Rue Lepelletier verhält es sich ebenso wie mit den eingefetteten Patronen, die in Barrackpur verteilt wurden2. Sie haben kein Kaiserreich verwandelt, sondern nur den Schleier zerrissen, der eine schon vollzogene Verwandlung verbarg. Der Schlüssel zum Geheimnis von Bonapartes Aufstieg ist einerseits darin zu finden, daß sich die feindlichen Parteien gegenseitig entkräftet hatten, und andererseits darin, daß sein Staatsstreich zusammenfiel mit dem Eintritt der Handelswelt in eine Periode der Prosperität. Die Handelskrise hat daher notwendigerweise die materielle Grundlage des Kaiserreiches unter
1 Wen Gott verderben will, schlägt er mit Blindheit - 2 siehe vorl. Band, S, 231
graben, das niemals eine moralische Grundlage besaß außer der zeitweiligen Demoralisierung aller Klassen und aller Parteien. Die Arbeiterklasse nahm im gleichen Moment, wo sie arbeitslos wurde, ihre feindliche Haltung gegenüber der bestehenden Regierung wieder auf. Ein großer Teil der Handelsund Industriebourgeoisie wurde durch die Krise in die gleiche Lage versetzt, die Napoleon veranlaßt hatte, seinen coup d'etat zu beschleunigen; denn es ist wohlbekannt, daß die Furcht vor dem Schuldgefängnis zu Clichy seiner Wankelmütigkeit ein Ende setzte. Dasselbe Motiv trieb die Pariser Bourgeois 1848 auf die Barrikaden und würde sie auch eine politische Krise in diesem Moment als Gottesgabe betrachten lassen. Es ist nun vollkommen klar, daß die Bank von Frankreich, als die Panik am größten war, alle fälligen Wechsel auf Befehl der Regierung verlängerte - eine Aushilfe, zu der sie übrigens am 31 .Januar erneut gezwungen war; aber dieses Hinausschieben der Schuldentilgung hat, anstatt die Handelsaktivität wiederherzustellen, der Panik nur einen chronischen Charakter verliehen. Ein weiterer sehr großer Teil der Pariser Bourgeoisie, und dabei ein sehr einflußreicher - die petits rentiers1, d. h. Menschen mit kleinem festen Einkommen - sah sich völligem Ruin gegenüber, als Folge der enormen Schwankungen an der Börse, die von der kaiserlichen Dynastie und ihrer abenteuerlichen Sippschaft gefördert wurden und dazu beitrugen, diese zu bereichern. Jener Teil, zumindest der französischen höheren Klassen, der vorgibt, die sogenannte französische Zivilisation zu verkörpern, betrachtete das Kaiserreich nie anders denn als Notbehelf, verheimlichte niemals seine tiefe Feindschaft gegenüber dem „Neffen seines Onkels"2, und hat in letzter Zeit jeden Vorwand aufgegriffen, um seine Entrüstung über den Versuch zu zeigen, einen seiner Meinung nach reinen Notbehelf in eine ständige Einrichtung zu verwandeln. So war die allgemeine Stimmung, für die der Anschlag in der Rue Lepelletier eine Gelegenheit bot, sich offen kundzutun. Diese Kundgebung erregte andererseits bei demPseudo-Bonaparte das Gefühl eines herannahenden Gewitters und zwang ihn, seine letzte Karte auszuspielen. Viel ist im „Moniteur" über das freudige Jauchzen, die Beifallsrufe und die „öffentliche Begeisterung" gesagt worden, mit der die kaiserliche Gesellschaft beim Verlassen der Oper überhäuft wurde. Der Wert dieser Straßenbegeisterung zeigt sich in folgender Anekdote, die von einem Hauptdarsteller des Schauspiels stammt und deren Glaubwürdigkeit von einer höchst respektablen englischen Zeitung verbürgt wird:
„Am Abend des 14. überquerte ein hoher Angestellter der kaiserlichen Hofhaltung, der aber an diesem Abend nicht im Dienst war, die Boulevards, als er plötzlich die
1 kleinen Rentiers — 2 Napoleon III.
Explosionen hörte und die Leute zur Oper rennen sah. Er lief auch dorthin und war bei dem ganzen Schauspiel anwesend. Er wurde sofort erkannt, und eine der Personen, die besonders nahe von allem Vorgefallenen betroffen war, sagte: ,0, Herr..., finden Sie um Gottes willen jemanden, der zu den Tuilerien gehört und schicken Sie nach neuen Wagen. Wenn Sie niemanden finden können, dann gehen Sie selbst.' Die so angesprochene Person ging sofort ans Werk, um einige Bedienstete des Hofes zu finden, was keine leichte Aufgabe war, da alle, ob hoch, ob niedrig, vom Kammerherrn bis zum Lakai, von ein oder zwei bewundernswerten Ausnahmen abgesehen, mit unglaublicher Munterkeit Fersengeld gegeben hatten. Nach Ablauf einer Viertelstunde jedoch erwischte er einen Boten und schickte ihn umgehend mit den notwendigen Anweisungen zum Palast. Ungefähr fünfundzwanzig Minuten oder eine halbe Stunde waren vergangen, als er zur Rue Lepelletier zurückkehrte und sich unter großen Schwierigkeiten einen Weg durch die Menge zum Säulengang des Theaters bahnte. Die Verwundeten lagen immer noch in der Gegend herum, und augenscheinlich herrschte überall Unordnung. In kurzer Entfernung erspähte der besagte Herr den Polizeipräfekten, Herrn Pietri, und rief ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen und ihn daran zu hindern, fortzugehen, bevor er sich ihm zugesellen könnte. Als er dies getan, rief er sogleich aus: ,Ich flehe Sie an, die Straße ohne Zeitverlust abzuriegeln. Die neuen Wagen werden bald hier sein, und sie können nicht bis zum Tor vorfahren. Außerdem sehen Sie doch, was für eine Verwirrung herrscht. Ich bitte Sie dringend, lassen Sie die Straßen räumen.' Herr Pietri schaute ihn verwundert an. ,Die Straße räumen!' - wiederholte er -, ,die Straße ist ja geräumt; sie wurde innerhalb von fünf Minuten geräumt.' Sein Gesprächspartner starrte ihn an. ,Was bedeutet dann diese Menge? Was bedeutet diese dichte Masse Menschen, durch die man sich keinen Weg bahnen kann?' ,Das sind alles meine Leute', war Herrn Pietris Antwort, ,es befindet sich in diesem Moment kein Fremder in der Rue Lepelletier; alle, die Sie sehen, gehören zu mir.'" Wenn dies das Geheimnis der vom „Moniteur " hervorgehobenen Straßenbegeisterung war, so konnten seine kurzen Artikel über die „spontanen Illuminationen der Boulevards nach dem Anschlag" erst recht nicht die Pariser irreführen, die Augenzeugen dieser Illumination waren, welche sich auf die Läden der Hoflieferanten des Kaisers und der Kaiserin beschränkte. Sogar diese Personen zögerten nicht zu sagen, daß Polizeiagenten eine halbe Stunde nach der Explosion der „höllischen Maschine" sie besucht und ihnen angeraten hätten, ihr Geschäft sofort zu illuminieren, um zu beweisen, wie begeistert sie von der Rettung des Kaisers seien. Der Charakter der Gratulationen und der öffentlichen Ergebenheitsbeteuerungen gegenüber dem Kaiser zeugt noch mehr von seiner vollständigen Isolierung. Kein einziger ist unter den Unterzeichnern, der nicht auf die eine oder andere Weise zur Verwaltung gehört, diesem allgegenwärtigen Parasiten, der an Frankreichs Lebenssäften zehrt und wie eine Marionette in Bewegung
gesetzt wird, wenn sie der Minister des Innern anrührt. Der „Moniteur" war Tag für Tag gezwungen, diese monotonen Gratulationen, die vom Kaiser an den Kaiser gerichtet waren, als viele Beweise der unbegrenzten Liebe des Volkes für den coup d'etat zu registrieren. Einige Bemühungen wurden freilich unternommen, um eine Adresse der Pariser Bevölkerung zu erlangen, und zwar wurde zu diesem Zweck eine solche Adresse von den Polizeiagenten umhergetragen; da es sich jedoch herausstellte, daß die Menge der Unterschriften nicht bedeutsam genug sein würde, ließ man den Plan wieder fallen. Sogar der Pariser Krämer nahm sich ein Herz und lehnte es ab, die Adresse zu unterschreiben, unter dem Vorwand, daß solch eine Adresse wohl nicht von der Polizei ausgehen könne. Die Haltung der Pariser Presse, soweit sie von der Öffentlichkeit und nicht vom Staatssäckel abhängt, entsprach vollkommen der Haltung des Volkes. Entweder murmelte sie wie der unglückliche „Spectateur" einige halb unterdrückte Worte über Erbrechte oder zitierte wie der „Phare de la Loire"[302] halbamtliche Zeitungen als ihre Quellen für den berichteten Enthusiasmus oder hielt, wie das „Journal des Debats", ihre Gratulationen innerhalb der strengen Grenzen konventioneller Höflichkeit, oder beschränkte sich darauf, die Artikel des „Moniteur" abzudrucken. Mit einem Wort, es wurde klar, daß Frankreich, wenn es im Moment auch noch nicht bereit war, die Waffen gegen das Kaiserreich zu ergreifen, doch bestimmt entschlossen war, dieses bei der ersten Gelegenheit loszuwerden. Der Wiener Korrespondent der Londoner „Times" schreibt:
„Nach dem, was meine Berichterstatter melden, die kürzlich aus Paris gekommen sind, herrscht in dieser Stadt die allgemeine Ansicht, daß die gegenwärtige Dynastie ihrem Sturz entgegengeht." l303l Bonaparte selbst, der bis dahin als einziger Mann in Frankreich an den endgültigen Sieg des coup d'etat geglaubt hatte, wurde sich plötzlich der Hohlheit seiner Täuschungen bewußt. Während alle öffentlichen Körperschaften und die Presse schworen, daß das Verbrechen in der Rue Lepelletier, das einzig und allein von Italienern begangen worden wäre, nur dazu beigetragen hätte, die Liebe Frankreichs für Louis-Napoleon hervorzuheben, eilte Louis-Napoleon zum Corps legislatif[39], um dort öffentlich zu erklären, daß es eine nationale Verschwörung sei, und daß Frankreich infolgedessen neuer „Unterdrückungsgesetze" bedürfe, um niedergehalten zu werden. Diese bereits vorgeschlagenen Gesetze, an deren Spitze das „loi des suspects"[3041 steht, stellen nichts anderes als eine Wiederholung der gleichen Maßnahmen in den ersten Tagen des coup d'etat dar. Damals wurden sie jedoch als zeitweiliger Notbehelf angekündigt, während sie jetzt als organische Gesetze
proklamiert werden. Somit wird von Louis-Napoleon selbst erklärt, daß das Kaiserreich nur durch die gleichen Schändlichkeiten verewigt werden kann, mit deren Hilfe es ins Leben gerufen wurde, daß es all seine Ansprüche auf mehr oder weniger ehrenhafte Formen einer regulären Regierung aufgeben muß, und daß die Zeit der mürrischen Ergebenheit der Nation in die Herrschaft der Gesellschaft des meineidigen Usurpatorst305J endgültig vorüber ist. Kurz vor der Ausführung des coup d'etat gelang es Louis-Napoleon, von allen Departements, besonders von den ländlichen Distrikten, Adressen zu sammeln, die gegen die Nationalversammlung gerichtet waren und unbegrenztes Vertrauen in den Präsidenten zum Ausdruck brachten. Da sich diese Quelle nun erschöpft hat, ist nichts weiter übrig geblieben, als an die Armee zu appellieren. Die Adressen der Militärs, wobei in einer die Zuaven „fast bedauern, daß sie keine Gelegenheit gehabt hätten, einen schlagenden Beweis ihrer Ergebenheit für den Kaiser zu liefern", sind einfach die unverhüllte Proklamierung der Prätorianerherrschaftt306J in Frankreich. Die Teilung Frankreichs in fünf große militärische Paschaliks mit fünf Marschällen an der Spitze, unter der Oberaufsicht von Pelissier als Generalfeldmarschall[307J, ist eine einfache Folge dieser Voraussetzung. Andererseits wird mit der Einsetzung eines Geheimen Ra tes, der gleichzeitig als Rat während der eventuellen Regentschaft einer Montijo fungieren soll und sich aus so grotesken Burschen wie Fould, Morny, Persigny, Baroche und ähnlichen zusammensetzt, Frankreich gezeigt, was für ein Regime die neu eingesetzten Staatsmänner ihm zugedacht haben. Die Einsetzung dieses Rates zusammen mit der Familienaussöhnung, die Louis-Napoleon der erstaunten Welt durch seinen Brief im „Moniteur" mitteilen ließ, kraft dessen Jerome, der Exkönig von Westphalen, zum Präsidenten der Staatsräte bei Abwesenheit des Kaisers ernannt wird - all dies, wie richtig bemerkt worden ist - „wirkt, als ob der Pilger im Begriff ist, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben"[308]. Auf welches neue Abenteuer will sich der Held von Straßburg[309] nun einlassen? Manche sagen, daß er sich durch einen Feldzug in Afrika beruhigen will, andere, daß er eine Invasion nach England vorhat. Was den ersten Plan anbetrifft, so erinnert er einen daran, wie er ehemals nach Sewastopol gehen wollte13101; aber jetzt mag ebenso wie damals seine Vorsicht der bessere Teil seiner Tapferkeit sein. Was irgendwelche Feindseligkeit gegen England anbelangt, so würde sie Bonaparte nur seine Isolierung in Europa enthüllen, genauso wie der Anschlag in der Rue Lepelletier seine Isolierung in Frankreich enthüllte. Schon haben die in den Adressen der Soldateska enthaltenen Drohungen gegen England das englisch-französische Bündnis endgültig zer
stört, das sich schon lange in articulo mortis1 befand. Palmerstons AusländerBill 13113 wird nur dazu beitragen, den bereits verwundeten Stolz des John Bull noch mehr aufzureizen. Was immer Bonaparte auch unternehmen mag und er muß versuchen, sein Prestige in der einen oder anderen Weise wiederherzustellen - es wird nur seinen Untergang beschleunigen. Er nähert sich dem Ende seiner seltsamen, lasterhaften und verderblichen Karriere.
Geschrieben am 5. Februar 1858. Aus dem Englischen.
1 den letzten Zügen
Karl Marx [Die Wirtschaftskrise in Frankreich]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5270 vom 12. März 1858, Leitartikel] Es bedarf keines Beweises, daß die prekäre Machtstellung, mit deren Hilfe sich Louis-Napoleon noch Kaiser der Franzosen nennt, ernstlich ins Schwanken geraten muß, wenn die Handelskrise, die in anderen Teilen der Welt schon im Abflauen begriffen ist, in Frankreich ihren Kulminationspunkt erreicht. Die Symptome dieser Kulmination zeigen sich hauptsächlich in der Lage der Bank von Frankreich und der französischen Märkte für Agrarprodukte. Die Berichte der Bank weisen in der zweiten Februarwoche im Verhältnis zur letzten Januarwoche folgende Merkmale auf: Abnahme des Geldumlaufs 8 766 400 Francs Abnahme der Depositen 29 018 024 Abnahme der Wechseldiskontierungen an der Bank 47 746 640 „ Abnahme der Wechseldiskontierungen in den Filialen 23 264 271 „ Gesamtabnahme der Wechseldiskontierungen 71010911 „ Zunahme der überfälligen Wechsel 2 761 435 „ Zunahme der Edelmetallvorräte 31 500 308 „ Zunahme des Agios bei Gold-und Silberankäufen 3 284 691 „ In der gesamten Handelswelt nahm die Metallreserve der Banken zu, als sich die Handelsaktivität verringerte. Im gleichen Maße, wie das industrielle Leben schwächer wurde, festigte sich im.allgemeinen die Lage der Banken, und insofern würde die Zunahme der Edelmetall Vorräte in den Gewölben der Bank von Frankreich nur ein weiteres Beispiel für eine sowohl hier in New York als auch in London und Hamburg beobachtete ökonomische Erscheinung sein. Es gibt jedoch ein spezifisches Merkmal für die Edelmetallbewegung in Frankreich, nämlich die bis zu 3 284 691 Francs betragende Zunahme des Agios bei Gold- und Silberankäufen, während die Gesamt
summe, die die Bank von Frankreich im Monat Februar dafür verausgabt hat, die Zahl von 4 438 549 Francs erreicht. Der Ernst dieser Tatsache wird aus folgendem Vergleich ersichtlich:
Agio, das die Bank von Frankreich bei Gold- und Silberankäufen zahlte Februar 1858 4 438 549 Francs Januar 1858 1153 858 „ Dezember 1857 1176 029 ,, November 1857 1 327 443 „ Oktober 1857 949 656 „ 1. Januar bis 30. Juni 1856 3 100 000 „ 1. Juli bis 11. Dezember 1856 3 250 000 „ I.Juli bis 3I.Dezember 1855 4 000 000 „
Daraus ersehen wir, daß das Agio, das die Bank im Februar zwecks Erlangung zeitweiliger künstlicher Zuführungen zur Edelmetallreserve gezahlt hat, sich auf eine Summe beläuft, die der fast gleich ist, welche die Bank für den gleichen Zweck in den vier Monaten von Oktober 1857 bis Januar 1858 ausgegeben hat und die das gesamte Halbjahres-Agio übersteigt, das während der Jahre 1856 und 1855 gezahlt worden ist, während der Gesamtbetrag des Agios, das die Bank von Oktober 1857 bis Februar 1858 gezahlt hat und das die Zahl von 9 045 535 Francs erreicht, das während des ganzen Jahres 1856 gezahlte Agio beinahe um die Hälfte übersteigt. Trotz dieses scheinbaren Überflusses ist die Metallreserve der Bank in der Konsequenz tatsächlich geringer als in den letzten drei Jahren. Die Bank ist weit davon entfernt, mit Metallreserven überladen zu sein; der Zufluß wird nur künstlich auf seinen erforderlichen Stand gebracht. Diese Tatsache allein beweist zugleich, daß die Handelskrise in Frankreich noch nicht in die Phase eingetreten ist, die die Vereinigten Staaten, England und das nördliche Europa schon hinter sich haben. In Frankreich gibt es eine allgemeine Handelsdepression, was sich in der gleichzeitigen Abnahme des Geldumlaufs und der Wechseldiskontierungen zeigt; der Krach steht jedoch immer noch bevor; dies beweist die Abnahme der Depositen bei einem gleichzeitigen Ansteigen des Agios auf gekauftes Edelmetall und einer Zunahme überfälliger Wechsel. Die Bank hat auch bekanntgeben müssen, daß ein großer Teil ihrer eigenen neuen Aktien, auf die die Raten nicht pünktlich bezahlt worden sind, verkauft werden wird. Sie ist von der Regierung auch zum Hauptkontrahenten der französischen Eisenbahnen gemacht und gezwungen worden, innerhalb festgesetzter Perioden den Eisenbahngesellschaften große Vorschüsse zu
leisten, Vorschüsse, die sich im Januar und Februar allein auf 50 000 000 Francs beliefen. Zwar hat sie als Gegenwert für diese Vorschüsse die Schuldverschreibungen der Gesellschaften erhalten, die sie, wenn sie kann, verkaufen darf. Der gegenwärtige Moment ist jedoch für solch einen Verkauf besonders ungünstig, und die wöchentlichen Eisenbahnbenchte, die von einem ständigen Sinken der Einnahmen zeugen, sind weit davon entfernt, irgendwelche großen Erwartungen in dieser Hinsicht zu garantieren, im Monat Januar z.B. wies die Orleans-Bahn, verglichen mit den entsprechenden Einnahmen von 1857, einen Rückgang von 21 Prozent, die Ostbahn von 18 Prozent, die Paris-LyonBahn von etwa 11 Prozent und die Westbahn von 14 Prozent auf. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Widerstand des Käufers gegen einen Übergang von niedrigen zu hohen Preisen und noch mehr des Verkäufers gegen einen Übergang von hohen zu niedrigen Preisen immer sehr beachtlich ist, und daß dann oft Pausen von längerer oder kürzerer Dauer entstehen, wobei die Verkäufe schwer und die Preise nominell sind, bis sich schließlich die Tendenz des Marktes mit unwiderstehlicher Kraft nach der einen oder anderen Richtung entscheidet. Solch ein vorübergehender Kampf zwischen den Warenbesitzern und den Käufern ist nichts Außergewöhnliches; doch der langwierige Zwist zwischen den französischen Kaufleuten und den französischen Konsumenten, der von Anfang November bis zum heutigen Tage andauert, findet wahrscheinlich in der Geschichte der Preise nicht seinesgleichen. Während die französische Industrie stagniert, eine große Anzahl von Arbeitern arbeitslos und jedermanns Mittel knapp sind, bleiben die Preise, die woanders durchschnittlich um 30 bis 40 Prozent gefallen sind, in Frankreich immer noch auf der spekulativen Höhe der Periode, die der generellen Krise vorausging. Wenn man uns fragt, wodurch* dieses ökonomische Wunder vollbracht worden ist, so lautet die Antwort einfach, daß die Bank von Frankreich unter dem Druck der Regierung zweimal gezwungen worden ist, die fälligen Wechsel und Anleihen zu verlängern, und daß dadurch, mehr oder weniger direkt, die in den Bankgewölben angehäuften Mittel des französischen Volkes dazu benutzt worden sind, die hochgetriebenen Preise eben gegen dieses Volk hochzuhalten. Die Regierung scheint sich einzubilden, daß durch diesen äußerst einfachen Prozeß der Verteilung der Banknoten, wo immer sie gebraucht werden, die Katastrophe endgültig abgewehrt werden kann. Das wirkliche Ergebnis dieses Verfahrens ist jedoch einerseits eine Verschärfung der Not der Konsumenten gewesen, deren verringerten Mitteln man nicht mit verringerten Preisen entgegengekommen ist, andererseits in den Zollspeichern eine riesige Anhäufung von Waren, die infolge ihrer eigenen Masse entwertet werden, wenn sie letztlich gemäß ihrer eigentlichen Be
Stimmung auf den Markt geworfen werden müssen. Die folgende, einer offiziellen französischen Zeitung entnommene Aufstellung über die relativen Mengen der Waren, die in den französischen Zollspeichern Ende Dezember 1857, 1856 und 1855 gelagert wurden, läßt keinen Zweifel über die katastrophale Selbstregulierung der Preise aufkommen, die Frankreich noch in Zukunft blüht: 1857 1856 1855 Metrische Metrische Metrische Quintale Quintale Quintale Kakao 19 419 17 799 10188 Kaffee 210 741 100 758 57 644 Baumwolle 156 006 76 322 28 766 Kupfer 15 377 1253 3197 Zinn 4 053 1 853 1 811 Gußeisen 132 924 102 202 76 337 ölsamen 253 596 198 982 74 537 Talg 25 299 15 292 11276 Indigo 5 253 2 411 3 783 Wolle 72 150 31560 38146 Pfeffer 23 448 18 442 10 682 Zucker (kolonial) 170 334 56 735 55 387 Zucker (ausländisch) 89 607 89 807 71913 Im Getreidehandel hat übrigens bereits der Kampf mit furchtbaren Folgen für die Warenbesitzer geendet. Doch sind ihre Verluste von viel geringerer Bedeutung als die allgemeine Lage der Landbevölkerung Frankreichs im gegenwärtigen kritischen Moment. Bei einer kürzlich stattgefundenen Versammlungfranzösischer Landwirte wurde festgestellt, daß der Durchschnittspreis des Weizens Ende Januar 1854 in ganz Frankreich 31 frs. 94 cts. pro Hektoliter (etwa 23/4 Scheffel) betrug, 1855 zur gleichen Zeit - 27 frs. 24 cts., im Januar 1856 - 32 frs. 46 cts., im Januar 1857 - 27 frs. 9 cts. und im Januar 1858 - 17 frs. 38 cts. Die einmütige Schlußfolgerung, zu der man kam, war, daß „dieser Stand der Preise für die französische Landwirtschaft sich als vernichtend erweisen müsse und daß bei dem gegenwärtigen Durchschnittspreis von 17 frs. 38 cts. für die Produzenten in einigen Teilen Frankreichs eine außerordentlich knappe Profitspanne übrigbleibt, während sie in anderen Teilen einen ernsthaften Verlust erleiden". Man sollte annehmen, daß in einem Land wie Frankreich, wo der größere Teil des Bodens den Bauern selbst gehört und wo nur ein relativ kleiner Teil der Gesamtproduktion seinen Weg zum Markt findet, ein Überfluß an
Getreide als Segen und nicht als Fluch betrachtet werden müßte. Jedoch ist es so, wie Ludwig XVIII. uns in einer Thronrede am 26. November 1821 sagte: „Kein Gesetz kann die Not verhindern, die sich aus einer überreichen Ernte ergibt." Es ist eine Tatsache, daß die große Mehrheit der französischen Bauernschaft nur dem Namen nach Eigentümer sind - die Hypothekengläubiger und die Regierung sind die wirklichen Eigentümer. Ob der französische Bauer imstande sein wird, den schweren Verpflichtungen nachzukommen, die auf seinem kleinen Streifen Land lasten, hängt nicht von der Menge, sondern von dem Preis seiner Produkte ab. Diese Notlage in der Landwirtschaft zusammen mit der Handelsdepression, dem Stagnieren der Industrie und der noch bevorstehenden Handelskatastrophe muß das französische Volk in jene Geistesverfassung versetzen, in der es bereit ist, sich in neue politische Wagnisse einzulassen. Mit dem Schwinden des materiellen Wohlstands und seines üblichen Anhängsels, der politischen Gleichgültigkeit, verschwindet auch jeder Vorwand für ein weiteres Bestehen des Zweiten Kaiserreiches.
Geschrieben am 12. Februar 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx Die Herrschaft der Prätorianer
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5270 vom 12. März 1858] Paris, 22. Februar 1858 „Wann wird Gerard, der Löwentöter, zum Minister für Volksbildung ernannt?" So lautet die allgemeine Lieblingsphrase in denPariser Vororten, seitdem General Espinasse, der Leiter des Dobrudscha-Feldzuges unrühmlichen Angedenkens[312], zum Minister des Inneren und der öffentlichen Sicherheit ernannt ist. Es ist wohl bekannt, daß in Rußland ein General der Kavallerie der heiligen Synode vorsteht. Warum sollte dann nicht Espinasse dem französischen Home-Ministry1 vorstehen, nachdem Frankreich zum home2 ausschließlich der Prätorianer[306] geworden ist? Durch solche offenbaren Mißverhältnisse wird die Herrschaft des nackten Schwertes in vollkommen unmißverständlicher Weise proklamiert, und Bonaparte will Frankreich klar zu erkennen geben, daß die kaiserliche Herrschaft nicht auf dem Willen Frankreichs, sondern auf 600 000 Bajonetten beruht. Daher die prätorianischen Adressen, die von den Obersten der verschiedenen Regimenter nach einem von den Tuilerien gelieferten Muster verfaßt worden sind, Adressen, bei denen die geringste Anspielung auf den sogenannten „Willen des Volkes" ängstlich vermieden wird; daher die Zerstückelung Frankreichs in fünf Paschaliks[307]; daher die Umwandlung des Innenministeriums in ein Anhängsel der Armee. Hiermit sind die Veränderungen nicht zu Ende. Ungefähr 60 Präfekten sollen in Kürze abgesetzt und größtenteils durch Militärs ersetzt werden. Die Leitung der Präfekturen soll half-pay Obersten und Oberstleutnants3 übertragen werden. Der Gegensatz zwischen der Armee und der Bevölkerung soll zum Bürgen der „öffentlichenSicherheit" gemacht werden, nämlich der Sicherheit des Helden von Satory[3131 und seiner Dynastie.
1 Innenministerium - 2 Heim — 3 einer Art Reserveoffizieren mit herabgesetztem Gehalt
Ein großer zeitgenössischer Historiker hat uns erzählt, daß über Frankreich - mag man die Tatsache auch noch so sehr verschleiern - seit den Tagen der Großen Revolution immer die Armee verfügt hat. Gewiß haben unter dem Kaiserreich, unter der Restauration, unter Louis-Philippe und während der Republik von 1848 verschiedene Klassen geherrscht. Unter dem Kaiserreich herrschte die Bauernschaft vor, das Kind der Revolution von 1789; unter der Restauration der Großgrundbesitz; unter Louis-Philippe die Bourgeoisie; und die Republik von 1848 erwies sich entgegen der Absicht ihrer Begründer in Wirklichkeit als ein mißlungener Versuch, die Herrschaft zu gleichen Anteilen unter den Anhängern der legitimen Monarchie und den Anhängern der juiimonarchie aufzuteilen. All diese Regimes stützten sich jedoch gleichermaßen auf die Armee. Ist nicht sogar die Verfassung der Republik von 1848 unter dem Belagerungszustand, d.h. unter der Herrschaft des Bajonetts, ausgearbeitet und proklamiert worden? Wurde diese Republik nicht durch General Cavaignac verkörpert? Wurde sie nicht im Juni 1848 und wieder im Juni 1849 durch die Armee gerettet, um schließlich im Dezember 1851 von der gleichen Armee fallengelassen zu werden? Worin besteht also das Neue an dem jetzt offen von Louis Bonaparte verkündeten Regime? Daß er mit Hilfe der Armee regiert? Das taten alle seine Vorgänger seit den Tagen des Thermidor[3l4]. Doch wenn auch in allen vergangenen Epochen die herrschende Klasse, deren Aufstieg einer spezifischen Entwicklung der französischen Gesellschaft entsprach, ihre ultima ratio1 gegen ihre Widersacher in der Armee sah, so herrschte nichtsdestoweniger ein spezifisches gesellschaftliches Interesse vor. Im Zweiten Kaiserreich soll das Interesse der Armee selbst vorherrschen. Die Armee soll nicht länger die Herrschaft eines Teiles des Volkes über einen anderen Teil des Volkes aufrechterhalten. Die Armee soll ihre eigene Herrschaft, verkörpert dürch ihre eigene Dynastie, über das französische Volk im allgemeinen aufrechterhalten. Sie soll den Staat im Gegensatz zur Gesellschaft darstellen. Man muß nicht glauben, daß Bonaparte sich des gefährlichen Charakters des von ihm versuchten Experiments nicht bewußt ist. Indem er sich selbst zum Führer der Prätorianer erklärt, erklärt er jeden prätorianischen Führer zu seinem Konkurrenten. Seine eigenen Parteigänger, mit General Vaillant an der Spitze, erhoben Einwände gegen die Teilung der französischen Armee in fünf Marschallämter, indem sie sagten, die Teilung sei zwar gut aus Gründen der Ordnung, doch nicht gut für das Kaiserreich, 'da sie eines Tages mit einem Bürgerkrieg enden würde. Das Palais Royal[315], das über die neue Wendung
1 letzte Zuflucht
der kaiserlichen Politik sehr verärgert ist, hat die Erinnerung an die Verrätereien der Marschälle Napoleons, mit Berthier an der Spitze, wachgerufen. Wie sich die fünf Marschälle, die einander von Herzen hassen, in einem kritischen Moment verhalten werden, kann man am besten aus ihrer Vergangenheit heraus beurteilen. Magnan verriet Louis-Philippe; Baraguay d'Hilliers verriet Napoleon; Bosquet verriet die Republik, der er seine Beförderung verdankte und deren Prinzipien er bekanntlich vertreten soll. Castellane hat nicht einmal eine wirkliche Katastrophe abgewartet, um Louis Bonaparte selbst zu verraten. Während des russischen Krieges erreichte ihn eine telegraphische Depesche, die besagte: „Der Kaiser ist tot." Er entwarf sofort eine Proklamation für Heinrich V. und schickte sie zur Druckerei. Der Präfekt von Lyon hatte die wahre Depesche erhalten, die so lautete: „Der Kaiser von Rußland1 ist tot." Die Proklamation wurde vertuscht, aber die Geschichte wurde allgemein bekannt. Was Canrobert anbelangt, so mag er kaisertreu sein, aber er ist eben nur ein Bruchteil eines Ganzen, und vor allem fehlt ihm die Fähigkeit, ein Ganzes zu sein. Diese fünf Marschälle, die sich der Schwierigkeit der Aufgabe bewußt waren, die sie übernehmen sollten, zögerten so sehr die Annahme ihrer entsprechenden Kommandos hinaus, daß nichts mit ihrer Einwilligung geregelt werden konnte. Als Bonaparte das sah, schrieb er selbst die Namen zu den jeweiligen Bestimmungsorten, übergab die Liste an Fould zur Ergänzung und zur Einsendung an den „Moniteur", und so wurde ihre Ernennung schließlich veröffentlicht, ob siees wollten oder nicht. Andererseits wagte es Bonaparte nicht, seinen Plan zu vollenden undPelissierzum Generalfeldmarschall zu ernennen. Über seine Mar.-schall-Pentarchie können wir das sagen, was Prinz Jeröme-Napoleon Herrn Fould geantwortet haben soll, als Bonaparte diesen zu seinem Onkel sandte, um ihm die Ernennung zum Haupt des Regentschaftsrats zu überreichen. Nachdem der Exkönig von Westphalen2 das Angebot in äußerst unhöflicher Form abgelehnt hatte, komplimentierte er Fould, wie der Pariser Klatsch erzählt, mit folgenden Worten hinaus: „Du reste3 ist Ihr Regentschaftsrat so zusammengesetzt, daß es für Sie alle nur ein Ziel gibt, nämlich das, einander so schnell wie möglich verhaften zu lassen." Wir wiederholen, daß es unmöglich ist, anzunehmen, Louis Bonaparte kenne nicht die Gefahren, mit denen sein neuerungssüchtiges System behaftet ist. Aber es bleibt ihm keine andere Wahl. Er kennt seine eigene Lage und die Ungeduld der französischen Gesellschaft, ihn und seinen kaiserlichen Mummenschanz loszuwerden. Er weiß, daß die verschiedenen Parteien sich von ihrer Lähmung erholt haben, und
1 Nikolaus I. - 2 Jeröme-Napoleon - 3 Übrigens 26 Marx/Engels, Werke. Bd. 12
daß die materielle Basis seines Börsenjobberregimes durch das kommerzielle Erdbeben gesprengt worden ist. Deshalb bereitet er nicht nur den Krieg gegen die französische Gesellschaft vor, sondern verkündet es auch laut. Seinem Entschluß, eine kriegerische Haltung gegen Frankreich einzunehmen, entspricht es, daß er die verschiedenartigsten Parteien beleidigt. Als zum Beispiel Cassagnac im „Constitutionnel" Herrn Villemain als „Provokateur des Hasses" gegen das Kaiserreich denunzierte und das „Journal des Debats" wegen seines Schweigens der „Mitschuld" am Attentat bezichtigte, wurde dies zuerst als ein Akt närrischen Eifers seitens des Mannes betrachtet, den Guizot als den roi des droles1 bezeichnet hat. Es sickerte jedoch bald durch, daß der Artikel dem „Constitutionnel" aufgezwungen worden war durch Herrn Rouland, den Volksbildungsminister, der selbst die Korrektur der Fahnen vorgenommen hatte. Nebenbei bemerkt, erhielt Herr de Sacy vom „Debats" diese Aufklärung durch Herrn Mires, den Besitzer des „Constitutionnel", der nicht die Verantwortung für den Artikel tragen wollte. Daß Bonaparte alle Parteien als seine persönlichen Feinde anklagt, paßt daher in sein Ränkespiel. Es bildet einen Teil seines Systems. Er sagt es ihnen deutlich, daß er sich bezüglich der allgemeinen Ablehnung seiner Herrschaft keinerlei Illusionen hingibt, daß er aber bereit ist, ihr mit Kartätschen und Gewehrfeuer zu begegnen.
Aus dem Englischen.
1 Narrenkönig
Karl Marx Das Ministerium Derby Der trügerische Rücktritt Palmerstons13161
[„New-York Daily Tribüne" Nr.5272 vom l5.März 1858, Leitartikel] Wenn Orsini auch nicht Louis-Napoleon tötete, so tötete er sicherlich Palmerston. Historisch gesehen ist es wohlangemessen, daß dieser politische Spieler, der von einem chinesischen Mandarin in Kanton zum Diktator Englands gemacht wurde, schließlich von einem italienischen Karbonaro in Paris zu Fall gebracht werden mußte.13171 Daß ihm aber Lord Derby folgen sollte, übersteigt bereits den Rang eines bloßen historischen Ereignisses und nähert sich der Erhabenheit eines historischen Gesetzes. Es entspricht dem traditionellen Wirken der britischen Verfassung. Auf Pitt folgte Fox, auf Fox Perceval, ein schwächerer Pitt; auf Wellington Grey, ein schwächerer Fox; auf Grey Wellington; auf Wellington Melbourne, ein schwächerer Grey; auf Melbourne wieder Wellington unter dem Namen Peel; auf Peel wieder Melbourne unter dem Namen Russell; auf Russell Derby, der Ersatz für Peel; auf Derby wieder Russell. Warum sollte auf Palmerston, den Usurpator der Position Russells, nicht wiederum Derby folgen? Wenn es in England irgendeine neue Kraft geben sollte, die fähig wäre, der alten Routine ein Ende zu bereiten, für die dieser letzte Platzwechsel zwischen den ehrenwerten Herren auf der einen Seite des Hauses und den ehrenwerten Herren auf der anderent318) ein Beispiel ist, wenn es irgendeinen Mann oder eine Gruppe von Männern geben sollte, die imstande wären, der traditionellen herrschenden Klasse entgegenzutreten und sie zu verdrängen, dann hat die Welt sie noch nicht entdeckt. Doch über eines kann kein Zweifel bestehen, und zwar, daß nämlich eine Tory-Regierung dem Fortschritt jeder Art weit mehr gewogen ist als irgendeine andere. In den letzten fünfzig Jahren sind alle volkstümlichen Bewegungen unter der Tory-Herrschaft entweder eingeleitet oder vollendet worden. Ein Tory-Ministerium nahm das Gesetz über die Emanzipation der Katholiken13191 an. Unter einem 26*
Tory-Ministerium wurde die Reformbewegung1320] unwiderstehlich. Die Auferlegung einer Einkommensteuer, die, so widersinnig sie in ihrer gegenwärtigen Form ist, die Ansätze zu einer proportionellen Besteuerung enthält, ist das Werk eines Tory-Ministeriums. Die Anti-Korngesetz-Liga1169 die unter der Whig-Kegierung schwach und schüchtern war, nahm unter den Tories revolutionäre Dimensionen an; und während Russell in seinen kühnsten Flügen sich niemals außerhalb der Grenzen einer festen Zollgebühr wagte, die so gemäßigt war wie er selbst, konnte Peel nicht umhin, die Korngesetze in das Grab aller Capulets[321] zu befördern. So sind es auch die Tories, welche die Aristokratie sozusagen volkstümlich machten, indem sie ihr plebejische Tatkraft und Talent zuführten, um ihre Energien zu verstärken. Durch die Tories herrschte Canning, der Sohn einer Schauspielerin, wie ein Lord über die alte Landaristokratie; desgleichen Peel, der Sohn eines emporgekommenen Baumwollspinnereibesitzers, der ursprünglich an einem Handwebstuhl gearbeitet hatte; so auch Disraeli, der Sohn eines einfachen Literaten, noch dazu Jude. Lord Derby selbst verwandelte den Sohn eines kleinen Krämers aus Lewes in einen Lordkanzler von England unter dem Namen Lord St. Leonards. Die Whigs haben sich andererseits immer als stark genug erwiesen, ihre plebejischen Kreaturen in eitlen Dekorationen zu begraben oder sie mit hochnäsigen Beleidigungen fallenzulassen. Brougham, die Seele der Reformbewegung, wurde erledigt, indem man ihn zum Lord erhob; und Cobden, dem Haupt der Anti-Korngesetz-Liga, wurde von denselben Whigs, die er wieder in ihre Ämter zurückgebracht hatte, die Stellung des Vizepräsidenten des Board of Trade1 angeboten[3221. Hinsichtlich der rein geistigen Fähigkeiten kann das neue Kabinett einem Vergleich mit seinem Vorgänger ohne Mühe standhalten. Männern wie Disraeli, Stanley und Ellenborough geschieht keinerlei Abbruch, wenn sie Leuten gegenübergestellt werden vom Schlage eines Herrn Vernon Smith, ehemals vom Board of Control2, eines Lord Panmure, des Kriegsministers, den lediglich sein „Tragt Sorge für Dowb"[323] unsterblich machen kann, und eines Sir G.C.Lewis mit der Langeweile der „Edinburgh Review", oder vom Schlage selbst solcher moralischen Granden wie Clanricarde, dem Privy Seal3. In Wirklichkeit hatte Palmerston nicht nur das Ministerium aller Parteien durch ein Ministerium keiner Partei ersetzt, sondern auch das Kabinett aller Talente[129] durch ein Kabinett mit keinem Talent, außer seinem eigenen.
1 Handels- und Verkehrsministeriums - 2 von der Kontrollbehörde (für indische Angelegenheiten) - 3 Lordsiegelbewahrer
Das Ministerium Derby - Der trügerische Rücktritt Palmerstons 405
Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß Palmerston keine Vorstellung von der Endgültigkeit seines Sturzes besaß. Er glaubte, Lord Derby würde den Posten des Premierministers jetzt ebenso ablehnen, wie er es währenddes Krimkrieges getan hatte. Russell wäre dann zur Königin gerufen worden; da aber das Gros seiner eigenen Truppen unter Palmerston diente und das Gros der feindlichen Armee unter Disraeli Aufstellung genommen hatte, hätte er es aufgegeben, ein Kabinett zu bilden, und dies um so eher, als er, ein Whig, nicht auf das „letzte Mittel", die Auflösung des Parlaments, das unter den Bannern der Whigs gewählt worden war, zurückgreifen konnte. So wäre nach einer Woche Schwankungen Palmerstons Rückkehr ins Amt unvermeidlich geworden. Dieses schöne Rechenstückchen ist durch Derbys Annahme nicht aufgegangen. Das Tory-Ministerium mag eine längere oder kürzere Amtsperiode haben. Sie mögen sich mehrere Monate lang halten, ehe sie gezwungen sind, zur Auflösung zu schreiten, eine Maßnahme, die sie ganz sicher anwenden werden, ehe sie endgültig auf ihre Macht verzichten. Zwei Dinge aber sind sicher und zwar: daß ihre Amtszeit durch die Einführung äußerst liberaler Maßnahmen in bezug auf soziale Reformen gekennzeichnet sein wird (Lord Stanleys bisheriges Verhalten und Sir John Pakingtons Erziehungsgesetz sind eine Bürgschaft dafür), und vor allem, daß sie in der Außenpolitik eine höchst wohltätige und erfreuliche Veränderung mit sich bringen. Es ist wahr, viele oberflächliche Denker und Publizisten behaupten, Palmerstons Sturz wäre kein wirksamer Schlag gegen Louis-Napoleon, weil mehrere der neuen Tory-Minister persönlich auf gutem Fuß mit dem französischen Despoten stünden und England sich nicht in der Lage befinde, mit einer riesigen Kontinentalmacht Krieg zu führen. Aber gerade deshalb, weil England nicht imstande ist, einen neuen Krieg anzufangen, halten wir die Antwort, die Großbritannien auf die großmäuligen Drohungen und Forderungen der Satrapen Louis-Napoleons gegeben hat, für höchst bedeutungsvoll. Die unabhängigen Liberalen im Parlament, die die eindeutige und leidenschaftliche Stimmung der Nation zum Ausdruck brachten, beantworteten die Depesche Walewskis nicht deshalb mit der Ablehnung der Verschwörungsbill[324] Palmerstons, weil Malmesbury und Disraeli in das Ministerium kommen sollten. Lord Derby mag stolpern und fallen, aber der Beschluß, durch den Milner Gibsons Antrag^3251 angenommen wurde, wird trotz alledem bestehen bleiben und Frucht tragen. Wir glauben nicht an irgendein herzliches und dauerhaftes Bündnis zwischen dem britischen Torysmus und dem französischen Bonapartismus. Die Instinkte, die Traditionen und die Bestrebungen beider Parteien lehnen sich dagegen auf. Wir halten es nicht für möglich, daß das neue Kabinett Palmer
stons Verschwörungsbill aufgreifen und durchdrücken wird, wie die Pariser Blätter so vertrauensvoll voraussagen. Wenn jedoch das Kabinett so handeln wird, dann nicht, bevor es Walewski und de Morny geantwortet hat, und zwar geantwortet im Geiste Pitts und Castlereaghs. Bei allen seinen Fehlern hätte der i crysmus sein ^M^esen verändern rnussen, urn bereit zu sein? auf den Wink eines Bonaparte die Gesetze Englands zu verändern. Indessen ist die4 Bedeutung des letzten Beschlusses unbeeinflußt von irgendeiner Annähme, es würde zwischen den beiden Regierungen rasch zur Fehde kommen. Wir halten sie für höchst bedeutend als eine Proklamation an Europa, daß Britannifen aufgehört hat, gegenüber dem französischen Kaiserreich die Rolle eines Sekundanten zu spielen. So wird es m Brüssel, in Turin und selbst in Wien verstanden, so wird es bald in Berlin, in Madrid und in St.Petersburg verstanden werden. England, das so lange der Gefängniswärter des ersten Napoleon gewesen ist, hat nachdrücklich abgelehnt, noch länger Handlanger seines Nachfolgers zu sein.[326J
Geschrieben am 26. Februar 1858« Aus dem Englischen.
Karl Marx Zeichen der Zeit
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5285 vom 30. März 1858] Paris, 1 I.März 1858 In Chalon-sur-Saone gab es am Sonnabendabend, dem 6. März, eine republikanische Erhebung kleineren Umfangs; am Mittwochabend, dem 10. März, fand in dieser Stadt eine Versammlung von Aufrührern statt; seit dem 24. Februar, dem zehnten Jahrestag der Februarrevolution, erfolgen Massen Verhaftungen, die so sehr im Stil algerischer Razzien13271 vor sich gehen, daß, wie der Londoner „Punch" erklärt, bald nur noch zwei Klassen in Frankreich übrig sein werden, nämlich Gefangene und Gefängniswärter; es ist ein offiziöses Pamphlet, „Napoleon III. und England"t328J, erschienen, und gleichzeitig hat der „Moniteur" Auszüge aus der Korrespondenz Napoleons I. veröffentlicht; und schließlich ist halbParis auf den Beinen gewesen, um sich Plätze als Zuschauer bei der Hinrichtung Orsinis zu sichern, die noch nicht stattgefunden hat. Wenn man mit dem letzten Punkt in dieser Speisekarte des Kaiserreiches beginnt, sollte man bemerken, daß durch ein nicht allgemein bekanntes Zusammentreffen von Umständen die Frage von Orsinis „Beförderung in die Ewigkeit", wie der zynische Cockney-Ausdruck1 lautet, Proportionen angenommen hat, die sogar noch fataler sind als die Hinrichtung der Aufrührer von Buzancais zur Zeit Louis-Philippes13293. In diesem Falle erhob sich im Volk ein Sturm der Entrüstung, weil diese Bluttat, obwohl auf dem Gerichtswege und in Übereinstimmung mit allen Formalitäten des französischen Rechts erfolgt, die abscheulichsten Züge der heuchlerischen Herrschaft Louis-Philippes bloßlegte. Dem Herzog von Praslin hatte man Gift verordnet, um ihm die Schande eines Verbrechertodes13303 zu ersparen, während diese emeutiers2 der Not, halbverhungerte Bauern, die in einem
1 Dialekt der werktätigen Schichten Londons - 2 Meuterer
durch den Getreideexport verursachten Tumult Totschlag verübt hattert, unbarmherzig dem Scharfrichter übergeben wurden. Orsini dagegen hat mannhaft die Teilnahme an dem Anschlag eingestanden und die ganze Verantwortung auf sich genommen. Er ist nach dem Gesetz verurteilt worden, und welche Sympathien die Masse der Pariser Bevölkerung für ihn auch empfinden mag, so gibt es an und für sich in seiner Verurteilung nichts, was für das Zweite Kaiserreich besonders schädlich sein könnte. Doch das ganze Aussehen der Angelegenheit wird durch ihre Begleitumstände völlig verändert. Während des gesamten Gerichtsverfahrens wurde die Neugierde von Paris durch die außergewöhnliche Prozeßführung erregt, die in den Annalen der politischen Prozesse Frankreichs ohne Beispiel ist. In der Anklageschrift wurden milde und gemäßigte Ausdrücke verwendet. Auf die vom juge d'instruction1 ans Licht gebrachten Tatsachen wurde nur in unbestimmter Weise Bezug genommen, während die langen und wiederholten Verhöre der Polizeibehörden, die in sqlchen Prozessen eine Hauptrolle zu spielen pflegten, gänzlich fallengelassen wurden. Je weniger man von ihnen spricht, um so besser, schien die herrschende Meinung zu sein. Zum ersten Mal wurde ein Gefangener in einem kaiserlichen Gerichtshof anständig behandelt. Es gab, wie ein Augenzeuge sagt, „so gut wie keine Drohungen, Einschüchterungen oder Versuche, deklamatorische Reden zu halten". Jules Favre, Orsinis Anwalt, wurde nicht einmal zur Ordnung gerufen, als er es wagte, seinen Gefühlen in folgendem Ausspruch freien Lauf zu lassen: „Ich hasse die Gewalt, wenn sie nicht dem Dienste am Recht geweiht ist. Falls es eine Nation gäbe, die so unglücklich wäre, sich in den Händen eines Despoten zu befinden, würde der Dolch seine Ketten nicht sprengen. Gott kennt und zählt die Stunden der Schwäche des Despoten, und er hält für die Tyrannen Katastrophen bereit, die unausweichlicher sind als der Dolch des Mörders." Auch das zustimmende Gemurmel an dieser Stelle bot Herrn Delangle, dem Präsidenten, keine Gelegenheit, nach dem Gesetz empört einzuschreiten. Das war noch nicht alles. Es war durchgesickert, daß der Brief, den Orsini an den Kaiser geschrieben hatte, von Jules Favre selbst in die Tuilerien gebracht und vom Kaiser geprüft worden war, der zwei Sätze davon gestrichen und die Genehmigung zur Veröffentlichung gegeben haben soll. Kaum jedoch war das Urteil über Orsini gefällt worden, da behandelte man ihn mit äußerster Strenge, und als er um Erlaubnis bat, „seine Papiere zu ordnen", wurde ihm mit dem sofortigen Anlegen der camisole de force2 geantwortet. Somit wird offenbar, daß hier ein höllisches Doppelspiel vor sich gegangen
1 Untersuchungsrichter - 2 Zwangsjacke
ist. Orsini hatte Enthüllungen zu machen - und hatte sie Pietri gegenüber gemacht -,die sich auf Napoleons Teilnahme an der Karbonaribewegungt3313 und auf die festen Versprechungen bezogen, die er sogar nach dem coup d'etat, als er über den zu befolgenden Kurs noch unentschlossen war, den italienischen Patrioten gegeben hatte. Um Orsini daran zu interessieren, sich zu mäßigen und somit einen großen öffentlichen Skandal zu vermeiden, wurden ihm Versprechungen gegeben, ihn zu begnadigen, an deren Einhaltung man niemals dachte. Diese Art des Verfahrens ist nicht neu in den Annalen des Zweiten Kaiserreichs. Der Leser wird sich vielleicht an den Prozeß von Berryer erinnern, dem Sohn des gefeierten französischen Advokaten und Legitimisten. Die Frage, die damals zur Diskussion stand, waren Betrügereien in Verbindung mit einer Aktiengesellschaft, den Docks Napoleoniens. Nun hatte Berryer, der Vater, einen Arm voll Dokumente, die bewiesen, daß Prinz Napoleon und Prinzessin Mathilde in großem Maße mit gleichen Schwindelmanövern Profit schlugen, die seinen Sohn auf die Anklagebank gebracht hatten. Wenn Berryer, der größte Meister der französischen Rednerkunst - einer Kunst, die gänzlich von der Bewegung, dem Tonfall, den Augen und der Gestikulation des Sprechers abhängt, und die Worte, die matt erscheinen, wenn man sie im Druck sieht, in sprechende Flammen, in elektrische Schläge verwandelt, wenn man sie hört -, wenn er diese Dokumente hervorgeholt und kommentiert hätte, dann wäre der kaiserliche Thron ins Wanken gekommen. Demzufolge wurde er veranlaßt, sich dessen zu enthalten, indem diejenigen, die dem Kaiser am nächsten standen, einschritten und ihm um den Preis seines Schweigens den sicheren Freispruch seines Sohnes anboten. Er willigte ein; der Sohn wurde verurteilt, und Vater und Sohn waren betrogen. Dasselbe Manöver ist mit dem gleichen Erfolg im Falle Orsinis wiederholt worden. Das ist aber noch nicht alles. Er wurde nicht nur veranlaßt, Bonaparte einen schrecklichen Skandal zu ersparen, sondern auch, sein Schweigen zu brechen und sich im Interesse Bonapartes zu kompromittieren. Man machte ihm Andeutungen über die geheimen Neigungen des Kaisers zugunsten der Freiheit Italiens, und so wurde er dazu gebracht, seinen Brief zu schreiben. Dann ging die Szene mit Jules Favre über die Bühne. Orsinis Brief wurde im „Moniteur" abgedruckt. Österreich sollte dadurch, daß ihm unmißverständlich gezeigt wurde, wie sehr Bonaparte noch immer die patriotischen Bestrebungen der Italiener zu lenken vermag, in Schrecken versetzt werden, damit es sich Bonapartes Forderungen gefügig erweise. Österreich wurde sogar beleidigt. Der Kopf Orsinis soll seinen Zorn dämpfen und als Gegenleistung dafür soll es sich in Italien noch mehr verhaßt machen und die schwachen Keime der Pressefreiheit in Wien ersticken.
Das ist, sei sie nun richtig oder falsch, die allgemeine Interpretation, die dem Fall Orsini gegeben wird. Was die ^meute von Chalon angeht, so ist sie nur ein warnendes Symptom. Selbst wenn jede Mannhaftigkeit in Frankreich ausgestorben wäre, würden die Menschen aus dem bloßen Gefühl der Selbsterhaltung zum Aufstand schreiten. In einem Straßenkampf zu sterben oder in Cayenne zu verfaulen, das ist die Alternative, die ihnen geblieben ist. Die Vorwände, unter denen die Verhaftungen durchgeführt werden - und jede Verhaftung kann nach Cayenne führen, so wie jede Straße nach Rom führt -. können an einem einzigen Fall erläutert werden. Es ist bekannt, daß vor einiger Zeit drei Pariser Juristen verhaftet wurden. Das Gericht, oder vielmehr der Rat der Rechtsanwälte, nahm sich der Sache an und wandte sich an den Justizminister; die Antwort war, daß keine Erklärungen gegeben werden könnten, daß aber diese drei Herren wegen „Intrigen und Machenschaften" während der zehn Monate zurückliegenden Pariser Wahlen ergriffen worden wären. Wenn also die erneute von Chalon offenbar völlig dem natürlichen Ablauf der Dinge entspricht, so paßt das bei dieser Gelegenheit gezeigte Verhalten der Offiziere der Garnison kaum zu den wilden Adressen, die die französische Armee befehlsgemäß an den „Moniteur" schicken mußte. Die Kasernen liegen auf dem rechten Ufer der Saone, während die Offiziere meist auf dem linken Ufer wohnen, wo der Aufstand stattfand. Anstatt an die Spitze ihrer Männer zur Verteidigung des Kaiserreiches zu eilen, unternahmen sie vorsichtig einige diplomatische Schritte, um zu erkunden, ob die Republik in Paris proklamiert wäre oder nicht. Selbst der „Moniteur" wagt es nicht, die Tatsache gänzlich zu unterschlagen. Er schreibt: „Die Offiziere der Garnison, die zur UnterpräfeJtfur geeilt waren, um Auskunft über die schön im Umlauf befindlichen Gerüchte zu erhalten, erzwangen sich den Weg mit dem Schwert in der Hand." Die „Patrie"13321 versucht, den peinlichen Vorfall zu verdrehen, indem sie schreibt, daß diese wißbegierigen Offiziere „den Unterpräfekten verhaften" wollten, „für den Fall, daß er sich auf die Seite der Republik stellen würde"; Tatsache aber ist, daß sie zum Unterpräfekten liefen, um inn zu fragen, ob es wahr wäre, daß in Paris die Republik ausgerufen sei. Erst auf seine Verneinung hin hielten sie es für richtig, ihren Berufseifer zu zeigen. Castellane ist bereits von Lyon aufgebrochen, um ihr Verhalten zu untersuchen. Mit einem Wort, die Armee zeigt Symptome der Unzufriedenheit. Die Art, in der die Armee im „Moniteur" zur Schau gestellt und zum Gegenstand des Gelächters von ganz Europa gemacht wurde, um dann John Bull zuliebe einfach beiseite geschoben zu werden; ihre Zerstückelung
in fünf Armeen, die Bonaparte in der Angst vornahm, ihren Oberbefehl in Pelissiers Hände abgeben zu müssen, der jetzt gegenüber seinem Meister kühl geworden ist; die verächtlichen Briefe, in denen Changarnier und Bedeau die ihnen erlaubte Rückkehr nach Frankreich abgelehnt haben; die Beförderung von Espinasse, der seit der Dobrudscha-Affäre[312J in den Kasernen allgemein verhaßt ist, auf einen außergewöhnlichen Vertrauensposten; und schließlich jenes dunkle Vorgefühl einer kommenden Wende in den Gezeiten, das stets die „denkenden Bajonette"t3331 Frankreichs ausgezeichnethat; all das hat dazu beigetragen, die Entfremdung der berechnenden Führer der Armee hervorzurufen. Neben der Affäre von Chalon ist General Mac-Mahons Verhalten im französischen Senat ein Zeugnis für diesen eigenartigen und recht unerwarteten Wandel. Seine Bemerkungen über das loi des suspectst3041 waren sehr offen, und seine Stimme war die einzige Gegenstimme unter Bonapartes goldbetreßten Lakaien.
Aus dem Englischen.
Karl Marx Die gegenwärtige Position Bonapartes13341
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5287 vom I.April 1858] Paris, 18. März 1858
„Risorgero nemico ognor piü crudo Cenere anco sepolto e spirto ignudo." („Als grausamerer Feind noch werd' ich auferstehn, auch wenn begrabne Asche nur und nackter Geist.") Diese beiden Zeilen aus Tassos „Jerusalem", die Orsini nach Favres Rede mit einem seltsamen Lächeln seinemVerteidiger zuflüsterte, beginnen bereits sich zu erfüllen. Die Haltung der Menge, die den Tod des italienischen Patrioten miterlebte, wird von einem Augenzeugen wie folgt geschildert: „Die Furcht der Regierung war so groß gewesen, daß eine ganze Division unter dem persönlichen Befehl eines Offiziers im Generalsrang aufgeboten wurde, die bei der Exekution zugegen war. Fünfzehntausend Soldaten waren bereit, auf das geringste Signal hin zu handeln, und alle Gänge und Ausgänge wurden wie zur Zeit eines Aufstands bewacht. Nach meiner Schätzung waren zwischen 90000 und 100000 Leute aus den Vorstädten, Arbeiter in ihren Blusen, auf den Straßen und freien Plätzen nächst dem Place de la Roquette versammelt; doch durch die Art und Weise, in der die Soldaten postiert waren, standen sie so, daß sie wenig oder gar nichts sehen konnten. Als das Beil mit einem toten, stumpfen Ton auf Orsini herniederfiel, ertönte als Antwort ein unermeßliches, aber unterdrücktes ,Vive la Republique!'1 Ich kann das nicht genau beschreiben, es war wie ein gewaltiges Raunen; es war kein Schrei oder Ruf, sondern es klang wie das Atmen oder das Seufzen von Tausenden menschlicher Wesen. Es wurde von der Obrigkeit wohl verstanden, denn die Soldaten erhoben auf der Stelle den wirrsten Lärm, den man sich vorstellen konnte, sie schlugen ihre Pferde, damit sie stampften und ausschlugen, sie rasselten mit ihren Waffen und brachten es fertig, das Flüstern des Volkes zu ersticken, ohne es eigentlich zu unterdrücken. Aber die Worte ,Vive la Republique!' müssen jedem deutlich vernehmbar gewesen sein. Ich
1 ,Es lebe die Republik!'
ging absichtlich zu Fuß nach Hause und drängte mich langsam durch die Gruppen, wo sie am dichtesten standen. Ich muß bekennen, daß ich überall Ausdrücke des Mitgefühls und der Bewunderung für Orsini hörte, dessen Verbrechen gänzlich vergessen zu sein scheint, während nur der Eindruck bleibt, den sein Mut und die Großherzigkeit gegenüber seinen Gefährten hervorgerufen haben. Pieris Namen habe ich nicht einmal gehört. Ich möchte sagen, die Haltung der Bevölkerung war äußerst bedrohlich, denn sie trug die Zeichen eines Hasses und eines Rachedursts, deren Tiefe in Worten nicht auszudrücken ist. Alle Bemerkungen, die ich hörte, wurden mit gedämpfter Stimme gemacht, als ob man jeden Augenblick einen Polizeispitzel fürchtete." Demzufolge scheint es, daß die Maßnahmen zur „ allgemeinen Sicherheit", die das republikanische Element ausrotten sollten, die Massenverhaftungen und Deportationen, ebensowenig gefruchtet haben wie die cites ouvrieres1* die neu eingerichteten Werkstätten und die anderen Versuche, das Gewissen der französischen Arbeiterklasse zu kaufen. Die bei früherer Gelegenheit2 erörterten Umstände, welche Orsinis Prozeß begleiteten, sind nun zum allgemeinen Gesprächsthema in Paris geworden. Es ist sogar durchgesickert, daß bei der Untersuchung der umfangreichen Korrespondenz von Orsini und Pieri Briefe ans Tageslicht kamen, die vor vielen Jahren von Louis-Napoleon geschrieben und eigenhändig unterzeichnet worden waren. Wäre der französische „Constitutionnel" noch in der angenehmen Position, die er zu Herrn Guizots Zeiten einnahm, würde man uns Tag für Tag mit der weihevollen Phrase bewirten: „L'horizon politique s'obscurcit."3 Das ist tatsächlich der Fall. Groß war die Bestürzung in den Tuilerien, als man von dem Verhalten der Offiziere der Garnison zu Chalon erfuhr, und maßlos die Wut über die naivete4 des „Moniteur", der Frankreich und Europa darüber informierte, daß die Offiziere von Chalon, anstatt auf der Stelle über die ganze Angelegenheit zu lachen und ihre Soldaten antreten zu lassen oder zu erklären, daß sie, selbst wenn man in Paris die Republik ausgerufen hätte, gegen diese für das Kaiserreich kämpfen würden, daß sie anstatt dessen zuerst zum Unterpräfekten gelaufen kamen und nicht geneigt waren, ihr Leben und ihre Stellungen für den Kaiser aufs Spiel zu setzen, ehe sie sich nicht versichert hatten, ob die Republik proklamiert war oder nicht. Die Tatsache beweist, daß die Masse der Armee nicht zuverlässig ist. Außer ihren Führern, die zu stark kompromittiert sind oder allzu glänzende Prämien erhalten haben, um ihre Geschicke von dem des Kaiserreiches lösen zu können, gibt es in der Armee vielleicht nur einen einzigen Teil, der vollkommen vertrauenswürdig ist, nämlich die
1 Arbeitersiedlungen - 2 siehe vorl. Band, S. 407-410 - 3 „Der politische Horizont verdunkelt sich." - 4 Naivität
Garde. Dieses Korps ist tatsächlich sehr stark, und es muß gewärtig sein, daß es unter jeder anderen Regierung in die Linie eingereiht oder überhaupt aufgelöst wird. Die Gardeinfanterie besteht aus vier Regimentern Grenadiere, zwei Regimentern Voltigeurs, einem Regiment Gendarmen, einem Regiment Zuaven und einem Bataillon Chasseurs - zusammen siebzehn Bataillone Infanterie. Außerdem zählt die Garde zwei Regimenter Kürassiere, zwei Regimenter Dragoner, ein Regiment Grenadiere zu Pferd, ein Kegiment Husaren und ein Regiment Chasseurs, oder insgesamt einundzwanzig Schwadronen Kavallerie; und auch die Gardeartillerie ist ziemlich stark. Die zahlenmäßige Stärke dieses Korps beträgt etwa 20000 Mann mit 40 bis 50 Kanonen, ein hinreichend fester Kern, um den Tendenzen zum Schwanken zu begegnen, die im Falle eines ernsthaften Kampfes mit der Pariser Bevölkerung in der Linie überhandnehmen könnten. Darüber hinaus ist alles für eine plötzliche Konzentration der Truppen aus den Provinzen vorgesehen, wie schon der oberflächlichste Blick auf eine Eisenbahnkarte Frankreichs beweist, so daß eine Bewegung, der es nicht gelingen würde, die Regierung zu überrumpeln, mit Sicherheit die gewaltige Macht von 60000 bis 80000 Mann gegen sich aufmarschiert sähe. Doch schon die Maßregeln selbst, die Bonaparte zur Unterdrückung eines bewaffneten Aufstands getroffen hat, machen es ganz unwahrscheinlich, daß er überhaupt ausbricht, es sei denn bei einer großen unvorhergesehenen Gelegenheit, wenn die entschieden antibonapartistische Haltung der Bourgeoisie, wenn die geheimen Gesellschaften, die die unteren Schichten der Armee unterwühlen, wenn die kleinliche Eifersucht, die verräterische Käuflichkeit und die orleanistischen sowie legitimistischen Neigungen, die ihre oberen Schichten spalten, die Geschicke aller Wahrscheinlichkeit nach zugunsten der revolutionären Massen wenden. Das Schlimmste, was den letzteren passieren könnte, wäre ein erfolgreicher Anschlag auf Bonapartes Leben. Vielleicht würde sich in diesem Falle die Antwort als Prophezeiung erweisen, die Morny zu Beginn des Krieges gegen Rußland auf Bonapartes Frage, was sie bei seinem plötzlichen Tode zu tun gedächten, gegeben hat; „Nous commencerions de jeter tous les Jeromes par la fenetre, et puis nous tacherions de nous arranger tant bien que mal avec les Orleans." („Wir würden damit beginnen, alle Jeromes aus dem Fenster hinauszuwerfen, und dann würden wir versuchen, uns recht und schlecht mit dem Haus Orleans zu verständigen.") Ehe die Bevölkerung der Faubourgs in der Lage wäre, ihre Entscheidung über den einzuschlagenden Weg zu treffen, könnte Morny seine Palastrevolution ausführen, die Orleans proklamieren und somit die Bourgeoisie in das antirevolutionäre Lager hinüberziehen.
Inzwischen tragen Bonapartes Enttäuschungen auf dem Gebiet der Außenpolitik in hohem Maße dazu bei, ihn in seinem Terrorsystem im Inneren anzutreiben. Auf jede Schlappe, die er von außen her erleidet, und die die Schwäche seiner Position verrät und den Bestrebungen seiner Gegner neuen Auftrieb gibt, folgen notwendigerweise neue Kundgebungen sogenannter „Stärke der Regierung". Und diese außenpolitischen Fehlschläge haben sich in den letzten Wochen schnell angehäuft. Zuerst ereignete sich das große Mißgeschick in bezug auf England[335J. Dann faßte sogar die Schweiz, obwohl sie sehr feige Konzessionen gemacht hatte, den Mut, sich gegen die weiteren Schritte zu wehren, die ihr in der rücksichtslosesten Weise aufgenötigt wurden. Der Eidgenossenschaft wurde offiziell erklärt, daß gegebenenfalls französische Infanterieregimenter einmarschieren und jene Polizeipflichten erfüllen würden, zu denen die Polizei der Schweiz selbst nicht in der Lage wäre. An diesem Punkt hielt es sogar Herr Kern für notwendig, seine Pässe zu verlangen, und die französische Regierung lenkte ein. Belgien, das sein Gesetz nach dem Diktat Bonapartes abgeändert hatte13361, lehnte es ab, sich der Forderung nach Ausweisung General Changarniers zu fügen. Der Ausschuß der piemontesischen Kammer, der mit der Aufgabe betraut war, den Gesetzentwurf zur Angleichung der sardinischen Institutionen an die idees napoleoniennest337] zu prüfen, schlug mit einer Mehrheit von fünf gegen zwei vor, das bonapartistische Projekt schlicht und einfach abzulehnen. Österreich, das sich völlig im klaren darüber ist, daß ihm Orsinis Hinrichtung den Helden von Straßburg[309] mit Haut und Haar ausgeliefert hat und daß er es nicht mehr mit Italien beunruhigen kann, zeigt ihm die kalte Schulter. Sich der Lächerlichkeit preiszugeben, ist für die französische Regierung der sicherste Weg, sich selbst zu vernichten. Bonaparte ist sich des grotesken Scheins bewußt, den seine letzten vereitelten Versuche, den Diktator Europas zu spielen, auf ihn geworfen haben. Je verächtlicher seine Position in Europa wird, um so schärfer empfindet er die Notwendigkeit, Frankreich gegenüber furchterregend zu erscheinen. Demzufolge dehnt sich die Terrorherrschaft in zunehmendem Maße aus. General Espinasse, der das Innenministerium leitet, wird nunmehr von Herrn Boittelle unterstützt,einem früheren Husarenoberst, der jetzt die Polizeipräfektur unter sich hat. Das System, das von diesen militärischen Myrmidonen des Zweiten Kaiserreiches praktiziert worden ist, wird in „The Continental Review"[338] wie folgt beschrieben: „Sie haben die alten Listen der Personen hergenommen, die nach den Unruhen von 1848 und 1851 von der Polizei als gefährlich bezeichnet worden waren, und sie haben diese Leute sowohl in Paris als auch in den Departements en masse verhaftet. Das alles geschah, ohne daß die geringsten Nachforschungen darüber angestellt
wurden, ob diese Personen seit jener Zeit Anlaß zur Klage gegeben haben oder nicht, und es ist zu den grausamsten Folgen gekommen. So sind ehrbare Bürger, die 1848 vom Wirbelsturm, der die ganze Nation aufwühlte, mitgerissen wurden, und die sich zu fortschrittlichen Ideen bekannten, die aber seitdem die Politik aufgegeben haben und von denen viele jetzt Familienoberhäupter und fleißige Geschäftsleute sind, durch die Polizei mitten aus ihren Geschäften und von ihren Familien gerissen worden. Es sind bekannte Tatsachen, die zeigen, wie wenig Ursache für die Verhaftungen bestand und wie sehr sogar der Schein der Gesetzlichkeit oder Notwendigkeit bei der Ausführung dieser Terrormaßnahmen fehlte. Unter den Personen, die die Polizeiagenten verhaften wollten, waren einige, die seit nicht weniger als sechs Jahren außerhalb Frankreichs weilten und die folglich kein Vergehen begangen haben konnten, die man aber, wenn sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Frankreich gewesen wären, unter dem Vorwand der .öffentlichen Sicherheit' unfehlbar ins Gefängnis geworfen hätte. Ja, mehr noch, in der Absicht, Verhaftungen vorzunehmen, ging die Polizei sogar in die Häuser mehrerer Personen, die seit einigen Jahren tot waren. Ihre Namen standen in den Listen der Personen, die ehemals verhaftet worden waren (und viele davon einfach deshalb, weil sie sich in der Menschenmenge auf den Straßen befunden hatten, das war ihr einziges Verbrechen). Hieraus wird deutlich, daß die Polizei nicht gegen die Schuldigen kämpft, sondern gegen die Verdächtigen, und die Art, in der das Gesetz gehandhabt wird, ist schon allein eine Rechtfertigung des Namens, den die öffentliche Meinung diesem Gesetz^304! beilegt. In den Departements geht es fast genauso zu wie in Paris. Die Listen der Verdächtigen wurden von den Verwaltungsbehörden aufgestellt, und wehe denjenigen, die es bei den Wahlen im vergangenen Juni gewagt hatten, sich dem vom Prätekten unterstützten Kandidaten entgegenzustellen, und die, in der Vorstellung, die Verfassung, das Wahlgesetz und die Zirkulare des Innenministers wären ernsthafte Realitäten, geglaubt hatten, sie könnten Maßnahmen für die Wahl der Kandidaten ihrer Neigung ergreifen. Diese letzteren werden als die ärgsten Verbrecher angesehen, und sie müssen entweder sehr reich, sehr einflußreich oder sehr gut durch Freunde geschützt sein, um der Rache jener Beamten zu entgehen, denen sie sich in den Weg gestellt hatten. Unter den in den Provinzen verhafteten Personen erscheint der Name des Generals Courtais, der, nachdem er 1848 als Oberbefehlshaber der Nationalgarde von Paris eine Rolle gespielt hatte, seit neun Jahren in der größten Zurückgezogenheit ein Landhaus im Departement Allier bewohnte, abgeschieden von der Gesellschaft und gänzlich entfremdet der Politik und den öffentlichen Angelegenheiten." Teils durch dieses System der „allgemeinen Sicherheit", teils durch die Schmerzen einer chronisch gewordenen kommerziellen Krise, wird die französische Bourgeoisie bald bis zu dem Punkt gebracht worden sein, wo sie eine Revolution zur „Wiederherstellung des Vertrauens" für notwendig erachten wird.
Karl Marx Pelissiers Mission in England
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5299 vom 15. April 1858] Paris, 27.März 1858 Die schwierigste Regierungsposition für einen Zivilisten ist die an der Spitze eines despotischen Militärstaats. Im Orient begegnet man dieser Schwierigkeit mehr oder weniger damit, daß man den Despoten in einen Gott verwandelt, wobei es die theokratischen Eigenschaften des Herrschers nicht zulassen, daß man an ihn den gleichen Maßstab anlegt wie an seine Krieger. Im kaiserlichen Rom entsprang die Vergöttlichung der Kaiser, obwohl sie nicht den gleichen Schutz gewährte, derselben Notwendigkeit. Nun, Louis Bonaparte ist ein Zivilist, obwohl er Herausgeber der Geschichte der Kanone war, aber er kann das römische Hilfsmittel nicht anwenden. Daher die sich anhäufenden Schwierigkeiten seiner Stellung. Im gleichen Maße, wie Frankreich des Jochs der Armee überdrüssig wird, wird die Armee kühner in ihrem Vorhaben, Bonaparte zu unterjochen. Nach dem 10.Dezembert339] konnte sich Bonaparte einbilden, er sei der Erwählte der Bauernschaft, d. h. der Masse des französischen Volkes. Seit dem Anschlag vom 14. Januar[301] weiß er, daß er der Gnade der Armee ausgeliefert ist. Nachdem er gezwungen worden war zuzugeben, daß er durch die Armee regiert, ist es ganz natürlich, daß diese versuchen wird, durch ihn zu regieren. Die Einteilung Frankreichs in fünf Paschaliks13071 war daher nur das Präludium für die Einsetzung Espinasses als Innenminister. Dem letztgenannten Schritt folgte die Ubergabe der Pariser Polizei an Herrn Boittelle, der 1830 ein Unteroffizier gewesen war und mit Herrn de Persigny im gleichen Regiment in La Fere gedient hatte, und der beim Ausbruch der Julirevolution versucht hatte, seine Kameraden zu dem Ausruf zu veranlassen: „Es lebe Napoleon II.!" Die Einsetzung Boittelles wird bekräftigt durch die Ernennung Pelissiers, des Herzogs von Malakoff, zum Vertreter seiner kaiserlichen Majestät beim
27 Marx/Engels, Werke. Bd. 12
Hof von Saint James[340]. Diese Ernennung bedeutet eine Schmeichelei für die Armee und eine Drohung für England. Es stimmt, daß der „Moniteur" sich bemüht, sie in ein Kompliment für John Bull umzuwandeln, aber Veuillot vom „Univers"f341], der bekanntlich petites et grandes entrees1 zu den Tuilenen hat, sagte das Ereignis in einem grimmigen Artikel voraus, der diesen bedeutungsvollen Absatz enthielt: „Der Stolz Englands ist verletzt. Die Wunde ist alt. Sie wurde auf der Krim an der Alma, bei Inkerman und auf dem Malachow-Hügel zugefügt, überall da, wo die Franzosen die ersten auf dem Schlachtfeld waren und am tiefsten in die Reihen des Feindes eindrangen. Saint-Arnaud, Bosquet, Canrobert, Pelissier, Mac-Mahon - das sind die Männer, die den Stolz Englands verletzt haben." Mit einem Wort, Napoleon III. hat seinen Menschikow nach London geschickt, wobei er übrigens recht froh ist, ihn eine Weile loszuwerden, da Pelissier von dem Augenblick an, als seine Ernennung zum Oberbefehlshaber der fünf Paschaliks aufgehoben wurde, die Haltung eines Frondeurs angenommen hatte. Die Kurse der Pariser Börse fielen sofort, als die Nachricht bekannt wurde. Pelissier hat mehr als ein Hühnchen mit England zu rupfen. Palmerston brandmarkte ihn 1842 vor seinen Wählern in Tiverton öffentlich als ein Ungeheuer und gab der Londoner Presse das Signal zu seiner allgemeinen Beschimpfung. Nach dem Krimfeldzug machte General de Lacy Evans im Unterhaus mehr als einmal Anspielungen auf Pelissier als den Haupturheber der Schande, welche die englische Armee vor Sewastopol erlitten hatte. Er wurde auch recht roh von der britischen Presse behandelt, die die Winke des Generals Evans weitschweifig erörterte. Schließlich nahm Pelissier bei einem Bankett für die Generale des Krimkrieges den ganzen Ruhm des Krimfeldzugs einfach für die französischen Adler in Anspruch und ließ sich nicht einmal dazu herab, John Bulls Mitarbeit zu erwähnen. Als Vergeltung zerhackte die Londoner Presse Pelissier erneut. Überdies ist es bekannt, daß seine Gemütsart völlig ungeeignet ist für die Rolle jener mythologischen griechischen Gestalt, die allein imstande war, die Wunden zu heilen, welche sie geschlagen hatte[342]. Wir können uns jedoch nicht der Meinung jener Londoner Zeitungen anschließen, die sich zu einer römischen Denkart aufschwingen und die Konsuln auffordern, dafür Sorge zu tragen, „ne respublica detrimenti capiat"2. Pelissier bedeutet Einschüchterung, aber er bedeutet nicht Krieg. Diese Ernennung ist ein bloßer coup de theätre.
1 freien Zutritt bei allen Gelegenheiten - 2 „daß der Staat keinen Schaden nehme"
Der breite Graben, der das perfide Albion von la belle France1 trennt, ist ihr Lacus Curtius[343], aber Bonaparte ist nicht der romantische Jüngling, der die gähnende Kluft schließt, indem er sich in den Abgrund stürzt und verschwindet. Er weiß von allen Männern Europas am besten, daß seine zerbrechliche Macht von dem Bündnis mit England abhängt, aber diesist eine für den Rächer Waterloos fatale Wahrheit, die er so gut wie möglich vor seinen bewaffneten Myrmidonen verbergen muß, indem er mit John Bull hart umspringt und das Bündnis selbst in das Gewand eines Lehnsverhältnisses kleidet, welches von Frankreich aufgezwungen und von England angenommen worden ist. Solcherart ist sein Spiel, ein höchst gefährliches Spiel, das leicht jenes Ende beschleunigen kann, welches es zu vermeiden trachtet. Wenn Pelissier bei seiner Einschüchterungsmission Mißerfolg erleidet, und er wird es sicherlich, dann ist die letzte Karte ausgespielt, und das Theaterspiel muß wirklichen Aktionen den Platz räumen, oder Bonaparte wird vor seiner Armee als ein überführter Betrüger dastehen, der hinter seinem napoleonischen Gebaren die traurige Figur des Londoner Konstabiers vom 10. April 1848 verbirgt13441. Im Grunde genommen war es nur das Bündnis mit England, das dem Neffen eine Zeitlang gestattete, den Onkel zu kopieren. Indem sie der Heiligen Allianz den Todesstoß versetzte und das europäische Gleichgewicht zerstörte, gab die enge Verbindung zwischen England und Frankreich Bonaparte, als dem kontinentalen Vertreter dieses Bündnisses, natürlicherweise den Anschein eines Schiedsrichters von Europa. Solange es ihm der Krieg gegen Rußland und der innere Zustand Frankreichs gestatteten, war er nur zu froh, sich mit seiner eher symbolischen als wirklichen Überlegenheit begnügen zu können. All dies hat sich geändert, seitdem der Frieden in Europa und die Armee in Frankreich herrscht. Jetzt verlangt die Armee von ihm den Beweis dafür, daß er die Diktatur in Europa wie ein wahrer Napoleon nicht in Treuhand für England, sondern trotz England ausübt. Daher seine Schwierigkeiten. Einerseits schüchtert er John Bull ein, andererseits gibt er ihm zu verstehen, daß er nichts Böses beabsichtigt. Er bittet ihn fast, aus Höflichkeit vor den Scheiridrohungen seines „erlauchten Verbündeten" erschreckt zu tun. Das ist der rechte Weg, John Bull hartnäckig zu machen, der merkt, daß er nichts riskiert, wenn er sich heldenhaft gebärdet.
Aus dem Englischen.
IVA I\Ü U IVICIIÄ Mazzini und Napoleon
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5321 vom 11.Mai 1858] Herr Mazzini hat kürzlich einen Brief an den französischen Kaiser gerichtet[345], der in literarischer Hinsicht wohl den ersten Platz unter seinen Schriften einnehmen muß. Nur wenige Spuren sind von jenem unechten Pathos, jener schwülstigen Größe und Weitschweifigkeit, jenem prophetischen Mystizismus übriggeblieben, die für viele seiner Schriften so charakteristisch sind und gewissermaßen die eigentümlichen Züge jener Schule der italienischen Literatur verkörpern, deren Begründer er ist. Auch eine Erweiterung seiner Auffassungen ist wahrnehmbar. Mazzini erschien bisher als das*Haupt der republikanischen Formalisten in Europa. Ausschließlich für die politische Form des Staates interessiert, hatten sie keinen Blick für die Organisation der Gesellschaft, auf der der politische Überbau ruht. Sich eines falschen Idealis. mus rühmend, hielten sie es für unter ihrer Würde, sich mit ökonomischen Tatsachen bekannt zu machen. Nichts ist leichter, als auf Kosten anderer Leute ein Idealist zu sein. Ein übersättigter Mensch mag leicht die Nase rümpfen über den Materialismus hungriger Menschen, die vulgäres Brot anstatt erhabene Ideen fordern. Den Triumvirn der Römischen Republik von 1848[346], die die Bauern der Campagna in einem Zustand der Sklaverei beließen, der weit schlimmer war als der ihrer Vorfahren aus der römischen Kaiserzeit, war es recht willkommen, sich weitschweifig über den gesunkenen geistigen Zustand auf dem Lande auslassen zu können. Jeder wirkliche Fortschritt in der modernen Geschichtsschreibung ist dadurch bewirkt worden, daß man von der politischen Oberfläche in die Tiefen des gesellschaftlichen Lebens hinabgestiegen ist. Indem er die verschiedenen Entwicklungsphasen des Grundbesitzes im alten Rom erforschte, hat Dureau de La Malle den Schlüssel zu den Geschicken jener welterobernden Stadt geliefert, neben dem Montesquieus Betrachtungen über ihre Größe und ihren
Verfall13471 fast wie die Deklamation eines Schulknaben erscheinen. Der ehrwürdige Lelewel hat durch seine mühevolle Erforschung der ökonomischen Verhältnisse^481, die den polnischen Bauern aus einem Freien in einen Leibeigenen verwandelten, mehr dazu beigetragen, Klarheit über die Unterjochung seiner Heimat zu schaffen, als der ganze Schwärm von Schriftstellern, deren geistiges Kapital einfach eine Denunziation Rußlands ist. Auch Herr Mazzini verschmäht es jetzt nicht, bei gesellschaftlichen Realitäten zu verweilen, bei den Interessen der verschiedenen Klassen, bei der Ausfuhr und Einfuhr, bei den Preisen für Bedarfsartikel, bei Mieten und anderen solch vulgären Dingen; vielleicht ist er betroffen von dem großen, wenn nicht gar tödlichen Schock, der dem Zweiten Kaiserreich versetzt worden ist, nicht durch die Manifeste der demokratischen Komitees, sondern durch die Handelskrise, die in New York begann, um die ganze Welt zu erfassen. Man kann nur hoffen, daß er bei diesem Punkt nicht stehenbleiben, sondern, frei von falschem Stolz, dazu übergehen wird, seinen ganzen politischen Katechismus im Lichte der ökonomischen Wissenschaft zu reformieren. Sein Brief an Louis-Napoleon beginnt mit dieser kraftvollen Anrede:
„Die Zeit, wo sich Ihr Schicksal erfüllt, rückt näher; die kaiserliche Flut ist sichtbar am Verebben. Auch Sie fühlen es. Alle Maßnahmen, die Sie seit dem 14.Januar in Frankreich eingeleitet haben, alle jene diplomatischen Noten und Aufforderungen, die Sie seit jenem verhängnisvollen Tage in alle vier Winde verstreut haben, verraten die Ruhelosigkeit des Schreckens. Ein Gefühl der heftigsten Todespein, das an die Qualen Macbeths erinnert, nagt an Ihrer Seele und offenbart sich in allem, was Sie tun oder sagen. Ein Vorgefühl beschleicht Ihr Inneres, daß summa dies et ineluctablie fatum1 bevorsteht. Der ,Than von Glamis, Than von Cawdor und König' - der Prätendent, Präsident und Usurpator sie sind gerichtet.^349] Der Zauber ist gebrochen. Das Gewissen der Menschheit ist aufgerüttelt, es starrt Sie unerbittlich an, es fordert Sie heraus, es prüft sorgfältig Ihre Handlungen und fordert Rechenschaft über Ihre Versprechungen. Von diesem Augenblick an ist Ihr Schicksal besiegelt. Sie mögen jetzt noch Monate leben - Jahre nicht mehr." Nachdem er so den Untergang des Zweiten Kaiserreiches angekündigt, vergleicht Mazzini den gegenwärtigen ökonomischen Zustand Frankreichs mit Napoleons glühenden Versprechungen der allgemeinen Prosperität:
„Als Sie gesetzwidrig die Macht an sich rissen, versprachen Sie, gleichsam als Sühne für ihren Ursprung, das rastlose, unruhige, Unruhe stiftende Frankreich zum Frieden zu führen. Ist Einkerkern, Knebeln, Verbannen - Herrschen? Ist der Gendarm ein Lehrer? Ist der Spitzel ein Apostel der Sittlichkeit und des gegenseitigen Ver
1 das Ende der Tag* und das unabwendbare Los (Vergil, „Aeneis", Buch II)
trauen s? Sie sagten dem ungebildeten französischen Bauern, daß mit Ihrem Kaiserreich für ihn eine neue Ära anbrechen würde und daß die Lasten, unter denen er stöhnt, alle, eine nach der anderen, verschwinden würden. Ist auch nur eine verschwunden? Können Sie auch nur eine einzige Verbesserung in seinem Los aufweisen - ist auch nur ein einziger Faktor der Besteuerung beseitigt? Können Sie erklären, wie es kommt, daß der Bauer sich jetzt in die Mariarinet350] einschreiben läßt? Können Sie leugnen, daß die Absorption der einst für die Landwirtschaft bestimmten Geldmittel durch die von Ihnen geöffneten Kanäle der industriellen Spekulation den Landmann der Möglichkeit beraubt hat, Vorschüsse für den Kauf von Arbeitsgeräten und für die Bodenverbesserung zu erhalten? Sie köderten den irregeleiteten Arbeitsmann, als Sie erklärten, daß Sie der Empereur du peüple1 sein würden, eine Art umgemodelter Heinrich IV., daß Sie ihm ständige Arbeit verschaffen würden, hohe Löhne und la poule au pot^351!. Ist nicht gerade jetzt la poule au pot etwas teuer in Frankreich? Ist nicht die Miete, sind nicht einige der lebensnotwendigsten Dinge noch teurer? Sie haben neue Straßen - neue Verbindungslinien, entworfen nach den strategischen Erfordernissen Ihrer Unterdrückungspolitik - angelegt, niedergerissen und wiederaufgebaut. Gehört aber die Mehrzahl der Arbeiterklasse zu der begünstigten Baubranche? Können Sie Paris und die größeren Provinzstädte unbegrenzt umstülpen, um dem proletaire eine Quelle der Arbeit und des Verdienstes zu schaffen? Können Sie auch nur davon träumen, aus solch einem künstlichen zeitweiligen Hilfsmittel einen Ersatz für regulären, normalen Fortschritt und lohnende Produktion zu schaffen? Hat die Nachfrage nach der Produktion jetzt einen befriedigenden Stand? Sind in Paris jetzt nicht drei Fünftel der Schreiner, Zimmerleute und Mechaniker ohne Beschäftigung? Der leicht erschreckten, leicht bezauberten Bourgeoisie wisperten Sie phantastische Träume ins Ohr, Hoffnungen auf eine verdoppelte industrielle Tätigkeit, auf neue Profitquellen, auf das Eldorado lebhafter Ausfuhr und internationalen Verkehrs. Wo sind sie? Stagnation schwebt bei Ihnen über dem schöpferischen Leben Frankreichs, Handelsaufträge gehen zurück, das Kapital beginnt sich zurückzuziehen. Wie der Barbar fällten Sie den Baum, um die Frucht zu pflücken. Sie haben künstlich eine wilde, unmoralische, alles versprechende und nichts erfüllende Spekulation angefacht; durch marktschreierisch angekündigte, riesige, aufgeblähte Vorhaben zogen Sie die Ersparnisse der kleinen Kapitalisten aus allen vier Ecken Frankreichs nach Paris und entzogen sie den einzig wahren ständigen Quellen des Nationalreichtums der Landwirtschaft, dem Gewerbe und der Industrie. Diese Ersparnisse wurden verschlungen, sie verschwanden in den Händen einiger Dutzend Großspekulanten; sie wurden maßlos für unproduktiven Luxus vergeudet oder geräuschlos und vorsichtig ich könnte Mitglieder Ihrer Familie anführen - ins sichere Ausland gebracht. Die Hälfte dieser Vorhaben ist in Vergessenheit und Nichtsein gesunken. Einige ihrer Urheber reisen vorsichtshalber im Ausland umher. Sie sehen sich einer unzufriedenen Bourgeoisie gegenüber, all Ihre normalen Hilfsquellen sind versiegt, auf Ihnen lastet der Alpdruck, etwa fünfhundert Millionen Francs für unproduktive öffentliche
Arbeiten in allen größeren Städten Frankreichs verausgabt zu haben; Sie haben ein offensichtliches Defizit von dreihundert Millionen in Ihrem letzten Budget; die Stadt Paris ist außerordentlich verschuldet; und Sie können keinen Ausweg zeigen, es sei denn, Sie würden eine neue Anleihe von einhundertundsechzig Millionen aufnehmen, und nicht in Ihrem Namen, sie würde keinen Erfolg haben, sondern im Namen des Stadtrates selbst, und um die Zinsenlast zu decken, müßten die Schlagbäume des verheißten Oktroi^352! bis zu den Außenbefestigungen vorverlegt werden. Die Abhilfe wird schwer auf der Arbeiterklasse leisten und die bisher ergebenen Vorstädte gegen Sie erbittern. Sie sind am Ende mit Ihren künstlichen Erfindungen; von nun an wird alles, was Sie unternehmen, um der finanziellen Schwierigkeiten Ihrer Lage Herr zu werden, einen Schritt in den verderblichen Abstieg bedeuten. Bisher haben Sie von einer unbegrenzten Reihe von Anleihen und Krediten gelebt; wo aber ist Ihre Garantie für verlängerten Kredit? Rom und Napoleon plünderten eine Welt; Sie haben nur Frankreich zum Plündern. Roms und Napoleons Armeen lebten von der Eroberung; Ihre kann es nicht. Sie mögen von Eroberung träumen, aber Sie können nicht und wagen nicht, sich darauf einzulassen. Die römischen Diktatoren und Ihr Onkel führten Eroberungsarmeen an; wie sehr Sie auch vergoldete Paradeuniformen lieben mögen, ich bezweifle Ihre Fähigkeit, auch nur einige zusammengezogene Bataillone zu führen." Von den materiellen Aussichten des Zweiten Kaiserreiches wendet sich Mazzini den moralischen zu und ist natürlich etwas bestürzt, als er die Beweise für die Behauptung, die Freiheit trage keine bonapartistische Livree, zusammenfaßt. Die Freiheit, nicht nur in ihren körperlichen Formen, sondern in ihrer eigentlichen Seele, ihrem intellektuellen Leben, ist unter der gemeinen Berührung dieser Resurrektionisten einer vergangenen Epoche zusammengeschrumpft. Infolgedessen sind die Vertreter des intellektuellen Frankreichs, die sich in keiner Weise durch eine übergroße Feinfühligkeit des politischen Gewissens ausgezeichnet und es niemals versäumt haben, sich um jedes Regime zu scharen, vom Regenten1 bis Robespierre, von Ludwig XIV. bis Louis-Philippe, vom Ersten Kaiserreich bis zur Zweiten Republik, zum ersten Male in der französischen Geschichte massenweise von einer bestehenden Regierung abgefallen. „Von Thiers bis Guizot, von Cousin bis Villemain, von Michelet bis Jean Reynaud schreckt das intellektuelle Frankreich vor Ihrer befleckenden Berührung zurück. Ihre Männer sind Veuillot, der Verteidiger der Bartholomäusnacht t353l und der Inquisition, Grgnier de Cassagnac, der Schutzherr der Negersklaverei, und ihresgleichen. Um einen Mann zu finden, würdig, Ihr an England gerichtetes Pamphlet zu unterstützen, müssen Sie sich nach einem umsehen, der ein Abtrünniger vom Legitimismus und ein Abtrünniger vom Republikanismus ist."
Mazzini trifft dann die wahre Bedeutung der Ereignisse vom 14. Januar, indem er erklärt, daß die Geschosse, die den Kaiser verfehlten, das Kaiserreich durchbohrten und die Hohlheit seiner Prahlereien bloßlegten. „Erst vor kurzer Zeit brüsteten Sie sich gegenüber Europa, Ihnen gehöre das Herz Frankreichs, das ruhig, glücklich und unerschütterlich Sie als seinen Retter lobpreise. Wenige Monate waren vergangen, man hörte die Explosion in der Rue Lepelletier, und nun erklären Sie nach sieben Jahren unbeschränkter Herrschaft durch Ihre wilden, überstürzten Unterdrückungsmaßnahmen, durch Ihre halb drohenden, halb bittenden Appelle an Europa, durch die von Ihnen durchgeführte militärische Zersplitterung des Landes, mit einem Haudegen im Innenministerium, mit einer überwältigenden, konzentrierten Armee, nach der Säuberung der nationalen Reihen von allen gefürchteten führenden Männern, daß Sie nicht leben und herrschen können, wenn nicht Frankreich in eine riesige Bastille und Europa in eine simple kaiserliche Polizeistation verwandelt wird... Ja, das Kaiserreich hat sich als Lüge erwiesen. Sie formten es, Herr, nach Ihrem Ebenbild. Mit Ausnahme Talleyrands hat in den letzten fünfzig Jahren kein Mensch in Europa mehr gelogen als Sie; und das ist das Geheimnis Ihrer zeitweiligen Macht." Die Lügen des Retters der Gesellschaft werden dann von 1831 an rekapituliert, als er sich der Insurrektionsbewegung der römischen Bevölkerung gegen den Papst als „einer heiligen Sache" anschloß[354], bis 1851, als er einige Tage vor dem coup d'etat der Armee sagte: „Ich werde nichts von Ihnen verlangen, das über mein Recht hinausgeht, das von der Verfassung anerkannt ist", und bis zum 2. Dezember selbst, als das endgültige Ergebnis seiner Usurpationsprojekte noch unentschieden war und er verkündete, daß „es seine Pflicht sei, die Republik zu beschützen". Und schließlich sagt Mazzini Napoleon rundheraus, daß ohne England er schon längst von der Revolution besiegt worden wäre. Nachdem er dann Napoleons Behauptung widerlegt, er habe das Bündnis zwischen Frankreich und England begründet, schließt er mit den Worten: „Was immer die gleisnerische, sich verstellende Diplomatie sagen mag, Sie, Herr, stehen nun allein in Europa."
Geschrieben am 30. März 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx Die Franzosenprozesse in London
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5309 vom 27. April 1858] Paris, 4. April 1858' Als Victor Hugo den Neffen als Napoleon den Kleinen bezeichnete, erkannte er den Onkel als Napoleon den Großen an. Der Titel seines berühmten Pamphlets[34] bedeutete eine Antithese und huldigte bis zu einem gewissen Grade eben jenem Napoleonkult, auf dem der Sohn der Hortense Beauharnais das bluttriefende Gebäude seiner Fortuna zu errichten verstand. Der jetzigen Generation wäre es dienlicher, wenn man ihr einprägte, daß Napoleon der Kleine wirklich die Kleinheit Napoleons des Großen verkörpert. Die treffendste Illustration hierfür liefern die jüngsten „schmerzlichen Mißverständnisse" zwischen England und Frankreich und die Strafrechtsverfahren gegen Emigranten und Buchdrucker, wozu auf seiten der englischen Regierung die „Mißverständnisse" geführt haben. Ein kurzer historischer Rückblick wird beweisen, daß Napoleon der Kleine während dieses ganzen erbärmlichen Melodramas mit peinlicher Genauigkeit die schäbige Rolle nur wiederholt hat, die vorher Napoleon der Große ersonnen und gespielt hatte. Lediglich in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Frieden von Amiens (25. März 1802) und der neuen Kriegserklärung Großbritanniens (18.Mai 1803)1355 ] konnte Napoleon seinem Verlangen nachgeben und sich in die inneren Angelegenheiten Großbritanniens einmischen. Er verlor keine Zeit. Noch waren die Friedensverhandlungen im Gange, und schon spuckte der „Moniteur" Gift und Galle gegen alle Londoner Zeitungen, die es wagten, „die maßvollen und aufrichtigen Absichten Bonapartes" in Frage zu stellen, und machte kaum verhüllte Andeutungen, daß „einem Zweifel daran binnen kurzem die Strafe folgen könnte". Doch beschränkte sich der Konsul nicht nur auf eine Zensur der Ausdrucksweise und Meinungsäußerungen der britischen
Presse. Der „Moniteur" beschimpfte Lord Granville und Herrn Windham ihrer Stellung wegen, die sie in der Debatte über die Friedensverhandlungen einnahmen. Das Parlamentsmitglied Herr Elliot wurde im Unterhaus von Generalstaatsanwalt Perceval zur Rechenschaft gezogen, weil er seine Zweifel an Bonapartes Absichten geäußert hatte. Lord Castlereagh und Pitt selbst gaben den Ton der Unterwürfigkeit an, indem sie, was noch niemals bei früheren Anlässen geschehen war, mit aller Schärfe darauf drangen, sich jeder polemischen Ausdrucksweise zu enthalten, wenn vom Konsul von Frankreich die Rede ist. Ungefähr sechs Wochen waren seit Friedensschluß' vergangen, als Talleyrand am 3. Juni 1802 Herrn Merry, dem britischen Bevollmächtigten in Paris, mitteilte, daß Bonaparte aus Rücksicht auf England beschlossen habe, Herrn Otto, den französischen Bevollmächtigten in London, durch einen wirklichen Botschafter in der Person des Generals Andreossi zu ersetzen; es sei aber des Ersten Konsuls aufrichtiger Wunsch, daß vor der Ankunft dieser erhabenen Persönlichkeit
„solche Hindernisse beseitigt sein sollten, die der völligen Aussöhnung beider Länder und ihrer Regierungen allzusehr im Wege ständen", t3561 Was er forderte, war, einfach aus den britischen Herrschaftsgebieten auszuweisen „alle französischen Fürsten und ihren Anhang mitsamt den französischen Bischöfen und anderen Franzosen, deren politische Grundsätze und deren Auftreten unvermeidlich großes Mißtrauen bei der französischen Regierung erregen muß... Der Schutz und die Gunst, denen alle fraglichen Personen weiterhin in einem Lande begegnen, das Frankreich so eng benachbart ist, müssen schon an sich stets als Ermutigung der Unzufriedenen hier betrachtet werden, auch wenn jene Personen selbst keinerlei Handlungen schuldig sind, die dazu führen, neue Unruhen in diesem Lande zu stiften; die hiesige Regierung besäße jedoch Beweise, daß diese Leute den Schutz, den sie in England genössen, und den Vorteil, den sie aus ihrer Nähe zu Frankreich zögen, jetzt mißbrauchten, da man kürzlich mehrere Drucksachen abgefangen hatte, von denen bekannt war, daß jene Leute sie versandt und ihre Verbreitung in Frankreich veranlaßt hatten, mit der Absicht, eine Opposition gegen die Regierung zu schaffen." Damals gab es in England ein Fremdengesetz, das jedoch ausschließlich zum Schutz der britischen Regierung entworfen worden war. In Beantwortung der Forderung Talleyrands erwiderte der damalige Außenminister Lord Hawkesbury: „Seine Majestät der König erwarte mit Bestimmtheit, daß alle Ausländer, die sich innerhalb seiner Herrschaftsgebiete aufhalten dürfen, nicht nur ein Leben führen, das den Gesetzen des Landes entspricht, sondern sich auch aller Handlungen enthalten,
die gegen die Regierung irgendeines Landes gerichtet sind, mit der Seine Majestät friedliche Beziehungen unterhalten möchte. Solange sie sich jedoch diesen Grundsätzen entsprechend verhalten, hielte Seine Majestät es mit seiner Würde, mit seiner Ehre und mit den allgemeinen Gesetzen der Gastfreundschaft für unvereinbar, sie jenes Schutzes zu berauben, den die in seinen Gebieten ansässigen Personen nur durch ihr eigenes schlechtes Verhalten verwirken können. Der größere Teil der in Herrn Talleyrands Unterredung erwähnten Personen lebe in Zurückgezogenheit." . Als er Lord Hawkesburys Depesche an Talleyrand übermittelte, sparte Herr Merry keineswegs mit Versicherungen, die dazu bestimmt waren, „den Ersten Konsul zu besänftigen, zu beruhigen und zu befriedigen". Talleyrand bestand jedoch auf seinem Pfund Fleisch und behauptete, daß der Erste Konsul nicht mehr gefordert, als was die britische Regierung selbst von Ludwig XIV. verlangt hätte, als sich der Prätendent1 in Frankreich aufhielt; daß er in der vorgeschlagenen Maßnahme keinerlei Demütigung sehen könne und wiederholen müsse, „daß deren Annahme für den Ersten Konsul höchst angenehm und zufriedenstellend wäre", und von ihm betrachtet würde „als der überzeugendste Beweis für den Wunsch Seiner Majestät, ein herzliches, gutes Einvernehmen zwischen den beiden Ländern hergestellt zu sehen". Am 25. Juli 1802 übersandte Herr Otto von seinem Sitz in Portman Square aus einen Brief an Lord Hawkesbury, in dem er in sehr kategorischer Weise nichts weniger forderte als die Unterdrückung der Freiheit der englischen Presse, soweit es Bonaparte und seine Regierung betraf.
„Ich übermittelte", so hieß es, „vor einiger Zeit Herrn Hammönd eine Nummer der Zeitschrift von Peltier, die die gröbsten Verleumdungen der französischen Regierung und der ganzen Nation enthielt, und ich bemerkte dazu, daß ich wahrscheinlich einen Auftrag erhalten würde, die Bestrafung eines solchen Mißbrauchs der Presse zu fordern. Dieser Auftrag ist tatsächlich eingetroffen, und ich kann Ihnen nicht verhehlen, mein Herr, daß die wiederholten Beleidigungen von seiten einer kleinen Anzahl von Ausländern, die in London zusammengekommen sind, um gegen die französische Regierung zu konspirieren, die schlimmsten Folgen für das gute Verhältnis der beiden Nationen nach sich gezogen haben... Ich muß die Aufmerksamkeit der Regierung Seiner Majestät nicht allein auf Peltier lenken, sondern auch auf den Redakteur des .Courrier Francis de Londres' (Reignier), auf Cobbett und auf andere Schriftsteller dieser Gattung... Der Mangel an ausdrücklichen Gesetzen gegen diese Art von Beleidigungen kann die Verletzung des Völkerrechts nicht entschuldigen, wonach der Frieden Feindseligkeiten jeglicher Art ein Ende setzen sollte; und zweifellos sind jene, die die Ehre und den Ruf einer Regierung verletzen und deren Trachten darauf gerichtet ist, unter dem Volk, dessen Interessen dieser Regierung anvertraut
sind, einen Aufruhr zu entfachen, am ehesten dazu geeignet, die Vorteile des Friedens zu vermindern und nationale Verstimmungen zu nähren." Anstatt diesen ersten Vorwürfen, die die bonapartistische Einmischung in die Angelegenheiten der Presse kennzeichnen, mit einer festen und würdigen Antwort zu begegnen, gab Lord Hawkesbury in einem Brief an Herrn Otto am 28. Juli eine erbärmliche Entschuldigung für das Bestehen der Pressefreiheit ab. Er sagt darin, daß es „für die Regierung Seiner Majestät unmöglich ist, Peltiers Artikel zu prüfen, ohne das größte Mißfallen und den dringenden Wunsch zu empfinden, daß derjenige, der ihn veröffentlicht hat, die ihm gebührende Strafe erleiden sollte". Dann schließt er nach einem Lamento über die „Unannehmlichkeiten" bei Verleumdungsklagen und über die „Schwierigkeit", eine Verurteilung der Verleumder zu erreichen, mit der Feststellung, daß er die Angelegenheit dem Attorney-General1 des Königs übergeben habe, „um dessen Meinung zu erfahren, ob es ein Schmähartikel sei oder nicht". Während die britische Regierung so einen Kreuzzug gegen die Pressefreiheit vorbereitete, um die Empfindlichkeit des großen und neuen Verbündeten zu besänftigen, erschien am 9.August plötzlich ein drohender Artikel im „Moniteur", der England nicht nur beschuldigte, französische Räuber und Meuchelmörder aufzunehmen, in Jersey zu beherbergen und auf Raubzüge an den Küsten Frankreichs auszusenden, sondern den englischen König selbst als Belohner und Anstifter von Meuchelmorden hinstellte.
„Die ,Times', die unter Kontrolle der Regierung stehen soll, ist voll von unaufhörlichen Ausfällen gegen Frankreich. Zwei ihrer vier Seiten werden Tag für Tag dazu verwandt, um die gröbsten Verleumdungen in Umlauf zu bringen. Alles, was die Phantasie an Schändlichkeit, Gemeinheit und Niederträchtigkeit ersinnen kann, schreibt diese elende Zeitung der französischen Regierung zu. Welches Ziel verfolgt sie? Wer bezahlt das? Was soll das bewirken? Doch selbst die ,'Times' wird übertroffen von einer französischen Zeitung, die von einigen elenden Emigranten herausgegeben wird, dem Uberrest des Unreinsten, einem gemeinen Abschaum, ohne Vaterland, ohne Ehre, besudelt mit Verbrechen, die keine Amnestie abwaschen kann." „Elf Bischöfe, Rebellen gegen ihr Land und die Kirche, haben sich unter dem Vorsitz des abscheulichen Bischofs von Arras in London versammelt. Sie drucken Schmähschriften gegen die Bischöfe und die französische Geistlichkeit." „Die Insel Jersey ist voller Räuber, die nach Friedensschluß wegen Mord, Raub und Brandstiftung verhaftet und von den Tribunalen zum Tode verurteilt worden sind. Georges trägt in London öffentlich2 sein rotes Band als Belohnung für die Höllenmaschine, die einen Teil von Paris zerstörte
und dreißig Frauen, Kinder und friedliche Bürger tötete. Diese besondere Protektion berechtigt zu der Annahme, daß er bei mehr Glück mit dem Hosenbandorden ausgezeichnet worden wäre." „Entweder billigt und duldet die englische Regierung diese Staats- und Privatverbrechen, wobei man dann nicht sagen kann, solch ein Verhalten sei mit der britischen Hochherzigkeit, Zivilisation und Ehre vereinbar, oder-die Regierung kann sie nicht verhindern, dann verdient sie nicht den Namen einer Regierung, vor allem, wenn sie nicht die Mittel besitzt, Mord und Verleumdung zu unterdrücken und die soziale Ordnung zu schützen." Als der drohende „Moniteur" spät abends in London eintraf, rief er eine solche Entrüstung hervor, daß der „True Briton"[357], das Regierungsblatt, gezwungen war zu erklären: „Dieser Artikel konnte nicht mit Wissen oder Einverständnis der französischen Regierung in den ,Moniteur' gelangen." Im Unterhaus forderte Dr. Laurence Herrn Addington (später Lord Sydmouth) auf, sich zu den französischen Verleumdungen Seiner Majestät zu äußern. Der Minister antwortete, „er wünsche, er könnte dem gelehrten Herrn die befriedigenden Erklärungen zeigen, die zu dieser Frage abgegeben worden sind". Es wurde darauf entgegnet, daß die britische Regierung aus einer Spöttelei über Bonaparte und seine Frau eine Staatsaffäre mache und Herrn Peltier wegen seiner Scherze über diese Leute vor das Oberhofgericht[358] brächte und als Verbrecher anklagte, während sie in dem anderen Falle, wo die britische Nation und ihr königlicher Herr in der offiziellen Zeiung Frankreichs beleidigt und als Belohner von Mördern hingestellt würden, die Angelegenheit mit einer „Erklärung" abtun wolle, die noch dazu so geheim sei, daß man sie nicht demParlament mitteilen dürfe. Ermutigt durch die offensichtliche Wankelmütigkeit der englischen Regierung trat Otto am 17. August 1802 mit einer äußerst unverschämten Note an Lord Hawkesbury auf, in welcher regelrecht die Forderung erhoben wird, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um alle unpassenden und aufrührerischen Publikationen in englischen Blättern zu unterdrücken, gewisse Personen aus Jersey zu vertreiben, die französischen Bischöfe auszuweisen, Georges und seinen Anhang nach Kanada zu bringen und die französischen Fürsten nach Warschau zu senden. Unter Bezugnahme auf das Fremdengesetz besteht Herr Otto darauf, daß die Regierung „gesetzliche und genügende Vollmacht" besitzen muß, „um Ausländer in Schranken zu halten, auch ohne Inanspruchnahme der Gerichtshöfe", und er fügt hinzu:
„Die französische Regierung, die in diesem Punkt völlige Gegenseitigkeit anbietet, liefert einen neuen Beweis ihrer friedlichen Absichten, indem sie fordert, daß diese Personen fortgeschickt werden sollten, deren Machenschaften einheitlich darauf gerichtet sind, Zwietracht zwischen den beiden Nationen zu säen."
Lord Hawkesbury antwortete am 28. August in Form einer Depesche an den englischen Bevollmächtigten in Paris. Diese Antwort ist während des kürzlichen Streits mit Bonaparte III. von der Londoner Presse als Muster staatsmännischer Würde bezeichnet worden; man muß aber eingestehen, daß trotz der Ausdrücke sittlicher Entrüstung, in denen sie abgefaßt ist, Zusagen gemacht werden, die französischen Emigranten den mißtrauischen Befürchtungen des Lrsten Konsuls zu opfern. Anfang 1803 unternahm es Napoleon, die Verfahren des Parlaments zu regeln und die Redefreiheit seiner Mitglieder zu beschränken. Bezüglich der ehemaligen Minister Windham, Lord Granville und Lord Minto erklärte er in seinem „Moniteur" wörtlich: „Es wäre ein patriotisches und weises Gesetz, welches vorschriebe, daß abgesetzte Minister die ersten sieben Jahre nach ihrer Amtsenthebung nicht im englischen Parlament sitzen dürften. Ein weiteres nicht weniger weises Gesetz wäre, daß jedes Mitglied, das ein befreundetes Volk oder eine befreundete Macht beleidigte, zwei Jahre lang zum Schweigen verurteilt werden sollte. Wenn die Zunge beleidigt, muß die Zunge bestraft werden." Gleichzeitig beklagte sich General Andreossi, der inzwischen in London eingetroffen war, in einer Note an Lord Hawkesbury, daß die abscheulichen Skribenten und Lästerer der britischen Presse „in ihren unverschämten Bemerkungen ständig durch einzelne Sätze unterstützt worden seien, die sie den Reden einiger führender Mitglieder des Parlaments entnommen hätten". Von diesen Reden wird behauptet, daß „jeder vernünftige Engländer sich durch solch unerhörte Zügellosigkeit erniedrigt fühlen müsse". Im Namen des Ersten Konsuls spricht er den Wunsch aus, „daß man Mittel ergreifen sollte, um in Zukunft zu verhindern, daß die Ereignisse in Frankreich überhaupt erwähnt werden, sowohl in den offiziellen Diskussionen als auch in den polemischen Schriften Englands, und gleicherweise sollten in den französischen offiziellen Diskussionen und polemischen Schriften nicht die Ereignisse in England erwähnt werden". Während sich Bonaparte in diesem Ton, in welchem sich Heuchelei mit Arroganz vermischte, unter der Hand an die britische Regierung wandte, strotzte der „Moniteur" von Beleidigungen gegen das britische Volk und veröffentlichte auch einen offiziellen Bericht des Oberst Sebastiani, der die verletzendsten Beschuldigungen gegen die britische Armee in Ägypten enthielt. Am 5. Februar 1803 besaß der französische Commissaire de Relation Commerciale1 in Jersey, obwohl in keinerlei offiziellen Eigenschaft anerkannt,
die Frechheit, eine Beschwerde gegen einige Buchdrucker anzustrengen, weil sie etliche gegen Bonaparte gerichtete Absätze aus den Londoner Zeitungen zitiert hatten, und er drohte, falls man diese Praxis nicht bestrafe, würde sich Bonaparte ganz gewiß an Jersey rächen. Diese Drohung hatte den gewünsch-, ten Erfolg. Zwei Drucker wurden vor das königliche Gericht gebracht, und es wurde ihnen das ausdrückliche Verbot auferlegt, etwas gegen Frankreich zu veröffentlichen, auch wenn es aus den Londoner Zeitungen stamme. Am 20. Februar 1803, einen Tag vor dem Peltier-Prozeß, wurde der englische Gesandte in Paris, Lord Whitworth, vor den großen Mann selbst geladen. Beim Empfang in dessen Kabinett wurde Whitworth zum Platz nehmen aufgefordert, nachdem sich Bonaparte an der anderen Seite des Tisches niedergelassen hatte. Er zählte die verschiedenen Provokationen auf, die ihm angeblich von England widerfahren waren.
„Er weise auf die Beleidigungen hin, die in den englischen Druckschriften über ihn verbreitet würden, aber dies, so sagte er, beachte er nicht so sehr wie das, was in den in London veröffentlichten französischen Zeitungen erscheine. Dies betrachte er als viel schädlicher, da es bezwecke, sein Land gegen ihn und seine Regierung aufzuwiegeln. Er beklage sich über den Schutz, der Georges und seinesgleichen gewährt würde; er gebe zu, daß seine Empörung gegen England täglich zunehme, weil jeder von England her wehende Wind ihm nichts als Feindschaft und Haß brächte... Als Beweis seines Wunsches, den Frieden zu erhalten, wolle er wissen, was er bei einem Krieg gegen England gewinnen könne. Eine feindliche Landung wäre das einzige Mittel des Angriffs, das er besitze, und er wäre entschlossen, eine Landung zu versuchen, indem er sich selbst an die Spitze des Feldzugs stelle. Er gebe zu, daß die Chancen hundert zu eins gegen ihn ständen, aber er wäre doch entschlossen, es zu versuchen, wenn Krieg die Folge der gegenwärtigen Auseinandersetzung sein sollte, und die Haltung der Truppen wäre so, daß sich eine Armee nach der anderen für dieses Unternehmen bereit finden würde... Damit der Frieden erhalten bleibe, müßte der Vertrag von Amiens erfüllt werden, die Beleidigungen in öffentlichen Druckschriften müßten, wenn nicht vollständig unterdrückt, so doch zumindest in Grenzen gehalten und auf die englischen Zeitungen beschränkt bleiben, und der Schutz, der seinen bittersten Feinden so offen gewährt würde, müßte zurückgezogen werden." Am 21. Februar wurde Peltier vor Lord Ellenborough und ein Sondergericht geladen wegen Verleumdung Bonapartes und wegen der „Absicht, das Volk Frankreichs zur Ermordung seines Herrschers aufzuwiegeln". Lord Ellenborough besaß die Gemeinheit, seine Ansprache an die Geschworenen mit folgenden Worten zu beenden:
„Meine Herren, ich vertraue darauf, daß Ihr Urteil die Beziehungen stärken wird, durch welche die Interessen dieses Landes mit den Interessen Frankreichs verbunden
Sind, und daß es in jedem Winkel der Welt die lang und allgemein gehegte Überzeugung von der unbefleckten Reinheit der britischen Rechtspflege illustrieren und rechtfertigen wird." f328' Die Geschworenen sprachen, ohne sich erst zurückzuziehen, sofort das Urteil: Schuldig, infolge des späteren Bruches zwischen den beiden Ländern wurde Herr Peltier jedoch nicht aufgefordert, das Urteil anzunehmen, und damit endete die Anklage. Nachdem er die britische Regierung zu dieser Verfolgung der Presse getrieben und ihr die Verurteilung Peltiers abgerungen hatte, veröffentlichte der ehrliche und tapfere „Moniteur" am 3. März 1803 folgenden Kommentar: „Eine Person namens Peltier wurde vor einem Gerichtshof in London für schuldig befunden, einige gemeine Schmähschriften gegen den Ersten Konsul gedruckt und veröffentlicht zu haben. Nur ist nicht ganz klar, warum die englische Regierung danach trachtet, dies zu einer Aufsehen erregenden Angelegenheit zu machen. Da in den englischen Zeitungen behauptet worden ist, der Prozeß sei auf Verlangen der französischen Regierung eingeleitet worden und der französische Gesandte sei sogar im Gerichtssaal gewesen, als die Geschworenen ihr Urteil fällten, sind wir zu der Erklärung ermächtigt, daß niemals so etwas vor sich gegangen ist. Der Erste Konsul wußte nicht einmal von der Existenz der Schmähschriften Peltiers, bis sie durch die offiziellen Prozeßberichte zu seiner Kenntnis gelangten. Man muß iedoch anerkennen, daß dies«: Gerichtsverfahren, so nutzlos es auch in anderer Beziehung sein mag, den Fv?die diesem Prozeß vorstanden, Gelegenheit geboten hat, durch ihre W* Unparteilichkeit unter Beweis zu stellen, daß sie wirklich würdig sind, bei ei aern 4 . Recht zu sprechen, das in so manchen Beziehungen so aufgeklärt und schätzenswert ist." Während der „Moniteur" in dem gleichen Artikel unterstrich, daß allen „zivilisierten Nationen Europas" die Pflicht auferlegt wäre, gegenseitig die Barbaren der Presse niederzuhalten, ließ der französische Bevollmächtigte in Hamburg, Herr Reinhard, den Hamburger Senat zusammentreten, um eine Forderung des Ersten Konsuls zu beraten, in dem „Hamburger Correspondenten"[359] einen Artikel aufzunehmen, der höchst beleidigend für die britische Regierung war. Der Wunsch des Senats lautete, wenigstens die beleidigendsten Passagen auslassen oder mildern zu dürfen. Herr Reinhard aber sagte, daß seine Anordnungen auf volle und exakte Aufnahme des ganzen Artikels lauteten. Demzufolge erschien der Artikel in seiner ursprünglichen Schärfe. Der französische Minister wünschte, daß derselbe in den Zeitungen Altonas veröffentlicht würde. Die dänischen Behörden aber sagten, daß sie dies unmöglich ohne ausdrückliche Anordnung ihrer Regierung gestatten könnten. Infolge dieser Weigerung erhielt der französische Gesandte in Kopenhagen, Herr d'Aguesseau, von seinem Kollegen in Hamburg ein Exemplar des
Artikels mit der Aufforderung, für seine Veröffentlichung in den dänischen Zeitungen einzutreten. Als Lord Whitworth bei Herrn Talleyrand wegen dieses Schmähartikels Einspruch erhob, erklärte dieser, „die britischen Minister dürften nicht mehr überrascht sein als es der Erste Konsul beim Anblick eines solchen amtlich genehmigten Artikels gewesen wäre; von Herrn Reinhard wäre eine sofortige Erklärung verlangt worden usw." So war Napoleon der Große.
Geschrieben am 4. April 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx [Die Finanzlage Frankreichs]
[„New-York Daily Tribüne'" Nr. 5312 vom 30. April] Paris, 13.April 1858 Schon allein durch die Gewalt der Umstände sieht sich das restaurierte Kaiserreich immer mehr gezwungen, seine zufälligen Reize aufzugeben und seine wahren Züge in ihrer angeborenen Scheußlichkeit zu zeigen. Die Stunde der Geständnisse ist unerwartet über das Kaiserreich hereingebrochen. Es hatte bereits jeden Anspruch darauf, eine reguläre Regierung» d. h. der Sproß des „suffrage universel"1 zu sein, fallengelassen und sich als das Regime des Emporkömmlings, des Denunzianten und des 12pfünders[360] proklamiert. Jetzt geht es einen Schritt weiter und bekennt, das Regime eines Schwindlers zu sein. Der „Moniteur" vom 11 .April enthält eine Notiz, die besagt, daß gewisse Zeitungen voreilig die Festsetzung der Dividende auf Aktien gewisser Eisenbahn-Kompanien und anderer industrieller Gesellschaften angekündigt und die Ziffer dieser Dividende niedriger angegeben haben, als sie von den Verwaltungsräten beschlossen worden ist.
„Dies sind Manöver, gegen die man die Industrie und das Kapital des Landes schützen muß. Die Herausgeber der erwähnten Zeitungen sind Vör den Procureur imperial2 geladen worden, und man warnte sie, daß in Zukunft solche Dinge vors Gericht kommen würden, da die Verbreitung falscher Ansichten ein Vergehen darstelle. Die Pflicht der Presse besteht darin, die Öffentlichkeit aufzuklären, und nicht»-sie zu betrügen." Mit anderen Worten, es ist die Pflicht der Presseleute, bei Strafe einer Deportierung nach Cayenne, den Credit mobilierf32J zu unterstützen, anstatt die Öffentlichkeit vor dem drohenden Zusammenbruch dieses Riesenbetrugs zu warnen, wie sie es kürzlich getan haben, wenn auch in sehr schüchternem
1 „allgemeinen Wahlrechts" - 2 kaiserlichen Staatsanwalt
und kleinlautem Ton. Der Credit mobiiier soll seine Jahreshauptversammlung am 29. April durchführen und seine Dividende für das verflossene Jahr bekanntgeben. Während seine Direktoren sich in ein undurchdringliches Geheimnis hüllten, wurden die unheilvollsten Gerüchte darüber verbreitet, wie die erwartete Dividende „gebraut" werden soll, und eine Zeitung wagte die Tatsache anzudeuten, daß auf der vor einiger Zeit stattgefundenen Versammlung einer mit dem Credit mobiiier verbundenen Gesellschaft der Direktor kaltblütig ankündigte, daß, obgleich er nur eine Dividende von 8 Prozent auswerfen könne, die Gesellschaft sich doch in einer weit besseren Lage befände, als im Vorjahre, als er 25 Prozent gab. Der Artikelschreiber wagte es, seinen Verdacht auszusprechen, daß vielleicht manche Dividende dieser „und anderer" Gesellschaften aus dem Kapital und nicht aus den erzielten Profiten gezahlt würde. Daher der Zorn des „Moniteur". Die Aktien des Credit mobiiier, die am 10. Februar mit 957 bis 960 frs. und am 10. März mit 820 bis 860 frs. notiert wurden, waren am 10. April auf 715 bis 720 frs. gefallen, und sogar diese letzte Notierung war nur nominell. Es gab kein Mittel zur Verheimlichung der üblen Tatsache, daß sich die österreichischen und preußischen Aktienbesitzer entschlossen hatten, nicht weniger als 6000 Aktien zu verkaufen, und daß die Compagnie generale Maritime1, eine der phantastischen Schöpfungen der Pereires, in articulo mortis2 lag, da sie sich in Spekulationen eingelassen hatte, die alles andere als „maritime" waren. Es ist eine feine Idee, würdig eines politischen Ökonomen vom Format eines Generals Espinasse, sich vorzustellen, daß Drohungen im „Moniteur" sowohl Kredit als auch Schweigen erzwingen würden. Die Warnung wird wirken, aber in einer ganz entgegengesetzten Richtung, um so mehr, da sie von einer Regierung stammt, deren finanzielle Betrügereien Gegenstand aller Gespräche geworden sind. Bekanntlich sah das von Herrn Magne, dem Finanzminister, aufgestellte Budget einen Überschuß vor, aber durch die Indiskretion irgendeines Mitgliedes des Cour de Revision3 sickerte durch, daß es in der Tat ein Defizit von etwa 100 000 000 Francs aufwies. Als Herr Magne vor den „Retter des Eigentums"[361) zu einer Erklärung zitiert wurde, hatte er die Unverfrorenheit, seinem Herrn gelassen zu erklären, er kenne des Meisters Vorliebe für einen „Überschuß" und habe einen Haushaltsplan „gebraut", wie es die Minister des Louis-Philippe vor ihm getan hätten. Da ruhte die Angelegenheit, aber das öffentliche Interesse, das diesem Vorfall beigemessen wurde, trieb die Regierung zu einem Geständnis. Nachdem sie im „Moniteur" großartig verkündet hatte, im Monat Februar hätten sich die
1 Allgemeine Seegesellschaft - 2 den letzten Zügen - 8 Revisionshofes
Zolleinnahmen erhöht, wagte sie es nicht, zu ihrer eigenen Behauptung zu stehen. Die Ende März veröffentlichten monatlichen Zolleinnahmen zeigen, daß die Einfuhrzölle im letzten Februar, sogar in der offiziellen Version, nur 13 614 251 Francs betragen haben, während sie sich im entsprechenden Monat von 1857 auf 14 160 013 Francs beliefen, und daß sie in den Monaten Januar und Februar zusammen nur 25 842 256 Francs erreicht haben gegen••1 OO F\AA A"70 1 1 • 1 A K . 10C7 T-V • . 1 L • RN • ;; uoer urt t/o in aen gieicnen monaren von IOJJ. uas ist also cue otnzielle Bedeutung der Worte von dem „Schutz der Industrie und des Kapitals des Landes gegen Manöver" und der „Aufklärung der Öffentlichkeit", anstatt „sie zu betrügen". Die Neuinszenierung des coup d'etat in vergrößertem Maßstab, die Massendeportationen, die Zerstückelung Frankreichs in prätorianische Lager[307], die Kriegsgerüchte, die Komplikationen außerhalb und die Konspirationen innerhalb - mit einem Wort: die krampfhaften Anstrengungen des kleineren Kaiserreiches seit dem Attentat vom 14. Januar[301] haben die allgemeine Aufmerksamkeit von der finanziellen Lage Frankreichs etwas abgelenkt. Sonst wäre die Öffentlichkeit gewahr geworden, daß sich in diesem Zeitraum die künstliche Prosperität des bonapartistischen Regimes bereits in ihre elementaren Bestandteile aufgelöst hat: Unterschlagung und Spekulation. Zum Beweis dieser Behauptung will ich mich damit begnügen, solche Tatsachen aufzuführen, die von Zeit zu Zeit ihren Weg in die europäische Presse gefunden haben. Da ist zunächst Herr Prost, der Chef der Compagnie generale de Caisses d'Escompte1, die sich nicht nur in allerlei Arten von Börsenspekulation einließ, sondern es auch übernahm, Diskontobanken in ganz Frankreich einzurichten. Das Kapital betrug 6000 000 Dollar bei 60 000 Aktien. Sie hatte.eine Verschmelzung mit dem portugiesischen Credit mobilier zustande gebracht und war magna pars2 des Credit mobilier von Madrid. Das ganze Kapital ist hin, und die Verpflichtungen belaufen sich auf ungefähr 3 000 000 Dollar. Herr Damonieu von der Compagnie Parisienne des Equipages de grandes Remises3 wurde vom tribunal de police correctionnelle4 verurteilt, weil er seine Aktionäre um 1000 000 Dollar in bar und in Aktien betrogen, sie in Schulden bis zum Betrage von 400 000 Dollar gestürzt und das ganze Kapital von 1 600 000 Dollar vergeudet hatte. Der Geschäftsführer einer anderen Gesellschaft - der Ligneenne5 der vorgab, Papier aus Holz herzustellen, ist auch wegen Veruntreuung des Kapitals von 800 000 Dollar verurteilt worden. Zwei weitere bonapartistische „Retter des
1 Allgemeine Diskontokassengesellschaft - 2 der große Teilhaber - 3 Pariser Mietswagengesellschaft - 4 Zuchtpolizeigericht - 5 Holzgesellschaft
Eigentums" wurden verurteilt, weil sie mit einigen Bankiers eine Vereinbarung getroffen hatten, dem Publikum für 10 000 000 oder 15 000 000 Dollar einige Wälder und Bergwerke fern an den Ufern der Donau anzudrehen, die sie für 200 000 Dollar gekauft hatten. In einem anderen Fall erwies es sich, daß die Geschäftsführer einer Bergwerksgesellschaft bei Aachen ihren Aktienbesitzern für 500 000 Dollar Bergwerke verkauft hatten, von denen sie später zugeben mußten, daß sie nur 200 000 Dollar wert waren. Infolge dieser und anderer ähnlicher Enthüllungen fielen die Aktien der Messageries Generales1, einst mit 1510 Francs notiert, auf ungefähr 500 Francs. Die Aktien der Compagnie des Petites Voitures2, die kurz nach ihrer Ausgabe auf 210 Francs hochgeschraubt wurden, sind auf 40 Francs gesunken. Die Aktien der UnionGesellschaft sind von 500 auf 65 Francs zusammengeschrumpft. Die Aktien der Französisch-Amerikanischen Schiffahrtsgesellschaft, einst auf 750 Francs, kann man nun für 30 Francs erwerben. Die Aktien der Vereinigten Gasgesellschaft sind von 1120 auf 620 Francs zurückgegangen. Den Aktienbesitzern der Caisse des Actionnaires3 erzählte Herr Millaud, ihr Direktor, einer der neugebackenen Millionäre des kleineren Kaiserreiches, daß
„die Operationen des vergangenen Halbjahres keinerlei Profit gebracht hätten, so daß es nicht möglich sein würde, eine Dividende auszuwerfen, ja nicht einmal die gewöhnlichen Halbjahreszinsen auszuzahlen, daß er aber diese Zinsen aus seiner eigenen Tasche zahlen würde". So platzten die sozialen Geschwüre des kleineren Kaiserreiches. Die lächerlichen Konferenzen des Louis Bonaparte mit den wichtigsten Börsenspekulanten über die für den französischen Handel und die Industrie anzuwendenden Hilfsmittel haben natürlich zu keinerlei Ergebnissen geführt. Die Bank von Frankreich befindet sich selbst in einer schlechten Lage, da sie außerstande ist, die Schuldverschreibungen der Eisenbahngesellschaften zu verkaufen, gegen deren Sicherheit sie die Gesellschaften mit dem Geld versorgen mußte, das diese zur Ausführung ihrer Arbeiten benötigt hatten. Niemand möchte diese Schuldverschreibungen in einem Moment kaufen, da alles Eisenbahnvermögen in Frankreich rasch an Wert verliert und die wöchentlichen Eisenbahnberichte ein ständiges Fallen ihrer Einnahmen aufweisen. „Was den Stand des franzosischen Handels anbelangt", bemerkt der Pariser Korresjpondent des Londoner „Economist", „so bleibt er wie er war, d. h., er zeigt eine Tendenz zur Verbesserung, aber er verbessert sich nicht."
1 Allgemeinen Paketfahrtlinien - 2 Kleinwagen-Gesellschaft - 3 Kasse der Aktionäre
Unterdes hält Bonaparte an deiner alten Methode fest, Kapital in unproduktive Werke zu stecken, die aber, wie Herr Haussmann, der Präfekt des Seine-Departements, der Pariser Bevölkerung unverhohlen mitteilt, vom „strategischen Standpunkt aus" wichtig seien und darauf berechnet, vor „unvorhergesehenen Ereignissen, die immer eintreten und die Gesellschaft gefährden können", zu schützen. So ist Paris also verurteilt, neue Boulevards und Straßen zu errichten, deren Kosten auf 180 000 000 Francs geschätzt werden, um sich vor seinen eigenen Aufwallungen zu schützen. Die Einweihung des verlängerten Boulevards Sewastopol stand ganz im Einklang mit diesem „strategischen Standpunkt". Ursprünglich als rein zivile und städtische Zeremonie beabsichtigt, wurde sie plötzlich in eine militärische Demonstration verwandelt unter dem Vorwand, daß ein neues Komplott zur Ermordung Bonapartes entdeckt worden sei. Um dieses quid pro quo1 zu beseitigen, erklärt der „Moniteur":
„Es war völlig richtig, die Einweihung einer solchen Schlagader der Hauptstadt durch eine Truppenparade auszuzeichnen, und daß unsere Soldaten nach dem Kaiser die ersten waren, die einen Boden betraten, der den Namen eines so glorreichen Sieges trägt."
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels Die Einnahme von Lakhnau13621
r„New-York Daily Tribüne" Nr. 5312 vom 30. April 1858, Leitartikel] Die zweite kritische Periode des indischen Aufstandes ist zum Abschluß gebracht worden. Die erste sah ihren Mittelpunkt in Delhi und ging mit der Erstürmung dieser Stadt zu Ende; die zweite hatte in Lakhnau ihr Zentrum, und diese Stadt ist nun auch gefallen. Falls nicht neue Aufstände an bisher ruhigen Orten ausbrechen, muß die Revolte nun allmählich in ihre abschließende, chronische Periode absinken, in der die Aufständischen schließlich die Lebensweise von dacoits oder Räubern annehmen, denen die Einwohner des Landes wie ihren Feinden begegnen werden, so, als seien diese die Britenselbst. Die Einzelheiten über die Erstürmung Lakhnaus liegen noch nicht vor, doch die einleitenden Operationen und die Umrisse der abschließenden Kämpfe sind bekannt. Unsere Leser erinnern sich1, daß General Campbell nach dem Entsatz der Residenz von Lakhnau diese Stellung in die Luft sprengte, jedoch General Outram mit etwa 5000 Mann im Alam Bagh, einer befestigten Position einige Meilen von der Stadt entfernt, zurückließ. Er selbst marschierte mit dem Rest seiner Truppen nach Khanpur zurück, wo General Windham durch einen Rebellenhaufen eine Niederlage erlitten hatte; er schlug die Rebellen vollständig und trieb sie bei Kalpi über die Dschamna. Er wartete dann in Khanpur auf das Eintreffen von Verstärkungen und der schweren Geschütze, entwarf seine Angriffspläne, gab Befehle zur Konzentration der verschiedenen Kolonnen, die zum Vormarsch nach Audh bestimmt waren, und vor allem verwandelte er Khanpur in ein befestigtes Lager von einer Stärke und von Ausmaßen, wie sie für die unmittelbare und hauptsächliche Operationsbasis gegen Lakhnau nötig waren. Als dies alles geschehen war, hatte er noch eine andere Aufgabe zu erfüllen, bevor er es für
richtig hielt, den Marsch zu beginnen - eine Aufgabe, deren Inangriffnahme ihn mit einem Schlag vor fast allen früheren Kommandeuren in Indien auszeichnet. Er wollte keine Frauen im Lager herumlungern sehen. Er hatte mehr als genug von den „Heldinnen" in Lakhnau und auf dem Marsch nach Khanpur; sie hatten es für völlig natürlich angesehen, daß die Bewegungen der Armee, wie es in Indien stets der Fall gewesen war, ihren Launen und ihrer Bequemlichkeit untergeordnet sein sollten. Kaum war Campbell in Khanpur eingetroffen, als er sich die ganze interessante und lästige Gesellschaft vom Halse schaffte und nach Allahabad schickte; und sofort sandte er nach dem zweiten Schub Damen, der zur Zeit in Agra war. Nicht eher, bis sie in Khanpur eingetroffen waren, und nicht eher, bis er sie sicher auf dem Wege nach Allahabad wußte, folgte er seinen auf Lakhnau vorrückenden Truppen. Die Vorbereitungen, die für diesen Feldzug in Audh getroffen wurden, hatten ein in Indien bisher noch nicht dagewesenes Ausmaß. Bei der größten Expedition, die dort jemals von den Briten unternommen worden war, dem Einfall in Afghanistant363], war die Zahl der gleichzeitig verwendeten Truppen nie mehr als 20 000 Mann, und von diesen waren die meisten Eingeborene. In diesem Feldzug nach Audh übertraf allein die Anzahl der Europäer die aller nach Afghanistan geschickten Truppen. Die von Sir Colin Campbell persönlich geführte Hauptarmee bestand aus drei Divisionen Infanterie, einer Kavallerie- und einer Artilleriedivision und Pionieren. Die erste Infanteriedivision unter Outram hielt den Alam Bagh. Sie bestand aus fünf europäischen Regimentern und einem Eingeborenen-Regiment. Die zweite (vier europäische Regimenter und ein Eingeborenen-Regiment) und die dritte (fünf europäische Regimenter und ein Eingeborenen-Regiment), die "Kavalleriedivision unter Sir Hope Grant (drei europäische und vier oder fünf Eingeborenen-Regimenter) und die Masse der Artillerie (achtundvierzig Feldgeschütze, ein Belagerungsgeschützpark und Pioniere) bildeten Campbells kampffähige Truppe, mit der er auf der Straße von Khanpur vorrückte. Eine unter Brigadegeneral Franks bei Dschaunpur und Asamgarh zwischen dem Gumti und dem Ganges zusammengezogene Brigade sollte den Lauf des erstgenannten Flusses entlang auf Lakhnau vorgehen. Diese Brigade bestand aus drei europäischen Regimentern und zwei Batterien außer Eingeborenentruppen und sollte Campbells rechten Flügel bilden. Diese mit eingeschlossen, belief sich Campbells Truppe insgesamt auf
Infanterie Kavallerie ^Ü^f Insgesamt und riomere Europäer 15 000 2ÖÖÖ 3ÖÖÖ 20000 Eingeborene .... 5000 3000 2000 10000
oder zusammen 30 000 Mann, zu denen noch die 10 000 Gurkha aus Nepal gezählt werden müssen, die unter Dschang Bahadur von Gorakhpur auf Sultanpur vorrückten und die gesamte Angriffsarmee auf 40000 Mann brachten, fast alles reguläre Truppen. Aber das ist noch nicht alles. Südlich Khanpur rückte Sir H.Rose mit einer starken Kolonne von Saugor auf Kalpi und der unteren Dschamna vor, um dort allen Flüchtlingen, die zwischen den zwei Kolonnen von Franks und Campbell entkommen könnten, den Weg abzuschneiden. Im Nordwesten überschritt Ende Februar Brigadegeneral Chamberlain den oberen Ganges, drang in das nordwestlich von Audh gelegene Rohilkand ein, das, wie richtig vorausgesehen wurde, der Hauptpunkt für den Rückzug der Armee der Aufständischen war. Die Garnisonen der Städte, die Audh umgeben, müssen ebenfalls in die Streitmacht einbezogen werden, die direkt oder indirekt gegen jenes Königreich eingesetzt wird, so daß diese ganze Streitmacht sicherlich 70 000 bis 80 000 Krieger zählt, von denen nach den offiziellen Meldungen wenigstens 28 000 Briten sind. Hierin ist nicht die Masse von Sir John Lawrences Truppe eingeschlossen, die in Delhi eine Art Flankenstellung einnimmt und aus5500Europäern in Mirat und Delhi und etwa 20 000 oder 30 000 Eingeborenen aus dem Pandschab besteht. Die Konzentrierung dieser gewaltigen Streitmacht ist teils das Ergebnis des Planes General Campbeils und teils auch das Resultat der Unterdrückung des Aufstandes in verschiedenen Teilen Hindustans, weswegen die Truppen sich natürlich nahe dem Ort der Handlung konzentrieren. Zweifellos hätte Campbell auch mit einer kleineren Truppe zu handeln gewagt; doch während er darauf wartete, wurden ihm durch die Umstände neue Hilfsquellen in die Hand gegeben; und er war nicht der Mann, sich deren Verwendung zu versagen, selbst gegen einen, wie er wußte, so verächtlichen Feind, auf den er in Lakhnau stoßen würde. Doch es darf nicht vergessen werden, daß diese Zahlen, so beeindruckend sie auch aussehen, über ein Gebiet von der Größe Frankreichs verteilt waren und daß Campbell an dem entscheidenden Punkt in Lakhnau nur mit etwa 20 000 Europäern, 10 000 Hindus und 10 000 Gurkha erscheinen konnte - wobei der Wert der Gurkha unter Führung von Eingeborenen zumindest zweifelhaft war. Mit ihren europäischen Bestandteilen allein war diese Truppe sicher mehr als ausreichend, um einen schnellen Sieg zu garantieren, trotzdem war ihre Stärke ihrer Aufgabe nur angemessen; und sehr wahrscheinlich wollte Campbell den Bewohnern von Audh einmal eine solche überwältigende Armee weißer Gesichter zeigen wie sie nie zuvor irgendein Volk in Indien gesehen hatte, als eine Antwort auf einen Aufstand, der dank der kleinen Zahl und der weiten Verstreutheit der Europäer über das Land möglich geworden war.
Die Streitmacht in Audh bestand aus den Resten der meisten der meuternden Regimenter Bengalens und aus in der Gegend selbst ausgehobenen Eingeborenen. Von jenen können nicht mehr als höchstens 35 000 oder 40 000 dagewesen sein. Das Schwert, Fahnenflucht und Demoralisierung müssen diese Truppe, ursprünglich 80 000 Mann stark, wenigstens auf die Hälfte vermindert haben; und was" übriggeblieben, war desorganisiert, entmutigt, schlecht ausgerüstet und völlig ungeeignet, im Felde zu bestehen. Die neuen Aushebungen werden unterschiedlich mit 100 000 bis zu 150 000 Mann angegeben; doch es ist unwichtig, wieviel es gewesen sein mögen. Ihre Waffen bestanden nur zum Teil aus Feuerwaffen von minderwertiger Konstruktion; die meisten führten nur Waffen für den Nahkampf mit sich, die Kampfart, deren Anwendung am wenigsten wahrscheinlich war. Der größere Teil dieser Streitmacht befand sich in Lakhnau, um Sir James Qutrams Truppen zu binden; nur zwei Kolonnen führten Bewegungen in Richtung Allahabad und Dschaunpur durch. Das konzentrische Vorgehen auf Lakhnau begann etwa Mitte Februar. Vom 15 . bis 26. marschierten die Hauptarmee und ihr gewaltiger Troß (allein 60 000 Mann Lagergefolge) von Khanpur zur Hauptstadt von Audh, ohne auf Widerstand zu stoßen. In der Zwischenzeit griff der Feind am 21. und 24.Februar Outrams Stellung ohne Aussicht auf Erfolg an. Am 19. rückte Franks auf Sultanpur vor, schlug an einem Tage beide Kolonnen der Aufständischen und verfolgte sie, so gut es der Mangel an Kavallerie zuließ. Nachdem sich die beiden geschlagenen Kolonnen vereinigt hatten, schlug er sie erneut am 23., wobei sie 20 Kanonen, ihre ganze Lagereinrichtung und die Bagage verloren. General Hope Grant, der die Vorhut der Hauptarmee kommandierte, hatte sich während ihres Eilmarsches ebenfalls von dieser gelöst und nach einer Linksschwenkung am 23. und 24. zwei Forts an der Straße von Lakhnau nach Rohilkand zerstört. Am 2. März war die Hauptarmee vor der Südseite Lakhnaus konzentriert. Diese Seite ist durch den Kanal geschützt, den Campbell bei seinem ersten Angriff auf die Stadt überschreiten mußte; hinter dem Kanal waren starke Verschanzungen aufgeworfen worden. Am 3. besetzten die Briten den Dilkuscha-Park, mit dessen Erstürmung der erste Angriff ebenfalls begonnen hatte. Am 4. stieß Brigadegeneral Franks zur Hauptarmee und bildete nun ihre rechte Flanke, während seine rechte Flanke durch den Gumti-Fluß gesichert war. Inzwischen wurden Batterien gegenüber den feindlichen Verschanzungen aufgebaut und zwei Schiffsbrücken unterhalb der Stadt über den Gumti-Fluß geschlagen; und sobald diese fertig waren, zog Sir James Outram mit seiner Infanteriedivision, 1400 Berittenen und 30 Kanonen hinüber, um
am linken oder nordöstlichen Ufer Stellung zu beziehen. Von hier aus konnte er einen großen Teil der feindlichen Linie längs des Kanals und viele der befestigten Paläste in ihrem Rücken bestreichen; er schnitt auch die Verbindungslinien des Feindes mit dem ganzen nordöstlichen Teil von Audh ab. Am 6. und 7. stieß er auf beträchtlichen Widerstand, trieb jedoch den Feind vor sich her. Am 8. wurde er wieder angegriffen, doch mit nicht besserem Erfolg. Inzwischen hatten die Batterien am rechten Ufer das Feuer eröffnet; Outrams Batterien längs des Flußufers faßten die Stellung der Aufständischen in der Flanke und im Rücken, und am 9. stürmte die 2. Division unter Sir Edward Lugard die Martiniere, eine Schule und ein Park, der, wie unsere Leser sich erinnern mögen1, an der Nordseite des Kanals bei seiner Vereinigung mit der Gumti und gegenüber dem Dilkuscha gelegen ist. Am 10. wurde eine Bresche in das Bankgebäude geschossen und dieses erstürmt, Outram rückte den Fluß hinauf vor und bestrich mit seinen Kanonen alle folgenden Stellungen der Aufständischen. Am 11. stürmten zwei schottische Regimenter (das 42. und das 93.) den Palast der Königin, und Outram griff die Steinbrücken, die vom linken Ufer des Flusses in die Stadt führen, an und nahm sie. Er ließ dann seine Truppen hinüberrücken und schloß sich dem Angriff gegen das nächste davorliegende Gebäude an. Am 13. März wurde ein weiteres befestigtes Gebäude, der Imambara, angegriffen, nachdem ein Laufgraben angelegt worden war, um die Batterien unter Deckung in Stellung zu bringen; am folgenden Tage wurde dieses Gebäude gestürmt, nachdem die Bresche erweitert worden war. Der Feind, der zum Kaisar Bagh oder Königspalast floh, wurde so stürmisch verfolgt, daß die Briten den Ort auf den Fersen der Flüchtenden betraten. Es folgte ein heftiger Kampf, aber gegen 3 Uhr nachmittags war der Palast im Besitz der Briten. Anscheinend führte dies die Dinge zu einer Krise; wenigstens schien jeder Widerstandsgeist erloschen zu sein, und Campbell traf sofort Maßnahmen zur Verfolgung der Fliehenden, um ihnen den Weg zu verlegen. Brigadegeneral Campbell wurde mit einer Brigade Kavallerie und einigen Artilleristen zu Pferde abgeschickt, um sie zu verfolgen, während Grant die andere Brigade nach Sitapur auf der Straße von Lakhnau nach Rohilkand herumführte, um sie abzuschneiden. Während so der Teil der Garnison, der die Flucht ergriff, bedacht wurde, drangen Infanterie und Artillerie weiter in die Stadt vor, um sie von denen, die noch aushielten, zu säubern. Vom 15. bis zum 19. muß sich der Kampf vor allem in den engen Straßen der Stadt abgespielt haben, da die Reihe der Paläste und Parks am Fluß schon vorher genommen worden war; aber am
19. war die gesamte Stadt in Campbells Hand. Etwa 50 000 Aufständische sollen geflohen sein, teils nach Rohilkand, teils zum Doab und nach Bandelkand. In der letztgenannten Richtung hatten sie eine Möglichkeit zu entkommen, da General Rose mit seiner Kolonne noch mindestens sechzig Meilen von der Dschamna entfernt war und 30 000 Aufständische vor sich gehabt haben soll. In Richtung auf Rohilkand gab es auch eine Möglichkeit, daß sie sich wieder konzentrierten; Campbell dürfte nicht in der Lage sein, ihnen sehr schnell zu folgen, während wir über die Position Chamberlains nichts wissen, und die Provinz ist außerdem groß genug, ihnen für kurze Zeit Schutz zu bieten. Die nächste Phase des Aufstandes wird deshalb höchst wahrscheinlich durch die Bildung zweier Armeen der Aufständischen in Bandelkand und Rohilkand gekennzeichnet sein, von denen die letztere jedoch durch konzentrische Marschbewegungen der Armeen von Lakhnau und Delhi bald vernichtet sein dürfte. Soweit wir im Augenblick urteilen können, waren die Operationen Sir C. Campbells in diesem Feldzug durch seine übliche Klugheit und Energie charakterisiert. Die Maßnahmen zu seinem konzentrischen Marsch auf Lakhnau waren ausgezeichnet, und die Vorbereitungen zum Angriff scheinen jeden Umstand berücksichtigt zu haben. Auf der anderen Seite war das Verhalten der Aufständischen genauso erbärmlich, wenn nicht schlimmer als vorher. Der Anblick der Rotröcke versetzte sie überall in Panik. Franks' Kolonne schlug eine zwanzigfache Uberzahl fast ohne einen Mann Verlust; und obwohl die Telegramme wie gewöhnlich von „hartnäckigem Widerstand" und „schwerem Kampf" sprechen, sind die Verluste der Briten, wo sie angegeben werden, offenbar so lächerlich gering, daß wir befürchten, es war diesmal in Lakhnau ebensowenig Heldenmut nötig, und es gab ebensowenig Lorbeeren zu ernten wie damals, als die Briten sich dort vorstellten.1
Geschrieben am 15. April 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx Das Budget des Herrn Disraeli
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5318 vom 7. Mai 1858] London, 20. April 1858 Die Rede über das Budget, die Herr Disraeli am 19. April im Unterhaus gehalten hat, füllt etwa zehn Spalten der Londoner „Times", aber sie ist auf alle Fälle angenehm zu lesen, vielleicht sogar angenehmer als „The Young Duke" desselben Autors. Was die Klarheit der Analyse, die Einfachheit der Darstellung, die geschickte Anordnung und leichte Handhabung der Details anbelangt, so steht sie in glücklichem Gegensatz zu den schwerfälligen und umständlichen nächtelangen Abhandlungen seines Palmerstonschen Vorgängers. Sie enthält weder irgendeine überraschende Neuigkeit noch erhebt sie Anspruch darauf. Herr Disraeli befand sich in der glücklichen Lage eines Finanzministers, der es mit einem Defizit zu tun hatte, das er selbst nicht gemacht, sondern bei seinem Antritt vorgefunden hatte. Seine Rolle war die des Arztes, nicht des Patienten. Einerseits hatte er ein Defizit zu decken, andererseits war jede ernsthafte Einschränkung der Ausgaben ausgeschlossen durch die Wagnisse, auf die sich England unter der Ägide Lord Palmerstons eingelassen hatte. Herr Disraeli teilte dem Unterhaus unverblümt mit, daß es, wenn es eine Politik der Invasion und Aggression wünsche, dafür zahlen müsse und daß sein lautes Geschrei nach Sparsamkeit reiner Hohn wäre, da es mit skrupelloser Bereitschaft zu beliebigen Ausgaben gepaart sei. Disraelis Erklärung zufolge würden die Ausgaben im Finanzjahr 1858/1859 folgende sein:
Pfd.St.
Ausgaben für die fundierte Staatsschuld Ständige Ausgaben für den konsolidierten Fonds Heeres-Etat
28 400 000 1 900 000 11 750 000
Pfd. St. Ausgaben für die Flotte, einschließlich Paketbootdienst 9 860 000 Zivildienst 7 000 000 Departement für Staatseinnahmen 4 700 000 Im Mai 1858 fällige Schatzkammerbonds 2 000 000 Tilgungsfonds für Kriegsschulden 1 500 000 Gesamt-Äusgaben ... 67 110 000
Die Einnahmen von 1858/1859 wurden wie folgt veranschlagt:
Pfd. St. Pfd. St. Zölle 23 400 000 Posteinnahmen 3200000 Akzise 18 100 000 Vermögens- und Stempelsteuer 7550000 Einkommensteuer 6100000 Boden- und Immobilien- Kronländereien 270 000 Steuer 3 200 000 Verschiedenes 1 300000 Gesamt-Einnahmen 63 120 000
Ein Vergleich zwischen den veranschlagten Ausgaben und den veranschlagten Einnahmen zeigt ein klares Defizit von 4 000 000 Pfd.St., trotz der ziendich zuversichtlichen Ansichten des Herm Disraeli über die everv tuellen Erträge an Zöllen, Akzisen und Posteinnahmen. Wie soll djese^p gedeckt werden? Die Palmerstonianer hatten bei dem bloßen frohlockt, daß Herr Disraeli gezwungen sein würde, die für dt Jahr beschlossene Herabsetzung der Einkommensteuer von 7d. ai \ Pfund aufzuschieben, ein Vorschlag, gegen den ausgerechnet Herr Disraeli und Herr Gladstone mit Nachdruck opponiert hatten, als er von Sir Cornewall Lewis eingebracht worden war. Dann hätte man das Geschrei über den Partei-Egoismus der Opposition erhoben und sich die Unpopularität der Einkommensteuer sehr wohl zunutze gemacht. Mit einem Wort, die Einkommensteuer war die Klippe, an der, wie zuversichtlich vorausgesagt wurde, das Staatsschiff Derbys zerschellen muß. Herr Disraeli war jedoch ein zu alter Fuchs, um in einer solchen Falle gefangen zu werden. Er teilte dem Unterhaus entgegen den Erwartungen mit, John Bull hätte sich in den letzten fünf Jahren in Finanzangelegenheiten wie ein artiger Junge „benommen", er hätte wacker die öffentlichen Lasten getragen, und er sollte daher unter seinen gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen nicht wegen einer Steuer betrübt werden, gegen die er immer eine besondere Abneigung gehegt habe; besonders seitdem die durch eine große Majorität im Unterhaus 1853 angenommene
Vereinbarung13643 dem artigen Jungen die progressive Herabsetzung der Steuer und nach einer gewissen Anzahl von Jahren ihre endgültige Aufhebung versprochen hatte. Herrn Disraelis eigenes Rezept zur Deckung des Defizits und zur Sicherung selbst eines kleinen Uberschusses aus den Einkünften läuft auf folgendes hinaus: Verschiebung der Einlösung der Schatzkammerbonds in Höhe von zwei Millionen Pfund Sterling auf einen späteren Zeitpunkt; Aussetzung der Zahlung der 1 300 000 Pfd.St. für den Tilgungsfonds für Kriegsschulden bis ein bona fide1 Überschuß existiert, der hierfür angewandt werden sollte; Angleichung der englischen und irischen Getränkesteuer durch Erhöhung der irischen von 6 sh. 10 d. auf 8 sh. je Gallone, wodurch die Schatzkammer zusätzlich 500 000 Pfd.St. einnehmen würde; und schließlich Einführung einer Penny-Stempelsteuer auf Schecks, wodurch an Einkünften ein Mehrbetrag von 300 000 Pfd.St. erzielt würde. Was nun die geringfügigen neuen Steuern anbelangt, die Herr Disraeli fordert, so kann kein ernsthafter Einwand gegen sie erhoben werden. Obgleich es die Vertreter Paddys2 natürlich für ihre Pflicht hielten zu protestieren, muß jede Einschränkung des Alkoholverbrauchs in Irland als heilsame Maßnahme angesehen werden. Als der Finanzminister sie vorschlug, konnte er nicht der Versuchung widerstehen, sich auf Kosten seiner irischen Freunde lustig zu machen. „Im Geiste aufrichtiger Herzlichkeit" bat er die „geistvollen Iren", dem Vorschlag auf Besteuerung der „irischen geistigen Getränke" zuzustimnen und ihre „Lebensgeister" mit denen der Engländer und Schotten zu vermengen etc. Die Penny-Stempelsteuer auf Schecks wurde von Herrn Glyn, dem Vertreter der Londoner Bank- und Börsenkreise heftig angegriffen. Dieser unselige Penny, das fühlte er mit Sicherheit, würde die Geldzirkulation des Landes daran hindern, ihre Pflichten zu erfüllen; aber was für Schrecken Herr Glyn auch immer fühlen mochte, oder zu fühlen vorgab über die Kühnheit, von den Bankiers und Börsenjobbern eine geringe Steuer zu erheben, seine Gefühle werden wahrscheinlich unter der Masse des britischen Volkes kein Echo finden. Das bedeutendste Merkmal in Herrn Disraelis Budget ist die Liquidierung des künstlichen Staatsschulden-Tilgungsfonds, jenes großen Finanzbetrugs, der anläßlich der im Krieg mit Rußland eingegangenen Schulden von Sir Cornewall Lewis wieder eingeführt worden war. Der ursprüngliche britische Staatsschulden-Tilgungsfonds ist eine jener ungeheuerlichenTäuschungen, die die geistigen Fähigkeiten einer ganzen Generation verdunkeln und deren Wesen die folgende Generation kaum verstehen kann. Es geschah zum erstenmal
1 solider - 2 Abkürzung für den Namen Patiick (Spitzname für einen Iren)
im Jahre 1771, daß Dr. Richard Price in seinen „Observations on Reversionary Payments" der Welt die Geheimnisse von Zinseszins und Tilgungsfonds enthüllte. *Geld", sagte er, „das Zinseszinsen trägt, wächst anfangs langsam; da aber die Kate des Wachstums sich fortwährend beschleunigt, wird ihr Tempo nach einiger Zeit so rasch, daß sie jeder Einbildung spottet. Ein Penny, ausgeliehen bei der Geburt unseres Erlösers auf Zmseszmsen zu 5%, würde schon jetzt zu einer größren Summe herangewachsen sein, als enthalten wäre in 150 Millionen Erden, alle von gediegnem Gold. Aber ausgeliehen auf einfache Zinsen, würde er in der selben Zeit nur angewachsen sein auf 7 Schilling 4x/2 Pence. Bis jetzt hat unsre Regierung vorgezogen, ihre Finanzen auf diesem letzteren, statt auf dem ersteren Weg zu verbessern."-365- „Ein Staat braucht deswegen sich nie in Schwierigkeiten zu befinden; denn mit den kleinsten Ersparnissen kann er die größte Schuld abzahlen in einer so kurzen Zeit wie sein Interesse erfordern mag. Bei diesem Plan spielt es keine Rolle, welche Zinsen für Geld der Staat zu geben verpflichtet ist; denn je höher die Zinsen, um so eher wird solch ein Fonds das Anleihekapital abzahlen." Folglich schlug er vor, „eine jährliche Rücklage - zusammen mit den Zinsen der dadurch getilgten Summen konstant anzulegen, zum Zwecke der Einlösung der Staatsschuld; oder, mit anderen Worten, die Schaffung eines Staatsschulden-Tilgungsfonds".f366] Dieser phantastische Plan, noch weniger sinnvoll als der Finanzplan des Narren in einer der Novellen von Cervantes, der dem ganzen spanischen Volke vorschlug, sich nur zwei Wochen des Essens und Trinkens zu enthalten, um die Mittel für die Begleichung der Staatsschuld zu erhalten, beschäftigte nichtsdestoweniger die Einbildungskraft Pitts. Eingestandenermaßen baute er 1786 auf dieser Grundlage seinen Staatsschulden-Tilgungsfonds auf, dem er eine feststehende Summe von 5 000 000 Pfund Sterling zuteilte, die jedes Jahr „pünktlich" zu diesem Zweck gezahlt werden sollten. Das System wurde nicht vor 1825 aufgegeben, als das Unterhaus einen Beschluß faßte, nach dem nur der bona fide Überschuß an Einnahmen des Landes zur Bezahlung der Staatsschuld verwandt werden sollte. Das gesamte System des öffentlichen Kredits wurde durch diese seltsame Art von Tilgungsfonds in Verwirrung gebracht. Zwischen dem, was aus Notwendigkeit, und dem, was willkürlich geliehen wurde, zwischen Anleihen, die die Schulden vermehren, und Anleihen, die sie abzahlen sollten, entstand ein wirres Durcheinander, Zinsen und Zinseszinsen, Schulden und Tilgung tanzten in unaufhörlicher Folge vor den Augen der Menschen; es gab eine solche Phantasmagorie von Konsolen und Bonds, von Obligationen und Schatzkammerscheinen, von Kapital ohne Zinsen und Zinsen ohne Kapital, daß der klarste Verstand
irregeführt wurde. Dr. Prices Prinzip war, daß der Staat Geld zu einfachen Zinsen borgen sollte, um es durch Zinseszinsen zu vermehren. Tatsächlich machte das Vereinigte Königreich eine Schuld von 1000 Millionen Pfund Sterling, wofür es nominell etwa 600 Millionen Pfund Sterling erhielt, während 390 Millionen Pfund Sterling dieser Summe dazu bestimmt wurden, nicht die Schulden zu bezahlen, sondern den Staatsschulden-Tilgungsfonds aufrechtzuerhalten. Der Palmerstonsche Schatzkanzler hatte versucht, diese glorreiche Einrichtung, die das goldene Zeitalter der Börsenjobber und Spekulanten kennzeichnet, wieder John Bull aufzuladen. Herr Disraeli versetzte ihm den coup de grace .
Aus dem Englischen.
1 Gnadenstoß
29 Marx/Engels, Werke, Bd. 12
Karl Marx Die englisch-französische Allianz
[„New-York Daily Tribüne" Nr.5319vom8.Mai 1858] Paris, 22.April 1858 Seit Doktor Bernards Freispruch und der öffentlichen Begeisterung, mit der diesem Urteil zugejubelt wurde, hat die englisch-französische Allianz eine neue Wendung genommen. Zuerst war es die Zeitung „Univers", die England nicht nur zu einer „Mördergrube", sondern zu einem Volk von Mördern erklärte, Geschworene und Richter eingeschlossen, da sie gescheit genug war zu begreifen, daß sich „das Herz Englands" nicht „in den förrrv* liehen Ehrenbezeugungen" kundtat, „mit denen die Stadtverwaltung von Dover die freimütige Natur des Herzogs von Malakoff überschüttete", sondern eher „in dem infamen Freudengeschrei, das die Leute im Gerichtshof von Old Bailey11451 erhoben". Die ursprüngliche These der Obersten13673 wird so auf einer breiteren Grundlage bestätigt. Dem „Univers" dicht auf den Fersen folgt der „Constitutionnel" mit einem Leitartikel, gezeichnet von Herrn Renee, dem Schwiegersohn des Herrn Macquard, der bekanntlich seinerseits Sekretär, Vertrauter und Faktotum Bonapartes ist. Wenn der „Univers" die Definition des englischen Volkes von den Obersten übernommen hatte, indem er ihren Sinn erweiterte, wiederholt der „Constitutionnel" die Drohungen der Obersten, nur daß er versucht, der Wut der Kasernen durch die angebliche Entrüstung „der Städte und ländlichen Bezirke" einen Rückhalt zu geben. Jenen Ton des verletzten moralischen Feingefühls anschlagend, der für die feile Literatur des Zweiten Kaiserreiches so bezeichnend ist, ruft die Zeitung aus:
„Wir wollen nicht lange bei solch einem Freispruch verweilen, der einen unerhörten skandalösen Angriff auf die öffentliche Moral darstellt; denn welcher Mann von Ehre in Frankreich oder England könnte einen Zweifel an Bernards Schuld hegen? Wir wollen nur diejenigen unserer Nachbarn, die die Aufrechterhaltung guter Beziehungen
zwischen den beiden Ländern wünschen, darüber informieren, daß es der Regierung trotz bester Absicht schwer fallen würde, die Folgen der öffentlichen Entrüstung abzuwenden, falls durch Mißgeschick die von Bernards Anwalt1 gehaltene Rede - eine Rede, die man zuließ, obwohl sie von Verleumdungen und Beleidigungen gegen den Kaiser, gegen die Nation, die ihn wählte, gegen die Armee und gegen unsere Institutionen strotzte - in den Städten, Kasernen und ländlichen Bezirken Frankreichs verbreitet werden sollte." (Merkwürdig - diese Stellung der Kasernen zwischen den Städten und ländlichen Bezirken!)
So weit - so gut. Ob sich Frankreich auf England stürzen wird oder nicht, das wird demnach von der bloßen Möglichkeit abhängen, ob die vom „Constitutionner4 selbst angekündigte Rede in Frankreich verbreitet wird oder nicht. Aber auf diese quasi Kriegserklärung folgt einen Tag später eine seltsame und aufsehenerregende Kehrtwendung in der „Patrie". Die französische Invasion soll aufgegeben werden, aber nur im Falle einer neuen Richtung, die der französisch-englischen Allianz gegeben werden müßte. Bernards Freispruch habe die anwachsende Macht der Anarchie in der britischen Gesellschaft offenbart. Lord Derby solle die Gesellschaft in England in derselben Weise retten, wie Bonaparte sie in Frankreich gerettet habe. Das sei der Ausgang der Allianz, und so sei ihre conditio sine qua non2. Der Earl of Derby, wird hinzugefügt, ist „ein Mann von außerordentlichem Talent und fast königlichen Verwandtschaftsbeziehungen" und folglich der Mann, um die Gesellschaft in England zu retten! Die englischen Tageszeitungen beschäftigen sich ausführlich mit der Schwäche, dem Wankelmut und der Ziellosigkeit, die sich in diesem Wechsel von Wut, Drohung und Sophisnjus verraten. Der Pariser Korrespondent der „Daily News" glaubt, das Rätsel dieser einander widersprechenden Ansichten, die im „Univers", im „Constitutionnel" und in der „Patrie" zum Ausdruck kamen, gelöst zu haben, indem er auf die wohlbekannte Tatsache verweist, daß Bottaparte ein Doppelgespann von Beratern hat - die betrunkenen Zecher des Abends und die nüchternen Ratgeber des Morgens. Er riecht in den Artikeln des „Univers" und des „Constitutionnel" das Aroma von Chäteau-Margaux und Zigarren und in dem Artikel der „Patrie" die Schauer des kalten Wasserbades. Aber dasselbe Doppelgespann übte während Bonapartes Duell mit der Französischen Republik seinen Einfluß aus. Die einen drohten nach dem Januar 1849 in ihren kleinen Abendzeitungen mit einem coup d etat, während die anderen in den gewichtigen Spalten des „Moniteur" sie direkt Lügen straften. Und doch war es nicht in den „steifen" Artikeln des „Moniteur", sondern in dem trunkenen „Hurra
1 Edwin John James — 8 unerläßliche Bedingung
geschrei" des „Pouvoir"[368J, wo die Schatten der kommenden Ereignisse sich abzeichneten. Wir sind jedoch weit davon entfernt zu glauben, daß Bonaparte im Besitze der Mittel ist, den „breiten Graben"1 erfolgreich zu überqueren. Die in dieser Richtung ausgebrüteten komischen Nachtvisionen, die der „New-York Herald"[369] zu veröffentlichen auf sich genommen hat, werden sicherlich ein Lächeln auf den Lippen selbst von reinen Anfängern in der Militärwissenschaft hervorrufen. Aber wir sind entschieden der Ansicht, daß Bonaparte, ein Zivilist an der Spitze einer Militärregierung, was niemals vergessen werden sollte, in der „Patrie" die letzte und einzig mögliche Interpretation der englisch-französischen Allianz gegeben hat, die seine „Obersten" befriedigen wird. Er befindet sich in einer höchst grotesken und zugleich höchst gefährlichen Situation. Um ausländische Regierungen zu täuschen, muß er mit dem Säbel rasseln. Um die Schwertträger zu besänftigen und sie daran zu hindern, Seine Rodomontaden wirklich ernst zu nehmen, muß er zu solchen unmöglichen fictiones juris2 seine Zuflucht nehmen wie die, daß die englisch-französische Allianz die Rettung der Gesellschaft in England nach der bewährten bonapartistischen Weise bedeute. Natürlich müssen die Tatsachen zu seinen Doktrinen in Widerspruch geraten, und falls seine Regierung nicht, wie wir geneigt sind anzunehmen, durch eine Revolution beseitigt wird, wird das Ende so aussehen, daß sein Glück erlöschen wird, ebenso wie es begonnen hat, in wahnwitzigen Abenteuern, in irgendeiner expedition de Boulogne[300] in erweitertem Maßstab. Der Kaiser wird zum Abenteurer herabsinken, wie sich der Abenteurer in einen Kaiser verwandelt hatte. Es lohnt sich inzwischen, während die „Patrie" das letzte Wort gesprochen hat, das Bonaparte über die Bedeutung der englisch-französischen Allianz äußern kann, die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise zu lenken, in der über diese Allianz jetzt in den herrschenden Kreisen Englands gesprochen wird. In dieser Hinsicht verdient ein Artikel des Londoner „Economist", unter dem Titel „Die französische Allianz, ihr Charakter, ihr Wert tmd ihr Preis", besondere Beachtung. Er ist mit absichtlicher Pedanterie geschrieben, wie es die Stellung eines ehemaligen Secretary of the Treasury3 unter Palmerstons Regierung und eines Vertreters der ökonomischen Ansichten englischer Kapitalisten erheischt. Herr Wilson beginnt mit der These, daß „das Ding, das man erhalten hat, nicht genau dem Ding entsprechen mag, worum gehandelt wurde". „Es kann", sagt er, „der Wert einer wirklichen Allianz zwischen Frankreich und England kaum zu hoch eingeschätzt werden";
1 Ärmelkanal - 2 juristischen Untersteilungen - s Sekretärs des Schatzamtes
doch gibt es da verschiedene Arten von Allianzen, wirkliche und künstliche, echte Allianzen und im Treibhaus gezüchtete, „natürliche" und „RegierungsAllianzen", „Regierungs"- und „persönliche" Allianzen. Zuerst läßt der „Economist" seiner „Einbildungskraft" freien Lauf; und es kann in Hinsicht auf den „Economist" gesagt werden, was über Rechtsanwälte gesagt worden ist: je prosaischer der Mann ist, um so mehr Streiche kann ihm seine Einbildungskraft spielen. Der „Economist" kann sich kaum auf seine „Einbildungskraft" verlassen, „um den Einfluß zu untersuchen, den eine wirkliche Allianz zwischen den beiden großen Völkern, die an der Spitze der modernen Zivilisation stehen, auf die Geschicke Europas ausüben würde und auf das Schicksal und das Glück aller anderen Länder". Er ist jedoch gezwungen zuzugeben, obgleich er hofft und glaubt, daß die zwei Nationen zu einer echten Allianz „heranreifen", „daß sie dafür noch nicht reif sind". Wenn demzufolge England und Frankreich für eine echte nationale Allianz noch nicht reif sind, wird sich natürlich die Frage ergeben, welcher Art die gegenwärtige englisch-französische Allianz ist. „Unsere jüngst abgeschlossene Allianz", gesteht das Exmitglied der Palmerston-Regierung und das Orakel der englischen Kapitalisten, „ist in großem Ausmaße, wie wir zugeben, unvermeidlich eine Allianz gewesen, die eher mit der Regierung als mit der Nation, eher mit dem Kaiser als mit dem Kaiserreich, eher mit Louis Bonaparte als mit Frankreich geschlossen wurde; und ferner haben wir in dem Wert, den wir der Allianz beigelegt, und dem Preis, den wir dafür bezahlt haben, diese bedeutsame und gewichtige Tatsache etwas aus den Augen verloren." Bonaparte ist natürlich der Erwählte der französischen Nation, und noch mehr von diesem Unsinn, aber unglücklicherweise „repräsentiert er nur die zahlenmäßige und nicht die intellektuelle Majorität des französischen Volkes. Zum Unglück trifft es sich so, daß die Klassen, die sich fern von ihm halten, ausgerechnet diejenigen Parteien in sich einschließen, deren Ansichten über fast alle großen Fragen der Zivilisation den unsrigen analog sind." Nachdem er so in äußerst vorsichtiger und höflicher Sprache und in umständlichen Sätzen, mit denen wir den Leser nicht behelligen wollen, das Axiom, dargelegt hat, daß die gegenwärtige sogenannte englisch-französische Allianz eher eine Allianz der Regierungen als der Nationen ist, geht der „Economist" so weit, daß er zugibt, sie sei sogar mehr eine persönliche als eine reine Regierungs-Allianz. „Louis-Napoleon", sagt er, „hat offener, als es dem Haupt einer großen Nation ansteht, angedeutet, daß er unser spezieller Freund in Frankreich wäre, daß er, mehr
als sein Volk, die englische Allianz wünsche und aufrechterhalte; und es kann sein, daß wir dieser Ansicht bereitwilliger und vorbehaltloser zugestimmt haben, als es eigentlich Vorsicht und Aufrichtigkeit geboten." Alles in allem genommen ist die englisch-französische Allianz eine unterschobene, verfälschte Ware - eine Allianz mit Louis Bonaparte, aber nicht eine Allianz mit Frankreich. Es erhebt sich daher natürlich die Frage, ob dieser unterschobene Artikel den Preis wert war, der dafür gezahlt wurde. Hier schlägt der „Economist" an seine eigene Brust und ruft im Namen der herrschenden Klassen Englands: „Pater, peccavi!"1 Vor allen Dingen ist England ein konstitutionelles Land, während Bonaparte ein Autokrat ist. „Wir schuldeten es uns selbst, daß unsere offene und loyale Höflichkeit gegenüber dem de facto Herrscher von Frankreich nur insofern und in dem Maße hätte reifen und sich zu herzlicher und begeisterter Bewunderung hätte erwärmen dürfen, wie sich seine Politik als eine derartige erweisen würde, die wir ehrlich und rechtschaffen billigen könnten." Anstatt sich in ihrem Bonapartismus an eine Art gleitender Skala zu halten, hat die englische Bevölkerung, eine konstitutionelle Bevölkerung, „auf einen Kaiser, der die konstitutionellen Freiheiten seiner Untertanen zerstört hatte, Aufmerksamkeiten verschwendet, wie sie niemals zuvor einem konstitutionellen König, der diese Freiheiten gewährt und respektiert hatte, zuteil geworden waren. Und wenn er zornig und gereizt war. haben wir uns gedemütigt, um ihn zu besänftigen durch die Sprache widerwärtiger Schmeichelei, die aus englischem Munde sonderbar klang. Unsere Handlungsweise und unsere Sprache haben alle jene Kreise des französischen Volkes befremdet, in deren Augen Louis-Napoleon entweder ein Usurpator oder ein militärischer Despot ist. Dies hat besonders die Parlaments-Partei in Frankreich, ob Republikaner oder Orleanisten, gereizt und angewidert." Der „Economist" entdeckt schließlich, daß dieser Kniefall vor einem erfolgreichen Usurpator alles andere als klug war. „Es ist unmöglich", sagt er, „anzunehmen, daß das bestehende Regime in Frankreich jenes dauerhafte sein kann, unter dem zu leben sich diese energische und rastlose Nation einverstanden erklären wird... Ist es daher weise, uns so mit einer vorübergehenden Regierungsphase in Frankreich zu verbinden, daß wir die Feindschaft seiner künftigen und dauerhafteren Entwicklung erregen?" Überdies war die Allianz mit England für Bonaparte notwendiger als für England die Allianz mit ihm. 1852 war er ein Abenteurer - ein erfolgreicher, aber immerhin ein Abenteurer. „Er war in Europa nicht anerkannt; es war fraglich, ob er anerkannt werden würde.
Aber England akzeptierte ihn prompt und ohne zu zögern, erkannte sofort seine Rechtstitel an, gewährte ihm Zutritt zu dem exklusiven Kreis der gekrönten Häupter und verschaffte ihm dadurch Geltung bei den Höfen Europas." y,Nein, mehr als das, durch den Austausch von Besuchen und durch herzliche Verbindungen ließ es unser Hof zu, daß die Bekanntschaft zur Intimität wurde... Jene unternehmenden Geldund Handelskreise, durch die unterstützt zu werden für ihn besonders wichtig war, sahen sofort, wie groß die Stärke war, die er durch die enge und herzliche Allianz mit England gewann." Diese Allianz war für ihn notwendig und er „würde sie zu fast jedem Preise gekauft haben". Bewies die englische Regierung ihren kommerziellen Scharfsinn und die gewohnte Aufgewecktheit, als sie diesen Preis festsetzte? Man forderte überhaupt keinen Preis; man bestand auf keinerlei Bedingung, sondern kroch gleich orientalischen Satrapen im Staube, während man ihm die Gabe der Allianz darbot. Keine Niederträchtigkeit seinerseits war groß genug, um die englische Regierung in ihrem Wettlauf „verschwenderischer Freigebigkeit", wie der „Economist" es nennt - haltloser Unterwürfigkeit, wie wir es nennen würden -, einen Augenblick innehalten zu lassen. „Es würde schwer nachzuweisen sein", beichtet der englische Sünder, „daß wir auch nur bei einer einzigen all seiner verschiedenen Maßnahmen zur Behinderung des Protestantismus, zur Unterdrückung des Gedankens, zur Unterbindung der Tätigkeit der Munizipalbehörden, zur Herabwürdigung von Senat und Kammer unsere Mißbilligung manifestiert hätten, und sei es wenigstens durch vorübergehende Kühle oder gelegentliches Stirnrunzeln." „Was er auch immer getan hat, wen er auch immer geächtet, wie viele Zeitschriften er auch beschlagnahmt oder unterdrückt hat, was auch immer die fadenscheinigen Vorwände waren, unter denen er ehrwürdige und hervorragende Professoren ihres Amtes enthoben hat - unsere Sprache ist immer die gleiche geblieben; er ist immer der große Mann gewesen, dieser weise und scharfsinnige Staatsmann, dieser hervorragende und feste Herrscher." So haben die Engländer nicht nur seine abscheuliche Innenpolitik genährt, unterstützt und begünstigt, sondern, wie der „Economist" bekennt, ihm gestattet, ihre Außenpolitik zu hemmen, abzuändern, zu schwächen und herabzuwürdigen. „Länger in einer sq falschen Position zu verharren", schließt der „Economist", „kann weder zu unserer Ehre noch zu unserem Nutzen noch zum Wohle des englischen Weltreichs gereichen." Vergleicht man diese Erklärung mit jener der „Patrie", so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die englisch-französische Allianz dahin ist und damit die einzige internationale Stütze des Zweiten Kaiserreiches.
Karl Marx Wichtige britische Dokumente
[„New York Daily Tribüne" Nr. 5329 vom 20. Mai 1858] London, 30. April 1858 Von der britischen Regierung sind kürzlich mehrere statistische Dokumente herausgegeben worden - die Berichte des Handelsministeriums für das erste Quartal 1858, eine vergleichende Statistik über den Pauperismus für Januar 1857 und 1858 und schließlich die Halbjahresberichte der Fabrikinspektoren[370j. DieBerichte des Handelsministeriums zeigen, wie zu erwarten war, beträchtliches Nachlassen sowohl der Exporte als auch der Importe während der ersten drei Monate von 1858, wenn man sie mit dem gleichen Vierteljahr des vorhergehenden Jahres vergleicht. Der deklarierte Gesamtwert aller exportierten Artikel, der sich während der damaligen Periode auf 28 827 493 Pfd. St. belief, ist in den ersten drei Monaten dieses, Jahres auf 23 510 290 Pfd. St. gefallen, so daß der Gesamtrückgang in britischen Exporten mit etwa 19 Prozent angesetzt werden kann. Die Tabelle mit den Werten der hauptsächlichen Importartikel, die nur bis Ende Februar geht, zeigt ein Absinken von 14 694 806Pfd.St. auf 10117 920Pfd.St., wenn man sie mit den ersten beiden Monaten von 1857 vergleicht, so daß sich bei den Importen •die Abwärtsbewegung noch mehr bemerkbar macht als bei den Exporten. Der relative Stand des Exporthandels vom Vereinigten Königreich nach den Vereinigten Staaten während der ersten drei Monate 1857 und 1858 kann aus dem folgenden Auszug ermittelt werden:
Exporte aus dem Vereinigten Königreich nach den Vereinigten Staaten Mengen Deklarierter Wert 1857 1858 1857 1858 Bier und Ale (Faß)... 9 504 6 581 40 893 Pfd. St. 29 269 Pfd. St. Kohle und Grus (t) . 19972 44299 11975 „ „ 24818 „ „
Baumwollgewebe (Yards) Eisen- und Stahl
Mengen 1857 1858 Deklarierter Wert 1857 1858
61 198140 35 371 538 1 128 453 Pfd. St. 618 540 Pfd. St.
waren (Ztr.) 44096 14623 301 275 „ 104 668 Leinengewebe (Yards) 18 373 022 8 757 750 527 076 „ 265 536 Roheisen (t) 10172 6 569 39 927 „ 20344 Stabeisen (t) 70877 6417 610124 „ 54602 Gußeisen (t) 207 2362 4659 „ 14 475 Schmiedeeisen aller Art (t) 12 578 2097 151 602 „ 29218 Rohstahl (t) 3607 1 118 128178 „ 43 666 Kupfer (Ztr.) 11075 1954 69286 „ 10 595 Blei (t) 941 60 21 793 „ 1 324 ölsamen (Gallonen).. 400200 42 790 62 576 „ 5 768 Salz (t) 66022 35 205 33 169 „ 16 990 Seidenwaren (lbs.) .. 66 973 22 920 82 280 „ 25 212 Wolltuche (St.)...... 106 519 30624 351911 „ „ 110096 Wollgewebe, verschiedene (Yards).. 9030643 6 368 551 401 249 „ „ 232202 Kammgarnstoffe (St.) 212 763 80601 249 013 „ „ 106 913 Steingut und Porzellan — • — 155 700 „ „ 70998 Kurz- und Putzwaren — — 614 825 „ „ 288 752 Weißblech — — 273 409 „ „ 105 847 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, weist die Liste einen allgemeinen und starken Rückgang auf; doch was uns auffällt, ist, daß in den meisten Fällen das Absinken im Wert der Exporte kaum der Verringerung ihrer Menge entspricht. In dieser Hinsicht waren die Vereinigten Staaten ein weit besserer Markt als andere Länder, in denen die Briten für eine größere Menge einen geringeren Wert erhielten. So wurden z.B. nach Holland 1858 277 342 lbs. Wolle exportiert gegenüber 254593 lbs. 1857, aber die ersteren brachten nur einen Wert von 24 949 Pfd.St., während die letzteren 25563 Pfd.St. eingebracht hatten, und für 1 505 621 lbs., die 1858 nach Frankreich exportiert wurden, belief sich der Gegenwert auf nur 103 235 Pfd.St., während
1857 für den geringeren Export von 1 445 322 lbs. die Summe von 108412Pf d. St. einging. Wenn wir überdies die Berichte für das ganze erste Quartal 1858 mit denen für den Monat März vergleichen, können wir eine Tendenz der Erholung des britischen Exporthandels nach den Vereinigten Staaten feststellen. So ist der Export bei Kammgarnstoffen zwischen März 1857 und März 1858 von 66 617 Pfd.St. auf nur 54346 Pfd.St. zurückgegangen, während er für das ganze Quartal von 249 013 Pfd.St. auf 106913Pfd.St. gefallen ist. Das einzige Land jedoch, das eine Ausnahme von der allgemeinen Regel bildet, ist Indien, das eine beträchtlich erhöhte Aufnahme britischer Fabrikate, statt einer verringerten, aufweist, wie aus folgenden Zahlen ersichtlich ist: Mengen Deklarierter Wert 1857 1858 1857 1858 Bier und Ale (Faß) .. 24817 51 913 77 845 Pfd. St. 166 567 Pfd. St. Baumwollgewebe (Yards) 120 092 475 151463533 1385888 „ „ 1787 943 „ „ Eisen- und Stahlwaren (Ztr.) 10642 16 776 42 849 „ „ 67287 „ „ Baumwollgarn (Yards) 5145 044 10609 434 276469 „ „ 531 567 „ „ Stabeisen (t) 20 674 •7A -7AA 191 528 „ „ O 1 "7 C"2f\ l.11 JJ y „ » Kupferplatten und Nägel (Ztr.) 18 503 23 313 115 927 „ „ 132 156 „ „ Wollstoffe (St.) 12123 19 571 63 846 „ 90 584 S5 * Steingut und Porzellan 9 989 „ „ 19 631 „ „ Kurz- und Putzwaren — — 21 350 „ „ 31427 „ „ Dampfmaschinen — — 31 408 „ „ 36 019 „ „
Die Erhöhung des britischen Exports nach Indien kann für einige Artikel, wie z.B. Wolle, durch den Kriegsbedarf erklärt werden. Im allgemeinen muß man jedoch die Erklärung für diese ansteigende Bewegung in einer anderen Richtung suchen. Der Fall liegt einfach so, daß der Aufstand den indischen Markt einige Monate vollständig verschlossen hatte, so daß die auf dem Markt vorhandenen Waren aufgebraucht wurden und ein Vakuum geschaffen wurde, das nun wieder aufgefüllt wird. Hinsichtlich Australiens zeigen die Berichte ebenfalls eine beträchtliche Erhöhung des britischen Exports in einigen Artikeln, aber die aus Sydney und Melbourne eingegangenen
Briefe lassen keinen Zweifel an dem rein spekulativen Charakter dieser Sendungen, die mit großer Preisermäßigung abgesetzt werden müssen, anstatt zu ihrem deklarierten Wert. Die vergleichende Statistik über die Armen in England und Wales zeigt, daß 920 608 Personen in der fünften Januarwoche 1857 öffentliche Unterstützung erhielten, während ihre Anzahl in der fünften Januarwoche 1858 auf 976 773 gestiegen ist, was einer Gesamtzunahme von 6,10 Prozent entspricht. Für die Gebiete North Midland, North Western und York, d.h. für die Industriebezirke, ist die prozentuale Erhöhung der Zahl der Armen 20,52 bzw. 44,87 und 23,13 Prozent. Außerdem muß man berücksichtigen, daß ein sehr beträchtlicher Anteil der Arbeiterklasse beharrlich den Hungertod der Aufnahme in den Arbeitshäusern vorzieht. Folgender Auszug aus den öffentlichen Berichten ist merkwürdig, weil er beweist, wie gering selbst in England der Prozentsatz der eigentlichen Fabrikarbeiter-Bevölkerung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist:
Die industrielle Statistik Durchschnittsprozentsatz der Personen im Alter von 20 Jahren und aufwärts, die beschäftigt sind in:
Bezirke
Zahl der Personen von 20 Jahren und aufwärts
Handwerkerberufen, Handel, Haushalt
Landwirtschaft
Fabriken
Gruben und Erzverarbeitungswerken
1. Metropole 1 394 963 47,6 U 6,0 3,5 2. South Eastern 887134 30,7 20,8 2,5 2,4 3. South Midland 660 775 28,8 25,4 7,1 2,4 4. Eastern 603 720 27,4 26,5 4,0 2,3 5. South Western 978 025 28,6 23,3 4,6 5,6 6. West Midland 1 160 387 29,1 15,5 5,2 12,6 7. North Midland .. 654679 31,8 21,7 6,4 5,3 8. North Western 1 351 830 29,8 8,3 21,5 5,4 9. York 961 945 25,2 14,3 17,5 7,3 10. North 521 460 27,7 16,1 4,2 12,4 11. Wales 641 680 21,8 25,7 2,5 12,4
England und Wales 9816597 31,0 16,1 8,4 6,3
Die Berichte der Fabrikinspektoren, die sich nur bis Ende Oktober 1857 erstrecken, entbehren ihres gewöhnlichen Interesses, weil, wie die Inspektoren einmütig feststellen, die Stillegung von Fabriken, die Kurzarbeit, die zahlreichen Bankrotte unter den Fabrikbesitzern und die allgemeine Depression im Handel gerade dann einsetzten, als sie ihre Berichte verfaßten, und sie daran hinderten, jene zuverlässigen Informationen einzuziehen, auf deren Grundlage sie sonst einen Bericht über die Anzahl von neuen Fabriken, von Fabriken mit vermehrter Antriebskraft und von stillgelegten Fabriken aufstellen konnten. Die industrielle Statistik, die die Auswirkungen der Krise erläutert, muß man daher in ihren nächsten Berichten erwarten. Das einzige, was als etwas wesentlich Neues in der jetzigen Veröffentlichung zutage tritt, sind gewisse Enthüllungen über die Behandlung von Kindern und Jugendlichen in Kattundruckereien. Erst 1845 hatte sich die Kontrolle der britischen Gesetzgebung von den Textilfabriken auch auf die Kattundruckereien ausgedehnt. Das Gesetz über die Kattundruckereien folgt den Vorschriften der Fabrikgesetzgebung in all jenen Einzelheiten, die sich auf die Befugnisse der Inspektoren, auf die Art, wie sie mit Verletzern des Gesetzes zu verfahren haben, und auf die verschiedenen Schwierigkeiten beziehen, die sich aus der Anwendung des Gesetzes ergeben könnten, und die in den Fabrikgesetzen zu finden sind. Das Gesetz sieht vor, in derselben Art wie in Fabriken, die Registrierung der beschäftigten Personen, die Untersuchung jugendlicher Arbeiter vor ihrer festen Einstellung durch amtlich qualifizierte Ärzte und eine öffentliche Uhr, damit die Einhaltung der Zeiten für den täglichen Arbeitsbeginn und Arbeitsschluß gewährleistet ist. Das Gesetz übernimmt aus der Fabrikgesetzgebung auch die Nomenklatur in der Einteilung der Arbeiter in Kategorien, weicht jedoch weitgehend von jener Gesetzgebung in der Beantwortung der Frage ab, welche Personen zu jeder Kategorie gehören, und in welchem Umfang infolgedessen ein Schutz durch Beschränkung der Arbeitszeit gewährt wird. Die drei Kategorien der Fabrikgesetzgebung sind: 1. männliche Personen über 18 Jahre, deren Arbeitszeit unbeschränkt ist; 2. männliche Personen zwischen 13 und 18 Jahren und weibliche über 13 Jahren, deren Arbeitszeit beschränkt ist; 3. Kinder zwischen 8 und 13 Jahren, deren Arbeitszeit beschränkt ist und die zu täglichem Schulbesuch verpflichtet sind. Die entsprechenden Kategorien in den Kattundruckereien sind: 1. männliche Personen über 13 Jahre, deren Arbeitszeit unbeschränkt ist; 2. weibliche Personen über 13 Jahre, deren Arbeitszeit beschränkt ist; 3. Kinder beiderlei Geschlechts zwischen 8 und 13 Jahren, deren Arbeitszeit beschränkt ist, und die verpflichtet sind, periodisch die Schule zu besuchen. Das Gesetz für
Kattundruckereien unterscheidet sich wesentlich von der Fabrikgesetzgebung, indem es keinerlei Bestimmungen für folgende Zwecke enthält: für die Festlegung von Pausen für die Mahlzeiten, für den Saturday holiday[371], für die Einstellung der Arbeit zu Weihnachten und Karfreitag, für periodische halbe Feiertage, für sichere Schutzgitter an gefährlichen Maschinen, für die Meldung von Unfällen und die Entschädigung verletzter Personen; für das regelmäßige Weißen der Arbeitsräume. In den Fabriken sind die Arbeitszeiten jetzt der üblichen Arbeitszeit der Handwerker und allgemeinen Arbeiter angeglichen, d.h. von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends mit Pausen von anderthalb Stunden für Mahlzeiten. Die Arbeitszeit in den Kattundruckereien kann man praktisch als unbegrenzt ansehen, ungeachtet des Bestehens gesetzlicher Beschränkung. Die einzige Arbeitsbeschränkung ist in § 22 des Gesetzes über die Kattundruckereien vorgesehen (8 und 9 Vict., 29), der besagt, daß weder ein Kind zwischen 8 und 13 Jahren noch eine weibliche Person während der Nacht beschäftigt werden darf, die als die Zeit zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr früh des folgenden Tages definiert wird. Kinder von 8 Jahren können daher legal zu einer Arbeit verwandt werden - und werden es auch -, die in vieler Hinsicht der Fabrikarbeit analog ist; meist in Räumen mit einer drückenden Temperatur, unaufhörlich an der Arbeit, ohne eine Unterbrechung, um ausruhen oder sich erholen zu können, von 6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends; und einen Jungen, der das Alter von 13 Jahren erreicht hat, kann man völlig legal Tag und Nacht jede beliebige Anzahl Stunden ohne irgendwelche Einschränkungen arbeiten lassen und läßt es oft auch. Für den Schulbesuch von Kindern, die in Kattundruckereien arbeiten, wird folgendermaßen gesorgt: Jedes Kind muß, bevor es in einer solchen Kattundruckerei beschäftigt wird, Schule besucht haben für mindestens dreißig Tage und nicht weniger als hundertfünfzig Stunden während der sechs Monate, die dem ersten Tag seiner Beschäftigung unmittelbar vorhergehn. Während der Fortdauer seiner Beschäftigung in der Druckerei muß es Schule besuchen ebenfalls für eine Periode von dreißig Tagen und hundertfünfzig Stunden während jener Wechselperiode von sechs Monaten. Der Schulbesuch muß zwischen 8 Uhr morgens und 6 Uhr nachmittags stattfinden. Kein Besuch von weniger als zweieinhalb oder mehr als fünf Stunden an demselben Tag soll als Teil der hundertfünfzig Stunden gezählt werden. Die Menschenliebe der Fabrikanten kommt besonders glänzend in der Ärt zum Ausdruck, wie sie diese Vorschriften durchführen. Manchmal besucht ein Kind die Schule in der vom Gesetz geforderten Stundenzahl zu der einen Tageszeit, manchmal zu einer anderen, doch niemals regelmäßig; z.B. an einem Tage wird die Schule besucht von 8 Uhr bis 11 Uhr morgens, an
einem andren Tage von 1 Uhr bis 4 Uhr nachmittags, und nachdem das Kind dann wieder für eine Reihe Tage weggeblieben, kommt es plötzlich wieder von 3 bis 6 Uhr nachmittags; dann erscheint es vielleicht für drei oder vier Tage hintereinander, oder für eine Woche, verschwindet dann wieder für drei Wochen oder einen ganzen Monat und kehrt zurück an einigen Aufallstagen für einige Sparstunden, wenn seine Anwender seiner zufällig nicht bedürfen; und so wird das Kind sozusagen hin und her gepufft (buffeted) von der Schule in die Fabrik, von der Fabrik in die Schule, bis die Summe der hundertfünfzig Stunden abgezählt ist.
Aus dem Englischen.
Friedrich Engels [Einzelheiten über die Erstürmung Lakhnaus]
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5333 vom 25. Mai 1858, , Leitartikel] Endlich sind wir im Besitz detaillierter Berichte über den Angriff auf Lakhnau und seine Einnahme. Die vom militärischen Gesichtspunkt aus wichtigsten Informationsquellen, die Depeschen Sir Colin Campbeils, sind zwar bisher noch nicht veröffentlicht; aber die Korrespondenz der britischen Presse und vor allem die Briefe des Herrn Russell in der Londoner „Times", die unseren Lesern zum größten Teil vorgelegen haben, reichen völlig aus, um einen allgemeinen Einblick in das Vorgehen der Angreifer zu vermitteln. Die Schlußfolgerungen, die wir in bezug auf die bei der Verteidigung zutage getretene Unwissenheit und Mutlosigkeit aus den telegraphischen Nachrichten zogen1, werden durch die detaillierten Berichte mehr als bestätigt. Die von den Hindus errichteten Befestigungswerke waren zwar furchterregend anzusehen, hatten aber in Wirklichkeit keine größere Wirkung als die feurigen Drachen und grimassenschneidenden Gesichter, die die chinesischen „Helden" auf ihre Schilde oder auf die Mauern ihrer Städte malen. Jede einzelne Befestigungsanlage zeigte eine anscheinend uneinnehmbare Front, lauter mit Schießscharten und Feuerstellungen versehene Wälle und Brustwehren, an den Zugängen Hindernisse jeder nur möglichen Art, von Kanonen und Handfeuerwaffen nur so starrend. Aber die Flanken und Rückseiten jeder Stellung waren völlig vernachlässigt, an eine gegenseitige Unterstützung der verschiedenen Werke hatte man nie gedacht, und sogar das Gelände zwischen den Werken wie auch vor ihnen war niemals gelichtet worden, so daß Frontal- und Flankenangriffe, unbemerkt von der Verteidigung, vorbereitet und in vollkommener Deckung bis auf wenige Yards an die
Brustwehr vorgetragen werden konnten. Es war eben ein solches Konglomerat von Verschanzungen, wie man es von einer Gruppe einfacher Sappeure laicht anders erwarten konnte, die ihrer Offiziere beraubt waren und in einer Armee dienten, in der Unwissenheit und Zuchtlosigkeit unumschränkt regierten. Die Verschanzungen von Lakhnau sind lediglich ein Obertragen der gesamten Art der Kampfführung der Sepoys auf Wälle aus gebranntem Lehm und Brustwehren aus Erde. Der mechanische Teil der europäischen Taktik hatte sich den Sepoys teilweise eingeprägt; sie beherrschten die Gewehrübungen und das zugweise Exerzieren recht gut; sie konnten auch eine Batterie errichten und einen Wall mit Schießscharten versehen; doch wie man die Bewegungen von Kompanien und Bataillonen bei der Verteidigung einer Stellung miteinander in Einklang bringt oder wie man Batterien und mit Schießscharten versehene Häuser und Wälle kombiniert, um so ein widerstandsfähiges befestigtes Lager zu schaffen - davon wußten sie absolut nichts. So schwächten sie das feste Mauerwerk ihrer Paläste durch zu viele Schießscharten, legten eine Etage Schießscharten und Geschützöffnungen über die andere, stellten mit Brustwehren versehene Batterien auf den Dächern auf, und das alles ohne den geringsten Nutzen, weil es ganz bequem umgangen werden konnte. Ebenso versuchten sie, da sie ihre taktische Unterlegenheit kannten, dies dadurch wettzumachen, daß sie jede Stellung mit möglichst viel Männern vollstopften und dabei keinen anderen Erfolg erzielten, als der britischen Artillerie eine fürchterliche Wirkung zu verschaffen und jede ordentliche und systematische Verteidigung unmöglich zu machen, sobald die angreifenden Kolonnen aus einer unerwarteten Richtung über diesen buntscheckigen Haufen herfielen. Waren die Briten durch irgendeinen zufälligen Umstand dazu gezwungen, sogar die furchtgebietende Front der Befestigungswerke anzugreifen, dann war deren Konstruktion so fehlerhaft, daß man sich ihnen fast ohne Gefahr nähern, eine Bresche legen und sie erstürmen konnte. Beim Imambara war das der Fall. Wenige Yards von dem Gebäude entfernt stand ein Pucka (in der Sonne gebrannter Lehm)-Wall. An diesen trieben die Briten einen kurzen Stollen heran (Beweis genug, daß aus den Geschützöffnungen und Schießscharten im oberen Teil des Gebäudes kein Senkfeuer auf das Gelände unmittelbar davor gerichtet werden konnte) und benutzten den Wall für eine Breschbatterie, als wäre er von den Hindus eigens für sie errichtet worden. Sie brachten zwei 68pfünder (Schiffsgeschütze) hinter diesem Wall in Stellung. Der leichteste 68pfünder der britischen Armee wiegt ohne Lafette 87 Zentner; doch selbst wenn man annimmt, daß es sich nur um ein Szölliges Geschütz für Hohlgeschosse gehandelt hat, so wiegt das leichteste Geschütz dieser Klasse 50 Zentner und mit der Lafette mindestens
drei Tonnen. Daß derartige Geschütze überhaupt in solcher Nähe eines mehrstöckigen Palastes mit einer Batterie auf dem Dach in Stellung gebracht werden konnten, offenbart eine Vernachlässigung beherrschender Positionen und eine Unkenntnis militärischen Ingenieurwesens, die kein einfacher Sappeur einer zivilisierten Armee aufweisen würde. Soviel über die Wissenschaft, gegen die die Briten zu kämpfen hatten. Was Mut und Zähigkeit anbelangt, so fehlten sie der Verteidigung ebenfalls. Auf der Seite der Eingeborenen gab es vom Martiniere bis zum Musa Bagh nur ein großes und einmütiges Ausreißen, sobald eine Kolonne zum Angriff vorrückte. In der ganzen Kette der Treffen gibt es nichts, was noch dem Gemetzel (denn Kampf kann man es schwerlich nennen) im Sikandar Bagh während Campbells Entsatz der Residenz gleichkäme. Kaum gehen die angreifenden Truppen vor, so gibt es Hals über Kopf eine allgemeine Flucht, ohne jeglichen Widerstand, und wo es nur wenige enge Ausgänge gibt, die den sich drängenden Haufen zum Halten bringen, purzeln sie durcheinander, unter den Salven und Bajonetten der vorrückenden Briten. Das „britische Bajonett" hat bei jedem dieser Sturmangriffe mehr Vernichtungsarbeit unter den von Panik ergriffenen Eingeborenen geleistet als in allen Kriegen der Engländer in Europa und Amerika zusammengenommen. Im Osten sind solche Bajonettkämpfe, in denen nur eine Seite aktiv und die andere erbärmlich passiv ist, eine regelmäßige Erscheinung in der Kriegführung; die Palisaden der Birmanen lieferten in jedem Fall ein Beispiel dafür. Nach Herrn Russells Bericht rührten die meisten Verluste, die die Briten erlitten, von Hindus her, die sich, vom Rückzug abgeschnitten, in den Räumen der Paläste verbarrikadiert hatten und aus den Fenstern auf die Offiziere in den Höfen und Gärten schössen. Beim Sturm auf den Imambara und den Kaisar Bagh fluteten die Hindus so schnell zurück, daß man die Stellung nicht einzunehmen brauchte, sondern einfach einrückte. Das interessante Schauspiel begann jedoch erst jetzt; denn wie Herr Russell gelassen bemerkt, erfolgte die Eroberung des Kaisar Bagh an jenem Tage so unerwartet, daß keine Zeit blieb, Vorkehrungen gegen wahlloses Plündern zu treffen. Es muß ein erfreulicher Anblick für einen echten, freiheitsliebenden John Bull gewesen sein, zu sehen, wie sich seine britischen Grenadiere zwanglos zu den Juwelen, kostbaren Waffen, Kleidern und dem gesamten Putz Seiner Majestät von Audh verhalfen. Die Sikhs, Ghurka und das Lagergefolge waren durchaus bereit, das Beispiel nachzuahmen, und ein Schauspiel von Plünderung und Zerstörung folgte, das augenscheinlich sogar das schriftstellerische Talent des Herrn Russell übertraf. Jeder neue Schritt nach vorn war von Plündern und Verwüsten begleitet.
30 Marx/Engels, Werke, Bd. 12
Der Kaisar Bagh war am 14. gefallen; eine halbe Stunde nach dem Fall war es mit der Disziplin zu Ende, und die Offiziere hatten jede Gewalt über ihre Leute verloren. Am 17. war General Campbell gezwungen, Streifen einzusetzen, die dem Plündern Einhalt gebieten sollten, und untätig zu verharren, „bis die augenblickliche Zügellos igkert aufhört . Die Truppen waren offensichtlich völlig außer Rand und Band. Am 18. hörte, wie wir erfahren, die Plünderei in ihrer schlimmsten Form auf, aber die Verwüstung ging noch immer hemmungslos weiter. Während die Vorhut sich mit den Eingeborenen herumschlug, die aus den Häusern schössen, plünderte und zerstörte jedoch die Nachhut in der Stadt nach Herzenslust. Am Abend erschien eine neue Proklamation gegen das Plündern; starke Abteilungen aus jedem Regiment sollten aufbrechen, ihre eigenen Leute zurückholen und das Lagergefolge im Lager festhalten; niemand sollte außerdienstlich das Lager verlassen. Am 20. eine Wiederholung derselben Befehle. Am gleichen Tage gingen zwei britische „Offiziere und Gentlemen", die Leutnants Cape und Thackwell, „in die Stadt plündern und wurden in einem Haus ermordet"; noch am 26. standen die Dinge so schlimm, daß die strengsten Befehle erteilt wurden, um Plünderei und Gewalttätigkeiten zu unterdrücken; stündliche Zählappelle wurden eingeführt; alle Soldaten hatten strenges Verbot, die Stadt zu betreten; würden Angehörige des Lagergefolges bewaffnet in der Stadt angetroffen sollten sie gehängt werden; Soldaten sollten nur während des Dienstes Waffen tragen, und alle Nichtkombattanten sollten entwaffnet werden. Um diesen Befehlen den gehörigen Nachdruck zu verleihen, wurden „an geeigneten Orten" eine Anzahl Dreiböcke zum Auspeitschen aufgestellt. Das sind allerdings schöne Zustände in einer zivilisierten Armee des neunzehnten Jahrhunderts; wenn andere Truppen auf der Welt ein Zehntel dieser Ausschreitungen begangen hätten, wie würde die entrüstete britische Presse sie als ehrlos brandmarken! Doch hier handelt es sich um die Taten der britischen Armee, und man will uns daher einreden, daß solche Dinge nur die natürlichen Folgen eines Krieges sind. Britischen Offizieren und Gentlemen steht es völlig frei, sich Silberlöffel, Juwelenarmbänder und andere kleine Andenken anzueignen, die sie am Schauplatz ihres Ruhmes finden mögen; und wenn Campbell mitten im Krieg seine eigene Armee entwaffnen muß, um allgemeiner Räuberei und Gewalttätigkeit Einhalt zu gebieten, so wird es militärische Gründe für diesen Schritt gegeben haben; doch wird sicher niemand diesen armen Burschen eine Woche Urlaub und ein bißchen Vergnügen nach so vielen Strapazen und Entbehrungen verdenken. Tatsache ist, daß in keiner europäischen oder amerikanischen Armee soviel Brutalität herrscht wie in der britischen. Plünderei, Gewalttätigkeiten, Metze
leien - Dinge, die überall sonst streng und völlig verpönt sind - sind ein altehrwürdiges Privileg, ein geheiligtes Recht des britischen Soldaten. Die Schändlichkeiten, die im spanischen Krieg nach der Erstürmung von Badajoz und San Sebastian[372] tagelang begangen wurden, kennen seit dem Beginn der Französischen Revolution keine Parallele in den Annalen einer anderen Nation, und der mittelalterliche Brauch, eine im Sturm genommene Stadt zur Plünderung freizugeben, der überall geächtet ist, gehört bei den Briten noch zur Regel. In Delhi bewirkten zwingende militärische Rücksichten eine Ausnahme; aber die Armee murrte, obwohl man sie mit Extralöhnung abfand, und hat nun in Lakhnau nachgeholt, was ihr in Delhi versagt war. Zwölf Tage und Nächte gab es in Lakhnau keine britische Armee - nur einen zuchtlosen, betrunkenen, brutalen Haufen, der sich in Räuberbanden aufgelöst hatte, weit zuchtloser, gewalttätiger und gieriger als die Sepoys, die soeben aus dem Ort getrieben worden waren. Die Plünderung von Lakhnau im Jahre 1858 wird eine ewige Schande für die britische Armee bleiben. Wenn die rücksichtslose Soldateska bei ihrem zivilisierenden und humanisierenden Vormarsch durch Indien die Eingeborenen nur ihres persönlichen Eigentums berauben* konnte, so folgt ihr die britische Regierung unmittelbar auf dem Fuße und beraubt die Eingeborenen auch ihres Grundeigentums. Da schwatzen sie, die erste französische Revolution habe die Ländereien der Adligen und der Kirche konfisziert! Da schwatzen sie, Louis-Napoleon habe das Eigentum der Familie Orleans konfisziert! Und hier kommt Lord Canning, ein britischer Edelmann, sanft in seinen Worten, seinem Verhalten und seinen Gefühlen, und konfisziert auf Befehl seines Vorgesetzten, des Viscount Palmerston, den Landbesitzeines ganzen Volkes, jede Rute und jeden Morgen, in einem Umfang von zehntausend Quadratmeilen.[373] In der Tat, ein ganz schönes Stück Kriegsbeute für John Bull! Und kaum hat Lord Ellenborough im Namen der neuen Regierung diese bisher beispiellose Maßnahme mißbilligt, da erhebt sich die „Times" und ein Heer zweitrangiger britischer Blätter, um diesen Raub im Großen zu verteidigen und eine Lanze für das Recht John Bulls zu brechen, alles zu konfiszieren, was ihm gefällt. Doch John ist eben ein Ausnahmewesen, und was nach Meinung der „Times" bei ihm Tugend ist, wäre bei anderen Schande. Unterdessen - dank der um der Beute willen erfolgten völligen Auflösung der britischen Armee - entkamen die Aufständischen, ohne verfolgt zu werden, in das Hinterland. Sie konzentrieren sich in Rohilkand, während ein Teil den Krieg als Kleinkrieg in Audh fortsetzt und andere in Richtung auf Bandelkand geflüchtet sind. Gleichzeitig rücken die Hitzeperiode und die Regenzeit schnell näher; und es ist nicht zu erwarten, daß das Wetter so ungewöhnlich
günstig für Europäer sein wird wie im vorigen Jahr. Damals war die Masse der europäischen Truppen mehr oder weniger akklimatisiert; in diesem Jahr sind die meisten von ihnen gerade erst eingetroffen. Zweifellos wird ein Feldzug in den Monaten Juni, Juli und August die Briten unermeßliche Verluste an Menschenleben kosten, und da außerdem in jeder eroberten Stadt eine Besatzung zurückgelassen werden muß, wird die aktive Armee sehr schnell zusammenschmelzen. Wir wissen bereits, daß Verstärkungen von monatlich 1000 Mann die Armee kaum auf ihrer Effektivstärke halten werden; was die Garnisonen angeht, so erfordert allein Lakhnau mindestens 8000 Mann über ein Drittel von Campbells Armee. Die Truppen, die für den Feldzug von Rohilkand zu organisieren sind, werden kaum stärker als diese Besatzung von Lakhnau sein. Wie uns ebenfalls bekannt ist, greift unter den britischen Offizieren die Meinung um sich, daß der Guerillakrieg, der sicherlich der Zersplitterung der größeren Verbände der Aufständischen folgen wird, für die Briten weitaus aufreibender und verlustreicher sein wird als der gegenwärtige Krieg mit seinen Schlachten und Belagerungen. Und schließlich beginnen die Sikhs in einer Weise zu sprechen, die für die Engländer nichts Gutes ahnen läßt. Sie fühlen, daß die Briten ohne ihre Hilfe Indien schwerlich hätten halten können und daß Hindustan zumindest zeitweilig für England gewiß verloren gewesen wäre, wenn sie sich dem Aufstand angeschlossen hätten = Sie sagen es laut und übertreiben es auf ihre orientalische Weise. Für sie sind die Engländer nicht mehr die überlegene Rasse, die sie bei Mudki, Firospur und Aliwal[374] geschlagen hat. Von einer derartigen Einstellung bis zur offenen Feindseligkeit ist es bei östlichen Völkern nur ein Schritt; ein Funke kann den Feuerbrand entfachen. Insgesamt gesehen hat die Einnahme Lakhnaus den Aufstand in Indien genau so wenig niedergeschlagen wie die Einnahme Delhis. Der Feldzug in diesem Sommer kann solche Ergebnisse bringen, daß die Briten im nächsten Winter im wesentlichen wieder über dasselbe Gelände ziehen und vielleicht sogar den Pandschab zurückerobern müssen. Im besten Falle aber haben sie einen langen und aufreibenden Guerillakrieg vor sich - unter der Sonne Indiens keine beneidenswerte Sache für Europäer.
Geschrieben am 8. Mai 1858. Aus dem Englischen.
Karl Marx Die Annexion von Audh13751
[„New-York Daily Tribüne" Nr. 5336 vom 28. Mai 1858, Leitartikel] Vor etwa achtzehn Monaten legte die britische Regierung in Kanton die neue Doktrin des Völkerrechts vor, nach der ein Staat Kriegshandlungen in großem Maßstab gegen eine Provinz eines anderen Staates unternehmen kann, ohne Krieg zu erklären oder mit jenem anderen Staat einen Kriegsstatus herbeizuführen. Die gleiche britische Regierung hat jetzt in der Person des Generalgouverneurs von Indien, Lord Canning, einen weiteren Schritt in ihrem Bemühen getan, das bestehende Völkerrecht umzustoßen. Sie hat proklamiert, daß „das Eigentumsrecht an Grund und Boden in der Provinz Audh zugunsten der britischen Regierung konfisziert wird, die von diesem Recht in der Weise Gebrauch machen wird, wie es ihr geeignet erscheint", t376! Als der russische Zar nach dem Fall Warschaus 1831 „das Eigentumsrecht an Grund und Boden" konfiszierte, das bis dahin im Besitz zahlreicher polnischer Adliger war, gab es einen einstimmigen Entrüstungsschrei in der britischen Presse und im Parlament. Als die österreichische Regierung nach der Schlacht von Novara die Güter der lombardischen Adligen, die aktiv am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen hatten, nicht konfiszierte, sondern nur unter Verwaltung stellte, wiederholte sich dieser einstimmige Entrüstungsschrei der Briten. Und als Louis-Napoleon nach dem 2. Dezember 1851 die Güter der Familie Orleans konfiszierte, die nach dem ungeschriebenen französischen Gewohnheitsrecht bei Regierungsantritt Louis-Philippes den Staatsländereien hätten einverleibt werden müssen, diesem Schicksal jedoch durch eine juristische Haarspalterei entgangen waren, da kannte die britische Entrüstung keine Grenzen, und die Londoner „Times" erklärte, daß durch diesen Schritt die Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung ins Wanken geraten seien
und daß die bürgerliche Gesellschaft nicht länger existieren könne. Diese ganze biedere Entrüstung ist nun praktisch illustriert worden. Durch einen einzigen Federstrich hat England nicht nur die Güter einiger Adliger oder einer Königsfamilie konfisziert, sondern das gesamte Gebiet eines Königreichs[377]5 fast so groß wie Irland, „das Erbe eines ganzen Volkes" wie Lord Ellenborough es selbst nennt. Doch hören wir, welche Vor wände — Gründe können wir sie nicht nennen — Lord Canning im Namen der britischen Regierung für dieses unerhörte Vorgehen anführt: Erstens, „die Armee ist im Besitz von Lakhnau". Zweitens, „der von meuternden Soldaten begonnene Widerstand fand die Unterstützung der Einwohner der Stadt und der gesamten Provinz". Drittens, „sie haben sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht und sich einer gerechten Vergeltung ausgesetzt". In einfachen Worten: Weil die britische Armee Lakhnau in Besitz genommen, hat die Regierung das Recht, all das Land von Audh zu konfiszieren, das sie noch nicht erobert hat. Weil die eingeborenen Soldaten in britischem Sold meuterten, haben die Eingeborenen in Audh, die mit Gewalt der britischen Herrschaft unterworfen wurden, nicht das Recht, sich für ihre nationale Unabhängigkeit zu erheben. Kurz, die Bevölkerung von Audh hat gegen die legitimen Behörden der britischen Regierung rebelliert, und die britische Regierung erklärt nun entschieden, daß Rebellion ein ausreichender Grund zur Konfiskation ist. Wenn man also alle Umschweife Lord Cannings außer acht läßt, so dreht sich die ganze Frage um seine anmaßende Behauptung, die britische Herrschaft in Audh sei legitim errichtet worden. Die britische Herrschaft in Audh wurde aber folgendermaßen errichtet: Als Lord Dalhousie 1856 den Augenblick zum Handeln gekommen sah, zog er in Khanpur eine Armee zusammen, die, wie man dem König von Audh1 mitteilte, als Beobachtungstruppe gegen Nepal dienen sollte. Diese Armee überfiel plötzlich das Land, nahm Lakhnau in Besitz und machte den König zum Gefangenen, Er wurde aufgefordert, das Land den Briten zu übergeben, doch vergeblich. Man schleppte ihn darauf nach Kalkutta, und das Land wurde dem Territorium der Ostindischen Kompanie angegliedert. Dieser verräterische Einfall wurde mit Artikel 6 des von Lord Wellesley abgeschlossenen Vertrages von 1801 begründet.13781 Dieser Vertrag war die natürliche Folge des von Sir John Shore 1798 abgeschlossenen. Der üblichen Politik entsprechend, die die englisch-indische Regierung im Verkehr mit eingeborenen Fürsten befolgt, war dieser erste Vertrag von 1798 ein gegenseitiges Offensiv- und Defensivbündnis. Er sicherte der Ostindischen Kompanie eine
jährliche Subsidie von 76 Lakh Rupien (3 800 000 Dollar); doch auf Grund der Artikel 12 und 13 war der König verpflichtet, die Steuern des Landes einzuschränken. Selbstverständlich konnten diese beiden Bestimmungen, die in offenem Widerspruch zueinander standen, vom König nicht gleichzeitig eingehalten werden. Dieses von der Ostindischen Kompanie beabsichtigte Ergebnis ließ neue Komplikationen entstehen, die zum Vertrag von 1801 führten, durch den eine Gebietsabtretung wegen der angeblichen Verletzungen des vorigen Vertrages erzwungen wurde, eine Gebietsabtretung, die übrigens damals im Parlament als regelrechter Raub bezeichnet wurde und die Lord Wellesley ohne den damaligen politischen Einfluß seiner Familie vor einen Untersuchungsausschuß gebracht hätte. Als Gegenleistung für diese Gebietsabtretung übernahm die Ostindische Kompanie gemäß Artikel 3, das dem König verbleibende Gebiet gegen alle fremden und einheimischen Feinde zu schützen, und garantierte gemäß Artikel 6 dem König und seinen Erben und Nachfolgern auf ewig den Besitz dieser Territorien. Aber der gleiche Artikel 6 enthielt auch eine Falle für den König: Der König verpflichtete sich, ein von seinen eigenen Beamten durchzuführendes Verwaltungssystem einzurichten, das dem Wohlergehen seiner Untertanen förderlich und dazu bestimmt sein sollte, Leben und Eigentum der Einwohner zu sichern. Angenommen nun, der König von Audh hätte diesen Vertrag gebrochen, hätte Leben und Eigentum der Einwohner durch seine Regierung nicht geschützt (sagen wir, indem er sie vor die Kanonenmündung binden und zerfetzen ließ und ihre gesamten Ländereien konfiszierte), welches Mittel bliebe der Ostindischen Kompanie? Der König war durch den Vertrag als unabhängiger Souverän, als ein nach eigenem Willen Handelnder und als Vertragspartner anerkannt. Als sie den Vertrag für gebrochen und dadurch für annulliert erklärte, konnte die Ostindische Kompanie nur auf zweierlei Art vorgehen: Entweder hätte sie durch Verhandlungen, unterstützt durch Druck, zu einer neuen Vereinbarung gelangen können, oder aber sie hätte dem König den Krieg erklären können. Doch sein Territorium ohne Kriegserklärung überfallen, ihn unversehens zum Gefangenen machen, ihn entthronen und sein Territorium annektieren, das war eine Verletzung nicht nur des Vertrages, sondern jeglichen Prinzips des Völkerrechts. Daß die Annexion von Audh nicht eine plötzliche Entscheidung der britischen Regierung war, wird durch eine merkwürdige Tatsache bewiesen. Kaum war Lord Palmerston 1831 Außenminister, als er dem damaligen Generalgouverneur die Anweisung übersandte, Audh zu annektieren. Der Untergebene lehnte es damals ab, diese Anweisung durchzuführen. Die
Angelegenheit wurde jedoch dem König von Audh1 bekannt, der irgendeinen Vorwand benutzte, um eine Abordnung nach London zu schicken. Trotz aller Hindernisse gelang es der Abordnung, Wilhelm IV., der von dem ganzen Vorgang nichts wußte, mit der Gefahr bekannt zu machen, die ihrem Lande gedroht hatte. Das Ergebnis war eine stürmische Szene zwischen Wilhelrn IV. und Palmerston, die damit endete, daß Palmerston eine strikte Anweisung erhielt, bei Strafe sofortiger Entlassung nie mehr derartige toups d etat zu wiederholen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß die tatsächliche Annexion von Audh und die Konfiskation des ganzen Grundbesitzes im Lande erfolgten, als Palmerston wieder an der Macht war. Die Schriftstücke über jenen ersten Versuch der Annexion von Audh im Jahre 1831 wurden vor einigen Wochen im Unterhaus angefordert, als Herr Baillie, Secretary of the , Board of Control2, erklärte, daß diese Schriftstücke verschwunden seien. Im Jahre 1837, als Palmerston zum zweiten Mal Außenminister war und Lord Auckland Generalgouverneur von Indien, wurde der König von Audh3 abermals gezwungen, einen neuen Vertrag mit der Ostindischen Kompanie abzuschließen. Dieser hebt den Artikel 6 des Vertrages von 1801 auf, weil „er kein Rechtsmittel für die in ihm enthaltene Verpflichtung vorsieht" (das Land gut zu regieren); und er legt deshalb in Artikel 7 ausdrücklich fest,. „daß der König von Audh im Einvernehmen mit dem britischen Residenten unverzüglich die geeignetsten Maßnahmen zur Beseitigung der Mängel in der Polizei und in der Gerichts- und Steuerverwaltung seiner Herrschaftsgebiete erwägen soll. Falls Seine Majestät es verabsäumen sollte, dem Rat und Beistand der britischen Regierung zu entsprechen, und falls rohe und systematische Unterdrückung, Anarchie und Mißwirtschaft in den Gebieten von Audh herrschen sollten, so daß die öffentliche Ruhe ernsthaft gefährdet werde, dann behalte die britische Regierung sich das Recht vor, zur Verwaltung beliebiger Gebiete von Audh, ob von kleiner oder großer Ausdehnung, in denen solche Mißstände eventuell eingetreten sind, ihre eigenen Beamten einzusetzen, und zwar für so lange, wie man es für nötig hält; die Einnahmeüberschüsse sollen in diesem Fall nach Deckung aller Unkosten an das Schatzamt des Königs gezahlt und Seiner Majestät ein wahrer und ehrlicher Bericht über die Einnahmen und Ausgaben gemacht werden." Im Artikel 8 sieht der Vertrag weiterhin vor: „Falls der Generalgouverneur von Indien und Vorsitzende des Rates gezwungen sein sollte, zur Ausübung der Machtbefugnisse zu schreiten, die ihm durch Artikel 7 verliehen wurden, wird er soviel wie möglich bemüht sein, die einheimischen Institutionen und Verwaltungsformen innerhalb der übernommenen Gebiete mit
1 Nasir-ed-Din - 2 Sekretär der Kontrollbehörde (für indische Angelegenheiten) - 3 Mohamed Ali-Schah
einigen zugestandenen Verbesserungen beizubehalten, um die Rückgabe dieser Gebiete an den Souverän von Audh zu erleichtern, wenn die rechte Zeit für diese Rückgabe gekommen sei." In diesem Vertrag wird erklärt, er sei zwischen dem Generalgouverneur von Britisch-Indien und Vorsitzenden des Rates1228J  einerseits und dem König von Audh andererseits abgeschlossen worden. In dieser Hinsicht wurde er ordnungsgemäß von beiden Parteien ratifiziert, und die Ratifikationsurkunden wurden ordnungsgemäß ausgetauscht. Doch als man ihn dem Direktorium der Ostindischen Kompanie vorlegte, wurde er annulliert, da er einen Bruch der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Kompanie und dem König von Audh und einen Eingriff des Generalgouverneürs in die Rechte des Herrschers darstelle (10. April 1838). Palmerston hatte die Kompanie weder um die Genehmigung gebeten, den Vertrag abzuschließen, noch nahm er jetzt Notiz von ihrem Annullierungsbeschluß. Auch wurde der König von Audh nicht davon informiert, daß der Vertrag jemals aufgehoben worden war. Das beweist Lord Dalhousie (Protokoll vom 5. Januar 1856):
„Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich der König im Verlauf der künftigen Unterredungen mit dem Residenten auf den Vertrag berufen wird, der 1837 mit seinem Vorgänger abgeschlossen worden war; dem Residenten ist bekannt, daß der Vertrag nicht in Kraft blieb, da er vom Direktorium annulliert wurde, sobald er nach England gelangt war. Dem Residenten ist ferner bekannt, daß zwar der König von Audh seinerzeit darüber informiert wurde, gewisse verschärfende Bestimmungen des Vertrages von 1837 hinsichtlich einer verstärkten Streitmacht würden nicht in die Tat umgesetzt, daß aber seine völlige Aufhebung niemals Seiner Majestät mitgeteilt wurde. Die Wirkung dieser Zurückhaltung und unvollständigen Information macht sich jetzt nachteilig bemerkbar, und zwar um so nachteiliger, als das annullierte Dokument noch in einer Vertragssammlung enthalten war, die auf Anordnung der Regierung 1845 veröffentlicht wurde." In demselben Protokoll heißt es in Abschnitt 17: „Falls der König auf den Vertrag von 1847 Bezug nehmen und fragen sollte, warum man, wenn weitere Maßnahmen hinsichtlich der Verwaltung von Audh nötig seien, die ausgedehnten Machtbefugnisse, die der britischen Regierung durch besagten Vertrag gegeben sind, jetzt nicht in Kraft setze, so müsse Seine Majestät darüber informiert werden, daß der Vertrag keine Gültigkeit gehabt habe, da das Direktorium, dem er vorgelegt worden sei, ihn gänzlich annulliert habe. Man wird Seine Majestät daran erinnern, daß man dem Hof zu Lakhnau seinerzeit mitgeteilt habe, es seien gewisse Artikel des Vertrages von 1837, die dem König die Kosten für eine zusätzliche Streitmacht auferlegten, aufgehoben worden. Man muß annehmen, daß es seinerzeit nicht nötig schien, Seiner Majestät Mitteilung über jene Artikel des Vertrages zu machen.
die nicht unmittelbar in Kraft treten mußten, und daß die spätere Benachrichtigung aus Nachlässigkeit unterlassen wurde."'1331 Doch dieser Vertrag wurde nicht nur in die offizielle Sammlung von 1845 aufgenommen, auf ihn verwiesen auch offiziell wie auf einen gültigen Vertrag Lord Auckland in seiner Notifikation an den König von Audh vom 8. Juli 1839, Lord Hardinge (damals Generalgouverneur) in der Beschwerde an denselben ?/•.. • -V) u L I Q AI 1 /"VI . . C1 /O • 1 III \ Konig vom .[November im; unu woerst oieeman vr^esiaenr zu LaKnnauj in der Mitteilung an Lord Dalhousie selbst vom 10. Dezember 1851. Warum war nun Lord Dalhousie so erpicht darauf, die Gültigkeit eines Vertrages zu bestreiten, den alle seine Vorgänger und sogar seine eigenen Beauftragten im Verkehr mit dem König von Audh als gültig anerkannt hatten? Einzig und allein deshalb, weil eine Einmischung, welchen Vorwand der König auch immer zur Einmischung liefern könnte, durch den Vertrag darauf beschränkt bliebe, daß die britischen Beamten die Verwaltung im Namen des Königs von Audh übernehmen müßten, dem sie den Überschuß aus den Staatseinnahmen auszahlen sollen. Das war das genaue Gegenteil von dem, was man wollte. Nur eine Annexion würde das erreichen. Daß man die Gültigkeit von Verträgen, die zwanzig Jahre lang die anerkannte Grundlage der Beziehungen gebildet hatten, leugnet, daß man gewaltsam unabhängige Gebiete in offener Verletzung sogar der anerkannten Verträge an sich reißt, daß man schließlich jede Bodenfläche des ganzen Landes konfisziert - all diese verräterischen und brutalen Maßnahmen der Briten gegen die Eingeborenen Indiens beginnen sich jetzt zu rächen, und zwar nicht nur in Indien, sondern auch in England. Geschrieben am 14. Mai 1858. Aus dem Englischen.

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